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Zwischen Nähe und Distanz

2022
978-3-8233-9544-7
Gunter Narr Verlag 
Ulrike Reeg
10.24053/9783823395447

Der Band beschäftigt sich mit den Selbstäußerungen mehrsprachiger Autorinnen und Autoren unterschiedlicher kultureller Herkunft, die seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum schreiben und publizieren. Im Zentrum stehen autobiographische Essays, Poetikvorlesungen sowie Gesprächsaufzeichnungen, in denen sie ihr Verhältnis zu den jeweiligen Herkunftssprachen reflektieren, sich intensiv mit dem Deutschen als fremder Literatursprache auseinandersetzen und ihr Selbstverständnis als Autorinnen und Autoren schildern. Die durch zahlreiche Zitate belegten Selbstreflexionen bieten zudem weitreichende Einsichten in die ambivalente Auseinandersetzung mit ihrer Sprachidentität. Die Studie liefert einen Beitrag zur Erhellung von individueller Mehrsprachigkeit in Bezug auf die Entwicklung kreativer Schreibprozesse.

Ulrike Reeg Zwischen Nähe und Distanz Einsichten in die Auseinandersetzung mehrsprachiger Autorinnen und Autoren mit ihrem literarischen Schreibprozess Beiträge zur Interkulturellen Germanistik | Band 15 Herausgegeben von Csaba Földes Beiträge zur Interkulturellen Germanistik Herausgegeben von Csaba Földes Band 15 Ulrike Reeg Zwischen Nähe und Distanz Einsichten in die Auseinandersetzung mehrsprachiger Autorinnen und Autoren mit ihrem literarischen Schreibprozess www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783823395447 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: PD Dr. Markus Hartmann CPI books GmbH, Leck ISSN 2190-3425 ISBN 978-3-8233-8544-8 (Print) ISBN 978-3-8233-9544-7 (ePDF) Für Luciano Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1 Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Materialgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.2 Zum Begriffsfeld Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.3 Sichtweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2 Innovative Synthesen: ein Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3 Erinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.1 Zwei Mütter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3.2 Das Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.3 Nebeneinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3.4 Zusammenführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 4 Das Gedächtnis der Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.1 Mehrsprachigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2 Schreibengehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 5 Zweifel und Widerstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 5.1 „On Learning a New Language“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5.2 Im Labyrinth von zwei Sprachen verirrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5.3 Die Unbeherrschbarkeit der Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5.4 Sprachfremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5.5 Sprachfluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 6 Festschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 VIII Inhalt 7 Freischreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 7.1 Enttabuisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 7.2 Affektive Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 8 Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 9 Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 10 Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 11 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 11.1 Sprache erschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 11.2 Dialoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 11.3 Sprachwelten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 12 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Vorwort des Herausgebers Es freut mich als Herausgeber, dass nach der Monographie von Bianka Burka „Manifestationen der Mehrsprachigkeit und Ausdrucksformen des ‚Fremden‘ in deutschsprachigen literarischen Texten: exemplifiziert am Beispiel von Terézia Moras Werken“ als Band 6 der „Beiträge zur Interkulturellen Germanistik“ (Tübingen: Narr 2016) in unserer Reihe nun wieder einmal ein Buch zur literarischen Mehrsprachigkeit und Interkulturalität erscheint. Die Verfasserin, Frau Ulrike Marie Reeg, ist Germanistikprofessorin an der Università degli Studi di Bari Aldo Moro in Italien und beschäftigt sich in Forschung und Lehre seit Längerem produktiv mit interkulturellen Fragen sowohl in weiten Bereichen der Sprachwissenschaft als auch auf dem Gebiet der Didaktik und der Literaturwissenschaft. Die vorliegende Untersuchung ist ebenfalls in hohem Maße komplexer interbzw. transdisziplinärer Natur und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Frage, wie mehrsprachige Autorinnen und Autoren, deren Leben von den Migrationsprozessen der letzten Jahrzehnte geprägt ist, ihr literarisches Schreiben reflektieren, welchen Stellenwert das Deutsche als später erlernte Sprache für sie hat, von welchen Emotionen ihr Schreibprozess begleitet wird, welche Perspektiven sich während ihres Schaffensprozesses eröffnen, aber auch welche Widerstände sich ihrem jeweiligen Ausdruckswunsch entgegenstellen können. Von einem übergeordneten Blickwinkel aus handelt es sich darum, unterschiedliche Aspekte des Zusammenhangs von individuellen Migrations- und Spracherfahrungen und dem Schreiben literarischer Texte zu erhellen und vor allem diesbezügliche Reflexionen der Autorinnen und der Autoren als zentrale Belege heranzuziehen. Insofern bietet diese Studie grundsätzlich auch wertvolle Einblicke in das Zusammenspiel von individueller Mehrsprachigkeit und den damit verbundenen möglichen kreativen Schreibprozessen. Für die Untersuchung werden Texte herangezogen, die bisher eher weniger im Zentrum des Interesses jener Forschung stehen, welche sich in den letzten Jahren vor allem vermehrt mit Manifestationen von Mehrsprachigkeit in der Literatur des deutschsprachigen Raums beschäftigt und/ oder im Bereich linguistischer Forschungen sprachbiographische Fragestellungen in den Fokus rückt: Bei den hier zitierten Texten handelt es sich um Poetikvorlesungen, Gesprächsaufzeichnungen und sprachbiographische, teilweise verdichtete Texte. In ihnen reflektieren die Autorinnen und Autoren ihre durchaus ambivalenten Sprach- und Schreiberfahrungen sowie Aspekte ihrer kulturellen Verortung und Stand- X Vorwort des Herausgebers ortbestimmung als mehrsprachige Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Literaturraum. Im Einklang mit aktuellen Positionen der Mehrsprachigkeitsforschung, die insbesondere für den Einbezug des subjektiven Erfahrungshorizonts mehrsprachiger Personen plädiert, wird dabei diesen Texten konsequenterweise die Möglichkeit zuerkannt, aussagekräftige Erkenntnisse in Bezug auf diese besondere Form gelebter Mehrsprachigkeit zu liefern. In dieser mehrperspektivischen Studie wird schließlich der Versuch unternommen, insbesondere psychoanalytische und sozialpsychologische Einsichten sowie Resultate der aktuellen Mehrsprachigkeitsforschung zu skizzieren und als Deutungsangebote zu diskutieren, mit dem Ziel, die spezifischen Erfahrungen von Mehrsprachigkeit der hier vorgestellten Autorinnen und Autoren, insbesondere aber auch ihre damit im Zusammenhang stehenden Schreibdispositionen besser nachvollziehen zu können. Aufgrund seines anregenden Inhalts wird der Band die interkulturelle Germanistik zweifellos fruchtbar bereichern. Ich wünsche ihm eine gute Aufnahme! Erfurt, im Mai 2022 Csaba Földes Danksagung Ich möchte mich zunächst sehr herzlich bei Herrn Prof. Dr. Dr. Csaba Földes für seine großzügige Unterstützung meines Projekts sowie die Aufnahme der vorliegenden Untersuchung in die Reihe Beiträge zur Interkulturellen Germanistik bedanken. Dank gebührt auch Herrn PD Dr. Markus Hartmann für seine überaus geduldige und kompetente Hilfe bei der Textrevision und -formatierung. Ein großes Dankeschön geht zudem an meine Kollegin und Freundin Ulrike Simon, die mit ihrer verlässlichen und aufwendigen Korrekturarbeit nicht unerheblich zur Entstehung des Textes beigetragen hat. Gabriele Patermann und Dagmar Vogelgesang sei gedankt für ihre ersten Leseeindrücke des noch unfertigen Manuskripts. Schließlich möchte ich mich an dieser Stelle für die zahlreichen Anregungen bedanken, die ich in vielen Gesprächen vor allem von Franco Biondi, Gino Chiellino und José F.A. Oliver im Laufe vieler Jahre und bei ganz unterschiedlichen Gelegenheiten erhalten habe. Mit ihrem Zuspruch, aber auch mit ihrer Kritik haben sie entscheidend dazu beigetragen, dass mein Interesse an der Erkundung des literarischen Schreibens mit mehreren Sprachen nie nachgelassen hat. Conversano/ Frankfurt am Main, im Mai 2022 Ulrike Reeg 1 Zur Einleitung Diese Sprachen, Johanna, machen uns zu Fremden - selbst wenn die Frau vom ungarischen Kulturinstitut Polnisch und Ungarisch sprach, die Dame vom polnischen Kulturinstitut Deutsch und Polnisch, der Lyriker Englisch und Polnisch, ich mitten unter einander jagenden Sprachfetzen und Satzmelodien, ungefähr wie früher, wenn meine versprengte Flüchtlingsweltverwandtschaft aus Kanada, den USA, Schweden und Deutschland einmal im Jahr am Balaton aufeinanderstieß und ihr babylonisches Sprachwirrwarr über seine grünblauen Ufer goss (Zsuzsa Bánk 2017: 388). Schreiben als Mehrsprachige, das Entstehen einer ‚deutschsprachigen‘ Literatur, in die sich andere Sprachen wie von selbst einschreiben oder von den Autor/ innen bewusst miteinbezogen, in ihre Texte oft gut versteckt und kaum erkennbar eingewoben werden, ist bis in konkrete topographische und sprachliche Verweise oft ein l e b e n s g e s c h i c h t l i c h e s Schreiben. Diese vorwiegend in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, im Zuge von Migrationen in den deutschsprachigen Raum entstandene Literatur, auf die ich mich bei meinen folgenden Überlegungen beziehe, erlaubt es, „Aufbrüche neuer transkultureller, translingualer und transarealer Bewegungsmuster“ (Ette 2005: 15) zu erkennen. Sie lässt „Orte des Umdenkens“ (Adelson 2006: 40) entstehen und wird vor allem von der Literaturwissenschaft, vor dem Hintergrund unterschiedlicher Paradigmen, die sich im wechselvollen Diskurs um Fremde und Fremdheitserfahrungen herauskristallisiert haben, untersucht (vgl. u.a. Reeg 1988; Amodeo 1996; Chiellino 2000; Blioumi 2002; Arnold 2006; Lengl 2012; Laudenberg 2016). Eine neue Entwicklung zeichnet sich allerdings in den letzten Jahren ab: Sowohl im öffentlichen Raum mit Blick auf (bildungs-)politische Erfordernisse, als auch in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, zu denen vor allem auch die Sprachwissenschaft samt ihren Teildisziplinen zählt, ist ein erheblich gesteigertes Interesse an dem Themenfeld der M e h r s p r a c h i g k e i t zu bemerken (vgl. u.a. Auer/ Li Wei 2007; Reeg/ Simon 2019; Földes/ Roelcke 2022). Interdisziplinär angelegte Überblicksdarstellungen (vgl. Bürger-Koftis/ Schweiger/ Vlasta 2010 aber auch vermehrt literatur- und kulturwissenschaftliche 2 Zur Einleitung Untersuchungen widmen nunmehr Aspekten der l i t e r a r i s c h e n M e h r s p r a c h i g k e i t umfangreiche Darstellungen, in denen grundlegende Fragestellungen, wie beispielsweise „sprachliche Rahmenbedingungen“ und „Basisverfahren“ vermessen werden (Dembeck/ Parr 2017: 5f.; vgl. dazu auch; ZiG 2015; Dembeck/ Uhrmacher 2016). Zudem entstehen vertiefende Analysen zu Manifestationen von Mehrsprachigkeit einzelner Autor/ innen in ihren literarischen Texten (vgl. Burka 2016). Der Einbezug der Vita der Autor/ innen durch den Zugriff auf biographische Daten und Informationen zu ihrem Erwerb des Deutschen als Fremdsprache, ihrer späteren Literatursprache, wurde und wird von einigen Autor/ innen als wenig zielführend oder sogar als ausgrenzend angesehen. 1 In den betreffenden Auseinandersetzungen darüber wurde die Forderung ins Spiel gebracht, der hier zur Diskussion stehenden literarischen Textproduktion, die im Kontext der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Migrationsbewegungen in deutschsprachige Regionen entstand, keinerlei vermeintlich die literarische Qualität der Texte nivellierenden Sonderstatus einzuräumen. Bei der späteren Abschaffung des Adelbert-von-Chamisso-Preises (vgl. Esselborn 2004; Vertlib 2007b: 159-161; Bodrožić 2008: 72-74; Weinrich 2008) der dazu gedacht war, die Literatur von Autor/ innen nicht deutschsprachiger Provenienz in besonderer Weise zu fördern und sie im deutschsprachigen literarischen Feld besser zu verorten, wird mit der Aussage, dass „[v]iele dieser Autoren heute nur für ihre literarischen Leistungen gewürdigt werden [wollen], und nicht wegen ihres biografischen Hintergrunds“ (Robert-Bosch-Stiftung, Pressemeldung [04.10.2021]) an diese Argumentation nolens volens angeknüpft. 2018 kommt es dennoch mit dem Chamisso-Preis/ Hellerau zu einer Fortsetzung dieser Auszeichnung, wo- 1 Vergleiche dazu die kritische Erörterung von Rothenbühler (2010: 53f.). Im Rahmen des Projekts „Generationen im Wandel“ werden 16 in der Schweiz lebende Autor/ innen anderskultureller Provenienz zu ihren Migrationserfahrungen und ihrem literarischen Schaffen befragt: „Was sie in literarischer Hinsicht vereinigt, sind nicht mögliche Merkmale einer ‚Migrationsliteratur‘, sondern die einhellige Ablehnung dieses Konzepts. […] ‚Ich gebe gerne Auskunft über mein Leben, wenn das jemand aus irgendwelchen Gründen interessiert‘, sagt zum Beispiel Christina Viragh, fügt jedoch gleich einschränkend an ‚Ich hab’s nicht gern, wenn man mich als Schriftstellerin in eine bestimmte Ecke stellt, nicht, so: Ich bin die Emigrantin.‘ Und Rafik Ben Salah versichert, er habe sich nie als Migranten oder Immigranten gesehen: ‚Ich dachte mich als Schriftsteller. Punkt. […].“ Vgl. dazu auch Spoerri (2010: 37): „Neben der Literaturproduktion findet, eng mit ihr verflochten, der gesellschaftliche Diskurs über Literatur statt, der Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund immer wieder vereinnahmt beziehungsweise ausgegrenzt hat - doch an diesen Diskussionen haben sich die Betroffenen oft auch stark selbst beteiligt, mit unterschiedlichen Haltungen: um entweder ihre Sonderposition zu bestärken oder um sich gegen eine ihnen unangenehme Sonderbehandlung zur Wehr zu setzen.“ Zur Einleitung 3 bei wiederum der Lebenskontext der Autor/ innen in besonderer Weise von Interesse ist, denn es werden deutsch schreibende Autor/ innen ausgezeichnet, „deren literarische Arbeit von einer Migrationsgeschichte geprägt ist“ (Schmitz 2019a: 10 und 2019b: 17-31). Es ist hier nicht der Ort, diese Auseinandersetzung weiter zu vertiefen. Es bleibt hingegen festzuhalten, dass sich eine Reihe von Publikationen dezidiert mit der Frage des Zusammenhangs von individuellen Migrations- und Spracherfahrungen und dem literarischen Schaffen kritisch auseinandersetzen und dabei viele der Autor/ innen selbst zu Wort kommen lassen (vgl. exemplarisch Amodeo/ Hörner 2010; Siller/ Vlasta 2020). Darüber hinaus ist in den letzten Jahren auch aus sprachwissenschaftlicher Perspektive die Sprachlichkeit und die Bedingungen des Spracherwerbs mehrsprachiger Autor/ innen im Kontext von Migrationen sowie ihre damit im Zusammenhang stehende literarische Mehrsprachigkeit ins Blickfeld gerückt ist. 2 Dies ist sicherlich auch im Kontext des besonders in den letzten Jahrzehnten erstarkten Interesses an interkulturellen Lebensläufen sowie generell an Sprachbiographien mehrsprachiger Sprecher/ innen im Kontext von Migration und Exil zu sehen (vgl. u.a. Thum/ Keller 1998; Franceschini 2001; Franceschini/ Miecznikowski 2004; Hein-Khatib 2007; Busch/ Busch 2008; Thüne/ Betten 2011). Eine viele Untersuchungen kennzeichnende, genuin literatur- und kulturwissenschaftliche Fragekonstellation wurde somit um interdisziplinäre, insbesondere (sprach-)biographisch zu verortende Problemstellungen erweitert (vgl. dazu u.a. Acker/ Fleig/ Lüthjohann 2019; Reeg 2019; www.polyphonie.at: Interviewdatenbank, Stand: 24.01.2021). Die vorliegende Studie knüpft mit der zentralen Frage nach den individuellen Sprach- und Schreiberfahrungen mehrsprachiger Autor/ innen an diesen Untersuchungshorizont an - sie tut dies jedoch auf der Basis von Texten, die bisher eher marginal beachtet wurden. Es handelt sich dabei um (teilweise verdichtete) Darstellungen, in denen Autor/ innen ü b e r ihre Sprachen und ihren kreativen Schreibprozess in der Literatursprache Deutsch nachdenken und damit sehr spezifische und m.E. bisher eher selten beachtete Einblicke in ihre vielfach ambivalenten Spracherfahrungen ermöglichen. Unter einem übergeordneten Gesichtspunkt beabsichtigt diese Studie einen Beitrag zur Erhellung 2 Auch in den zehn Autorenporträts, die von den beiden Literaturwissenschaftlern Chiellino und Lengl im Jahrbuch für Internationale Germanistik (2016) herausgegeben werden, spielt die Biographie der Autor/ innen, als Verschränkung von Leben und literarischem Schreiben, eine große Rolle. In seinem kurzen Überblick zur Entwicklung der interkulturellen Literatur führt Chiellino zudem die Sprache bzw. den Sprachwechsel als mögliches Signum einer neuen Autor/ innengeneration ins Feld, bei der im Vergleich zu früher, „die Breite und Intensität vom Auftreten des Sprachwechsels“ auffällig sei (Chiellino/ Lengl 2016: 21). 4 Zur Einleitung des Verhältnisses von individueller Mehrsprachigkeit und der damit im Zusammenhang stehenden Entwicklung kreativer Schreibprozesse zu leisten. 1.1 Materialgrundlage Im Zentrum dieser Untersuchung stehen Texte von Autorinnen und Autoren, deren Herkunftssprache nicht (nur) das Deutsche ist und die sich in den letzten Jahrzehnten im deutschsprachigen literarischen Feld etablieren konnten. Generell handelt es sich dabei um Selbstaussagen, in denen sie aus einem räumlichen und zeitlichen Abstand heraus das Verhältnis zu ihrer/ n Herkunftssprache/ n reflektieren. Zentrale Themen sind dabei der Prozess der Annäherung an das Deutsche, die ambivalenten Erfahrungen in ihrem literarischen Schreibprozess sowie ihr Selbstverständnis als Autor/ innen nicht-deutschsprachiger kultureller Provenienz auch im Sinne einer damit einhergehenden kulturellen Verortung. 3 Die in der Folge zitierten Autor/ innen, Zsuzsa Bánk, María Cecilia Barbetta, Artur Becker, Franco Biondi, Marica Bodrožić, Irena Brežná, Gino Chiellino, Ota Filip, Jiří Gruša, Radek Knapp, Francesco Micieli, Ilma Rakusa, Terézia Mora, Yüksel Pazarkaya, Rafik Schami, Saša Stanišić, Yoko Tawada, Ilija Trojanow, José F.A. Oliver, SAID, und Vladimir Vertlib haben das Deutsche erst zu einem späteren Zeitpunkt, im Verlauf ihres Lebens in deutschsprachigen Ländern erlernt und/ oder perfektioniert und zur Literatursprache erhoben. José F.A. Oliver bildet hierzu eine Ausnahme (vgl. Kap. 3.1 und 11.3): Bei dem im Schwarzwald aufgewachsenen Sohn spanischer Arbeitsimmigranten muss von einem simultanen bilingualen Spracherwerb (vgl. Rothweiler 2007: 106) unter Einbezug sprachlicher Varietäten ausgegangen werden. Grundsätzlich gilt, dass für alle Autor/ innen das Deutsche zum Zeitpunkt ihres Schreibprozesses die dominante Sprache des sozialen und literarischen Umfeldes ist, in dem sie agieren, und es ist vor allem eine zentrale Sprache ihrer literarischen Kreativität. 4 In narrativen, lyrischen und dramatischen Texten gestalten sie neue literarische Räume, wobei sie in und mit dem Deutschen neue (Sprach-)Identitäten (vgl. exemplarisch De Florio-Hansen/ Hu, Adelheid 2007; Reeg 2014b) entwerfen. 3 Im Verlauf dieser Studie werde ich dabei häufig längere Passagen zitieren, einmal, um eine etwas bessere Kontextualisierung zu ermöglichen, zum anderen aber auch, um das individuelle Schreibprofil der Autor/ innen in zwar kurzen, aber dennoch aussagekräftigen Ausschnitten illustrieren zu können. 4 Dass einige der Autor/ innen, wie u.a. Yüksel Pazarkaya und Yoko Tawada auch in ihrer Herkunftssprache publizieren, ist für die vorliegende Studie von untergeordneter Bedeutung. Materialgrundlage 5 Diese, im engeren Sinne literarische Produktion wird in dieser Untersuchung zwar ‚mitgedacht‘, ist jedoch kein Bezugspunkt für die folgenden Analysen. Hierzu werden vielmehr, wie bereits erwähnt, solche reflexiven Selbstdarstellungen herangezogen, wie sie in zahlreichen (autobiographischen) Essays, Poetikvorlesungen und Gesprächsaufzeichnungen verschriftlicht wurden. 5 Dabei ist die Unterscheidung von literarischen und nicht-literarischen Texten nicht immer trennscharf. Vor allem die Essays von José F.A. Oliver aber auch die autobiographisch angelegten Prosatexte von Marica Bodrožić, um nur zwei Beipiele zu nennen, zeichnen sich durch Prozesse der Verdichtung und Metaphorisierung aus, die wenig Ähnlichkeit mit jenen zweckgerichteten, auf Informativität bedachten Texten haben, wie wir sie etwa aus Sprachbiographien kennen, die im Kontext wissenschaftlicher Erforschung und/ oder genuin sprachwissenschaftlicher Dokumentation erfragt und rekonstruiert werden (vgl. Tophinke 2002: 8). Sie können auch nicht mit jenen fragmentarischen autobiographischen Äußerungen in Gesprächsaufzeichnungen verglichen werden, die an verschiedenen Stellen in diese Studie miteinbezogen werden (vgl. Amodeo/ Hörner 2010). Von Belang ist jedoch die Tatsache, dass sie alle m.E. unzweifelhaft als Texte von Wert sind, mit deren Hilfe wir aussagekräftige Erkenntnisse zu dieser besonderen Form der gelebten Mehrsprachigkeit gewinnen können. 6 Diese Text- 5 Sprachwissenschaftlich ggf. relevante Vergleichsdaten wie etwa Informationen zur sprachlichen Erstsozialisation in der jeweiligen Herkunftsgesellschaft der Autor/ innen, können in die vorliegende Untersuchung nicht miteinbezogen werden, da zu den sozialen, affektiven und spracherzieherischen Faktoren ihres Sozialisationsprozesses in der Erstsprache keine ausreichenden Informationen vorhanden sind. Auch wenn darüber hinaus die Selbstaussagen der Autor/ innen zu ihren Erfahrungen von Mehrsprachigkeit nicht in enger Verzahnung mit weiterem biographischem Quellenmaterial interpretiert werden können, wie dies etwa Pavlenko (2014: Kap. 7) bei der Beschreibung von Marc Chagalls literarischen Schreibversuchen unternimmt, wird diese Engführung der Perspektive billigend in Kauf genommen und in Bezug auf die Erkenntnisinteressen dieser Studie nicht als Defizit gewertet. 6 Vergleiche dazu die Bestandsaufnahme von Tophinke (2002) zu den Anlässen und Formen sprachbiographischer Rekonstruktion, in denen sie ausführt, dass diese sowohl mündlich als auch schriftlich realisiert werden könne und an „keine spezifische textuelle Form“ gebunden sei. Dazu zählten etwa „längere narrative Texte […], deren zentrales Thema die eigene Sprachbiografie oder die einer anderen Person ist. […] Hinzuzurechnen seien auch „kürzere Textsequenzen […], die das Verhältnis und die Einstellungen zur Sprache, den Sprach- und Schrifterwerb, Sprachkompetenzen usw. zum Thema machen. […] Auch in literarischen und semiliterarischen Arbeiten, in denen Lebensbeschreibungen erfolgen, spielen Bindungen an Sprachen nicht selten eine Rolle und wird damit Sprachbiografie - indirekt - behandelt“ (Tophinke 2002: 8). Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sog. „interkulturelle Autobiographien“ von der etablierten Spracherwerbsforschung in vielen Fällen nicht 6 Zur Einleitung ausschnitte, die das Datenmaterial für die vorliegende Untersuchung sind, müssen als äußerst heterogene F a c e t t e n biographischen Erzählens, als Kommentare und Reflexionen von Sprachlichkeit vor dem Hintergrund spezifischer Migrationserfahrungen gesehen werden. Bei den zitierten Texten bzw. -ausschnitten, die unter verschiedenen Aspekten untersucht werden, sind nämlich auch die unterschiedlichen kommunikativen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung mit in Betracht zu ziehen: Thematische Fokussierungen, inhaltliche Ausgestaltung sowie die formale Beschaffenheit, die sich in verschiedenen Textsorten (Ausarbeitungen von Poetikvorlesungen, Verschriftlichungen von Gesprächen etc.) konkretisieren, stehen in engem Zusammenhang mit dem spezifischen Schreibbzw. dem ihm vorausgehenden Redeanlass, der damit verbundenen Mitteilungsabsicht und dem potentiellen Lesepublikum und/ oder einem tatsächlichen Auditorium. Den zitierten Textpassagen ist gemeinsam, dass sie auf der Folie von Erinnerungen der mehrsprachigen Autor/ innen an Lebensabschnitte in nicht-deutschsprachigen und/ oder mehrkulturellen Kulturräumen entstanden sind, was für ihre Identitätskonstruktion und Standortbestimmung konstitutiv ist. Alle Texte können dabei als (teilweise ästhetisch äußerst anspruchsvoll) gestaltete Selbstentwürfe der Autor/ innen angesehen werden, wobei die jeweiligen biographischen Rückbezüge durchaus beabsichtigt sind. Sie können folglich als Entwürfe von Erzählräumen gelten, in denen das erzählende Ich, aufs Engste mit dem Erfahrungshorizont des Autors/ der Autorin verwoben ist, womit das hohe Erkenntnispotential in Bezug auf seine/ ihre Erfahrungen der eigenen Mehrsprachigkeit umrissen ist. 7 Diese Grundannahme wird auch nicht durch die akzeptiert werden, „weil qualitative Ansätze als nicht objektiv verpönt sind“ (Jessner 2007: 28). Demgegenüber steht jedoch in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen der letzten Jahre gerade die Subjektivität mehrsprachiger Individuen, d.h. wie die Mehrsprachigkeit von den Betreffenden selbst dargestellt wird, im Zentrum des Interesses. Dies besonders im Hinblick auf Prozesse des Zweitspracherwerbs (vgl. exemplarisch Kramsch 2012) sowie der sprachlichen Identitätskonstruktion (vgl. exemplarisch Busch 2021). 7 Vergleiche dazu auch die Ausführungen von Straub (2019d: 143f.), der autobiographischen Rückblicken, die narrativ vermittelt werden, aus Sicht der narrativen Psychologie und der Migrationsforschung, einen „unschätzbare[n] wissenschaftliche[n] Wert“ zuspricht. Dies gilt besonders für die narrative Vermittlung kontaktkultureller Erfahrungsdimensionen im Verlauf „migratorische[r] Existenz, da diese „von massiven Verlusterfahrungen, Anpassungsdruck und Entwicklungsherausforderungen, kurz: von oktroyierten Identitätsformationen“ geprägt ist. Am Beispiel des auch in vielen anderen Untersuchungen immer wieder gerne zitierten autobiographischen Textes „Lost in Translation. A Life in a New Language“ (1989) von Eva Hoffman, zeigt er auf, in welcher Weise hier signifikante „psychosoziale Phänomene“ narrativ vermittelt werden. Materialgrundlage 7 Tatsache eingeschränkt, dass der erkennbare literarische Gestaltungswille eine Distanzierung von der eigenen Biographie bedeuten kann. Dass dieses vielmehr als ein literarisches S u r p l u s zu bewerten ist, welches die Einblicke in die Erfahrung von Mehrsprachigkeit und den damit in Zusammenhang stehenden literarischen Schreibprozessen nicht verstellt, verdeutlichen beispielsweise die Überlegungen von Teufel in ihrem Vorwort zu Vladimir Vertlibs Publikation „Ich und die Eingeborenen. Essays und Aufsätze“ (2012f). Darin führt sie aus, dass die Essays einerseits das „autobiographische Fundament seiner Autorschaft“ aufdecken, womit u.a. migrationsbedingte Grenz- und Fremdheitserfahrungen gemeint sind, andererseits jedoch ein „paradigmatisches Zeugnis“ ablegen wollen. Infolgedessen sei die zentrale Frage von Vladimir Vertlibs Poetologie die, „wie aus der individuellen Erfahrung des Einzelnen - wie aus dem Leben, dem Erlittenen, Erlesenen und Erzählten - Literatur werden kann“ (Teufel 2012: 12). 1.2 Zum Begriffsfeld Sprache Wenn im Folgenden von ‚S p r a c h e‘, genauer gesagt von ‚H e r k u n f t s s p r a c h e‘ 8 (anstatt ‚M u t t e r s p r a c h e‘, vgl. unten) und ‚F r e m d s p r a c h e‘ die Rede ist, dann sind diese Begriffe immer pluralisch zu verstehen, da mit ihnen ein Ensemble von Sprachen und Varietäten gemeint ist, dessen Gesamtheit das S p r a c h r e p e r t o i r e von Sprecher/ innen darstellt, wobei die prominente Auffassung von Grosjean, „that the bilingual is NOT the sum of two complete or incomplete monolinguals“ (Grosjean 1989: 3; vgl. dazu auch das mit ihm 2002 durchgeführte Interview, [02/ 08/ 2021]) nach wie vor mit zu bedenken ist. Hinzu kommt, dass die grundlegenden konzeptuellen Veränderungen im Zuge poststrukturalistischen Denkens für den Untersuchungshorizont dieser Arbeit und das begriffliche Inventar beachtet werden. Damit ist gemeint, dass Sprachen u.a. nicht mehr als abgeschlossene Systeme vorstellbar sind, die unabhängig von Sprecher/ innen und deren individuellen Erfahrungen untersucht werden könnten. Meine Untersuchung sprachreflexiver Äußerungen mehrsprachiger Autor/ innen erfolgt somit vor dem Hintergrund der Favorisierung subjektorientierter Sprachkonzepte, die das Spracherleben bzw. die Sprachlichkeit von Menschen (vgl. Hein-Khatib 2007: 40-46) in den Fokus rücken und die Mehrsprachigkeit als ein „integratives Repertoire, mit dessen Hilfe sprachlich gehandelt wird“ be- 8 Vergleiche dazu die Definition von Chiellino, der davon ausgeht, dass „interkulturelle Autoren“ häufig einen „dreisprachigen Lebenslauf “ haben können, so dass man unter dem Begriff der Herkunftssprache ein „differenzierendes Synonym von Geburts- und Muttersprache“ verstehen müsse (Chiellino 2016: 93). 8 Zur Einleitung greifen. Wichtig ist dabei, wie Subjekte diese „Bedeutung und Bedeutungssysteme konstruieren, inszenieren oder erzählen“ können (Hu 2019: 17f.). Daran anknüpfend liegt das Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit im Aufspüren und der Analyse individueller, signifikanter Momente des Spracherlebens der jeweiligen Autor/ innen, die im Zusammenhang mit einer Neuinterpretation von Situationen zu begreifen sind, die für sie lebensgeschichtlich relevant sind. So gesehen sind die in den Textausschnitten dargestellten Spracherfahrungen immer als aussagekräftige biographische Erfahrungen einzustufen (vgl. Hein- Khatib 2007: 47). Aus ihren sprachreflexiven Texten wird herausgelesen, in welcher Form und in welchem Ausmaß, sie dabei jeweils auf ihr S p r a c h r e p e r t o i r e zugreifen können und/ oder mit welchen Schwierigkeiten dies auch verbunden sein kann (vgl. dazu exemplarisch Kramsch 2012; Pavlenko 2014; Busch 2021). Dieses allumfassende Sprachrepertoire ist zudem als eine Ressource für die Persönlichkeitsentwicklung vor allem auch im Sinne möglicher Identitätskonstruktionen aufzufassen. Es steht Sprecher/ innen auch zur Verfügung, um den kreativen Umgang mit ihren Sprachen und Varietäten zu erproben und damit das eigene Ausdrucksspektrum zu erweitern. Die kreativen Schreibprozesse der hier zur Diskussion stehenden, mehrsprachigen Autor/ innen bezeichnen solche Zugriffswege. Gerade die von mir verfolgte Subjektperspektive, die die ambivalenten Spracherfahrungen der mehrsprachigen Autor/ innen fokussiert, macht es erforderlich, die mögliche Verwendung emotional besonders markierter Begriffe wie ‚Muttersprache‘ und ‚Fremdsprache‘ im Vorfeld zu problematisieren: Eine dynamische Sichtweise auf den M e h r s p r a c h i g k e i t s e r w e r b und die M e h r s p r a c h i g k e i t, wie sie in den letzten Jahren modelliert wird (vgl. Herdina/ Jessner 2002; Jessner 2007; Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015) bedingt, dass sprachliche Zuordnungen nur mit Bedacht vorgenommen werden sollten, da man grundsätzlich „sehr viele Kombinationsmöglichkeiten und Varianten“ annehmen kann „zwischen der Mehrsprachigkeit von Kindern, die ihre Sprachen ungefähr gleich gut von Geburt an erwerben, und der institutionell erlernten Mehrsprachigkeit“ (Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015: 210). Hinzu kommt, dass die emotionale Einstellung von Sprecher/ innen zu Sprachen und Sprachkompetenzen sich möglicherweise ändert, dass generell die Zusammenhänge sehr komplex sind und dass durch Bezeichnungen fälschlicherweise Identitäten festgelegt werden können (vgl. dazu auch Brizić 2007). 9 9 Vergleiche dazu auch die Ausführungen von Kremnitz (2015: 28ff.), der die Bedeutung von B i l d u n g s s p r a c h e n, „in denen Sprecher ihr vor allem schriftliches kulturelles Wissen erwerben“ und die besondere „psychologische oder symbolische Bedeutung“ hervorhebt, für mehrsprachige Autor/ innen wie Ilma Rakusa und Moses Rosenkranz haben kann. Zum Begriffsfeld Sprache 9 ‚Muttersprache‘ ist durchgängig der zentrale Begriff sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch, als auch in den Textauszügen der in dieser Studie zitierten Autor/ innen, aber auch in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen. Bei ‚Muttersprache‘ ebenso wie bei „‘Madre lingua’, ‘mother tongue’, ‘alma mater’“ handelt es sich um Sprachbilder mit einer gewissen Suggestivkraft, die die Vorstellung vermitteln, „che la funzione del linguaggio venga ‘presa’ e appresa attaccati al seno materno, insieme al latte“ (Amati Mehler et al. 2003: 82). 10 Dabei soll eine mögliche Schlüsselrolle der Mutter beim frühkindlichen Spracherwerb nicht in Abrede gestellt werden - zumal bereits drei Monate vor der Geburt das Hörvermögen des Embryos insoweit ausgebildet ist, dass er „die einzigartige Klangschrift der mütterlichen Stimme“ und ihre Sprache identifizieren kann (Butzkamm/ Butzkamm 2008: 5). Die Annahme - hier sei stellvertretend die Psychoanalyse genannt - dass die primäre körperliche und sprachliche Beziehung zur Mutter die Entwicklung des kindlichen Erstspracherwerbs entscheidend prägt, ist somit keineswegs obsolet, muss aber aus verschiedenen Gründen modifiziert werden und einer erweiterten Perspektive weichen. Zunächst ist in Betracht zu ziehen, dass in der Vergangenheit umfangreiche klinische Untersuchungen zu dem Ergebnis geführt haben, dass die Muttersprache nicht ausschließlich einer Mutter-Kind-Symbiose zuzuordnen ist, ohne die Funktion weiterer Bezugspersonen miteinzubeziehen: Sia perché il rapporto primario si può declinare fin dalle origini in più linguaggi (anzi - se teniamo conto dei dialetti, dei gerghi, dei lessici familiari, oltre che delle lingua ufficialmente codificate - in una certa misura ogni bambino viene allevato in più lingue); sia perché, a livelli precoci dell’esistenza, la caratteristica precipua del rapporto materno è quella di essere indifferenziato e di comprendere quindi anche altri rapporti - il padre, le nonne … - che si embricano con quello materno 11 (Amati Mehler et al. 2003: 99). Ein weiteres, gewichtiges Argument, das gegen die Entscheidung, den Begriff ‚Muttersprache‘ zu benutzen, spricht, ist zudem die Bedeutung biographischer 10 „dass die Sprache zusammen mit der Muttermilch an der Mutterbrust ‚aufgenommen‘ und erlernt wird“ (Übersetzung von Klaus Laermann 2010: 136, im Folgenden KL). 11 „weil sich die erste Beziehung schon von Anfang an in mehreren Sprachen entwickeln kann. Wenn wir Dialekte, Slang und familiäre Redeweisen ebenso wie offiziell kodifizierte Sprachen in Rechnung stellen, dann wächst in der Tat jedes Kind mit mehreren Sprachen auf. Doch in der frühesten Entwicklung ist die Beziehung zur Mutter undifferenziert und umfasst mithin auch andere Beziehungen, die sie überlappen, beispielsweise die zum Vater und zu den Großeltern (Amati Mehler et al. 2010: 153, KL: 153). 10 Zur Einleitung Konstellationen - vor allem unter den Bedingungen von Migration. Nicht selten spielen auch hier mehr als nur eine Sprache und/ oder Varietät und damit mehr als nur eine Bezugsperson bei der sprachlichen Entwicklung des Kindes eine große Rolle. 12 Aus diesen Gründen bevorzuge ich im Folgenden den Begriff ‚Herkunftssprache‘, der mehrere und durchaus auch sehr verschiedene Sprachen bezeichnet, dessen semantischer Gehalt sowohl soziokulturelle als auch biographische Komponenten umfasst und der damit entschieden weiter greift, als der traditionelle Begriff ‚Muttersprache‘. Der generelle Verzicht auf die in der Sprachwissenschaft üblichen, funktionalen Kurzbezeichnungen L1, L2, L3 etc., der aus dem bisher Dargelegten hervorgeht, setzt sich auch mit der Wahl des Begriffes ‚Fremdsprache‘ fort - obwohl die Auffassung darüber, welche Sprache im Einzelfall als Fremdsprache empfunden wird, von den mehrsprachigen Autor/ innen oft nicht eindeutig beantwortet werden kann und damit an das mit dem Begriff ‚Muttersprache‘ skizzierte Dilemma erinnert. Für die Verwendung dieses Begriffs spricht aus meiner Sicht jedoch die Tatsache, dass das Adjektiv fremd und damit auch das Kompositum Fremdsprache in einem traditionsreichen und für diese Studie mitzudenkenden Diskurszusammenhang steht (vgl. dazu Ehlich 2010), in dem u.a. die Dichotomien (und ihre Dekonstruktion) von Nähe und Distanz und/ oder Eigenem und Fremdem und/ oder Zentrum und Peripherie sowie die Thematisierung von Inklusion und Exklusion aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven grundsätzlich mitschwingen. ‚Fremdsprache‘ ist aus diesem Grund eine adäquatere und aussagekräftigere Bezeichnung als der mit ‚Herkunftssprache‘ eher korrespondierende Begriff ‚Zielsprache‘ oder ‚Landessprache‘ (vgl. Chiellino 2016: 133). 1.3 Sichtweisen Das im Titel dieser Untersuchung verwendete Wort Einsichten meint konkret die Möglichkeit, die Reflexionen der Autor/ innen in den zitierten Texten exemplarisch rezipieren zu können. Es ist aber auch als Synonym für ‚Erkenntnisse‘ in Bezug auf ihre D i s p o s i t i o n 13 als mehrsprachige Individuen und im engeren Sinn, die damit in Zusammenhang stehenden S c h r e i b d i s p o s i t i o n e n intendiert. Im Folgenden werden hierzu mehrperspektivisch Denkanstöße aus 12 Vergleiche dazu etwa die Äußerungen von José F.A. Oliver in Kap. 3.1. 13 Unter Disposition verstehe ich generell „die Fähigkeit und Bereitschaft einer Person, best. Gedanken und Gefühle zu erleben, best. Leistungen zu erbringen und best. Verhaltensweisen zu äußern“ (Wirtz online, Stand: 13.02.2021). Sichtweisen 11 unterschiedlichen wissenschaftlichen Untersuchungsfeldern mit den Selbstäußerungen der Autor/ innen in Zusammenhang gebracht und als Deutungsangebote diskutiert. Dabei wird zunächst das S i c h - E r i n n e r n als Voraussetzung und Ausgangsbasis für das Schreiben der autobiographisch-narrativen und deskriptivreflexiven Texte untersucht (vgl. Kap. 3). Die Aktivierung des Gedächtnisses wird dabei nicht nur als notwendiger Motor des Schreibprozesses angenommen, sondern auch als Möglichkeit, Erfahrungen eine Form zu geben, 14 die Identitätskonstruktionen und kulturelle Neupositionierungen überhaupt erst ermöglichen (vgl. Welzer 2011) und im Kontext von Migration eine besonders wichtige Rolle spielen. Emotionen haben dabei die essenzielle Funktion, Aufmerksamkeit zu verstärken und Erinnerungen zu stabilisieren (vgl. Assmann: www.bpb.de, Stand: 02.10.2021). Die hier untersuchten Äußerungen lassen sich dabei verschiedenen Dimensionen zuordnen, die von den Autor/ innen in besonderer Weise fokussiert werden. Die erste umfasst die Erinnerungen an die Kindheit und Adoleszenz, an die Spracherfahrungen in mehrsprachiger Umgebung und die damit einhergehenden Prozesse sprachlicher Identifizierung. Eine zweite Dimension betrifft die Erinnerung an kulturelle Ausdrucksformen der Herkunftsgesellschaft, die auf den gegenwärtigen Schreibprozess bezogen werden. Eine dritte Dimension bezieht sich auf die Auswirkungen eines „kollektiven Gedächtnisses“ (Erll 2017: 5) und des damit verbundenen, für den Schreibprozess relevanten, Erinnerungspotentials bestimmter Orte. Schließlich wird in einer vierten Dimension die Reaktivierung von Lebenserfahrungen in der Herkunftskultur und die Vergegenwärtigung mehrsprachiger Identität im Zusammenhang mit der Entstehung eines interkulturellen Gedächtnisses reflektiert. Besondere Beachtung im Hinblick auf das Erinnerungsvermögen verdient schließlich der Aspekt der Koexistenz mehrerer Sprachen (vgl. Hassoun 2003; Brizić 2007), genauer gesagt, wie die Sprachen eines Subjekts interagieren, in welchem Umfang erworbene Sprachen auch in anderskulturellen Umgebungen fortbestehen und welche Auswirkungen das auf die kreativen Schreibprozesse mehrsprachiger Autor/ innen haben kann (vgl. Kap. 4). Eine eher negative Schreibdisposition geht insbesondere aus den Reflexionen exilierter Autor/ innen hervor, die über einen langen Zeitraum nicht an eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer denken konnten. Ihr Schreibprozess in der (fremden) Literatursprache verläuft nicht reibungslos, und eine Reihe inne- 14 Konkretisierungen von Gedächtnisspuren in den literarischen Texten werden teilweise als Einschreibungen der jeweiligen Herkunftssprache begriffen, die auf das sog. Interkulturelle Gedächtnis mehrsprachiger Autor/ innen hinweisen könnten (vgl. Chiellino 2001d und 2002). 12 Zur Einleitung rer Konflikte bei der Auseinandersetzung um das Problem der sprachlichen Identität sind zu erkennen. Dabei wird auch bezweifelt, ob die Qualität ästhetischer Gestaltung ausreicht, um den intendierten Mitteilungs- und Wirkungsabsichten zu genügen (vgl. Kap. 5). Die bereits in den frühen Grundlagentexten der psychoanalytischen Mehrsprachigkeitsforschung genannten Dynamiken des Unbewussten, die dort als Bedingungsfaktoren für den Fremdsprachenerwerb und generell das Spracherleben mehrsprachiger Individuen gelten, werden bis heute breit rezipiert (vgl. Kilchmann 2019) und bieten auch für die vorliegende Untersuchung einige zielführende Denkanstöße, insofern sie in Zusammenhang mit einer inneren Disposition des Zweifelns und des Empfindens von Widerständen gebracht werden können. Darüber hinaus thematisieren Autor/ innen sowohl in sprachtheoretischen Texten als auch in Reflexionen zu ihren Schreiberfahrungen die Eigenständigkeit von Sprache, die Bedeutungserschließungen und das Festlegen von Bedeutung grundsätzlich verhindert (vgl. Lacan 2017). Die dadurch verbleibende ‚Restfremde‘ entzieht sich dem individuellen Zugriff und kann bestenfalls als Chance für immer wieder neue Selbstentwürfe aufgefasst werden. Eine weitere Erschwernis, mit denen mehrsprachige Autor/ innen sich auseinandersetzen müssen, die ihre Fremdsprache Deutsch als Literatursprache gewählt haben, ist die oft von Vorurteilen behaftete negative Einschätzung ihres Ausdrucksvermögens. Diese äußert sich beispielsweise in Sprachkorrekturen ‚professioneller‘ Leser/ innen während der redaktionellen Arbeit an ihren Texten und werden, die von den Autor/ innen oft als unrechtmäßig und limitierend empfunden werden (vgl. Kap. 6). Im Unterschied zu diesem eher negativen Erfahrungshorizont heben viele Autor/ innen jedoch eine grundsätzlich konstruktive Haltung hervor. Diese Disposition des S i c h - F r e i s c h r e i b e n s (vgl. Kap. 7) führt dazu, dass das ‚Terrain‘ der Fremdsprache als ein Raum empfunden wird, der ‚Schreibbewegungen‘ aus einer als befreiend empfundenen Distanz zur Herkunftssprache ermöglicht. Aufschlussreiche Erklärungsansätze dazu bietet - auch aus historischer Perspektive - die psychoanalytische Mehrsprachigkeitsforschung (vgl. Amati Mehler et al. 2003), die auf die Möglichkeiten enttabuisierter Sprachverwendung im Hinblick auf das Ausdruckspotential in einer Fremdsprache hinweisen. Die Möglichkeiten und Grenzen eines ‚befreiten‘ Umgangs mit der Fremdsprache und der Entfaltung eines literarischen Profils in ihr hängen auch ganz wesentlich mit der emotionalen Bindung an Herkunfts- und Fremdsprache zusammen. Unter Einbezug grundlegender Forschungsarbeiten zum multilingual writing (vgl. Pavlenko 2014) kann einigen Selbstäußerungen mehrsprachiger Autor/ innen ergänzend dazu entnommen werden, dass ihnen eine positive emotionale Annäherung an das Deutsche gelingt, und sie sich damit einen neuen kreativen Freiraum schaffen können. Sichtweisen 13 Relevante und für diese Studie äußerst zielführende Erkenntnisse können aus unterschiedlichen Konzeptionen und Forschungsergebnissen im Zusammenhang mit dem vielschichtigen Problem der Identität gewonnen werden (vgl. Keupp u.a. 2008; Straub 2019a). Die Auffassung, dass es sich bei der Konstruktion von Identität um einen offenen, lebenslangen Prozess handelt und diese selbst pluralisch zu verstehen ist, da Subjekte T e i l i d e n t i t ä t e n bilden, die verschiedenen Rollen und Funktionen entsprechen und dass in diesem Prozess die narrative Rekonfiguration biographischer Daten wesentlich ist, wird zu den verschiedenen Formen von Selbstäußerungen der Autor/ innen in Bezug gesetzt. Die Reflexionen, in denen sie sich mit ihrer Sprachlichkeit im Zusammenhang mit der Identitätskonstruktion befassen und sich selbst mit und in ihren Sprachen positionieren, sind äußerst aussagekräftig und werfen ein Licht auf das Bewusstsein, das sie insbesondere im Hinblick auf ihre Sprachidentität entwickeln (vgl. Kap. 8). Eng damit verbunden ist die Frage nach der Funktion, die Emotionen im Prozess der Identitätskonstruktion spielen, anders ausgedrückt, wie Subjekte ihre Sprachen erleben, zu welcher Sprache sie sich emotional stärker hingezogen fühlen, in welcher Sprache sie ihre Emotionalität am ehesten ausdrücken können und dergleichen mehr (vgl. Pavlenko 2005 und 2014). Besonders Textpassagen, in denen Autor/ innen im autobiographischen Rückbezug ihre Mehrsprachigkeitserfahrungen narrativ entfalten, bieten interessante Einblicke in den emotionalen Bezug, den sie zu Herkunfts- und Fremdsprache entwickeln (vgl. Kap. 9). Des Weiteren geht aus vielen Texten erstens hervor, dass die Autor/ innen ein besonderes metasprachliches Bewusstsein in Bezug auf ihr Sprachrepertoire (Busch 2021) entwickeln, d.h. darüber, welche Sprachen und Varietäten ihnen in welchem Umfang zur Verfügung stehen. Zweitens wird deutlich, dass sie dieses als eine Ressource für die narrative und/ oder reflexive Rekonstruktion ihrer Teilidentitäten im Prozess des Schreibens auffassen, was sie u.a. darin unterstützt, signifikante, lebensgeschichtliche Diskontinuitäten zu überbrücken (vgl. Kap. 10). Am Schluss dieser Studie steht die Auseinandersetzung mit der literarischen Kreativität im Zentrum. Es wird der Frage nachgegangen, in welcher Form mehrsprachige Autor/ innen sich in ihrer Literatursprache Deutsch verorten, genauer gesagt, wie sie die Gestaltung dieses S p r a c h r a u m s rückblickend bewerten und/ oder in Zukunft vornehmen möchten, welche Wirkungsabsichten sie mit ihrer Literatur verfolgen und in welcher Weise sie dabei Bezugnahmen auf außersprachliche, soziokulturelle Kontexte reflektieren (vgl. Kap. 11). 2 Innovative Synthesen: 15 ein Prolog Der vorliegenden Studie, die sich mit den vielschichtigen und ambivalenten Erfahrungen mehrsprachiger Autor/ innen, die das Deutsche als ihre Literatursprache gewählt haben, befasst, möchte ich einige Gedanken aus dem von Kristeva 1988 erstmals publizierten Text „Etrangers à nous-mêmes“ voranstellen, da sie besonders eindrücklich und wegweisend Kernprobleme dieser besonderen Erfahrungsdimension der Mehrsprachigkeit zum Ausdruck bringen. Kristeva betont, dass die Entscheidung, Sprache zu formen, zu gestalten, sie zum Instrument des individuellen Schreibprozesses zu machen, sich in und mit ihr auszudrücken besonders dann ein mutiger Schritt ist, wenn es sich dabei um eine Fremdsprache handelt. Die Bindungen an die Herkunft und die Herkunftssprache rücken zunächst in den Hintergrund. Als durchaus auch schmerzhafte Selbstentfremdung verschafft die neue Sprache, dennoch jene „distance exquise, où s’amorce aussi bien le plaisir pervers que ma possibilité d’imaginer et de penser, l’impulsion de ma culture“ (1988: 25). 16 Als Akt der Selbstbefreiung von den Zwängen der Muttersprache (Kristeva 1988: 48), sich keiner Kultur mehr zugehörig fühlend, erlebt der F r e m d e eine besondere Dimension von S p r a c h b e f r e i u n g. Als Mensch, der in seiner Herkunftssprache den Zwängen gesellschaftlicher Normierung und familiärer Tabuisierung erlegen war, betritt er in der Fremdsprache neues Terrain: Telle personne qui osait à peine parler en public et tenait des propos embarrassée dans sa langue maternelle se retrouve dans l’autre langue un interlocuteur intrépide. L’apprentissage de nouveaux domaines abstraits se révèle d’une légèreté inouïe, les mots érotiques sur lesquels pesait l’interdit familial ne font plus peur 17 (Kristeva 1988: 49). Kristeva bezeichnet die neu erlernte Sprache jedoch als eine künstliche, eine Art Algebra oder musikalische Übung, die sich nicht in gleicher Weise wie die Herkunftssprache in den Körper und das Gedächtnis eingeschrieben hat. Nur ein Genie oder ein Künstler ist in der Lage, etwas anderes als künstliche Redundanzen zu erzeugen und Innovatives in ihr zu entwickeln. Nur allzu oft kreisen 15 Vergleiche Anm. 21. 16 „erlesene Distanz, aus der sowohl die perverse Lust als auch meine Möglichkeit zu imaginieren und zu denken erwachsen, der Impuls meiner Kultur“ (Übersetzung von Xenia Rajewsky, 1990; im Folgenden XR). 17 „Diese Person, die in der Öffentlichkeit kaum zu sprechen wagte und sich in ihrer Muttersprache nur verlegen und wirr äußerte, entpuppt sich in der neu angeeigneten Sprache als unerschrockener Gesprächspartner. Neue abstrakte Bereiche werden mit unerhörter Leichtigkeit erlernt, erotische Wörter und Wendungen, auf denen früher das familiale Verbot lastete, machen keine Angst mehr“ (XR: 41). 16 Innovative Synthesen: ein Prolog die neuerlernten sprachlichen Konstruktionen des F r e m d e n um sich selbst, ins Leere, „dissociées de son corps et de ses passions, laissées en otages à la langue maternelle“ 18 (Kristeva 1988: 49). Er weiß in dieser Hinsicht nicht, was er sagt und seine Rede ruft in ihm keinerlei Irritationen oder Widerwillen hervor, „tant son inconscient se protège de l’autre côté de la frottiere“. 19 In ihrem Essay „Le silence des polyglottes“ (Kristeva 1988: 26-29) beschreibt sie bildhaft das Agieren in einer fremden Sprache als einen Zustand, in dem man radikal von der Kindheit abgeschnitten ist. Man trägt die Herkunftssprache in sich wie „un caveau secret ou comme un enfant handicapé - chéri et inutile - ce langage d’autrefois qui se fane sans jamais vous quitter“ 20 (Kristeva 1988: 27). Um diese Spaltung zu überwinden, muss eine innere Sammlung und Konzentration stattfinden können, wofür beispielsweise Künstler bzw. Schriftsteller, wie ich hinzufügen möchte, prädestiniert sind. Das Selbst muss intensiv erforscht und dem Gedächtnis sowie dem Körper nachgespürt werden, um Ursprüngliches und neu Erworbenes zu einer jenen „synthèses mobiles et novatrices“ 21 (Kristeva 1988: 49f.) zu verschweißen. Im Anschluss an die hier skizzierten Überlegungen möchte ich folgende Leitfragen formulieren: In welcher Weise reflektieren die hier untersuchten mehrsprachigen Autor/ innen i n n o v a t i v e S y n t h e s e n in Bezug auf ihr literarisches Schaffen und welche Strategien entwickeln sie, um Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander zu verschmelzen, die Spaltung von ihrer Erstsprache zu überwinden und damit gleichsam sich ihre sprachlichen Wurzeln im Prozess des Schreibens zu vergegenwärtigen? 18 „getrennt von seinem Körper und seinen Leidenschaften, die Geiseln der Muttersprache geblieben sind“ (XR: 41). 19 „denn sein Unbewusstes verbirgt sich auf der anderen Seite der Grenze“ (XR: 41). 20 „eine geheime Gruft oder wie ein behindertes Kind, geliebt und unnütz - diese Sprache von einst, die verblasst, aber euch nie verlässt“ (XR: 24). 21 „beweglichen und innovativen Synthesen“ (XR: 41). 3 Erinnerungen Sicherlich möchte ich mir aus diesem Grund die Erinnerung als ein Meer vorstellen, in dem wir alle treiben, eins, das sich in der Bewegung der Wellen in ein Meer aus unzähligen Erinnerungen verwandelt (María Cecilia Barbetta 2019b: 65). Besonders für Autor/ innen, die ihre Herkunftskultur, sei es aus einer selbstgetroffenen Entscheidung oder gezwungenermaßen , verlassen und mit einer anderen Sprache, in einem zunächst fremden Umfeld zu leben beginnen, ist der Prozess des Sich-Erinnerns 22 oftmals ein signifikanter Ausgangspunkt und ein bedeutender Motor ihres Schreibprozesses. Den migrationsbedingten Einschnitt, den diese in erster Person oder als Nachfahren von Migrant/ innen erfahren, die raum-zeitliche Entfernung von der Herkunftskultur sowie die generelle Notwendigkeit nicht nur über ein „identisches und kohärentes Selbst“ (Welzer 2011: 26) und eine damit einhergehende, innere Balance (vgl. Straub 2019a) zu verfügen - sondern vor allem auch eine befriedigende kulturelle, insbesondere mehrsprachliche Identität zu konstruieren, erklärt das Bedürfnis nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Die Erinnerung an Ereignisse der eigenen Lebensgeschichte erhält ein besonderes Gewicht. Diese Rückkopplung an die Vergangenheit spiegelt sich in vielen Facetten in den literarischen Werken der im Folgenden zitierten mehrsprachigen Autor/ innen. Von besonderem Interesse für meine Studie ist jedoch vor allem die Tatsache, dass erinnerte Episoden und Erfahrungen Gegenstand ihrer Selbstreflexionen sind, zum Anlass für die Auseinandersetzung mit Spracher- 22 Aus Sicht der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie ist das Gedächtnis generell als ein konstruktives System zu denken. Erinnerungsspuren, die die Erfahrungen im Gehirn speichern, sind nicht an bestimmten Stellen des Gehirns zu finden, sondern als „Muster neuronaler Verbindungen über verschiedene Bereiche des Gehirns verteilt und als solche verändert oder unverändert abrufbar.“ Somit bedeutet Sich-Erinnern, dass assoziativ diese Muster aktiviert werden, was dazu führen kann, dass sich der Inhalt der Erinnerungen verändern kann. Erinnerungen sind, laut Welzer, so gut wie nie „authentisch“, sondern die Erinnerung werde vielmehr „anwendungsbezogen modelliert“ (Welzer 2011: 20f.). Dies gilt m.E. nicht nur für mündliche Interaktionssituationen, sondern auch bei der Abfassung von Texten, bei denen kommunikative Absichten und Gestaltungswünsche eine Rolle spielen und somit die Konkretisierung von Erinnerung beeinflussen. 18 Erinnerungen fahrungen werden und letztlich auch zu sprach- und literaturtheoretischen Konzepten überleiten können. 23 Die Frage, die sich zunächst stellt, ist, welche Aspekte im Prozess des Sich- Erinnerns für die Deutung/ das Verständnis der in der Folge zitierten Selbstäußerungen mehrsprachiger Autor/ innen besonders relevant sind. Zunächst gelten grundsätzlich Emotionen für den Vorgang des Erinnerns als die entscheidenden „Operatoren“ von Bewertungen und Bedeutungszuschreibungen. 24 In sämtlichen Gruppen, die von einem sozialen und/ oder familiären Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt sind, sog. Wir-Gruppen, ist der emotionale Gehalt der Erinnerungen ausschlaggebend für ihre Festigung im Gedächtnis. Aus diesem Grund werden insbesondere alle Ereignisse erinnert, die auffallen und beeindrucken (Welzer 2011: 11f.). So gesehen sind Emotionen die „Aufmerksamkeitsverstärker, die auch zur Stabilisierung der Erinnerung beitragen“ (Assmann, www.bpb.de, Stand: 11.05.2020). Sie begleiten die räumliche und zeitliche Zuordnung von episodischen, autobiographischen Erinnerungen und können bei ihrem Abruf reaktiviert werden. Dies ermöglicht ein „Wieder-Erleben (reexperiencing)“ vergangenen Geschehens, was auch durch Visualisierung mehr als durch andere Sinnesmodalitäten, stimuliert werden kann (Pohl 2010: 75). Dabei muss hervorgehoben werden, dass „die emotionale Einbettung einer erlebten Situation“ relevanter für das Erinnerte ist, als das wirkliche Geschehen. Hinzu kommt, dass „die emotionale Tönung“ ausschlaggebend für die Reichhaltigkeit und Präzision des Erinnerten sein kann, wobei diese sog. „affektive Kongruenz“ „durch die Existenz getrennter Systeme für die Speicherung von impliziten emotionalen Erinnerungen und von expliziten Erinnerungen an Emotionen“ entsteht. Durch bestimmte, verfügbare Hinweise, können die „emotio- 23 Vergleiche dazu folgende Ausführungen: „[D]ie scheinbar unmittelbare Erinnerung an biographische Erlebnisse und Ereignisse [sind] als Produkte subtiler Interaktionen all jener Prozesse zu verstehen […], die am Werke sind, wenn unser Gehirn Erinnerungsarbeit leistet: Interaktionen also zwischen Erinnerungsspuren an Ereignisse, dem Wiedererwecken von Emotionen, dem Import ‚fremder‘ Erinnerungen, affektiven Kongruenzen und ganz generell den sozialen Umständen der Situationen, in denen über Vergangenes erzählt wird“ (Welzer 2011: 40); vgl. dazu auch Oliver (2007e). 