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Jüdische Literaturgeschichte in Schwaben

2016
978-3-7398-0045-5
UVK Verlag 
Dr. Peter Fassl
Friedmann Harzer
Berndt Herrmann

Persönlichkeiten und Ereignisse der jüdischen Kulturgeschichte sind wiederkehrende Motive in Erzählungen, Dramen, Gedichten, Autobiographien und Filmen schwäbischer und schwäbisch-alemannischer Autoren. Das Spektrum dieser thematischen Auseinandersetzung reicht von antisemitischen Stereotypen in Erzählungen des 18./19. Jahrhunderts über Empathie mit dem historischen und zeitgenössischen Judentum bei Johann Peter Hebel bis hin zu Jakob Picards Trauer über den Verlust der Heimat oder Bertolt Brechts »Schweigen über den Holocaust«. Anhand literatur- und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen begibt sich dieser Band in epochenübergreifender Perspektive auf Spurensuche nach Selbst- und Fremdwahrnehmungen jüdischer Identität in der schwäbischen Literatur. Der regionale Fokus eröffnet den Blick auf bisher unbeachtete Formen der Erinnerung und Repräsentation, ermöglicht Differenzierungen und bewahrt vor vorschnellen Verallgemeinerungen. Die Vielfalt der Beiträge führt mitten hinein in literarische Strategien der Verdrängung und Bewältigung der Shoa, in Diskussionen um eine angemessene Darstellung des Unaussprechlichen und in Gespräche über die deutsch-jüdische Geschichte der Gegenwart.

Peter Fassl, Friedmann Harzer, Berndt Herrmann (Hg.) Jüdische Literaturgeschichte in Schwaben IRSEER SCHRIFTEN Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte N.F. Band 11 Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker Schwabenakademie Irsee Peter Fassl, Friedmann Harzer, Berndt Herrmann (Hg.) Jüdische Literaturgeschichte in Schwaben Eine Spurensuche UVK Verlagsgesellschaft Konstanz · München Das vorliegende Buch ist Band V der Reihe »Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben«. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1619-3113 ISBN 978-3-86764-674-1 (Print) ISBN 978-3-73980 - 044-8 (EPUB) ISBN 978-3-73980 - 045-5 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016 Satz: Textwerkstatt Werner Veith & I nes Mergenhagen, München Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de Inhalt Peter Fassl/ Friedmann Harzer/ Berndt Herrmann Einleitung............................................................................................................13 1. Vor 1945...........................................................................................................17 2. Nach 1945 ........................................................................................................21 1. Vor 1945 1.1. Antijüdische Darstellungen Ulrich Scheinhammer-Schmid Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen. Das Bild des Juden in der alemannischen Literatur des späten 18. und des 19. Jahrhunderts ...............................................................................................29 1. Weltschmerz und Wanderschaft ........................................................................30 2. Geschlecht und Geschichte................................................................................36 3. Alltag und Abseits .............................................................................................38 4. Identität und Irritation ......................................................................................43 Alois Epple Der Jude im Werk Ludwig Aurbachers ..........................................................53 1. Kurzbiographie..................................................................................................53 2. Der Ewige Jude .................................................................................................54 3. Placidus und seine Familie.................................................................................55 4. Der Jude und die Sieben Schwaben ...................................................................56 Inhalt 6 5. Juden in Franken und Schwaben .......................................................................57 6. Kleinere Erzählungen ........................................................................................58 7. Zusammenfassung .............................................................................................61 Tanja C. Muller Der rassische Antisemitismus bei Alban Stolz im Kontext der mitteleuropäischen antisemitischen Propaganda.........................................63 1. Alban Stolz im Urteil der Forschung .................................................................63 2. Das rassisch bezogene Judenbild bei Alban Stolz im internationalen Vergleich ...........................................................................................................65 3. Alban Stolz ein „Frühantisemit“? .......................................................................69 1.2. Öffnungen und neue Wahrnehmungen Michael Friedrichs Ulrich von Hutten und das Judentum. Wege und Irrwege einer literarischen, religiösen und politischen Identitätsfindung