24 Vergleiche dazu die Annahme von Welzer in seiner Theorie zum kommunikativen Gedächtnis, dass dieses als ein emotionales Gedächtnis aufzufassen sei, denn „Emotionen sind die zentralen Operatoren, mit deren Hilfe wir Erfahrungen als gut, schlecht, neutral usw. bewerten und entsprechend in unserem Gedächtnis abspeichern. Autobiographische Gedächtnisinhalte können nur selbstbezogene Inhalte sein und diese sind ohne emotionales Register nicht denkbar. Emotionen, Erinnerungen an Emotionen und emotionale Erinnerungen haben immer eine körperliche Signatur - insofern ist das autobiographische Gedächtnis immer auch ein Gedächtnis, das auf unser Körper-Selbst bezogen ist“ (Welzer 2011: 150). Erinnerungen 19 nalen Implikationen“ von Erlebnissen erinnert bzw. ein sog. assoziatives Netz leichter aktiviert werden (Welzer 2011: 35f.). Um diesen Vorgang zu erleichtern, können im Verlauf eines autobiographisch geprägten Schreibprozesses beispielsweise signifikante Episoden der Lebensgeschichte bewusst rekonstruiert und im Sinne eines ‚Sich-vor-Augen-Führens‘ visualisiert und damit vergegenwärtigt werden. Im Unterschied zu mündlichen Erzählsituationen, in denen beispielsweise das gemeinsame Erinnern einer Gruppe im Vordergrund steht, ermöglicht deren Verschriftlichung in sprachreflexiven und literarischen Texten einem erweiterten Rezipient/ innenkreis den Zugang und garantiert somit in gewissem Umfang den Fortbestand des Erinnerten/ der Erinnerungen (vgl. dazu Reeg 2000: 267-269). Ich möchte hierzu ergänzend anmerken, dass auch aus historischer Sicht diese Möglichkeit des Aktivierens und Konservierens von Erinnerungen für Autor/ innen, die durch Migration und/ oder Exil einen Bruch in ihrer Lebensgeschichte erfahren haben von großer Bedeutung ist. Damals wie heute beschränkt und/ oder verhindert die zeit-räumliche Distanz den kollektiven Erinnerungsprozess im Familien- und Freundeskreis. So gesehen ist die Kontinuität eines gemeinsamen Sich-Erinnerns, wobei vor allem Familien sich als Wir-Gruppe erkennen und konstituieren, durch das Verlassen der Herkunftskultur unterbrochen. 25 Die „eigensinnige Verständigung der Gruppenmitglieder darüber, was sie für ihre eigene Vergangenheit im Wechselspiel mit der Großerzählung der Wir-Gruppe halten und welche Bedeutung sie dieser beilegen“ (vgl. Welzer 2011: 11-16) 26 fällt entweder vollkommen weg oder kann auf jeden Fall nicht mehr mit der gleichen Intensität ausgeübt werden. Gemeinsame Momente des Sich-Erinnerns in der Familie und zusammen mit Freunden können ihrerseits lediglich erinnert und schriftlich fixiert werden. Als Erinnerungsfragmente aus großer zeitlicher und räumlicher Distanz an identitätsstiftende Momente, die auf einen anderen kulturellen Kontext verweisen, werden sie somit ‚eingefroren‘, inventarisiert und entziehen sich den oben erwähnten Veränderungen. Diese sind letztlich auch nicht beabsichtigt. Die Verschriftlichung des Familiengedächtnisses (oder auch des Gedächtnisses einer Dorfgemeinschaft) bedeutet ihre Fiktionalisierung und erhält eine Mitteilungsfunktion im Hinblick auf potentielle Leser/ innen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass in den literarischen 25 In „kunstvolle[r] Montage“ wird der Selbstentwurf der Familie beispielsweise in allen Erinnerungserzählungen mitthematisiert und fortgeschrieben. Das Bild von der Vergangenheit, das dabei entsteht, „ein emotionales Bild, nicht Wissen, sondern Gewissheit“ ist (vgl. Welzer 2011: 166f.). 26 Vergleiche dazu auch die Gegenüberstellung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis bei Roche (2013: 229-232). 20 Erinnerungen Texten narrative Räume - Ersatzräume für die Schreibenden - entstehen können, in denen die familiäre Interaktion in der Fiktion neu konstruiert wird. 27 Die Konstruktion der erinnerten Episoden findet im Unterschied zu mündlichen Erzählsituationen somit ausschließlich im kreativen Akt des Schreibens als introspektiver Vorgang statt. Erinnerung wird gestaltet und/ oder verdichtet in Texten, die sowohl narrativ als auch reflexiv angelegt sind, wobei die Grenzen dieser Formate fließend sein können. Die Vergegenwärtigung lebensgeschichtlicher Episoden im Schreibprozess ist dabei als eine Form der „Konsolidierung durch wiederholtes Durchdenken und Durchfühlen desselben Ereignisses“, das in der Erinnerung bleiben soll, zu werten (vgl. Welzer 2011, mit Bezug auf Singer: 234). 28 Darüber hinaus ist diese ‚Archivierung‘ - und dies trifft m.E. auch auf die in dieser Studie zitierten Autor/ innen zu - immer auch als ein Akt der Bewahrung von Vergangenem zu bewerten, die der identitätsstabilisierenden Selbstvergewisserung und kulturellen Verortung dient. Abgesehen von der wichtigen Rolle s o z i a l e r und k u l t u r e l l e r S c h e m a t a für die Entwicklung unseres Gedächtnisses (vgl. u.a. Wierzbicka 1994; Kölbl/ Straub 2001: 519f.; Ziem 2008) ist meines Erachtens der Aspekt der heterogenen Zusammensetzung von Gedächtnisinhalten nennenswert. Von der Gedächtnisforschung wird betont, dass Vieles, was der eigenen Erfahrung zugeschrieben wird, nicht unbedingt Selbsterlebtes sein muss (vgl. dazu Pohl 2010: 81-83). Elemente aus Filmen, Erzählungen und Erinnerungen anderer Menschen können beispielsweise in die eigene Lebensgeschichte einfließen, ohne dass dies dem Beteiligten bewusst ist. Oft kann dabei nicht mehr unterschieden werden zwischen einer medial vermittelten Episode und dem eigenen Erleben 27 Dieser Gedanke wurde bereits in der Anfangsphase zur Forschung der Migrationsliteratur geäußert. Untersuchungsgegenstand waren dabei u.a. die ersten auf Italienisch verfassten Gedichte und Prosatexte italienischer Immigranten im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre. Chiellino geht beispielsweise bei seinen Überlegungen zu einer „dreistufigen Grundstruktur“ ihres Schreibprozesses davon aus, dass die erste Stufe als eine „Zeit der Isolation“ bezeichnet werden kann. „Die Zeit der Entdeckung eines Papierblattes als Partner in der Isolation. […] Das Schreiben ist zu diesem Zeitpunkt ganz eindeutig als Ersatz für das ausgefallene Sprechen zu verstehen“ (Chiellino 1989: 19f.). Vor dem Hintergrund der damaligen kulturellen Organisationsformen mit Schreibwettbewerben und der Schaffung erster Publikationsorgane in der Emigration, kann auch davon ausgegangen werden, dass es sich dabei „um die Wiedererlangung einer verlorenen Kollektividentität mit dem Ziel, Rückhalt und Geborgenheit in der Fremde zu sichern“, handelt (Reeg 1988: 30). 28 Aus der Gedächtnisforschung ist bekannt, dass sich die neuronale Gedächtnisspur verändert, wenn dieser Prozess abgebrochen wird. Neue Spuren werden beim Erinnern geschrieben, wodurch sich die permanente Veränderung des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses erklärt (Welzer 2011: 234). Erinnerungen 21 (vgl. dazu Welzer 2011, insbesondere Kap. VIII). An Hand der von mir zitierten Textausschnitte kann dies zwar im Einzelnen nicht verifiziert werden. Auffällig ist jedoch, dass der eigene Erinnerungshorizont in einigen Texten bewusst überschritten und das Gedächtnis wichtiger Bezugspersonen miteinbezogen wird. Deren Rückkopplung an die Vergangenheit, ihre Sehnsüchte und Erinnerungen werden somit auch zum Gegenstand der Selbstreflexion in den autobiographisch geprägten Texten. Auf Grund der engen Verflechtung von eigener Biographie und (literarischem) Schreibprozess (vgl. Amodeo/ Hörner 2010: 23) ist bei allen im Folgenden zur Diskussion stehenden Textausschnitten der autobiographische Rückbezug in Bezug auf die Rekonstruktion von Erinnerungen evident, weshalb sie im Rahmen meines Untersuchungsansatzes als subjektive Äußerungen der Autor/ innen in Bezug auf ihre individuell erlebte Mehrsprachigkeit eine besondere Geltung erhalten. Sie ermöglichen differenzierte Einsichten in ihre Spracherfahrungen. Der Grad und die Form der Fiktionalisierung bzw. die Tatsache, dass die Autor/ innen dabei textintern immer ein erzählerisches, darstellendes, dokumentierendes Ich gestalten, ist im Rahmen meiner Erkenntnisziele von untergeordneter Bedeutung. Dies gilt nicht nur für die explizit narrativ gestalteten und metaphorisch verdichteten Texte bzw. Textpassagen, sondern auch dort, wo ohne erzählerisches Beiwerk Argumentationsstränge entfaltet und Konzepte entworfen werden, wie dies etwa in sprachtheoretischen Texten der Fall ist. Auch hierbei wird vorwiegend aus den eigenen Spracherfahrungen geschöpft und bewusst an die Vergangenheit angeknüpft, weshalb auch dies als ein genuin subjektives und lebensgeschichtliches Schreiben zu verorten ist. Eine interessante Ergänzung zu diesen Überlegungen aus Autorensicht bilden m.E. die im Folgenden zitierten, einander entgegengesetzten Positionen zum Aspekt des autobiographischen Rückbezugs. Die erste bezeichnet ein Verständnis von Autorschaft, das das literarische Schreiben als E r z ä h l i n s z e n i e r u n g umfasst. Dies klingt bereits im Titel der von Rafik Schami 2019 erschienen Erinnerungen „Ich wollte nur Geschichten erzählen. Mosaik der Fremde“ an, der damit andeutet, dass sein Hauptanliegen eine narrative Inszenierung ist, die in den kurzen Prosatexten dieses Bandes entfaltet wird. Das erzählende Ich beabsichtigt im autobiographischen Rückbezug, seinen Lebensweg nachzuzeichnen und aus der Erinnerung „diese komplexe Angelegenheit (das Leben, Anm. d. Verf.) in ihre Steine zu zerlegen“. Die Erzählinszenierung umfasst hierbei auch die Leser/ innen, die sich an der Rekonstruktion der Lebensgeschichte beteiligen sollen, denn, so heißt es, „sollte ich einen Stein vergessen oder übersehen haben, so ist es eine Anregung für die Leserinnen und 22 Erinnerungen Leser, diese Lücke in Gedanken für sich oder im Dialog mit Freundinnen und Freunden zu füllen“ (Schami 2019: 6). 29 Bei der zweiten Position wird von einer E r z ä h l e r - A u t o r - K o n g r u e n z ausgegangen, die dem Text bereits eingeschrieben ist, quasi automatisch entsteht und folglich nicht eigens konstruiert bzw. inszeniert werden muss, was etwa in den 2007 („Mein andalusisches Schwarzwaldorf“) und 2015 („Fremdenzimmer“) erschienenen Essays von José F.A. Oliver m.E. besonders augenfällig ist. José F.A. Oliver erklärt in Bezug auf sein Autorenselbstverständnis, dass es für ihn generell kein literarisches Schreiben gebe, das nicht autobiographisch sei: Ich bin der Meinung, es gibt kein nicht-autobiographisches Schreiben. Alles, was ich schreibe, ist durchlebt von meiner Biographie. Ob ich mir jetzt eine Figur erfinde, die hier über den Rasen der Jacobs University […] geht oder nicht, so wie ich diese Figur beschreiben werde, letzten Endes ist es mein Werdegang in dieser Sprache. Und insofern nehme ich mich überall hin mit (Amodeo/ Hörner 2010: 179f.). Mit der Erkenntnis, dass ein Erlebnis erst zur Erfahrung wird, wenn es erinnert, reflektiert und/ oder erzählt wird 30 und dass somit Reflektieren bedeutet, „der Erfahrung eine Form zu geben“ (Welzer 2011: 30) ist, wie ich meine, eine für den Prozess des Schreibens essentielle Funktion benannt: Mit ihrem Nachdenken über sich selbst, ihrem Aufarbeiten von Erinnerungen im Verlauf ihrer Schreibprozesse geben die hier im Zentrum stehenden Autor/ innen ihren durch Mehrkulturalität und Mehrsprachigkeit geprägten Erfahrungen jene besagte Form, die sie dann in ihren Texten konkretisieren. Wie noch zu zeigen sein wird, bedeutet dies auch, dass sie sich dadurch neue Räume zur Konstruktion von T e i l i d e n t i t ä t e n (vgl. Keupp u.a. 2008: insbesondere 56-59) in Bezug auf ihre kulturelle Positionierung und ihre Mehrsprachigkeit erschließen. 29 Die hier von Rafik Schami vermittelte Vorstellung der aktiven Beteiligung von Adressat/ innen an der Entstehung einer Geschichte lehnt sich m.E. an die Traditionen des mündlichen Erzählens an, an die er bekanntermaßen explizit anknüpft (vgl. Kap. 3.2). In welcher Weise Leser/ innen denen die hierzu erforderlichen Einzelheiten der Biographie des Autors in der Regel nicht bekannt sein dürften, diese Aufgabe erfüllen könnten, bleibt offen. 30 Wenn Geschichten erzählt werden, handelt es sich nicht nur um die Darstellung von Ereignissen, die für die eigene Identität relevant sind, sondern immer um komplexe Sprechhandlungen, die wichtige psychosoziale Funktionen haben, durch welche die Identität einer Person überhaupt erst konstruiert wird (vgl. u.a. Straub 2019f). Erinnerungen 23 Im Folgenden werde ich vor diesem Hintergrund grundsätzlich der Frage nachgehen, welche Episoden, Erfahrungen und Gedanken sie im Zusammenhang mit ihrer Mehrsprachigkeit in den zitierten Textausschnitten erinnern, in welcher Form sie dies tun und welche emotionalen Implikationen dabei erkennbar sind. 3.1 Zwei Mütter Der spanischstämmige Autor José F.A. Oliver verarbeitet und gestaltet in den 2015 erschienen Essays mit dem Titel „Fremdenzimmer“ seine Kindheitserinnerungen. Im autobiographischen Rückbezug lässt er einen Ich-Erzähler Begebenheiten aus dessen Vergangenheit erzählen, genauer gesagt, schildert er sein Aufwachsen in einem von Migration und unterschiedlichen Spracherfahrungen geprägten Umfeld in einer kleinen Stadt (Hausach) im südlichen Schwarzwald in den 1960er und 1970er Jahren. Die Geschichte dieses Ich-Erzählers verweist, wie bereits erwähnt, auf die des Autors (vgl. Ette 2018: 222) und damit auch auf dessen Sprachbiographie. Seine Sprachfindung, der allmähliche Aufbau einer Sprachidentität sowie die teilweise mühevolle Konsolidierung sozialer Zugehörigkeit im Umfeld der Migration sind dabei zentrale Anliegen in den stilistisch ausgefeilten mehrsprachig angelegten Texten. Als Sohn spanischer ‚Gastarbeiter‘, der im Schwarzwald aufgewachsen ist, schildert der Ich-Erzähler, wie er in einem kontinuierlichen und teilweise schmerzhaften Prozess s e i n e Sprachen finden und erproben muss. Von großer Bedeutung ist dabei zunächst die Tatsache, dass das Umfeld seiner Kindheit ein mehrsprachiges ist: Die Sprachen, mit denen er in Kontakt kommt sind nicht nur das Standarddeutsche und das Standardspanische, sondern vor allem auch deren dialektale Varietäten des Alemannischen und des Andalusischen: Das Deutsche und, ihm ebenbürtig, das Spanische fristeten in meinen frühen Kinderjahren ein kümmerliches Dasein. Beide Hochsprachen sollten erst später an Bedeutung gewinnen, als meine Geschwister und ich morgens zur Schule gingen und nachmittags den muttersprachlichen Unterricht im „Colegio Espanol“ besuchten, den Vater in Hausach gegründet hatte - zu unserem Leidwesen. Heute sind wir froh über die zusätzliche Sprache, die uns, wenn auch mit fragwürdigen Büchern - sie kamen alle aus der Franco-Diktatur, aber dieser Umstand schien keinen zu interessieren - beigebracht wurde (Oliver 2015d: 19). Beim Erforschen seiner frühen kulturellen, im engeren Sinne sprachlichen Sozialisation, erkennt er, dass für die beiden oben genannten Dialekte, die für seine spätere literarische Entwicklung von Bedeutung sein werden, z w e i M ü t t e r 24 Erinnerungen zentrale Bezugspersonen sind. „Kindheit war das ungefährdete Glück, mit zwei Müttern groß zu werden“, ist im ersten Essay mit dem Titel „Zwei Mütter. Wie ich in der deutschen Sprache ankam“ zu lesen. 31 Dabei habe es sich um die leibliche Mutter gehandelt, die sich nach ihrer Ferntrauung mit dem Vater, diesem in den Schwarzwald folgt, um Arbeit zu finden und deren Lieder, die oft vom Tod handeln, sich tief in die Erinnerung einprägen. Eine zweite Mutter war Emma Viktoria, „die weder meine Geschwister noch ich jemals ‚Mutter‘ riefen. [Sie] war diejenige, die schon im Schwarzwald lebte, die unserer Familie Zuflucht wurde im Unbekannten und Vertraute in die Fremde und die auch gern sang, so dass uns weitere Lieder wurden“ (Oliver 2015d: 9-11). Diese zweifache Mutterbindung prägt die mehrsprachige Sozialisation des Kindes, wobei die ‚Angebote‘ der beiden Mütter sich ergänzen. Damit kann sowohl seinem Wunsch nach Schutz und Geborgenheit als auch dem nach Stärke und Durchsetzungskraft entsprochen werden: Für jedes Bedürfnis hatte ich eine Mutter. Für die Nestwärme die andalusische. Für das Rückgrat auf der Straße die alemannische. Dort war vor allem der Kampf um Sprache und Emma Victoria als Verbündete, wenn es darum ging, so sein zu dürfen wie die anderen. Die Räuberspiele im Wald, die Gruppenstunden in der katholischen Jugend, das Zeltlager. Das Recht darauf, ein Gymnasium besuchen zu dürfen. Die Genugtuung alsbald, dass die deutsche Sprache auch mir gehörte und ein Gastarbeiterkind nicht zwangsläufig der Gastarbeiter von morgen zu sein hatte (Oliver 2015d: 10). Das Alemannische, S p r a c h e d e r M e h r h e i t, ist für das Kind zunächst die dominantere und spielt außer in den hier zitierten Essays auch in weiteren Texten des Autors eine wichtige Rolle. 32 Hin und wieder gerät es durch die beiden Mütter in eine nicht ganz einfache Vermittlerrolle. Nichts deutet jedoch auf einen Loyalitätskonflikt hin, erzählt wird vielmehr von Verständnis- und damit Verständigungsproblemen, die in den unterschiedlich gebrauchten Sprachen und Sprachkompetenzen der Mütter begründet liegen. In der Not nutzt das Kind seine Phantasie und entdeckt 31 Der verallgemeinernde Untertitel des Essays „Wie ich in der deutschen Sprache ankam“ verdeutlicht zunächst noch nicht die große Bedeutung, die das Alemannische für das Schreibprofil von José F.A. Oliver hat. Dies geschieht erst mit dem Untertitel des zweiten Essays „Als die alemannische Sprache in mein Schreiben kam“ (Oliver 2015c: 26), womit nunmehr explizit die Bedeutung dieser Sprachvarietät für seinen literarischen Schreibprozess benannt ist. 32 Vergleiche dazu den Essayband aus dem Jahr 2007, mit dem Titel „Mein andalusisches Schwarzwalddorf“. Zwei Mütter 25 die Strategie des Codeswitchings 33 als vermittlungstaugliches Instrument, wie aus der folgenden kurzen, sprachbiographischen Passage hervorgeht: Morge Nochmittag gemmer in d Heibere. Saisch aber de Mama, si sott eich e alde Hos ruslege, wenn se hit Obed hoimkunnt. Als Mutter abends nach Hause kam, war ich gefordert, den Ausflug, der für den nächsten Tag geplant war, ins Spanische zu übersetzen. Der Sinn des Satzes schien mir dabei nicht das Problem zu sein, sondern die Pein, das spanische Wort für „Heidelbeeren“ zu finden. Allzu lange zerbrach ich mir den Kopf jedoch nicht. Denn ich wollte alles andere als verlegen sein. Knapp sechs Jahre war ich alt, und wie so häufig in jener Zeit, sollte die spielerische Phantasie des Kindes dort Pate stehen, wo es darum ging Brücken zu bauen. So entstand schließlich mein erster bewusster Satz, der, unbekümmert ins Spanische gesprochen, ein deutsches Wort in die andere Sprache rettete. In diesem Fall das Wort „Heidelbeere“. Das hörte sich dann ungefähr so an: „Mamá, mañana vamos a buscar Heidelbeeren.“ […] Es war das erste, bei weitem aber nicht das einzige Mal, dass ich alle meine Redekunst aufbringen musste, um zwischen den beiden Sprachen zu vermitteln. Sie gaben sich in unserem Domizil tagtäglich ein Stelldichein (Oliver 2015d: 15f.). Der kleine Junge lernt recht früh, dass er als Vermittler zwischen seiner leiblichen Mutter und der einheimischen Emma Victoria, die von ihm erst im Nachhinein auch als Mutter bezeichnet werden kann („Vielleicht deshalb, weil sie mir heute in meiner Vorstellung antwortet und meine Gefühle nicht berührt werden können“, Oliver 2015d: 24), eine besondere Stellung in dieser Personenkonstellation einnimmt. In diesem ersten Essay hat in der sprachbiographischen Rekonstruktion des Ich-Erzählers als Reflex auf die des Autors, die Person der Emma Victoria ein sehr großes Gewicht. Dieses gewinnt sie nicht nur durch ihre Hinführung zum Alemannischen, das für die Alltagsinteraktion unentbehrlich ist, sondern auch, weil sie ihm die Sitten und das Brauchtum einer Schwarzwälder Region näherbringt, in der das Bodenständige, monokulturell bestimmte Leben bis zum Zeitpunkt der Immigration von Arbeitskräften aus den Mittelmeeranrainerstaaten dominiert hat. Durch ihre Sprachvermittlung ermöglicht sie dem kleinen Jungen eine aktive Teilhabe an seinem sozialen Umfeld und sie verhilft ihm vor allem auch zu Selbstvertrauen und Selbstsicherheit („Emma Victoria war diejenige, die uns die Sicherheit schenkte, so 33 Bekanntermaßen gehören unterschiedlichste Formen von Sprachmischungen in mehrkulturellen Gesellschaften zum Alltag und sind Ausdruck einer besonderen pragmatischen Kompetenz, auch wenn sie aus einer monolingualen Perspektive nach wie vor häufig als Sprachfehler eingestuft und verurteilt werden (vgl. dazu exemplarisch Müller/ Kupisch/ Schmitz/ Cantone 2011: 110f.). 26 Erinnerungen sein zu dürfen, wie alle andere Kinder auch“, Oliver 2015d: 22) und ermöglicht ihm eine große emotionale Nähe zum Alemannischen und den ihm inhärenten kulturellen Konzepten. 34 In den Erinnerungen verbindet sich das Alemannische mit sorglosen und mit allen Sinnen erfahrenen Unternehmungen, wie „geheimnisvolle Nachtwanderungen , das zünftige Vesper beim Sonnenaufgang und Hosenträgerspeck oder hart geräucherte Bratwürste“ (Oliver 2015d: 18). Es verdichtet sich zudem in lokalspezifischen Redewendungen, einfachen Sprüchen - „E rächte Kerle het e Messer im Sack“ (Oliver 2015d: 18) - mit denen der Junge ‚ausstaffiert‘ wird und die ihn den anderen Kindern ebenbürtig machen. 35 Der zitierte Spruch wird etwa als „Kerls-Pflicht, ein Jungmänner-Muss für Landburschen“ definiert. Der Übersetzungsvorschlag hierzu lautet: ‚Ein Mann, der etwas auf sich hält, hat ein Taschenmesser im Hosensack‘. Man könnte auch sagen: ‚hat ein Sackmesser in der Hosentasche‘ (Oliver 2015d: 18). Dem Essay lässt sich entnehmen, dass die von Emma Viktoria vermittelte Sprachvarietät zum emotional nachhaltigen Sprachwerkzeug im Prozess der kulturellen Positionierung und sprachlichen Identitätsfindung wird. Aus der zeit-räumlichen Distanz erscheint sie in der Erinnerung aus der Perspektive des erwachsenen Ich-Erzählers als Sinnbild für die immense Bedeutung der Sprache, und es sind „die Bilder, die sie in ihren Schilderungen aufleben ließ“ (Oliver 2015d: 25), ihr Erzählmodus, ihre einfachen Reime, die den Jungen emotional berühren und sich aus diesem Grund tief in sein Gedächtnis eingraben. Dieses sei „ein Kaleidoskop“, das nur fragmentarisch, bildhaft und zeitlich begrenzt Inhalte speichern kann: „Stimmen verblassen mit der Zeit und sind nicht mehr zu hören“ (Oliver 2015d: 10f.). Aus diesem ersten Essay geht jedoch auch hervor, dass die Mehrsprachigkeit des heranwachsenden Kindes sich aus den jeweils zwei Standardsprachen und Varietäten zusammensetzt und als synchrones Nebeneinander erlebt wird. Dabei besteht zwischen den Sprachen eine funktionale Trennung, die jedoch keineswegs als Konflikt wahrgenommen wird, sondern sich als selbstverständliche Alltagskonstellation, als „Konvivenz der Sprachen“ (Ette 2018: 216) in folgender Raumbeschreibung verdichtet: 34 Damit sind die besonderen, sprachlich vermittelten Normen und Werte dieser Diskursgemeinschaft gemeint. Vgl. dazu u.a. die Ausführungen von Kramsch zu den „Cultural encodings“ (1998: 17f.). 35 Für dialektunkundige Leser/ innen werden diese, wie auch alle anderen alemannischen Einschübe in den folgenden Essays in Anmerkungen übersetzt und kommentiert. 27 Zwei Mütter Ich bin in einem Haus aufgewachsen, das zwei Stockwerke hatte. Im ersten Stock wurde alemannisch gesprochen, also annähernd deutsch, und im zweiten andalusisch, also annähernd spanisch. Wenn sich eine sternenklare Nacht abzeichnete und man den Mond am Himmel sah, hieß er im zweiten Stock „la luna“ und war weiblich. Betrachtete man la luna vom ersten Stock aus, war sie plötzlich männlich und hieß „der Mond“. Ein paar Treppenstufen genügten, und aus der Frau wurde ein Mann - oder umgekehrt (Oliver 2015d: 16f.). 36 3.2 Das Archiv Mehrsprachige Autor/ innen, die ihre Sprach- und Schreiberfahrungen sowie ihre poetologischen Konzepte explizit an ihre Herkunftskultur anlehnen - diese gewissermaßen in ihren Texten fortzuschreiben beabsichtigen, müssen dabei in besonderer Weise die Erwartungen und das Rezeptionspotential ihres anderskulturellen Publikums berücksichtigen. Dies betrifft (schriftliche) Textsortenkonventionen in gleicher Weise wie mündliche Präsentationsformen, an die Adressat/ innen kulturspezifische Erwartungen stellen. Wenn ein Rezeptionsprozess gelingen soll, müssen mögliche Barrieren, die einen adäquaten Textzugang blockieren könnten, beseitigt werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sowohl schriftlich verfasste als auch mündlich vorgetragene Texte nicht ausreichend erschlossen werden können. Anders ausgedrückt, idealtypische interkulturelle Leser/ innen müssten im Grunde genommen nicht nur in der Lage sein, sprachliche Transfers kulturspezifischen Wortmaterials 37 adäquat zu ver- 36 In variierter und verdichteter Form, die ihr dadurch einen eher metaphorischen Charakter verleiht, ist diese Darstellung bereits in dem 2007 publizierten Essay „wortaus, wortein“ (Oliver 2007f: 18f.) zu lesen: „Mondzunge und lengua luna. Dämmerbleiches Licht und Schattenschimmer, die ein Sprechen wurden und mir die Geschlechter-Monde zutrauten. Sie blieben mir nah, die versöhnten Mond-Wörter, die sich berührten da war ein Haus, das zwei Häuser war. Zwei Häuser, die zwei Kulturen verleibten. Ein Haus und zwei Stockwerke, zwei Sprachen. Offene Fenster und Türen, Luken in Reisen. Längst im Mehrfachen angekommen. Der alemannische Dialekt im ersten Stock, das Andalusische im zweiten. Dazwischen Treppenstufen ohne grammatikalisches Geschlecht. Entwurf ins Spiel um die Bedeutungen: Wortes Körper und Wortes Seele. Ein paar Treppenstufen nur, die trennten und verbanden. Mondin & Mond: la luna, I Mond. Weiblich die eine, männlich der andere“. 37 Dabei handelt es sich beispielsweise um Phraseme, in denen sich „das versprachlichte kollektive Wissen und damit das sprachliche ‚Weltbild‘ [einer Diskursgemeinschaft] in anschaulicher und aufschlussreicher Weise“ manifestiert (Földes 2005: 324) und um kulturspezifische Wörter, die „kulturell extrem aufgeladen“ sind und 28 Erinnerungen stehen und zu beurteilen (vgl. Chiellino 2016: 118) und infolgedessen die jeweiligen in die Texte eingeschriebenen Sprachen auf dem zu ihrem Verständnis notwendigen Niveau beherrschen. In vielen Fällen müssten sie darüber hinaus über Kenntnisse kultureller Vermittlungsformen und narrativer Traditionen verfügen, die für die Texterschließung wegweisend sind. Der mittlerweile in viele Sprachen übersetzte, aus Syrien stammende Autor Rafik Schami, der seit den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum zunächst vor allem durch seine phantastischen, märchenhaften Geschichten, bekannt wurde, ist ein mehrsprachiger Autor, der mit vielen seiner Texte erklärtermaßen an sog. orientalische Erzähltraditionen 38 anknüpft und diese einem deutschsprachigen Publikum näherbringen möchte. 39 In zahlreichen theoretischen Schriften legt Rafik Schami ausführlich seine literarturästhetischen sowie politischen Auffassungen in einer für ein breites Publikum verständlichen Weise dar und berichtet und/ oder erzählt im autobiographischen Rückbezug u.a. von seinen Sprach- und Schreiberfahrungen (vgl. dazu exemplarisch Jooß 1998; Schami 2019b und 2019c). In diesem Sinne äußert er in einem Gespräch, dass sein Erzählen „seine Wurzeln im mündlichen und nicht im schriftlichen“ habe, dass er mit dieser Tradition verhaftet sei und versuche „sie erneuernd in unsere Zeit zu transferieren.“ Dabei beschränkt er das mündliche Erzählen auf keinen bestimmten geographischen Raum, sondern bezeichnet es als ein „Kulturgut der Menschheit, das wie vieles andere bedroht ist, unterzugehen“, und er beabsichtige erzählend „diese wichtige Kulturperle zu retten“ (Jooß 1998: 101). Sein Erzählen erfolgt mit „Genuss“ 40 und schöpft u.a. auch aus dem Vorrat ihm bekannter Geschichten und Begebenheiten seiner Kindheit und Jugend in Damaskus. Bei seinen erkläoft ein sogenanntes „kulturelles Muster“ bilden, das entschlüsselt werden muss (Heringer 2004: 162ff.; vgl. Kühn: 2006). 38 Rafik Schami merkt dazu an, dass sein Stil sich zu einer „orientalisch-okzidentalisch-damaszenisch-mündlich-magisch-satirischen Mischung“ entwickelt habe (2019b: 126). 39 Für einen Überblick über die Schaffensperioden des Autors vgl. Ellerbach 2020. Ellerbach plädiert dafür, Rafik Schamis Werk als „ein sich ständig änderndes und anpassendes sozioliterarisches Experiment“ aufzufassen, dessen „außerliterarisches Ziel“ jedoch immer gleich bleibt, „und zwar den [sic! ] vom Autor immer wieder geäußerten frommen Wunsch nach einem besseren Verständnis zwischen den Kulturen, das mit einer unstillbaren Sehnsucht nach der verlorenen Heimat gekoppelt ist“ (Ellerbach 2020: 160). 40 In seinem autobiographischen Text „Glücksmomente“ schreibt Rafik Schami: „Das mündliche Erzählen ist für mich der höchste literarische Genuss. Die Begegnung mit dem Publikum, der Zauber, wenn sich Erwachsene, die vom Alltag beladen zur Veranstaltung kommen, binnen zehn Minuten in lauschende Kinder verwandeln“ (Schami 2019b: 126). Das Archiv 29 renden Ausführungen zur „Erzählkunst“ unterscheidet er vereinfachend zwischen „Hofdichtern“ und „Gassenpoeten“ samt ihrer „Unterfraktion der Kaffeehauserzähler“, die seinem eigenen Habitus eher entsprechen würden, da bei ihnen „das Lachen aus historischen Gründen ein Übergewicht“ hat und „die Liebe zum Lachen“ auch in ihm sei (Jooß 1998: 102). 41 Die Fremdsprache Deutsch ist für Rafik Schami das Medium, mit dem er an seine Vergangenheit anknüpft und seine Erinnerungen konkretisiert. Vor allem Augenblicke, in denen er emotional besonders beteiligt ist, die ihn als Kind beeindrucken, können offensichtlich mit einer gewissen Leichtigkeit aus dem Gedächtnis ‚hervorgeholt‘ und in die Texte eingeschrieben werden. Positiv erlebte Momente seines vergangenen Lebens in der Herkunftskultur überbrücken dabei in besonderer Weise die Erfahrung von Diskontinuität. Der Prozess des Erinnerns beschränkt sich dabei offensichtlich nicht nur auf Episoden, die narrativ gestaltet werden, sondern knüpft auch an die oben genannte, für sein damaliges, kulturelles Umfeld typische Erzählweise als kultureller Praxis 42 an. Sie hat sich in besonderer Weise in seinem Gedächtnis gefestigt, wobei diese Anlehnung an narrative Muster, die ihm seit seiner Kindheit bekannt sind („In Damaskus ist Erzählen eine ganz gewöhnliche Sache wie Teetrinken oder Spazierengehen“, Schami 2019c: 63) 43 auch als Versuch gewertet werden kann, nicht nur in 41 Dazu ist anzumerken, dass Formen der Narration gesellschaftlich bedingt und damit kulturspezifisch sind. Dabei spielt die Anpassung der Erzählungen an die jeweiligen Handlungskontexte mit Hilfe sog. „Ready Mades“ ebenso eine Rolle, wie die A n e r k e n n u n g (vgl. Nothdurft 2007) des Erzählers durch seine Zuhörer. Die Narration kann infolgedessen nur dann aufrechterhalten werden, wenn es dem Erzähler gelingt, sich mit den Anderen erfolgreich über die Bedeutung von Ereignissen zu verständigen. Das „reziproke Verhandeln von Bedeutung“ wird somit als „fundamentaler Aspekt sozialen Lebens“ apostrophiert (Keupp u.a. 2008: 104). 42 Vergleiche dazu auch die Ausführungen von Chiellino zur Oralität in der interkulturellen Literatur, der diese u.a. mit von Autor/ innen konzipierten Schreibstrategien in Zusammenhang bringt (2016: 167). 43 Auch Francesco Micieli, der einer in Kalabrien ansässigen Minderheit der Arbëresh angehört, und mit seinen Eltern 1965 in die Schweiz auswandert, weist im Rahmen seiner Dresdner Poetikvorlesung auf orale Erzähltraditionen hin, mit denen er als Kind in Berührung kommt: Manchmal sind Geschichtenerzähler auf die Piazza gekommen und haben ihre Erzählungen mit den Sätzen „Wir ziehen den Hut aus“ und „Wir setzen uns den Hut auf“ formelhaft begonnen und beendet, berichtet er. Francesco Micieli persifliert dieses ritualisierte Erzählen später in einem in die Vorlesung eingeschobenen kurzen, kritischen Text, in dem er seine Marginalisierung als Sprecher einer vom Standarditalienischen abweichenden Varietät darstellt: „Ueee! Ueee! Wir ziehen den Hut aus. Stühle! Stühle! Wer will Stühle? Heisse Kastanien, für nur eine Lira. Heut erzähl ich die Geschichte - he, Sie da! Sie haben die Kastanien nicht bezahlt! - schaut mal her, so sehen die guten Bürger von heute aus! - die Geschichte 30 Erinnerungen vertrauter Weise im Modus des kollektiven Erzählens und Erinnerns, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und zu stabilisieren, sondern möglicherweise auch die durch das Exil bedingten Kontaktverluste zu kompensieren. Anders als bei der Asynchronität der Autor-Leser-Interaktion (Texte erreichen ihre Leser/ innen in der Regel erst nach der Publikation) beteiligt sich das Publikum während einer mündlichen Performance an der Textentstehung und es hat während der Performance an einem Prozess des kollektiven Textentstehens teil. Besonders in der von Rafik Schami zitierten orientalischen Erzähltradition ist der aktive Einbezug der Zuhörer/ innen beabsichtigt, wobei die Erzähler sich als solche inszenieren und ihre Geschichten ‚interaktiv‘ modelliert werden. 44 Das Erzählen in diesen Erzählgemeinschaften lebt, ähnlich wie im Familienkreis, davon, dass immer wieder dieselben, bekannten Geschichten erzählt werden, dass, wie bereits erwähnt, die Zuhörer an der Entstehung unterschiedlicher Erzählversionen beteiligt sein können und dadurch Gruppenidentität aufgebaut wird. Was hier einem Bedürfnis der Gruppe entspricht, nämlich u.a. dem Wunsch, bestimmte Ereignisse in der Erinnerung zu behalten, korrespondiert m.E. mit dem Bedürfnis von Autoren wie Rafik Schami, die aus der Distanz zu ihrer Herkunftskultur schreiben und zur Form des Erzählens greifen. Dass damit jedoch keinesfalls eine originalgetreue Kopie dieser traditionellen kulturellen Praxis angestrebt ist, zeigt sich daran, dass er Veränderungsvorschläge des Publikums offensichtlich nur begrenzt akzeptiert: Ohne Respekt entsteht keine mündliche Erzählkunst. Dabei erleichtert mir die Zuneigung meines Publikums die Arbeit, sie nimmt aber keinen Einfluss auf Inhalt und Stil meiner Geschichten (Schami 2019b: 126). vom Buben, der sich weigerte auf dem Schulhof Italienisch zu sprechen. Ein Bub kann nicht verstehen, weshalb seine Muttersprache, die auch die Sprache des Dorfes ist, hinter den Mauern der Schule aufhören müsse - bringen Sie den Stuhl zurück! Auch wenn die Geschichte nicht gefällt, heisst das nicht, dass Sie meine Stühle entführen müssen“ (Micieli 2015c: 72f.). Das Erzählen, so ist an anderer Stelle zu erfahren, hatte auch in seiner Familie Tradition: Die Geschichten, die der Großvater abends nach seiner Rückkehr von der Landarbeit erzählt, sind nachhaltig beeindruckende Ereignisse: „Wie er gegen den Wolf gekämpft und ihm das Kaninchen, das wir nun essen, aus dem Mund geraubt und wie er die Viper unter dem Olivenbaum getötet hat. […] Mein Großvater konnte nicht schreiben, aber er konnte erzählen. Sein täglicher Weg zum Stück Land, welches er bewirtschaftete, war eine abenteuerliche Reise, vor welcher er nie wusste, ob er den Weg zurückfinden würde“ (Micieli 2015c: 57). 44 Vergleiche dazu auch die Ausführungen von Straub (2019c: 234), dass das „sozial vermittelte, von anderen mitgestaltete Erzählen von Geschichten nicht nur die Voraussetzung für zahlreiche Weisen der sprachlichen und praxischen Selbstformung [bildet], sondern seinerseits bereits einen spezifischen Modus der Selbstformung darstellt“. Das Archiv 31 Dass das kooperative ‚Fabulieren‘ begrenzt wird, steht vermutlich auch damit im Zusammenhang, dass Rafik Schami als literarischer Autor sein unverwechselbares Profil nicht aufgeben möchte. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, steht die beschriebene Art der mündlichen Präsentation seiner Literatur im Zusammenhang mit Rafik Schamis erhöhtem Bedürfnis nach direkten menschlichen Beziehungen in seinem deutschen Exil. Seine Absicht, Literatur nicht nur zu schreiben, sondern sie vor allem auch vorzutragen, kann somit auch als Ausdruck eines Wunsches nach einer Gemeinschaft interpretiert werden, die ihm Raum für seine Selbstentwürfe bzw. für die Entwicklung einer T e i l i d e n t i t ä t als mehrsprachiger Erzähler/ Autor gibt. Dafür nimmt er auch sehr große, fast unüberwindbare Schwierigkeiten in Kauf, die beispielsweise darin bestehen, eine „nuancierte deutliche, möglichst akzentfreie Aussprache“ zu erlangen, die der Autor/ Erzähler für seine Auftritte als notwendig erachtet - eine enorme Herausforderung, die ihn jedoch nicht von seinen öffentlichen Performances abhalten kann. 45 Trotz der exilbedingten Verlusterfahrung („Alle Brücken hinter mir waren eingestürzt“, Schami 2019b: 7), beurteilt Rafik Schami sein Leben in Deutschland letztlich durchaus positiv, teilweise geradezu euphorisch. In den 2019 erschienenen, kurzen, selbstreflexiven Texten beschreibt er rückblickend aus der Perspektive eines autobiographischen Ichs seine Ankunft im Exilland Deutschland. Trotz des Verlustes fasst er den unbedingten Vorsatz, „meine Angst zu besiegen“ (Schami 2019b: 7). Der Zugewinn an Erfahrung und Wissen, der der Exilsituation zugeschrieben wird, erhält somit ein deutlich größeres Gewicht. Die neue, fremde Umgebung löse in ihm den Drang aus, sie zu erforschen und „dabei das Unbekannte in mir“ kennenzulernen - also jene Synthesen anzustreben, von denen eingangs im Prolog die Rede ist. Für den exilierten Autor, der weder sein Herkunftsland, noch seine Herkunftssprache freiwillig aufgegeben hat, ist die Auseinandersetzung mit seiner Mehrsprachigkeit für seinen Schaffensprozess richtungsweisend. Die Sprache wird, wie bei vielen anderen mehrsprachigen Autor/ innen auch, als „Haus“ metaphorisiert 46 , das Exilautor/ innen ebenso wie ihre Heimat verlassen würden, 45 In einem Gespräch berichtet Rafik Schami 1998, dass er während der vergangenen fünfzehn Jahre pro Jahr bis zu einhundertfünfzig Auftritte („Erzählabende“) bewältigt und zudem bei zahlreichen Radiosendungen mitgewirkt sowie Seminare veranstaltet hatte (Jooß 1998: 105). 46 Vergleiche dazu die Rede „Wie ich Frau Sprache verführte“ (2019c: 60-74), die Rafik Schami 1990 anlässlich der Verleihung des Rattenfänger-Literaturpreises gehalten hat, in der er die Sprache als „wundersame Frau“, die im „Haus der Sprache“ wohnt und es für „erwachsene […] Fremde […] mit „sieben Siegeln“ verschließt. Gelingt es ihm, die Haustür aufzubrechen, „so lernt er die Menschen, die darin wohnen, und ihre Kulturen kennen. Er lernt aber auch, die Dinge neu zu benennen und vor allem 32 Erinnerungen wobei es sich um ein „zweites Exil“ handle (Schami 2019b: 24). Geradezu emphatisch wird jedoch auch in diesem Zusammenhang wieder hervorgehoben, dass dieses Exil einerseits Befreiung bedeute, weil es ihm nunmehr ermögliche, „das Universum umarmen“ zu können (Schami 2019b: 26), andererseits resultiere daraus aber auch die Verpflichtung, sowohl dem Herkunftsals auch dem Exilland „neue kritische Perspektiven“ zu vermitteln (vgl. Schami 2019b: 26-28). Auch wenn dem durch das Exil ausgelösten Bruch positive Aspekte abgewonnen werden können, verlangt dieser dennoch nach einer Reaktion bzw. nach einer Integration der biografischen Diskontinuität in die Lebensgeschichte. Durch Erinnerungsprozesse kann Vergangenes vergegenwärtigt werden und als Vertrautes im Neuen, Fremden und zunächst Unbekannten fortbestehen. Im Schreibprozess findet es seine Entfaltung. Fast habe es den Anschein, als müsse man sich nicht explizit darum bemühen, diese Spaltung zu überwinden, denn man sei den eigenen Ursprüngen nie gänzlich entronnen. Sie lebten in einem weiter fort. Heimat werde zwar verlassen, ist zu lesen, „aber sie verlässt mich nicht.“ Durch das Schreiben im Exil vollziehe sich vielmehr eine „Metamorphose der Heimat - weg von einem geographisch definierten Land, das man verloren hat, hin zu einem geistigen Haus der Sprache und der Erinnerung“. Dabei gleiche das Schreiben in einer Fremdsprache „dem Verlassen eines vertrauten Kreises. Die Liebe zu einer fremden Sprache kann die Geborgenheit der Muttersprache lange nicht ersetzen“ (Schami 2019b: 41f.). Seinen Schilderungen und Reflexionen lässt sich generell entnehmen, dass das Schreiben für ihn als eine ‚geistige‘ Verbindung zum Herkunftsland, essenziell ist. Bindung und Befreiung sind dabei als Dichotomie zu interpretieren - beide sind offenbar unerlässlich für die Entfaltung von Kreativität. Gerade auch der Wunsch, als mehrsprachiger Autor, diese beiden Erfahrungsräume miteinander zu verschmelzen („Wenn also die neuen Wortschöpfungen und Metaphern Rosen und Blumen im Garten der Gastsprache erzeugen, so pflanzt der andere Blickwinkel eine Eiche in diese Landschaft.“, Schami 2019b: 33) führt daneue, bis dahin fremde Klänge zu hören und danach, denn nur über das Ohr wird die Zunge klug. […] Gelangt der Fremde mit Geduld und List zu einer höheren Etage dieses Hauses, so kann er manch ein Fenster aufstoßen und eine zauberhafte Landschaft überblicken, die ihm im immer noch nahen Haus seiner Muttersprache nie sichtbar war. […] Abenteuerlich ist das Erlebnis des Fremden im Haus seiner neuen Sprache. Abenteuer kann auch sehr schmerzhaft sein, zu Zweifel führen und doch unbekannte Ufer näher rücken. Doch je höher er im Haus der neuen Sprache steigt, um so ferner rückt das Haus seiner Muttersprache. Diese Entfernung geschieht auf leisen Sohlen, und irgendwann wundert sich der Fremde, wie weit weg das Haus seiner Muttersprache inzwischen ist. Er gerät in Konflikt mit seiner Erinnerung, also mit seiner Identität. Doch diese Identität wird nicht gespalten oder geht gar verloren, sondern sie wird komplizierter und bunter“ (Schami 2019c: 70-72). Das Archiv 33 zu, dass der ehemalige Erfahrungsraum immer wieder vergegenwärtigt werden muss - je länger die Trennung vom Herkunftsland andauert, je schneller die Erinnerungen zu verblassen drohen. Dieser Prozess kann nur aufgehalten werden, wenn aktiv und nachhaltig versucht wird, das A s s o z i a t i o n s n e t z zu stimulieren. In diesem Sinne zeugen die hier zitierten Selbstäußerungen von Rafik Schami auch von einer konstanten ‚Vergegenständlichung‘ der Vergangenheit. Dieser Versuch der Wiederbelebung der Erinnerungsräume kulminiert schließlich im Aufbau eines „Archivs“, mit dem er ab Mitte der 1970er Jahre in Ermangelung des Internets beginnt und das seinen Schreibprozess überhaupt erst ermöglicht: Ich wusste, dass die Erinnerungen manchmal der Zündfunke zu einer Geschichte waren, aber auf Dauer verloren die Protagonisten und die Orte, an denen sie sich bewegten, an Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit. Außerdem begann ich, wie jeder Mensch, vieles zu vergessen. Mir fehlten die Informationen aus Damaskus. Ich musste eine Gegenmaßnahme ergreifen. […] Ich sammelte alles: Bücher, Landkarten, Stadtpläne, Filme, Theaterstücke, Lieder, Dokumente der Auseinandersetzungen der modernen arabischen Denker, Interviews mit ehemaligen Gefangenen, Fotografien von Profis und von einfachen Menschen aufgenommen, die für mich die Atmosphäre einfingen. Dieses Archiv nannte ich „Damaskus“ und es befähigte mich, so zu schreiben als wäre ich dort (Schami 2019b: 69; vgl. dazu Schami 2019a: 9-19). Sein Archiv funktioniert aus der Perspektive der raum-zeitlichen Distanz als ‚Reizauslöser‘, um jenes assoziative Netz zu aktivieren, das es ihm generell erst ermöglicht, sich an möglichst viele Details seiner Vergangenheit zu erinnern. 3.3 Nebeneinander 47 Vladimir Vertlib liefert in der 2012 erschienen Publikation „Ich und die Eingeborenen. Essays und Aufsätze“ eine Reihe von Einblicken in seine Sprachbiographie. Er entstammt einer jüdischen Akademikerfamilie, die 1971 aus Leningrad emigriert. Der damals knapp Fünfjährige gerät, so ist zu lesen, unter „die Eingeborenen“ (Vertlib 2012g: 15-18) in allen Ländern, in denen sich die Familie temporär aufhält. Dazu zählen Israel, Österreich, Italien, die Niederlande und die USA. Während dieser zehn Jahre des Pendelns muss der Heranwachsende permanent Sprachen hinzulernen und sich in diesen unterschiedlichen kulturellen Kontexten orientieren. Als er fünfzehn Jahre alt ist, beschließt die Familie, sich definitiv in Österreich niederzulassen. Rückblickend erinnert und 47 Vertlib (2007c: 59). 34 Erinnerungen überdenkt das narrative Ich im autobiographischen Rückbezug die verschiedenen Arten der Auseinandersetzung mit dem Leben in diesen Kulturen sowie die Anforderungen, mit denen es sich dadurch konfrontiert sieht. In diesen Überlegungen wird der Erinnerung eine Schlüsselfunktion zugewiesen. Sie ermöglicht offensichtlich eine harmonisierende Synthese von vergangenem und gegenwärtigem Leben und trägt damit zur Stabilisierung des Selbst bei: Jeder hat das Recht, auf seine eigene Art das Leben zu meistern. Wem dabei das Vergessen gelingt, wird vielleicht kurzzeitig zur Ruhe kommen, auch wenn er dafür mit Blindheit und Taubheit bezahlen muss. Für mich jedoch ist Erinnerung eine unverzichtbare Bedingung mit mir selbst im Einklang zu bleiben. Nicht die Bewilligung des Unbewältigbaren ist dabei entscheidend, sondern dessen Akzeptanz. Auch wenn nicht alle Ambivalenzen auflösbar, Verstimmungen, Ängste und Aggressionen überwindbar sind, so bleibt zumindest die Möglichkeit, sie als ständige Begleiter seines Lebensweges anzuerkennen (Vertlib 2012j: 49). In dem Text „Wo die Lebenswelten sich berühren“ (Vertlib 2012m) berichtet die Erzählerfigur, dass für seine Eltern die Kultur des „Gastlandes“ Österreich immer fremd geblieben sei. Er selbst habe jene Welt der österreichischen „Eingeborenen“ und die der „Zuwanderer aus Russland“ als vollkommen getrennt wahrgenommen. Dieses Gefühl der Trennung ist auch bis auf den heutigen Tag nicht gänzlich verschwunden. Seine „Heimat“ ist eine „Zwischenwelt, ein Grenz- und Überlappungsbereich, indem das Nebeneinander zur Normalität geworden ist.“ Nach seinem Umzug von Wien nach Salzburg hat sich dieses Gefühl der Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe noch verstärkt, denn obwohl ich als gelernter Österreicher vieles über die alpinen Wurzeln meines neuen Heimatlandes zu wissen vorgebe, erscheinen mir Landschaft, Mentalität und Kultur der westösterreichischen Provinz manchmal so exotisch wie jene der argentinischen Pampa oder des indischen Subkontinents. Wenn ich hingegen Mattersburg oder andere Orte des Burgenlandes besuche, kommt es mir vor, als verringere sich die Distanz zwischen den Lebenswelten meines alten und meines neuen Heimatlandes. Manchmal habe ich den Eindruck, als würden sich die beiden Welten berühren und ineinander übergehen. In den alten Fotographien des Mattersburger Judenviertels spiegeln sich die Geschichten von Ljudinewitschi, Mosyr oder Kritschew wider, die ich von meinen Eltern und Großeltern gehört habe. Frühe Kindheitserinnerungen kommen hoch - an Verwandtenbesuche in Weißrussland und der Ukraine, an Straßendörfer, Holzhäuser und den Geruch der Felder (Vertlib 2012m: 91f.). Die Fahrt nach Mattersburg, die der Anlass für diese Reflexionen ist, wird zu einer Reise in die Vergangenheit. Die oben beschriebene verringerte Distanz ist Nebeneinander 35 auf das Erinnerungspotential dieses Ortes zurückzuführen, „dieser Ort [hat] mehr mit mir zu tun, als ich vermutet hatte“. Im Gegensatz zu den meisten assimilierten Juden in Großstädten wie beispielsweise Wien, Berlin, Zürich, Frankfurt, Amsterdam haben meine Vorfahren im südlichen Weißrussland zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht viel anders gelebt als die von Mattersburg, denn das Burgenland liegt am westlichen Rand jenes untergegangenen ostjüdischen Lebensraumes, aus dessen östlichem Randgebiet meine Vorfahren stammen. Ich denke an Kritschew, an Mosyr und an die Judengasse von Ljudinewitschi, von der mir meine Großmutter erzählt hat, an religiöse Vorstellungen und tradierte Ängste, an meinen Urgroßvater, der zu Fuß von Dorf zu Dorf gegangen ist, um seine Dienste als Glaser anzubieten, an diese abgeschlossene, rückständige, armselige und doch so reichhaltige Welt des Ostjudentums, die vernichtet wurde und dennoch eine Konstante in der kollektiven Erinnerung ihrer Nachkommen bleibt (Vertlib 2012m: 91). In dieser, wie auch in zahlreichen anderen Textpassagen wird die eigene Vergangenheit vor dem Hintergrund der Geschichte der osteuropäischen Juden beleuchtet, wobei insbesondere auf „Generationenorte“ ihres kollektiven Gedächtnisses (vgl. Assmann 2018: Kap. V, insbesondere 301-303) Bezug genommen wird. Somit bezeichnen deren Geschichte sowie geografisch und kulturell bedeutsame Gebiete wie das Burgenland bzw. das „einstige Schtetl“ Mattersburg nicht nur den historischen Bezugskontext des Autors Vladimir Vertlib, sie stimulieren offensichtlich seine Erinnerung in besonders intensiver Weise, weil eine Verbindung zur eigenen bzw. zur Familienbiographie hergestellt werden kann. Die hier beschriebene Region ist seit Jahrhunderten mehrkulturell. Ihre Sprachenvielfalt - „Feudalherren und Beamte sprachen ungarisch, Bauern und Handwerker größtenteils Deutsch oder Kroatisch. Es gab viele Roma und Sinti und eine große jüdische Mehrheit“ - zusammen mit der Atmosphäre von ‚Transitorischem‘, ihrem „Flair einer Übergangsregion“ löst sie das beschriebene Gefühl von Nähe aus (Vertlib 2012m: 92f.). Der Bezugsrahmen für die sprachlichen Besonderheiten, die in diesen Textauszügen reflektiert werden ist somit nicht nur die Exilerfahrung als existenzielle Grunderfahrung, sondern die von Familie und Bekannten durch Erzählungen vermittelte Verfolgung und Diskriminierung der osteuropäischen Juden sowie Vladimir Vertlibs eigene Erfahrung der Ausgrenzung. Abgesehen von der sprachlichen Vielfalt seines Lebensumfelds, die das Erleben seiner eigenen Mehrsprachigkeit mitbestimmt, ist dies ein zentrales Thema in seinen Reflexionen. Die Fixpunkte meines Lebens hatte lange Zeit mit dem Wien, das ich als Emigrant in ärmlichen Vorstadtquartieren sozusagen „von unten“ kennengelernt 36 Erinnerungen hatte, nur mehr wenig zu tun. Fast vergessen waren jene netten Mitmenschen, die mich als Kind in nicht gerade schmeichelhaften Worten dorthin zurückschicken wollten, wo ich hergekommen war, die das Kriegsende und das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft immer noch als „Zusammenbruch“ bezeichneten und beteuerten, nur „das mit den Juden“ sei ein Fehler gewesen (oder auch kein Fehler, sondern nur eine politische Ungeschicklichkeit), während alles andere - na ja, darüber könne man geteilter Meinung sein … (Vertlib 2012a: 85). Das ‚kollektive Gedächtnis‘ 48 der jüdischen Gemeinschaft ist ein wichtiger Bezugspunkt für Vertlibs gesamten Schreibprozess sowie seine, von ihm wieder kritisch überdachte, gesellschaftliche Positionierung. Eine teilweise Loslösung und Emanzipation von hierbei übermittelten Bewertungen scheint trotz der prominenten Rolle Österreichs bei der Judenverfolgung und der eigenen traumatisierenden Kindheitserinnerungen dennoch möglich zu sein. Im Zweifel, ob er das Land nicht besser zu verlassen habe, um seinen Problemen und Abgründen, seiner Vergangenheit und Gegenwart für immer den Rücken zu kehren, und weil ich mich nach langen Jahren in diesem Land nun endlich doch wohlzufühlen begonnen hatte, kuschelig wohl, und das kunstvoll zurechtgestutzte Bild nicht abermals erschüttert sehen wollte[,] beginnt er allmählich grundsätzlich seine Einstellung gegenüber der „Welt“ zu verändern. Insbesondere sein Bild von Österreich wird „vielschichtiger und klarer, auf Grund der gewonnenen Einsicht, dass „das individuelle Schicksal des Heimatverlustes und des Verlustes von Sicherheit […] auf eine existenzielle Erfahrung unseres Jahrhunderts hin[weist]“ (Vertlib 2012i: 182f.). Zu den Merkmalen von Erinnerungen zählt bekanntermaßen, dass sie ein verzerrtes, verblasstes, modifiziertes oder gar verfälschtes Bild vergangener Episoden und Erfahrungen evozieren können. 49 Dieses Phänomen fasst Vladimir 48 Vergleiche hierzu den von Erll vorgeschlagenen weiten Begriff von ‚kollektivem Gedächtnis‘. Sie versteht darunter einen „Oberbegriff für all jene Vorgänge biologischer, psychischer, medialer und sozialer Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in kulturellen Kontexten zukommt“ (2017: 5). Vgl. dazu auch den Eintrag „Kollektives Gedächtnis“ von Assmann in: Pethes/ Ruchatz (2001: 308-310) und Moller (2010: 85-92). 49 Vergleiche dazu Pohl (2010) der in Bezug auf mögliche „Verfälschungen und Ergänzungen des autobiographischen Gedächtnisses“ diese in Zusammenhang mit den grundlegenden Prozessen „menschlicher Informationsverarbeitung“ sieht. Im Verlauf von „Selektion, Abstraktion, Interpretation, Integration und vor allem Rekonstruktion […] werden Teile des Erlebnisses ausgewählt, verallgemeinert, gedeutet und in den eigenen Wissensstand eingepasst. Bei der Rekonstruktion werden dann fehlende Teile ersetzt oder Ungereimtheiten begnadigt, so dass aus einer fragmenta- Nebeneinander 37 Vertlib in die Metapher vom „Schattenbild“ (Vertlib 2012i: 179), das bei der Rückkopplung an die Vergangenheit entstehen könne. Für emigrierte Autor/ innen, sei dadurch Heimat „nicht nur ein Ort der Vergangenheit, sondern noch vielmehr eine Fiktion […] in dem Sinne, wie die Erinnerung das Erlebte und Empfundene zu einem Bild zusammenfügt. Aus der Summe der individuellen Bilder entsteht ein Schattenbild mit klaren Konturen“ (Vertlib 2012i: 183). Dieses verändert sich bei jedem Drehen des Lichtes, womit man den Blickwinkel ändert. Das Schattenbild kann jedoch eine vielleicht zu schmerzhafte Konfrontation mit der Vergangenheit und/ oder eine schonungslose Selbsteinschätzung überdecken und zu Selbsttäuschungen führen, denn [a]n einem zu plastischen Bild erkennt man die scharfen Kanten nicht so leicht. Da muss man schon sehr genau hinschauen, sich von der Geschmeidigkeit nicht irreführen lassen (Vertlib 2012i: 183). Das narrative Ich bezieht diese Metapher des Schattenbildes auf viele seiner Lektüren von Texten verfolgter und/ oder vertriebener Menschen. Deren Erzählungen handelten zwar meistens von individuellen Erfahrungen, aber sie hätten zweifelsohne eine überindividuelle Relevanz und könnten somit generell auf Fremdheits- und Exilerfahrungen bezogen werden: Indem ich diese Texte las oder redigierte, lernte ich den Perspektivwechsel, also das Licht zu drehen, also den Blickwinkel zu ändern, und der Schatten drehte sich mit, änderte seine Form, ohne je sein Wesen zu verlieren. Auf diese Art und Weise bekam ich nicht nur einen besseren Zugang zum Verständnis für das Land, in dem ich lebe, sondern auch zu jenen persönlichen Erlebnissen, die ich bis dahin entweder für uninteressant oder für nicht mitteilbar hielt (Vertlib 2012i: 183). Diese Vorstellung vom Schattenbild wird schließlich ausgeweitet und auf den eigenen Schreibprozess bezogen. Das, was er geschrieben habe, wird berichtet, sei „letztlich nur ein andersförmiger Schatten eines umfassenden Phänomens“. Das Exil im engeren Sinn - ein wichtiger, wenn auch bei weitem nicht ausschließlicher Inhalt meiner schriftstellerischen Arbeit - ist international und gleichzeitig die zugespitzte Form jener Erfahrung von Fremdsein und Identitätsverlust, die zu den wesentlichen Merkmalen unserer Zeit gehört (Vertlib 2012i: 183f.). rischen Erinnerung am Ende eine kohärente Erzählung wird. Diese wird im Kern in der Regel mit dem Original übereinstimmen, kann in vielen Details aber auch falsch sein“ (Pohl 2010: 81). 38 Erinnerungen Damit knüpft Vladimir Vertlib gedanklich an seine Dresdner Chamisso-Vorlesungen an, in denen er den Zusammenhang von Leben und Schreiben, die Bedeutung von Erinnerung für lebensgeschichtliche Diskontinuitätserfahrungen sowie die Beschaffenheit von Literatur ausführlich diskutiert (Vertlib 2007d). Hier betont er bereits in seiner ersten Vorlesung mit dem bezeichnenden Titel „Die Erfindung des Lebens als Literatur. Emigration und ‚autobiographisches‘ Schreiben“ die lediglich relative Gültigkeit persönlicher Erinnerungen, deren literarischer Wert sich an Hand einer überindividuellen Relevanz ergibt. Gute Literatur kann erst entstehen, wenn „die Fiktion als Ergänzung zu Selbsterlebtem eine symbolische und allgemein gültige Dimension besitzt“ (Vertlib 2007a: 25): Wenn ich beim Schreiben das Gefühl habe, dass das Erlebte oder das Erinnerte sowie das Erinnerte, das man nachträglich als Erlebtes wahrnimmt, etwas widerspiegelt, das über die eigene Person hinausgeht, in dem sich also auch andere Menschen spiegeln könnten, dann kann daraus etwas Wertvolles entstehen (Vertlib 2007a: 25). 3.4 Zusammenführungen Carmine/ Gino Chiellino 50 setzt sich besonders in seinen Essays (2001) und seinen Dresdner Poetikvorlesungen (2003) mit der Erinnerung in Form eines b i k u l t u r e l l e n b z w . i n t e r k u l t u r e l l e n G e d ä c h t n i s s e s 51 auseinan- 50 Chiellino firmiert seine literatur- und sprachtheoretischen Texte meistens, aber nicht immer mit seinem Vornamen „Carmine“. Zur Bezeichnung der Autorschaft seiner literarischen Texte verwendet er den Vornamen „Gino“. Dabei handelt es sich ein unter Freunden und in der Familie verwendetes Namenskürzel. Eine Ausnahme hierzu bildet eine Publikation aus dem Jahr 1989, „Literatur und Identität in der Fremde“, in der er sich mit dem literarischen Schreibprozess italienischer Autor/ innen in Deutschland auseinandersetzt. 51 In Chiellinos (früher) Auseinandersetzung mit der Erinnerungsarbeit mehrkultureller Autor/ innen haben m.E. die Bezeichnung ‚bikulturelles Gedächtnis‘ und ‚interkulturelles Gedächtnis‘ viele Berührungspunkte, was teilweise auch für die nachfolgende literaturkritische Auseinandersetzung mit seinem Werk fortgesetzt wird (vgl. Dimian-Hergheligiu 2020: 172). M.E. wird die Bezeichnung ‚interkulturelles Gedächtnis‘ seiner Disposition gerechter, die ihm zu Folge aus einem dynamischen Zugriff auf a l l e ihm verfügbaren, sprachlichen Varietäten sowie eines differenzierten Erfassens ihres Interagierens besteht. Im Übrigen umfasst das interkulturelle Gedächtnis bei Chiellino auch eine ästhetische Dimension, indem er es konkret auf literarische Gestaltungsmöglichkeiten bezieht. Dort kann es dann als „Erzählstrategie“ fungieren, wenn das Ziel von Autor/ innen darin besteht, „zwei bis drei Sprach- Zusammenführungen 39 der, das ihm ein ‚Freischreiben‘ von seiner kulturellen Herkunft und ein kontinuierliches ‚Einschreiben‘ in die Fremdsprache Deutsch ermöglicht. Das bikulturelle Gedächtnis wird vom ihm zunächst als ein „dialogisches Verfahren“ definiert, „das sich befreiend für alle Beteiligten auswirkt.“ Dadurch würden „Zeit und Raum aus zwei Kulturen […] in der Sprache in Einklang gebracht, in der auch eine Zukunft angestrebt wird“ (Chiellino 2001a: 92). Später distanziert Chiellino sich zwar von der Bezeichnung „bikulturell“, was er damit begründet, dass „das Zusammenwirken von Kulturen“ „zu autonomen Ergebnissen“ führe - aus dem Dialog zweier Sprachen entstehe beispielsweise eine einzige Sprache, die die Gedächtnisse beider Sprachen in sich vereine (Chiellino 2016: 49; vgl. auch 2001c: 14) - dennoch ist sein damaliges Konzept für meine Untersuchung erhellend, denn das bikulturelle Gedächtnis ordnet er m.E. vor allem eher mehrsprachigen Subjekten zu, bezieht es dadurch stärker auch auf seinen eigenen Erfahrungshorizont und ermöglicht somit Einblicke in seine subjektiven Mehrsprachigkeitserfahrungen. Dem nachgeordnet fungiert das bikulturelle Gedächtnis als eine Kategorie, die sich in literarischen Texten als Eigenschaft von Figuren konkretisiert. Die Entstehung dieses bikulturellen Gedächtnisses verdeutlicht er in den Schilderungen seiner ersten Annäherung an die Fremdsprache Deutsch. Diese wird als eine ‚Instanz‘ dargestellt, die ihm gegenüber quasi autonom ‚reagiert‘ - sie kann seine Bewegungen beeinflussen, ihm ‚Einlass gewähren‘. Im Hinblick auf eine „wahre Biographie“, die er generell mit der sprachlichen Entwicklung von Autor/ innen gleichsetzt, muss er sich somit die Frage zu stellen: „Wie hat sich die deutsche Sprache mir gegenüber ab dem Zeitpunkt verhalten, als ich angefangen habe, sie zu bewohnen? “ (Chiellino 2001c: 16). Durch die ‚körperlich‘ bedingten Einschränkungen - gemeint ist das nicht vollständige Hineinfinden in die phonetische, prosodische und non-verbale Dimension der anderen Sprache, mit denen Sprecher/ innen von Fremdsprachen generell konfrontiert werden - "fühlt er sich nicht limitiert“. Ganz im Gegenteil, mit dem Deutschen habe er „zu einer Sprache gefunden habe, die es mir erlaubt, sehr nah zu mir zu sein“ (Chiellino 2001c: 19). Das befreiende Moment für den „Dichter“ („ein befreiender Zustand“) sieht er darin, „in einer Sprache kreativ zu sein, in der er nicht vorhanden war; d.h. in einer Sprache ohne eigenes kulturelles und persönliches Gedächtnis kreativ zu sein“ (vgl. dazu auch Dimian-Hergheligiu 2020). Chiellino sieht somit seine Identifizierung mit dem Deutschen in enger Kopplung mit der Entstehung jenes besagten bikulturellen Gedächtnisses, das es ihm nunmehr ermöglicht, insbesondere den innersprachlichen Dialog (s.o.) und Kulturräume im Leben des Protagonisten auf unauffällige Weise zusammenzuraffen, um sie als entgrenzte Einheit zu gestalten“ (Chiellino 2016: 120). 40 Erinnerungen zuzulassen. Hier entstehen „Augenblicke und Räume […] in denen sich das Ich in Einklang mit Vergangenheit und Gegenwart entwickeln kann“ (Chiellino 2001a: 91). Bei der Entscheidung für ein „bikulturelles Gedächtnis“ in der Fremdsprache handele es sich „per se um ein dialogisches Verfahren, das sich befreiend für alle Beteiligten auswirkt“. Die dadurch ermöglichte Zusammenführung von Zeit und Raum aus zwei Kulturen ist deshalb von großer Bedeutung, weil weder Zeit noch Raum aus der eigenen Vergangenheit in der neuen Sprache zu finden sind: „Infolge der Auswanderung geraten Raum und Zeit außerhalb der mitgebrachten Sprache.“ Aus dem Wunsch, das dadurch entstehende existenzielle Unbehagen zu überwinden, entsteht jenes bikulturelle Gedächtnis. Dies kann sowohl in der alten wie in der neuen Sprache entstehen. Entscheidet man sich für ein bikulturelles Gedächtnis in der Herkunftssprache, baut man eine Sprache auf, die zwar dialogisch sein will, jedoch keinen Zugang zu Sprachbereichen wie Traum und Liebe finden kann, weil diese kulturelle Sprachsysteme darstellen, die aus der Identifikation mit dem Anderem [sic! ] resultieren. Und dies kann eine Sprache, in der das Fremde nur als Gegenwart vorhanden ist, nicht leisten (Chiellino 2001a: 91f.). Das Deutsche wird in der Folge „weder als fremde noch als neue Sprache“ empfunden, denn es hat sich zu einem von ihm „bewohnten“ Raum entwickelt, in den seine anderen Sprachen, die süditalienische Varietät des Kalabrischen und das Italienische hineingetragen werden und in dem sie reibungslos koexistieren und „ein friedliches Dasein“ führen können. Dieses Gedächtnis diktiert nie den Gebrauch einer der Sprachen, es übt keinerlei „Sprachzwang“ aus, ist jedoch nicht deckungsgleich mit der Sprache, „die ich in diesen [sic! ] Moment und hier schreibe“. Diese verhindere jedoch zu keiner Zeit den beabsichtigten, kontinuierlichen ‚Einschreibungsprozess‘: „[…] diese gesamte Sprache“ soll durch das Deutsche zum Ausdruck gebracht werden. Chiellino hat keine Zweifel am Gelingen dieses Projekts und äußert selbstbewusst: „Dies wird mir zunehmend komplexer gelingen, je entdeutschter mein Deutsch sein wird“ (Chiellino 2001d: 19f.). Mit dem Deutschen wird somit einerseits der Zugriff auf die vergangenen Lebensbzw. Spracherfahrungen in den Blick genommen, andererseits findet in und mit ihm ein befreiender, kreativer Schreib- und Selbstbewusstwerdungsprozess statt. Dabei wird dessen individuelle Formung durch den bewussten Einbezug der anderen lebensgeschichtlich signifikanten Sprachen als identitätsbildende Möglichkeit und als ästhetischer Auftrag begriffen, bei dem das als „Sprachlatenz“ 52 bezeichnete Konzept der unterschwelligen Existenz anderer Sprachen in der jeweiligen Literatursprache wirksam wird. 52 Chiellino versteht unter ‚Sprachlatenz‘ (vgl. u.a. Chiellino 2001b), die in einen Text eingeschriebenen Herkunftssprachen von Textfiguren oder Autor/ innen (vgl. 2001e: Zusammenführungen 41 Mit dem Begriff des ‚interkulturellen Gedächtnisses‘ schafft Chiellino eine ästhetische Kategorie, indem er sie auf literarische Figuren bezieht, „in denen die Integration ihrer Lebensabschnitte durchgeführt wird, die sich in zwei oder drei Sprach- und Kulturräumen abgespielt haben“, wobei alle Sprachen ständig in einem dialogischen Austausch stehen. Allerdings werden auch in diese Definition „interkulturelle Autoren“ miteinbezogen: Ein solches interkulturelles Gedächtnis sei ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer „Berufssprache“, da erst durch ein dergestalt „erweitertes Gedächtnis“ der Entwurf „sprach- und kulturübergreifender Räume“ gelingen könne 53 (vgl. Lengl 2012 40-43; Burka 2016: 38). Insofern ist das interkulturelle Gedächtnis m.E. auch eine wesentliche Komponente für das Interagieren zwischen den Sprachen eines R e p e r t o i r e s (vgl. Kap. 10), die literarisch gestaltet werden, weshalb dieser Bezeichnung auch der Vorzug zu geben ist. Bei Carmine/ Gino Chiellino handelt es sich dabei vor allem um eine in Kalabrien gesprochene dialektale Varietät, das Standarditalienische sowie das Standarddeutsche. Zusammenfasend sei bemerkt, dass Chiellino in der Verwendung des Deutschen als Literatursprache dezidiert eine Möglichkeit der subjektiven ‚Befreiung‘ sieht, dessen Voraussetzung das bikulturelle/ interkulturelle Gedächtnis ist. In seinen Reflexionen zu dem Gedicht „Das wohltemperierte Haus“ hebt er hervor, dass er diesem Text eine herausragende Stellung in seinem Schreibprozess einräumt. Mit ihm verbindet er die „Geburt eines interkulturellen Gedächtnisses in meiner deutschen Sprache“. Ab diesem Zeitpunkt werde das, „was zuvor im Gedächtnis meiner italienischen Sprache anzutreffen war, jetzt 101). Interessant sind auch seine weiterführenden Überlegungen, in denen er ausführt, dass diese immer als „ein dialogischer Bruch in der Kommunikation zwischen zwei Sprachkulturen“ zu begreifen sei: „Es ist ein Bruch, weil die geschriebene Sprache visuell und dem Klang nach unterbrochen wird, es ist ein Dialog, weil die Sprachlatenz auf eine semantische Tiefenstruktur hinweist, die […] den interkulturellen Kontext wiedergibt, in dem sich die dargestellte Handlung vollzieht“ (Chiellino 2001e: 103); vgl. dazu die Eintragung „Maskierte Sprachlatenz“ in „Das große ABC für interkulturelle Leser“ (Chiellino/ Lengl 2016: 155) und „Ritualisierte Sprachlatenz“ (Chiellino/ Lengl 2016: 179) sowie die Erklärung der Unterschiede zwischen „Sprachlatenz und parola vissuta“ (Chiellino/ Lengl 2016: 197f.); vgl. dazu auch die Ausführungen von Raluca Dimian-Hergheligiu (2020) zur Sprachlatenz in literarischen Texten von Chamisso-Preisträgern. 53 Chiellino spielt hierbei auch auf die Möglichkeiten der sprachlichen Veränderung an, die durch die Sprachteilhabe fremdsprachiger Autor/ innen bewirkt werden könnte, indem er ausführt, dass „[d]as Läutern des Grundkonflikts, der zur Auswanderung geführt hat, durch die neue Sprache und die Entscheidung, sie zur Trägerin der versöhnten Vergangenheit zu machen, dazu [beitragen], daß die neue Sprache Abstand von ihrem ethnozentrischen Selbstverständnis nimmt, indem sie sich dem Fremden gegenüber öffnet“ (Chiellino 2001a: 92). 42 Erinnerungen der deutschen Sprache zur Verfügung gestellt [...].“ In einem permanenten Prozess des Dialogisierens zwischen Herkunfts- und Fremdsprache finden reziproke ‚Einschreibungsprozesse‘ statt, denn „die neue Sprache des Autors [erhält] einen Zugang zu seiner Lebensvergangenheit, die sich als Gedächtnis in einer anderen Sprache herausgebildet hat“. Somit erscheint die Sprache der literarischen Texte zunehmend als „Trägerin eines interkulturellen Gedächtnisses“ (Chiellino 2003b: 50). Die eigene sprachliche Vergangenheit wird somit in die Fremdsprache eingeschrieben und durch die entstehende Weitung des Sprachraums verliert diese zunehmend den Charakter des Fremden. Sie kann zu einem Ort sprachlicher Synergien sowie der Identifikation mit der daraus resultierenden ‚eigenen‘ Sprache werden. Dieser Prozess ist nur in der fremden Sprache denkbar. Nur mit ihr eröffnet sich letztlich eine Zukunftsperspektive, die auch die affektiv besonders markierten (sprachlichen) Domänen wie „Liebe“ und „Traum“ (s.o.) umfasst, die für ein Schreiben aus dem aktuell erfahrenen zwischenmenschlichen ‚Lebensmittelpunkt‘ und der psychischen Disposition, als ein genuin lebensgeschichtliches Schreiben, wesentlich sind. Trotz der individuellen Formbarkeit des Sprachmaterials behält die Fremdsprache in Chiellinos Überlegungen ein gewisses Maß an Autonomie und wird, wie bereits erwähnt, als eigenständig agierende Kraft stilisiert, die sich (fremden) Sprachteilhaber/ innen gegenüber ‚öffnen‘ oder ‚verschließen‘ kann. Mit Hilfe des interkulturellen Gedächtnisses kann sie schließlich eine ihrer wichtigsten Funktionen wahrnehmen, die darin besteht, migrationsbedingte Diskontinuität, die als individuelle Dissoziation erfahren wird, zu überbrücken. Dabei wird sie auch zum Medium und zum Austragungsort der Konstruktion von personaler Kohärenz (vgl. Kap. 7). 4 Das Gedächtnis der Sprachen Im Anderen Zimmer habe ich den Balaton zum Wundersee, Märchensee, zum Fabelsee, zum Weltgewässer umgeschrieben, vielleicht weil er das einmal für mich war, ein See, in den ich alles hineinwerfen und hineinträumen konnte, um später an einem hellen Tag danach zu tauchen (Zsuzsa Bánk 2017: 645f.). Die Besonderheiten von Erinnerungsarbeit als gedanklicher Rückkopplung an die Kindheit, an frühe Spracherfahrungen, die Rekonstruktion von Fremdsprachenerwerb sowie die Vielfalt der dargestellten Spracherfahrungen konnten im Rückgriff auf die eingangs angeführten Erkenntnisse aus der Gedächtnisforschung (vgl. Kap. 3) erhellt werden. 4.1 Mehrsprachigkeit In weiteren Texten mehrsprachiger Autor/ innen - im Folgenden werde ich exemplarisch Auszüge aus den literarischen Essays von Marica Bodrožić diskutieren (vgl. Kap. 4.1) - werden im autobiographischen Rückbezug Phänomene von erlebter Mehrsprachigkeit reflektiert, die unter Einbezug zentraler Untersuchungsaspekte genuin linguistischer Forschung 54 der letzten Jahre sowie für 54 In ihrem Überblick zu den theoretischen Ansätzen und Untersuchungen aus der Psycholinguistik und der Soziolinguistik, verweist etwa Brizić in ihrer Untersuchung über „Das geheime Leben der Sprachen“ und deren Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration auf grundlegende Arbeiten in diesem Bereich hin (Brizić 2007: Kap. 4). In sämtlichen Forschungsarbeiten werde, generell gesprochen, dem Verhältnis von Erstsprache und weiteren Sprachen im Prozess des Spracherwerbs nachgegangen. Brizić, die in ihrer Arbeit, u.a. auf die Spracherwerbsprozesse im Kindheitsalter sowie die kontextuellen Einflüsse in diesem Zeitraum fokussiert, führt in diesem Zusammenhang relevante Forschungsaspekte der aus ihrer Sicht „wesentlichen Richtungen“ des 20. Jahrhunderts an, wie „den Behaviorismus, Nativismus, Kognitivismus und den Interaktionimus“ (Brizić 2007: 45). Unter der Prämisse, „dass es kaum ein endgültiges oder allgemeingültiges Konzept bilingualer Kompetenz“ geben kann, hebt sie mit Bezug auf Jim Cummins vor allem hervor, dass ein positiver Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitsprache in Bezug auf die „kognitiv anspruchsvoll[e], kontextreduziert[e] Sprachbeherrschung“ unbestritten sei, dass man aber die Ursache dafür präziser erkennen könne: „erstens, dass es dieselben kogniti- 44 Das Gedächtnis der Sprachen diesen Kontext relevanter psychoanalytischer Denkansätze schlüssiger gedeutet werden können. Zwei Sichtweisen möchte ich hierbei in Kürze hervorheben: erstens, die Annahme, dass die besondere Struktur und das Funktionieren von Mehrsprachigkeit bzw. die Interdependenz von Sprachen sowie die Sprachkompetenz eines Subjekts mit Hilfe eines dynamischen Modells erfasst werden kann (vgl. Herdina/ Jessner 2002; Brizić 2007; Jessner 2007; Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015; Roche/ Terrassi-Haufe 2018: Kap. 4) und zweitens, die Überzeugung, dass einmal erworbene oder in einem jeweiligen Sozialisationskontext existierende Sprachen, die auf Grund lebensgeschichtlicher Entwicklungen nicht mehr verwendet werden können (oder dürfen), nicht einfach aus dem Gedächtnis verschwinden, sondern aus den Tiefen der Erinnerung in vielfacher Form jederzeit in Erscheinung treten können (Hassoun 2003). 55 Die erste Sichtweise, die die Annahme impliziert, dass Sprachkompetenz nicht statisch, sondern d y n a m i s c h erfasst werden muss, kann mit Hilfe eines d y n a m i s c h e n M o d e l l s d e r M e h r s p r a c h i g k e i t verdeutlicht werden (vgl. Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015). Ausgehend davon, dass grundsätzlich eine hohe Kompetenz in mehreren Sprachen auch im gesteuerten Fremdspracherwerb sowie im Erwachsenenalter erreicht werden kann. Dabei müssen sehr unterschiedliche kontextuelle Bedingungen mit den entsprechenden „Kombinationsmöglichkeiten“ (Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015: 210) beachtet werden, die vor allem auch Prozesse des gesteuerten und des ungesteuerten Spracherwerbs betreffen. Aus diesem Grund sollten aus dieser dynamischen Perspektive keine vorschnellen Zuordnungen vorgenommen werden. Vor allem auch aus ven und linguistischen Fähigkeiten sind, die das Individuum auf beide Sprachen anwendet; zweitens, dass das Individuum generell erworbenes Wissen in jede weitere Sprachkompetenz einfließen lässt; und drittens, dass auch ein Transfer spezifischer Sprachmerkmale in die jeweils neue Sprache stattfindet, und zwar in dem Maß, in dem die beiden Sprachen einander strukturell ähnlich sind […].“ Aus mehreren Untersuchungen gehe außerdem hervor, dass unter bestimmten Voraussetzungen, „kognitiv anspruchsvolle Sprachbeherrschung nicht nur von der Erstsprache in die Zweitsprache übertragbar sein dürfte, sondern auch umgekehrt von der Zweitsprache in die Erstsprache“ (Brizić 2007: 50). 55 Vergleiche dazu die Äußerung von Brizić, dass die menschliche Fähigkeit, Sprachen zu erwerben, generell „robust und gleichzeitig flexibel“ sei. „Geht die Kompetenz in einer Sprache verloren, wird eine neue übernommen oder aber geschaffen; die Forschung zu Pidgin- und Kreolsprachen zeigt eindrucksvoll die Unzerstörbarkeit der Fähigkeit zu kommunizieren. Selbst in Notsituationen, wie sie die in die Sklaverei verschleppten Angehörigen verschiedenster Sprachgemeinschaften zur Zeit des europäischen Kolonialismus erlebten, konnte sich immer eine Art sprachlicher Verständigung neu etablieren - hier eine Kombination aus den mitgebrachten, in ‚schwacher‘ Position befindlichen Sprachen und den dominanten Sprachen der Kolonialmächte“ (2007: 146). Mehrsprachigkeit 45 der Sicht des Subjekts ist die undifferenzierte Bezeichnung einer bestimmten Sprache als Fremdsprache oder als Herkunftssprache nicht immer zutreffend. Dies steht auch damit im Zusammenhang, dass die Emotionen von Subjekten sich in Bezug auf ihre verschiedenen Sprachen und ihre Sprachkompetenzen unter dem Einfluss verschiedenster Faktoren immer wieder verändern können. Der Komplexität sozialer, psycholinguistischer und individueller Zusammenhänge wird man vorschnellen Zuschreibungen nicht gerecht und man legt durch Bezeichnungen in unzulässiger Weise Identitäten fest, die in dieser Form nicht existieren und eher „einschränkend“ wirken (Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015: 210). In diesem von Allgäuer-Hackl/ Jessner vorgestellten dynamischen Modell der Mehrsprachigkeit (DMM) werden u.a. aus den genannten Gründen Sprachen als sich wechselseitig beeinflussende und von äußeren Bedingungen beeinflusste Systeme begriffen: Das mehrsprachige System ist ein adaptives, komplexes System, das zwei wesentliche Eigenschaften besitzt, nämlich die Eigenschaft der Elastizität - das System gleicht sich an, wenn in der Umgebung des Systems temporäre Veränderungen stattfinden - und jene der Plastizität, d.h. das System reagiert bei Bedingungsveränderungen mit der Entwicklung neuer Eigenschaften (Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015: 212). Mehrsprachige Subjekte verfügen diesem Modell zu Folge über ein „erhöhtes multilinguales Bewusstsein“, das sowohl eine metasprachliche als auch eine zwischensprachliche Komponente umfasst. Insbesondere das metalinguistische Bewusstsein wirkt sich positiv auf das kreative Denken, die pragmatische und die interaktionale Kompetenz aus (Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015: 220f.). Die zweite Sichtweise knüpft an die Erkenntnisse des mehrsprachigen, 1936 in Ägypten geborenen Psychiaters und Psychoanalytikers Jaques Hassoun an. Er geht davon aus, dass individuelles Sprachwissen im Unterbewusstsein weiterlebt und auf oftmals unentdeckten, unbekannten und äußerst versteckten Wegen von einer Generation an die nächste weitergereicht wird, „[d]enn offensichtlich gibt es keine Sprachen, die sterben. Ganz im Gegenteil, sie leben insgeheim, gleichsam auf Schmuggelpfaden, ohne daß das Subjekt es merkt“ (Hassoun 2003: 103). Als Beispiel führt er dazu „Immigrantenkinder“ an, die ihre familiäre Herkunftssprache nicht persönlich erfahren haben und nur vom „Hörensagen“ kennen. Diese Sprache ist jedoch nicht verschwunden, sondern sie wird lediglich nicht mehr gebraucht. „Sie ist keine Verbindung eingegangen mit der Umgangssprache der Umgebung“. Sprachen leben auf diesen inneren Schmuggelpfaden „in der Schrift, im Klang der Stimme, in den Betonungen, im Stil“ (Hassoun 2003: 102f.). 46 Das Gedächtnis der Sprachen Hier schmuggelt die geheime Sprache in der Wendung eines Satzes ein Stück Kindheit des Sprechenden ein. Dort verbindet sie sich mit anderen Sprachen, wird zum Cajun oder Joual, zum Kreolischen oder Verlan, zum Jiddischen oder Judeo-Tartarischen und liefert so die Beweise für die lange Überlebensfähigkeit einer Sprache (Hassoun 2003: 102f.). 56 4.2 Schreibengehen 57 Die aus Dalmatien stammende Marica Bodrožić, die 1983 im Alter von zehn Jahren ihren Eltern nach Deutschland folgt, publiziert 2007 den Essay „Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern“, als einen autobiographischen Text mit durchgehend hoher Verdichtung und Metaphorisierung. Auf dokumentarische Anteile, beispielsweise in Form von Familienfotografien und einer präzisen Aufbereitung lokalspezifischer sprachlicher Ausdrucksformen in genauen Worterklärungen, wie sie in den literarisch ausgestalteten Essays von José F.A. Oliver (vgl. Kap. 3.1) zu finden sind, verzichtet dieser Text. Er kann in seiner Gesamtheit und Geschlossenheit im engeren Sinn als „literarische Sprachbiographie“ angesehen werden (Thüne 2010: 76), wobei, das „eigentliche Textzentrum“ von den „zahlreichen, verstreuten Sprachreflexionen“ gebildet wird (Behravesh 2019: 180). Auf diese Weise gerät die Sprache, bzw. die Auseinandersetzung mit ihr, zur Protagonistin. Für die in diesem Text konstruierte Darstellungsperspektive spielt die Erinnerung eine zentrale Rolle. Die mit der Autorin eng verwobene Textfigur des Ich schildert bzw. inszeniert literarisch ihre „Ankunft in Wörtern“ (vgl. Titel), d.h. die Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache, die „in mir an einem Gerüst, an einem Lobgesang; an der Erinnerung der Seele [baut].“ Die Fremdsprache wird somit gleich zu Beginn des Essays als das geeignete Werkzeug für den autobiographisch-literarischen Schreibprozess apostrophiert, als Möglichkeit eines überraschend anderen, identifizierten Rückblicks auf das Leben und den eigenen Prozess der Sprachfindung. Die inneren Bilder, „der Bildteppich bekommt in meinem Inneren ganz eigene Ohren. Europa wird der Kopf, in dem das Gedächtnis sich ankleiden kann wie ein Mensch. In den Bildern woh- 56 Vergleiche dazu auch die Erläuterungen von Grinberg/ Grinberg (2016), die davon ausgehen, dass analog zu verdrängten Erinnerungen auch die „ausradierten Sprachen“ niemals vollkommen verschwinden würden. Als Beispiel führen sie die Kindheitserfahrungen von Sigmund Freud an, als er von Freiburg nach Wien umsiedelte. Spuren der alten „vergessenen“ Sprachen haben ihm dazu verholfen, „alte Erinnerungen wiederzubeleben, aus den Zeiten, in denen diese Sprachen lebten“ (Grinberg/ Grinberg 2016: 121). 57 Bodrožić (2007: 9). Schreibengehen 47 ne ich, als eine mit allem Inneren und Äußeren verwandte Haut“ (Bodrožić 2007: 9). 58 In den ersten beiden, hier und im Folgenden zitierten Paragraphen, beschreibt die Erzählerfigur in nuce in sehr komprimierter und ‚verdichteter‘ Form die meisten der in späteren Textpassagen immer wieder aufgegriffenen und entfalteten, grundsätzlichen Empfindungen und Reflexionen in Bezug auf den Erwerb des Deutschen, ihre Mehrsprachigkeit bzw. ihr Sprachrepertoire (vgl. Busch 2021: insbesondere 14-86) sowie ihren kreativen Schreibprozess in der Fremdsprache. Mit der Äußerung „Das Erzählen aus der Geschichte des menschlichen Herzens ist eine Befreiung aus der Umzäunung der Biographie“ (Bodrožić 2007: 9) verlegt sie zunächst ihren narrativen Prozess in einen emotionalen Erinnerungsraum. Der Gegenstand des Erzählens sind innerste, Existenz berührende Gefühle. Gleichzeitig verbirgt sich hier jedoch auch eine generelle Einschätzung des ihr zur Verfügung stehenden kreativen Potenzials, das durch die Distanz zur Herkunftskultur und -sprache freigesetzt werden kann. Die hier angenommene „Befreiung“ ist eng verknüpft mit den Möglichkeiten der Konstruktion einer neuen Teilidentität (vgl. Keupp u.a. 2008) im Deutschen, vor allem aber auch mit den kreativen Ausdrucksmöglichkeiten, die sich im Schreibprozess in der Fremdsprache konkretisieren. Zentral ist weiterhin die Selbsterkenntnis, die aus der Dynamik des Schreibprozesses, des „Schreibengehen[s]“ entsteht, dass nämlich die Erstsprache keineswegs verschwunden ist, sondern Teil der Persönlichkeit bleibt („Die Selbstverständlichkeit, mit der die Wälder des Slawischen in mir liegen […]. Dieses Unterpfand, das immer aus der ersten Sprache herauftönt […]“, Bodrožić 2007: 9), immer wieder zum Bewusstsein kommt und sich schließlich in ihren Text ‚einschreibt‘. Die Sprachen und Kulturen leben weiter und treten in eine dynamische Beziehung zueinander. Die Erinnerung und die damit einhergehende Vergegenwärtigung des kulturellen und sprachlichen Repertoires der Herkunft liefert somit die Vorlage für Schreibinhalte und ist zugleich ein Baustein im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und der Konturierung einer Schreibidentität in der Fremdsprache Deutsch, denn es „[macht] mich endlich zu jemand [sic], der etwas von sich sagen kann. Aber erst in der deutschen Sprache wird mein eigenes Zuhause für mich selbst hörbar“ (Bodrožić 2007: 9). 58 Die in dieser Textstelle aufscheinende Körperdimension erinnert an die Zeichnung von „Körpersilhouetten“, mit denen mehrsprachige Individuen ihr Sprachrepertoire in einer köperbezogenen Dimension erkunden und mitteilen können. Dabei dient die Skizze eines Körperumrisses als Zeichenvorlage. In didaktischen Kontexten können Lernende die einzelnen Körperteile farblich gestalten und ihnen jeweils ihre Sprachen und Sprachvarietäten zuordnen und den jeweiligen Stellenwert, den sie in ihrem Leben haben, erläutern (vgl. Busch 2021: 40-45; vgl. Krumm/ Jenkins 2001). 48 Das Gedächtnis der Sprachen Auch die Wortkreation Schreibengehen versinnbildlicht eine der Mehrsprachigkeit und dem mehrsprachigen Schreibprozess inhärente Dynamik. Mehrere Lesarten sind dabei denkbar: zum Schreiben gehen als Absicht, Bewegung, Prozess, Wanderung, Durchschreiten von Räumen, um im Schreiben eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Die Distanz ermöglicht jedoch auch eine weitreichende Intensivierung des Erinnerungsprozesses, des Rückblicks auf die Kindheit, und sie forciert letztlich den Wunsch, den Zeit- Raum der Vergangenheit zu konservieren: Etwas erzählen zu wollen, das begann mit dem Wunsch, etwas bewahren zu wollen, behüten auch, von meinem Großvater. Wegen ihm nahm ich zum ersten Mal das Erlebnis und Wagnis der Prosa auf mich (Bodrožić 2007: 10). Für den Prozess des Erinnerns übernimmt zudem die sinnliche Wahrnehmung eine wichtige Funktion, denn sie wird als konstitutiv für die Initiierung des autobiographischen Schreibens erfahren. Die Aktivierung von Erinnerungsbildern an die wichtige Bezugsperson des Großvaters, zu dem sie eine sehr intensiv erlebte emotionalen Bindung, die den Prozess des Erinnerns begünstigt, wird als eine „im Grunde kindliche Vorstellung“ bezeichnet, als Bild, das „vielleicht ein großer Maler erschaffen haben könnte“, „um Innerlichkeit an einem menschlichen Gesicht farblesbar zu gestalten“ (Bodrožić 2007: 10). Dieses erinnerte „Inbild von Form und Menschlichkeit“ ermöglicht aus der zeit-räumlichen, kulturellen und damit vor allem auch sprachlichen Entfernung eine überraschende Dimension des bewussten Erlebens, denn „mein erstmalig bewusst erlebter Verwandter war nicht ein [sic] Mensch. Es war das Gesicht meines Großvaters“ (Bodrožić 2007: 10). Gleichzeitig wirkt das ‚Erschreiben‘ dieser Erinnerung an die wohl wichtigste Bezugsperson der Kindheit wie eine Initialzündung für die Aktivierung des autobiographischen Gedächtnisses, die Erinnerung an „die Schritte der kleinen Jahre“, die „wie verschüttet“ waren (Bodrožić 2007: 42). Als ich zu schreiben begann, das Gesicht des Großvaters mit deutschen Wörtern betretend, dieses Gesicht der Liebe, sprach auch dieses erste Menschenland mich an, sprang aus mir heraus und wurde eine autonome Welt, wurde das, was es in all den Jahren in mir ohnehin gewesen ist (Bodrožić 2007: 42). 59 59 Vergleiche dazu den Bericht über einen Selbstversuch des Kunstpädagogen Alfred Czech sowie dessen Untersuchungen zur Rolle biographischer Momente für die „Effektivität des Bildgedächtnisses“. Er kam zu dem Ergebnis, dass „autobiographischepisodische Umstände“ für „das Funktionieren des Bildgedächtnisses“ ausschlaggebend sind. „Die Umstände, unter denen ein Bild zum ersten Mal wahrgenommen wird - über dem Sofa der Großmutter oder während des ersten Italienurlaubs - prä- Schreibengehen 49 Dieser Lebensabschnitt, das ‚Kindsein‘, wird als ein abgeschlossener Bereich apostrophiert, wobei analog dazu auch die Herkunftssprache zwar als ein abgeschlossenes Reservoir erachtet wird, das aber mit dem Deutschen dynamisch interagiert, indem es „sprachgenaues[s] Wissen bereitstellt und „mich zu einem Menschen mit Gedächtnis gemacht“ hat (Bodrožić 2007: 42). Die Erstsprache, als Sprache der Erinnerung, bleibt dabei von fundamentaler Bedeutung, die keinesfalls aufgegeben werden kann, denn, so wird betont, „nicht einen Moment lang wäre es mir natürlich erschienen, mich der akribischen neuen Worterfinderei komplizenhaft unterzuordnen“ (Bodrožić 2007: 62). Grundsätzlich wird in diesem Text davon berichtet, dass der Erinnerungsprozess erst in der Fremdsprache initiiert wird, und sich auch nur in ihr fortschreiben kann: Dieses Bild [des Grossvaters, Anm. d. Verf.] der unsterblichen Wangen und der in meiner Herzerinnerung fortlebenden blauen Augen, habe ich nie in meiner ersten Sprache erinnert. Im Deutschen meldet es sich gleich einem Mitbewohner meines Hauses 60 an und kehrte solange beharrlich zu mir zurück, bis ich zu einem Stift griff und es zu beschreiben versuchte (Bodrožić 2007: 9f.). Das Deutsche erscheint hierbei als Vehikel, um die seit längerem notwendige Ablösung von der Vergangenheit zu verwirklichen. Erst aus der zeit-räumlichen Distanz wird deutlich, „wie sehr sich die Sprache meiner Kindheit in mir abmühte, das alte Leben loszulassen“ (Bodrožić 2007: 62). Generell schildert Marica Bodrožić die Wahrnehmung von Sprache, besonders aber die Erinnerung an die Erstsprache, als einen sinnlichen Prozess, der durch akustische, olfaktorische und visuelle Reize ausgelöst werden kann und damit auf die leibliche Dimension 61 von Sprache hinweist. Dies wird besonders in den Textpassagen deutlich, in denen der Umzug nach Paris erinnert wird. Als erstes, gleich nach der Ankunft fällt der Blick auf Plakate mit einer Konzertankündigung des bosnischen Musikers und Komponisten Goran Bregović, die eine emotionale Verbindung zur Herkunftskultur auslösen und angesichts des Französischen, als neu zu erlernender Fremdsprache, eine Verbindung zur Erstsprache herstellen können: gen sich zusammen mit dem Bild ein und werden gemeinsam abgerufen“ (Höpel 2013: 65). 60 Die Metapher das Haus der Sprache bzw. Wörter aus dem semantischen Wortfeld „Haus“ wird von vielen mehrsprachigen Autoren aufgegriffen, die in der Fremdsprache Deutsch schreiben (vgl. S. 31f.). 61 Vergleiche dazu den Überblick von Busch (2021: 24f.). 50 Das Gedächtnis der Sprachen Die Plakate waren Mittler eines mir zugeigneten Echoraums, der, hätte man außen lesen können, mit niemand sonst eine ähnliche Resonanz aufgenommen hätte (Bodrožić 2007: 54). Die neue fremdsprachige Umgebung ermöglicht den unmittelbaren Abruf von visuellen und akustischen Erinnerungen bzw. Erinnerungsbildern und der Klang und die visuellen Eindrücke der neuen fremdsprachigen Umgebung intensivieren die Erinnerung: Mitten auf der Place de la Contrescarpe sah ich das Meer von Split vor mir, hörte die Kellnerinnen laut „adio“ und „ciao“ rufen, als befinde man sich mitten in Italien, mit einem lauten Nachgeschmack im Klang, mit farblichen Einsprengseln und Bewegung der Wellen (Bodrožić 2007: 55). Dabei wird die überraschende Entdeckung („ein [schockhaftes] Glückserlebnis“) gemacht, dass die zweite Fremdsprache nicht mittels des bewussten Zugriffs grammatischen, semantischen und pragmatischen Wissens in Bezug auf die deutsche Sprache erlernt wird, denn „nicht das Deutsche lag also als Sprachgerüst für die neue Sprache in mir, sondern zu meiner großen Überraschung am Ende doch die Muttersprache“, wobei „mit der Erinnerung auch meine jugoslawische Kindheit heraufgetönt [kam]“ (Bodrožić 2007: 55). Die Herkunftssprache, die sich beim Erwerb des Französischen „wie unter der feinen deutschen Wetterwörterschicht“ bemerkbar macht, wird dabei näher bestimmt als ein Konglomerat verschiedener Sprachen und Varietäten, „mein unmittelbarer dalmatinischer Dialekt […], einzelne herzegovinische Wörter […], das Kroatische, das einstige Serbokroatische, auch osmanisch Klingendes aus der Gegend meiner Mutter“ (Bodrožić 2007: 55). 62 Als habe die erste Sprache ihr Mitspracherecht nun endlich erfolgreich in mir etabliert, hörte ich zu allen neuen französischen Wörtern die ersten muttersprachlichen. Die Fugen klafften, offen lag vor mir eine ganz alte Musik (Bodrožić 2007: 75). 62 Vergleiche dazu auch Grinberg/ Grinberg (2016), die Spracherfahrungen des jungen Sigmund Freud skizzieren, die hierzu interessante Parallelen aufweisen: „Freud lernte verschiedene Sprachen sprechen, weil er verschiedene ‚Mütter‘ gehabt hat und weil sich die Eltern manchmal in der Sprache ihrer Zugehörigkeit und manchmal in einer Referenzsprache unterhielten: Jiddisch und Deutsch. Seine wahre Muttersprache - die Sprache, die auch die Sprache seiner Mutter war und die ihm seine Mutter beibrachte - hat sich für ihn erst präzisiert, als er lesen und schreiben lernte“ (Grinberg/ Grinberg 2016: 121f.). Schreibengehen 51 Später wird diese Form des intensiven Spracherlebens der Erstsprache reflektiert und die Vermutung aufgestellt, dass es sich dabei grundsätzlich um eine Erfahrung mehrsprachiger Individuen handeln könnte, denn „vielleicht rührt die erste erlernte Sprache bei jedem Menschen an ein verschüttetes Gefilde von Gerüchen, Farben, erstmalig gelebten Sehnsüchten“ (Bodrožić 2007: 61). Der ‚Umzug‘ in eine weitere, dritte Sprache wird erfahren als ein Moment der Trennung, der eine Selbstvergewisserung in Bezug auf vergangene kulturelle und sprachliche Identität sowie den Prozess einer zukunftsgerichteten/ zukunftsweisenden Identitätsbildung beinhaltet: Es kommt mir aus der Rückschau so vor, dass die wartende dritte Sprache, das wartende dritte Land mir Brücke gewesen ist für den sich schließenden Kreis, für das schwierige Anerkennen meiner Herkunft in mir selbst (Bodrožić 2007: 61). Marica Bodrožić ermöglicht mit ihrer literarischen Sprachbiographie erstaunliche Einblicke in die Erfahrungswelt einer mehrsprachigen Person, indem sie ihre emotionale Bindung zur Herkunftssprache, die sukzessive Erweiterung ihres Sprachrepertoires sowie die Verschmelzung ihrer Sprachen im literarischen Schreibprozess in diesem sprachlich verdichteten Text darstellt. Jeder Sprache wird dabei eine besondere und unverwechselbare Funktion in dieser kreisförmigen Bewegung um das Selbst attribuiert, die offensichtlich zur Konsolidierung der mehrkulturellen Identität führt. Alle Sprachen interagieren in einem dynamischen Prozess miteinander und leben im Inneren fort und wirken auf den Schreibprozess ein. Die Herkunftssprache wird dabei zwar als eine stark emotionale, persönlichkeitsstrukturierende und in dem neuen Lebensumfeld ‚erinnerte‘ Sprache beschrieben. Das Deutsche ist jedoch die dominante Sprache und das wichtigste Instrument des kreativen Schreibprozesses. Das Französische, die Sprache, die aus der größeren raum-zeitlichen Distanz zur Herkunftssprache erlernt wird, ermöglicht schließlich eine exaktere Selbstpositionierung und Akzeptanz der erworbenen mehrkulturellen Identität. Abschließend möchte ich hervorheben, dass die emotionale Bindung an die Herkunftssprache zwar unübersehbar ist, jedoch keinen Einfluss auf den Stellenwert der Fremdsprache Deutsch im Rahmen der hier gestalteten Erinnerungsprozesse hat. Die Frage, inwieweit mehrsprachige Autor/ innen ihr Gefühlsleben in einer später erlernten Sprache in gleicher Weise wie in der Herkunftssprache ausdrücken können, wird u.a. von Pavlenko (2014) ausführlich diskutiert, die in ihrer Untersuchung den Grad und die Auswirkungen der Identifikation mehrsprachiger Menschen mit ihren Sprachen nachgeht. Mit Bezug auf den autobiographischen Schreibmodus, an dem die ‚innere Stimme‘ in Form von Erinnerungen und Selbstgesprächen der Autor/ innen beteiligt ist, möchte ich exemplarisch auf ihre Darstellung der Schreiberfahrungen des mehrsprachigen 52 Das Gedächtnis der Sprachen Vladimir Nabokov hinweisen. Diesem gelingt es nur unter größten Schwierigkeiten, seine auf Russisch verfassten Memoiren ins Englische zu übertragen. Abgesehen davon, dass nur das Schreiben in seiner Herkunftssprache Russisch unausgesetzt neue und überraschende Details aus seiner Kindheit ins Gedächtnis gerufen hatte, empfand er, sehr im Unterschied zu den in der vorliegenden Sprachbiographie beschriebenen Erfahrungen, eine unerträgliche Spannung zwischen der Sprache seiner Kindheit und des Englischen als Erzählsprache seiner Memoiren: What he finds disconcerting is the lack of the seamless concord between the English words of his memoir and the Russian world of his childhood memories (Pavlenko 2014: 189). 5 Zweifel und Widerstände Im Laufe dieser Untersuchung zum Selbstbild, den Mehrsprachigkeitserfahrungen und deren Verarbeitung im literarischen Schreibprozess mehrsprachiger Autor/ innen, für die die Wahl des Deutschen konstitutiv ist, hat sich bei der Durchsicht der ausgewählten Materialien eine überwiegend positive Einstellung und ‚Zuversicht‘ in Bezug auf das kreative Potenzial dieser favorisierten Sprache und der Möglichkeiten, diese individuell zu formen, herauskristallisiert. Die reichhaltige literarische Produktion und die oft sehr erfolgreichen, mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Publikationen im deutschen Sprachraum sind zweifelsohne auch als ein Resultat dieser positiven Disposition zu werten. Dass eine solche Entwicklung sogar dazu führen kann, die Herkunftskultur bzw. die Auseinandersetzung mit ihr in der neuen Sprache und in einem mehrkulturellen Erinnerungsraum dauerhaft zu verorten, verdeutlicht beispielsweise (Gino) Chiellino in den Anmerkungen zu seinen „Canti per M“, einer Sammlung autobiographischer, lyrischer Texte. Er schreibt, dass „die erneute Begegnung des lyrischen Ichs mit M“ sich als Reise durch fremde/ vertraute Sprache und als Ankunft in einer Kulturlandschaft [vollzieht]. Diese vermittelt „dem lyrischen Ich so weit existentielle Sicherheit […], daß es bereit ist, Abschied von der eigenen Herkunftssprache zu nehmen […] durch ein letztes Eintauchen in Klänge und Bilder, die sein Wesen geprägt haben“ (Chiellino 2003c: 10). Dennoch - und dies mag kaum verwundern - sei dies kein ‚gefahrloser‘ und selbstverständlicher Prozess. An anderer Stelle weist er jedoch darauf hin, dass die „Geburt eines interkulturellen Gedächtnisses“ (vgl. Kap. 3.4) im Deutschen sich keineswegs problemlos und gewissermaßen automatisch vollzieht, sondern, dass sie durchaus auch „voller Unsicherheiten und Risiken“ ist (Chiellino 2003b: 50). Damit benennt (Gino) Chiellino jene Erfahrungen des Zweifelns am eigenen Sprachvermögen in der Fremdsprache sowie die inneren (und äußeren) Widerstände, die ebenso symptomatisch für die Dynamik der Hinwendung zur Fremdsprache 63 sein können, wie die mutige und optimistische Auseinandersetzung mit der neuen Sprache. Eine negative Disposition wird besonders von Autor/ innen wie etwa Ota Filip und Jiří Gruša geäußert, die als politisch Verfolgte, ihre Herkunftskultur gezwungenermaßen verlassen und sich als Exilierte im deutschsprachigen Umfeld 63 Ich vermeide an dieser Stelle, wie auch im Folgenden die in der Fachliteratur oft anzutreffende Bezeichnung ‚Sprachwechsel‘. Gerade weil die Herkunftssprache in der Fremdsprache weiterlebt und generell alle verfügbaren Sprachen in einem dynamischen Bezugsverhältnis zueinander stehen (vgl. Kap. 4) und zudem bewusst in das sprachliche Kalkül während der literarischen Gestaltung des Deutschen mit einbezogen werden, halte ich ‚Sprachwechsel‘ für eine irreführende Bezeichnung. 54 Zweifel und Widerstände neu orientieren müssen. 64 Negative Einschätzungen, Zweifel an den Möglichkeiten eines zufriedenstellenden Ausdrucksvermögens und eine wiederholt aufflackernde Skepsis in Bezug auf die Tauglichkeit der Mehrsprachigkeit als Baustein für die Konstruktion einer überzeugenden mehrkulturellen Identität treten dabei immer wieder zu Tage (vgl. dazu auch Busch/ Busch 2008). Viele Autor/ innen schildern ihre Auseinandersetzung mit dem Deutschen, das Erleben ihrer Mehrsprachigkeit sowie ihren literarischen Schreibprozess im besten Fall als ambivalent (vgl. dazu auch Hein-Khatib 1998 53-91). Selbst diejenigen unter ihnen, die ihre verschiedenen Sprachen „ausgewogen“ beherrschen und Wissensbestände aus allen beteiligten Sprachen in ähnlicher Weise abrufen oder aktivieren können, bei denen folglich eine „kombinierte oder koordinierte Mehrsprachigkeit“ angenommen (Roche 2013: 167) werden darf, können sich in einigen Fällen des Gefühls nicht erwehren, e i g e n e Ausdrucksmöglichkeiten in der Fremdsprache nur unzureichend entwickeln zu können oder sogar Gefahr zu laufen, ihre Herkunftssprache gänzlich zu verlieren. 5.1 „On Learning a New Language“ 65 Um dieses nuancenreiche Spektrum negativer, oder zumindest ambivalenter Selbsteinschätzungen mehrsprachiger Autoren/ innen aus einer erweiterten Sicht deuten zu können, lohnt sich m.E. ein Blick in die Vergangenheit, nämlich in die Frühphase der Psychoanalyse, die (auch) aus historischer Sicht als einer „irreduzibel polyphonen Wissenschaft“ (Stojković 2012: 15) eine besondere Affinität zur Mehrsprachigkeit 66 aufweist und interessante, weiterhin aktuelle 64 Im Bereich der germanistischen Exilforschung gibt es bekanntermaßen seit mehreren Jahren zahlreiche Untersuchungen zu den Spracherfahrungen vom NS-Regime verfolgter und exilierter Autor/ innen, die sich mit den überaus schwierigen Versuchen der sprachlichen Neuorientierung und des problematischen Verhältnisses, das diese zur deutschen Sprache haben, auseinandersetzen. Eine für den vorliegenden Problemzusammenhang kenntnisreiche Arbeit liegt mit der Untersuchung von Simone Hein-Khatib (2007) vor, in der sie das „Sprach-Erleben“ von Peter Weiss und Georges-Arthur Goldschmidt im Rahmen biographischer Fallrekonstruktionen diskutiert. 65 Stengel (1939). 66 Vergleiche dazu das 2. Kapitel von Amati Mehler et al. (2003: 53-80), das sich mit den historischen Wurzeln der Mehrsprachigkeit und des Polyglottismus in der Psychoanalyse befasst sowie Kilchmann (2019: 202), die darauf hinweist, dass der ganze Komplex der Mehrsprachigkeit durch „die Vertreibung der Freudschen Psychoanalyse und ihrer hauptsächlich jüdischen Vertreterinnen und Vertreter aus Deutschland und Österreich durch den Nationalsozialismus eine neue Bedeutung erhalten hat. Die praktizierenden Analytiker hatten beispielsweise schwerwiegende Sprachproble- „On Learning a New Language“ 55 Erkenntnisse liefert. Einige Aspekte werde ich deshalb im Folgenden dazu ausführen. Für eine vertiefende Diskussion psychoanalytischer Fragestellungen ist hier jedoch weder der Raum, noch sind diese im Detail für das Erkenntnisinteresse dieser Studie ertragreich. Besonders hervorzuheben sind die Untersuchungen zum Fremdspracherwerb sowie zum Erleben von Mehrsprachigkeit 67 von Stengel, die er 1939 in dem Artikel „On Learning a New Language“ publiziert hat. Dieser ist heute noch „als Grundlagentext der psychoanalytischen Sprachwechselforschung“ (Kilchmann 2019: 203) anzusehen, und findet als solcher nach wie vor Beachtung in aktuelleren, psychoanalytisch und psycholinguistisch orientierten Untersuchungen. Einige, für die vorliegende Untersuchung relevanten Erkenntnisse sind die Folgenden: (1) Die W ä c h t e r f u n k t i o n d e s Ü b e r - I c h tritt dann in Kraft, wenn Sprecher/ innen, besonders beim Erwerb einer neuen Sprache, die korrekte Bezeichnung für einen Gegenstand oder Sachverhalt finden wollen und dabei ständig von Zweifeln beherrscht werden, ob sie jeweils kontextadäquate, standardisierte Bezeichnungen verwenden. Besonders erwachsene Lerner verfügen dabei in der Regel nicht wie Kinder über eine eigene „impressive creative power“, die sich gerade im Erfinden neuer und nichtkodifizierter Wörter bemerkbar macht (Stengel 1939: 473). 68 me zu bewältigen: Einmal mussten sie selbst in der Fremdsprache praktizieren und Patienten unterschiedlicher Herkunftssprache behandeln. Einschneidend, so Kilchmann, war jedoch auch die Tatsache, dass auf institutioneller Ebene das Deutsche als Hauptsprache durch das Englische abgelöst wurde. Sie verweist in ihrer Untersuchung, außer auf Stengel, auch auf die nachfolgenden Fallstudien von Buxbaum (1949), Greenson (1950) und Krapf (1955), „als Grundlagentexte der psychologischen Mehrsprachigkeitsforschung“ (Kilchmann 2019: 204f.). 67 Der in Wien geborene Erwin Stengel gehört auf Grund seiner jüdischen Herkunft nach dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Österreich zu denjenigen Wissenschaftlern, die zur Emigration gezwungen sind. Er geht nach England ins Exil. Seine Absicht, u.a. mentale Prozesse zu untersuchen, die den Erwerb einer Fremdsprache in einem fremden Land ermöglichen und begleiten, motiviert er u.a. vor diesem Hintergrund, indem er betont, dass Untersuchungen dieser Art insbesondere von großer Bedeutung für einen Psychoanalytiker sind, der, wie es für ihn selbst der Fall ist, gezwungen wurde, in einem anderssprachigen Land seine Arbeit fortzusetzen (vgl. Stengel 1939). 68 Diese Befreiung von der Kontrollfunktion des Über-Ich ist m.E. jedoch auch Künstlern und Schriftsteller möglich. Beispielsweise müssen insbesondere mehrsprachige Autor/ innen sich zwangsläufig im kreativen Prozess des Schreibens über erworbene Sprachnormen und Regeln ihrer jeweiligen Herkunftssprache hinwegsetzen können. Nur auf diese Weise wird es ihnen möglich sein, eine Fremdsprache zu formen, spie- 56 Zweifel und Widerstände (2) Es gibt eine Form des auch bei Erwachsenen stärker ausgeprägten W i d e r s t a n d s g e g e n n e u e B e z e i c h n u n g e n v o n G e g e n s t ä n d e n o d e r P e r s o n e n 69 , die er wie folgt begründet: our resistance to every change in our libidinal relations to objects causes a certain amount of resistance to their new names. This resistance is naturally strongest in connection with objects which are nearest to our feelings (Stengel 1939: 474). (3) Bei Erwachsenen lässt sich eine bisweilen i r r a t i o n a l e A b w e h r, eine neue Sprache zu erlernen, beobachten. Dies geht einher mit einer negativen Bewertung der Fremdsprache bzw. einer idealisierten ‚Überidentifizierung‘ mit der Herkunftssprache. Letztere wird als wertvoller erachtet, die neue Sprache hingegen als verarmt: There is often the feeling, that only the words of the native language can reflect the truth, while the foreign words are somehow felt as false (Stengel 1939: 476). (4) Im Verlauf des Erlernens einer Fremdsprache kann sich ein generelles G e f ü h l d e r S c h a m s o w i e V e r s a g e n s ä n g s t e einstellen, die durch die Empfindung von Unzulänglichkeit und Ungenügen ausgelöst werden. Dies kann jedoch rasch überwunden werden, wenn sich erste Erfolge in der anderen Sprache abzeichnen. (5) Darüber hinaus kann sich ein m i t S c h u l d g e f ü h l e n („a strange feeling of guilt“) v e r b u n d e n e s G e f ü h l d e r S c h a m einstellen, das interessanterweise dann entsteht, wenn es Sprecher/ innen gelingt, sich korrekt auszudrücken. Gerade dann haben sie Angst vor der Beurteilung ihrer sprachlilerisch zu gestalten und ihr Selbst in und mit dieser ‚anderen‘ Sprache neu zu entwerfen. Bei den mehrsprachigen Autor/ innen dieser Studie manifestiert sich genau diese kreative Kraft in ihrer literarischen Produktion. Das Experimentieren mit Sprache ist Bestandteil ihres ästhetischen Programms sowie ihres Selbstverständnisses als Autor/ innen. 69 Vergleiche dazu die Einschätzung der Reaktion der polnischstämmigen Autorin Eva Hoffmann auf die sofortige Anglisierung ihres Namens nach ihrer Ankunft in den USA (Amati Mehler/ Argentieri/ Canestri 2003: 140f.); vgl. dazu auch Grinberg/ Grinberg (2016: 127), die in ihrer Untersuchung zur Psychoanalyse der Migration und des Exils zu folgendem Ergebnis kommen: „Manche Immigranten fühlen sich beim Gebrauch der neuen Sprache als wären sie verkleidet und als hätten sie die Sprache verloren, die für sie die authentische ist. Ist dieser Zustand jedoch überwunden, spürt der Immigrant, daß er die neue Sprache in sich behalten kann, ohne daß diese seine Muttersprache verdrängt. Er spürt, daß in ihm Raum für verschiedene Dinge entsteht, die ihn bereichern und mit denen er auch andere bereichern kann.“ „On Learning a New Language“ 57 chen Leistung seitens der jeweiligen native speakers, was den Fremdsprachenerwerb ganz wesentlich behindern kann. (6) Ein Gefühl der Unsicherheit („a feeling of uncertainty“) und Scham kann beim Gebrauch kulturell besonders ‚aufgeladener‘ Redemittel, wie etwa idiomatischen Äußerungsformen, die zu Sprachfallen 70 werden können, entstehen. Der Grund dafür ist, dass sie Fremdsprachensprecher/ innen wie Rätsel, wie eine Art von „secret speech“ oder „petrified jokes“ erscheinen und ihr semantischer Gehalt oft nicht erschlossen werden kann. Die Angst, diese als eigene Ausdrucksmittel zu verwenden, erklärt Stengel damit, dass sie in ähnlicher Form wie Metaphern und Witze der Traumsprache nahe stehen und im Individuum eine Form der Regression sowie der Annäherung an die Phantasien und das Unbewusste bewirken: „The adult who comes across a foreign idiom is forced in the direction of regression, i.e. in the direction of the primary process which once created the idiom“. Die Zweifel in Bezug auf den adäquaten Gebrauch von Redemitteln, ob und in welchem Umfang beispielsweise ein Wort metaphorisch verwendet werden kann, führt möglicherweise auch dazu, dass den Gesprächspartnern misstraut wird und man verborgene Ideen hinter Worten und Redewendungen vermutet (Stengel 1939: 477). 71 Stengel räumt schließlich ein, dass er bei seinen Betrachtungen zum Fremdsprachenerwerb nur von einer Negativfolie ausgegangen sei. Er habe nicht die Kontexte und spezifischen Kräfte untersucht, „which render the process possible and even pleasurable“ (Stengel 1939: 478). Die zahlreichen denkbaren Motivationen von Menschen, eine neue Sprache zu erlernen, gingen natürlich über 70 Georges-Arthur Goldschmidt spricht in seiner Auseinandersetzung mit Freud und der deutschen Sprache in diesem Zusammenhang davon, dass „gefährliche Untiefen allenthalben in Redensarten und Sprichwörtern [lauern], wo die Sprache sich selbst widerspricht“ (2010: 27). Rafik Schami widmet in seinem autobiographischen Rückblick den „unsichtbaren Fallen“ der Sprache einen kurzen Text, in dem er weitreichende phonetische und grammatikalische Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Arabischen anführt (Schami 2019b: 46-48). 71 Das Gefühl von Scham, wenn es hingegen gelingt, Idiome korrekt zu verwenden, ist Engel zu Folge, auf exhibitionistische Impulse zurückzuführen, die wichtige Faktoren im Fremdsprachenlernprozess sind. Einmal forcieren sie diesen, zum andern können sie das Lernen unterdrücken. Viele erwachsene Lerner/ innen haben vor allem im Anfangsstadium ihres Sprachlernprozesses das Gefühl „as though they were wearing fancy-dress“ (Stojković 1939: 478). Auch hier unterscheidet sich wieder das Verhalten von Kindern von dem der Erwachsenen, denn diese können ihren exhibitionistischen Impulsen leichter freien Lauf lassen, indem sie das Erlernen einer neuen Sprache als ein spannendes, neues Spiel ansehen. 58 Zweifel und Widerstände die von ihm untersuchten Zusammenhänge hinaus. Wenn man seine Lebensgeschichte in Betracht zieht, insbesondere auch die durch seine Fremdsprache Englisch erschwerten Arbeitsbedingungen, ist es nachvollziehbar, dass er sich im Wesentlichen auf die Schwierigkeiten und Behinderungen von Menschen konzentriert hat, die sich (meistens unfreiwillig) in einem fremden Land niederlassen. Anders ausgedrückt, der Aspekt des freudvollen und befriedigenden Erwerbs einer Fremdsprache, die zusätzlich ein besonderes Gewicht im kreativen Schaffen, wie etwa dem literarischen Schreiben, erhält, ist Stengel zwar als Möglichkeit durchaus bewusst, wird von ihm aus besagten Gründen jedoch nicht in diese grundlegenden Überlegungen zum Fremdsprachenerwerb miteinbezogen. In ihrer, erstmals 1984 erschienenen Untersuchung zur „Psychoanalyse der Migration und des Exils“ (2016) nehmen Grinberg/ Grinberg Bezug auf diese frühen Untersuchungen zu Mehrsprachigkeitserfahrungen im Zusammenhang mit biographischer, durch den Wechsel des kulturellen Umfelds bedingter, Diskontinuität. Insbesondere unterstreichen sie die Annahme, dass das Erlernen und der Gebrauch der Fremdsprache bei Individuen äußerst ambivalente Gefühle auszulösen vermag, denn sie versuchen der Herkunftssprache und den ursprünglichen Objekten zu entfliehen: Diese „werden als Verfolger erlebt, da ja die Herkunftssprache an die primitiven Phantasien und Gefühle gebunden ist“ (Grinberg/ Grinberg 2016: 126f.). Bedenkenswert erscheint Grinberg/ Grinberg auch die Beobachtung von Stengel, dass die Widerstände, die beim Erlernen der neuen Sprache zu Tage treten können, mit einem Loyalitätsempfinden der Herkunftssprache gegenüber in Verbindung zu bringen sind. 72 Der Grund dafür liegt möglicherweise in 72 Ich möchte dazu anmerken, dass m.E. eine mehr oder weniger ausgeprägte Abwehrhaltung in Bezug auf den Gebrauch des Deutschen als Fremdsprache im Alltag und im literarischen Schreibprozess bei Menschen, deren Familiengeschichte durch Verfolgung und Exil geprägt ist, ein besonders ausgeprägtes Gefühl der Loyalität zu diesen, ihre Sozialisation prägenden ‚Familienerfahrungen‘ entwickeln. Aus psychoanalytischer Sicht kann hierbei das kontrollierende Über-Ich als moralische Instanz angenommen werden, das sich der Konstruktion einer neuen Sprachidentität, die das Deutsche miteinschließen würde, in den Weg stellt (vgl. dazu List 2014: 97). Vladimir Vertlib begründet beispielsweise in seinem sprachbiographischen Rückblick diese Form der Loyalität zu seiner Herkunftssprache zunächst mit der länger andauernden Ungewissheit seiner Familie über ihren Verbleib in Österreich und bezeichnet seine Haltung zum Deutschen daher als „ambivalent“: „Die grundsätzliche Frage, die sich damals seiner Familie (und mit ihnen vielen anderen) stellt, ist die, ob ein Land, in dem Hitler (und einige andere Nazibonzen) geboren und aufgewachsen waren, in dem 1938 ein aufgebrachter Mob Juden verhöhnte, quälte und erschlug und wo spätere Deportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung tatenlos (oft auch wohlwollend) hingenommen wurde, noch als Lebensmittelpunkt für Juden ange- „On Learning a New Language“ 59 einem Gefühl von Schuld, sich von der Sprache der Eltern abgewandt zu haben. Es handelt sich um eine Form der „dissoziativen Abwehr“ (Grinberg/ Grinberg 2016: 126f.), wenn der neu zu erlernenden Sprache die Fähigkeit abgesprochen wird, in ‚authentischer‘ Weise die eigenen Lebenserfahrungen zu vermitteln. Die Orientierungslosigkeit, „das Ausmaß der Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit der Informationen“, die die Konfrontation mit einem zur Herkunftssprache oft sehr unterschiedlichen Codierungssystem samt seiner ganzen Bandbreite an Sprachhandlungswissen auslösen kann, darf keinesfalls unterschätzt werden. Während der Phase notwendiger, sprachlicher Umstrukturierungs- und Anpassungsprozesse kann das Gefühl des Sprachverlustes dominant sein. Grinberg/ Grinberg kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass dieser Zustand der Selbstentfremdung ein transitorischer ist. Ganz im Sinne einschlägiger Erkenntnisse aus dem Bereich neuerer Mehrsprachigkeitsforschung (vgl. dazu Busch 2021: 44-85) vertreten sie bereits damals die Auffassung, dass der „Immigrant [spürt], daß er die neue Sprache in sich behalten kann, ohne daß diese seine Muttersprache verdrängt. Er spürt, daß in ihm Raum für verschiedene Dinge entsteht, die ihn bereichern und mit denen er auch andere bereichern kann“ (Grinberg/ Grinberg 2016: 125f.). 