um 1518 ..........81 1. Vorbemerkung ..................................................................................................81 2. Lebensdaten ......................................................................................................82 3. Schriften............................................................................................................84 4. Judentum ..........................................................................................................86 5. Reuchlin und der Judenbücherstreit ..................................................................88 6. Böschenstain .....................................................................................................90 7. Venedig.............................................................................................................91 8. Dunkelmännerbriefe .........................................................................................91 9. Utopie...............................................................................................................95 Inhalt 7 Stefan Lindl Juden nach den Regeln des Lichts. Modifikationen des Gewordenen in Textpassagen C. M. Wielands ....................................................................99 1. Modifikationen des Gewordenen.......................................................................99 2. Regeln des Lichts: Vernunft und Gleichheit ....................................................102 3. Juden nach den Regeln des Lichts....................................................................107 4. Wieland und die Modifikationen der Juden ....................................................113 Friedmann Harzer Empathie, Exegese, Esprit. Über Hebel und das Judentum ....................117 1. Hebel und die Judenemanzipation um 1800 ...................................................118 2. Das auserwählte Volk in Hebels Predigten und theologischen Schriften ..........121 3. Juden in Hebels Kalendergeschichten ..............................................................126 4. Drinnen und draußen .....................................................................................131 Martina Todesko „Ein Dieb - ein Jude? ! “ Die Frage nach dem Bild des Juden im Werk Eduard Mörikes ...............................................................................................135 1. Eduard Mörikes Novelle „Der Schatz“.............................................................135 2. Zur Situation der Juden in Württemberg Anfang des 19. Jahrhunderts ...........138 3. Der Jude in Mörikes „Der Schatz“...................................................................140 4. Ein Jude - ein Dieb - ein Mauschel ................................................................141 5. Gesellschaftskritik bei Eduard Mörike - Kritik in leisen Tönen .......................143 6. Der ewige Jude - Ahasver ................................................................................144 Andreas Freidl Ludwig Ganghofers Judenbild.......................................................................149 1. Der Viehjude Rusel .........................................................................................150 2. Der Arzt Josephus ...........................................................................................152 3. Simeon Lewitter ..............................................................................................154 4. Resümee..........................................................................................................157 Inhalt 8 1.3. Jüdische Perspektiven Armin Strohmeyr Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns ........................................................................................163 1. Der Vater Isaak Lachmann - Herkunft, Wirken und Bedeutung .....................163 2. Der Vater, das verehrungswürdige Vorbild ......................................................166 3. Einflüsse sozialistischer und lebensreformerischer Bewegungen........................168 4. Die politisierte Pazifistin und der Erste Weltkrieg ...........................................173 5. Facetten des Assimilierungsgedankens in Hedwig Lachmanns Werk................174 6. Die Utopie von Aussöhnung und Gerechtigkeit als Aufgabe der Dichtung ......177 Tobias Krüger Ansichten vom Turmbau zu Babel. Sprachkritischer Atheismus in Fritz Mauthners „Der neue Ahasver“ ............................................................181 1. „Ohne Sprache und ohne Religion“ - Biographische Varianten.......................182 2. Die architektonische Sprache der „Judenstadt“ ................................................184 3. Und das Wort war ein Gott.............................................................................187 4. Der Dichter besetzt die Geisterstadt ................................................................189 Oswald Burger Jacob Picard (1883-1967). Der Dichter des alemannischen Landjudentums ................................................................................................193 