73 Die von Stengel herausgestellten psychischen Vorgänge beim Erlernen einer Fremdsprache sowie die von Grinberg/ Grinberg genannten Aspekte bieten aus psychoanalytischer Perspektive m.E. überzeugende Erklärungsansätze für die zweifelnde und selbstkritische Haltung von Autor/ innen, die das Zusammenspiel ihrer Sprachen und insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Deutschen als ‚fremder‘ Literatursprache als problematisch oder sogar bedrohlich empfinden. Die im Folgenden diskutierten Selbstreflexionen mehrsprachiger Autor/ innen, in denen sie in besonderem Maße auf ihre jeweiligen lebensgeschichtlichen Kontexte eingehen, sind Beispiele dafür. nommen werden kann“ (Vertlib 2012g: 17). Vladimir Vertlib bezweifelt in der Folge die Legitimität, das Deutsche - vor allem auch als Sprache seiner literarischen Texte - verwenden zu können. 73 Vergleiche dazu auch die kritischen Anmerkungen von Stojković (2012: 17f.): Psychoanalytische Untersuchungen zur Mehrsprachigkeit beschränkten sich zu sehr „auf den Bezug zu primären Objekten und deren Folgen“, ohne dabei zur Kenntnis zu nehmen, dass „Mehrsprachigkeit nebst ihren psychischen Funktionen in der Wunsch- und Angstwelt des Menschen auch einen Raum der Kreativität sowie der Begegnung mit verschiedenen Denkweisen [eröffnet]“. 60 Zweifel und Widerstände 5.2 Im Labyrinth von zwei Sprachen verirrt 74 Der mehrfach ausgezeichnete, 1930 in Ostrava (ČSR) geborene und 2018 verstorbene Autor Ota Filip legt mit seinem vierzig Jahre anhaltenden literarischen Schaffen ein Zeitzeugnis ab, über staatliche Willkür, politische Verfolgung, den Verlust der Bürgerrechte und ein Leben als Autor tschechischer Herkunftssprache im deutschsprachigen Exil. Seit seiner Ausbürgerung 1974 aus der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik Deutschland lebt und schreibt er auf Deutsch. Rückblickend begreift er die historischen Ereignisse, in die er sein ganzes Leben lang involviert war, als übergroße ihm aufgezwungene Bürde, die ihn im Alter dazu bringt, einen „bescheidenen Wunsch“ zu äußern: So lange ich lebe, will ich keine große Geschichte mehr erleben, keine Umstürze, keine Revolutionen, geschweige denn Kriege, keine ungerechten oder sich selbst als gerecht lobenden Regime, keine politisch engagierten Messiasse, und ich will keine ideologischen Pferdekuren über mich ergehen lassen, wie ich sie in der so genannten sozialistischen Tschechoslowakei seit 1948 und bis 1974 erdulden musste. Mit achtzig Jahren habe ich sieben Regime, fünfzehn - oder waren es sechszehn? - Staatspräsidenten, einen Adolf Hitler samt seinem tausendjährigen Reich, das für mich zum Glück nur sechs Jahre dauerte, einen Stalin, nebenbei sieben Generalsekretäre der UdSSR sowie auch eine ewige Freundschaft mit der zerfallenen Sowjetunion - obzwar durch mein häufiges Versagen gezeichnet - erlebt und überlebt. Mitten in Europa habe ich dreimal meine Staatsbürgerschaft, zweimal meine Sprache und zweimal mein Zuhause und meine Heimat gewechselt, ohne dabei das kranke Herz Mitteleuropas verlassen zu haben. Ich habe von der großen Geschichte die Schnauze voll (Filip 2012: 9). In diesen Zeilen lässt Ota Filip die Fakten ‚sprechen‘. Er umreißt den politischen Kontext jener Epoche, in der er aufwächst und sich später als mehrsprachiger Schriftsteller etabliert. Die hier geschilderten drastischen Erfahrungen einer stets prekären Existenz beeinflussen maßgeblich sein Gefühl für die ihm zu Verfügung stehenden Sprachen. Insbesondere das Deutsche als Fremdsprache, mit der er sich Autor im deutschsprachigen Raum einen Namen macht, werden davon tangiert. In vielen seiner Schriften, vor allem auch im Rahmen seiner Dresdner Chamisso-Poetikdozentur, gibt Ota Filip Einblick in diese, besonders durch sein Exil geprägten Spracherfahrungen. Dass es ihm dabei nicht um eine „wissenschaftliche Abhandlung über Sprache“ geht, betont er bereits in seiner Eröffnungsvorlesung mit dem Titel „Über die erträglichen Schwierigkeiten mit der Zweisprachigkeit, mit der großen Geschichte und mit dem Schreiben allge- 74 Ota Filip (2012: 16). Im Labyrinth von zwei Sprachen verirrt 61 mein“ (Filip 2012). Er betont vielmehr, dass er sich ausschließlich auf „die Erfahrungen eines Erzählers, der in zwei Sprachen schreibt“ konzentrieren möchte (Filip 2012: 8). Obwohl Ota Filip seit den 1980er Jahren auf eine konsistente literarische Produktion in deutscher Sprache zurückblicken kann, zweifelt er an der Effizienz seines sprachlichen Instrumentariums, beurteilt skeptisch seine Möglichkeiten, die beiden Sprachen miteinander zu ‚harmonisieren‘ und sie ohne Defizite zu aktivieren. Sie scheinen in seinem Sprachrepertoire in einer Art und Weise miteinander zu konkurrieren, die er als „schmerzlich oder peinlich verlorene […] Duelle zwischen meinem Tschechisch und meinem angelernten Deutsch“ empfindet. Wenn er auf Deutsch schreibe, erklärt er, oder auch seine deutschen Texte vorlese, überkomme ihn zuweilen eine „beklemmende Art von metaphysischer Angst, ich könnte mein Tschechisch verlieren, es leichtsinnig aufgeben, sodass ich auf eine seltsam schmerzliche Art und Weise daran sprachlich zerspringe“. Umgekehrt berichtet er von dem Gefühl, dass „mein angelerntes Deutsch aus mir entweicht wie die Luft aus einem löchrigen Ball“, wenn er tschechisch „schreibe, spreche oder lese“ (Filip 2012: 13; vgl. dazu auch Filip 2002: 29). Diese Angst bringt er in Zusammenhang mit der für ihn notwendigen, aber belastenden Gestaltung seines literarischen Schreibprozesses als einem zweimaligen Schreiben, einem ‚Neuerschreiben‘ eines jeweiligen Sujets in beiden Sprachen. Der Hintergrund dafür sind wiederum die politischen Umstände, die ihn dazu führen, sein literarisches Schreiben zu reflektieren und sein sprachliches Instrumentarium zu schärfen. Diesmal hat jedoch die nach den Jahren des politischen Umbruchs 1989 wiedergewonnene Möglichkeit in seiner Herkunftssprache zu publizieren daran Anteil, sich zwischen den beiden Sprachen Tschechisch und Deutsch als Literatursprache entscheiden zu können. Dies empfindet er weniger als ‚Befreiung‘, denn als Dilemma, dem er erst entkommt, als er nach einiger Zeit erkennt, dass die Wahl seiner Sprache zunächst vom Thema abhängt, bzw. die „Geschichten (der Romane, Anm. d. Verf.)“ in der jeweiligen „Sprachwelt verwurzelt sind“. Auf keine der beiden Sprachen kann er in der Folge als Erzählsprache verzichten. Es ist für ihn keine Option, seine Texte selbst in die jeweils andere Sprache zu übersetzen. Er wählt schließlich den Weg des ‚doppelten‘ Erzählens, indem er versucht, „das ursprünglich deutsche Thema in tschechische ‚sprachliche‘ Atmosphäre zu verpflanzen […] oder umgekehrt“ (Filip 2012: 12). Ota Filip wächst in seiner Heimatstadt Ostrau bis zur deutschen Besetzung im Jahr 1939 in einem mehrkulturellen Umfeld auf und verfügt folglich über frühe Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit. Das Deutsche, Polnische und Jiddische werden von ihm zunächst nicht als Fremdsprachen empfunden, „sondern eben nur als andere Sprachen“ (Filip 2012: 19), und obwohl er das Deutsche (nach dem Willen seines Vaters) systematisch ab der dritten Klasse der deut- 62 Zweifel und Widerstände schen Volksschule für sechs Jahre vertieft, 75 gerät er später in den oben zitierten Sprachkonflikt, der sich mit zunehmendem Alter zuspitzt: Auch nach vielen Jahren der Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache, ist ihm eine Identifikation mit ihr nicht gelungen. Es kristallisiert sich heraus, dass sie sich „als Fremdsprache entpuppt und dass meine tschechische Muttersprache sich von mir entfernt“. Er fühlt sich offensichtlich einem Prozess ausgesetzt, in dem er ohne sein Zutun, dem ‚Willen‘ seiner Herkunftssprache ausgeliefert ist, sie erhält Macht über ihn und scheint ihn für seinen Mangel an Loyalität zu ‚bestrafen‘: Er empfindet, „dass meine tschechische Muttersprache sich von mir entfernt, dass sie mich, der ich ihr untreu wurde, verlassen will“ (Filip 2012: 15). Die Herkunftssprache wird außerdem als „Echo“ 76 empfunden, und Ota Filip fühlt sich schließlich nicht mehr in der Lage, die beiden Sprachen so zu aktivieren, dass er sie „spontan“ und fließend sprechen kann. Beide empfindet er als Konstruktionen , er spricht sie „auf eine mich ermüdende Art und Weise bewusst“ (Filip 2012: 15) und gerät in beiden Sprachen „immer öfter ins Stottern“. Zwar habe er durch sein Schreiben im Deutschen als Fremdsprache , die Schönheiten seiner Muttersprache wiederentdeckt, wie er rückblickend resümiert, aber wenn er, seine tschechischen oder deutschen Texte öffentlich lese, dann finde ich sie in beiden Sprachen so schlecht geschrieben, dass ich mich für sie schämen muss. Nach fast 30 Jahren in Deutschland halte ich meine zwei Sprachen für Fremdsprachen und gehe mit ihnen wie mit Fremdsprachen um (Filip 2012: 15f., vgl. auch Filip 2002: 30). 77 75 „1945 wechselte ich, fest entschlossen, nie wieder in die Umklammerung der deutschen Sprache zu gelangen, auf ein tschechisches Gymnasium“ (Filip 2012: 22). 76 Auch Marica Bodrožić spricht in ihrem autobiographischen Text „Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern“ von einem Nachhall der Herkunftssprache in der Fremdsprache Deutsch (2016): „Im Alphabet beginnt die eigene Art des Staunens, ein im Deutschen fühlbarer Echoraum der Ursprünge, der sinnlichen Sonne eines inneren Glaubens an die eigene Fähigkeit, etwas Großes zu vollbringen, ohne einen anderen Menschen dabei zu bestehlen“ (Bodrožić 2016: 17). 77 Vergleiche dazu den ironischen Kommentar zu Schriftsteller/ innen im Exil von Ilija Trojanow in seinen autobiographischen Kurztexten, in denen er Exil- und Mehrsprachigkeitserfahrungen thematisiert. Nach vielen Jahren, in denen sich die Literatur der auf Deutsch schreibenden Autor/ innen unterschiedlichster kultureller Provenienz konsolidiert hat, schreibt er in dieser 2017 erschienenen Publikation „Nach der Flucht“: „Der verbannte Dichter leidet. Er ist in die fernste Leere vertrieben worden, wo der Frost so heftig ist, dass die Tränen auf seinem Gesicht gefrieren. Der Dichter beklagt sein unbegreifliches Schicksal, er geißelt sich selbst. Er verliere seine poetische Kraft; sein Spätwerk tauge wenig. Im Exil komme ihm die Muttersprache abhanden. Der Dichter klagt, jammert, seine Worte heben und senken sich in ohn- Im Labyrinth von zwei Sprachen verirrt 63 Die Herkunftssprache ist im Laufe seines Lebens mit den beiden Sprachen zu „der mir nächsten Fremdsprache […] abgewertet worden“. Er lebt „in einer sprachlich auf eine für mich unheimliche Art und Weise geteilten Welt […]“ und empfindet sich „als einen zwischen zwei Sprachen wandelnden Schreiber, der sich auf der Suche nach seiner verlorenen sprachlichen Heimat immer wieder im Labyrinth von zwei Sprachen verirrt“ (Filip 2012: 16). Das Empfinden des Ausgeliefertseins, der Unmöglichkeit dieser sprachlichen Entwicklung Einhalt zu gebieten, fast wie ein Gefangener im ‚Käfig‘ der Mehrsprachigkeit, aus dem es offensichtlich kein Entrinnen gibt, fasst er an anderer Stelle in das Bild eines „sprachlich magischen Kreis[es] innerhalb von zwei hohen, sprachlichen Mauern“, in dem er sich bewegt (Filip 2012: 15). Die auch bei anderen Autor/ innen immer wieder erkennbare kritische Haltung den eigenen Texten und der eigenen Sprachfindung und -konsolidierung gegenüber, 78 die sich dann, wie im Falle von Ota Filip, auch auf die Herkunftssprache erstreckt, kann zu persönlichkeitsbedrohenden Verlustängsten führen. Aus der eingangs skizzierten psychoanalytischen Perspektive können diese ausgeprägten Selbstzweifel auf die Wächter- und Kritikfunktion des Über-Ichs bezogen werden. Symptomatisch sind hierbei auch das von Ota Filip eindrücklich beschriebene Gefühl der Scham und der permanenten Infragestellung seiner Sprachkompetenzen. Dieses umfasst bei ihm nicht nur das Unvermögen, eine adäquate Aussprache in der Fremdsprache zu erwerben. Im Nachklang, besonders beim Vorlesen seiner Texte, entfremdet sich ihm auch das Tschechische. Hinzukommt, dass er daran zweifelt, ob ihm es ihm gelingen kann, Wörter und idiomatische Redemittel korrekt in Sinnzusammenhänge einzufügen sowie grundsätzlich in einer ihn selbst überzeugenden Weise literarische Texte gestalten zu können. 79 Dies alles sind keine Voraussetzungen dafür, zu einer bemächtiger Rage. Der Leser staunt, wie wortreich virtuos der Verbannte sein eigenes Verstummen besingt“ (Trojanow 2017: 87). 78 Vergleiche dazu etwa die Äußerungen von Franco Biondi in seinem 1996 verfassten, autobiographischen Essay „Sprachfremde und Obrigkeitsdeutsch“ (Biondi 2017c). Darin führt er aus, dass die Sprache für Franco Biondi „eher ein Pflasterweg“ sei. „Für ihn zeigt sich der Weg zur Sprache von Anbeginn an unvollständig und brüchig, so dass ein Sich-darin-Bewegen immer wieder eine Erfahrung von Grenze und Bodenlosigkeit hervorruft. Es ist ihm so, als ob darin die Sprache wörtlich genommen wird, als existiere dort eine Fremde, die unzugänglich bleibt“ (Biondi 2017c: 142). 79 Im Gegensatz dazu, wie an anderer Stelle von mir ausgeführt wird (vgl. Kap. 7), kann bei mehrsprachigen Autor/ innen ihre bewusste Entscheidung für die Fremdsprache Deutsch, mit deren Hilfe sie sich von ihrer Herkunftssprache entfernen können, zu einem Gefühl der Befreiung und der größeren Autonomie und Selbstsicherheit, insbesondere im kreativen Schreibprozess, führen. 64 Zweifel und Widerstände friedigenden emotionalen Identifizierung, im Sinne einer gelungenen Sprachidentität als Mehrsprachiger, zu gelangen. Zu stark überwiegt das Gefühl der Trennung, des ‚Gespaltenseins‘ in Bezug auf Herkunfts- und Fremdsprache. Diese Dissoziationserfahrung vermittelt Ota Filip mit der Vorstellung einer sprachlichen ‚Heimatlosigkeit‘: Er bezeichnet sich als „Gast“, als einen „zwischen zwei Sprachen wandelnden Schreiber“ (Filip 2012: 16). Zweifel und Unsicherheiten, wie die bereits beschriebenen, resultieren besonders bei den exilierten Autoren aus dem erzwungenen Verlassen der Herkunftskultur. Der Mangel an Orientierung im Geflecht von Herkunfts- und Fremdsprache, wie er aus den Äußerungen von Ota Filip hervorgeht, führt bei einigen anderen Autor/ innen, allen Widerständen zum Trotz, zu dem schwierigen Versuch, ungebrochen an der Herkunftssprache festzuhalten, und sie - wie es bei dem Exil-Iraner SAID der Fall ist - vor allen, als negativ empfundenen, äußeren sprachlichen Einflüssen zu bewahren. Als Beispiel für diese Form der ‚Sprachpflege‘ aus der räumlichen Entfernung führt SAID selbstironisch seinen Versuch an, jüngeren Iranern gegenüber, „wie ein Lehrmeister“ aufzutreten, der „ihr Persisch korrigier[t], weil es voller Fremdwörter ist“ (Amodeo/ Hörner 2010: 118). Die erhoffte Aufrechterhaltung einer engen Bindung an die Herkunftssprache aus der Distanz ist jedoch zum Scheitern verurteilt: Der mangelnde dauerhafte Kontakt zur Herkunftssprache verhindert ein kontinuierliches Überprüfen und Aktualisieren der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Es fehlt ihm, wie er in diesem Gespräch betont, die Möglichkeit des Eintauchens in das ganze Spektrum des Persischen, besonders auch der unmittelbare Kontakt zu den umgangssprachlichen Varietäten, die „ganz weit weg“ sind: Ich höre nicht den Straßenbahnschaffner, der dich anrempelt und dann gleich wüst beschimpft. Ich höre nicht den Piccolo im Kaffeehaus, der sein Geld sofort verlangt etc. etc. etc. Die Sprache hat ja viele Facetten (Amodeo/ Hörner 2010: 118). All dies verhindert schließlich das literarische Schreiben auf Persisch. Die deutsche Sprache ist „seine eigentliche Gastgeberin“, die Pflege der „Muttersprache“ bleibt ein Traum. 80 Durch das Loyalitätsempfinden der Herkunftssprache gegenüber und ein, wie es scheint, zumindest partiell distanziertes Verhältnis zu 80 Vergleiche dazu die Ausführungen von Udolph (2000: 69) zur Poetik des Exilautors Jiří Gruša. In Bezug auf die tschechischen Exilautor/ innen merkt er an, dass „die existenzielle Notwendigkeit“, dem Problem der Sprache zu begegnen, generell zu unterschiedlichen Lösungen führt. Das Problem besteht u.a. darin, dass das Leben in einer anderssprachigen Umgebung „zwar durchaus den Sinn für die Spezifik der Muttersprache schärfen [kann], andererseits aber macht sich die Isolierung von der lebendigen gesprochenen Muttersprache mit der Zeit gewiß bemerkbar.“ Im Labyrinth von zwei Sprachen verirrt 65 einer als (lediglich) „gastgebend“ beschriebenen Fremdsprache sowie durch den mangelnden, alltäglichen, unmittelbaren Kontakt zum herkunftssprachlichen Kontext wird die Überwindung von Unsicherheiten sowie die Bildung einer stimmigen Sprachidentität erschwert (vgl. u.a. Kap. 5.1). 5.3 Die Unbeherrschbarkeit der Sprache Die Untersuchungen und Fallstudien von Psychoanalytikern zum Mehrsprachigkeitserleben von Menschen, die vor allem unter der NS-Herrschaft gewaltsam aus ihren Sprachgemeinschaften ausgegrenzt und zum Exil in anderssprachigen Ländern gezwungen sind, stützen sich auf die Grundannahmen der Freudschen Psychoanalyse. 81 Deren Radikalisierung, wie sie später von der poststrukturalen Psychoanalyse, u.a. von Lacan vorgenommen wird, modifiziert in Teilen den Zusammenhang von Sprache und Persönlichkeitsstruktur sowie die Konzeptionen zur Funktionsweise sprachlicher Systeme. Ich werde im Folgenden Lacans Auffassung, dass es dem Subjekt weitgehend nicht möglich ist, sein eigenes Sprechen zu verstehen oder Bedeutung auf Grund ihres ‚gleitenden‘ Charakters zu erzeugen, skizzieren und sie in Bezug zu einigen Reflexionen der Autor/ innen zu ihrem Spracherleben setzen, in denen sie ihr Verhältnis zur Fremdsprache Deutsch problematisieren. Dabei muss zunächst vorausgeschickt werden, dass bereits Freud, insbesondere in seinen Arbeiten zur Traumanalyse ausführt, dass das Unbewusste eine eigene, nie vollständig zu entschlüsselnde und auf eine Bedeutung festlegbare Sprache spricht. Es handelt sich um ein spezifisches, regelgeleitetes System, das eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und in dem jedes Element „ein Kreuzungspunkt für im Prinzip unendlich viele Verschiebungs- und Verdichtungsmöglichkeiten“ ist. Die einzelnen Elemente des Systems können nur mit Bezug auf diesen Zusammenhang verstanden werden, der sich jedoch nie völlig überblicken lässt. Analog zur Sprache bildet dieses Symbolsystem folglich einen „Verweisungszusammenhang“, der dem der Sprache gleicht, wobei die Bedeutung eines einzelnen symbolischen Elements niemals „endgültig“ festgelegt werden kann (Suchsland 1992: 25; vgl. dazu Winter-Heider 2009: 92-95 und List 2014: 68-70): In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträ- 81 Vergleiche dazu insbesondere das dritte Kapitel der Untersuchung von Amati Mehler/ Argentieri/ Canestri (2003). 66 Zweifel und Widerstände ge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unbekannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium (Freud [1900] 1999: 530; vgl. Nitzschke 2011: Kap. 2). 82 Lacan radikalisiert später diesen Gedanken in der Annahme, dass es zwischen den Strukturen des Unbewussten und denen der Sprache eine Entsprechung gibt, mit dem Ergebnis, dass „das sprechende Subjekt nicht souverän über die Sprache verfügt, sondern selbst den Strukturen und Regeln der Sprache unterworfen ist“ (vgl. dazu Braun 2010: 82-86). Dazu merkt er 1967 in einem Vortrag an, dass er mit seiner Auffassung, „das Unbewusste sei strukturiert wie/ als (comme) eine Sprache, all dem seine wahre Funktion zurückzugeben [beabsichtigt, Anm. d. Verf.], was sich unter der Freud’schen Ägide strukturiert, und dies gestattet uns bereits, einen Schritt vorauszusehen“ (Lacan 2017: 37). Damit wird dem Subjekt die Möglichkeit, sein eigenes Sprechen zu verstehen oder Sinn zu erzeugen, weitgehend abgesprochen. Das Lacansche Unbewusste ist eine Sprache, die „das jeweilige Sprechen strukturiert“. Darüber hinaus ist Sprache als Symbolsystem g e s e l l s c h a f t l i c h. Sie ist ein soziales System, das dem Einzelnen immer schon vorausgeht und in das er „hineinfinden“ muss. In seinen Arbeiten über die Subversion des Subjekts, führt Lacan aus, dass der Eintritt in diese symbolische Ordnung der Sprache, die Menschen als Subjekte konstituiert, die einer gesellschaftlichen Ordnung unterworfen sind (Suchsland 1992: 27). 83 Nach Lacan sind Bedeutung und Sinn in diesem Prozess dabei nie festgelegt, sie sind g l e i t e n d. Ein sprachliches Zeichen definiert sich lediglich durch seine Differenz zu anderen, Sprache ist ein „Netz von Differenzen“ (vgl. Suchsland 1992: 39). 82 Lacan erklärt dazu, dass der Traum bei Freud keine träumende „Natur“ sei, kein sich auslebender „Archetypus“, keine „die Welt gebärende Mutter“, kein „göttlicher Traum“ und auch nicht „das Herz der Seele“. Freud spreche vom Traum vielmehr als von einem „gewissen Knoten, einem assoziativen Netz analysierter verbaler Formen, die sich zumal als solche nicht durch das, was sie bedeuten, sondern durch eine Art Homonymie überschneiden (Lacan 2017: 36). 83 Darauf aufbauend, arbeitet Kristeva später in ihren weiterführenden Untersuchungen heraus, dass die Sprachfähigkeit des Menschen wesentlich für das gesellschaftliche Interagieren ist, bzw. dass die Fähigkeit zu symbolisieren, gesellschaftlichen Zusammenhang überhaupt erst ermöglicht, wobei es sich um ein „unablässiges Werden“ handelt (Suchsland 1992: 56; vgl. dazu Winter-Heider 2009: 112-139). 67 Die Unbeherrschbarkeit der Sprache Die differenzierenden Grenzen werden Lacan zufolge durch die Signifikanten gezogen, durch die Komponenten des sprachlichen Zeichens also, die Saussure auch ‚Lautbilder‘ nennt. Die Signifikanten ermöglichen Differenzierung und strukturieren auf diese Weise die Sphäre des Signifikats, ‚das Feld der vagen Vorstellung‘. Daraus ergibt sich aber keine ein für alle Mal festgelegte Zuordnung. Das Signifikat entzieht sich dem unaufhörlich, gleitet unter dem Signifikanten, wie Lacan sagt, denn in der Sphäre der Vorstellungen, Empfindungen, Wahrnehmungen gibt es keine klaren Abgrenzungen, sondern fließende Übergänge. […] In jedem Wort, in jeder Aussage schwingt mehr mit, als dem sprechenden Subjekt bewusst ist. Eine Äußerung ruft immer auch Resonanzen hervor, die nicht beabsichtigt waren und die zumindest teilweise nicht bewusst wahrgenommen werden (Suchsland 1992: 27). Die Natur der Sprache selbst, die Entsprechung zwischen den Strukturen des Unbewussten und denen der Sprache, der grundlegende Prozesscharakter des Symbolisierens und Interagierens bedingen die Nicht-Festgelegtheit von Bedeutungen bzw. Bedeutungszuschreibungen, das Verwischen von Grenzen, die Nicht-Verfügbarkeit des sprechenden Subjekts über seine Sprache - das ‚Gleitende‘ und ‚Fließende‘ sind zu den bekannten Signaturen der Postmoderne geworden. 5.4 Sprachfremde 84 Dass Sprache sich nicht beherrschen lässt, dass sie sich dem bewussten Zugriff immer wieder entzieht oder dass man ihr geradezu ‚unterworfen‘ sei, klingt in einigen Äußerungen mehrsprachigen Autor/ innen immer wieder an. Franco Biondi etwa, der sich bereits während der Anfänge seines literarischen Schreibprozesses auf Deutsch nicht nur kontinuierlich mit seinem eigenen Fremdspracherwerb auseinandersetzt, sondern insbesondere auch das Problem der von der deutschen Mehrheitsgesellschaft konzedierten Artikulationsmöglichkeiten für Menschen fremdkultureller Herkunft im Kontext von Migrationen diskutiert und in seinen frühen Texten immer wieder anprangert, berichtet in einem 1985 verfassten Essay, „Die Fremde wohnt in der Sprache“, von seiner regelrechten „Besessenheit, die gesamte deutsche Sprache beherrschen zu wollen“. Erst nach sehr langer Zeit gelangt er zu der Einsicht, dass man eine Sprache weder beherrschen, noch ihr „ausgeliefert“ sein kann (Biondi 2017a: 71). In dieser Phase seines Schreibens in der Fremdsprache Deutsch, steht ihm zu Folge zudem die Frage nach seiner Identität im Vordergrund. Dass es ihm hierbei vor allem um eine sprachliche Teilidentität im engeren Sinn geht, lässt sich sei- 84 Biondi (2017c: 142). 68 Zweifel und Widerstände ner Überlegung entnehmen, dass „eine Trennung zwischen sprachlicher Äußerung und Identität“ für ihn nicht evident sei, „denn die Sprache ist der persönliche, individuelle Wohnort jedes Menschen“ (Biondi 2017a: 70f.). Den Schreibprozess erfährt er als identitätskonstituierend, wohingegen der Kontakt mit herkunftssprachlichen Sprecher/ innen als asymmetrische Interaktionskonstellation erlebt wird, in deren Verlauf Sprecher/ innen nicht-deutschsprachlicher Provenienz eine gleichberechtigte Sprachteilhabe in Abrede gestellt wird. Herkunftssprachliche Sprecher/ innen gingen dabei fälschlicherweise davon aus, dass Sprache sich beherrschen lasse und dass sie als einzige eine legitimierte Verfügungsberechtigung über das Deutsche hätten. Dies zeige sich u.a. in Zurechtweisungen und sprachlichen Korrekturen. In diesem Essay hebt Franco Biondi eine wichtige Funktion seines literarischen Schreibens hervor, die darin besteht, gegen die Fremde in der Sprache anzuschreiben, die für ihn zwei Dimensionen umfasst: Einmal ist damit die der Sprache inhärente Fremde gemeint, „gegen die auch diejenigen angehen müssen, die in die Sprache hineingeboren sind - vom erstgesprochenen Wort im Kindesalter bis zum letztgesprochenen“. Er bezieht sich dabei auf deren semantische „Unerschöpflichkeit“ und „Vielschichtigkeit“, die auch aus einer diachronen Perspektive ein vollkommenes Eindringen und Erfassen von Sprache grundsätzlich verhindere. Zum anderen hebt er hervor, dass die Sprache „durch die Mächtigen der Gesellschaft und durch die herrschende Meinung besetzt“ wird, was hingegen zu einem „Fremdwerden der Wörter“ führe: „Wörter werden nämlich ständig besetzt, indem bestimmte Bedeutungen hineingezwungen und andere hinausgedrängt werden“. Vor diesem Hintergrund definiert er das besagte ‚Anschreiben‘ gegen die Fremde in der Sprache als ein „Schreiben in Widerspruch zur besetzten Sprache“ (Biondi 2017a: 72). In seinem 1995/ 96 verfassten Essay „Sprachfremde und Obrigkeitsdeutsch“ (Biondi 2017c) entwickelt Franco Biondi seine Überlegungen zur ‚Unbeherrschbarkeit‘ der Sprache und der ihr inhärenten Fremde weiter und exemplifiziert sie an Hand detaillierter Analysen alltagssprachlicher und professioneller Interaktion: 85 Im allgemeinen Sprachgebrauch ist davon oft die Rede, man sei der Sprache mächtig. Oder man beherrsche die eine oder die andere Sprache. Diese Redewendungen mögen für die Einzelnen subjektiv stimmen, wenn man dabei die Oberfläche einer Sprache meint. Oder wenn man davon ausgeht, die Sprache sei statisch oder sie stehe nicht in unmittelbarer Beziehung zu anderen. Wenn man aber einer Sprache eine Dimension zugesteht, die historische Ausgangspunkte 85 Er beschreibt und analysiert beispielsweise die korrigierenden Interventionen bei der Lektorierung seiner Texte (vgl. Biondi 2017c: 151ff.). 69 Sprachfremde hat und einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen ist, wenn man davon ausgeht, dass sie eine individuelle Tiefe hat, wenn man anerkennt, dass sie einen Beziehungscharakter hat, dann wird deutlich, wie begrenzt die Macht über sie ist, wie gering sich der Beherrschungsgrad erweist. Bereits in einer Zweierkonstellation entstehen sogenannte „Missverständnisse“, weil einem gesprochenen Wort, einem ausgesprochenen Satz eine unterschiedliche Bedeutung zugeschrieben wird (Biondi 2017c: 142). Diese sprachtheoretischen Überlegungen können mit funktionalen Kommunikationsmodellen in Verbindung gebracht werden, wie etwa dem von Friedemann Schulz von Thun, das u.a. in der Psychotherapie und in interkulturellen Trainings verwendet wird (vgl. dazu Schugk 2004: 210-217). Dieser Bezug wird zwar nicht explizit genannt, lässt sich aber der Interpretation seines Fallbeispiels entnehmen: Die illokutionäre Funktion der hier zitierten Äußerung einer Frau zu ihrem alkoholgefährdeten Mann „Du, der Bierkasten ist leer“ wird insbesondere unter dem Beziehungsaspekt, der „Selbstoffenbarung“ und dem „Appell“ gedeutet, der der „reinen „Sachinformation“ unterlegt ist (Biondi 2017c: 142f.). In der Folge überträgt Franco Biondi diesen kommunikationstheoretischen Ansatz auf den öffentlichen Sprachgebrauch, genauer gesagt auf die Interaktion zwischen „Mehrheitsangehörigen“ und „kulturellen Minderheiten“ in Deutschland (Biondi 2017c: 144) und kommt zu dem Ergebnis, dass „die Fremden passive Objekte in einer internen Auseinandersetzung verschiedener gesellschaftlicher Strömungen bleiben und als teilhabende Personen nicht vorgesehen sind“ (Biondi 2017c: 145). Der Beziehungsaspekt deutet dabei auf die beabsichtigte Herstellung einer asymmetrischen Interaktion seitens der Mehrheitssprecher/ innen hin, die paternalistische Züge trägt, wenn sich aus deren Selbstoffenbarung die Vorstellung von „schutzbedürftigen Fremden […], die es mütterlich oder väterlich zu beschützen gilt“ herauslesen lässt (Biondi 2017c: 145f.). Die dergestalt vorgenommene kritische Analyse gesellschaftlicher Kommunikationsbedingungen im Kontext von Migration und der damit verbundenen Herausbildung mehrkulturellen Zusammenlebens sowie der eher zögerlichen Öffnung gesellschaftlicher Räume für Menschen fremdkultureller Provenienz bedingt einerseits schließlich jenen kritischen ‚Schreibauftrag‘, den Franco Biondi in seinen, vor allem frühen, theoretischen Schriften immer wieder hervorhebt, und der darin besteht, das „unerschöpfliche Potenzial an Verschleierung des faktischen Lebens durch Sprache“ aufzudecken (Biondi 2017c: 147). 86 86 Vergleiche dazu u.a. die kritische Auseinandersetzung mit dem Titel der 1996 von Lützeler erschienen Publikation „Schreiben zwischen den Kulturen: Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“: „‚Zwischen‘ hat die Dimension ‚weder hier noch dort‘, sie belegt keine Räume, sondern nur Zwischenräume. Im ‚Zwischen‘ ist 70 Zweifel und Widerstände Andererseits, sollte der literarische Schreibprozess davon bestimmt sein, das (fremde) Sprachmaterial immer wieder zu formen, den eigenen Bedürfnissen anzupassen und den individuellen Erfahrungshorizont konsequent in die fremde Literatursprache Deutsch einzuschreiben. Das Deutsche muss „bewohnbar“ gemacht werden. In diesem Sinne schreibt er bereits in dem oben zitierten, 1985 verfassten Essay, dass Autor/ innen prinzipiell von der Möglichkeit Gebrauch machen sollten, ihre Sprache der Beunruhigungen und […] Leidenschaften in den Fremdwerdungsprozess der Sprache“ ‚einzukeilen‘. „Diese Art zu schreiben hat wiederum andere grammatische Regeln als die üblichen; es drückt anderes aus und spricht doch von demselben“ (Biondi 2017a: 72). Aus Franco Biondis oben skizzierten grundlegenden sprachtheoretischen Überlegungen, die insgesamt gesehen ein wichtiger Bestandteil seines Schreibprozesses in der Fremdsprache Deutsch sind, möchte ich folgende Aspekte festhalten: Im Vordergrund steht bei Franco Biondi eine dynamische Konzeption von Sprache bzw. von Sprachgebrauch, die ihre interaktionale Funktion fokussiert und vor allem asymmetrische Sprachhandlungen und deren Ursachen im gesellschaftlichen Kontext der Einwanderung kritisch beleuchtet. Parallel dazu überdenkt er die jeweils subjektiven Zugriffsmöglichkeiten auf das zur Verfügung stehende Sprachmaterial. Die hierbei zu Tage tretenden Begrenzungen und Einschränkungen führt er u.a. auf die historische Entwicklung und Prägung von Sprachen zurück, auf den damit verbundenen Bedeutungswandel sowie die allen Sprachen inhärente prinzipielle semantische Vieldeutigkeit und Offenheit. Unter diesen Voraussetzungen resultiert die ‚Fremde in der Sprache‘, die sich dem Autor beim Gebrauch des Deutschen entgegenstellt, einerder Betreffende weder in einem noch im anderen Getto, er darf also weder hier noch dort teilhaben, in voller Affektivität anwesend sein“ (Biondi 2017c: 148). Am Ende seines Essays kommt Biondi nochmals auf die Gedankenfigur des ‚Dazwischen‘ zurück. Im Gegensatz zur postmodernen Konzeption von Zwischenräumen, als Orte der Hybridität und des kontinuierlichen Wandels, versteht er darunter eine konkrete Lokalisierung und damit eine reduktive Platzzuweisung für randständige gesellschaftliche Gruppen, ohne eine mögliche „Vielfalt“ zu beachten. Außerdem würden dadurch konkrete Lebensräume nicht beachtet: „als lebten kulturelle Minderheitsangehörige weder ‚hier und jetzt‘ noch ‚dort‘“ (Biondi 2017c: 160). Marica Bodrožić definiert hingegen das „Dazwischen“ in anderer Weise, nämlich als einen umfassenden, ungebrochenen Raum, als „ein Ganzes“, als „eine unerschöpfliche Quelle“ der ihr als Schriftstellerin Kreativität ermöglicht. Dieses Dazwischen wird von ihr während ihres Schreibprozesses erfunden und erfahren. Es ist ein Ort, „zu dem ich immer wieder gehen und den ich betreten kann - literarisch betreten […]“ (Bodrožić 2008: 67). Sprachfremde 71 seits aus einem umfassenden ‚monolingualen Habitus‘ 87 der Einwanderungsgesellschaft, andererseits aus der historischen und strukturellen Beschaffenheit von Sprachen selbst. Die hier skizzierte Argumentation enthält aus meiner Sicht jedoch auch Hinweise auf ein ‚existenzielles‘, mit der Verfasstheit von Sprachen in Zusammenhang stehendes Gefühl von ‚Sprachherrschaft‘. Aus der von Franco Biondi u.a. postulierten „Unerschöpflichkeit“ der Sprache, in ihrer „ewigen Fremdheit“ (2017a: 72) lässt sich - im Lacanschen Sinn - herauslesen, dass Bedeutungen sich nicht fixieren lassen und sprachliche Äußerungen nur begrenzt kontrollierbar sind. Zudem entfaltet das Unbewusste als Quell von Fremdheit, als Fremde in uns selbst (vgl. Kap. 2), seine eigene Dynamik, die sich einem ‚domestizierenden‘ Zugriff immer wieder entzieht. Franco Biondi versucht dem ‚Entgleiten‘ Einhalt zu gebieten, indem er für eine offensive Selbstbehauptung in und mit literarischen Texten in der Fremdsprache Deutsch plädiert, ein Vorhaben, das, so gesehen, über eine gesellschaftliche und ästhetische Positionsbestimmung hinausgeht. 5.5 Sprachfluss Im Jahr 2008 geben Pörksen und Busch den Band „Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur“ heraus, in dem sie verschiedene Standortbestimmungen mehrsprachiger Autor/ innen vorstellen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass „ein besonderes Verhältnis zu unserer Sprache, ein entfernterer Blick, der im doppelten Sinn zu einer anderen Wahrnehmung führt“ in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck kommt (Pörksen 2008: 5). 88 87 Ich benutze diese Bezeichnung in Anlehnung an Gogolin (2008). Eine in diesem Zusammenhang interessante Form der subtilen Ausgrenzung durch Sprache schildert Marica Bodrožić während einer ihrer Lesungen, bei der eine Teilnehmerin zu ihr sagt: „Es ist ein Genuss, wie Sie sich in unserer Sprache ausdrücken können“. Sie merkt dazu Folgendes an: „In unserer Sprache! Das ließ mich aufhorchen. Und ich muss gestehen, dass es mir weh tat, eine solche Formulierung zu hören. Die Sprache, ohne die ich nichts wäre, die Sprache, der ich mein Leben von morgens bis abends widme, wegen der ich um sechs Uhr morgens aufstehe und in der ich jetzt einen Roman von 367 Seiten geschrieben habe: ist also gar nicht meine Sprache! “ (Bodrožić 2008: 68). 88 In ihrer Einleitung zu diesem Band betonen sie, dass man diese Autor/ innen keinesfalls als Gruppe wahrnehmen kann, da dies ihren eigenen Standortbestimmungen nicht gerecht werde: „Sie haben keine Gruppenseele wie die Vogelschwärme, die scheinbar unbewußt, ihre Flugrichtung ändern, wohl auch kaum ein Gruppenbewusstsein, kein gemeinsames literarisches Konzept, weder einen Kopf und Organi- 72 Zweifel und Widerstände Marica Bodrožić nimmt dies zum Anlass, um, die bereits in ihren autobiographischen Essays (vgl. Kap. 4.1) gestalteten Reflexionen und Perspektiven auf ihre Mehrsprachigkeit zu kommentieren und zu ergänzen. Dabei hebt auch sie die Eigendynamik und die Eigengesetzlichkeit der Sprache hervor Sprache hervor - ihre fließende, unablässige Bewegung, dem das Subjekt keinen Einhalt gebieten kann. Dieses sei von ihr „umströmt“ und es könne sich nicht in den Besitz der Sprache bringen, denn sie sei „groß und frei wie der Ozean, der sich aus seinen Zuflüssen speist, an denen er wächst und ohne die er verloren, ja gar kein Ozean wäre“ (Bodrožić 2008: 68). 89 Sprache kann in ihrer Komplexität nie erfasst werden und besonders das Deutsche sei eine „Kohorte bewusster und unbewusster einzelner und kollektiver Vorgänge, Denkweisen, Erfahrungen und Bewusstseinsströme“ (Bodrožić 2008: 68). Marica Bodrožić erhellt ihre Nähe zu psychoanalytischen Positionen, indem sie in diesem Text dem Unbewussten generell eine Schlüsselfunktion für literarische Schreibprozesse zuweist. Dabei merkt sie mit Bezug auf den französisch-deutschen Autor Georges-Arthur Goldschmidt an, dass Freud seine Theorie des Unbewussten ausschließlich auf Deutsch habe abfassen können. 90 sation noch Jahrestreffen, wo auf einem elektrischen Stuhl vorgelesen und vor ihm geurteilt und gerichtet wird. Keine marktorientierte Außenpolitik“ (Pörksen 2008: 5). 89 Marica Bodrožić entfaltet hier eine Metaphorik, die m.E. eine gewisse Affinität zu der Bildwelt des von ihr in diesem Text zitierten französisch-deutschen Autors Georges-Arthur Goldschmidt aufweist. Dieser metaphorisiert die Sprache (bzw. ihre besonderen Bewegungen und die damit zusammenhängenden subjektiven Befindlichkeiten, vor dem Hintergrund psychoanalytischer Theorien) u.a. als „See: Unzählbar sind ihre Gestade, ihre Inseln; über unbekannte, unsichtbare Tiefen nimmt man Kurs aufs Unendliche. Das Wasser ist stets dasselbe und ändert sich ständig, es fließt, weicht zurück, schmiegt sich an alles, was eintaucht, wechselt dauernd die Farbe […]. Die geringste Berührung prägt sich der See wie der Seele des Menschen ein“ (Goldschmidt 2010: 15). „An anderer Stelle unterstreicht er, dass Sprache“ aus dem „Flüssige[n]“ entstehe und dass „See und Sprache“ sehr eng miteinander „verwandt“ seien (Goldschmidt 2010: 19). 90 Georges-Arthur Goldschmidt untersucht in seiner 1988 erstmals auf Französisch erschienenen Publikation „Quand FREUD voit la mer - Freud et la langue allemande“ das von Freud genutzte Potenzial der deutschen Sprache zur Ausformulierung seiner psychoanalytischen Theorie. Er schreibt dort, dass der Grund für die Bedeutung des Freudschen Werks darin zu sehen sei, „daß es dem Deutschen nicht verfällt, daß es sich nicht durch dessen Fluten fortreißen läßt. […] Die deutsche Sprache weiß alles vom Unbewußten; sie hat es Freud gleichsam vorgesagt. Freud aber zeigte, was die Sprache sagen wollte, wenn sie sprach“ (Goldschmidt 2010: 30, Übersetzung von Brigitte Große). Sprachfluss 73 Die Unmöglichkeit, Sprache zu ‚besitzen‘, ihr in irgendeiner Weise jemals habhaft werden zu können ordnet Marica Bodrožić einem fortwährenden ‚Sprachfließen‘ zu, wobei letztlich auch die Eigenständigkeit der Sprache („[sie] trägt bestimmte Gesetze in sich“, Bodrožić 2008: 68) und die Fülle an mittransportiertem Wissen die Erkenntnismöglichkeiten des (schreibenden) Subjekts übersteigen. Dennoch sieht sie darin keinerlei Limitierung ihres kreativen Schreibprozesses. Ganz im Gegenteil, erst durch diese ‚Eigenständig‘ der Sprache, die den Schreibprozess quasi in Eigenregie leitet und damit die Verfügungsgewalt des Schreibenden einschränkt, ergibt sich die Möglichkeit zu Neuentwürfen, zu einem kontinuierlichen ‚Sich-Weiterschreiben‘ in der Literatur. Insofern ist es geradezu ein „Glück“, dass die Sprache dem Schreibenden nicht gehört. Marica Bodrožić führt weiter aus, dass der Schriftsteller nur während des Schreibens ein „Teil von ihr“ ist, danach lässt sie ihn wieder heimatlos sein, aber nicht ohne ihn vorher verwandelt zu haben. Denn so, da er nicht mehr weiß, wer er jetzt ist, kann er weiter schreiben (Bodrožić 2008: 69). Zugleich eröffnen sich dadurch neue Erkenntnismöglichkeiten in Bezug auf das eigene Selbst, die den Erfahrungshorizont weiten und zweierlei bewirken: einmal eine „Art Rückkopplung, Rückstoß aufs Leben“ und zum zweiten einen intensiven und nachhaltigen Anstoß zum Weiterschreiben. Aus den „eigenen Spracherfahrungen“ heraus, führt der Weg „zur nächsten Sprachwelt, zu seinen Flüssen und Unterströmungen“ (Bodrožić 2008: 69). 6 Festschreibungen Die generelle Angst davor, die Fremdsprache nur ungenügend zu beherrschen, diese von Stengel als „feeling of uncertainty“ (vgl. Kap. 4.1) beschriebene Verfassung von Menschen, die sich vor allem auf Grund ihrer lebensgeschichtlichen Verhältnisse intensiv mit einer Fremdsprache befassen müssen, setzt sich in der nachvollziehbaren Angst vor möglichen negativen Bewertungen der native speakers fort. Bei den mehrsprachigen Autor/ innen kommt hinzu, dass die Beurteilung ihrer Sprachkompetenz durch Dritte sich nicht nur auf die interaktionale Kompetenz in sozialen, alltagssprachlichen Handlungskontexten bezieht, sondern vor allem auch die literarischen Texte fokussiert. Eine ‚Festschreibung‘ als Autor/ innen anderskultureller und sprachlicher Provenienz mündet oft (unreflektiert) in eine negative Vor-Beurteilung und Bemängelung der literarischen Qualität ihrer Texte. Um diesen äußeren Widerständen standzuhalten, müssen Strategien der Verarbeitung entwickelt werden, die ein selbstbewusstes Weiterschreiben, ein konsequentes ‚Sich-Einschreiben‘ in die Fremdsprache Deutsch weiterhin ermöglichen und die Entwicklung zu einer überzeugenden/ gefestigten Sprachidentität unterstützen. Eine mögliche Strategie im Umgang mit den ‚Festschreibungen‘ professioneller Leser/ innen ist die humorvolle, selbstironische Replik auf Situationen, die als herabwürdigend empfunden werden. In dem autobiographischen Essay „Der Autor und sein Alter“, der 2001 erstmals im Verlagsführer Österreich erschienen ist, persifliert beispielsweise Vladimir Vertlib seine ersten entschlossenen Schritte in den deutschsprachigen Literaturbetrieb. Die Begegnung mit der Lektorin Regina wird als Desaster geschildert, denn sie vermittelt dem damals zwanzigjährigen Autor, dass er zu jung sei, um mit einem literarischen Text ernst genommen zu werden. Vladimir Vertlib kommentiert dies humorvoll mit dem Satz: „Mit meinen zwanzig Jahren verspürte ich schon den ersten kalten Hauch der Midlifecrisis und den modrigen Geruch des Alterungsprozesses“ (Vertlib 2012c: 30). Schwerer wiegt jedoch die Art und Weise, in der das eingereichte Manuskript später abgelehnt wird, sowie die Gründe, die für diese Zurückweisung angeführt werden. Es wird vom Erhalt eines „jener typischen Briefe“ erzählt, „die mit der wohlbekannten Floskel eingeleitet werden: „Ich möchte Dein Talent keineswegs in Frage stellen. Aber …“. Die Lektorin kritisiert in ihrem Ablehnungsschreiben jedoch nicht die inhaltliche Konzeption des Textes, was vermutlich weniger Betroffenheit ausgelöst hätte, sondern in erster Linie die „sprachlichen Freiheiten, die der Verfasser sich in Bezug auf „Rechtschreibung, Grammatik, Interpunktion und Idiomatik erlaubt hatte“ (Vertlib 2012c: 30). Dazu merkt Vladimir Vertlib Folgendes an: Da Deutsch nicht meine Muttersprache ist, empfinde ich gerade diesen Hinweis auf sprachliche Unzulänglichkeiten als ziemlich desillusionierend. War es viel- 76 Festschreibungen leicht doch anmaßend, als Zuwanderer in diesem Land nicht etwa Hilfsarbeiter, Taxifahrer oder Straßenkehrer sondern ausgerechnet Schriftsteller werden zu wollen, und das auch noch in der Sprache der Einheimischen? Ich beschloss zu warten und zu „reifen“ (Vertlib 2012c: 30). Der (selbst-)ironische Unterton dieses Kommentars, die spöttische Reaktion auf stereotype Vorstellungen über den vermeintlichen Aktionsradius und die Teilhabe von Immigrant/ innen am kulturellen Leben der Einwanderungsgesellschaft kann jedoch nicht die Verletzung verdecken, die diese Ablehnung offensichtlich auslöst. Sie trifft vermutlich nicht nur sein Selbstwertgefühl als Fremdsprachensprecher, sondern berührt auch das komplizierte Ausbalancieren zwischen Herkunfts- und ausgewählter Fremdsprache, die als Literatursprache bestehen soll. Genauer besehen, wäre das vermutlich nicht geschehen, wenn die Lektorin jene sprachlichen Freiheiten, die sie ins Feld führt, auch als Zeichen einer besonderen Sprachkreativität im Deutschen interpretiert hätte, das seinen individuellen literarischen Stil markiert. In den wechselvollen Erfahrungen, von denen Vladimir Vertlib im autobiographischen Rückblick berichtet, werden zwar auch Begegnungen mit Lektor/ innen erwähnt, die einen vergleichsweise positiven Ausgang nehmen, dennoch ist (nicht nur für Vladimir Vertlib) generell die Einschätzung professioneller Leser/ innen hinsichtlich des Publikationspotenzials der Texte und damit der literarischen Schreibkompetenz von mehrsprachigen Autor/ innen ein komplizierter und problematischer Prozess, wofür es eine Reihe unterschiedlicher Gründe gibt. Nicht wenigen Äußerungen mehrsprachiger Autor/ innen lässt sich entnehmen, dass professionelle Leser/ innen, die maßgeblich über eine mögliche Veröffentlichung zu entscheiden haben, diesen gegenüber Vorbehalte habe, genauer gesagt, damit zurückhaltend sind, den Autor/ innen, die ihre Fremdsprache Deutsch zu ihrer Literatursprache gewählt haben, grundsätzlich valide Sprachkreativität zuzusprechen. 91 Ihr Urteil beschränkt sich dabei oft auf die Feststellung sprachlicher Defizite im Bereich idiomatischer Ausdrücke, als genuine Bestandteile der deutschen Sprache. Ob dabei Autor/ innen in jene von Stengel beispielhaft erwähnten „Sprachfallen“ geraten sind, als die sich idiomatische Ausdrücke entpuppen können, müsste jedoch von Fall zu Fall sehr genau überprüft werden. 92 Sicherlich kann man in vielen Fällen jedoch auch davon 91 Vergleiche dazu die Äußerungen von Rafik Schami: „Ich staune immer wieder darüber, dass eine deutsche Autorin oder ein deutscher Autor gelobt wird, wenn sie oder er Sprachexperimente durchführt und die Regeln der deutschen Sprache verletzt. Es wird als ungewöhnliche Poesie respektiert. Bei einem fremden Autor aber wird dasselbe Experiment als Fehler angesehen“ (Schami 2019b: 34). 92 Vergleiche dazu den 1994 geführten Briefwechsel zwischen Franco Biondi und Karl Corino (Biondi 2017e: 287-297). Festschreibungen 77 ausgehen, dass die Beurteilungskompetenz der professionellen Leser/ innen an deren fehlenden Sprachkenntnissen in Bezug auf die Herkunftssprachen der Autor/ innen 93 scheitert, die den Texten eingeschrieben sind und die die sog. sprachlichen Freiheiten - aber auch das Spielen und Experimentieren mit dem Sprachmaterial - ganz wesentlich beeinflussen. 94 In der Schilderung einer ihrer Begegnungen mit Leser/ innen, hebt Marica Bodrožić in diesem Zusammenhang den umgekehrten Fall hervor, dass nämlich auch Komplimente, die man für den kompetenten Gebrauch der Fremdsprache erhält, nichts Anderes bedeuten können, als die Festschreibung eines weiteren Vorurteils. Sie erklärt dazu, dass ihre Wahl der Fremdsprache als Literatursprache dazu führt, dass sie für „eine Art Naturgarant fürs Erzählen, fürs Gedichteschreiben, fürs Schreiben überhaupt“ gehalten wird. Marica Bodrožić verurteilt dies aufs Schärfste, als eine sie ausgrenzende „romantische Vorstellung […], die sie ständig in ein Grenzgebiet verweist: Du kommst von woanders her, du bist anders, du wirst anders bleiben. Das ist die Botschaft dahinter“ (Bodrožić 2008: 70). 95 93 Dies mag nicht weiter verwundern, denn das Spektrum der Herkunftssprachen der betreffenden Autor/ innen ist weit und umfasst auch die im deutschsprachigen Raum weniger gesprochenen und/ oder institutionell vermittelten Sprachen. 94 Vergleiche dazu die Ausführungen von Chiellino zum interkulturellen Leser, die m.E. genau auf jene Einschränkungen in der Rezeption von Texten mehrsprachiger Autor/ innen hinweisen: „Als kongenialer Leser der interkulturellen Literatur gilt jeder Leser, der sich in der Lage befindet, die Sprache im Werk zu lesen und gleichzeitig den […] Austausch zwischen der geschriebenen und der zurückgehaltenen Sprache zu verfolgen“ (Chiellino 2016: 118). Vgl. dazu auch den Einfluss kognitionslinguistischer Aspekte bei Sprachverstehensprozessen. Im Anschluss an Fillmore geht man bekanntermaßen davon aus, dass Wissen mental in Form von Frames gespeichert wird. Dabei handelt es sich um konzeptuelle Strukturen, die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke zugrunde liegen, aber auch grundsätzlich den Gebrauch sprachlicher Ausdrücke motivieren. Bedeutungserschließung, als mentaler Prozess von Konzeptualisierung kann sich dann schwierig gestalten, wenn es beispielsweise Leser/ innen nur in unzureichendem Maße gelingt, zu konzeptualisieren bzw. diese Konzepte in übergeordnete Wissensstrukturen einzuordnen. Dies kann dann geschehen, wenn beispielsweise literarische Mehrsprachigkeit experimentell in einer für Leser/ innen kaum mehr nachvollziehbaren Weise entfaltet wird (vgl. dazu den Beitrag von Reeg zu dem brasilianischstämmigen Autor Zé do Rock 2014a: 122-139). 95 In ihrem Beitrag über mehrsprachige Literatur hebt Kilchmann hervor, dass bei einer Fokussierung auf die autonomen Strukturen literarischer Texte auch Bezüge zu insbesondere sprachexperimentellen literarischen Traditionen hergestellt werden müssten, da diese für Autor/ innen der sog. interkulturellen Literatur als Vorlage dienen könnten, lebensgeschichtlich bedingte Spracherfahrungen literarisch zu gestalten. Alleine die Tatsache, dass den Autor/ innen mehrere Sprachen zur Verfügung 78 Festschreibungen Bereits diese kurzen Textausschnitte weisen darauf hin, dass die inneren Widerstände, als psychische Vorgänge beim Erlernen einer Fremdsprache und bei der Konstruktion einer mehrsprachigen Identität, auch in ihrer Verkettung mit äußeren Einflüssen gesehen werden müssen. Damit ist gemeint, dass die Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung eines positiven Selbstbildes selbstverständlich auch von der Fremdwahrnehmung Dritter beeinflusst werden, mit denen mehrsprachige Autor/ innen sich auseinandersetzen müssen. 96 Der Gebrauch der Fremdsprache, besonders in ihrer exponierten Funktion als Literatursprache, bietet häufig eine besonders evidente Angriffsfläche, um die Qualität der literarischen Texte mehrsprachiger Autor/ innen generell in Frage zu stellen. Damit werden schließlich Ausgrenzungen vorgenommen, und es kommt zu voreiligen ‚Festschreibungen‘, die bewältigt werden müssen. 97 stehen, ist keineswegs ausreichend, um literarische Texte zu verfassen. In jedem Fall muss „eine Übersetzung ins Medium der Literatur und die Regeln und Ordnungen desselben stattfinden […]. Auch für mehrsprachige Literatur muss mithin gelten, dass der poetische Effekt nicht allein aus der Abweichung von der monolingualen Norm entsteht, sondern auch andere Verfahren der Literarisierung und Fiktionalisierung am Werke sein müssen, um einen im linguistischen Sinne mehrsprachigen Text als einen literarischen auszuweisen“ (Kilchmann 2019: 44). 96 Vergleiche dazu die Ausführungen von Nothdurft zum Begriff der „Anerkennung als Leitbegriff sozialwissenschaftlichen Denkens“ (2007). Darin weist er auf die fundamentale Bedeutung der Anerkennung für die positive Selbstwahrnehmung des Menschen „der Moderne“ hin (Nothdurft 2007: 112). Wenn allerdings soziostrukturelle Merkmale (wie etwa der soziale Status einer Person) die Anerkennung ablösen, gewinnt die soziale Interaktion an Bedeutung: „Anerkennung erfolgt wesentlich in Situationen sozialen Miteinanders als interaktive Reaktion auf situatives Handeln. Diese Reaktion ist typischerweise eine der Bewunderung, der Bewertung, der Wertschätzung, der Betrachtung des Handelns unter Gesichtspunkten des Vollziehens und Gelingens und der Kommentierung i.w.S. ästhetischen Gesichtspunkten“. Damit erschließt sich, laut Nothdurft, die von interaktionsanalytischen Studien bis dato eher vernachlässigte Dimension der Macht (Nothdurft 2007: 18); vgl. auch die Zuordnung von „Anerkennung“ zu den Rahmenbegriffen der Interkulturellen Germanistik (Wierlacher 2003). 97 Sicherlich ist hier ein Zusammenhang zwischen der ideologischen Grundhaltung von Bildungsinstitutionen bzw. generell von Sozialisationsinstanzen anzunehmen. Konrad Ehlich führt dazu beispielsweise aus, dass es das erklärte Ziel der Schule sei, die Hochsprache zu erlernen und zu nutzen, wobei „das, was von der Hochsprache sich unterscheidet, als didaktisch zu bekämpfendes Residuum erscheint.“ Die Schule stellt sich somit vorrangig die Aufgabe, die Hochsprache durchzusetzen, wobei sie die Schüler/ innen als substanziell einsprachige Individuen begreift. „Das Konzept des einsprachigen Individuums, das seine sprachliche Qualifizierung allenfalls um fremde Sprachen in deren gleichfalls hochsprachlicher Varietät erweitert, gerinnt zu einer anthropologischen Grundannahme über die sprachlichen Möglichkeiten des Festschreibungen 79 Eine andere Strategie, sich diesen Festschreibungen entgegenzustellen, besteht in einer offensiven Selbstbehauptung sowie der konsequenten und radikalen Analyse ihrer Beschaffenheit und der Gründe dieser reduzierten und ausgrenzenden Fremdwahrnehmung. Besonders Franco Biondi hat bereits seit den 1980er Jahren in vielen seiner sprachtheoretischen Schriften auf diese negativen Beurteilungsparameter Bezug genommen, mit denen mehrsprachige Autor/ innen sich bei der Bewertung ihrer Texte konfrontiert sehen (vgl. Kap. 5.4). Die schwierigen Suchbewegungen in der Fremdsprache müssten zu einer selbstbewussten Einschreibung in das Deutsche führen, wobei originelle, literarische Sprachschöpfungen als Ausdruck von Fremdheit und Andersheit von Autoren nicht-deutscher kultureller Provenienz sich gegen das sog. „Obrigkeitsdeutsch“ 98 der deutschsprachigen Mehrheit durchzusetzen hätten. Einer seiner Kritikpunkte in Bezug auf die Rezeption seiner Texte ist, dass ein dezidiert normatives und aus einem monolingualen Habitus herrührendes Verständnis des Deutschen bei den Beurteilungen wiederholt und konstant im Vordergrund steht. Dieses orientiert sich vor allem am standardisierten morphosyntaktischen und semantischen Regelwerk der Sprache, das, so wird vermutet, den Autor/ innen nur unzureichend zur Verfügung stehe. Dabei zieht Franco Biondi verschiedene Ursachen in Betracht, die ihm zu Folge dazu führen könnten, dass den mehrsprachigen Autor/ innen nicht nur eine generell mangelnde fremdsprachliche Kompetenz unterstellt, sondern auch eine damit korrespondierende adäquate, ästhetische Schreibkompetenz abgesprochen wird. Besonders während der Lektorierung eines Manuskripts tritt ein Kontrollmechanismus in Kraft, der den Autor/ innen vermitteln soll, dass sie des Deutschen „nicht mächtig“ sind und deshalb Fehler machen, die sie zu korrigieren haben. Für professionelle Leser/ innen, wie etwa Lektor/ innen, Verleger/ innen und Literaturkritiker/ innen, stellt die „Sprachzugehörigkeit“ ein grundlegendes Beurteilungskriterium dar, und sie beabsichtigten damit „vom Sprachthron aus Sprachkorrekturen“ vorzunehmen. Diese Überlegenheitsgeste als ‚Muttersprachler‘ bedeute letztlich, dass sie sich „für die Enge ihrer persönlichen Sprache entscheiden“ und dass sie vor allem das Einschreiben „fremder“ Erfahrungen in die deutsche Sprache verhindern wollten (Biondi 2017c: 154). Grundsätzlich resultieren solche Überlegungen auch aus der Annahme, dass nur Sprecher/ innen in ihrer jeweiligen Herkunftssprache die Kompetenz, aber auch das Privileg haben, den Bedeutungsgehalt und -umfang herkunftssprachlicher Ausdrücke in vollen Umfang ausloten zu können. Die bereits im Verlauf Menschen überhaupt, die mit dem Sprachlichkeitsprogramm des Projekts Nation kompatibel, ja, die dessen unmittelbarer Ausdruck ist“ (Ehlich 2013: 66f.). 98 Vergleiche dazu den 1996 verfassten Essay „Sprachfremde und Obrigkeitsdeutsch“, in Biondi (2017c: 142-178), aus dem im Folgenden zitiert wird. 80 Festschreibungen des frühen Erstspracherwerbs erworbene, spezifische Bedeutungs- und Sprachhandlungsdimension verleihe demzufolge ausschließlich herkunftssprachlichen Sprecher/ innen jene Kompetenz, die zur spielerisch-experimentellen Gestaltung nötig ist und die sie zur souveränen Abfassung literarischer befuge. 7 Freischreibungen Mit der Zeit wurden meine beiden Sprachen immer mehr in ihre Einzelteile zerlegt, so lange, bis sich nichts mehr weiter zerlegen ließ und ich zwangsläufig wieder anfangen musste, die Teile nach einer neuen Ordnung wieder zusammenzusetzen. Oder aber ein sprachloses Leben zu führen, aber das wäre das Gegenteil dessen gewesen, was ich für das Leben eines Menschen für wünschenswert hielte (Terézia Mora 2016: 28). In den beiden vorangehenden Kapiteln meiner Studie wird das Spracherleben von Autor/ innen insbesondere unter dem Aspekt einer von ihnen vielfach als problematisch dargestellten Orientierung in und mit ihrer Mehrsprachigkeit diskutiert. Die in den zitierten Äußerungen dargelegten Schwierigkeiten bei der Bildung einer kohärenten Sprachidentität (vgl. Kap. 8) und insbesondere einer ‚Schreibidentität‘ in der Fremdsprache Deutsch werden mit psychisch bedingten Dynamiken in Verbindung gebracht. Es zeigt sich jedoch auch, dass in einem gewissen Maße äußere Widerstände, wie etwa die mangelnde Anerkennung des literarischen Umfeldes, Einfluss auf die Produktivität und das Selbstverständnis der Autor/ innen haben und zur Entwicklung von Strategien des Umgangs mit diesen Widerständen führen. Unsicherheiten und Zweifel am ‚unbeschädigten‘ Fortbestehen der Herkunftssprache und Zweifel an einer adäquaten (literarischen) Sprachkompetenz veranlassen mehrsprachige Autor/ innen ihr sprachliches Instrumentarium immer wieder aufs Neue selbstkritisch zu überprüfen. Die sprachtheoretischen, Reflexionen, die vor allem in Essays und Poetikvorlesungen ausführlicher entfaltet werden, haben, abgesehen von der dem Schreibbzw. Redeanlass geschuldeten kommunikativen Absicht, so gesehen zwei weitere Funktionen: Zum einen können sie Einsichten und Selbsterkenntnisse in Bezug auf das subjektive Erleben der Mehrsprachigkeit auslösen, zum anderen sind sie Ausdruck und Verteidigung der Auseinandersetzung mit neuen kreativen Freiräumen angesichts der oft als ungerechtfertigt und ausgrenzend empfundene Überprüfung und Anmahnung sprachlicher Normabweichungen seitens ‚professioneller‘ Leser/ innen. Daran anknüpfend, werde ich demgegenüber den durch zahlreiche Selbstäußerungen der Autor/ innen dokumentierten Prozess der ‚Freischreibung‘ fokussieren. Dabei werde ich folgende zentrale Fragen ausführlicher diskutieren: In welcher Weise beschreiben mehrsprachige Autor/ innen die Überwindung 82 Freischreibungen innerer wie äußerer Widerstände und Kontrollmechanismen? Welche Funktion hat dabei die Fremdsprache Deutsch? Wie beurteilen sie ihre emotionale Bindung an ihre Herkunfts- und an ihre Fremdsprache? Welche besonderen, kreativen Entfaltungsmöglichkeiten bietet ihnen die Fremdsprache? Genauer gesagt, werde ich insbesondere solche Äußerungen mehrsprachiger Autor/ innen beleuchten, die auf einen Prozess des ‚befreiten‘ und selbstbewussten Umgangs mit der Literatursprache hinweisen und in denen sie den Gebrauch der Fremdsprache Deutsch dezidiert als notwendige Voraussetzung für ihren literarischen Schaffensprozess bewerten. In verschiedenen biographischen, für die vorliegende Studie relevanten Untersuchungen (vgl. exemplarisch Hein-Khatib 2007) kann in diesem Zusammenhang die Annahme bestätigt werden, dass insbesondere in „Momenten des unmittelbaren Selbst-Ausdrucks“ Sprachen mit Lebenserfahrungen und Gefühlen „verflochten“ sind. Je nachdem, ob eine mehrsprachige Person der inneren Distanz oder Nähe zu ihren Erfahrungen bedarf, um sich anderen mitteilen zu können, scheinen sich ihre in unterschiedlicher Weise und Intensität mit ihrem Selbst verbundenen Sprachen grundsätzlich erleichternd, erschwerend oder sogar extrem behindernd auf ihren Selbst-Ausdruck auswirken zu können. Wenn bestimmte Sprachen als unmittelbar mit äußeren Zwängen und/ oder sogar mit traumatischen Erfahrungen verbunden erfahren werden, die die Entfaltung des eigenen Selbst nachhaltig unterbinden, dann scheint erst der Gebrauch einer diesbezüglich befreiten Sprache das Gefühl von Authentizität im sprachlichen Ausdruck zu ermöglichen (Hein-Khatib 2007: 17). Hein-Khatib führt in diesem Zusammenhang eine Reihe solcher Fälle an, in denen Menschen den Gebrauch ihrer Fremdsprache ganz offensichtlich als ‚Befreiung‘ erleben, womit sich einmal mehr die Annahme bestätigt, dass die Lebensgeschichte eines Menschen sehr eng mit seinem Spracherleben verflochten ist. Aus ihrem ersten zitierten Beispiel - berichtet wird von einer jungen Frau, die mit Hilfe der Fremdsprache eine starke Schmerzempfindung überwinden kann - schließt sie, dass „[wir] offenbar Schmerz und Flüche vorbehaltlos nur in einer Sprache formulieren [können], die nicht die unsere ist“ (Hein-Khatib 2007: 14). Beim zweiten Fall zitiert sie einen gebürtigen Marokkaner, der im Verlauf seiner psychotherapeutischen Behandlung zum Französischen überwechselt, da er auf Grund starker „Scham- und Schuldgefühle“ seine sexuellen Probleme nicht auf Arabisch habe schildern können. Der mehrsprachige, in Marokko geborene Autor Abdellatif Belfellah, der nach seinem Studium in Frankreich, seit 1988 in Deutschland lebt, gibt im dritten Beispiel einen noch detaillierteren Einblick in seine Sprachbiographie. Er berichtet, dass er mit dem Deutschen endlich eine Sprache gefunden habe, „die der Art und Weise entsprach, wie ich mich auszudrücken anstrebte.“ Deutsch sei sein „Universum“, sein „Wohnsitz“, seine „Wahlsprache“. Freischreibungen 83 Am Französischen hingegen haftet die Erinnerung an alten Zwang und die Schuld, mich ‚bastardisiert‘ und verstümmelt zu haben. […] Deutsch wirkt auf mich wie ein regulatives Prinzip, eine Katharsis; […] die Erinnerung an die kulturelle Vergewaltigung wird dadurch erträglicher (…). Französisch hat mich enteignet, Deutsch hingegen bereichert mich; an ihm finde ich Halt, und es steht mir frei; beim Französischen war ich Knecht. […] Das, was ich auf französisch schrieb, verhält sich zu dem, was ich in deutsch verfasste und zu dichten wünsche, wie ein nach einer Vergewaltigung geborenes Kind zu einem nach freiem Entschluss gezeugten (Hein-Khatib 2007: 15). Im letzten Beispiel werden Spracherfahrungen aus der auf Französisch verfassten Autobiographie von André Gorz wiedergegeben, der 1924 als Gerhard Hirsch in Wien geboren wird und seit 1949 in Frankreich lebt. Hierin schildert dieser seinen unbedingten Willen, sich von seiner ‚beherrschend‘ und ‚einengenden‘ Muttersprache zu lösen, sich ihr zu „entledigen“, denn sie war vollkommen von der Mutter in Besitz genommen worden. „Sie herrschte über die Wörter, um durch weitschweifige Reden über die Menschen zu herrschen“, woraus sich seine „Vorliebe“ für Fremdsprachen entwickelt, „die es ihm im Ausland erlaubten, andere mit Wörtern abzuspeisen, bei denen klar war, dass sie ihm nicht gehörten und also nur eine Münze waren, die seine Person nicht verpflichteten […]“ (Hein-Khatib 2007: 16). Bevor ich mich im Folgenden mit den ‚Freischreibungen‘ von mehrsprachigen Autor/ innen befasse, möchte ich festhalten, dass die Kontinuität und Intensivierung ihres literarischen Schreibprozesses in der Fremdsprache Deutsch, die Qualität ihrer Texte und die größtenteils ungebrochene Präsenz auf dem literarischen Markt im deutschsprachigen Raum grundsätzlich als Indiz dafür gelten kann, dass sie eventuellen inneren, wie äußeren Widerständen zum Trotz am Schreiben und Publizieren in deutscher Sprache unbeirrt festhalten. Der Wunsch sowie die existenzielle Notwendigkeit, ein anderssprachiges Lesepublikum zu erreichen und die eigenen Texte einem anderskulturellen Raum zugänglich zu machen, ist dabei sicherlich ein wichtiger Antrieb, der jedoch als eine Form extrinsischer Motivation verstanden werden kann. Als situationsabhängige Beweggründe, die auf bestimmte Lebensumstände zurückzuführen sind, können sie nur partiell das von einigen mehrsprachigen Autor/ innen geäußerte intensive Empfinden sich (erst) in der Fremdsprache Deutsch ‚freizuschreiben‘ erklären. Zielführendere Deutungsansätze für ihre vielfach geäußerte dezidierte Haltung, ihr Selbst vorzugsweise in der Fremdsprache Deutsch ‚erschreiben‘ und erfahren zu wollen, bietet die psychoanalytisch orientierte Mehrsprachigkeitsforschung. Bei meinen folgenden Ausführungen beziehe ich mich dabei, vor allem im Hinblick auf Dynamiken der Enttabuisierung in der Fremdsprache, auf die bereits zitierte und nach wie vor grundlegende Arbeit 84 Freischreibungen von Amati Mehler, Argentieri und Canestri, „La Babele dell’inconscio. Lingua madre e lingue straniere nella dimensione psicoanalitica“ (2003) 99 , in der unterschiedliche Aspekte des psychischen Erlebens von Mehrsprachigkeit (auch unter Einbezug von Ergebnissen aus der Frühzeit der Psychoanalyse), der sprachlichen Identitätskonstruktion im Hinblick auf Sozialisationsprozesse mehrsprachiger Kinder, aber auch das Sprecherleben von Menschen, die beispielsweise als Exilierte ihre Herkunftssprache aufgegeben haben, diskutiert und an Hand von Fallbeispielen ausführlich dokumentiert werden. Ergänzend hierzu nehme ich Bezug auf relevante Erkenntnisse, insbesondere zu der emotionalen Bindung mehrsprachiger Menschen an ihre jeweiligen Sprachen, die von Pavlenko in ihren beiden Publikationen „Emotions and Multilingualism“ (2005) und „The Bilingual Mind“ (2014) vorgestellt werden. 7.1 Enttabuisierung Aufschlussreich ist zunächst die historische Dimension, die von Mehler et al. mit in Betracht gezogen wird, wobei ihre Untersuchungsergebnisse darauf hindeuten, dass jene Distanz zur Herkunftssprache, die durch den dominanten Gebrauch einer später freiwillig oder unfreiwillig erlernten Fremdsprache, zu einer gewissen E n t t a b u i s i e r u n g und B e f r e i u n g führen kann (vgl. dazu insbesondere auch Pavlenko 2005). Die eindrücklichste und markanteste sprachliche Domäne, an der sich diese Annahmen sehr gut bestätigen lassen, sind dabei besonders markierte sprachliche Ausdrücke: Bei Mehrsprachigen wird hierbei eine gewisse Unbeschwertheit im Gebrauch obszöner Wörter und Ausdrücke in ihrer Fremdsprache festgestellt. Trotz gewisser Einschränkungen schließen Amati Mehler et al. bei der Analyse dieses Befundes an die (in der Frühphase der Psychoanalyse) von Ferenczi bereits im Jahr 1911 durchgeführte Forschung, „Le parole oscene: saggio sulla psicologia della fase di latenza“, an (vgl. Amati Mehler et al. 2003: 41ff.; vgl. dazu auch Pavlenko 2005: Kap. 6.3 und Pavlenko 2014: Kap. 7.4.2). Besonders interessant erscheint ihnen hier der Gedanke, dass sich bei mehrsprachigen Menschen eine aus Elementen der verschiedenen Sprachen bestehende Teilmenge herausbilden kann, „un sottoinsieme proveniente di lingue diverse“ 100 (Amati Mehler et al. 2003: 42). Die Existenz einer solchen Teilmenge ermöglicht es, dass manche Wörter leichter ins Bewusstsein gelangen können, 99 „Das Babel des Unbewussten. Muttersprache und Fremdsprachen in der Psychoanalyse“ (2010). Übersetzung von Klaus Laermann (KL). 100 „So gesehen sind obszöne Worte eine Teilmenge der Sprache. […] die verschiedenen Sprachen entstammt“ (KL: 96f.). Enttabuisierung 85 ohne zwangsläufig als obszön angesehen zu werden. Hinzu kommt der Umstand, dass es den betreffenden mehrsprachigen Sprecher/ innen leichter fällt, in der ihnen erst später erworbenen, geläufigen Fremdsprache obszöne Wörter auszusprechen. Das liegt daran, dass diese weitaus weniger emotional besetzt sind, wie in der Herkunftssprache, „non portano con se la carica emotiva della lingua madre“ 101 (Amati Mehler et al. 2003: 42). Der Wechsel in eine andere Sprache ermöglicht also mehrsprachigen Menschen solchen sprachlichen Domänen auszuweichen, denen Subjekte sich nur unter Schwierigkeiten nähern können. Damit eröffnet sich insbesondere für mehrsprachige Menschen die sie in gewisser Weise entlastende Möglichkeit, die ganze Sprache der kindlichen Sexualität zu meiden, eine sprachliche Domäne, die sehr eng mit „suoni verbali e nomi particolari“ 102 (Amati Mehler et al. 2003: 42) in Verbindung steht. 103 Besonders aufschlussreich ist schließlich die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt von Ferenczi gewonnene Erkenntnis, dass determinate parole cariche di significati e di affetti - così come sono quelli con le quali nell’infanzia si impara a denominare sia le parti del copro che i gesti connessi alla sessualità - costringessero chi le pronuncia e chi le ascolta a rievocare in modo quasi allucinatorio le immagini originarie. Queste parole così vicine alla concretezza e alla corporeità, possono darci la sensazione […] di cominciare ad agire, come se ancora mantenessero un forte legame con l’elemento motorio originario della rappresentazione 104 (Amati Mehler et al. 2003: 137). Ferenczi stimmt außerdem mit Freud darin überein, dass die an die Sprache gebundenen Denkprozesse einer zunehmenden Abstraktion unterliegen (Amati Mehler et al. 2003: 137). In manchen Augenblicken können jedoch die Assoziationen, die mit den obszönen Wörtern verbunden sind und die als natürlicher Sitz von Triebkonflikten aufzufassen sind (Amati Mehler et al. 2003: 137), aus 101 „[…] weil diese Worte [sic! ] emotional nicht so besetzt sind wie in seiner Muttersprache“ (KL: 97f.). 102 „besonderen sprachlichen Klängen und Namen“ (KL: 97). 103 Diese Annahmen werden von den Autoren kritisch diskutiert und aktualisiert. Die dabei herausgestellten Details sind für die folgende Untersuchung jedoch von untergeordneter Bedeutung. 104 „[…] bestimmte hochgradig mit Bedeutungen und Affekten besetzte Wörter, wie sie in der Kindheit zur Bezeichnung der Geschlechtsteile und der sexuellen Betätigung erlernt werden, diejenigen, die sie aussprechen und hören, zu einer fast halluzinatorischen Vergegenwärtigung ihrer ursprünglichen Bilder zwingen. Diese der Konkretion und der Körperlichkeit so nahen Wörter können uns, […], das Empfinden vermitteln, wir würden zu handeln beginnen und besäßen noch die starke Bindung an das ursprünglich motorische Element der entsprechenden Vorstellungen“ (KL 2010: 190f.). 86 Freischreibungen dem Kreislauf des bewussten Denkens isoliert werden. Sie werden schließlich in ihrer Entwicklung durch Abwehrmechanismen wie etwa Spaltungen und Verdrängungen blockiert, die sie überlagern und ergänzen (Amati Mehler et al. 2003: 137). Ferenczi schließt daraus, dass die Verdrängung an der Versprachlichung der sexuellen Vorstellungen haftet. Diese Abwehroperationen haben jedoch nicht das Ziel, sexuelle Vorstellungen grundsätzlich aus dem Bewusstsein zu entfernen. Es geht vielmehr darum „di indebolire e ridurre i nessi significativi della rete associativa“ 105 (Amati Mehler et al. 2003: 137). Von besonderer Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass Mehrsprachigen eine vergleichsweise große und dynamisch sich erweiternde Menge an Wörtern bzw. sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung steht. Daraus ergibt sich der große Vorteil, „di alternare e graduare difese e resistenze“ 106 (Amati Mehler et al. 2003: 137). E‘ merito di Ferenczi aver intuito che non necessariamente le operazioni di scissione e rimozione che si declinano tra lingua madre e lingua straniera debbano essere intese come fenomeni escludenti e mutilanti. Possono invece favorire percorsi di pensiero alternativo, attraverso le parole di nuove lingue, che certo hanno radici meno profonde, un contatto meno intimo con i vissuti originari, ma questo può essere un prezzo ragionevole per conservare l’equilibrio 107 (Amati Mehler et al. 2003: 138). 105 „die Bedeutungsverbindungen im Netz der Assoziationen zu schwächen und zu reduzieren“ (KL 2010: 191). 106 „ihre Abwehr und ihre Widerstände zu verändern und graduell auf die jeweilige Situation abzustimmen“ (KL 2010: 191). 107 „Es ist das Verdienst Ferenczis, erkannt zu haben, dass Spaltungen und Verdrängungen, die zwischen Muttersprache und Fremdsprache auftreten, nicht notwendig als Phänomene betrachtet werden müssen, die etwas ausschließen oder verstümmeln. Mit den Worten einer neuen Sprache können sie auch alternative Gedanken eröffnen, die weniger tief wurzeln und weniger enge Bindungen an Primärerlebnisse besitzen. Und das kann immerhin ein vernünftiger Preis zur Erhaltung des psychischen Gleichgewichts sein“ (KL 2010: 191). Vgl. dazu auch die Anmerkung von Georges-Arthur Goldschmidt (2010: 20). Stojković weist in einem Beitrag über die Mehrsprachigkeit der Psychoanalyse (2012) darauf hin, dass diese grundlegende Erkenntnis von Ferenczis, dass mehrsprachige Patienten ihre Sprachkompetenzen zu Abwehrzwecken nutzen können, im Laufe der Zeit von weiteren Analytikern (Buxbaum 1949; Erikson 1947; Greenson 1950) weiterentwickelt wurde (Stojković 2012: 15). In einem zitierten Beispielfall, zeigte sich, dass die „Muttersprache“ „Trägerin ungelöster Konflikte ist und die Patientin mit unangenehmen Gefühlen konfrontiert.“ Die Fremdsprache, in diesem Fall das Englische, bot „einen selbstwertsteigernden Ausweg“ (Stojković 2012: 16). Enttabuisierung 87 Für meine Studie ist schließlich vor allem die grundlegende Erkenntnis von Ferenczi zielführend, dass nämlich mit dem Gebrauch einer Fremdsprache Vorgänge der Verdrängung überwunden werden können, und sich dadurch dem Subjekt Zugänge zu jenen signifikanten Erinnerungen eröffnen, die dem „affektiv besetzten Wortlaut“ selbst anhaften (Kilchmann 2019: 202). 108 Dies bedeutet letztendlich nicht nur die Chance das psychische Gleichgewicht zu erhalten, worauf bereits die eingangs zitierten psychoanalytischen Studien hinweisen, sondern auch das Selbst immer wieder neu zu entwerfen. Dabei können sprachlich gebundene negative Erfahrungen aus vergangenen Lebensabschnitten in der anderen Sprache neu interpretiert und ‚erschrieben‘ werden. Sie bietet einen offensichtlich sicheren und beschützenden Raum für die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie und deren Aufarbeitung sowie die ästhetische Gestaltung im literarischen Text. Darin könnte m.E. jene große „Verführung“ bestehen, die beispielsweise von Chiellino als Motor für die Hinwendung zu ei- 108 Kilchmann führt dazu weiter aus, dass im Rahmen der psychoanalytischen Therapie ein „zweimaliger Wechsel“ der Sprache vonnöten sei: „Erstens jener in die affektiv nicht besetzte Varietät, hier die Fachsprache, durch die überhaupt erstmals ein Sprechen über ‚heikle‘, den Patienten oder die Patientin belastende Dinge möglich wird. Nur im Medium der Distanzierung durch eine zweite Sprache, kann dann zweitens punktuell ein erneuter Sprachwechsel ‚zurück‘ erfolgen und eine Wiederholung des verdrängten Wortlautes selbst, dessen affektive Besetzung auf diese Weise kenntlich wird und daraufhin abgebaut werden kann“ (2019: 202). In diesem Zusammenhang sind auch Winter-Heiders Ausführungen zu Spracherfahrungen im Kontext von Migration zu ergänzen: Sie zitiert den in New York praktizierenden Psychotherapeuten Isaac Tylim, der feststellt, dass „ein hierarchisches Muster von Sprachen in der analytischen Behandlung […] graduelle Unterschiede in der Repräsentation der körperlichen Erfahrungen wiederspiegeln.“ Der Körper wird so auf symbolische Weise durch die Sprachen, die angewendet werden, repräsentiert. Vermutlich sei „die Muttersprache dem primitiven Körper, dem nackten Körper, der besser sichtbar und ungeschützter erscheint, näher […]“. Im Verlauf einer Analyse mit mehrsprachigen Personen wird erkannt, dass die zweite Sprache „eine Brücke zwischen verschiedenen Schichten von Erfahrung“ ist. Dabei wird der Sprachenwechsel im Laufe einer Behandlung „als eine symbolische Form“ angesehen, mit deren Hilfe ein verdrängter Konflikt ausgedrückt werden kann: „Die andere Sprache hat also den Status eines Traums, der Bilder wählt, die der Zensur entgehen, denn die andere Sprache unterliegt nicht der gleichen Zensur wie die erste.“ Folgerichtig können mehrsprachige Patienten ihre zweite Sprache während der Psychoanalyse „als Widerstand gegen das Aufsteigen des mütterlichen Verdrängten einsetzen“ (Winter-Heider 2009: 165). Auf Grund dieser so beschriebenen psychischen Vorgänge, so könnte man schließen, ist die Fremdsprache ein Instrument für ‚Freischreibungen‘, das es dem mehrsprachigen Menschen trotz der engen körperlichen Bindung an seine Herkunftssprache ermöglicht die neue Sprache nach seinen Bedürfnissen zu formen und sie zugleich als Terrain sprachästhetischen Experimentierens zu nutzen. 88 Freischreibungen ner Literatursprache, die nicht mit der Herkunftssprache identisch ist, angeführt wird. Diese, so führt er aus, gehe aus der Fremdsprache selbst hervor und sei an den Wunsch gekoppelt, sich aus dem eigenen Konflikt mit der ersten Sprache freizusprechen. Bei einer derartigen Verführung bewegt man sich zwischen dem unerkannten Wunsch, die Konflikte, die sich in der ersten Sprache eingenistet haben, hinter sich zu lassen, und der Vorstellung, durch eine neue Sprache zu einer neuen, d.h. konfliktfreien Identität zu gelangen (Chiellino 2003a: Vorwort, 5). Obwohl Chiellino in seinen theoretischen Schriften und im Hinblick auf seinen eigenen Schreibprozess hervorhebt, dass die reflektierte und somit bewusst hergestellte Verbindung zu seinem (vergangenen) Leben in der Herkunftskultur sowie deren literarische Gestaltung als Garanten für eine weniger konfliktäre, geradezu ‚versöhnliche‘ Auseinandersetzung, mit dem Leben und Schreiben in der neuen Sprache angesehen werden können, ist ihm zu Folge damit jedoch immer auch ein gewisses Wagnis verbunden und Mut erforderlich (vgl. dazu Kap. 3.4). 109 Dennoch sind seine Selbstäußerungen letztlich von der Gewissheit geprägt, das Deutsche als Medium nutzen zu können, mit dem er sich seiner kulturellen (sprachlichen) Herkunft immer wieder versichern und dabei gleichzeitig in einem kontinuierlichen Prozess der ‚Freischreibung‘ insbesondere seine Identität als mehrsprachiger Autor erproben und festigen kann. Sehr viel direkter verbindet Marica Bodrožić in ihrem autobiographischen Essay „Sterne erben, Sterne färben“ (vgl. 2007: Kap. 4.1) ihre Wahl der Fremdsprache Deutsch als Literatursprache mit der Möglichkeit, sich konfliktäre und traumatische Erlebnisse, die ihre Kindheit in ihrer Herkunftskultur und -sprache geprägt haben, bewusst zu machen und zu versuchen, diese zu bewältigen. Das narrative Selbst berichtet in diesem Text davon, dass die beiden Schwestern in der Familie kein Identitätsgefühl in ihrer Herkunftssprache entwickeln können. Sie eignet sich nicht dafür, das eigene Lebensgefühl adäquat auszudrücken. Sie fühlen sich zudem ihrem Bruder gegenüber benachteiligt, dem ein Ausbalancieren seiner Mehrsprachigkeit besser zu gelingen scheint. Bei jedem ihrer Versuche, in der Herkunftssprache, etwas Schlichtes und gleichermaßen Schönes über das eigene Leben auszudrücken […], gab die erste Sprache uns Tritte, die vielen Pferde aus ihrem Besitz flo- 109 Chiellino spricht im Vorwort zu seiner Dresdner Poetikdozentur mit Bezug auf Adornos Satz Es gibt kein richtiges Leben im Falschen (vgl. dazu Adorno 1997: 43) grundsätzlich auch von einem Risiko, „das Menschen eingehen, die sich für ein Leben in und mit einer anderen Sprache als derjenigen ihrer Herkunftskultur entscheiden“ (Chiellino 2003a: 5). 89 Enttabuisierung gen wie fremdgesteuert davon, ritten ohne uns weg, und nur der Bruder, der Junge, schien, in beiden Sprachen eine richtige Erlaubnis zum Leben zu haben (Bodrožić 2007: 22). Das Aufwachsen in der Familie ist zudem bestimmt von einem offensichtlich autoritären Erziehungsstil, der keinen Platz für Kommunikation lässt: „Sprechen war zu Hause immer ein Widersprechen gewesen“. Verbote müssen unwidersprochen hingenommen werden. Von den Eltern wird berichtet, dass sie von ihrem Arbeitsalltag zu erschöpft sind, um sich ihren Kindern zuzuwenden: Die Wörter an sich waren untersagt […]. Da durfte man nicht einmal zeigen, daß man lebte, daß man da war mit seiner Stimme, geschweige denn widersprechen, ein Vergehen wäre das gewesen, gegen das Heiligste (Bodrožić 2007: 111). Diese familiäre Situation untergräbt ein selbstbewusstes Hineinwachsen in die Sprache, ein souveränes kommunikatives Verhalten sowie ein ausgeglichenes Selbstwertgefühl: Nur einen Satz laut zu sagen, kostete mich Kraft. Ich schwitzte, und mir wurde heiß beim Reden. Nie hatte ich das Gefühl, wirklich einmal etwas Sinnvolles, Zusammenhängendes gesagt zu haben oder gar von meinen Mitmenschen verstanden worden zu sein (Bodrožić 2007: 112). Das Erlernen des Deutschen und vor allem die Entscheidung, die Fremdsprache später als Literatursprache zu perfektionieren, wird als signifikanter Wendepunkt des Spracherlebens dargestellt. Zwar kann die mittlerweile gereifte Persönlichkeit die Vergangenheit nicht abstreifen, denn [e]s bleibt immer etwas vom Wesen dieses Kindes übrig, hinkt wie ein Lahmer in mir nach. Ein Kind ist das, auf der Suche nach dem Selbst, nach der Begegnung. Immer den deutschen Wörtern entlang. Immer mit ihnen. Immer ihnen nach wie zum Aufwind der Träume (Bodrožić 2007: 113). Aber die damaligen Lebensbedingungen bzw. die der Eltern können erst aus der sprachlichen Distanz, die der Gebrauch des Deutschen ermöglicht, vollkommen durchdrungen und rekonstruiert werden: Die Geschichte meiner Eltern, die sich in der Nähe von Frankfurt in einer Kirche begegnet sind, habe ich nur in der deutschen Sprache ganz erfassen können. In der ersten Sprache machte die Tradition, in die Vater und Mutter eingebunden waren, den Eindruck einer Notwendigkeit (Bodrožić 2007: 20). 90 Freischreibungen Erst die Fremdsprache bietet ihr jenen Schutz und jene notwendige Sicherheit, um sich der Vergangenheit stellen und Erinnerungen zulassen zu können. Sie ermöglicht ihr eine strukturierte und authentische Selbstwahrnehmung sowie ein positives Selbstwertgefühl: Im Deutschen ist die Erinnerung ein Schutzgewand, eine Fügung; ein Fluß; in dem ich schwimmen kann und der mich ins Offene eines großen gewaltigen Meeres hinausträgt, aber nie zu einem tränenden Sprach-Menschen macht. Immer ist da eine Obhut, eine Hand, die sich meiner annimmt, mich führt und leitet, als kanalisiere sie etwas in mir, das zum Ausdruck gelangt, ohne sich in der Trauer zu verstricken; die Sprache hebt mich in die Höhe, läßt mich aber zugleich immer auf dem Boden, von der Erde aus betrachtet (Bodrožić 2007: 146). Das Deutsche wird zur dominanten Sprache, mit der sie verschmilzt und von der sie gleichzeitig getragen wird: „Dieses Fließen erlebe ich nur in der deutschen Sprache, in der die Wurzeln der Buchstaben ganz mit mir und meinem Nabel verbunden sind“, wobei ihre Herkunftssprache in den Hintergrund tritt (Bodrožić 2007: 12). Explizit betont sie den enormen Zugewinn an Bewegungsfreiheit, den sie gerade durch das dem Deutschen inhärente Fremde und Neue verspürt. Die Entdeckung der Fremdsprache birgt die Chance zum Neuentwurf: 110 110 Damit korrespondieren auch zahlreiche Forschungsergebnisse zu exilierten Autor/ innen. Es zeigt sich, dass die jeweils ausgewählte Literatursprache sehr stark emotional geprägt sein kann und trotz der oben erwähnten engen Bindung an die Herkunftssprache zum favorisierten Ausdrucksmedium wird. Der Grund hierfür liegt allerdings an den besonderen traumatischen Erfahrungen, die ein Anknüpfen an die sog. Muttersprache unmöglich erscheinen lassen. Demgegenüber wird das Schreiben in der a n d e r e n Sprache als heilsam und befreiend erlebt (vgl. Winter-Heider 2009: 166f.). Vgl. zum Thema des problematischen Spracherwerbs im Exil, dem die germanistische Exilforschung seit jeher große Aufmerksamkeit geschenkt hat, exemplarisch die zusammenfassenden Ausführungen von Kremnitz (2015: 167-69). Er zitiert in seinem kommunikationssoziologischen Überblick zur Mehrsprachigkeit in der Literatur, Aussagen Exilierter, die von der vollkommenen Unmöglichkeit, sich auf die Sprache des Exillandes einzulassen (Leszek Kołakowski), der vorsichtigen Annäherung an sie (Manès Sperber) bis hin zum außerordentlichen motivierten Erlernen der neuen Sprache reichen. Kremnitz betont in der Folge den überaus wichtigen Anteil, den die jeweils individuelle Erfahrung für das Erreichen einer bestimmten sprachlichen Kompetenz sowie für den „Willen, sich in einer bestimmten Sprache auszudrücken“ hat (Kremnitz 2015: 169). Unter den zahlreichen Zeugnissen mehrsprachiger, verfolgter Menschen, die den Holocaust überlebt haben, gibt es eine Reihe von Texten, in denen Autor/ innen sich mit ihrer jeweiligen Sprachbiografie auseinandersetzen. Hierzu zählt etwa der aus dem Hebräischen ins Deutsche über- 91 Enttabuisierung Das größere der Freiheit ist mir im Deutschen möglich geworden, gerade durch den Entzug alles Vertrauten. Die Baumnamen wollten alle noch einmal neu gelernt sein. Die Linde hieß jetzt nicht mehr lipa, auch ihr Geruch wurde noch stärker als einst auf den Höfen der kleinen Jahre, in denen Kinderfüße neben Hunde- und Katzenpfoten müde im sonnendarbenden Gras lagen, fern des zukünftigen Alphabets und jenseits des Begreifens und Fühlens des eigenen Namens (Bodrožić 2007: 17f.). 111 Dieser „Entzug“ des Vertrauten benennt eine grundlegende Dynamik beim Gebrauch einer Fremdsprache: Die benutzen Zeichen bzw. Symbole haben nicht in beiden Sprachen gleichermaßen Gültigkeit. Die Wahl der Fremdsprache als Literatursprache bedingt somit auch eine „Aufhebung der Verbindung zu der setzte autobiografische Text „Mehr Glück als Verstand“ (1999) der 1923 in Prag geborenen Rût Bônd ȋ , in dem sie von dem unbedingten Willen, bei ihrer Übersiedlung nach Israel Hebräisch perfekt zu erlernen, um dort als Journalistin arbeiten zu können, berichtet. Ohne diese extreme Willenskraft und Motivation, wäre ihr dies nicht in dieser Weise gelungen, wie man folgenden Aussagen entnehmen kann: „In jenen Tagen gab es in Israel zwei Tageszeitungen, die auf deutsch erschienen, der Sprache meiner Schulbildung, und außerdem war auch United Press mit einem Büro im Land vertreten, so daß es einleuchtend gewesen wäre, wenn ich versucht hätte, dort Arbeit zu finden. Doch ich hatte mir fest vorgenommen, erst gar nicht in einer anderen Sprache zu arbeiten. Wenn du schreiben willst, dann nur auf hebräisch. Zionistischer Eifer, Naivität, Dummheit, Chuzpe, Hartnäckigkeit - es war wohl von allem etwas, das meine Entscheidung bedingte“ (Kremnitz 2015: 149). 111 Vergleiche dazu den häufig zitierten Text von Yoko Tawada „Von der Muttersprache zur Sprachmutter“ (1996), in dem sie zu einem Heftklammerentferner Folgendes ausführt: „Was mir im Reich des Schreibzeugs besonders gut gefiel, war der Heftklammerentferner. Sein wunderbarer Name verkörperte meine Sehnsucht nach einer fremden Sprache. Dieser kleine Gegenstand, der an einen Schlangenkopf mit vier Fangzähnen erinnerte, war Analphabet, obwohl er zum Schreibzeug gehörte: Im Unterschied zu dem Kugelschreiber oder zu der Schreibmaschine konnte er keinen einzigen Buchstaben schreiben. Er konnte nur Heftklammern entfernen. Aber ich hatte eine Vorliebe für ihn, weil es wie ein Zauber aussah, wenn er die zusammengehefteten Papiere auseinander nahm. In der Muttersprache sind die Worte den Menschen angeheftet, so daß man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, daß weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können. In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner: Er entfernt alles, was sich aneinanderheftet und sich festklammert“ (Tawada 1996: 14f.), vgl. dazu u.a. Krauß (2002). Kramsch führt dazu aus, dass der Heftklammerentferner auf diese Weise zu einem „device to ‘remove the staples’ that attach words to thoughts in her first language“ gerät und Ausdruck des Verlangens sei, mit der Fremdsprache genau ein solches Instrument zur Verfügung zu haben (Kramsch 2012: 30). 92 Freischreibungen Bedeutung eines Symbols“. Dabei kann durch die zweite Sprache das Bewusstwerden unbewusster Inhalte erleichtert werden, umgekehrt kann man mit Hilfe einer zweiten Sprache quasi ‚ausweichen‘, sich dem emotionalen Gehalt bestimmter Symbole entziehen (Winter-Heider 2009: 166). Im Deutschen, so ist zu lesen, hat Marica Bodrožić begonnen an das Leben zu glauben und an die Möglichkeit einer Harmonisierung von Vergangenheit und Gegenwart: Selbst wenn diese Erinnerung nie als eine Linie im Raum gedacht werden kann, ist sie doch etwas ähnliches und einer überirdischen Kontinuität zuzuschreiben […]. Im Alphabet beginnt die eigene Art des Staunens, ein im Deutschen fühlbarer Echoraum der Ursprünge, der sinnlichen Sonne eines inneren Glaubens an die eigene Fähigkeit, etwas Großes zu vollbringen, ohne einen anderen Menschen dabei zu bestehlen. […] Das Fließen der Sprache wurde zur Gewissheit, zur Mathematik des sich aufbahrenden Geheimnisses, so, als wolle das Unerlöste, das von den Wunden der Kindheit umzäunte Gebiet, hinausgelangen, hinaus aus sich, aus mir, als seinem Statthalter, hinein in die Welt, in der die Namen und Wörter atmen dürfen, ohne eine Begründung dafür haben zu müssen, ohne Rechtfertigung und auch ohne eine Absicht (Bodrožić 2007: 17f.). Marica Bodrožić vermittelt ihre Mehrsprachigkeitserfahrungen und vor allem ihr ‚Hineinwachsen‘ in die Fremdsprache Deutsch in verdichteten Sprachbildern. Die Darstellung ihrer ‚Freischreibungen‘ gerät an vielen Stellen zu einem lyrischen Text, sie gleichen teilweise der (Nach-)Erzählung von Träumen, mit denen sie versucht, ihre psychische Disposition zu vermitteln. In der folgenden Textpassage spiegelt sich im Bild der ‚verglasten Nöte‘ beispielsweise besonders eindrücklich die von Amati Mehler et al. geäußerte Vermutung, dass die Fremdsprache ein neues Ausdrucksinventar zur Verfügung stellt, das im Unterschied zur Herkunftssprache nicht in der gleichen Weise verinnerlicht bzw. mit Primärerlebnissen verbunden ist: Von heute aus betrachtet, kommt es mir vor, als habe die deutsche Sprache die an tiefster Stelle abgelegten Nöte des einstigen Kindes verglast. Als habe sie sich über alle Schmerzen gelegt. Auf eine eigenartige Weise beschützte sie mich dadurch, die schmerzhaft erfahrene Sehnsucht der Kinderzeit wurde weiter von mir weggerückt und schließlich konserviert (Bodrožić 2007: 109). Mit Hilfe der anderen Sprache kann das Subjekt sich von seiner konfliktären Vergangenheit entfernen. Diese bleibt jedoch ein Bestandteil der Psyche. Aus psychoanalytischer Sicht kommt es somit zu keiner Dissoziationserfahrung im engeren Sinn, denn die Vergangenheit wird nicht abgespalten. Die durch den Gebrauch der Fremdsprache möglich gewordene befreiende und beschützende Enttabuisierung 93 Distanz überdeckt die negativen Erfahrungen der Kindheit. 112 Trotz der im Rahmen psychoanalytischer Prozesse, Ende der 1990er Jahre gewonnenen Erkenntnis, dass der Gebrauch der Fremdsprache nicht nur Befreiung, sondern auch Verlust bedeuten kann (z.B. Verlust der Spontaneität), dass sie „sowohl zum Gefängnis als auch zum Schutzschild werden“ kann (Winter-Heider 2009: 166f.) muss Folgendes festgehalten werden: Der lebensgeschichtlich notwendig gewordene Gebrauch der Fremdsprache als Alltagssprache und die Entscheidung, diese als Schreibsprache zu formen, kann als eine Möglichkeit der Verlagerung und des ‚Ausweichens‘ gedeutet werden, die dazu verhilft, diese befreiter zu gebrauchen und sie schließlich mit einer sehr viel größeren Leichtigkeit als Literatursprache zu nutzen. Ein weiterer Aspekt der Sprachreflexionen bei Marica Bodrožić, den ich erwähnen möchte, betrifft die Einschätzung der Fremdsprache in der Phase der ersten Annäherungen. Vergleichbar zu der von Autor/ innen vielfach geäußerten Empfindung (vgl. Kap. 5.2), dass die Sprache eine eigenständige, vom Selbst losgelöste Kraft ist, mit der man sich messen muss, schreibt das narrative Selbst im autobiographischen Rückbezug, dass „sie [die Sprache, Anm. d. Verf.] von Anbeginn an selbst eine Handelnde zu sein [schien], schlau, unabhängig von mir. Eine ganz eigene Türgriffbesitzerin“ (Bodrožić 2007: 151) bzw. eine „große Türe“, die zu einem „großen Areal“ führt, welches ihr zur Verfügung gestellt wird. Dieses wird genauer beschrieben als „das Land der Türe, die Hinterländer der Türe, die vielen Zimmer, Gemächer, Harems, Schloßflure und arkadischen Kammern“, zu denen die Sprache ihr Zugang gewährt, „die darauf warten, daß ich sie betrete“ (Bodrožić 2007: 153). Das Deutsche ist ihr jedoch ‚wohlgesonnen‘, und es wird zunehmend zu einem „wärmenden Kleidungsstück“, bei ihrer Rückbesinnung auf die Herkunftssprache, die gleichfalls eine nicht zu kontrol- 112 Hassoun zitiert in seinen psychoanalytischen Studien zu den ‚vergessenen‘ Sprachen einen Extremfall von Abgrenzung und Distanzierung zur Erstsprache: Der in New York geborene Louis Wolfson, der seine ‚Muttersprache‘ Englisch nicht mehr ertragen (hören) kann, wählt als Sprachen der mündlichen Kommunikation Deutsch, Russisch und Jiddisch und als Schriftsprache das Französische. Er trägt außerdem täglich einen Walkman mit sich herum, den er auf europäische Sender eingestellt hat, „damit er l’abominable idiome maternel, die gräßliche Muttersprache nicht zu hören braucht […]. Ihm graut vor dieser Sprache nicht anders als vor seiner Mutter, die er aufs heftigste haßt und liebt. Keine Grenze zwischen ihm und ihr, kein Platz für ein Drittes, das die mit Schmerz und Entsetzen erlebte mütterliche Invasion aufhalten könnte. Sein lebensrettender Kompromiß führt über die Notwendigkeit, sich vor der allzu vertrauten Sprache die Ohren zu verschließen und zum Sprechen fremde Sprachen zu benützen. Es bleibt ihm keine andere Wahl: Entweder dies oder die Katastrophe, in der er rettungslos verdämmert wäre“ (Hassoun 2003: 101f.). 94 Freischreibungen lierende Eigendynamik entfaltet: Sie ist doppelbödig und man scheint ihr dennoch nicht ungestraft entrinnen zu können: Warum erwischte es mich manchmal so unvorbereitet, als wohne in ihr jemand mit einer langen Liste all meiner Vergehen gegen die Menschen und rechne mich wortweise aus. Eine ganze Zeit lang machte mich jedes Wort in dieser Sprache zum Feigling […] (Bodrožić 2007: 105). Ein Zusammenführen der beiden Sprachen gestaltet sich allerdings schwierig, denn sie werden als „zwei autonom nebeneinander wirkende Lebensspuren“ erfahren (Bodrožić 2007: 105), die damit untauglich für die Alltagskommunikation sind. Nur im Schreibprozess kann es gelingen, eine Verbindung zwischen den beiden Sprachen herzustellen. Das Schreiben ermöglicht schließlich in einem umfassenden Sinn den Erhalt des psychischen Gleichgewichts - „[e]rst durch das Schreiben erfuhr ich, daß es möglich ist, etwas zu sagen; daß es Sinn macht, eine Stimme zu haben und die Stimme mit den Wörtern zu verbrüdern“ (Bodrožić 2007: 112) - und dies bedeutet schließlich ein Freischreiben von den Zwängen der Kindheit: Die Zärtlichkeit der Kindheit ins Deutsche hinübergehen lassen, sie mit dem Gehen durch die Wörter plötzlich überall möglich machen, sie überall finden, auffinden und umarmen, wie einen nahen Menschen, die einher geht mit einem erstarkten Ausdrucksvermögen sowie einer überzeugenden Sprachidentität (Bodrožić 2007: 129). 7.2 Affektive Verarbeitung Wie im vorigen Kapitel exemplarisch dargestellt wurde, bestätigen Reflexionen mehrsprachiger Autor/ innen Erkenntnisse der Psychoanalyse, dass die Distanzierung von der eigenen Lebensgeschichte, insbesondere auch von konfliktreichen Kindheitserfahrungen, die die Fremdsprache ermöglicht, zu einer befreienden Neuorientierung führen kann. Besonders im Medium der Schrift, genauer gesagt im literarischen Schreibprozess, findet eine Konsolidierung sprachlicher und damit auch kultureller Identifizierung statt. Das schreibende Subjekt erkennt und reflektiert dabei die Bedeutung der Fremdsprache, den Verbleib der Herkunftssprache im Repertoire sowie ein mögliches Interagieren zwischen allen seinen sprachlichen Varietäten. Dabei kommt sehr deutlich die Empfindung zum Bewusstsein, dass die einzelnen Sprachen generell mit einem jeweils unterschiedlichen Ausdruck und einer anderen Haltung gesprochen werden: Mehrsprachige Subjekte assoziieren generell mit ihren Sprachen „unterschied- Affektive Verarbeitung 95 liche emotionale und kognitive Inhalte“ (Winter-Heider 2009: 166 ). 113 Franco Biondi bestätigt 1996 im autobiographischen Rückbezug diese Spracherfahrungen: Das narrative Selbst des Essays „Über literarische Sprachwege“ (2017d) wird sich bei seinen ersten Transferversuchen von der Herkunftssprache in die Fremdsprache der Unvollkommenheit oder sogar Inexistenz sprachlicher Äquivalente bewusst. Der Ausweg liegt in der Methode der Ausblendung der „eigentümlichen Aspekte der jeweiligen Sprache“. Als Grund dafür werden nicht nur die divergierenden mentalen Vorstellungen genannt, sondern vor allem auch die unterschiedlichen Gefühle, die von der „Wortresonanz und den Sätzen“ ausgelöst würden: Das Fühlen in der deutschen Sprache war für Franco Biondi gewaltig, und da spürte er allmählich, dass Zugang und Beweglichkeit in ihr nicht ohne seine Gefühlsbeteiligung erfolgen konnten. Dies fasste er damals zu einem Glaubenssatz zusammen: „Um die deutsche Sprache zu verstehen, muss sie zuallererst gefühlt werden“ (Biondi 2017d: 163). Pavlenko, deren Arbeiten einen wichtigen Beitrag zu dem hier entfalteten theoretischen Kontext leisten, beschäftigt sich vor allem in ihrer Untersuchung zum Zusammenhang von Emotionen und Mehrsprachigkeit (2005) mit dem Aspekt der Sprachwahl und des Codeswitchings in Psychoanalyse und Psychotherapie. In ihrem Überblick über grundlegende Experimente mit Mehrsprachigen in den 1970er und 1980er Jahren, die die emotionale Bindung von Sprecher/ innen an ihre jeweiligen Sprachen untersuchen, verweist sie auf eine Versuchsreihe, die außerhalb des klinischen Kontexts durchgeführt wird, wobei sie jedoch einschränkend betont, dass letztlich keine eindeutigen Aussagen darüber getroffen werden können, ob „embarrassing topics“ leichter in einer distanteren L2 diskutiert werden können (Pavlenko 2005: 167). Diese Meinung äußert sie im Anschluss an eine Untersuchung, die das Ziel hatte, den sog. „distancing effect“ beim Gebrauch einer L2 besser verstehen zu können: 48 Studentinnen einer Hong Konger Universität werden gebeten, sich gegenseitig jeweils in ihrer L1 (Cantonese) und ihrer L2 (Englisch) zu interviewen. Von vier Fragen sind zwei relativ neutral einzustufen, zwei weitere werden als „potentially embarrassing“ eingeschätzt. Folgendes Ergebnis wird festgehalten: 113 Winter-Heider berichtet in diesem Zusammenhang, dass während einer Analyse mit mehrsprachigen Menschen beispielsweise erkannt werden konnte, dass verschiedene Erinnerungen in verschiedenen Sprachen kodiert sind und dass im Verlauf der Analyse diese unterschiedlichen „Kodiersysteme“ neue Verbindungen eingehen (2009: 166); vgl. dazu auch die von José F.A. Oliver geschilderten Spracherfahrungen (Kap. 3.1). 96 Freischreibungen The authors found that interviewees answered questions on embarrassing topics at greater length in their L2 English than in their L1 Cantonese. Bond and Lai interpreted these results as suggesting that embarrassing topics are easier to discuss in the L2. The results of this study are often cited in support of the L2 detachment effect (Pavlenko 2005: 167). Aus den Studien zur Emotionalität im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit, führt Pavlenko später eine aussagekräftige Untersuchung an der aus China stammenden Di-Yin an, aus der hervorgeht, dass sie in ihrem Herkunftsland dazu angehalten war, Angstgefühle zu unterdrücken, was ihr jedoch jetzt nicht mehr notwendig erscheint, wenn sie Englisch spricht: Speaking English helps me be more aggressive … in Chinese culture, being angry you should suppress it. So it’s much easier to express it in English. So even if I don’t need to express it, sometimes I keep it to myself, nevertheless I feel it in English (zit. in Pavlenko 2014: 278). Kulturdifferente Normen im Bereich des emotionalen Ausdrucks müssen jedoch nicht dazu führen, dass der Prozess der „affective re-socialization“ unidirektional verläuft: Some L2 users may become more restrained and self-controlled, while others may see the L2 as enabling greater freedom of emotional expression (Pavlenko 2014: 278). Pavlenko unterstreicht zudem im Hinblick auf die Forschungsergebnisse mit mehrsprachigen Sprecher/ innen, dass diese Vielfalt an Möglichkeiten, an (kulturdifferenten) Emotionsausdrücken vor allem in kontaktkulturellen Begegnungssituationen für diese sowohl ein ‚Segen als auch ein Fluch‘ („a blessing and a bane“) sein kann, da hierbei affektive Unstimmigkeiten und Missverständnisse häufiger mit persönlichen Unzulänglichkeiten in Zusammenhang gebracht werden (Pavlenko 2014: 278). Auch wenn eindeutige Zuordnungen von Emotionen nicht in jedem Fall erfolgen können, bieten Pavlenkos Untersuchnungen zum „multilingual writing“ (Pavlenko 2014: 280ff.) einen aufschlussreichen Einblick, und eröffnen eine erhellende Sichtweise auf die kreativen Schreibprozesse der in meiner Studie angeführten mehrsprachigen Autor/ innen, die die Fremdsprache Deutsch zu ihrer Literatursprache gewählt haben. Pavlenko diskutiert weiterhin in Bezug auf die mentale Disposition mehrsprachiger Menschen u.a. das Problem der affektiven Verarbeitung und führt in diesem Zusammenhang nicht nur einige, relevante Forschungsergebnisse, sondern auch Selbstaussagen mehrsprachiger Autor/ innen aus dem anglo-ameri- Affektive Verarbeitung 97 kanischen Raum an, die diese belegen können. Sie führt dabei aus, dass viele mehrsprachige Autoren häufig über den unterschiedlichen emotionalen Bezug, den sie zu ihren Sprachen haben, sprechen bzw. schreiben. Viele würden ihre Erstsprache („the mother tongue“) als die ihnen am nächsten stehende Sprache empfinden, nämlich als „the true language of the heart“ und demgegenüber eine größere emotionale Distanz im Hinblick auf später erlernte Sprachen empfinden. Dies führt jedoch keineswegs dazu, dass sie auf ein Schreiben in der Fremdsprache verzichten, wobei sie als literarisches Genre allerdings Prosa und nicht Lyrik bevorzugen würden. Ihre Aussagen bestätigen das Gefühl einer größeren kreativen Freiheit, ein „emancipatory detachment effect“ beim Schreibprozess in der Fremdsprache: The new, ‚clean‘, words and idioms are not imbued with anxieties and taboos, they do not erupt in heteroglossia of voices, images, and memories, they do not constrain the writer, do not impose. Pliable and devoid of associations, they allow new users to revisit the most traumatic memories and to talk about the dear and painful, the holy and the profane, without throwing themselves at the mercy of the language. These words, simply speaking, do not feel as real, powerful and hurtful as those of the L1 (Pavlenko 2014: 280). Damit bestätigen sich auch die Erkenntnisse bezüglich der in der Fremdsprache aus unterschiedlichen Gründen eher möglichen ‚Freischreibungen‘, wie ich sie bereits diskutiert und an Hand der betreffenden Textausschnitte illustriert habe (vgl. Kap. 7). Ein weiteres, aussagekräftiges Beispiel in diesem Zusammenhang sind die Aussagen des preisgekrönten Autors Jerzy Kosiński, der im Alter von vierundzwanzig Jahren von Polen in die USA übersiedelt. In seinem sprachbiographischen Bericht unterstreicht er vor allem seine Empfindungen bei der ersten Annäherung an das Englische: when I began speaking English, I felt freer to express myself, not just my views but my personal history, my quite private drives, all the thoughts that I would have found difficult to reveal in my mother tongue. It seemed that the languages of my childhood and adolescence - Polish and Russian - carried a sort of mental suppression (zit. in Pavlenko 2014: 281). Diese befreiende, emotionale Distanz verhindert jedoch keineswegs, einen sehr nuancenreichen und subtilen Gefühlsausdruck im literarischen Text. Als Beleg hierfür führt Pavlenko Textstellen des Romans „Pnin“ (1956) von Vladimir Nabokov an, dem es mit diesem Text meisterhaft gelungen sei, die strukturellen, phonologischen und semantischen Charakteristika des Russischen sowie den affektiven Stil im inneren Monolog des Protagonisten Pnin im Englischen zu 98 Freischreibungen vermitteln (vgl. Pavlenko 2014: 281). Dennoch habe er wiederholt die mangelnde emotionale Nähe zur Fremdsprache beanstandet, jene intime Beziehung zur Sprache, die laut Pavlenko, für das Schreiben von Lyrik unabdingbar notwendig sei. Den Grund dafür sieht sie in deren Zielsetzung, „to affect not only intellectually but also physically“: 114 Poets treat language both as a medium and as a material object. As a medium, it may affect us indirectly, through imagery, metaphors, and symbols that trigger associations, memories, and feelings, and as a material object it affects us directly through tone, rhythm, meter, rhyme, repetition, alliteration, and poetic diction (Pavlenko 2014: 282). Autor/ innen, die lyrische Texte schreiben, benötigten grundsätzlich eine intensive physische Verbindung zur Sprache, um diese Effekte besonders nachhaltig herausarbeiten zu können. Autor/ innen, die in einer ihrer Fremdsprachen Lyrik verfassen wollen, sind so gesehen eher benachteiligt, da die Bindung zwischen Wort und Bedeutung bei Mehrsprachigen in ihrer Erstsprache sehr viel enger ist, als in später erlernten Sprachen (vgl. Pavlenko 2014: 282). 115 Zu dieser Einschätzung gelangt Pavlenko im Anschluss an Untersuchungen zum mehrsprachigen Schreiben sowie an Selbstaussagen mehrsprachiger Autor/ innen. Sie betont schließlich im Folgenden, dass „the same linguistic estrangement that enables self-exploration through L2 prose, weakens emotional self-expressing through L2 poetry“ (Pavlenko 2014: 283). Aus den Selbstäußerungen einiger der von Pavlenko zitierten Autor/ innen sowie in dem von ihr im Anschluss entfalteten Argumentationszusammenhang, schließt sie, dass die Wahl des literarischen Genres in einem engen Zusammenhang zur affektiven Verarbeitung von mehrsprachigen Autor/ innen steht. Besonders eindrücklich wird diese Erfahrung von der irischen Lyrikerin Nuala Ni Dhomhnaill wiedergegeben, die von sich sagt, dass sie sich mit dem Schreiben von Lyrik in englischer Sprache nicht identifizieren kann, „writing poems in English did not feel quite right“, obwohl sie immer schon Gedichte auf Englisch verfasst hatte (zit. in Pavlenko 2014: 282): 116 114 Meines Erachtens greift diese Einschätzung ein bisschen zu kurz bzw. lässt sich nicht verallgemeinern, denn die gleichen Voraussetzungen können auch auf narrative und/ oder dramatische Texte zutreffen. Allerdings geht es Pavlenko wohl eher darum, die Wirkmächtigkeit des möglicherweise extrem bildhaften und rhythmischen Charakters von Lyrik hervorzuheben. 115 Vergleiche dazu auch die Übersichtstabelle zum Prozess der emotionalen Verarbeitung mehrsprachiger Menschen (Pavlenko 2014: 287-290). 116 Vergleiche hierzu die Einträge von Chiellino zur Sprachlatenz im „ABC für interkulturelle Leser“ (2016). Affektive Verarbeitung 99 Then one day, in mid-poem, I realized that what I had been writing in English were actually the melodic patterns of Irish poetry. It seemed pretty stupid not to be doing it in Irish where it belonged. I changed in mid-poem, and could see immediately that the poem was much better. I never really looked back. Now, in the throes of mental and emotional distress, I expressed myself naturally in poetry in Irish (Pavlenko 2014: 282). Als Ergebnis verschiedener Forschungen hält Pavlenko schließlich fest, dass Herkunfts- und Fremdsprache unterschiedliche Vorteile in Bezug auf die affektive Verarbeitung mehrsprachiger Individuen haben. In der Forschung werden dabei u.a. zwei konvergierende Muster genannt: Das erste, als L1 advantage effect bekannte, beinhaltet eine erhöhte Automatik der L1-Affektverarbeitung, die sich in einer größeren Wahrnehmungspriorisierung von emotionalen L1- Reizen und einer erhöhten elektrodermalen Reaktivität als Reaktion auf L1-Reize zeigt. Wie aus klinischen Berichten über mehrsprachige Patienten, aber auch den Selbstaussagen mehrsprachiger Autoren hervorgeht, verweist der L2 advantage effect demgegenüber auf eine verringerte Automatik der affektiven Verarbeitung von später erlernten Sprachen. Dies äußert sich u.a. in einer Verringerung von Interferenzeffekten sowie einer verringerten Empfindlichkeit gegenüber emotionsausdrückenden 117 L2-Wörtern und dabei insbesondere gegenüber Tabu- und Schimpfwörtern (vgl. Pavlenko 2014: 294). 118 Die hier in kurzen Auszügen zitierte Auseinandersetzung von Pavlenko mit den emotionalen Erfahrungen mehrsprachiger Autor/ innen auch unter Einbezug klinischer Untersuchungen und sprachbiographischer Befragungen mehrsprachiger Proband/ innen bestätigt zum einen das Potential der Fremdsprache zur Distanzierung von traumatischen und/ oder konfliktären, die Kindheit prägenden Ereignissen und den daraus resultierenden ‚Freischreibungen‘ mehrsprachiger Autor/ innen, das ich bereits diskutiert habe. Andererseits zeigt sie jedoch auch auf, dass die affektive Verarbeitung dabei generell nicht auf ein Muster, wie etwa des L2 advantage effect gegenüber dem L1 advantage effect re- 117 Zum Unterschied von emotionsbezeichnenden und emotionsausdrückenden Wörtern vgl. Schwarz-Friesel (2007: Kap. 5.1.3). 118 In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen von Vladimir Vertlib interessant, dass zur „Sprachheimat“ von Immigranten immer auch „Außenbereiche“ zu zählen sind, in denen Sprecher/ innen (fast) monoglott bleiben. Außer bei der Behandlung bestimmter Themen, einer spezifischen lexikalischen Auswahl oder im Falle mangelnder Kenntnisse über Äquivalente in der anderen Sprache, könne dieser Fall auch dann eintreten, wenn „eine besondere emotionelle Nähe zu einer Sprache […] es dem Sprechenden oder Schreibenden unmöglich macht, in bestimmten Situationen oder bei bestimmten Themen eine andere Sprache zu verwenden“ (Vertlib 2007c: 61). 