1. Biographie .......................................................................................................193 2. Literarische Werke...........................................................................................196 3. „Ein Gang nur“ ...............................................................................................200 Inhalt 9 Ulrike Längle „Ka Jud“. Zu einem Brief von Max Riccabona ............................................203 1. Das literarische Werk: Vom „Halbgreyffer“ zu den „Nebengeleisen“................203 2. „Le style, c’est l’homme même“ - Max Riccabonas Brief an Frank Arnau ........205 3. „Ka Jud“ - Zur Biographie von Max Riccabona ..............................................210 2. Nach 1945 2.1. Autobiographisches Peter Fassl Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien aus Bayerisch-Schwaben ................................................223 1. Erinnerungen aus Bayerisch-Schwaben ............................................................223 2. Zum Stand der Forschung...............................................................................224 3. Adalbert Mayr, ein Bauernsohn aus Thierhaupten ...........................................225 4. Fred Grünbauer - aus einer fanatischen Lehrerfamilie .....................................228 5. Elisabeth Wolf und Elisabeth Hiller - Zwischen Distanz, Gegnerschaft und Anpassung................................................................................................232 6. Zusammenfassung ...........................................................................................243 Sebastian Seidel Der Fragebogen. Die Familie Schweitzer hinterfragt ihre „jüdische Abstammung“ ..................................................................................................247 1. Einleitung .......................................................................................................247 2. Die Geschichte der Familie Schweitzer ............................................................248 3. Das erste Familientreffen und der Fragebogen .................................................253 Sebastian Seidel „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ von Charles Lewinsky ..............................259 Inhalt 10 2.2. Erinnerung und Identität Franz Fromholzer Brechts Schweigen über den Holocaust. Erklärungsversuche anhand der Journal-Einträge (1938-1955)................................................................263 1. Brecht und das Judentum - kein Thema der Forschung ..................................263 2. Brechts Wahrnehmung des deutschen Antisemitismus im Exil ........................265 3. Brechts Auffassung von den Vorgängen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern.......................................................................................276 4. Brecht und der Holocaust ...............................................................................282 5. Erklärungsversuche..........................................................................................290 6. Widersprüche: Alfred Döblin, Fritz Kortner und George Tabori kommen zu Wort...........................................................................................................299 Katja Schneider „die verschwundenen“. Zur Problematik von Erinnern und Vergessen bei Hans Magnus Enzensberger ..................................................................309 1. Lyrik im Schatten von Auschwitz ....................................................................309 2. Enzensbergers Auseinandersetzung mit Adorno ...............................................310 3. Nelly Sachs - Die Wunde Auschwitz...............................................................311 4. Das Gebot des Erinnerns .................................................................................312 5. „die verschwundenen“ .....................................................................................315 Helmut Gier Das Verhältnis zum Judentum im Werk von Martin Walser .....................323 1. Ein zentrales Thema über Jahrzehnte...............................................................323 2. Ein repräsentativer Intellektueller seiner Generation ........................................324 3. Frühe Anstöße.................................................................................................326 4. Zeit der Auschwitz-Prozesse.............................................................................328 5. „Wunde namens Deutschland“........................................................................330 6. Auseinandersetzungen um ein Erinnerungsbuch ..............................................331 7. Walser-Bubis-Debatte .....................................................................................333 8. Abrechnung mit dem Literaturkritiker Reich-Ranicki......................................334 9. Umgang mit deutscher Schuld und Schande ...................................................335 Inhalt 11 Helmut