100 Freischreibungen duziert werden kann. Hinzu kommen weitere Faktoren, die die affektive Verarbeitung beeinflussen können, wie etwa das Spracherwerbsalter oder auch die dominant gesprochenen Sprachen in einer Sprecher/ innengemeinschaft, in der mehrsprachige Menschen aufgewachsen sind und anderes mehr (vgl. Pavlenko 2014: 294f.). Dabei kann es m.E. nicht überraschen, dass die leibliche Dimension von Sprachen, die auch aus einer engen, vor allem aus der Beziehung zur Mutter herrührenden, körperlichen Bindung an die Herkunftssprache hervorgeht, offensichtlich den literarischen Schreibprozess mehrsprachiger Autor/ innen beeinflusst. Eine daraus resultierende engere emotionale Bindung an die Herkunftssprache lässt eine größere Nähe zu ihr entstehen. In der Folge werden lyrische Texte, die per se Emotionen in besonderer Weise ausdrücken, aber auch bei den Leser/ innen hervorrufen möchten und die zudem durch Rhythmusgebung und ausgeprägte Metaphorisierung über eine ausgeprägte leibliche Dimension verfügen, von einigen mehrsprachigen Autor/ innen bevorzugt in ihrer Herkunftssprache verfasst. Die Reflexionen zweier mehrsprachiger Autor/ innen, die ich im Folgenden zitieren werde, lassen auf eine affektive Verarbeitung schließen, die zu einer befriedigenden Identifizierung mit der Fremdsprache Deutsch führt. Mit dem Deutschen scheint ihnen, im Unterschied zu ihrer jeweiligen Herkunftssprache, eine differenzierte und emotional ausgeglichene Schreibweise zu gelingen. Der 1964 in Polen geborene Radek Knapp, der 1976 nach Österreich immigriert und dem 1949 mit dem Erzählband „Franio“ sein literarischer Durchbruch gelingt, widmet sich in seinen Texten zentral dem Problem von Bedeutungsverschiebungen und -veränderungen in der Fremdsprache, genauer gesagt damit, wie sich in dieser Bedeutungen neu zusammenfügen, „wie sich Wörter mit Erlebtem, Erinnertem und Erträumtem verbinden und so Welten erschließen, die sonst verschlossen blieben“ (Busch/ Busch 2008: 10). Aus dem Zitat aus „Kurze Geschichte meiner Sprache“, die Radek Knapp als Vorwort einer Anthologie verfasst hat (zit. in Busch/ Busch 2008: 145f.) geht sein ‚Freischreiben‘ mit Hilfe seiner Fremdsprache Deutsch, die ihm zu emotionaler Entlastung verhilft, deutlich hervor. In dieser sprachbiographischen Notiz nimmt er Bezug auf seine Schulerfahrungen in Wien („eine deutschsprachige Schulbank“, Busch/ Busch 2008: 145) und schildert, dass er zu seiner Überraschung besonders im Schulfach Deutsch sehr gute Erfolge hat, was ihn umso mehr erstaunt, als dass er im Polnischen in seinen früheren Schuljahren keine guten Aufsätze verfassen konnte. Das Deutsche ermöglicht ihm, sehr private Ereignisse darzustellen und zu ‚veröffentlichen‘, was ihm in seiner Herkunftssprache nicht möglich gewesen wäre: Hier aber hatte ich plötzlich alle Hemmungen abgelegt, denn ich verstand und fühlte nicht so genau wie in meiner Muttersprache, folglich schämte ich mich in Affektive Verarbeitung 101 der neuen Sprache auch nicht, meine ganz persönlichen Erlebnisse niederzuschreiben, ja diese dann sogar vor der gesamten Klasse laut vorzulesen (Busch/ Busch 2008: 146). Radek Knapp beschreibt rückblickend ausgesprochen positiv seine darauf folgenden Jahre in deutschsprachiger Umgebung, seine Karriere als Autor sowie seine in jeder Hinsicht bereichernden Erfahrungen mit der Fremdsprache - und all dies, obwohl er sein neues Land nicht als „Heimat“ empfindet. Der Zugewinn besteht darin, dass er mit dem Deutschen, eine Sprache findet, mit der er sich vollkommen identifizieren und zu der er vorbehaltlos eine große emotionale Nähe entwickeln kann: Ich habe in der Fremde eine Sprache gefunden, die mir auf den Leib geschnitten ist. Ich werde sie zwar nie so gut beherrschen wie meine Muttersprache, aber ich werde sie immer dann benutzen, wenn von meinen Gefühlen die Rede sein wird (Busch/ Busch 2008: 146). Er vertraut sich der Sprache an (vgl. Kap. 3.4), vertraut ihr und sieht sie ähnlich wie u.a. Marica Bodrožić als eine selbstständig agierende Instanz an, ohne jedoch das Gefühl zu haben, von der Sprache beherrscht oder ihr ausgeliefert zu sein. Ganz im Gegenteil, er schreibt, dass das Deutsche „inzwischen nicht nur zu meiner eigenen Sprache geworden“ sei, sondern er empfindet sie als „der rote Faden, der mich zwischen den Kulturen führt, in denen ich lebe. Ich weiß sie wird mich, und ich werde sie nicht im Stich lassen“ (Busch/ Busch 2008: 146). Eine zweite, m.E. sehr überzeugende, bildhafte Darstellung der befreienden Loslösung von ihrer Herkunftssprache stammt von der 1950 in der Slowakei geborenen Irena Brežná, die seit 1968 in der Schweiz lebt und auf Deutsch, Slowakisch und Russisch publiziert. 1996 schildert sie im Rahmen einer Tagung des Deutschen Literaturinstituts der Universität Leipzig folgende Spracherfahrungen mit ihrer Fremdsprache Deutsch: Obwohl ihr Körper sich nicht in das Deutsche, das als eine artifizielle Sprache empfunden wird, hineinfinden kann („Meine deutsche Stimme ist hoch wie die Stimme der Kastraten.“), ist sie zu einem Ort der „Zuflucht“ geworden „vor der klebrigen, verführerischen Muttersprache, von der ich mich jedesmal mit viel Kraft losreißen muss“ (Brežná 1997: 80). Der Weg zur Fremdsprache ähnelt dabei einer Flucht vor den, offensichtlich beschwerenden und deprimierenden Kindheitserfahrungen. Vertrautes kann aufgegeben und nichts kann sie aufhalten. Wie auch andere mehrsprachige Autor/ innen metaphorisiert Irena Brežná Sprache als H a u s, um mit Hilfe der damit evozierten räumlichen Dimension ihre Bewegungen im Sinne ihrer affektiven Verarbeitung sowie den Prozess der Freischreibung in und mit der Fremdsprache zu verdeutlichen: 102 Freischreibungen Doch ich eile, eile ins helle Haus der deutschen Substantive, als würde ich um mein Leben rennen, ich fliehe vor dem Dämmerlicht der Kindheit, vor dem Modergeruch des Kellerkorridors, wo ich so heimisch bin, daß ich dort keine Augen brauche. Ich renne zu Worten ohne Geschichte. Das neue Haus hat luftige, nach nichts riechende, lichte Räume, polierte Parkettböden, auf denen ich mit geradem Rücken in Stöckelschuhen auf und ab gehe, tak, tak. Dort beruhige ich mich, überdenke in Stille die Geschehnisse, reihe sie in Substantiven aneinander, übereinander, trenne sie wieder, erschaffe neue Wortkombinationen, eine vertikale, feste Welt (Brežná 1997: 80). Die von mir in diesem Kapitel skizzierten psychoanalytischen Positionen und Resultate aus der Mehrsprachigkeitsforschung, insbesondere des „multilingual writing“ (Pavlenko 2014: 280) sowie die Selbstäußerungen mehrsprachiger Autor/ innen verdeutlichen eine meiner wichtigen Ausgangshypothesen, dass nämlich die Distanz zur Herkunftssprache bei mehrsprachigen Autor/ innen die Entfaltung eines besonderen kreativen Potentials in ihrer Fremdsprache ermöglichen kann. Den mit dem Erstspracherwerb u.U. verbundenen negativen Primärerfahrungen, die tiefe Spuren in der Psyche hinterlassen, kann mit Hilfe der Fremdsprache begegnet werden. Diese bietet so gesehen einen potenziellen Raum der L o s l ö s u n g und des N e u e n t w u r f s. Ohne sprachliche V o r b e l a s t u n g scheinen Autor/ innen in der Fremdsprache Deutsch an Terrain zu gewinnen und leichter zu einer identifizierten Ausdrucksweise zu finden. Der Schreibprozess in der fremden Sprache ist somit - so darf man vermuten - gleichermaßen konstitutiv für die Entwicklung der eigenen literarischen Kreativität wie für die Konsolidierung des Selbst in einer anderen Sprache. 8 Identität Der in diesem Teil meiner Studie zentrale Begriff der ‚Identität‘, ist zweifelsohne in unserem Zeitalter extremer Mobilität zu einer der maßgeblichen Epochensignaturen geraten. Zu Recht wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass es sich jedoch dabei um einen „eigenartig melangierende[n] Begriff“ handelt, der als fast inflationär gebrauchter ‚Modebegriff‘ im Zentrum vieler mehrperspektivisch angelegter, sozial- und sprachwissenschaftlicher Untersuchungen aufzufinden ist. Obwohl er durch „dekonstruierende Analysen“ fast obsolet geworden zu sein scheint, evoziert er jedoch auch mögliche Perspektiven für das Zusammenleben von Menschen in der heutigen Zeit. Damit wird Identität, wie etwa Krappmann hervorhebt, auch zu einem „kämpferische[n] Begriff, der Einzelne und Gruppen bestärkt, sich nicht abhandeln zu lassen, was ihnen ein Bewusstsein von Identität gibt“, wie beispielsweise durch Religionszugehörigkeit, ethnische Herkunft oder Geschlecht (Krappmann 2004: 410; vgl. dazu auch Hu 2019: 19f. und Straub 2019f: 36-51). Für die vorliegende Untersuchung sind generell vor allem jene in den letzten Jahrzehnten entwickelten Konzeptionen von (pluraler) Identität zielführend, welche die Identitätsentwicklung als prinzipiell unabgeschlossenen Prozess und damit als l e b e n s l a n g e s P r o j e k t begreifen. Identität ist hierbei das Ergebnis von K o n s t r u k t i o n s p r o z e s s e n, 119 wobei berücksichtigt werden muss, dass besonders im Hinblick auf die Konstellationen in Migrationsgesellschaften, Subjekte M e h r f a c h i d e n t i t ä t e n bilden können. In dieser Hinsicht bezeichnet die Metapher des Patchworks bzw. der „Patchworkidentität“ (vgl. Keupp et al. 2008) grundsätzlich eine Identität, die sich aus mehreren T e i l i d e n t i t ä t e n zusammensetzt, die immer wieder aufs Neue ausgehandelt und als „prinzipiell unvollständige und unvollendete Aspiration“ verstanden werden muss (Hu 2019: 19). Dieser Gedanke der prinzipiellen Unabgeschlossenheit, der auch die sprachliche Entwicklung des Menschen betrifft, wird u.a. von Marica Bodrožić aufgegriffen, wenn sie auf die Pluralisierung jeglicher Lebensrealität hinweist, die persönliche Veränderungen erlaubt: Identität und Sprache sind nichts Festes, sie sind eher ein Fluidum, ein Unterwegssein - in Bewegungen, auf Straßen, ein Unterwegssein auch in Erfahrungen, in Sätzen, ein Getragensein von Menschen, Umarmungen, Küssen, Worten, Ankünften und Abschieden. Das Leben fließt, wie könnte Identität dann etwas Festes sein! ? (Bodrožić 2008: 71). 119 Vergleiche dazu die Überblicksdarstellung von Kresic (2006: Kap. 6 und Kap. 7). Der Gedanke der interaktiv ausgehandelten und sprachlich-diskursiven Identitätskonstitution ist auch für die interaktionale Linguistik relevant, die sich u.a. mit dem Problem der Rekonstruktion narrativer Identität etwa im Rahmen narrativer Interviews befasst (vgl. dazu exemplarisch Lucius-Hoene/ Deppermann 2004a und 2004b). 104 Identität In vergleichbarer Weise argumentiert María Cecilia Barbetta, wenn sie betont, dass „Identität […] per se etwas Fließendes, weil Lebendiges“ sei. Ähnlich wie bei Marica Bodrožić, spielt dabei die Interaktion mit anderen Menschen eine wichtige Rolle. In Begegnungen können Subjekte sich erkennen, was ihnen erst die nötige Sicherheit verleiht, den Anderen wahrzunehmen und mit ihm positiv zu interagieren: Sich selbst erkennen bedeutet, sich in dem Anderen wiedererkennen, Berührungsängste überwinden und in das Erleben des Anderen eintauchen, sich mit Neugier und Empathie auf dieses Andere einlassen, weil man im Umkehrschluss daran erinnert wird, wer man alles ist oder wer man alles noch sein kann (Barbetta 2019a: 53). Bereits diese Aussagen der beiden Autorinnen bestätigen die eingangs skizzierte Konzeption von Identität 120 und auch zahlreiche weitere Kommentare und Schriften mehrsprachiger Autor/ innen, die ich im Folgenden zitieren werde, scheinen jene symptomatische, fortwährende Suche nach einer personalen Identität zu bestätigen, deren besondere Dynamik deutlich von ihren vielfältigen Migrationserfahrungen beeinflusst wird. Die generell zentrale Funktion von Sprache beim Aufbau von Identität umfasst dabei in besonderer Weise die Fremdsprache Deutsch, denn sie muss als signifikantes Medium für den eigenen literarischen Schreibprozess geformt werden. Dieses, in jeder Hinsicht, ambitionierte Experimentieren mit den eigenen literarischen Ausdrucksmöglichkeiten geht dabei weit über jene, immer wieder notwendige Überprüfung der ‚Alltagstauglichkeit‘ einer Fremdsprache hinaus, die von fremdsprachlichen Sprecher/ innen durchgeführt werden muss, welche sich in einem jeweiligen fremdkulturellen Kontext (nicht nur sprachlich) neu orientieren müssen. Das ästhetische Gestalten der Fremdsprache begleitet den ganzen Schreibprozess der mehrsprachigen Autor/ innen. Immer wieder aufs Neue stellen sie sich die Frage, ob und in welcher Weise die von ihnen gewählte Literatursprache im Einklang mit den eigenen Vorstellungen und Wünschen überhaupt formbar sein kann und ob sie dann, im nächsten Schritt, den von unterschiedlichsten 120 Diese Konzeption entsteht in der späteren Nachfolge des entwicklungspsychologischen Phasenmodells von Erikson, das insbesondere in den 1960er Jahren diskutiert wird. Die Vorstellung von Erikson, dass ein adäquates Durchlaufen der als universell angenommenen Entwicklungsphasen bis zum Ende der Adoleszenz, was auch die erfolgreiche Bewältigung der jeweils phasentypischen Konflikte impliziert, die Herausbildung einer gefestigten Identität bewirkt, gilt heute als überholt. Auch der mangelnde Einbezug einer kulturspezifischen Dimension sowie die untergeordnete Rolle, die die Sprache in diesem Modell spielt, bieten in der Vergangenheit immer wieder Anlass zur Kritik (vgl. Keupp u.a. 1997: 11-39; Krappmann 2004: 408f.; Kresic 2006: 68-75). Identität 105 Stereotypen und Vorurteilen geprägten Erwartungen des Lesepublikums standhalten wird (vgl. Kap. 6). So gesehen handelt es sich hierbei um einen äußerst schwierigen Prozess der unausweichlichen und unablässigen Selbstbefragung und -evaluierung. Diese, wie bereits gezeigt wurde, oft von vielerlei Unsicherheiten, Widerständen und Zweifeln (vgl. Kap. 5) begleitete (allmähliche) Identifizierung mit der Fremdsprache Deutsch als Literatursprache hat jedoch das Potential, „das Erlebte aus der Unmittelbarkeit seiner lebensgeschichtlichen Verwobenheit mit der eigenen Person - und aus der Unmittelbarkeit (herkunfts-)gesellschaftlicher Tabuisierungen herauszulösen“ (Hein-Khatib 2007: 17). Dieses ‚Sich-Hineinfinden‘ in die Literatursprache, ist darüber hinaus untrennbar gekoppelt mit dem Versuch der Selbstverortung in der Gesellschaft, die mehr oder weniger in ihrer Andersheit wahrgenommen bzw. explizit thematisiert wird. Die Dynamik der eigenen Sprachfindung als Konstruktion einer individuellen Schreibidentität in der Fremdsprache verweist ihrerseits nicht nur auf die generelle Problematik von (Sprach-) Identitätskonstruktionen, sondern sie muss, wie bereits erwähnt, insbesondere auch im Zusammenhang mit den Bedingungen von Migrationsgesellschaften gesehen werden, die in vielerlei Hinsicht die generellen „Umbruchserfahrungen in spätmodernen Gesellschaften“ übertreffen (Keupp u.a. 2008: 46-53). 121 So gesehen muss immer wieder in Betracht gezogen werden, dass das Thema der personalen Identität bzw. ihrer Konstruktion für die hier untersuchten mehrsprachigen Autor/ innen auch deshalb von ausgesprochener Zentralität ist, da ihr Leben von jener besonderen Diskontinuität geprägt ist, die bezeichnend für das Leben unter Migrationsbedingungen ist (vgl. Reeg 2014b). Es erfordert in ganz anderer Weise, als dies bei einer weniger ‚nomadischen‘ Lebensführung der Fall wäre, die permanente Suche nach neuen Orientierungs- und Bewertungsmustern, um ein kohärentes und positives Selbstwertgefühl entwickeln zu können. Generell gewinnt die Frage nach der eigenen Identität, verbunden mit dem Gewahr werden instabiler Persönlichkeitsstrukturen sowie der Entstehung möglicher Identitätskrisen, die die eigene Persönlichkeit in Frage stellen, erst im 121 Dazu zählen m.E. insbesondere die Erfahrung der „Entbettung“, die bedeutet, dass Individuen keine für sie klar erfassbare soziale und kulturelle Rahmung erkennen können sowie der „Fragmentierung von Erfahrungen“, die es für den Einzelnen schwieriger macht, diese in einen kohärenten Zusammenhang zu überführen (Keupp u.a. 2008: 47f.). Vgl. dazu auch die Ausführungen von Straub, der über das Lebensgefühl im „Zeitalter der Kontingenz“ sagt, dass der Eindruck der permanenten Wandel- und Veränderbarkeit, dass alles „zerfallen oder flugs verblassen und restlos verschwinden könnte“, die Hinwendung zu „praktische[n] Identitätsfragen“ ebenso begünstige, wie die theoretische Auseinandersetzung damit aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive (Straub 2019f: 26). 106 Identität 20./ 21. Jahrhundert an Bedeutung. Von deren Beantwortung hängt im Kontext von Migrationen die Möglichkeit der existenziellen Lebensbewältigung ab. Die Auswirkungen biographischer Brüche können vor diesem Hintergrund in eindrücklicher Weise den literarischen und reflexiven Texten der mehrsprachigen Autor/ innen entnommen werden. Wie alle in mehrkulturellen Kontexten lebende Menschen sind sie in besonderer Weise dazu herausgefordert, „eine subjektive stimmige innere Ordnung“ aufzubauen (Keupp u.a. 2008: 15). Als Autor/ innen steht ihnen dabei jedoch das besondere Instrument des (literarischen) Schreibens sowie die damit in Zusammenhang stehenden Möglichkeiten der Selbstreflexion und autobiographischen Rückbesinnung zur Verfügung. Ich möchte zudem vorausschicken, dass ich aus den genannten Gründen in Bezug auf die Aspekte der Identitätskonstruktion bei der folgenden exemplarischen Auseinandersetzung mit Texten mehrsprachiger Autor/ innen, konkret an solche sozialpsychologischen und linguistischen Positionen anknüpfe, die sich zentral mit der Erforschung lebensgeschichtlicher Zusammenhänge beschäftigen (vgl. Lucius/ Deppermann 2004; Straub 2019a). In dem Bestreben, die „psychosozial[e] Tiefenstruktur“ von Personen zu erfassen bzw. zu beschreiben, wird aus dieser Perspektive Identität (bzw. die personale Identität) als „eine offene, in sich differenzierte und dynamische Struktur der kommunikativen Selbstbeziehung einer Person“ aufgefasst (Straub 2019f: 35). Dabei wird dem Erzählen, genauer gesagt dem Selbst-Erzählen ein zentraler Platz eingeräumt. Dieses gilt „als einer der wichtigsten Modi der Bildung, Reproduktion und Transformation personaler Identität“ (Straub 2019e: 55.). Dieses Verhältnis, das eine Person zu sich selbst gestaltet, bedeutet vor allen Dingen auch, dass sie zeitliche Bezüge herstellt, wobei die eigene Biographie als „Erfahrung persönlicher Zeit“ (Straub 2019e: 65; vgl. dazu auch Fivush/ Hessel 2010: 46-48) aufgefasst wird. Vergangenes Leben wird somit auf einer Zeitachse angeordnet und im Rückgriff auf das autobiographische Gedächtnis narrativ oder auch in anderen möglichen Formen der Selbstthematisierung konstruiert. Da dieses nicht als ein statisches, unveränderliches ‚Archiv‘ verlässlich zur Verfügung steht (vgl. Welzer 2011: Kap. X), sind sämtliche Rekonstruktionen notwendigerweise unvollständig und fragmentarisch. 122 Da jegliche Selbstbeobachtung und Selbstreflexion immer nur eine Art Momentaufnahme repräsentiert, die prinzipiell immer wieder aufs Neue transformiert, rekonstruiert und ausgehandelt werden 122 Straub hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass die menschliche Vergangenheit nicht „technisch“ vermittelbar ist. „Sie lässt sich nicht in einem neutralen technischen Medium ‚ablegen’ und nach Belieben wieder ‚hervorholen‘. Sie ist vielmehr das stets unfertige, also veränderliche Produkt von aktiven Gedächtnisbzw. Erinnerungsleistungen, und für diese Akte sind Selektivität, Relevanzsetzung, symbolische Geformtheit und andere Merkmale hermeneutisch vermittelter Konstruktionen konstitutiv“ (Straub 2019e: 71). Identität 107 kann, ist das „sich beobachtende und auf sich besinnende Selbst“ (Straub 2019e: 59) stets im Wandel begriffen und seine (narrativen) Identitätskonstruktionen haben den Charakter der Vorläufigkeit und der Unvollendbarkeit. Vergangenheit ist folglich immer im Plural zu denken, da vergangenes Geschehen immer wieder neuinterpretiert werden kann und somit die Deutung vergangener Handlungen und Ereignisse ein wandelbarer und niemals abzuschließender Prozess ist, der jedoch als Voraussetzung für das Erlangen von Orientierung und Handlungsfähigkeit gelten kann. Formen der Selbstnarration und -reflexion tragen so gesehen zur umfassenden Stabilisierung einer Person bei. Ausgehend von der oben skizzierten, grundsätzlichen Einsicht, dass personale Identität narrativ konstruiert und vermittelt wird, stellt sich in Bezug auf die in dieser Studie zitierten Textpassagen der mehrsprachigen Autor/ innen zudem das Problem einer textuellen Zuordnung. Bei den Zitaten handelt es sich um Auszüge aus längeren Texten, oft auch um später verschriftlichte Gesprächsäußerungen, deren grundsätzliche Relevanz für die Untersuchung dieses spezifischen Erfahrungsspektrums der Mehrsprachigkeit bereits an anderer Stelle dargestellt wurde (vgl. Kap. 1.1). 123 Als Rekonstruktionen von Vergangenheit(en) bieten sie notwendigerweise jene reduzierte und thematisch festgelegte Sicht, die als Priorisierung und Deutungsleistung der Autor/ innen zu verstehen ist, d.h. sie vermitteln das, was diese zum Zeitpunkt der jeweiligen schriftlichen oder mündlichen Äußerung für bedeutsam halten und/ oder, was ihnen ggf. auch unter dem Aspekt der Adressatenorientierung für mitteilenswert erscheint. 124 123 Vergleiche dazu auch die Äußerungen von Straub im Zusammenhang mit der Analyse des autobiographischen Textes „Lost in Translation“ (Eva Hoffman 1989), die er als „autobiografisch-interkulturelle Erzählung“ par excellence beurteilt. Das hier vermittelte „kunstvoll erzählt[e] Selbst“ spreche Leser/ innen unmittelbar an und verdeutliche auf interessante und nachvollziehbare Weise die „Allgemeingültigkeit subjektiver Erzählungen“. Für die wissenschaftliche Forschung ergeben sich hieraus detaillierteste Einsichten in die psychosoziale Verfasstheit von Subjekten im Kontext von Migration, d.h. u.a. in deren „individuelle Wünsche, Ziele und Handlungspotenziale“ (Straub 2019d: 144-147). An anderer Stelle verweist Straub auf die seit geraumer Zeit von der narrativen Psychologie gewonnenen Erkenntnisse, die literarische Selbstnarrationen „streng wissenschaftliche[n]“ Erzeugnissen gegenüber für überlegen halten. Dies wird vor allem auch mit der Tatsache begründet, dass sich die Erzählenden hier den für ihre Ausführungen notwendigen Raum selbst bestimmen können, und sie „beschreiben und erklären Lebensereignisse und -entwicklungen so extensiv und intensiv, wie sie es nun einmal nötig haben“ (Straub 2019d: 185; vgl. auch Straub 2019b: 199f.). 124 Hierbei muss u.a. auch die besondere Stellung dieser Autor/ innen als ‚öffentliche‘ und teilweise sehr bekannte Personen in Betracht gezogen werden. Die Tatsache, dass sie von einem Lesepublikum und/ oder Auditorium ausgehen können, das ihre 108 Identität Diese notwendige Engführung der Perspektive setzt sich nolens volens mit der von mir vorgenommenen untersuchungsrelevanten Ausschnittbildung fort. Als ‚Narrative‘ haben die Texte, aus denen zitiert wird, sehr unterschiedliche Formen. 125 Gemeinsam ist ihnen allerdings, dass die Autor/ innen im Modus der Selbstreflexivität, die für ihre personale Identitätsbildung als signifikant erachteten Lebensereignisse darstellen und ggf. ästhetisch ausgestalten, sich oft mit sprach- und literaturtheoretischen Positionen argumentativ auseinandersetzen und dabei insbesondere eigene (literarische) Schreibpositionen bzw. m ö g l i c h e S c h r e i b i d e n t i t ä t e n reflektieren und konstruieren. Als übergeordneter thematischer Bezugspunkt fungiert das Erleben der eigenen Mehrsprachigkeit und literarischen Mehrschriftlichkeit im gesellschaftlichen Spannungsfeld von Migration, wobei die Texte ‚episodisches Erzählen‘ im engeren Sinn enthalten/ umfassen können (vgl. dazu u.a. Lucius-Hoene/ Deppermann 2004b: 17-45), aber nicht müssen. 126 Vor dem Hintergrund des Eingangs skizzierten Identitätsdiskurses können die Texte bzw. die Textausschnitte schließlich als narrative Selbstkonstruktionen gelten, als ‚ordnender Blick‘ in die Vergangenheit, der die Funktion der Selbstvergewisserung, (momentanen) Standortbestimmung und einer möglichen, damit einhergehenden erweiterten Handlungsfähigkeit beinhaltet. 127 Eine Besonderheit ergibt sich aus dem Umstand, dass diese narrativen Selbstkonstruktionen ‚doppelbödig‘ sind: Einerseits konstituieren sie symbolisch verfasste Identitätskonstruktionen, andererseits reflektieren die Autor/ innen aus einer selbstdistanzierenden Metaperspektive genau jene für sie bedeutsamen Aspekte und Phasen dieses Prozesses. Im Anschluss an diese Ausführungen werde ich vor allem der Frage nachgehen, w i e Autor/ innen das Thema der Identität im Einzelnen darstellen bzw. in welcher Weise sie ihre damit verbundenen, individuellen Lebenserfahrungen (narrativ) rekonfigurieren. In den beiden Publikationen von Vladimir Vertlib, in denen er in verschiedenen Textpassagen den Aspekt der Identität reflektiert, handelt es sich einmal um die Ausarbeitungen der 2006 an der Dresdner Universität gehaltenen Poe- Texte auch zu jedem beliebig späteren Zeitpunkt rezipieren kann, führt m.E. zu einer vergleichsweise sorgfältigen Planung und bewussten (auch literarästhetischen) Gestaltung. 125 Vergleiche dazu die vielfältigen Formen des Erzählens (Straub 2019c: 228f.). 126 In der gesamten Untersuchung orientiert sich dabei die Auswahl der als erkenntnisrelevant eingestuften Zitate an den unterschiedlichen theoretischen Sichtweisen, die in den einzelnen Kapiteln entfaltet werden. Dennoch sind die Textpassagen eng miteinander verzahnt. 127 Inwieweit sich diese Funktion generell auf die literarische Produktion der Autor/ innen ausweiten und ggf. diversifizieren lässt, wird dabei im Rahmen dieser Studie nicht untersucht. Identität 109 tikvorlesungen mit dem Titel „Spiegel im fremden Wort“ und den 2012 herausgegebenen Sammelband, „Ich und die Eingeborenen. Essays und Aufsätze“, auf den ich bereits Bezug genommen habe (vgl. Kap. 3.3). In den Vorlesungen stehen poetologische, das eigene Schreiben wie auch andere Literaturen betreffende Aspekte im Zentrum. Im zweiten Band handelt es sich um Texte, die nach thematischen Blöcken angeordnet und immer wieder über den Horizont der Selbstreflexion hinausgehen, um sich mit Fremd- und gesellschaftlichen Umbrucherfahrungen auseinanderzusetzen. In diesem Sinne verortet Teufel im Vorwort Vladimir Vertlibs Autorschaft und seine literarischen Mitteilungsabsichten als die einer littérature engagée, deren wichtige Aufgabe darin besteht, den möglichen Ursachen für gesellschaftliche Ausgrenzungsphänomene nicht nur nachzugehen, sondern diese durch die Schaffung eines „Gegenmodell[s]“ möglicherweise „zu überbrücken“ (Teufel 2012: 13). 128 Nicht nur im ersten Themenblock, in dem explizit autobiographische Texte zusammengestellt sind, sondern auch in den folgenden, in denen Vladimir Vertlib ausführlich auf eigene Leseerfahrungen eingeht, über literarische Vorlieben berichtet und literaturkritische Überlegungen entfaltet, sowie in den Poetikvorlesungen kommt er immer wieder auf seine eigene Erlebnissphäre zurück. Anders ausgedrückt, das narrative Selbst in diesen Texten erzählt, kommentiert und reflektiert im autobiographischen Rückbezug die erlebte Vergangenheit. In den beiden folgenden Zitaten werde ich genauer der Frage nachgehen, in welcher Weise hierbei personale Identität thematisiert und narrativ (re-)konstruiert wird. (Zitat 1) Als ich fünf Jahre alt war, mussten meine Eltern aus der Sowjetunion emigrieren. Eine zehn Jahre dauernde Odyssee über mehrere Exilstationen, zu denen Israel, Italien, die Niederlande und die USA zählten, führte meine Eltern und mich schließlich nach Wien. Als Erwachsener übersiedelte ich ein weiteres Mal, kam aber diesmal „nur“ bis Salzburg. Grenzregionen interessieren mich, weil in ihnen die (auch mir selbst eigenen) Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten von Identitäten schärfer zu Tage treten als anderswo. Neben der Selbstverständlichkeit, mit der man auf die andere Seite der Grenze wechselt und sich in einem anderen kulturellen, politischen, oft auch sprachlichen Raum zurechtfindet, besteht die Tendenz, die eigene Zugehörigkeit zu betonen, den Zwischenbereich als Zentrum, den Rand als Mitte zu sehen. Diese Haltung kann kreatives Potenzial freisetzen, andererseits kann sie aber auch - da Uneindeutigkeit immer auch Bedro- 128 Vergleiche dazu die Überlegungen von Straub (2019e: 64f.), der mit Bezug auf Austin auch den „illokutionären Sinn“ autobiographischen Erzählens betont. Die von ihm dabei genannte „appellative Anrede“ mit der entsprechenden Handlungserwartung trifft natürlich auch insbesondere auf gesellschaftskritische literarische Texte zu. 110 Identität hung bedeutet - zum bequemen Rückzug hinter allzu klare Zuordnungen und Vorstellungen verleiten (Vertlib 2012b: 115). In dieser kurzen Passage, aus dem Text mit dem Titel „Das Exemplarische im Besonderen. Eine Reise nach Hohenems“, ist die Schilderung der Migrationsbewegungen seiner Familie, die er als Kind und als Jugendlicher mitvollzieht, der Ausgangspunkt für die räumliche Positionierung, der eine signifikante Selbsteinschätzung folgt: Nicht die der Migration inhärente Dynamik setzt er in Bezug zu seinem Selbst, sondern den Aufenthalt an solchen Orten, an denen unvermeidliche Begrenzungen, zunächst ins Auge fallen. Diese, im Text konkret lokalisierten „Grenzregionen“ begünstigen - nur scheinbar im Widerspruch zu ihrer ‚Rahmung‘ - einen Prozess der Selbsterkennung und stärkeren Profilierung. Dieser ermöglicht wiederum Neupositionierungen in einem „Zwischenbereich“. Fast scheint es, als würden diese Regionen, die einen schnellen Raum- und damit Sprach- und Kulturwechsel ermöglichen, der permanenten Fluidität und Nichtfestgelegtheit des Selbst Einhalt gebieten - ganz so, als ob sie einen Augenblick des Innehaltens und ‚Selbst-Gewahrwerdens‘ ermöglichten. Dabei verschieben sich die Koordinaten: Marginale Orte - aus geografischer, wie soziokultureller Perspektive - konstituieren gleichzeitig eine Denkfigur, indem sie als Zentrum und als ‚Kreuzweg‘ reflektiert werden, an dem zwei Möglichkeiten personaler Entwicklung aufscheinen: Einmal, die Ausschöpfung eines hier entstehenden besonderen kreativen Potentials. Andererseits die Zuflucht zu bekannten Bewertungen und Kategorisierungen, als Schutzreaktion auf das Gefühl jener existenziellen Verunsicherung, das generell mit dem Bewusstsein der Fragilität personaler Identität einhergehen kann. (Zitat 2) Seit meiner Kindheit schreite ich die Räume zwischen den Fixpunkten von Identität und Zugehörigkeit ab, ohne jemals ans Ziel zu gelangen. Das mag schmerzvoll sein, schärft aber, wie mir scheint, im steten Wechsel von Distanz und Nähe den Blick für das Wesentliche. Allerdings wirkt dieser Wechsel jener Haltung entgegen, mit der andere die Welt wie selbstverständlich für sich selbst in Anspruch nehmen. Wieder andere sehen den Zwischenraum als Endpunkt an, in dem sie reglos ausharren, oder erheben das Wegschauen zur Methode. Jeder hat das Recht, auf seine eigene Art das Leben zu meistern. Wem dabei das Vergessen gelingt, wird vielleicht kurzzeitig zur Ruhe kommen, auch wenn er dafür mit Blindheit und Taubheit bezahlen muss. Für mich jedoch ist Erinnerung eine unverzichtbare Bedingung, mit mir selbst im Einklang zu bleiben. Nicht die Bewältigung des Unbewältigbaren ist dabei entscheidend, sondern dessen Akzeptanz. Auch wenn nicht alle Ambivalenzen auflösbar, Verstimmungen, Ängste und Aggressionen überwindbar sind, so bleibt Identität 111 zumindest die Möglichkeit, sie als ständige Begleiter seines Lebensweges anzuerkennen (Vertlib 2012j: 49). In diesem zweiten Textausschnitt, der der autobiographischen Skizze Träume (2012j) entnommen ist, thematisiert Vladimir Vertlib explizit seinen Prozess der Identitätsfindung. Auch wenn der Begriff ‚Identität‘ als Antithese zu dem Begriff „Zugehörigkeit“ etwas konturlos bleibt, lässt er sich dennoch als Ausdruck des Gefühls der Kohärenz, des ‚Einklangs mit sich selbst’ begreifen, die einer Identitätskonstruktion in Abhängigkeit selbstgewollter oder gesellschaftlich eingeforderter Adaptionsleistung gegenübersteht. Dieser Konstruktionsprozess wird als ein kontinuierliches ‚Schreiten‘ zwischen diesen beiden „Fixpunkten“ metaphorisiert, dem kein Einhalt geboten werden kann und der somit zwar einerseits eine Leidenserfahrung markiert, andererseits jedoch eine ‚sinnvolle‘ Fokussierung der Wahrnehmung bedeutet, indem „das Wesentliche“ genauer erfasst werden kann. Auch hier wird ein Zwischenbereich reflektiert - jedoch mit deutlicher Kritik an jenen „andere[n]“, die diesen „Zwischenraum“ nicht als Möglichkeit für Fortbewegung und -entwicklung nutzen, sondern sich selbst blockieren und jegliche Teilhabe an dem sie umgebenden Geschehen verweigern. 129 Ein zentraler Bezugspunkt in diesen Selbstreflexionen ist die Erinnerung, deren persönlichkeitsstabilisierende Funktion hervorgehoben wird. 130 Die Aktivierung des episodischen Gedächtnisses (vgl. u.a. Pethes/ Ruchatz 2001: 142f.) bedeutet dabei einen Schritt hin zu einer deutlicheren Selbstwahrnehmung und besseren Lebensführung. 131 Die mehrsprachige Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Autorin eines umfangreichen und mehrfach ausgezeichneten literarischen Oeuvre, Ilma Rakusa konturiert in ihrer ersten Dresdner Poetikvorlesung rückblickend ihre Identitätsfindung in engem Zusammenhang mit ihrer S p r a c h b i o g r a p h i e (vgl. Rakusa 2020; Schmitz 2020). Ebenso wie Vladimir Vertlib nimmt sie dabei eine topographische Verortung in Grenzregionen vor - im Spannungsfeld von Bewegung und Begrenzung. 129 In diesem Gedanken klingt m.E. die literarische Konzeption von Vladimir Vertlib an, der mit seinen Texten gesellschaftspolitische Problemfelder vor allem auch vor dem Hintergrund von Migrationen zur Sprache bringen möchte. 130 Diese ‚Innenschau‘, die Vladimir Vertlib hier als Voraussetzung für die Rekonstruktion eines ganzheitlichen Selbst skizziert, mit dem Ziel, sich selbst ‚annehmen‘ zu können, weist Parallelen zur Vorgehensweise bestimmter Psychotherapien sowie der ‚klassischen‘ Psychoanalyse auf (vgl. List 2014: 265-267). 131 Von Bedeutung für diese Überlegungen von Vladimir Vertlib, der damit m.E. auch auf seine Autorschaft anspielt, ist die Erkenntnis, dass Erinnerungen in besonderer Weise „in Orientierung an narrative Schemata gebildet und rekonstruiert“ werden (Kölbl/ Straub 2001: 40). 112 Identität Im Narrativ, der als „poetische[] Identitätsdefinition“ bezeichneten Textpassage, berichtet sie davon, dass sie nur „Luftwurzeln“ und keinerlei Gefühl einer konkreten, nationalen bzw. länderspezifischen Zugehörigkeit verspüre. Als „Heimat“ könne sie „nur die Sprache und die Literatur“ bezeichnen. Beim Versuch der Rekonstruktion ihrer lebensgeschichtlichen Vergangenheit (vgl. dazu Straub 2019e: 73f.), kann sie lediglich „Ansätze, Anwandlungen einer nostalgisch gefärbten Vertrautheit“ nennen. Dazu gehört etwa das „Mariatheresiagelb kakanischer Bauten“, der „Braunkohlegeruch (der meine Kindheit neben dem Rangierbahnhof von Ljubljana begleitete)“ und die „österreichisch-ungarisch[e] Küche (mit Gulasch, Palatschinken, Mohnstrudel)“. Bereits diese wenigen zitierten Facetten visueller, olfaktorischer und gustativer Eindrücke, transportieren Elemente des Kulturübergreifenden, Kosmopolitischen, das in vielen Selbstnarrationen von Ilma Rakusa als grundlegendes Lebensgefühl erkennbar ist. Jene Öffnung und Erweiterung des Horizonts, die sie durch die Wahrnehmung des „Nebeneinander[s] von Synagoge und katholischer Kathedrale, von einem griechischen und einem serbischen Gotteshaus“ exemplifiziert, prägt sich ihr in besonderer Weise ein. Aus ihrer heutigen Perspektive der autobiographischen Reflexion, der Deutung und Ordnung der für sie bedeutsamen Elemente ihrer Kindheitserfahrungen, gelangt sie jedoch auch zur Erkenntnis der (paradoxen) Komplementarität von Kosmopolitismus und Begrenzung. Erfahrungen mit Grenze im konkreten Sinn, die sie in Triest „hautnah“ durch die „promenierenden alliierten Soldaten“ (Rakusa 2006b: 9) erlebt, interpretiert sie als Differenzerfahrung, die sich im Verlauf ihrer verschiedenen Lebensstationen fortsetzen soll. Diese ist zwar angstbesetzt, stimuliert aber vor allem ihre Neugier und schärft den Blick und das Ohr (! ) für weitere (fremdkulturelle) Erfahrungen. In dieser Hinsicht bedeutet jedes Passieren einer Landesgrenze die Chance für Neuentwürfe und entspricht damit dem Konzept der unablässigen Konstruktion und Rekonstruktion des Selbst. Aus der (erinnerten) Kindheitsperspektive entfaltet sich hier die Lust an Entdeckungen und der ‚Eroberung‘ von Welt: Was war im neuen Land anders? Wuchsen die Bäume größer, sahen die Menschen freundlicher aus? Das Auge entdeckte nicht viel, aber das Ohr merkte auf: plötzlich verstand ich nicht mehr, was um mich herum geredet wurde (Rakusa 2006b: 10). Mit der daraus resultierenden Erkenntnis, „dass Fremde hieß, die Sprache nicht zu verstehen“ vermittelt sie narrativ ein wesentliches, ihre Identitätskonstruktion auslösendes Element. Die Erfahrung der Kommunikationslosigkeit in fremdsprachiger Umgebung bewirkt eine produktive Dynamik, nämlich den Wunsch nach Fortbewegung und Weiterentwicklung. Damit ist das Gegenteil jenes Identität 113 angstbesetzten Verharrens in einem von Verlustgefühlen geprägten Zustand benannt. Begrenzungen werden von Ilma Rakusa somit als Herausforderung verstanden und münden in die Überzeugung, „daß die Barrieren des Fremden überwindbar waren, daß Grenzen relativ sind“ (Rakusa 2006b: 10). Diese prägt ihren ganzen späteren Schreibprozess und weist möglicherweise auf jene Freisetzung von kreativem Potenzial hin, von der auch bei Vladimir Vertlib die Rede ist (vgl. Zitat 1, S. 109f.). In ihren Schriften kommt Ilma Rakusa immer wieder auf ihre ‚Grenzerfahrungen‘ zurück: In der narrativen Rekonstruktion ihrer durch Umbrüche und sprachlich-kulturelle Diskontinuität geprägten Kindheit wird die Erfahrung von Grenze und Begrenzungen nicht nur als ‚Grunderfahrung‘ interpretiert, die ihre gesamte spätere Lebenseinstellung beeinflusst, sondern auch als wichtiger Impuls für die Entfaltung ihrer S c h r e i b i d e n t i t ä t - sie sieht sich als „schreibend[e] Grenzgängerin und Übersetzerin“. Anders als bei vielen der hier besprochenen mehrsprachigen Autor/ innen 132 wird ‚Grenze‘ in ihren Überlegungen positiv konnotiert und metaphorisiert, als ein besonderer, geradezu herausragender Ort „der Passage, des Transports und Transfers, sie ist Knotenpunkt, Kreuzweg und Durchgangsschleuse“, und sensibilisiert „für Vielfalt und für die Spannung zwischen Innen und Außen, zwischen Vertraut und Fremd, zwischen Nah und Fern.“ Die dort erzeugte Spannung stimuliert sie in außerordentlicher Weise, indem sie die Grenze „in ihrer (produktiven) Doppeldeutigkeit“ erlebt, „nämlich als Schranke und Brücke in einem“: Und als ich mich schreibend daran machte, imaginäre Welten zu bauen, orientierte ich mich an den Topoi des Grenzgängertums: an Abgrenzung, Transgression und Demontage ebenso wie an der Herstellung von Zusammenhängen (Rakusa 2006b: 10). Ilma Rakusa beschreibt Grenzen als Möglichkeiten des Wachstums und als Orientierungshilfen für die Konstruktion ihrer T e i l i d e n t i t ä t (vgl. dazu Keupp u.a. 2008: 218f.) als mehrsprachige Autorin, die beständig in Bewegung ist, „zwischen sinnlich-realer und imaginativer Exploration“ (Rakusa 2006b: 15). Darüber hinaus betont sie, dass die Konzeption ihres lebensgeschichtlichen Schreibens darin besteht, dass ihre persönlichen Erfahrungen grundsätzlich den Ausgangspunkt für die Gestaltung ihrer literarischen Welten markieren. Ihre Aussage, dass sie dabei immer auf der Suche nach adäquaten Formen sei, dass diese „Sehnsucht nach der Form“ einer ihrer „Hauptimpulse“ darstelle, was sie darüber hinaus als „ein genuin mitteleuropäisches Streben“ erachte, steht m.E. in unmittelbarem Zusammenhang mit der genannten Bedeutung, die sie 132 Vergleiche etwa die Überlegungen von Saša Stanišić (vgl. Kap. 11.1). 114 Identität Grenzen und Begrenzungen für ihr eigenes Wachstum beimisst - nämlich als Chance für positive Abgrenzung und als mögliches Ordnungsprinzip im Verlauf der unaufhaltsamen Bewegungen in Zeit und Raum. An anderer Stelle nennt sie einen weiteren Aspekt ihres schreibästhetischen Konzepts, das sie als „eine Poetik des Nomadischen“ versteht, die nicht kategorisiert werden kann, sich nicht „auf feste Koordinaten“ stützt und sich in kein System pressen lässt. Somit erklärt sie „Bewegung“ zum „Grundtopos“ ihres Schreibens, mit den entsprechenden Topoi: Reisen, Gehen in der Natur, Flanieren usw. Das Haus als geschlossener Raum birgt die Gefahr der Stagnation, des Gefangenseins in der Seßhaftigkeit. Meine Figuren ringen um ihre (Bewegungs-)Freiheit, nicht zuletzt in ihren Beziehungen. Wo die Starre einbricht, ist das Ende präjudiziert (Rakusa 2006a: 99). Identität zu konstruieren bedeutet nicht nur, dass lebensweltliche Kontexte kontinuierlich erkundet und erprobt werden müssen, sondern auch, dass der Einzelne im interaktiven Aushandlungsprozess lernen muss, auch kritische Haltungen einzunehmen und zu vertreten. Nach Keupp u.a. (2008) handelt es sich dabei um jenen „Prozess der konstruktiven Selbstverortung“, in dessen Verlauf die einzelnen Personen „Erfahrungsfragmente in einen für sie sinnhaften Zusammenhang bringen müssen“. Diese „individuelle Verknüpfungsarbeit“ wird dabei als „Identitätsarbeit“ aufgefasst, wobei auch T e i l i d e n t i t ä t e n gebildet werden können (Keupp u.a. 2008: 9). Diese entstehen nach Keupp u.a. „über die Reflexion situationaler Selbsterfahrungen und deren Integration“. Das Subjekt entwickelt dabei ein Bild von sich selbst, „in dem die vielen Facetten seines Tuns übersituative Konturen erhalten“ (Keupp u.a. 2008: 218f.). 133 Vladimir Vertlib, der sich immer wieder intensiv mit der Identitätsproblematik auseinandersetzt, bezeichnet beispielsweise seine Identität als „Zwischenwelt“, als „Bereich zwischen den Kulturen“, den er ruhelos durchqueren muss. Für sein bei Lesungen anwesendes Publikum halte er folgenden Satz bereit: Je nach Ort, Umgebung und Lebensphase bin ich meiner österreichischen, jüdischen, russischen oder eine meiner anderen Identitäten näher, doch keine von ihnen ist etwas Konstantes, sondern ist mit zunehmendem Alter Veränderungen und Neubewertungen unterworfen … (Vertlib 2012l: 148). 133 Keupp u.a. führen weiter aus, dass dies beispielsweise zu „Typisierungen der eigenen Person als ‚Berufstätiger‘“ führen könne. Als mögliche Bereiche der Ausprägung von Teilidentitäten führen die Autor/ innen die Bereiche Arbeit, Freizeit und Familie an (2008: 217f.). Identität 115 Er kommentiert ihn dann selbstkritisch als „ein bisschen zu programmatisch“: Je nach Tonlage wirkt er entweder abgehoben oder rührselig, und seine Aussage ist viel simpler als die Abgründe, die hinter der Realität oder - besser gesagt - unter ihrer Oberfläche liegen. Das schmälert allerdings nicht seine Authentizität (Vertlib 2012l: 148). In Bezug auf seine Identität führt er weiter aus, dass seine Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits aus Weißrussland kommen Er sei somit „neben meinen anderen ‚Identitäten‘ außerdem ein ‚Litvak‘“ 134 . Diese T e i l i d e n t i t ä t sei aber zum großen Teil erfunden, eher der „Phantasie als der Realität“ entsprungen. Obwohl „das Ganze [vielleicht] nichts weiter als ein schöner Gedanke ist“, ist diese, so Vladimir Vertlib, „phantasierte Identität mehr als nur reine Fiktion“. In jedem Fall ist sie das Ergebnis eines individuellen Konstruktionsprozesses (s.o.) und diese „Livak-Identität“ scheint ein wichtiger Bezugspunkt in diesem Passungs- und Aushandlungsprozess zu sein. Sie verschafft ihm ein Gefühl der familiären Bindung und Zugehörigkeit: Die Rationalität meiner Mutter, der hohe Stellenwert, der in unserer Familie der Bildung und dem logischen Denken beigemessen wurde, und die Nüchternheit, mit der ich oft mein eigenes Leben betrachte, können neben persönlichen Faktoren auch auf die Prägung meiner Vorfahren durch eine bestimmte Denkweise des Judentums hinweisen (Vertlib 2012l: 149f.). Dass dieser Prozess der Herausbildung von Teilidentitäten aus einer Reihe komplexer Anpassungsleistungen, Desorientierungen und kritischer Selbstbeobachtungen bestehen kann, lässt Vladimir Vertlib in seinen autobiographischen Texten immer wieder anklingen. Selbstironisch vermerkt er rückblickend, dass er sich mit zunehmendem Alter in „Sprache, Mentalität und Gehabe den Eingeborenen“ anpasst. Der Anpassungsprozess scheint so unaufhaltsam und effektiv 134 Vladimir Vertlib versucht an dieser Stelle sehr genau den betreffenden kulturhistorischen Kontext zu erhellen, der den meisten Lesern nicht geläufig sein dürfte. Er führt aus, dass „als Litvaks Juden bezeichnet [werden], deren Vorfahren aus dem Gebiet des einstigen Großfürstentum Litauen stammen. Dieses deckte weitgehend die Territorien der heutigen Republiken Litauen und Belarus ab. Die ‚litauischen‘ Juden unterscheiden sich von anderen Ostjuden nicht nur durch eine spezifische Aussprache des Jiddischen und einige andere Aspekte ihrer Alltagskultur, sondern vor allem durch ihre ‚puristische‘ Auslegung des jüdischen Glaubens. […] Den Ostjuden aus dem Süden galten die Litvaks als vergeistigt und trocken, als emotionslose Stoiker, denen nicht ganz zu Unrecht Hochmut unterstellt wurde: Viele Litvaks bezeichneten ihre weiter im Süden lebenden Glaubensbrüder als irrational und ungebildet (Vertlib 2012l: 149f.). 116 Identität zu sein, dass er „bei oberflächlicher Betrachtung, nicht mehr von ihnen zu unterscheiden“ ist. Zu den Eltern entwickelt er dabei ein ausgesprochen distanziertes Verhältnis. Er hat für sie zwar „Verständnis“, fühlt sich ihnen aber überlegen und schaut „mit gelassenem Wohlwollen“ auf sie herab. Das Ungefestigte seiner Existenz und die Unsicherheit in Bezug auf seine eigene Identität ist den hierauf folgenden Äußerungen zu entnehmen: Sobald ich aber mit russischen Emigranten beisammen war, änderte sich meine Einstellung. Augenblicklich wechselte ich meinen Assoziationshintergrund einfach aus. Ich passte mich nicht nur an, ich dachte tatsächlich anders und legte mein anderes Ich temporär ab. Die Österreicher wurden wieder zu fremden Eingeborenen, materialistisch, pedantisch und allesamt ein klein wenig beschränkt. Man lachte über ihre Problemchen, und ich lachte mit, hatte aber Verständnis ... (Vertlib 2012g: 17). Die Bedeutung der eigenen S p r a c h l i c h k e i t für den Prozess der Identitätskonstruktion ist erwartungsgemäß in zahlreichen Texten mehrsprachiger Autor/ innen ein zentraler Gegenstand. Dabei handelt es sich um „autoepistemische Suchbewegungen“ (Lucius-Hoene/ Deppermann 2004b: 67), mit denen sie ihr Selbst in der Herkunftssprache und/ oder in der Fremdsprache, reflektieren. Diese Form der Selbstpositionierungen werfen nicht nur ein Licht auf den Grad ihrer Identifizierung mit der jeweiligen Sprache sowie auf das Gefühl von Fremdheit in dem jeweiligen kulturellen Umfeld, sondern auch auf die Art und Weise, wie sie die Wahrnehmung durch Andere erfahren und emotional verarbeiten. Die Selbstäußerungen von Francesco Micieli sind ein Beispiel dafür. Er wächst als gebürtiger Arbëresh mit einer Varietät des Albanischen auf, das noch heute von der in Süditalien ansässigen albanischen Minderheit gesprochen wird. Sie spielt in seiner Kindheit eine dominante Rolle. Das Deutsche sowie die Varietät des Schweizerdeutschen erlernt er erst 1965, im Zuge der Arbeitsmigration in die Schweiz: Das „Ich“ ist in der Sprache und das Fremde in der Kultur. Was hier fast als Motto daher kommt, ist zutiefst wahr. Ich erlebe es im Ankunfts- und im Herkunftsland. Mein Ich findet im Italo-Albanischen, im Italienischen statt. Im Land selber bin ich fremd geworden. Ich denke nicht mehr wie sie. Aber die Sprache lässt mich Subjekt sein. Meine Aussprache im Italienischen weist nicht auf eine bestimmte Region hin. Ich spreche ohne Färbung. Ich bin lo Svizzero, der Schweizer. Mein Berndeutsch hört sich ganz echt an. Man denkt nicht an eine Imitation. Mein Berndeutsch ist eine Muttersprache meiner dritten Geburt. In der Gesellschaft bleibe ich aber der Andere. Der Italiener. Der Michelin, der Mikeli, der Mikieli, der Mitschel, der Michel. Identität 117 Mein „Ich“ ist in den Sprachen und mein Fremdsein in der Kultur. Für dieses Gefühl habe ich das Wort mehrheimisch geprägt, das in bewusstem Gegensatz zu einheimisch steht (Micieli 2015b: 19). Die Fremdwahrnehmung in ihrer Bedeutung für die Verortung in der Fremdsprache und die Konturierung einer Schreibidentität klingt auch in dem folgenden Zitat von Marica Bodrožić an: Das Problem an Formulierungen wie „unsere Sprache“ oder „deine Heimat“ ist nicht, dass es sie gibt - wenn sie in der Welt sind, dann müssen sie auch betrachtet werden. Das Schwierige sind die Zuordnungen, die kleinen Rausschmisse, die Verweise auf einen anderen - inneren oder äußeren - Ort. Aber ich habe als Schreibende nichts anderes, außer der deutschen Sprache (Bodrožić 2008: 71). Aus den zitierten Passagen, in denen, die Autor/ innen die Auseinandersetzung mit ihrer Identitätskonstruktion, mal in anekdotischer, mal in eher nüchtern analytischer Form darstellen, kann m.E. deutlich der Stellenwert abgeleitet werden, den grundsätzlich das Schreiben narrativer und metasprachlicher Texte für sie als mehrsprachige Autor/ innen in ihrem, durch biographische Diskontinuitäten geprägten Leben einnimmt: Die Texte werden nämlich zu Schreibräumen, in denen sie wichtige Lebensphasen erzählerisch rekonstruieren und ihre n a r r a t i v e I d e n t i t ä t 135 nachhaltig entwerfen können. Ein zusätzlicher wichtiger Aspekt ist der, dass die narrative Selbstreflexion ein wichtiges Instrument für die Konstruktion der erwähnen Teilidentitäten ist. Durch Verdichtung biographischer Erfahrungen und Bewertungen der eigenen Person - auch in der Art, wie dies die mehrsprachigen Autor/ innen in ihren Texten tun - entsteht in der Folge ein I d e n t i t ä t s g e f ü h l, das sowohl das S e l b s t als auch das K o h ä r e n z g e f ü h l beinhaltet. Genauer gesagt beinhaltet es Bewertungen über die Qualität und Art der Beziehung zu sich selbst (Selbstgefühl) und Bewertungen darüber, wie die Anforderungen des Alltags bewältigt werden können (Kohärenzgefühl). Der dem Subjekt bewusste Teil des Identitätsgefühls führt im Prozess narrativer Verdichtung zur Darstellung 135 Das Konzept der narrativen Identität, wie es bereits seit den 1980er Jahren diskutiert wird, meint „die Einheit des Lebens einer Person, so wie diese Person sie in den Geschichten erfährt und artikuliert, mit denen sie ihre Erfahrung ausdrückt“ (Keupp u.a. 2008: 102). Die damit verbundene, grundlegende Vorstellung, dass Identität durch Narration, bzw. Selbstnarration konstruiert wird, wird bis heute von vielen Bereichen der (sprach-)biographischen und sozialpsychologischen Forschung vertreten und als eine „komplexe Sprechhandlung mit psychosozialen Funktionen“ verstanden (Hu 2019: 20). 118 Identität der eigenen Person in b i o g r a p h i s c h e n K e r n n a r r a t i o n e n (Keupp u.a. 2008: 217-226). 136 Diese Art der narrativen Selbstdarstellung kann vor allem in sprachbiographischer Forschung, in therapeutischen und in didaktischen Verwendungszusammenhängen erfolgreich eingesetzt werden. Für den hier interessierenden Prozess der Identitätskonstruktion mehrsprachiger Autor/ innen lässt sich m.E. somit aus dieser sozialpsychologischen Sicht schließen, dass das Schreiben sowohl der literarischen, als auch der selbstreflexiven Texte, in denen sie aus einer Metaperspektive heraus ihren Schreibprozess selbst thematisieren, ihr Identitätsgefühl in der beschriebenen Weise stabilisieren kann und insbesondere auch zur Konstruktion ihrer Sprachidentität beiträgt. Auf diesem Weg erschließt sich diesen Autor/ innen somit die Möglichkeit Identität in einem umfassenden Sinn zu ‚erschreiben‘. Francesco Micieli merkt dazu etwa an, dass „die autobiographische Suche“ bei ihm „immer mit einer Suche nach Sprache verbunden“ sei. Er geht sogar so weit hervorzuheben, dass „die Sprachfindung das zentrale Thema“ seiner Bücher sei. Schreiben hieße demzufolge „nicht Geschichten erzählen“, sondern „es wäre ein Zur-Sprache-Kommen“ (Micieli 2015a: 63). Im Hinblick auf seine konkrete sprachbiographische Situation begreift er Sprache als ein begrenztes Terrain, an dessen äusseren Rändern Bedingungen liegen. Ich habe das selber erlebt. Santa Sofia war für uns der Rand der Sprache, die Mauern der italienischsprachigen Schule waren es, und später für meine Eltern und mich die Grenze zwischen der Schweiz und Italien. Ich möchte den Sachen aus der Umgebung meines Lebens das Wort erteilen, denn sie selbst sind ja nicht episch redefreudig. Das ist für mich autobiografisches Schreiben. Das Leben soll so sehr zu Text werden, dass eine Verwechslung mit der Realität ausgeschlossen werden kann. Erzähltes Leben ist neues Leben, anderes Leben. Es hat so nie statt gefunden (Micieli 2015a: 64f.). 136 Keupp u.a. (2008: 58) zitieren dazu die von Ernst in seiner 1996 erschienenen Abhandlung „Psychotrends. Das Ich im 21. Jahrhundert“ geäußerte folgende Auffassung, die das Konzept der narrativen Identität m.E. sehr zutreffend kommentiert: „Erzählungen und Geschichten waren und bleiben die einzigartige menschliche Form, das eigene Erleben zu ordnen, zu bearbeiten und zu begreifen. Erst in einer Geschichte, in einer geordneten Sequenz von Ereignissen und deren Interpretation gewinnt das Chaos von Eindrücken und Erfahrungen, dem jeder Mensch täglich unterworfen ist, eine gewisse Struktur, vielleicht sogar einen Sinn“ (Keupp u.a. 2008: 202). 9 Emotionen Im Unterschied zu dem Aspekt der affektiven Verarbeitung (vgl. Kap. 7.2), bei dem die emotionale Disposition der Autor/ innen im Hinblick auf ihre Möglichkeiten der ‚Freischreibung‘ in der Fremdsprache aus der Distanz zur Herkunftssprache relevant ist, werde ich in diesem Kapitel die Funktion von Emotionen vorwiegend für den Prozess der Identitätskonstruktion diskutieren und zur Deutung ausgewählter Textpassagen mehrsprachiger Autor/ innen heranziehen. Im Einklang mit der Bedeutung, die die Sprachwissenschaft und insbesondere auch die Mehrsprachigkeitsforschung der Subjektperspektive von Sprecher/ innen in den letzten Jahren beimisst, spielt die individuelle Erlebnissphäre sowie die Situierung in sozialen Kontexten eine wichtige Rolle. Wie an Hand der bereits zitierten Textpassagen deutlich geworden ist, ermöglicht das Schreiben über sich selbst im autobiographischen Rückbezug den mehrsprachigen Autor/ innen generell Einsichten in Momente ihrer Lebensbewältigung und ihres literarischen Schaffens im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit, wobei die narrative Rekonstruktion und die damit einhergehende Selbstreflexion signifikanter Momente ihrer Identitätsentwicklung ausschlaggebend sind. Die Auseinandersetzung mit den zur Verfügung stehenden Sprachen und Varietäten wird erwartungsgemäß immer wieder fokussiert und muss als einer der zentralsten Faktoren ihrer Identitätskonstruktion gedeutet werden. Im engeren Sinn handelt es sich folglich um die allmähliche Herausbildung ihrer S p r a c h i d e n t i t ä t, 137 womit in gewissem Umfang auch ihre S e l b s t - u n d F r e m d w a h r n e h m u n g bzw. die (bewertende) S e l b s t - u n d F r e m d e i n s c h ä t z u n g in Bezug auf den Grad ihrer Fremdsprachenkompetenz tangiert werden: Je mehr die Autor/ innen von ihrem Ausdrucksvermögen im Deutschen selbst überzeugt sind, desto ausgeprägter ist ihr Wunsch, aber auch ihr Vermögen, dieses literarisch kreativ und anspruchsvoll zu gestalten. Der Grad der Identifizierung mit der Fremdsprache Deutsch, der sich (auch) daran ermessen lässt, wird schließlich dazu beitragen, dass sie ihre Literatur selbstbewusst(er) (öffentlich) vertreten können. Die Konstruktion einer (Sprach-)Identität als Prozess der allmählichen und unterschiedlich starken Identifizierung mit einer Sprache und/ oder Varietät wirft damit zwangsläufig die Frage nach den Emotionen auf, die diesen Prozess in den heteroglossischen, von Diskontinuität geprägten Lebenswelten der mehrsprachigen Autor/ innen prägen. Wie Sprachen erlebt werden, „wie sich Menschen selbst und durch die Augen anderer als sprachlich Interagierende wahrnehmen“ bedeutet folglich auch, die „emotionalen Erfahrungen“ als Mehrsprachiger, „ob man sich in einer Sprache bzw. im Sprechen wohlfühlt oder 137 Vergleiche zum Begriff der subjektzentrierten Sprachidentität exemplarisch Thim- Mabrey (2007: 1-18). 120 Emotionen nicht“, ernst zu nehmen und in die wissenschaftliche Untersuchung miteinzubeziehen (Busch 2021: 21; vgl. dazu auch Pavlenko 2005 und 2014; Acker/ Fleig/ Lüthjohann 2019). Die von Pavlenko (2014: 245-298) in den letzten Jahren durchgeführten Untersuchungen, aus denen ich eine Fallanalyse skizzieren möchte, bieten in dieser Hinsicht interessante und für meine Studie relevante Einblicke: In ihrer Auseinandersetzung mit den „emotional worlds“ mehrsprachiger Menschen verweist sie u.a. auch auf die Äußerungen von Marc Chagall und Tzvetan Todorov, die als Mehrsprachige in Paris lebten und arbeiteten. Übereinstimmend berichten beide, dass sie in bestimmten, von Emotionen geprägten Kontexten, eine größere Nähe zu ihrer Herkunftssprache verspürten. Chagall schrieb Gedichte, als „emotional outlet at times when he needs to express deep feelings but was unable to paint“ und er tat dies auf Yiddisch oder Russisch. Tzvetan Todorov berichtet, Pavlenko zu Folge, über seine Fremdsprache Französisch, dass sie eine ausschließlich instrumentelle Funktion für ihn gehabt habe und eben kein „object of affection“ gewesen sei (Pavlenko 2014: 249). 138 Die Aspekte, die ich im Folgenden erörtern und an Textausschnitten exemplifiziert möchte, berühren somit nicht nur das Problem der Annäherung und/ oder Entfernung von einer Sprache (vgl. Kap. 7), sondern vorrangig das Empfinden, das mit dieser Dynamik einhergeht bzw. von ihr ausgelöst wird. Folgende Fragen sind dabei besonders relevant: - Warum ist die Identifizierung mit einer Sprache möglich, mit einer anderen jedoch nicht, obwohl sie gleichfalls zum jeweiligen Sprachrepertoire gehört? - In welcher Sprache gelingt es am ehesten, zu einer Übereinstimmung zwischen Ausdruckswunsch und sprachlichem Ausdruck zu verspüren und welche Gründe werden von den Autor/ innen dafür angeführt? - In welcher Sprache können die mehrsprachigen Autor/ innen ihr Selbst am überzeugendsten, d.h. in einer für sie stimmigen Weise, erschreiben und welche Voraussetzungen sind dafür offensichtlich nötig? In Anlehnung an signifikante Resultate im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung, die sich vor allem auch kulturkontrastiven Aspekten widmen, begreife 138 Pavlenko führt an späterer Stelle die Untersuchungen des Chagall-Biografen Jackie Wullschlager an, der als Begründung für die Hinwendung Marc Chagalls zu seiner Erstsprache nicht nur mangelnde Sprachkompetenz angibt, sondern argumentiert, „that the artist displayed different affective styles in his respective languages“. Dennoch sei damit noch nicht die Frage beantwortet, ob es sich damit um „an idiosyncratic peculiarity of an eccentric genius“ handele, oder um „a reflection of different ‚cultural selves‘“ (Pavlenko 2014: 266). Emotionen 121 ich darüber hinaus E m o t i o n e n als eine soziale Kategorie. 139 Es handelt sich bei Emotionen folglich um soziale und historisch situierte Phänomene, wie Pavlenko hervorhebt. Aus einer kulturkontrastiven Perspektive führt sie darauf aufbauend aus, dass affective repertoires and socialization practices vary across languages, cultures, and historic periods, and, more specifically, across emotional communities, that is communities that share a common understanding of emotion standards and normative affective styles […] (Pavlenko 2014: 267). Damit im Zusammenhang sind jene signifikanten und äußerst schwierigen Aufgaben im Sinne kultureller Adaptionsleistungen zu sehen, die beim Erwerb und Gebrauch von Fremdsprachen generell bewältigt sein wollen und mit denen auch mehrsprachige Autor/ innen sich immer wieder befassen müssen, vor allem deshalb, weil sie kontinuierlich und intensiv ihre Sprachidentität immer wieder vermessen und erproben. Es handelt sich folglich auch um jene äußerst komplexe Aufgabe der Umstrukturierung auf allen Ebenen der Emotionsrepräsentation und -verarbeitung, die das spezifische Verhältnis, das sie zu ihren Sprachen und Varietäten entwickeln, determiniert. Dabei ist zu bedenken, dass Emotionen, wie im übrigen auch Bedeutungen, üblicherweise im sozialen Miteinander, der diskursiven Praxis einer bestimmten Sprechergemeinschaft erlernt, erprobt und ausgehandelt werden. Bei der Präzisierung dieser Aufgaben hebt Pavlenko nochmals die zentrale Funktion der Emotionen als emergente Phänomene hervor, die im Prozess der subjektiven Bewertung eingehender Stimuli im Sinne von Bedürfnissen und Zielen entstehen, die kognitive Bewertungen, physiologische Zustände, Verhaltensfolgen und Handlungen integrieren und schließlich zu kulturell angemessenen Reaktionen und Handlungsweisen führen (vgl. Pavlenko 2014: 252). Sprache wird dabei als ein vermittelndes Werkzeug gesehen, das den Erwerb von 139 Vergleiche dazu u.a. die kognitionslinguistischen Untersuchungen zum Verhältnis von Sprache und Emotion von Schwarz-Friesel (2007). Sie hebt hervor, dass anders als in der Sprachwissenschaft, die seit langem Sprache als ein „kognitive[s] Kenntnissystem mit bestimmten, genau identifizierten Einheiten, die zueinander in regelhaften Strukturrelationen stehen“ begreift, im Bereich der Emotionsforschung kein Konsens über Definitionen und/ oder theoretische Konzeptualisierungen bestehe. Unbestritten ist jedoch, dass Emotionen im „menschlichen Organismus so fest wie seine kognitiven Fähigkeiten [verankert] sind. Sie beeinflussen und begleiten die Handlungen von Menschen ebenso intensiv und nachhaltig wie die mentalen Denk- und Entscheidungsprozesse“ (Schwarz-Friesel 2007: 43f.). Vgl. dazu auch die von Schwarz-Friesel ausgeführten begrifflichen Präzisierungen bzw. konzeptuellen Unterschiede zwischen Emotion und Gefühl (Schwarz-Friesel 2007: 86). 122 Emotionen Emotionskategorien und die Bewältigung von Intersubjektivität erleichtert und m.E. letztlich überhaupt erst ermöglicht. Genauer gesagt, müssen auf der sprachlichen Ebene phonetische, lexikalische und morphosyntaktische Muster von Emotionsausdrücken modifiziert werden, indem beispielsweise die Bedeutung lautlicher (auch intonatorischer) Hinweise angepasst werden. Hervorzuheben ist weiterhin die weitreichende Aufgabe, Muster des emotionalen Ausdrucks zu internalisieren, die keine Entsprechung in der Herkunftssprache haben. 140 Auf der kognitiven Ebene müssen zudem mentale Repräsentationen von Emotionskategorien und Mustern der kognitiven Bewertung modifiziert werden, wobei dieser Prozess eine Umstrukturierung, Erweiterung und Einengung der Kategorien sowie die Internalisierung neuer Emotionskategorien beinhalten kann, die in der Herkunftssprache keine Entsprechung haben. Auf der diskursiven und sozialen Ebene müssen Fremdsprachenlernende neue Normen der Emotionsregulation und -darstellung verinnerlichen und schließlich können Veränderungen auch auf der neurophysiologischen Ebene beispielsweise in Bezug auf somatische Zustände, die durch bestimmte Auslöser hervorgerufen werden, erforderlich sein (vgl. Pavlenko 2014: 253). Vermutlich sind diese komplexen Anpassungsleistungen u.a. mitverantwortlich für eine mögliche Dissoziation zwischen Erstsprache(n) und später erworbenen Sprachen. Anders ausgedrückt, sie könnten die Ursache für mögliche Schwierigkeiten bei der emotionalen Identifikation mit einer Fremdsprache sein (vgl. Kap. 5). Besonders Menschen, die ihre Ursprungskultur verlassen haben, müssen schnell und effektiv das emotionale Register der anderen Sprache und Kultur erlernen, um „emotional misunderstandings“ zu vermeiden (Pavlenko 2014: 276) 141 und um zu einer für sie befriedigenden Identifizierung mit der jeweiligen Fremdsprache zu gelangen. Dabei spielen unterschiedlichste Faktoren des fremdkulturellen Lebensumfelds und/ oder des Fremdsprachenerwerbs eine Rolle. Die Möglichkeiten und die Bereitschaft die sprachliche Entwicklung eines Kindes zu fördern nehmen im besten Fall bereits in der Familie ihren Ausgang und setzen sich (idealerweise) in der schulischen Ausbildung fort. Es ist deshalb keineswegs überraschend, dass bei einem migrationsbedingten Ortswechsel und einer entsprechend posi- 140 Pavlenko führt dazu auch an, dass bei fehlenden Äquivalenten für Emotionswörter auch in die andere Sprache geswitcht werden kann oder Ausdrücke einer Sprache in der jeweiligen anderen beibehalten werden (vgl. Pavlenko 2014: 262f.). 141 Die polnische Linguistin Anna Wierzbicka berichtet nach ihrer Übersiedelung nach Australien von folgenden Erfahrungen: „I had to learn to ‚calm down‘, to become less ‚sharp‘ and less ‚blunt‘, less ‚excitable‘, less ‚extreme‘ in my judgements, more ‚tactful‘ in their expression. I had to learn the use of Anglo understatement (instead of more hyperbolic and more emphatic Polish ways of speaking). I had to avoid sounding ‚dogmatic‘, ‚argumentative‘, ‚emotional‘“ (Pavlenko 2014: 276). Emotionen 123 tiven Disposition der sozialen Umgebung die emotionale Hinwendung zur Fremdsprache Deutsch leichter gelingen kann. In den beiden folgenden Textauszügen von Ilma Rakusa und María Cecilia Barbetta wird diese grundsätzlich gelungene Identifizierung mit der Fremdsprache Deutsch überzeugend umrissen - Ilma Rakusa bezieht hinsichtlich ihrer emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten auch ihre Herkunftssprache mit ein - und die jeweiligen Gründe dafür werden hinterfragt. Bei Ilma Rakusa wird das Interesse am Deutschen durch das Lesen geweckt, woran das Vorlesen der Mutter vor dem Schulbesuch einen großen Einfluss hat. Der Anstoß, den sie dadurch geben kann, wird ohne zu zögern aufgegriffen und von ihr rückblickend als Akt der frühen, fast ‚trotzigen‘ Emanzipation von der Mutter geschildert: „Schon vor der Einschulung war ich hungrig nach Lektüre. Mutter hatte mir lang genug vorgelesen, jetzt war ich dran. In einer neuen Sprache: Deutsch“ (Rakusa 2017: 106f.). „Gierig“ werden in der Folge Bücher ‚verschlungen‘ und konstant für den eigenen Fremdsprachenerwerb genutzt. Sie lerne „gierig, durch die Bücher und „[n]ach und nach füllten sich die Lücken, mein Wortschatz wurde größer und größer“. Ein Nebeneffekt ist dabei das ‚Eintauchen‘ in narrative Handlungsmuster, in den „Sog der Geschichten“. Diese ersten Berührungen mit fiktionalen Welten legen sicher bereits den Grundstein für ihre spätere Hinwendung zum eigenen kreativen Schreiben. Zudem berichtet sie davon, dass ihre anhaltende Motivation mit einer gehörigen Portion Ehrgeiz gepaart ist. Die Mitschüler/ innen werden „überflügelt“, wofür zwei Gründe ausschlaggebend sind: Erstens, so wird in dem Text erinnert, ist deren Interesse an ausgeprägter Lektüre weitaus geringer und zweitens haben sie sich „fest im Schwyzerdütsch eingerichtet“. Dadurch wird die Andersheit des Kindes Ilma, das diese Varietät nur aus „Zweckmäßigkeit“ spricht, doppelt markiert. Ebenso bemerkenswert ist jedoch auch die Tatsache, dass diese dialektale Varietät des unmittelbaren sozialen Umfeldes als eine Form des N ä h e s p r e c h e n s, mit der gemeinhin auch Gruppenidentität konstruiert bzw. Zugehörigkeit zu einer (Sprecher/ innen-)Gemeinschaft signalisiert werden kann, für Ilma Rakusa keine Option ist. Eine emotionale Identifizierung ist ihr nicht möglich: „Er [der Dialekt, Anm. d. Verf.] drang nicht in mich ein.“ Die ‚innere Sprache‘ als die am stärksten identifizierte Sprache des Selbst, ist jenes Standarddeutsch, das sie sich im Verlauf ihres intensiven Leseprozesses aneignet: „Selbstgespräche führte ich auf Hochdeutsch, in der Sprache der Bücher.“ Diese kompromisslose Hinwendung zum Standarddeutschen wird als Willensakt geschildert, der auch aus dem Wunsch erwächst, „etwas kostbares Eigenes“ zu besitzen. Obwohl dies „Abgrenzung“ bedeutet, „[v]on Zuhause, wo das Ungarische die Familiensprache blieb, von der Umgebung, die Dialekt sprach“ überwiegt das Verlangen, mit Hilfe des Deutschen ein „Refugium“ zu errichten. Ilma Rakusa schildert dies als eine bewusste Sprachwahl, als vierten „Fluchtpunkt“, 124 Emotionen nach drei, bereits vorher erworbenen Fremdsprachen, der zu einer verlässlichen Basis ausgebaut werden soll: „Hier wollte ich mich niederlassen, hier baute ich mir mein Haus. Solide sollte es sein“ (Rakusa 2017: 107; vgl. dazu auch Wetenkamp 2019: 254). Dennoch geht diese Gefühlswelt der frühen Kindheit, die hier das narrative Selbst im autobiographischen Rückbezug schildert, mit der Herkunftssprache einher und besteht als mentale Repräsentation fort. Sie ist auf den ‚Schmuggelpfaden der Erinnerung‘ (vgl. Hassoun 2003) präsent und manifestiert sich im Sprachgebrauch der Autorin. Die ‚Emotionalisierung‘ von Sprache entgleitet jedoch ihrem bewussten Zugriff - „Das hinderte nicht, daß manche Gefühle in ungarische Wörter schlüpften“ (Rakusa 2017: 107) - und wird erst im Nachhinein reflektiert und zum Gegenstand sprachbzw. kulturkontrastiver gedanklicher Vertiefungen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind dabei auch bestimmte, die Kindheit evozierende, asymmetrische Kommunikationssituationen, in denen es für die Autorin einfacher ist, ihre Emotionen in ihrer Herkunftssprache Ungarisch auszudrücken: Mit „Tieren und Kleinkindern“ spricht sie spontan ungarisch. In diesen, hier angedeuteten Momenten sprachlicher Interaktion, ist die Identifizierung mit der Herkunftssprache für sie evident und in ihrer körperlichen ‚Unmittelbarkeit‘ spürbar: Zärtlichkeit ging mir so leichter über die Lippen. Für immer behielt ich die Märchen-Diminutive im Ohr. „Jaj, cicuskám micuskám, mit csináljak? “ (Rakusa 2017: 107). Ilma Rakusas Spracherfahrungen, Facetten ihrer Sprachidentität, begreift sie jedoch nicht als ausschließlich subjektives Phänomen, sondern sieht im Vergleich mit dem Deutschen darin auch ein sprachinhärentes Potential des Ungarischen. Die Verzweiflung des armen Mädchens klingt deutsch annähernd so: „Ach, Kätzchen-Miezchen, was soll ich tun? “ Aber eben nur annähernd. Mit Affekten weiß das Ungarische viel spielerischer umzugehen (Rakusa 2017: 107). Dieser unbedingte Wille, die hohe Motivation und die damit verbundene Ausdauer, sich das Deutsche anzueignen, was sich den Selbstäußerungen von Ilma Rakusa entnehmen lässt, klingt auch bei der argentinischstämmigen María Cecilia Barbetta an. In einem Gespräch mit Helbig, antwortet sie beispielsweise auf die Frage, inwieweit der Besuch einer deutschen Schule in Buenos Aires dafür ausschlaggebend war, dass sie besonderen Gefallen an deutscher Literatur fand, dass die deutsche Literatur sie „zeitig begeistert und gegebenenfalls beeinflusst“ hat, dass diese Begeisterung von ihr jedoch „hart erkämpft“ werden Emotionen 125 musste. Wie bei Ilma Rakusa wird sie vom Lesen deutscher Texte stimuliert. Mangelnde Sprachkompetenz behindern dabei weder den Erfolg des Lernprozesses, noch kann sie die emotionale Hinwendung zur Fremdsprache Deutsch aufhalten: Ich musste sie mir regelrecht erarbeiten, die Begeisterung, denn meine Kenntnisse der deutschen Sprache waren lange Zeit nicht ausreichend, um über die Länge einer Kurzgeschichte oder einer Erzählung hinauszukommen (Helbig 2019: 87). Besonders intensive kreative Impulse gehen für María Cecilia Barbetta von der akustischen Wahrnehmung des Deutschen aus. Sie fühlt sich von dessen Klang, generell von der von ihr empfundenen Musikalität der deutschen Sprache, angezogen und nutzt die davon ausgehende, positive Wirkung auf ihr Spracherleben für ihren kreativen Schreibprozess: Musikalität ist für mich tatsächlich ein äußerst wichtiger Impuls. Diese Ideenvielfalt, die Sie ansprechen, verdanke ich nicht selten dem Klang der deutschen Sprache. Ich schreibe sehr langsam, denn das Schreiben geht bei mir mit dem Vorlesen und Überprüfen des Klangs einher. Erst wenn der Klang stimmt, schreibe ich den nächsten Satz, es folgen vielleicht drei oder vier weitere, bevor das Ganze noch einmal laut vorgelesen wird (Helbig 2019: 94). Der ‚Klang‘ des Deutschen übt auf die Autorin eine so große emotionale Anziehungskraft aus, dass sie versucht, eine größtmögliche Nähe zu ihrer Fremdsprache herzustellen. Im Schreibprozess ‚hört‘ sie auf die ‚Töne‘ der Sprache, spürt ihnen nach und lässt sich von ihnen ‚vertrauensvoll‘ leiten - auch in Bezug auf die Handlungsgestaltung ihrer Erzählungen: Wenn sie klanglich verwandt sind, ruft ein Wort das andere. Manchmal ist genau diese musikalische Affinität zwischen zwei Begriffen, diese klangliche Ähnlichkeit, was der Handlung eine überraschende Wende verleiht. Solchen Zufällen vertraue ich blind, denn für mich sind sie keine (Helbig 2019: 94). Diese klangliche Attraktivität, die María Cecilia Barbetta in Bezug auf die Fremdsprache Deutsch empfindet, ist somit ein Grund für die große emotionale Nähe zum Deutschen. Sie trägt außerdem zu ihrer Empfindung bei, dadurch zu einer überzeugenden Übereinstimmung zwischen eigenem Ausdruckswunsch und dem in der Fremdsprache vorhandenen Sprachmaterial zu gelangen. Das in den obigen Textausschnitten als konstruktiv und kreativitätsfördernd empfundene und somit sehr positiv bewertete ‚Sprachmanagement‘ kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die emotionale Hinwendung zur Fremdsprache und die damit verbundene Entfernung von der Herkunftsspra- 126 Emotionen che auch als problematisch und bedrückend empfunden werden kann. 142 Wichtige Gründe dafür liegen auch in der leiblichen Dimension von Sprachen bzw. vom Sprechen. 143 Diese betrifft das gesamte Sprachrepertoire, das sich zwar im Laufe eines Lebens verändert, sich an verschiedene Lebensstationen anpasst, jedoch „dem leiblichen Subjekt anhaftet“. Alles, was Subjekte in der Vergangenheit erlebt haben, wozu ganz zentral auch die Erfahrungsdimension des herkunfts- und fremdsprachlichen Spracherwerbs zählt, ist „dem Leib eingeschrieben und kann durch eine Körperhaltung, durch eine Geste, einen Geschmack, einen Laut unvermutet wieder gegenwärtig werden“ (Busch 2021: 26; vgl. dazu Kap. 10). Valdimir Vertlib erinnert sich beispielsweise in seinem autobiographischen Essay „Vertraut bis zu den Tränen“ (Vertlib 2012k: 63-67) an die 1949 in Moskau geborene russisch-sowjetische Estrada-Sängerin und Komponistin, Alla Borissowna Pugatschowa, die mit ihrer Stimme, die zwar als „vulgär“ empfunden wird und etwas „Aufgeregtes, Gehetztes“ hat, einen tiefen Eindruck hinterlässt: Es schien, als wollte sie das Schweigen, das mich umgab, hinwegfegen oder, besser noch, austreiben. In der Emigration hatte ich gelernt, meine Gefühle zu verdrängen. […] Ich sprach wenig und hatte kaum Freunde. Die Erwachsenen hielten mich für ausgeglichen und vernünftig. Wenn mich jemand fragte, wonach 142 Vergleiche dazu auch die Ausführungen von Hu (2007: 11-13), die anhand zahlreicher Beispiele aufzeigt, dass viele mehrsprachige Menschen ein sehr großes Bedürfnis haben, ihre positiven wie negativen Spracherfahrungen (Sprachlernerfahrungen, Sprachbiographien, Entwicklungsprozesse) schriftlich zu formulieren. Am Beispiel der türkischstämmigen Autorinnen Emine Sevgi Özdamar, Aysel Özakin und Alev Tekinay, die (auch) deutschsprachige literarische Texte schreiben, illustriert sie den wichtigen Zusammenhang von Körperlichkeit und Sprache sowie die intensive Beziehung von Zweisprachigkeit und Identität. Sie bewertet die Äußerungen der genannten Autorinnen als einen Beweis für den „emotionale[n] Bezug der Sprachen zur eigenen Person sowie überhaupt die große Bedeutung von Sprachen für das Selbst“. 143 In den psychoanalytischen Theorien zum frühkindlichen Spracherwerb wird in Bezug auf die leibliche Dimension bekanntermaßen besonders die Bedeutung des mütterlichen Körpers hervorgehoben. Es wird dabei beispielsweise untersucht, „wie die ersten Wörter im Verhältnis zu den körperlichen Erfahrungen mit der Mutter entstehen, deren Sprache wiederum in den gesellschaftlichen Code eingebunden - und damit nach J. Lacan dem väterlichen Gesetz unterworfen - ist“. Für Kristeva sind Geist und Seele im Körperlichen verankert und dies zählt zu den primären Erfahrungen, die Kinder mit dem mütterlichen Körper machen. Auch das Sprechen an sich ist ein anhaltender physischer Vorgang, der auch Auswirkungen auf den Körper hat, denn „die Strukturierung des Körperbildes erfolgt über die ersten Erfahrungen, die mit dem Sprechen Bedeutung erhalten“ (Winter-Heider 2009: 155). Emotionen 127 ich mich sehnte, oder einfach nur, was mir Vergnügen bereitete, blieb ich stumm (Vertlib 2012k: 64). Dieser Sängerin gelingt es jedoch „jene emotionelle Barriere zu durchbrechen, […] hinter der ich mich schützend zu verstecken suchte“, denn sie „sang in meiner Muttersprache“. Vladimir Vertlib berichtet, dass er die Inhalte der Lieder unmittelbar und direkt auf sich selbst beziehen kann. Mit in anderen Sprachen abgefassten Liedtexten wäre ihm das nicht so einfach gelungen (Vertlib 2012k: 67). Er hebt darüber hinaus in seinen autobiographischen Texten an vielen Stellen immer wieder hervor, dass er zum Russischen eine sehr viel stärkere emotionale Bindung hat, als zum Deutschen. Auch die für ihn prägenden Lektüren in seiner Jugend waren in erster Linie „alte und moderne russische Klassiker“ (Vertlib 2012e: 178). Die Annäherung an die Lektüre deutschsprachiger Literatur fiel enttäuschend aus. Als er beispielsweise Texte von Stefan Zweig zum ersten Mal auf Deutsch las, hatte er „das Gefühl, nicht das Original, sondern eine schlechte Übersetzung“ vor sich zu haben (Vertlib 2012d: 194). Diese Nähe zur Herkunftssprache, die Identifizierung mit dem Russischen auch nach vielen Jahren der konstruierten und erlebten Mehrsprachigkeit, hat sich auch heute nicht verloren. Er betont schließlich, mit Blick auf seine Lektüren von russischer Prosa, dass er diese „unmittelbar wahrnehmen“ und sich „ganz deren Inhalt und Atmosphäre hingeben [kann], ohne wie bei deutschen Texten sofort über deren Machart oder Schwächen reflektieren zu müssen“ (Vertlib 2012e: 178). In seinen Reflexionen zur Konstruktion von Sprachidentität und der damit verbundenen emotionalen Annäherung an Sprachen nimmt auch der polnischstämmige Autor Artur Becker auf leibliche Aspekte in seinem Spracherleben Bezug. Artur Becker, der seit 1985 in Deutschland lebt und mittlerweile zahlreiche Auszeichnungen für sein deutschsprachiges literarisches Werk erhalten hat, antwortet auf die Frage, ob der Wechsel der Sprache möglicherweise andere Themen oder eine andere Art zu schreiben bedingt, dass er trotz eines hohen Grads an Identifizierung mit der Fremdsprache Deutsch, die er sogar als Teil seiner „Muttersprache“ empfindet, einen „Entfremdungsprozess“ verspürt: Ich empfinde diese Frage als unheimlich kompliziert. Körperlich habe ich mich natürlich verändert: im Mund, Zunge. Das sind alles Sachen, die … Wenn man 25 Jahre diese Sprache spricht, dann muss sich etwas ändern. […] Dann kommt für mich natürlich noch etwas sehr Wichtiges hinzu bei der Frage, inwiefern man sich durch den Erwerb einer neuen Sprache ändert: Irgendwann ist einem diese Sprache so geläufig, dass sie auch im Moment des Schreibens ein Teil der Literatur, die man macht, und der Muttersprache geworden ist, und trotzdem gibt es diesen Entfremdungsprozess. Dank der Tatsache, dass ich auf Deutsch schreibe 128 Emotionen und das Deutsche in mich aufgenommen habe, sehe ich ganz anders auch das Polnische. Es ist ein ständiger Wiederspiegelungsprozess […] (Amodeo/ Hörner 2010: 131). Zu welcher ihrer Sprachen (bzw. Varietäten) mehrsprachige Autor/ innen letztlich eine größere Nähe entwickeln, welche sie letztlich zu ihrer literarischen Schreibsprache machen, hängt zwar sicherlich auch von einer Reihe externer Faktoren ab, wie etwa den Erfordernissen des literarischen Markts und des angestrebten Lesepublikums. Die Hinwendung zur Fremdsprache Deutsch ist jedoch keineswegs ausschließlich das Resultat ‚vernünftiger‘ Abwägungen und zweckdienlicher Entscheidungen - noch kann diese Wahl von den Autor/ innen immer bewusst ‚durchschaut‘ werden. Artur Becker betont beispielsweise, dass er die Entscheidung für das Deutsche als Literatursprache zwar „zugunsten der deutschen Leser getroffen habe“ aber dass dies keine nur „rationale Entscheidung“ gewesen sei, denn so etwas könne man nicht rational entscheiden. Die inneren Beweggründe erschließen sich ihm letztlich nicht vollkommen, denn „[m]ehr oder weniger eine große Hilfe war so jemand wie ein Dämon oder irgendjemand, der von außerhalb kam und das beeinflusst hat“. Ganz im Gegensatz zu den bereits von mir diskutierten Möglichkeiten der Befreiung von frühkindlichen Zwängen und Tabus in der neuen Sprache (vgl. Kap. 7), empfiehlt Artur Becker jungen Autor/ innen immer wieder den umgekehrten Weg: „Verlasst bloß nicht eure Muttersprache, schreibt in eurer Muttersprache, solange es geht.“ Für ihn sei es „ein sehr schmerzhafter Prozess [gewesen], weil ich mich von etwas lösen musste“. Zentral sind für ihn schließlich folgende Fragen: „Was macht diese Sprache mit einem? Inwiefern verändert sie mein Leben? “ sowie die Gewissheit, „dafür einen bestimmten Preis [zu zahlen]“ (Amodeo/ Hörner 2010: 128f.). 144 144 Studien zur literarischen Mehrsprachigkeit haben u.a. ergeben, dass sich die verschiedenen Erstsprachen von Autor/ innen, die das Deutsche im Verlauf von Migrationen zu ihrer Literatursprache gemacht haben, Auswirkungen auf die sprachliche Kreativität bzw. Gestaltung ihrer Texte haben. Dabei spielt der Einbezug muttersprachlicher Elemente in Form von Übersetzungen, verdeutschter Schreibweise oder der Einfügung sprachlicher Ausdrücke der Erstsprache eine große Rolle. Zum einen wird damit natürlich eine originelle und wirkungsvolle Ästhetik erreicht und die unterschiedlichen den Autor/ innen zur Verfügung stehenden Sprachen dialogisieren miteinander. Zum anderen weist Burka in ihrer Untersuchung zur Mehrsprachigkeit in deutschsprachigen literarischen Texten (2016) jedoch mit Bezug auf den Autor Jiří Gruša, dessen Erstsprache das Tschechische ist, darauf hin, dass durch die tschechischen Elemente in dessen Texten u.a. eine Erinnerung an die Kindheit erreicht wird. M.E. könnte das als eine gewisse Kompensationsleistung für die Aufgabe der Herkunftssprache gewertet werden, als ein Versuch, die Sphäre der kindlichen Geborgenheit, der Lebensursprünge in den Text einzuschreiben. 10 Ressourcen Das Konzept des ‚sprachlichen Repertoires‘ das auf Gumperz zurückgeht 145 und in den letzten Jahren zu einem wichtigen theoretischen Bezugspunkt im Rahmen der Mehrsprachigkeitsforschung (vgl. u.a. Kresic 2006: 175-183) sowie der Mehrsprachigkeitsdidaktik (vgl. u.a. Krumm/ Reich 2011, [12.08.21]) geworden ist, wird in diesem Kapitel in die Darstellung des subjektiven Spracherlebens mehrsprachiger Autor/ innen sowie in die Überlegungen zu ihrem literarischen Schreibprozess miteinbezogen. Es bietet m.E. eine zielführende theoretische Vorlage, um die Verfügbarkeit und den Stellenwert, den sie ihren Sprachen (und Varietäten) zuschreiben, anhand ihrer selbstreflexiven Äußerungen nicht nur zu rekonstruieren, sondern diese vor allem auch als Bestandteile jenes umfassenden S p r a c h r e p e r t o i r e s zu interpretieren, „das alle zur Verfügung stehenden kommunikativen Mittel umfasst.“ Die Annahme, dass das Sprachrepertoire in seiner Gesamtheit gesehen werden muss, beruht dabei einmal mehr auf der Überzeugung, dass „Sprachen nicht mehr als in sich geschlossene, voneinander klar abgegrenzte Einheiten zu sehen“ sind (Busch 2021: 23). Aus heutiger Sicht sind vor allem Fragen nach dem Verlauf und der Gestalt zwischen den sprachlichen Systemen eines Menschen relevant, d.h. in welcher Form diese miteinander agieren und sich gegenseitig beeinflussen und in welcher Weise und in welchem Umfang das den Sprecher/ innen jeweils bewusst ist. Im Anschluss daran herrscht in den letzten Jahren breiter Konsens darüber, dass das allumfassende Sprachrepertoire des Menschen eine Ressource für seine Persönlichkeitsentwicklung und den Aufbau interaktionaler Kompetenz in unterschiedlichen kulturellen Kontexten ist - aber auch für die Möglichkeit, kreative Zugänge zu den Sprachen zu erproben und damit das eigene Ausdrucksspektrum zu erweitern (Ballweg 2019: 267) 146 . Letzteres ist besonders bei den mehrsprachigen Autor/ innen der Fall, die ich in dieser Studie untersuche. Das sprachliche Repertoire ist somit eine ‚ganzheitliche Ressource‘, auf die die Autor/ innen zurückgreifen können, um sich ihrer sprachlich-kulturellen Teilidentitäten bewusst zu werden und diese zu konsolidieren. Die autobiographischen Rückbezüge und die damit verbundenen Selbstreflexionen bewirken - so darf angenommen werden - eine Stärkung ihres Kohärenzgefühls, denn die gedankliche Vermessung ihres Sprachrepertoires in den selbstreflexiven Äußerungen und episodischen Schilderungen trägt dazu bei, signifikante, lebensgeschichtliche Diskontinuitäten zu überbrücken. In welcher Weise das Sprachre- 145 Gumperz definiert die „Verbal Repertoires“ als „the totality of linguistic forms regularly employed in the course of socially significant interaction“ (1964: 137). 146 In einem kurzen Überblick über den Forschungsstand weist Ballweg zusätzlich auf das dominant language constellation model von Aronin (2016) und das dynamische Modell der Mehrsprachigkeit von Herdina/ Jessner (2002) hin. 130 Ressourcen pertoire dargestellt und mit den jeweiligen (migrationsbedingten) Lebenserfahrungen in Verbindung gebracht wird, nach welchen Kriterien die Autor/ innen ihre Sprachen und/ oder Varietäten für bestimmte Domänen auswählen und welche Gefühle sie dafür anführen, sind im Folgenden zentrale Fragestellungen. An Hand der Selbstreflexionen, des russischstämmigen Autors Vladimir Vertlib, die er in seinen autobiographischen und poetologischen Texten darlegt, kann nicht nur die Beschaffenheit seines Sprachrepertoires nachvollzogen werden, sondern auch in welcher Weise er die erworbenen Sprachen und Varietäten funktionalisiert: Meine Selbstgespräche führte ich in einer österreichisch gefärbten Umgangssprache, einer Mischung zwischen Wiener Dialekt und Hochdeutsch. Es war mehr das Wiener Deutsch meiner Lehrer im Gymnasium als der Dialekt der Mitschüler. Eine gewisse Kühle und Distanz zur Sprache der Eingeborenen blieb bestehen. Der entfesselte Plauderton blieb mir fremd. Die Eingeborenensprache war zum Denken da. Vielleicht war das der Grund, dass ich meine ersten Liebesbriefe auf Englisch schrieb. Deutsch kam nicht in Frage und Russisch war ganz und gar unmöglich, nicht nur weil die Angebetete kein Wort Russisch verstand, sondern weil russisch die Sprache der frühesten Kindheit, der Eltern, der Emigration war, an Bahnhöfe, Flughäfen und provisorische Unterkünfte erinnerte. Russisch war zutiefst unerotisch ... (Vertlib 2012g: 17f.). In diesem Textausschnitt beschreibt Vladimir Vertlib sein Sprachrepertoire als ein Ensemble von Herkunftssprache (Russisch), später erworbener Fremdsprache (Englisch) und einer aus dem Wiener Dialekt und dem Hochdeutschen bestehenden Varietät, wobei das sprachliche Vorbild seine Lehrer, weniger seine Mitschüler sind. Dabei wird deutlich, dass er diese Varietät nicht nur von seinen übrigen Sprachen abgrenzt, sondern ihr einen ganz besonderen Stellenwert als i n n e r e r S p r a c h e 147 zuerkennt. Gleichzeitig ist die Sprache der 147 Vergleiche dazu die Ausführungen von Pavlenko zu den Spracherfahrungen von Tzvetan Todorov, der Folgendes nach seiner Ankunft in Paris berichtet: „I remember that the first three months I used to take notes of the book that I was reading still in Bulgarian, so if I would buy a book and write in the margin, it will be Bulgarian words, but after three months or four months, I started taking notes in French“ (Pavlenko 2014: 208). Neben einer soziolinguistischen Interpretation dieser Spracherfahrung als Anpassung an das aktuelle soziokulturelle Umfeld (Akkomodation) und einer psycholinguistischen Sichtweise, derzufolge hier eine unterschiedliche Sprachaktivierung stattfindet (das Bulgarische tritt in den Hintergrund und wird somit deaktiviert), führt Pavlenko eine dritte Interpretationsmöglichkeit an. Es handelt sich nämlich um einen Wechsel in „the language of private writing, i.e., writing directed at oneself, and more generally, in the language of inner speech, the subvocal Ressourcen 131 „Eingeborenen“, wie er ironisch die Österreicher bezeichnet, in den hier beschriebenen ersten Aufenthaltsjahren in Österreich, keine Option für ihn. Sie vermittelt ihm keine Nähe, und er kann sie nicht für eine kulturell adäquate Alltagsinteraktion verwenden. Es handelt sich folglich um eine hybride Varietät, in der zwar Gedanken entfaltet werden können, mit der sich jedoch keine besonderen Gefühle verbinden. Aus den bereits genannten Gründen kann das Deutsche ebenso wenig wie die Herkunftssprache Russisch für eine intime Nähekommunikation verwendet werden. Das liegt daran, dass die durch seine Herkunftssprache ausgelösten Erinnerungen an eine Kindheit unter Emigrationsbedingungen dazu führt, dass er das Russische als „zutiefst unerotisch“ empfindet. Auch an anderer Stelle verdeutlicht Vladimir Vertlib, dass die emotionale Bindung an seine Sprachen eng mit dem Zeitpunkt ihres Erwerbs verknüpft ist. Ihre Verortung in den unterschiedlichen Lebensabschnitten erleichtert oder behindert den Zugriff, den er auf sie hat, wie es am oben angeführten Beispiel seiner Herkunftssprache Russisch deutlich wird. Im Rahmen des Essays „Nichtvorbildliche Lieblingsautoren“ (2012h) führt er jedoch aus, dass die Assoziationen, die er zu einer Sprache entwickelt - in diesem Fall zum Deutschen - nicht nur seinen Kindheitserinnerungen entspringen, sondern darüber hinaus auch grundsätzliche, zeitgeschichtliche Dimensionen, wie etwa den Holocaust, vor Augen führen. Neben der kritischen Beleuchtung seiner Familiengeschichte („Konnte denn eine jüdische Familie gerade in Österreich eine Heimat finden? “) bleibt dabei das Problem der deutschen Sprache im Raum stehen. Er stellt (sich) die Frage, ob „es für einen Juden, für den Deutsch nicht die Muttersprache war, zulässig [war], sich gerade dieses Deutsch zum Ausdrucksmittel, ja sogar zur Sprache seiner literarischen Texte zu erwählen“ (Vertlib 2012h: 185). Das ambivalente Verhältnis, das er aus diesen Gründen zunächst zur deutschen Sprache entwickelt, führt er zusätzlich auf die ungewisse Aufenthaltsdauer in Österreich zurück, denn seine Eltern hatten ursprünglich nicht beabsichtigt, sich dort längerfristig niederzulassen. Er ist in den ersten Jahren seines Lebens in Österreich motivierter, die beiden Fremdsprachen Englisch und Französisch auf der Schule „fleißig“ zu erlernen, als sich mit dem Deutschen zu befassen, das ihm als „das ungeliebte Hilfsmittel für die Bewältigung des Alltags“ erscheint, „[d]enn bald würde ich Land und Leute ohnehin hinter mir lassen können“. Welche Sprachen er zukünftig gebrauchen will (oder muss) ist zum Zeitpunkt dieser ersten Selbsteinschätzung noch nicht absehbar. Sein liteself-talk that takes place in an identifiable linguistic code and is directed primarly at the self. It is this subvocal self-talk that Todorov (1997) sees as ‚thinking in a language‘, as seen in his comment that he wrote his paper in French because his thinking was going on in French“ (Pavlenko 2014: 208). 132 Ressourcen rarisches Schreiben findet zunächst auf Englisch und Russisch statt (Vertlib 2012h: 185). Die hier zitierten Textausschnitte lassen erkennen, dass Vladimir Vertlib zwischen den ihm zur Verfügung stehenden Sprachen und Varietäten hin und her navigiert und dabei seine Identität und seinen literarischen Schreibprozess in und mit seiner Mehrsprachigkeit konstruiert und reflektiert. Deutschsprachiger Schriftsteller zu werden, ist für mich keine Selbstverständlichkeit gewesen. Die ersten Schreibversuche erfolgten auf Russisch. Im Deutschen hatten die Worte eine Bedeutung, im Russischen, meiner Muttersprache, einen tieferen Sinn. Die Struktur der deutschen Sprache war erst zu erlernen, ihre Nuancen und Doppelbödigkeiten waren zu erahnen, als das Russische mir schon als ein gut gestimmtes Instrument zur Verfügung stand, dessen Spiel ich mehr schlecht als recht, aber doch intuitiv beherrschte. Schließlich wählte ich jene Form, in der ich meine Gedanken am besten auszudrücken verstand: eine deutsche Oberfläche, unter der oft, eher unbewusst als gewollt, Satzbau, Melodie und Idiomatik des Russischen mitschwingen (Vertlib 2007c: 59). Francesco Micieli hat im Verglich zu Vladimir Vertlib eine vollkommen andere (sprach-)biographische und lebensgeschichtliche Ausgangsposition, die sein Sprachrepertoire sowie die emotionale Einstellung zu seinen Sprachen prägt. Als gebürtiger Arbëresh, einer albanischen Minderheit, die bis heute in Süditalien ansässig ist (vgl. S. 116f.) spricht er eine Varietät, die in seiner Kindheit eine dominante Rolle spielt, aber nicht die Sprache der Mehrheit ist. Das Deutsche sowie die Varietät des Schweizerdeutschen erlernt er 1965 nach seiner Einwanderung in die Schweiz. In seiner ersten Dresdner Poetikvorlesung, vom 18. Januar 2011, gibt er Einblick in seine Spracherfahrungen, wobei er immer wieder die Perspektive des marginalisierten ‚Ausländers‘ einblendet, der von den Einheimischen provoziert wird. Sie „wollen, dass ich reagiere, dass ich einen Fehler mache, dreinschlage, damit sie mich automatisch ausschaffen 148 können“ (Micieli 2015b: 14). Seine Mehrsprachigkeit beschreibt er differenziert als ein Repertoire von Sprachen und Varietäten, das sich aus „Italo-Albanisch, Kalabresisch, Italienisch, Schweizerdeutsch und Schriftdeutsch“ zusammensetzt. Hinzu kommt noch das Französische, das er in einer zweisprachigen Stadt unterrichtet. Er empfindet ihre Koexistenz als frei von Störungen, die sein Ausdrucksvermögen behindern könnten: All diese Sprachen sind einander fremd und leben friedlich in der Abteilung Sprachen meines Hirns. Ohne grosse Probleme geben sie an die Lebendigen In- 148 Ausschaffen ist das schweizerdeutsche Wort für ausweisen, abschieben. Ressourcen 133 formationen über die unbelebte Welt, egal welche Sprache Laut oder Schrift wird. Sie sind verschiedene Instrumente im Orchester (Micieli 2015b: 15). Rückblickend beschreibt Francesco Micieli seinen Fremdspracherwerb als einen Prozess, in dessen Verlauf er „die fremde Sprache genau anschauen“ will, denn sie könne „Fallen legen“ und ließe sich „nicht so einfach mitnehmen“ (Micieli 2015b: 19f.). Ich lernte die neue Sprache so, wie man eine Muttersprache lernt, ich lernte nicht nur den Gebrauch von Bedeutungen, sondern den Umgang mit ihnen, den gesellschaftlich geregelten Gebrauch von Sprachmaterial. Das Berndeutsche „es geit“ war für mich ein Gemütszustand, den es nur in Lützelflüh gab, und sicher nicht eine Entsprechung des „si do Krishti“ in der Muttersprache. Es erinnert mich an die Geschichte eines deutschen Juden in New York, der gefragt wurde, ob er nicht „happy“ sei, in dieser Stadt leben zu können. Happy sei er schon, soll er geantwortet haben, aber nicht glücklich. Fehler und deswegen kleine Lügen blieben noch eine Weile. Hausweh (Halsweh) war bei mir immer in der Nähe von Ausweh (Alles Weh), einen Zustand, den ich sehr genoss. Wenn schon weh, lieber alles weh. Der Schmerz erinnerte mich an richtiges, wahres Dasein (Micieli 2015b: 20). 149 Doch bereits in dieser Zeit der frühen Auseinandersetzung mit seinen Sprachen, ist der spielerisch-kreative Umgang mit ihnen auffallend. Häufig sei er mit „Buechweh“ zur Schule gegangen und „[D]ie Nähe von Buuch und Buech oder von Berndeutschem Buuch und Deutschem Buch“ habe ihn „immer wieder zu spielerischen Verbindungen gereizt“ (Micieli 2015b: 21). Dies ist sicherlich ein erstes Indiz für die spätere Entwicklung zu einem mehrsprachigen Autor der seine Fremdsprache als kreatives Ausdrucksmedium in der Literatur nutzt. Dass er dabei seine Schreibräume auch in Bezug auf mögliche künstlerische Anschlussstellen in der Musik 150 erkundet und erfolgreich gestaltet, macht später das besondere Profil dieses Autors aus. Mit dem Erwerb der Fremdsprache, durch das wechselseitige Durchdringen von Lebensumfeld und Sprache, kann ein besonderes Empfinden von Authentizität und Kohärenz entstehen: 149 Vergleiche dazu auch seinen Text „Mein Vater geht jeden Tag viermal die Treppe hinauf und die Treppe hinunter. Texte zu Sprache und Heimat“ (2007). 150 Vergleiche dazu die dritte Dresdner Vorlesung vom 20. Januar 2011 (Micieli 2015d: 43-52). 134 Ressourcen [e]rst als ich die Dingwelt mit der neuen Sprache beseelen konnte - oder war es umgekehrt? - erst als die Dingwelt meine neue Sprache beseelen konnte, erst als die Wörter nicht blosse Zeichen blieben (Micieli 2015b: 12). Dabei verschwindet zwar nicht das Gefühl der Fremdheit, ein Anderer zu sein, aber er kann sich zumindest als Teil des anderen Lebensraums erfahren. Er fühlt sich „wirklich und in einer wirklichen Umgebung, die aufgehört hat, Kulisse zu sein“ (Micieli 2015b: 12). Francesco Micieli berichtet an dieser Stelle von einer weiteren wichtigen Erkenntnis, dass nämlich seine sukzessive Immersion in die Sprache(n) der Schweiz eine große Entfernung zu seiner Herkunftskultur und -sprache auslöst. Es kommt zu einer Form der Abspaltung, 151 die offensichtlich dazu führen könnte, dass Erinnerung an die persönlichkeitsprägende Lebensphase seiner Kindheit, an seine ersten Lebensjahre in der Herkunftskultur, verblassen. Eine Möglichkeit, diesem Prozess nachhaltig entgegenzuwirken ist das Schreiben über die Brüche in seiner Biographie: Je mehr ich mit meiner neuen Sprache in der Schweiz ankam - „Lue dert die grasgrüene chüe wie sie chöie chöi“ - um so mehr wurde meine frühere Welt und mit ihr die Welt der Emigration zur literarischen Fiktion. Ich musste darüber schreiben, um ich selbst sein zu können. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, die Erinnerungen kämen mit der neuen Sprache (Micieli 2015b: 12). Die Identifizierung mit dem Deutschen ist somit eine Spracherfahrung, die die Dimension der Erinnerung miteinschließt. Zurückliegendes, das im Zusammenhang mit seiner Kindheit in der Herkunftskultur steht, wird auf Deutsch versprachlicht und nicht auf „Italo-Albanisch“, so „[als] seien deutsche Texte für mich vorbestimmt, als könnte ich mich nur in dieser anderen Sprache erzählen“ (Micieli 2015b: 13). Das Deutsche wird als die Sprache seines Repertoires erachtet, mit der alleine er sich hinreichend identifizieren und im Schreibprozess alle Persönlichkeitsanteile integrieren kann. Hierin scheint eine ihrer Hauptfunktionen für den Autor zu liegen. Mit Bezug auf Friederike Mayröcker kommentiert er diesen Zustand, der es ihm letztlich erst ermöglicht, Schreibräume kreativ zu gestalten, als ein Sich-Zeigen in der „WORTVERKLEIDUNG: in der Sprache anderer, weil man sich zurückgenommen hat in die äußerste Lautlosigkeit Sprachlosigkeit Schweigsamkeit“ (Micieli 2015b: 13). Die Fremdsprache und das literarische Schreiben, hat bei Francesco Micieli jedoch nicht nur die Funktion, sich selbst zu finden, sondern auch, sich über die subjektive Begrenzung hinaus mit dem Phänomen des Fremden auseinanderzusetzen: „Ich ahnte, dass, wenn mein ‚ich‘ noch zum ‚selbst‘ werden will, 151 Mit Abspaltung ist hier eine (leichte) Form der psychischen Dissoziation gemeint. Ressourcen 135 ich die Verpflichtung hatte, über das Fremdsein zu schreiben“. Dabei zeichnet sich jedoch ein erneuter Prozess der Abspaltung ab, der von ihm auf die als fremdenfeindlich und abweisend erfahrene Schweiz zurückgeführt wird. Daraus resultiert die Erfahrung von „Bruch“, den er nicht mit der Sprache, „meiner geliebten und frei gewählten Literatursprache, dem schweizerischen Schriftdeutsch“ in Verbindung bringt, sondern „mit dem Ort dieser Sprache“ (Micieli 2015b: 13): Der deutschsprachige Raum der Schweiz trennt sich immer mehr von mir. Die mühsam eroberte Verbindung zwischen der Dingwelt und der Sprache droht unterbrochen zu werden. Viele Menschen dort wollen nur unter ihresgleichen sein. Der Fremde wird wieder zum Barbaren, zur Bedrohung (Micieli 2015b: 13). Den Reflexionen von Francesco Micieli lässt sich wiederholt entnehmen, dass er von der positiven Wirkung des literarischen Schreibens in der Fremdsprache überzeugt ist. Für eine bestimmte Zeit bietet der Schreibraum einen Ort, an dem ein „Ich“ entsteht. Sprache könne unter bestimmten Voraussetzungen, so ist seine Vision, „in besonderen Augenblicken zur Ursprache werden, die alle Räume des Universums und der Universen besprechen kann“ (Micieli 2015b: 17). In einem Resümee seiner Erfahrungen als mehrsprachiger Autor spricht er der Sprache zum einen eine therapeutische Funktion zu. Zum anderen sieht er die Zukunft des Deutschen, das als Fremdsprache literarisches Ausdrucksmedium ist, in einer Art universellen ‚vielstimmigen Synthese‘. Der Autor schreibt dabei dem Deutschen die Funktion zu, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, unterstreicht jedoch, dass es die zuvor erworbenen Sprachen nicht verdrängt, sondern, im Gegensatz, auf diesen aufbauend erworben wird: Das »Ich« ist in der Sprache, das Fremde in der Kultur. Die Aneignung der Sprache kann heilen. Denn nur in der Sprache kann ich über mein Dasein sprechen. Nur so kann ich teilhaben und Teil sein. Unser Deutsch sollte aus den Räumen all unserer Sprachen entstehen. Eine Vielstimmigkeit. Ein schönes, gutes, heilendes polyphones Deutsch. Eine Art allstar Orchestra. Die Regeln der Gastfreundschaft (Micieli 2015b: 22). Ein positives Selbstwertgefühl entsteht im Verlauf der Auseinandersetzung mit seinem Selbst. Die Entwicklung eines kohärenten Selbstgefühls, äußert sich bei ihm jedoch auch in der Einsicht, dass die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt sind: Das plötzliche Erkennen, ein „Sprach-Arlechino“ zu sein, genauso wie dieser ein „Sprach-Kleid“, „ein buntes Gemisch aus Sprach-Stoff-Fetzen“ zu tragen, wird so gesehen als „rettende[r] Gedanke“ apostrophiert. In Wirk- 136 Ressourcen lichkeit erkennt er damit seine Fremdheit an und akzeptiert die möglicherweise verbundenen Grenzen: Ich wusste mit Bestimmtheit, dass ich nie so sein würde wie jemand, der nur in einer Sprache gross geworden ist, dass ich nie dieses Aufgehoben sein und diese Sicherheit erreichen würde im Sprechen und im Schreiben (Micieli 2015b: 18). In anderer Weise beschreibt die russischstämmige Autorin Alina Bronsky, die mit ihrer Familie Anfang der 1990er Jahre als Kontingentflüchtling nach Deutschland auswandert, im Gespräch mit Amodeo und Hörner (2010) den Zugriff auf ihr Sprachrepertoire. Ihre Sichtweise ist vergleichsweise sachlich, pragmatisch und funktional orientiert: Nach ihrer Ankunft in Deutschland habe sie „die Sprache als Werkzeug eigentlich sehr schnell und gerne akzeptiert“, vor allem deswegen, weil sie bereits „journalistisch geschrieben und da schon sehr gerne mit dem Deutschen gearbeitet“ habe. Sie schränkt in diesen Äußerungen ihre Spracherfahrungen auf den medialen Gebrauch der Schriftsprache ein, ohne diese mit Fragen der Identität und/ oder der Konstruktion einer Sprachidentität im engeren Sinn zu verbinden. Ihre Muttersprache habe sie definitiv als Schreibsprache aufgegeben und sie wolle „Etwas, das über Briefe hinausgeht, […] auf Russisch nicht mehr schreiben“. 152 Andererseits ist sie jedoch dem Russischen verhaftet geblieben und hat eine positive emotionale Verbindung zu ihrer Herkunftssprache - für die erneut das Kodierungssystem der Schrift ausschlaggebend ist. So gesehen empfindet sie es als Paradoxon, dass sie am liebsten in ihrer „Muttersprache, dem Russischen“ lese: Wenn ich vor zwei Schriftbildern stehe, einem mit lateinischen Buchstaben, einem mit kyrillischen, dann schaue ich sofort auf das Kyrillische. Da fühle ich mich wirklich zu Hause, und das strahlt für mich eine gewisse Geborgenheit aus, wenn man das so pathetisch formulieren möchte. Was das aktive Schreiben angeht, da fühle ich mich im Deutschen sicherer, was zum Teil auch einfach mit der Routine zusammenhängt - das habe ich lange genug gemacht, damit kann ich arbeiten (Amodeo/ Hörner 2010: 124). In ihrer Dresdner Poetikvorlesung mit dem Titel „Transit. Transfinit. Oder: Who am I? “ (2006b) entfaltet Ilma Rakusa ihre Sprachbiographie nicht nur im Sinne der Darstellung ihres Sprachrepertoires bzw. ihres lebensgeschichtlich bedingten allmählichen ‚Hineinwachsens‘ in Sprachen und Varietäten, sondern sie reflektiert diese vor allem in Bezug auf ihr literarisches Schreiben und in ei- 152 Vergleiche dazu folgende Äußerung von Marica Bodrožić (2008: 70): „Meine Schreibsprache ist zwar nicht meine Muttersprache, aber dafür meine einzige und einzig im Schreiben lebendig werdende Sprache: Darf das gelten? “ Ressourcen 137 nem weiteren Schritt auch hinsichtlich ihrer Tätigkeit als Übersetzerin. Die Reflexion über das ‚ästhetische Handwerk‘ des Schreibens, bei der sie besonders die Suche nach Formen bzw. formalen Gestaltungsmöglichkeiten hervorhebt, die man ihr zufolge überall in ihren literarischen Texten ausmachen könne, ist dabei zentral. Sie fügt dem erklärend hinzu, dass sie zu keinem Zeitpunkt „schiere Spielerei“ (Rakusa 2006b: 16) beabsichtige, sondern es gehe ihr „vielmehr um eine Recherche aus der Erkenntnis, daß die Phantasie zu ihrer Entfaltung strenger Formgesetze bedarf.“ Der Entwurf einer Poetik der Vielstimmigkeit, den sie zwar als „utopische[n] Horizont“ selbstkritisch verortet, da er als „vielsprachig-vielstimmiger Diskurs, der als deutsch-ungarisch-slowenisch-russisch-französisch-englischer freilich alle Leserkapazitäten sprengen würde“, bleibt ihr essentielles Anliegen und mündet in Schreibexperimente, die zwar zu keinem Abschluss führen können, aber vielleicht, so möchte man ergänzen, gerade aus diesem Grund den Schreibprozess weiter stimulieren und den eigenen Ausdruckswillen ‚antreiben‘. Stillstand ist nicht vorgesehen. Dennoch bleibt das Bemühen oft hinter dem Ideal zurück. Und da die Unerreichbarkeit des Ziels Teil der Sehnsucht ist, verstehe ich mich als schreibende Nomadin, unterwegs mit einem work in progress (Rakusa 2006b: 16). Die mehrsprachige Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin möchte von ihrem Lesepublikum als „deutschsprachige Schriftstellerin, die in Zürich lebt“ wahrgenommen werden, was sich, ihren Beobachtungen zufolge, jedoch für viele Leserinnen und Leser nicht immer mit dieser Klarheit erschließt. Auf Grund ihrer ‚bewegten‘ Lebensgeschichte hält man sie mal für eine slowakische, mal für eine ungarische, mal für eine schweizerische Autorin. Vor diesem Hintergrund beschreibt Ilma Rakusa ihre sprachliche Sozialisation als eine fortlaufende Erfahrung der Mehrsprachigkeit, die sie als Tochter einer Ungarin und eines Slowenen, die von Kindheit an mit ihren Eltern an verschiedenen Orten lebt, besonders prägt: Von ihrem Geburtsort Rimavská Sobota zieht die Familie nach Budapest, dann nach Ljubljana und dann nach Triest, einer Stadt, in der sie sich als Kind besonders wohlfühlt, „meerisch und hell“ (Rakusa 2006b: 7). Ihre Kindheit ist durchdrungen von Spracherfahrungen. Das Ungarische und das Slowenische sind „leichtes Sprachgepäck“ und in Triest, wo sie in der damals geteilten Stadt in der amerikanisch-britischen Zone lebt, lernt sie Italienisch und ein bisschen Englisch („ich […] schnappte einige Brocken Englisch auf“). Sie beschreibt ihre damalige Disposition den neuen, fremden Sprachen gegenüber als eine erhöhte Sensibilität und Bereitschaft, sich Zugang zu ihnen zu verschaffen, „diese Fremdheit zu überwinden“. Obwohl ihr alles, was sie noch nicht verstehen kann „Unbehagen“ bereitet, markieren Sprachen für sie „Reichtum und Differenz“ (Rakusa 2006b: 7f.). Im Alter von fünf Jahren 138 Ressourcen übersiedelt die Familie nach Zürich und dieser lebensgeschichtliche Einschnitt ist von großer Bedeutung für die weitere sprachliche Entwicklung, denn das Deutsche wird zu ihrer Bildungssprache und nimmt ab diesem Zeitpunkt eine prominente Position in ihrem Sprachenrepertoire ein. N ach dem Prozess der ‚Alphabetisierung‘ in der Grundschule wird Deutsch zu ihrer „wichtigsten Sprache […]: es ist die Sprache meiner literarischen Texte, die Sprache, in die ich (aus dem Russischen, Serbokroatischen, Ungarischen und Französischen) übersetze. Nur auf Deutsch kann ich mich bis in feinste stilistische Nuancen hinein ausdrücken, und geht es um Selbstgespräche, finden sie größtenteils deutsch statt (Rakusa 2006b: 8). Die von Ilma Rakusa dargestellten Zugriffsweisen auf ihr Sprachrepertoire, dessen sukzessive Erweiterung sie rückblickend schildert, erscheinen als ein souveränes ‚Jonglieren‘ mit den ihr zur Verfügung stehenden Sprachen. Die Auswahl der Sprachen orientiert sich dabei u.a. an den Verwendungszusammenhängen, wozu neben dem literarischen Schreiben auch das Übersetzen zählt. Dabei betont sie auch an anderer Stelle die große Bedeutung, die das Deutsche für sie als die Literatursprache ihrer Wahl hat. Nur in dieser Sprache stehe ihr die „gesamte Ausdruckspalette zur Verfügung“ (Rakusa 2008: 77). Die für den Schreibprozess notwendige Distanz empfindet sie im Deutschen als Möglichkeit, „geteilter“ agieren und sich selbst besser beobachten zu können: „Ich unterscheide, ich wäge ab und wähle aus. Ich kontrolliere meinen Gang, von Wort zu Wort“ (Rakusa 2008: 77). Die Konzeption des sprachlichen Repertoires, das, wie eingangs dargelegt, in seiner Gesamtheit begriffen werden muss, wobei die Sprachen und Varietäten durchlässige Grenzen haben, sich miteinander auch auf eine Art und Weise verbinden können, die sich dem kontrollierten Zugriff durch Sprecher/ innen entziehen kann, klingt bei Ilma Rakusa an, wenn sie hervorhebt, dass sich in das Deutsche ihre anderen Sprachen ‚einschreiben‘, wie beispielsweise russische Orts- und Personennamen, eine Reihe von Diminutiven und idiomatischen Sprachformen des Ungarischen: Als Splitter in der Textintarsie haben sie ihre eigenen Farben, als Signalwörter ihren eigenen Echoraum. Es sind kleine, aufgeladene Teilchen, die Emotionen transportieren oder Assoziationsfächer entfalten, die Erinnerungen kristallisieren oder Fremdheit markieren (Rakusa 2008: 77). Der reflektierte Umgang mit der vorwiegend positiv bewerteten, eigenen Mehrsprachigkeit scheint sich selbstverständlich in das Selbstbild einzufügen, das Ilma Rakusa in den zitierten Textpassagen zum Ausdruck bringt, und ist ein sig- Ressourcen 139 nifikantes Merkmal ihrer sprachbiographischen Aufzeichnungen sowie ihrer dadurch vermittelten Selbsteinschätzung. Jede Sprache, die sie erlernt hat, begreift sie als Chance, „an einem Andern zu partizipieren, im Sinne einer erweiterten Identität.“ Die ihr zur Verfügung stehenden Sprachen sieht sie als eine überaus bereichernde „Vielheit“ an, sie markieren Teilidentitäten, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen lassen, wofür sie die Metapher des vielstimmigen „Kopforchesters“ prägt (Rakusa 2008: 77). 11 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven In der vorliegenden Studie wurde u.a. aufgezeigt, in welcher Weise die Autor/ innen ihre vielfältigen, teilweise ambivalenten Erfahrungen mit ihrer Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität reflektieren und in ihren Texten vermitteln. Dass sie dabei den Prozess ihres literarischen Schreibens zur Erprobung und Festigung ihrer (Sprach-)Identitäten nutzen können, ist eine Annahme, die sich besonders auf sozialpsychologische Erkenntnisse stützt, die die Bedeutung von Selbstnarrationen für den Prozess der Identitätskonstruktion herausstellen. Auch schriftlich verfasste Selbstreflexionen und -narrationen, wozu alle Arten von autobiographischen Texten zu zählen sind, gelten hier als Möglichkeit notwendiger Selbstvergewisserung. Sie können die Entstehung des Gefühls von Kohärenz und Orientierung nachhaltig fördern (vgl. Kap. 8). Generell bestätigt sich dabei auch der bekanntermaßen besonders exponierte Zusammenhang zwischen Identitätskonstruktion, Spracherfahrung und Sprachgestaltung. Die Mehrsprachigkeit der Autor/ innen kann jedoch keineswegs auf eine, wenngleich auch sehr effiziente Ressource existenzieller Lebensbewältigung reduziert werden. Sie ist nicht zuletzt eine wichtige, impulsgebende Komponente ihres gesamten Schreibprozesses und als solche ein wichtiger Motor ihrer literarischen Kreativität. Vor diesem Hintergrund werde ich in diesem abschließenden Kapitel den Fokus verschieben und nunmehr zentral dem Problem nachgehen, in welcher Weise die Autor/ innen sich in ihrer Literatursprache Deutsch verorten. Anders ausgedrückt, wird der Frage nachgegangen, wie sie sich in Sprache positionieren und wie sie das Gestaltungspotential von Sprachräumen erschließen, damit es einerseits zu der für die Identitätskonstruktion notwendigen „Passung“ von innerer und äußerer Welt kommt und andererseits dem Wunsch nach erfolgreicher literarischer (Selbst-)Inszenierung und kreativen Entfaltung entspricht. 153 Dabei stellt sich zuerst die Frage nach dem Prozess des E r s c h r e i b e n s ihrer Literatursprache. Zum zweiten, wie sie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Dialogfähigkeit im Deutschen reflektieren und drittens, möchte ich punktuell der Frage nachgehen, welche literarische Bezugnahme auf reale Lebenskontexte von ihnen benannt und in ihre Selbstreflexionen miteinbezogen werden. Damit soll insbesondere verdeutlicht werden, in welcher Weise und aus welchen subjektiven Gründen sie lokalbzw. kulturspezifische Alltagsphänomene sowie sprachliche Varietäten aufgreifen und fiktionalisieren. Die als Sprachräume bezeichneten konkreten Zugriffsbereiche der Autor/ innen sind dabei ebenso we- 153 Dieses Untersuchungsinteresse klammert eine literaturwissenschaftliche Perspektive, die die ästhetische Dimension von Texten, also die Frage, w i e der (literarische) Raum als fiktionaler Ort gestaltet wird, aus, da dies erklärtermaßen nicht das Erkenntnisinteresse vorliegender Studie ist. 142 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven nig wie Sprache selbst abgeschlossen und umgrenzt, auch wenn die von einigen Autor/ innen entwickelte Metaphorik 154 dies zu suggerieren scheint. 155 Aus der sich in ihren Reflexionen abzeichnenden Sicht, ist die V e r o r t u n g i m S p r a c h r a u m weit mehr als eine Denkfigur. Sie bedeutet vielmehr konkretes Sprachhandeln, das der kreativen Erprobung und Erschließung der Sprache als literarischem Ausdrucksmedium dient. 