Gier Rainer Werner Fassbinder und das Judentum...........................................339 1. „Walser-Bubis-Debatte“ und „Fassbinder-Kontroversen“.................................339 2. Überblick über die einschlägigen Werke ..........................................................341 3. Jüdische Figuren als Überlebende ....................................................................345 4. Tabubruch als Antwort auf Tabuisierung ........................................................349 5. Juden als Außenseiter ......................................................................................350 6. Täter-Opfer-Beziehung in einer Ästhetik der radikalen Subjektivität ...............350 Berndt Herrmann Erzählen am Rand der dunklen Grube. Jüdische Figuren bei W. G. Sebald....................................................................................................355 1. Die Rezeption Sebalds als Holocaust-Autor .....................................................355 2. Die Leerstelle - Erzählen vom Nichterzählbaren..............................................356 3. Das Versagen der Literatur und die andere Erinnerung....................................359 4. Das Schreiben des Trotzdem ...........................................................................360 5. Lauter Jüdische Figuren - ein Paradigma der Moderne....................................362 6. Unmögliche Leben: Menschen ohne Ort.........................................................366 7. Die Hoffnung am Rand der Grube..................................................................367 Friedmann Harzer „Le plus de verité possible“? Stephan Wackwitz’ Romane und autobiographische Schriften im Kontext jüdisch-deutscher Geschichte(n) ..................................................................................................369 1. Die Wahrheit über Heinrich Katz ...................................................................370 2. Die Wahrheit über Stephan Wackwitz ............................................................372 3. „Der eingebildete Jude“ ...................................................................................378 Inhalt 12 Ulrike Längle Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz. Zwei neue jüdische Kinder- und Jugendbücher aus Vorarlberg..................................383 1. „Rosie und der Urgroßvater“ ...........................................................................384 2. Maya Rinderers Roman „Esther“ .....................................................................395 Register ............................................................................................................403 Autorenverzeichnis .........................................................................................410 Einleitung Peter Fassl/ Friedmann Harzer/ Berndt Herrmann Seit 1989 bilden die Irseer Tagungen zur jüdischen Geschichte einen festen Bestandteil der Geschichtsforschung und Kulturarbeit in Schwaben. Es wurden neue landesgeschichtliche, kulturgeschichtliche, denkmalpflegerische, literaturwissenschaftliche und kirchengeschichtliche Forschungen und Projekte vorgestellt und aktuelle Entwicklungen diskutiert. Im Mittelpunkt der Tagungen 2011 und 2012 standen literaturgeschichtliche und kulturgeschichtliche Fragestellungen. In Autobiographien, Erzählungen, Gedichten, Dramen, Filmen und Romanen schwäbischer oder aus dem schwäbischalemannischen Kulturraum stammender Autoren 1 begegnen Darstellungen jüdischer Gestalten bzw. Ereignisse mit einem jüdischen Kontext. Hinzu kommen kulturgeschichtliche und landesgeschichtliche Beschreibungen mit jüdischen Lebensbildern, die mit literarischem Anspruch verfasst wurden. Zwei Differenzierungen liegen nahe: Texte, die nach der Shoa veröffentlicht wurden, reflektieren das Thema anders als solche, die vor oder während der Zeit des Nationalsozialismus erschienen. Und: Jüdische Autoren nähern sich, wie distanziert oder engagiert auch immer, der jüdischen Lebenswelt anders als nichtjüdische Autoren. Die Verfasser der einzelnen Beiträge kommen aus unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen - Universität, Bibliothek, Schule, Journalismus oder Kulturpolitik - und sie verfolgen auch verschiedene Erkenntnis-Interessen. Alle Aufsätze sind aber in verschiedene Diskurse zur Literatur vor und nach der Shoa eingebunden, die eingangs kurz skizziert werden sollen. 1. Reflexionen des eigenen historischen Standorts: Nach der Shoa kann man in Deutschland, egal unter welchem Gesichtspunkt, verantwortungsvoll nicht mehr so über Juden und das Judentum sprechen und schreiben wie vorher. Eine historische Neubesinnung nach dem „Zivilisationsbruch“ war notwendig. 2 Hierzu gehörte ebenso die Frage, wie die Ermordung der europäischen Juden in der deutschen Gesellschaft vorbereitet, umgesetzt, toleriert und verdrängt werden konnte, als auch, weshalb sich in der Literatur und anderswo auch nach 1945 mancherorts wieder Autoren finden, die antisemitisch denken und schreiben. 