11.1 Sprache erschreiben Beim E r s c h r e i b e n der Literatursprache steht die Fremdsprache als System im Vordergrund, dessen morphosyntaktische, lexikalische und semantische Besonderheiten aufgespürt werden, wodurch sie zu einem Terrain der Erkundungen und des Experimentierens gerät. Zusätzlich wird bei der damit einhergehenden Verortung im Sprachraum der emotionale Bezug zu Sprachen und Varietäten und Aspekte des Sprachbzw. Fremdspracherwerbs reflektiert. In einem fortlaufenden Lern- und Schreibprozess vermessen die Autor/ innen das Deutsche als Literatursprache und stellen dabei in unterschiedlicher Weise eine Beziehung zu den anderen Sprachen und Varietäten ihres Repertoires bewusst her oder bemerken, dass diese sich zunächst ‚unbemerkt‘ ergeben hat (vgl. Kap. 4). Diese Bewegung der bewussten Raumvermessung entspricht dabei nicht nur der erklärten Absicht vieler Autor/ innen, ihre (literarischen) Suchbewegungen auf metasprachlicher Ebene zu thematisieren, sie verweist vor allem auch auf ein ausgeprägtes multilinguales und zwischensprachliches Bewusstsein, wie es beispielsweise in dynamisch systemtheoretischen Ansätzen zur Erforschung der Mehrsprachigkeit herausgearbeitet und in dem D y n a - 154 Vergleiche dazu das häufig anzutreffende Bild von Sprache als Haus, das man betreten und bewohnbar machen kann (u.a. Schami 2019c: 60-74). 155 Bereits seit einigen Jahren wird im Bereich der angewandten Sprachwissenschaft die Vorstellung von Sprachen „als voneinander klar abgegrenzten Entitäten“ zunehmend bezweifelt (vgl. S. 130f.). Mit Bezug auf Derrida betont etwa Busch (2021), dass es unmöglich sei, Sprachen abzuzählen, „weil die Einheit der Sprache, die sich aller arithmetischen Abzählbarkeit entzieht, niemals bestimmt ist.“ Vor allem wenn man sich „mit konkreten sprachlichen Praktiken, mit Sprache in der Interaktion“ auseinandersetzt, müsse man „sprachliche Differenz und Differenzierung als Ausgangspunkt“ annehmen, wozu etwa auch „verschiedene Varietäten, Register, Jargons, Genres, Akzente, Stile, mündlich wie schriftlich, die sich teilweise einem Sprachsystem, teilweise einem anderen zuordnen ließen, teilweise auch mehreren oder keinem“ (Busch 2021: 11-13). Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen zu der bereits zitierten dynamischen Konzeption von Mehrsprachigkeit von Allgäuer-Hackl/ Jessner (2015), die ich in Kap. 4 anführe. Sprache erschreiben 143 m i s c h e n M o d e l l d e r M e h r s p r a c h i g k e i t konkretisiert wird (vgl. u.a. Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015; Herdina/ Jessner 2002). 156 Letzteres bezieht sich insbesondere auf das Bewusstsein der Interaktion zwischen den Sprachsystemen eines individuellen Sprachrepertoires. So gesehen umfasst es m.E. auch das Bewusstsein sprachlicher Differenzen, denn die dezidierte Erkundung und Erprobung des Sprachmaterials erfolgt (auch) durch Vergleichen und Evaluieren der vorhandenen sprachlichen Ressourcen, die schließlich zur Selektion und Formung bestimmter sprachlicher Ausdrücke führt. Diese bewusst erlebte Differenz zwischen Sprachen und Varietäten des individuellen Repertoires kann somit als p r o d u k t i v e D i s t a n z erfahren werden und, wie etwa Ilma Rakusa darstellt, dem Deutschen „andere (Sprach-)Erfahrungen [zuführen]“. Sie bezeichnet dies als einen „subtile[n] Übersetzungs- und Verfremdungsprozess, auf den vielleicht auch der Begriff Überformung zutrifft“ (Rakusa 2008: 79). Bereits in ihrer ersten Dresdner Poetikvorlesung thematisiert sie in einer längeren Passage eindrücklich das besagte multilinguale und zwischensprachliche Bewusstsein. In Anlehnung an Pastiors Verdikt „Die Sprachen in mir sind inkompatibel gemengt“ reflektiert sie ihren „inneren Sprachhaushalt“, indem sie der Frage nachgeht, wie sich das Verhältnis zwischen ihren Sprachen gestaltet: Das Ungarische, meine erste und - ja - Mutter-Sprache, ist häuslich und kindheitlich, eine Küchen-, Katzen- und Kindersprache, affektiv, unmittelbar, zärtlich und unerwachsen. […] Manches trennt das Ungarische von den späteren Sprachen, denn zwischen Ungarisch und dem ‚Rest‘ liegt die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit. Schon Slowenisch habe ich bewusst, ja geradezu zerebral gelernt, und die weiteren Sprachaneignungen hatten alle etwas Forschendes. So kann ich meine Faszination fürs Russische ebenso analytisch begründen wie meinen Respekt vor dem Französischen. Russisch mit seinem stupenden Reichtum an affektiven Suffixen verfügt über eine emotionale Bandbreite wie keine andere mir bekannte Sprache, während das Französische einiges hinter seiner eleganten Rhetorik kaschiert […]. Jede Sprache bedeutet eine eigene Welt. Und indem ich sie spreche, nehme ich teil an ihren Sitten und Charakteristiken. Ich bin jedesmal eine andere, verwandelt durch das Medium selbst (Rakusa 2006b: 30). 156 Herdina/ Jessner heben hervor, dass bereits ältere Forschungen betonen, dass ein metalinguistisches Bewusstsein bei mehrsprachigen Individuen generell besonders ausgeprägt ist: „The ability to focus attention on language as an object in itself or to think abstractly about language and, consequently, to play with language is one of the features typical of a multilingual’s cognitive style in contrast to most monolinguals“ (2002: 62). 144 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven Verortung im Sprachraum bedeutet bei Vladimir Vertlib eine Zuordnung zu einem „Grenzbereich“ als „schriftstellerische Heimat“, der durch die Gleichzeitigkeit von Sprachen (und Kulturen), „das Nebeneinander“ markiert ist (Vertlib 2007c: 59; vgl. Kap. 3.3). Dass er dabei immer wieder aufs Neue Wörter und Ausdrücke überprüfen, insgesamt Sprache ständig kritisch hinterfragen muss und diese nicht mit „intuitiver Selbstverständlichkeit“ gebrauchen kann, erachtet er als einen Vorteil, denn dadurch sei es für ihn einfacher „mein Schreiben aus der kritischen Distanz zu betrachten und somit meine Möglichkeiten und Grenzen besser zu erkennen.“ Diese subjektive Erkenntnis weitet er dann aus und bezeichnet diese „Fähigkeit zur Distanz als ein Signifikum von Literatur überhaupt.“ Er betont schließlich, dass „Distanzen aufgebaut werden [müssen], bevor man eine Wiederannäherung an ein Thema wagen kann“ (Vertlib 2007c: 59). Das Erschreiben der Literatursprache Deutsch wird somit in besonderer Weise dadurch ermöglicht, dass für ihn allen deutschen Wörtern ein Rest von Fremdheit anhaftet: Darin liegt aber auch die Chance, den scheinbar bekannten und dennoch nicht ganz vertrauten Worten eine neue, manchmal überraschende Bedeutung zu geben oder sie in einen ungewohnten Kontext zu stellen (Vertlib 2007c: 59; vgl. Vertlib 2012m: 91). Als eine weitere wichtige Voraussetzung für das Erschreiben der Literatursprache reflektieren Autor/ innen den Einfluss des Lesens bzw. insgesamt ihrer Lesesozialisation und vor allem den Einfluss auf das Schreiben. So betont beispielsweise Ilma Rakusa, dass sie in ihrer „Hauptsprache“ Deutsch seit ihrem sechsten Lebensjahr nicht nur Lesen und Schreiben gelernt, sondern auch versucht habe, sich „die Gegenwelt der Literatur“ anzueignen und im Verlauf eines anstrengenden Lernprozesses mit dem Deutschen „Bewusstheit“ erlangte, „die Erkenntnis von Andersartigkeit“ und den „sorgsame[n] Umgang mit dem Wort“ (Rakusa 2008: 76). Sie erklärt schließlich das Deutsche zur Sprache des „Ernstfall[s]“, mit der sich ihr nicht nur Literatur erschließt, sondern, durch die auch der Wunsch geweckt wird, selbst zu schreiben: Als ich in der Schweiz Deutsch lernte, spürte ich den Druck der Notwendigkeit: Vorbei die Zeit spielerisch-ungezwungener Sprachaneignung, das Kind probte den Ernstfall. Das Kind oder das Nicht-mehr-ganz-Kind? Deutsch, das mir die Welt der Bücher erschloss, führte mich rasch in die Erwachsenenwelt, auf Expeditionen und Weltumsegelungen, auf Tibets Bergriesen und in den Wilden Westen. Meine Neugier entwickelte sich auf Deutsch, mein Versuch, sie in Worte zu fassen, desgleichen (Rakusa 2008: 76). Sprache erschreiben 145 Francesco Micieli beschreibt das Zusammenwirken von Lesen und Schreiben als einen Akt der „Verführung“, bei dem die Beziehung zwischen „Lesenden und Schreibenden“ ununterbrochen anhält und beim Lesen der Text immer wieder aufs Neue entsteht. Von Texten habe er sich immer „verführt“ gefühlt und bereits in seiner Kindheit Literatur „verschlungen“. Diese intensive Wirkung, die von „guten Texten“ ausgeht, „erzeugt Lust auf Lesen, Lust auf Schreiben“: Die guten Texte bringen dich zum Schreiben. Sie machen dir nicht Angst. Sie sagen die nicht: Schau wie gross und gut ich bin. So etwas wirst du nie erreichen. Sie laden dich ein. Verstehe mich und versuche auch du, flüstern sie ins Ohr. Die guten Texte werden Sprache. Der Traum des Schriftstellers ist Sprache zu werden (Micieli 2015c: 76). Zwei Jahre nach der Publikation seines erfolgreichen Debütromans „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (2006) (vgl. Stanišić 2008: 104-109 und Steinberg 2019: 181-205) beschreibt Saša Stanišić seinen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Deutschen und der bewussten Verortung im Sprachraum. Dabei relativiert er zunächst grundsätzlich die Bedeutung eines Schreibprozesses in der Fremdsprache, indem er behauptet, dass „an sich nichts Besonders an dem Umstand [sei], dass man in einer fremden Sprache schreibt, wenn man meint, man könne sie hinreichend produktiv gebrauchen“ (Stanišić 2008: 108). Für ihn sei vielmehr der literarische Schreibprozess, der Prozess der Fiktionalisierung „das Schreiben an sich eine fremde Sprache“: Ich muss die Stimme des Erzählers finden, ich muss mich für die speziellen verbalen Züge meiner Figur entscheiden, und ich muss den Rhythmus und Fluss des Ganzen erlernen und aufrechterhalten (Stanišić 2008: 108f.). Die ganze Klaviatur des literarischen Schaffens muss, so kann man diesen Äußerungen entnehmen, wie die Bestandteile einer fremden Sprache neu erworben werden. Saša Stanišić erhebt damit den Schreibprozess zunächst quasi selbst in den Rang einer Fremdsprache, bevor er die Dimension der Verortung im fremdsprachlichen Raum reflektiert. Dabei unterstreicht er, dass mehrsprachige Autoren „an irgendeinem Punkt ihrer Laufbahn“, eine bewusste Entscheidung treffen und eine gleichermaßen bewusste Sprachwahl vornehmen müssen. Die Wahl der Fremdsprache als Literatursprache scheint dennoch auch reduktiv zu sein, denn die Autor/ innen, die eine solche Entscheidung getroffen haben, schreiben „jetzt durch den Filter einer fremden Sprache hindurch“ (Stanišić 2008: 109). Es bleibt zunächst die Frage offen - wenn man in diesem Bild bleibt - welche ‚Rückstände‘ in diesem Filter bleiben oder anders gesagt, welche Elemente der Herkunftssprache nicht in die Fremdsprache einfließen und 146 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven bestenfalls als latente Sprache weiterexistieren. Nicht angesprochen ist an dieser Stelle auch die Frage nach einer eventuellen bewussten Steuerung denkbarer Transferprozesse (vgl. dazu exemplarisch Allgäuer-Hackl/ Jessner 2015: 213) von einer in die andere Sprache. Analog zu dieser relativierenden Sicht auf das literarische Schreiben in der Fremdsprache, kritisiert Saša Stanišić die Einschätzung professioneller Leser/ innen, die in ihren kritischen Kommentaren und Rezensionen automatisch die Originalität und Innovativität der literarischen Produktion mehrsprachiger Autor/ innen ausloben und damit dem Schreiben in der Fremdsprache ebenso automatisch ästhetische Qualitäten zugestehen. Generell betont er, dass der bewusste Umgang mit Sprache, eine überaus reflektierte und geplante Verortung im Sprachraum, oberste Priorität hat. Nur auf diese Weise kann der kreative Umgang mit der Fremdsprache, das „vorsichtige Eindringen in eine zweite Sprache“ zu wunderbaren Ergebnissen führen. Jegliche sinnvolle, sich den Autor/ innen quasi aufdrängende Schreibstrategie führe eben nur dann zum Erfolg, wenn „man sie durchdacht und logisch betreibt und nicht bloß, um einen ‚Sound‘ oder ein diffuses ‚Gefühl‘ zu erzeugen“ (Stanišić 2008: 109). Ein besonders ausgeprägtes multilinguales und zwischensprachliches Bewusstsein und der damit verbundene bewusste Rückgriff auf herkunftssprachliche Ressourcen geht schließlich auch aus seiner Beschreibung der strukturellen Transferbewegungen hervor, die der Autor für seinen Schreibprozess in Erwägung zieht. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die direkte Übersetzung von Phrasemen, sog. „strukturelle Transformationen“ und „rhythmische Nachahmungen“ sowie „Neologismen, die von der alten Sprache inspiriert werden“ (Stanišić 2008: 109). Grundsätzlich habe jeder Autor in jeder Sprache, in der er schreibt, die Möglichkeit, grenzenlos zu experimentieren und dabei auch „mit Märchen und Mythologien anderer Nationen“ zu arbeiten. Saša Stanišić beschließt seine Reflexionen mit der Überzeugung, dass „die Sprache […] das einzige Land ohne Grenzen“ sei und mit folgendem Appell: Jeder kann (und sollte) von dem Privileg Gebrauch machen, eine Sprache größer, besser und schöner zu machen, indem er dort einen Wortbaum pflanzt, einen noch nie zuvor gezüchteten (Stanišić 2008: 109). Eine ebenfalls sehr dezidierte zwischensprachliche Reflexion, die sich mit dem Problem des Erschreibens der literarischen Fremdsprache und den Möglichkeiten und Grenzen bewusster Transferprozesse im Zuge der ästhetischen Sprachformung befasst, ist bei Franco Biondi an vielen Stellen, besonders aber in zwei verschriftlichten Vorträgen „Über literarische Sprachwege“ (1996) und „Sprache als Herausforderung“ (1998) (Biondi 2017d und b) zu finden. In beiden Texten erörtert er ausführlich seine kontaktsprachlichen Erfahrungen und ermöglicht Sprache erschreiben 147 damit eine Innensicht, die für vorliegende Studie zielführend ist. Im Gegensatz zu Saša Stanišić hält er es für keine praktikable Schreibstrategie, „viele Redewendungen, Bedeutungsäquivalente, Sprichwörter etc. aus der Herkunftssprache in die Ankunftssprache“ einzuführen. Da er grundsätzlich der Auffassung ist, dass ein Autor ein kritisches Verhältnis zur „Standardsprache“ entwickeln müsse, könne „diese Transplantation auch nur eine implizite Akzeptanz der Standardsprache“ sein. In anderer Hinsicht sei darin auch ein „deutliches Zeichen an Vertrauensmangel gegenüber der Sprache“ auszumachen. Ein weiteres Argument gegen „eine solche Einfuhr“ richtet sich gegen eine damit verbundene mögliche Nutzbarmachung „exotische[r] Elemente“ für die „Kaufbereitschaft [], wenn [das Lesepublikum, Anm. d. Verf .] eine Selbstbestätigung und die Bestätigung seiner Fremdbilder findet“ (Biondi 2017b: 181). 157 Allen Schwierigkeiten zum Trotz, insbesondere der Erfahrung von Sprache als „fremde[r] Macht“, „der ich ausgeliefert war und gegen deren Omnipotenz ich kämpfen musste“ (Biondi 2017a: 71; vgl. Kap. 5.2), wird für Franco Biondi die Fremdsprache Deutsch ein favorisierter Ort seiner kreativen Entfaltung. In seiner Auseinandersetzung mit der Verfügbarkeit und dem Potential des Deutschen als Literatursprache entwickelt er dafür leitmotivisch eine Raummetaphorik (vgl. S. 47 u. Anm. 60, S. 49), die die Sprache als b e w o h n b a r e n L e b e n s r a u m evoziert. Sie wird mit einem Haus verglichen, das man betreten, in dem man sich frei bewegen kann, das jedoch unbedingt individuell und bewusst ‚ausgestaltet‘ werden muss. 158 Eine genaue Überprüfung des Sprachmaterials, was auch bedeutet, dass Autor/ innen ihr Verhältnis zu der von ihnen ge- 157 Vergleiche dazu auch die kritische Position von Yüksel Pazarkaya in Bezug auf „die deutschsprachigen Texte der Vertreter der ersten Zuwanderergeneration, die sich konsequent für den Sprachwechsel entschieden haben“. Das Türkische hinterließe hier „seine Spuren, oft dick aufgetragen. Als eklatantes Beispiel führt er die Texte von Emine Sevgi Özdamar an, die alle auf diesem Prinzip beruhten: „Das im Deutschen reizvoll frisch Erscheinende lässt sich oft mühelos ins Türkische zurücktransportieren, weil es sprachlich und kulturell dem türkischen Raum gehört. Und den deutschen Kulturraum sieht in ihnen das epische Ich eben mit den Augen, die es mit der Jurte, dem Sprach- und Kulturraum, mitgebracht hat. Dabei spielt natürlich der Kunstgriff, alles Deutsche in diesen Augen unmittelbar naiv zu widerspiegeln [sic! ], ebenso eine wesentliche Rolle, wie eben der Kunstgriff, den türkischen Kultur- und Sprachraum mit ebensolcher Naivität interlinear ins Deutsche zu reflektieren“ (Pazarkaya 2004: 32). 158 Vergleiche dazu die Beschreibung von José F.A. Oliver in dem bereits erwähnten Essay „Zwei Mütter, wie ich in der deutschen Sprache ankam“ (2015d; vgl. Kap. 3.1). Er verbindet seine ersten Erfahrungen der Mehrsprachigkeit konkret mit dem Haus seiner Kindheit, als Ort, der es ihm ermöglicht hat, Mehrsprachigkeit alltäglich zu erleben und in diese hinein zu wachsen; vgl. dazu auch Anm. 46, S. 32. 148 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven wählten Literatursprache reflektieren und sich bewusst machen müssen, ist dabei eine notwendige Voraussetzung: Der Bedarf einer Klärung besteht umso mehr, wenn man in einer Sprache schreibt, der man nicht seit frühester Kindheit nah ist. Es ist dann notwendig, das Vertrauen zu sich und zu den eigenen Erfahrungen kritisch und konstruktiv zu betrachten und zu der Sprache und deren Grenzen in Beziehung zu setzen. Tut ein Autor dies nicht, kommen er und seine Sprache so zum Ausdruck, als seien sie mit einem naiven Vertrauen ausgestattet. Und abwesend (Biondi 2017b: 180). Es handelt sich folglich darum, „sich im Deutschen einzurichten, „sich im Haus der Sprache einzurichten“ und sich diese „immer passender zu machen“. Dabei kann allerdings nicht verhindert werden, dass ein Stück weit ‚Fremde‘ in der Sprache bleibt (vgl. Biondi 2017a), die, so kann vermutet werden, eben als solche angenommen und ‚inventarisiert‘ werden muss. Der Autor Franco Biondi positioniert sich somit im Deutschen selbstbewusst und weit davon entfernt, sich dem vermeintlichen Diktat einer normierenden Grammatik zu beugen (vgl. Kap. 6). Einer solchermaßen entschiedenen Verortung in der Fremdsprache Deutsch entspricht die Auffassung, dass diese grundsätzlich uneingeschränkt und individuell formbar ist und das auch dann, wenn das Deutsche erst zu einem späteren Zeitpunkt erlernt wurde, wie es etwa bei Franco Biondi der Fall ist. 159 Für ihn bedeutet dies letztlich keinerlei unüberwindbare Barriere und die ggf. auf den späten Fremdspracherwerb zurückzuführenden ‚Einschränkungen‘ stellen sich seiner Verortung im Deutschen nicht in den Weg. Ähnliches klingt auch in den Betrachtungen von Ilija Trojanow (2017: 90) an, wenn er betonte, dass der Exilant sich bemühe, „die Sprache zu verändern. Jene Begriffe nachzubessern, die schlecht sitzen, wenn sie ihm übergestülpt werden“. Trojanow evoziert das Bild eines Kleidungsstücks, das angepasst werden muss, um sich darin wohl zu fühlen. Ohne die damit verbundenen Schwierigkeiten leugnen zu wollen, bedeutet dies jedoch nicht, dass dieser Versuch „alte Hunde (…) zu bändigen“ zum Scheitern verurteilt ist. Auch er metaphori- 159 Vergleiche dazu die kritische Position von Corino in einem 1994 geführten Briefwechsel mit Franco Biondi: „Selbstverständlich ist die deutsche Sprache in der Lage, Erfahrungen aus anderen Sprachwelten und Kulturen aufzunehmen, Sprichwörter z.B. sprachliche Bilder, Metaphern usw. […] aber es geht z. B. nicht an, dass ein deutsch schreibender Marokkaner die deutsche Grammatik nach dem Vorbild der marokkanischen Grammatik umbildet, ein Türke sie nach türkischen Sprachgesetzen ummodelt, ein Russe nach russischen usw.: das Ergebnis wäre ein multikulturelles Kuddelmuddel, in dem niemand mehr etwas - und den anderen - versteht“ (Biondi 2017e: 295). Sprache erschreiben 149 siert Sprache als Raum, den man betreten kann. Ihm zu Folge hat dies allerdings weithin sichtbar zu geschehen und vorgenommene Veränderungen müssen dabei von Bestand sein: Seine [des Exilanten, Anm. d. Verf.] persönliche Anpassung wandelt Hand in Fuß mit der Anpassung der Neusprache. Dieser Sprache soll eines Tages anzumerken sein, formuliert er eingedenk all jener „Entwurzelten“, „Fremdstämmigen“, „Verlorenen“, die sich vor ihm in der vermeintlichen Ortlosigkeit ihrer Existenz verirrt haben, dass solche wie wir hier angekommen sind. Die Sprache soll Spuren unserer Anwesenheit aufweisen (Trojanow 2017: 91). 160 In ähnlicher Weise argumentiert auch Chiellino (2003c: 31) in den Kommentaren zu seinem Lyrikband „Sich die Fremde nehmen“ (1992). 161 Das Erschreiben der Fremdsprache Deutsch und die Verortung in ihr bedeutet für ihn, sich in einem Sprachraum ‚einzurichten‘, dem die Dimension der Kindheit fehlt, was jedoch nicht als Manko angesehen wird. Ganz im Gegenteil, das Deutsche ist eine Sprache „die mich nach vorne denkt“ und zur weiteren Kreativität an- 160 Vergleiche hierzu u.a. den Beitrag zu Formen literarischer Mehrsprachigkeit von Skiba (2010: 323-334), der in der Literatur mehrsprachiger Autoren vor allem das Phänomen textinterner Sprachmischungen, d.h. „die Integration fremdsprachiger Elemente sowie […] verschiedene Strategien, [um] deren Verständnis zu sichern“ untersucht. Genauer gesagt sind dies „Wörter, Phrasen oder ganze Abschnitte, die ein/ e LeserIn nicht ohne Weiteres verstehen kann, also keine bereits kodifizierten Fremdwörter (Skiba 2010: 324). Sein erster Befund ergibt, dass es sich um ganz spezifische sprachliche Einheiten handelt, die in die Texte eingearbeitet werden, von denen zwei für die vorliegende Untersuchung besonders relevant sind: Außer kulturspezifischen Phänomen, so führt Skiba aus, „werden häufig kollektiv tief verankerte bzw. biographisch prägende Phrasen, Sätze und kurze Intertexte in der Fremdsprache zitiert.“ Zum Zweiten kommt er zu dem Ergebnis, dass verschiedene Strategien angewandt werden, um diese besonderen sprachlichen Einheiten in den literarischen Text zu integrieren. Insbesondere „Formen der Übersetzung, der metasprachlichen Kommentierung und der Kontextualisierung“ schienen sich etabliert zu haben (Skiba 2010: 334). 161 Interessant ist in diesem Zusammenhang der Bericht von Hassoun (2003: 17-20) über Charlotte Salomon, einer in den 1940er Jahren nach Nizza geflohenen Berliner Jüdin. Als sie unerwartet von ihrem Großvater erfährt, dass ihre Großmutter und Mutter sowie deren jüngere Schwester Selbstmord begangen hatten, ist sie erschüttert und verliert die Beherrschung. Der Großvater reagiert zornig mit den Sätzen: „Nun nimm dir schon endlich das Leben, damit dies Geklöne endlich aufhört! […] Aus dem Ausdruck ‚sich das Leben nehmen‘ […] können wir indessen auch die Aufforderung heraushören: ‚Ergreife das Leben, nimm es auf! ‘ Und genau in diesem Moment fängt Charlotte an zu leben. Verzweifelt stürzt sie sich in die Malerei - ein Wettlauf mit dem Tod“ (Hassoun 2003: 17f.). 150 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven spornt. Gleichzeitig ist damit die Entscheidung für die Sprache der „Gesprächspartner“ gefallen. Mit Bezug auf den Titel heißt das, dass das lyrische Ich sich dadurch selbstbewusst die „sprachliche Fremde […] genommen“ hat (Chiellino 2003c: 32): Ihm [dem lyrischen Ich - Anm. d. Verf.] geht es jetzt darum, die Sprache seiner Gesprächspartner so seiner Fremde gegenüber zu öffnen, daß aus der fremden eine vertraute Sprache wird, in der ein paritätisches Gespräch zwischen dem lyrischen Ich und seinen Gesprächspartnern stattfinden kann (Chiellino 2003c: 32). Abschließend möchte ich Marica Bodrožić zitieren, die in Anlehnung an ein Zitat von Georges-Artur Goldschmidt („Das Wesen des Menschen […] drückt sich in dem Maße aus, in dem der Mensch sich in der Sprache erfindet“) von sich behauptet, dass die deutsche Sprache ihr besser als jede andere, die Möglichkeit gebe, sich zu erfinden: Mein Buch Sterne erben, Sterne färben, ist eine Art Liebeserklärung an die Möglichkeiten der deutschen Sprache. Ich gehöre ihr als Mensch und als Schreibende an. Alles, was ich anfange zu schreiben, schreibe ich nicht etwa, um lediglich Geschichten zu erzählen: Das möchte ich dann auch, aber das ist nicht der Ursprung, nicht die - ich möchte fast sagen - pathologische Ursache. Es ist immer die Musikalität, die Formenvielfalt, sind die Klangtableaus der deutschen Sprache. Es ist nicht wahr, dass das Deutsche hart ist! Es verfügt über so viele Rhythmen, so viele tonale Möglichkeiten, dass mir manchmal vor Freude schwindelig wird, beim Schreiben, weil ich dann die Erfahrung der Sprachmusik mache und sogar manchmal dieser Musik nachschreibe, nach innen höre, den Wörtern entlang. Das hat manchmal etwas von den Methoden der Surrealisten, aber bleibt doch immer in einem greifbaren Rahmen, weil schließlich die Erzählerin in mir all das doch zu bändigen versucht, um es in einer Geschichte münden zu lassen (Bodrožić 2008: 74f.). 11.2 Dialoge In ihrer Auseinandersetzung mit der Fremdsprache Deutsch beschränken sich Autor/ innen nicht nur auf den individuellen Bezug, den sie zu ihr im Verlauf ihres literarischen Schreibprozesses entwickeln und/ oder auf das Potential sprachlicher Formbarkeit, sondern sie reflektieren auch die kommunikative Funktion ihrer Texte, insbesondere die Rezeptionssituation, die aus dem Wechsel des kulturellen Umfelds resultiert. Dabei stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Autor/ innen davon überzeugt sind, durch ihre Verortung im Deutschen als literarischer Fremdsprache den Dialog mit dem deutschsprachigen Lesepu- Dialoge 151 blikum in zufriedenstellender Weise ermöglichen zu können. Zudem muss in Betracht gezogen werden, dass der Verlust des gewohnten Lebensumfeldes auch Verlust oder zumindest Einschränkung der gewohnten Interaktion zwischen Autor/ in und Leser/ in bedeutet. Im Rückblick auf die 1980er Jahre, in denen im Kontext der Entwicklung einer deutschsprachigen Migrationsliteratur einige Autor/ innen erste Positionsbestimmungen vornahmen, ist erkennbar, dass die von ihnen intendierte sprachästhetische Funktion ihrer Texte im Sinne eines innovativen, die deutsche Sprache bereichernden Schreibens, dezidiert auch den Dialog mit dem deutschsprachigen Lesepublikum umfasst und auch im Hinblick auf die damalige Konzeption einer ‚littérature engagée‘ für unentbehrlich gehalten wird. 162 Die Tragfähigkeit dieses ‚erweiterten Sprachraums‘ muss jedoch immer wieder aufs Neue überprüft werden und das Nachdenken über die Sprache(n), die zu Gunsten des Deutschen als Literatursprache aufgegeben wird, gewinnt auch bei Exilautor/ innen 163 eine besondere Qualität. Sie empfinden den Prozess der Verortung im Deutschen in einigen Fällen als sehr ambivalent, und oft überwiegt das Gefühl, vertrautes Terrain endgültig verloren zu haben. Die kontinuierliche Entfremdung von der Herkunftssprache lässt sich für manche Exilautor/ innen in dem anderen kulturellen Umfeld nicht aufhalten. Hinzu kommt ein oft gespaltenes Verhältnis, das einige von ihnen zu ihrer Herkunftssprache haben. Sie schwanken zwischen einer tief empfundenen emotionalen Identifizierung, sind aber auch gezeichnet von den traumatischen Erlebnissen, die das Aufgeben des ursprünglichen Lebens- und Sprachraums bedingt haben. Eine solche Lebenskonstellation prägt die oft ausgesprochen selbstkritische Auseinandersetzung der Autor/ innen mit ihrem Schreibprozess. Der 1980 zur Ausreise aus der Tschechoslowakei gezwungene und 2011 verstorbene Jiřì Gruša hat in diesem Zusammenhang im Rahmen der Vorlesungen während seiner Dresdner Poetikdozentur, die 2000 erschienen sind, eine Reihe von Einblicken in seine Sprachreflexionen sowie seine Poetik gewährt. Er spricht dabei u.a. generell vom Unbehagen in der tschechischen Sprache, von der sprachlichen „Ghettoisierung“ der Intellektuellen und vom „Erlebnis der Unwirklichkeit unserer Lebensart“ (Gruša 2000c: 34): Ein anderer wollte wissen, ob ich jetzt beschreibe, was ich erlebt habe. Er meinte eine Selbstreportage - authentisch, in der Manier der Zeit. Gewiss sagte ich, und war überzeugt, es wäre gar nicht schlecht, etwas Deftiges zu liefern. Doch erst jetzt, nach zwanzig Jahren, komme ich dazu, werde beredsamer - in einer anderen Sprache. Damals fing ich an, sprachlos zu sein. Ungewollt und unerwartet. 162 Vergleiche Reeg (1988, besonders Kap. 3). 163 Ich beziehe in dieser Studie nur Exilautor/ innen mit ein, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in deutschsprachige Länder immigriert sind. 152 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven Das Tautologische schlich um mich herum und ich spürte das Rein-mit-der- Sprache-Spiel, das man mit uns trieb. Die böhmischen Kochrezepte betitelte ich später diese Art, mit uns umzugehen, in einem deutschen Gedicht […] (Gruša 2000c: 35f.). Im Zusammenhang mit dem politischen Exil sind Autor/ innen also grundsätzlich mit dem Problem konfrontiert, welche kreativen Möglichkeiten sie sich notgedrungen in der deutschen Sprache als Zufluchtsraum erschreiben können. Anders ausgedrückt, es stellt sich für sie die Frage, ob das Deutsche als Literatursprache genauso kreativ ausgeschöpft werden kann, wenn es kein frei erwähltes Medium, sondern eine e r z w u n g e n e Sprache ist und inwieweit es in der Folge einem Dialog mit dem Lesepublikum standhalten können wird. Aus dem Gefühl der Beschädigung und Verletzung ist für Jiřì Gruša, der in seinem Herkunftsland bereits ein intellektuelles Profil und eine klar umrissene politische Wirkungsabsicht hat, die Möglichkeit, weiterhin mit einem Zielpublikum zu interagieren und nicht zu verstummen, eine zwingende Notwendigkeit. Im Rückblick erinnert Jiřì Gruša, dass er sich nach seiner Haftentlassung endgültig „lädiert“ vorgekommen sei. Als Schriftsteller habe er zu schreiben aufgehört oder sei in eine Art „Zwischensprache“ geraten: Wie gesagt, die Autorität eines Autors, die Worte bringen es etwas näher, ist ein Gleichheitszeichen zwischen dem Wort und der Vita. Aber diese Gleichheit ist eben keine Identität, sondern komplex! […] Unsere Sprache war als solche fast leer. Der Dialog als Grundform der Inhaltssuche wurde immer lautloser (Gruša 2000c: 33). Dieser Dialog, den er als eine Grundfunktion des literarischen Schreibens apostrophiert, setzt jedoch voraus, dass es ein Lesepublikum gibt, dass angesprochen werden kann und sich angesprochen fühlt, das in der Lage ist, die (literarische) Mitteilung zu verstehen. Noch vor seinem Exil - als Beleg dafür gelte seine „letzte tschechische Prosa“ - beschreibt er die Erfahrung, sich total „verheddert“ zuhaben: „Ich war am Ende mit meinem Tschechisch, ohne es zu wissen“ (Gruša 2000b: 41). Und noch etwas Schreckliches ist mir passiert. Der Text war kontextlos. Da ich nur für einen Menschen schrieb - wurde ich monologisch. Zeitebenen verstrickten sich. Mitgehen und Mitverstehen war nur mir möglich. Ich wusste doch immer, wohin ich wollte, für die anderen aber hinterließ ich keine Marke. In meinem besten Text - so ehrgeizig dachte ich über ihn - wurde ich tautologisch. Sprach nur mit mir selbst (Gruša 2000b: 41). Dialoge 153 Eine sprachliche Verortung muss also unbedingt auch das Ziel verfolgen, den dialogischen Charakter von Sprache wieder in den Vordergrund zu stellen. Denn grundsätzlich, so gibt Jiřì Gruša an andere Stelle zu bedenken, hätten Autoren „Imperative und Ausrufezeichen zu meiden“, um die Texte zu „entprophetisieren“ (Gruša 2000a: 14). Literatur bzw. die literarische Sprache muss ganz entschieden als Gespräch erfasst und als solches konkret mit dem jeweiligen Autor in Verbindung gebracht werden, wodurch die literarische Kommunikation erst jenen dialogischen Charakter erhält, der sich dezidiert von den Sprachhandlungen autokratischer Machthaber unterscheidet: Sie ist es doch, sie ist selbst in ihrem Wesen ein Reden untereinander. Selbst wenn es sich nur um ein Vier-Augen-Gespräch handeln sollte, an das ein gutes Gedicht erinnert. […] Die, die miteinander sprechen, senden unzählige Signale aus, die nicht immer adressiert sind. Der Empfänger muss suchen. Die Paradoxie des Gedichtschreibens meint: sich als Empfänger neu zu fühlen, der seine Nachricht erkennt und nimmt. Das geht nicht ohne Risiko der Ortung. Darum bist du als Dictor/ Dichter nicht anonym. Denn das Gefundene will garantiert werden, will einen Namen tragen. Und aus dem gleichen Grunde lieben Machthaber Anonymität. Besonders Diktatoren, monologisch und allein. Schlafen jede Nacht in verschiedenen Zimmern, züchten Doppelgänger und Angst. Ihre Sprache kennt nur Adressaten (Gruša 2000a: 14f.). Im Deutschen erprobt Jiřì Gruša schließlich „das Wunder der Sprache“ (Gruša 2000a: 15) aufs Neue, oft auch, indem er seine beiden Sprachen miteinander vergleicht und die neue Literatursprache auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft: Wir wählen aus - aus dem Reservoir, das wir selbst sind, vergleichen und ergänzen. Kodieren und speichern. Wir sind eine Stufenerfahrung. Erfahrung und Gefahr hängen nur im Deutschen zusammen. Aber sehr folgerichtig (Gruša 2000a: 15). 164 Für den türkischstämmigen Autor und Übersetzer Yüksel Pazarkaya, der 1958 nach Deutschland kam, ist die Konzeption des literarischen Dialogs in anderer Hinsicht wichtig. Er ist einer der ersten Autor/ innen, die im Umfeld der Arbeitsmigration der Nachkriegszeit zu publizieren beginnen und der den Dialog mit dem deutschsprachigen Lesepublikum sucht (vgl. exemplarisch Şölçün 2000). Die Auseinandersetzung mit der eigenen Mehrsprachigkeit, die er im engeren 164 Auch Chiellino entwickelt, wie bereits aufgezeigt werden konnte, den Dialog als eine zentrale Kategorie. Er verweist dabei jedoch auf die mentale Dynamik zwischen den Sprachen seines Repertoires, die ihm zufolge in engem Zusammenhang mit der Ausprägung des interkulturellen Gedächtnisses zu sehen ist (vgl. Kap. 3.4). 154 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven Sinne als Zweisprachigkeit verstanden wissen will, ist dabei von herausragender Bedeutung. Wie einige der Autor/ innen, die sich damals zeitgleich für eine mehrkulturelle ästhetische wie auch politische Dimension ihrer Texte einsetzten (vgl. u.a. Chiellino 2000: 51-62), entwickelt er sein literarisches Programm indem er auch Bezug nimmt auf literaturästhetische Standpunkte und Programme anderer mehrsprachiger Autor/ innen, die ab Ende der 1970er Jahre begonnen hatten, sich zu Wort zu melden. Die Chamisso-Poetikdozentur an der Technischen Universität Dresden, deren erster Vertreter er ist, bietet für die Aufarbeitung und Darstellung seiner kulturellen und literarturtheoretischen Positionen einen geeigneten Rahmen. Auch Yüksel Pazarkaya operiert dabei mit einer Raummetaphorik, 165 um den Prozess der Verortung zu beleuchten. Seine „literarische Zweisprachigkeit“ erachtet er im Vergleich zu anderen aus der Türkei nach Deutschland eingewanderten Autoren als ‚Sonderposition‘, was seiner Meinung nach auch daher rührt, dass er konsequent in beiden Sprachen schreibt und publiziert: Unter den aus der Türkei zugewanderten kenne ich keinen außer mir, der sich literarisch diesem Dualismus aussetzt und zweisprachig schreibt. Ob dies zur Überwindung des Zwischenraumdaseins führt, sei dahingestellt. Aber das gegenseitige Einwirken der Sprachen und literarischer Traditionen stellt sich von Anfang an unübersehbar ein (Pazarkaya 2004: 32f.). Seine von ihm postulierte literarische Zweisprachigkeit entwickelt sich allerdings ohne den Zwang, sich von einer (ggf. sogar traumatisierten) Herkunftssprache entfernen zu müssen, wie dies bei vielen Exilautor/ innen der Fall ist. Dieser Freiraum bei der Wahl der Literatursprache begünstigt m.E. die grundsätzlich optimistische Grundhaltung in Bezug auf den literarischen Schreibprozess: Wenn man jedoch seine Muttersprache nicht unter politischen, sozialen oder wirtschaftlichem Zwang mit in die Fremdsprache verschleppt und sich emotional nicht von ihr abwendet, weil es an das Verfolgerregime erinnert, sondern freiwillig, z. B. zum Zweck eines Auslandsstudiums, zunächst auch mit der festen Absicht, in diesen Sprachraum zurückzukehren, dann will man sie als das Eigene in der Fremde hüten und pflegen, denn sie ist die geistige Behausung, die Jurte (Pazarkaya 2004: 38). 165 „Für den in eine andere Sprache zugewanderten Dichter wird der Weg, das liegt auf der Hand - , doppelt beschwerlich, doppelt abenteuerlich und risikoreich“ (Pazarkaya 2004: 31). Dialoge 155 Diese Jurte, so führt er aus, kann auch in der Fremde mit anderen Menschen geteilt werden kann. Dann entstehe sie sogar „als Muttersprache in der Fremde von Neuem“, denn „die Jurte wird aufgeschlagen“ (Pazarkaya 2004: 38). In seiner kritischen Auseinandersetzung mit Chiellinos Konzeption des ‚Interkulturellen Gedächtnisses‘ geht auch er davon aus, dass Autor/ innen nichtdeutschsprachiger Provenienz, die Sprache ihres literarischen Ausdrucks nach ihrem Gutdünken formen können (vgl. Pazarkaya 2004: 40) und zudem auf Grund des mangelnden historischen Gedächtnisses im Deutschen, einen, im Unterschied zu deutschsprachigen Autor/ innen, enttabuisierten Umgang mit bestimmten, durch historische Umstände markierten, Wörtern pflegen können. Ein Autor/ eine Autorin anderskulturellen Provenienz gibt aber seiner deutschen Sprache bewusst oder unbewusst ein Gedächtnis seiner Sozialisation bzw. seiner mitgebrachten Geschichte und Bildung. So konnte er, um es mit einem Beispiel zu konkretisieren, Heimat sagen und schreiben, als viele Autoren mit dem Gedächtnis der deutschen Sprachgeschichte dieses Wort und viele andere Ausdrücke Jahrzehnte lang als nationalistisch gefärbt gemieden haben (Pazarkaya 2004: 48). Verortung umfasst damit bei Yüksel Pazarkaya zwei Sprachen und zwei Kulturen, die er zwar als getrennt, aber durch seine literarische Arbeit und letztlich auch durch die Tätigkeit des Übersetzens als miteinander verbundene, dialogisierende und sich gegenseitig durchdringende Räume begreift, die mit Bezug auf Walter Benjamin „einander nicht fremd, sondern […] in dem verwandt sind, was sie sagen wollen“ (Pazarkaya 2004: 84). Grundpfeiler seines zweisprachigen Schreibens und damit das prioritäre Prinzip seiner Verortung ist dabei zunächst im Sprachraum verankert als „eine Art dialogisches Reden zwischen den Sprachen, das die Annäherung zum Ziel hat, um gegenseitige Akzeptanz zu erreichen“ (Pazarkaya 2004: 83). Dabei hebt er die Vorteile der „Zweisprachigkeit“ hervor, die „nur noch den dialogischen Charakter [verstärkt]: Obwohl man sich jeweils nur einer Sprache zuwendet, ermöglicht die Zweisprachigkeit den Austausch, somit das Verstehen durch das Aufzeigen der inneren Konvergenz (Pazarkaya 2004: 84). 11.3 Sprachwelten Ein dritter Aspekt, mit dem ich mich abschließend befassen möchte, betrifft die Verortung im Sprachraum Deutsch und meint den literarischen Bezug auf den gesellschaftlichen Kontext, in dem der Erwerb des Deutschen samt seinen 156 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven Varietäten und sein Erschreiben als späterer Literatursprache stattfindet. Denn immer wieder zeigt es sich, dass mehrsprachigen Autor/ innen in ihren Reflexionen die Sprachen, die sie in ihrem sozialen Umfeld wahrnehmen oder mit denen sie bereits als Kinder und Jugendliche in Kontakt kamen, sehr genau durchleuchten. In diesem Sinne wird das Sprachhandeln der ‚Anderen‘, die Eigenarten ihres Sprachgebrauchs unter dem Aspekt der Wirkmächtigkeit auf das eigene Ausdrucksvermögen hinterfragt. Bei José F.A. Oliver (vgl. Kap. 3.1) führt dies beispielsweise zu einer dezidierten Hinwendung zu einer regionalspezifischen Varietät des Deutschen, dem Alemannischen, die in zahlreichen seiner Texte nicht nur als besondere, auch in der Schrift erhaltenswerte kulturelle Ausdrucksform reflektiert und fiktionalisiert wird, sondern die er auch als Varietät beschreibt, die eine herausragende Position in seiner Sprachbiographie einnimmt. Mit seiner Bezugnahme auf diese Varietät wird hierbei eine kulturelle Dimension traditioneller Lebensweise in den Blick genommen, die (auch) seine eigene Sprachlichkeit in besonderer Weise markiert. Das Andalusische ist zwar seine Familiensprache, die Sprache der aus Spanien in die kleine Stadt Hausach im Schwarzwald immigrierten Minderheit, der er angehört, als er aber zu schreiben beginnt, ist „dieser Alltag um mich herum größer, als die Wirklichkeit dieser spanischen Minderheit“, weshalb er zunächst auf Alemannisch schreibt, bevor er das Standarddeutsche zu seiner Literatursprache macht (Amodeo/ Hörner 2010: 140): Meine ersten Gedichte, mit dreizehn, vierzehn, waren alemannische Heimatgedichte. Erst dann kam die Hochsprache dazu. Insofern ist es auch so, dass ich schon weiß, dass die deutsche Sprache, die ich schreibe, ohne das Andalusische der Herkunft nicht möglich wäre (Amodeo/ Hörner 2010: 141). Die häufige Bezugnahme auf diese Varietät - vor allem in seinen beiden Essaybänden „Mein andalusisches Schwarzwalddorf“ (2007c) und „Fremdenzimmer“ (2015b) - hat teilweise den Charakter einer akribischen, von kulturwissenschaftlichem Interesse geleiteten Sprachdokumentation. Sie verdeutlicht jedoch vor allem einen sprachlichen Aneignungsprozess, der von einem hohen Grad an Identifizierung mit diesem S p r a c h k u l t u r r a u m zeugt. José F.A. Oliver, der als Sohn andalusischer ‚Gastarbeiter‘ in dieser traditionsreichen Umgebung aufwächst, profiliert sich schließlich als mehrsprachiger Autor, der eine Sonderstellung einnimmt, da seine sprachliche Sozialisation in besonderer Weise auch von den besagten Varietäten des Spanischen und des Deutschen geprägt ist. Mit unterschiedlicher Intensität, auch in Abhängigkeit von verschiedenen Lebensphasen, determinieren diese den Horizont seiner Spracherfahrungen, die er in der Kindheit und als Heranwachsender macht, aber auch in besonderem Maße seine spätere literarische Entwicklung als Au- Sprachwelten 157 tor. Insofern ist für ihn Herkunftssprache immer explizit pluralisch zu denken und in seinen sprachreflexiven Äußerungen, allen voran die bereits genannten literarischen Essays, verortet er sich demzufolge in lebensweltlichen Sprach- und Kulturräumen, die sich gegenseitig durchdringen und sein gesamtes literarisches Schaffen prägen. Der Ort, an dem er aufwächst, die bereits erwähnte, kleine Stadt Hausach im Kinzigtal, ist der konkrete Ausgangs- und Bezugspunkt in diesen Schriften, in denen José F.A. Oliver sein autobiografisches Ich verankert und von dem aus sowohl eine Innenperspektive als auch der ‚umherschweifende‘ Blick nach außen gestaltet werden. Bereits der Titel des ersten Essaybandes, „Mein andalusisches Schwarzwalddorf“ (Oliver 2007c), versinnbildlicht dabei eindrücklich die Verschmelzung seiner kulturellen Bezugsräume und den unverkennbar hohen Grad der Identifizierung mit dem Ort, an dem er aufgewachsen ist. Er bezeichne diesen Ort in dieser Weise, schreibt er bezugnehmend auf den Titel, „[n]icht aus Übermut oder Koketterie, eher eins mit mir im Widerspruch. Zuneigung der Eigenfremde im Balanceakt eingelebter Biographien. Fremde Menschen, die nach und nach eingereist und Land geworden sind“ (Oliver 2007c: 10). Folgerichtig ist der erste Essay dieses Bandes mit „Mein Hausach“ (Oliver 2007d) betitelt, was diese besondere emotionale Verbundenheit und Nähe nochmals hervorhebt: Die einen nennen diese Notkunft „Wahlheimat“, die anderen vermuten Zerrissenheit auf diesem Weg. Ich hingegen fühle mich einfach nur behaust und uferkämmend in diesem grünen Meer, das nach Wald und Dämmerfeuchte riecht. Nach Luft, die luftschmeckt, und nach Gedanken, die Gefühle münden; die zu Besinnung kommend, weiterreisen und ein MEHR sich ergründen, an Identitäten. Beileibe nicht Verlust (Oliver 2007d: 10f.). An anderer Stelle wird der Ort in seiner Entschleunigung als „versöhnend“ empfunden. Hausach ist Olivers Lebens- und Schreibmittelpunkt. Es ist ihm immer Herkunftsnähe und Abschiedsort der unwägbaren Zugehörigkeit. Komplizenschaft, die, von den lichtgefütterten Hängen der Berglandschaften aus betrachtet, klarer wird. Fühl- und nachdenkbare Einkehr, um erneut aufzubrechen in die Widersprüche, Begegnungen und Alltäglichkeiten. Ganz auf mich zurückgeworfen. Einen Gedanken, ein Gefühl filigraner ist dann dieser Ort und unbequem. Im vertrauten Trotz ein Fetzen Heimat. Mit einem Menschenschlag. Den ich verstehe, wo ich ihn nicht begreife, weil ich dazugehöre (Oliver 2007d: 13f.). In beiden Essays wird eine besondere Art des ‚Sprachdokumentarismus‘ inszeniert, der vor allem auch die sprachunkundigen Leser/ innen instruiert, jedoch in den später publizierten Essays zunehmend einer subjektzentrierten Perspek- 158 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven tive weicht. Dazu zu zählen sind die Erläuterungen zur Bedeutung sprachlicher Äußerungen des Alemannischen sowie verschiedener kultureller Traditionen, die in Form metasprachlicher Ergänzungen im ersten Band in ein Glossar verlegt werden. Im zweiten Band erscheinen sie in etwas reduzierter Form in den Fußnoten. Beide verfolgen, wie bereits erwähnt, das Ziel, den deutschsprachigen Leser/ innen das reibungslose Verständnis der in die Texte eingeschriebenen spanischen und alemannischen Ausdrücke zu ermöglichen. Gleichzeitig markieren diese Texteinschübe die Wahrnehmungsperspektive des autobiographischen Ich und damit die besondere Inbezugsetzung des mehrsprachigen Autors zu seinem kulturellen Umfeld sowie seine Verortung in einer Varietät des Deutschen, die für einige seiner Texte symptomatisch bleiben wird. Trotz der bis in feinste sprachliche Nuancierungen spürbaren Identifizierung mit diesem (Sprach-)raum ist die Schreibhaltung der zuerst publizierten Essays distanzierter als die des zweiten Bandes, in dem, wie bereits erwähnt, eine dezidiert subjektzentrierte Sichtweise gestaltet wird. Der Raum wird hier trotz der angezeigten engen emotionalen Verbundenheit, wie es bereits im Titel des ersten Essays anklingt („Mein Hausach“, Oliver 2007d: 9), eher ‚dokumentiert‘ und mit der für die damalige Zeit signifikanten Dynamik der Arbeitsmigration in Verbindung gebracht. Hausach, „Migrationsadresse für nahezu dreißig Familien aus Málaga“ (Oliver 2007d: 10) wird als Ort vorgestellt, der sich durch die Einwanderungsbewegung der 1960er und 1970er Jahre verändert und in der Folge zu einem Ort kultureller Überschneidung wird, wie in dem Satz „[a]ndere Überlebensrituale im Kinzigtal heißen Cante Jondo 166 und am Schlittenhang verausgaben sich Lausbubenstreiche“ zum Ausdruck kommt (Oliver 2007d: 9). Auch die in die weiteren Essays immer wieder eingestreuten ‚anderssprachigen‘ Versatzstücke vermitteln dem Leser sozusagen en passant das, durch die Arbeitsmigration der Nachkriegszeit entstandene mehrkulturelle Umfeld in Hausach. In diesem ersten Essayband wird das „andalusische Schwarzwalddorf“ auch mit Hilfe historischer Fotografien zur Familien- und Migrationsgeschichte als Kulturraum vermessen. Erwähnenswert sind zudem die Fotos der alemannischen Fastnacht, der Fasent, eines der lokalspezifischen Ereignissen par excellence. 167 Damit wird nicht nur deren Bedeutung für Hausach und die ganze Region als zentraler Bestandteil einer aktiv gelebten Alltagskultur deutlich. Die 166 Im Glossar wird dazu Folgendes ausgeführt: „cante jondo: Flamenco-Sang. ‚Im Augenblick des Singens‘ sagt der Flamenco-Kenner Felix Grande, ‚kristallisiert sich in der Stimme des Sängers die Leidensgeschichte eines ganzen Volkes.‘“ (Oliver 2007c: 128). 167 „Es gibt Augenblicke, die nur hier sind. Am Schmutzige Dunnschdig abends. Am Donnerstag vor der alljährlichen Fastnacht alemannischer Couleur“ (Oliver 2007d: 14). Sprachwelten 159 Fotografien unterstreichen die Tatsache, dass die alemannische Fastnacht auch ein wichtiger kultureller und sprachlicher Bezugspunkt für das autobiographische Ich ist. 168 José F.A. Oliver reflektiert in vielen seiner Essays im autobiographischen Rückbezug immer wieder den Prozess der Sprachfindung und -gestaltung in der mehrsprachigen Umgebung: „Kindheit war für mich immer Wirklichkeit und Vorstellung in einem. Hier das Alemannische, dort das Andalusische“ (Oliver 2007d: 18). Die besondere Bedeutung, die das Alemannische für ihn dabei gewinnt, resultiert auch aus der engen Beziehung zu seiner nichtleiblichen Mutter Emma Victoria, die erheblich dazu beigetragen hat, dass er sich von Kindheit an zu den althergebrachten Traditionen des alemannischen Kulturraums hingezogen fühlt (vgl. Kap. 3.1). Die Verortung im Sprachraum unter bewusstem Einbezug der außerliterarischen Lebensrealität geht besonders aus seinen sprachästhetischen Essays 169 hervor. Die Riten und Rituale der alemannischen Fasent bieten den Anlass und Rahmen für kabarettistische Sprachspiele und Wortakrobatik. Seine Verortung ist Identifizierung mit einem Raum, der sich in besonderer Weise über dessen dialektale Varietät erschließt. Als mehrsprachiger Autor, der, wie bereits erwähnt, sein Sprachrepertoire immer wieder aufs Neue in seiner Literatur verschriftlich und ästhetisch erprobt, bezeugt er in seinen Sprachreflexionen seine große Affinität zu dieser lokalspezifischen Sprechweise. Symptomatisch ist dafür, dass er s e i n Alemannisch immer wieder selbstbewusst verteidigt gegen puristische und sprachdisziplinierende Versuche währen seiner Schulzeit. Er berichtet, dass gegen „Schimpf und Widerstand“ das Alemannische in sein Schreiben kommt, denn einer seiner Schullehrer ist als Zensor aufgetreten (vgl. dazu Gogolin 2007): Auf kein en Fall! Das geht auf gar kein en Fall, junger Mann! Aus schließlich, ich be tone es noch einmal und zwar für alle hier in diesem Zimmer: aus schließ lich, ich be tone es noch einmal und zwar für alle hier in diesem Zimmer: aus schließ lich das hoch sprach lich, hören Sie mir gut zu, das hoch sprachlich! sauber aus ge spro chene „s“ vor dem „t“ ist gül tig und kann tat säch lichen Pfor ten zur An erken nung und damit - zur Be geg nung auf Augen höhe, Augenhöhe - verstehen Sie das? ! - auf Au gen höhe öffnen. Habt ihr das endlich begriffen? (Oliver 2015c: 27). 168 Vergleiche dazu insbesondere die Texte Maskenfiebrig eigen oder die gemeinsame Lust am Spättle (Oliver 2007b) und Lätz. De Fasentumzug in Huse (Oliver 2007a). 169 Vergleiche „d Hoimet isch au d Sproch“ (Oliver 2015a) und „wortaus, wortein“ (Oliver 2007f). 160 Zum Schluss: Rückblick und Perspektiven Solche Eingriffe können jedoch die literarische Kreativität nicht blockieren - ebenso wenig die Verortung in diesem kulturellen Raum und den damit verbundenen Prozess der sprachlichen Identifizierung mit dem Alemannischen, das fester Bestandteil der e i g e n e n literarischen Sprache wird. Es findet hier eine Zusammenführung dieser sehr unterschiedlichen Erfahrungshorizonte statt. Die narrative Bearbeitung ist Verarbeitung und zugleich „Spracherweiterung“ und „Sprachverfeinerung“ (Amodeo/ Hörner 2010: 141). So gesehen ist José F.A. Olivers Schreiben kein Schreiben aus der Distanz, wie es bei Autor/ innen der Fall ist, die das Deutsche erst zu einem späteren Zeitpunkt erlernt haben und die in einer anderen Sprache sozialisiert sind. Im Unterschied zu dieser Disposition kann oftmals erst eine raum-zeitliche Distanz narrative Neuinszenierungen geradezu konditionieren kann (vgl. Kap. 7.), was darauf zurückzuführen ist, dass mit einem anderen Codierungssystem ungeahnte fiktionale Räume vermessen werden können. Literarische Kreativität entfaltet sich hierbei äußerst produktiv in einem Sprachraum, in dem keine sprachlichen Primärerfahrungen gemacht worden sind (vgl. dazu Reeg 2019: 167f.). Es handelt es sich m.E. um den Prozess jenes kognitiven ‚Heranholens‘ fehlender Erfahrungen in einer Sprache, den Franco Biondi als mögliche Dynamik mehrsprachiger Individuen erachtet. Dadurch könnten „in diesem Bereich sprachliche Erfahrungen mit emotionaler Distanz entstehen. Eine emotionale Distanz gibt wiederum die Möglichkeit, sich kreativ in solchen Bereichen zu entfalten“ (Biondi 2017d: 172). In diesem Sinne entdeckt die argentinischstämmige Autorin María Caecilia Barbetta, so scheint es, geradezu unerwartet beim Betreten des neuen Sprachraums Deutsch, dessen verborgenes kreatives Potential. Sie erklärt, dass der Handlungsort ihres in Berlin auf Deutsch verfassten Romans „Änderungsschneiderei Los Milagros“ (2008) zwar Buenos Aires sei, sie jedoch nicht „mit zwei Sprachen jongliert“ habe. Obwohl Spanisch ihre „Muttersprache“ ist und auch der Roman in Buenos Aires spielt, ist „aber die Stimme der Figuren, die Sprache meiner argentinischen Figuren, […] merkwürdigerweise Deutsch“ (Amodeo/ Hörner 2010: 120-122). Es musste so sein: Es war klar, dass ich diese Änderungsschneiderei, die eine Berliner Änderungsschneiderei war mit türkischen Näherinnen, dass ich sie verwandeln musste. Es musste Buenos Aires sein, es musste Argentinien sein, weil ich das Gefühl hatte, dass ich diese Menschen gut kenne und dass ich mich da sehr gut einfühlen kann. Aber weil mir das Ganze so nahe ist, brauche ich die Fremdsprache, die eine gesunde Distanz herstellt zu dem, was ich beschreiben möchte. Ich habe immer das Gefühl, dass ich Gefahr laufe, mich in Buenos Aires zu verlieren und meine Konturen zu verlieren, und das passiert mir nicht dank der fremden Sprache, die für mich ganz klar eine Schutzsprache ist. Deswegen gehö- Sprachwelten 161 ren sie für mich unmittelbar zusammen, und das, was entsteht, ist dann der Ort, den es auf keiner Landkarte gibt (Amodeo/ Hörner 2010: 66). Diese Äußerungen verweisen darauf, dass erst die Distanz zur Herkunftssprache, die zur Verortung in einem neuen Sprachraum führt, ihre literarische Produktivität und Kreativität anregt. In der Folge erprobt sie kontinuierlich ihre sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten in der Fremdsprache und entwirft neue, teilweise für sie selbst überraschende Handlungsspielräume. 170 „Diese Distanz der fremden Sprache“ (Amodeo/ Hörner 2010: 121) mündet bei ihr genau in jenes Gefühl der Befreiung (vgl. Kap. 7), das es ihr überhaupt erst ermöglicht, sich erneut ihrer Herkunftskultur zu nähern: Die fremde Sprache ist in meinen Augen eine spielerische Sprache, die es mir erlaubt, auch aus einer etwas anderen Perspektive diese Menschen, die ich gut kenne, zu beschreiben, mit einer gewissen Leichtigkeit (Amodeo/ Hörner 2010: 121). Abschließend möchte ich Gedanken von María Caecilia Barbetta zitieren, die sie in einem Gespräch mit Helbig anlässlich des Erscheinens ihres Romans „Nachtleuchten“ äußert. Ich bin der Auffassung, dass sie hierbei wichtige Aspekte ihres individuellen Schreibens benennt und in prägnanter Weise den mehrsprachigen literarischen Schreibprozess in seiner Besonderheit, als „Durchdringung beider Welten, zu denen ich mich zugehörig fühle“ (Helbig 2019: 90) herausstellt: Das schöne deutsche Wort Vorstellungskraft ruft das Vermögen ins Gedächtnis, das unseren Gedanken innewohnt. Die Imagination ähnlich wie der Glaube versetzt Berge im wortwörtlichen Sinne des Wortes. Aber auch so lässt sich nicht alles von der zweiten in die erste Heimat übertragen. Das meiste entsteht im Reich der Fiktion, in dem es ohnehin keine Ländergrenzen gibt (Helbig 2019: 91). 170 Vergleiche dazu auch den Kommentar von José F.A. Oliver: „Ich habe das Buch […] sehr intensiv gelesen. Und da sind einfach deutsche Redewendungen, Sätze drin, die es nicht gäbe, käme dieses Deutsch nicht aus Argentinien. Allein schon die Namen auf den ersten paar Seiten - Milagros. Das ist so spanisch-argentinisch und so verhaftet in der Art und Weise, wie man jemandem einen Spitznamen gibt oder wie man jemanden benennt, das ist hier gar nicht zu Hause in dieser Form. Insofern hat das Argentinische doch immer das Deutsche mitgeschrieben“ (Amodeo/ Hörner 2010: 141). 12 Literatur Primärtexte 171 Amodeo, Immacolata/ Hörner, Heidrun (Hrsg.) (2010): Zu Hause in der Welt. Topographien einer grenzüberschreitenden Literatur. Sulzbach/ Taunus. Bánk, Zsuzsa (2017): Schlafen werden wir später. Frankfurt am Main. Barbetta, María Cecilia (2019a): Dankesrede zum Anlass der Verleihung des Chamisso- Preises/ Hellerau. In: Schmitz, Walter (Hrsg.): Chamisso Preis Hellerau. Dresden. S. 47-58. Barbetta, María Cecilia (2019b): Weißt du noch? Eine Kindheit in Zeiten der Diktatur: Bilder und Bausteine persönlicher Erinnerung. In: Schmitz, Walter (Hrsg.): Chamisso Preis Hellerau. Dresden. S. 61-65. Biondi, Franco (2017a): Die Fremde wohnt in der Sprache (1985). 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Im Zentrum stehen autobiographische Essays, Poetikvorlesungen sowie Gesprächsaufzeichnungen, in denen sie ihr Verhältnis zu den jeweiligen Herkunftssprachen reflektieren, sich intensiv mit dem Deutschen als fremder Literatursprache auseinandersetzen und ihr Selbstverständnis als Autorinnen und Autoren schildern. Die durch zahlreiche Zitate belegten Selbstreflexionen bieten zudem weitreichende Einsichten in die ambivalente Auseinandersetzung mit ihrer Sprachidentität. Die Studie liefert einen Beitrag zur Erhellung von individueller Mehrsprachigkeit in Bezug auf die Entwicklung kreativer Schreibprozesse.