3 Die geistigen Grundlagen, Spuren, Elemente waren zu ermitteln. Ein neues geistiges Fundament war zu gestalten. In diesem Zusammenhang wurden auch die kirchlichen Geschichten des Antijudaismus und Antisemitismus untersucht bis zu einer Neubewertung des Neuen Testaments im Hinblick auf dessen antijüdische und projüdische Tendenzen. Im Zweiten Vatikanum vollzog die katholische Kirche eine grundlegende Wende. Innerhalb der katholischen Kirche begann eine Revision des Judenbildes vom Verach- 1 Bei männlichen Formen wie „Autor“ ist die weibliche Form immer mit gemeint. 2 Vgl. D INER , Zivilisationsbruch. 3 Vgl. B OGDAL u.a., Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Peter Fassl/ Friedmann Harzer/ Berndt Herrmann 14 teten, Feind, Verstoßenen und Verlorenen zum „älteren Bruder“ (Johannes Paul II.). Man erkannte, dass ein Neubeginn auch eine neue Sicht auf die Geschichte verlangte. 4 Diese historisch selbstreflexive Relecture, die Bewertung, Analyse und Neubewertung als ein neues Lesen und Einordnen der Geschichte, ist angesichts der Katastrophe in der NS-Zeit notwendig. Sie scheint uns als eine Art Lackmus-Test für die Qualität der jeweiligen Zeit, des jeweiligen Textes sinnvoll. Nicht als ob die Geschichte umgeschrieben oder zeitfremde Maßstäbe angelegt werden sollten. Aber neue Parameter für das Gelingen oder Misslingen von Geschichte, von Politik, Herrschaft und dem Umgang mit Minderheiten lassen sich doch erheben. 2. Die Relecture von Texten unter dem Aspekt der Darstellung von Juden und jüdischen Stoffen oder Motiven ermöglicht einen neuen Blick auf die behandelten Autoren, die teilweise sehr prominent sind, wie vor 1945 etwa Johann Peter Hebel, Eduard Mörike oder Fritz Mauthner, nach 1945 etwa Bert Brecht, Martin Walser, Rainer Werner Fassbinder oder W. G. Sebald. Welchen Stellenwert hatten jüdische Themen in deren Texten und wie wurden sie dargestellt? Gerade als Neben- oder Randperspektive kann dieser Blickwinkel erhellend sein und nicht ausformulierte Grundstimmungen widerspiegeln. 5 In diesem Zusammenhang werden medien-, kultur- und literaturtheoretische Fragestellungen maßgeblich, die den regionalhistorischen Ansatz im Blick auf eine Kultur vor und nach Auschwitz zeigen. 6 3. Der regionale Fokus ermöglicht, gleichsam wie in einem Brennglas, die Rückbindung von literaturwissenschaftlichen an kulturgeschichtliche und landesgeschichtliche Fragestellungen, die sich gegenseitig ergänzen und erhellen. Zugleich ermöglicht er Differenzierungen und bewahrt vor vorschnellen Verallgemeinerungen. In den Geschichten des literarischen Antisemitismus und des kirchlichen Antijudaismus mit fließendem Übergang zum Antisemitismus sind inzwischen die großen Autoren wie Joseph Pfefferkorn, Johannes Eck, Martin Luther, Johann Andreas Eisenmenger, August Rohling, Richard Wagner, Gustav Freytag, Heinrich von Treitschke, Julius Langbehn, H. S. Chamberlain u.v.a. ausführlich behandelt worden. Doch scheint uns der regionale Blick ein weiteres Spektrum und bislang nicht beachtete Formen der Erinnerung und Repräsentation zu bieten. 7 4 R EVENTLOW , Epochen der Bibelauslegung; S CHRECKENBERG , Die christlichen Adversus- Judeos-Texte; R ENDTORFF / H ENRIX , Die Christen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985; H ENRIX / K RAUS , Die Christen und das Judentum. Dokumente von 1986-2000; R ENGSTORF / VON K ORTZFLEISCH , Kirche und Synagoge; H EINZ , Um Gottes willen miteinander verbunden; B EA , Die Kirche und das jüdische Volk; G REIVE , Geschichte des modernen Antisemitismus; T HOMA , Die theologischen Beziehungen; J UNG , Christen und Juden; S CHULLER / V ELTRI / W OLF , Katholizismus und Judentum; B RECHENMACHER , Der Vatikan und die Juden; K RONDORFER / VON K ELLENBACH / R ECK , Mit Blick auf die Täter. 5 S TRAUSS / H OFFMANN , Juden und Judentum in der Literatur; S CHLANT , Die Sprache des Schweigens; G UBSER , Literarischer Antisemitismus. Einen interessanten Vergleich im Hinblick auf die bildende Kunst ermöglicht H OFFMANN -C URTIUS , „Bilder zum Judenmord“. 6 Vgl. etwa K ÖPPEN / S CHERPE , Zur Einführung: Der Streit um die Darstellbarkeit der Shoah, 1-12; einschlägig hierzu auch der Sammelband von B ANNASCH / H AMMER , Verbot der Bilder - Gebot der Erinnerung. 7 Vgl. F ASSL / H ERRMANN , Zur Einführung, 17f. Einleitung 15 4. Autoren, die nach der Shoa geschrieben haben, standen und stehen vor neuen Fragen der Darstellbarkeit und literarischen Zeugenschaft. Alles, was man über Juden schreibt, im Rückblick oder in der Gegenwart, steht erinnerungskulturell und erinnerungspolitisch auch im Kontext der Shoa. Insofern sind entsprechende Texte von Nichtjuden mehr Zeugnisse über das eigene Selbstverständnis, das sich imaginär bis zu einen Identitätswechsel als Jude steigern kann. Das Wort von Karl Rahner, dass es nach der Shoa kein unbefangenes Verhältnis zwischen Juden und Christen, nichtjüdischen und jüdischen Deutschen geben könne, ist wahr, auch wenn natürlich ein persönlich unbefangenes Gespräch, das der jüdische Kulturwissenschaftler Friedrich Georg Friedmann suchte, möglich ist. 8 Die Vielfalt der Diskussionen und Fragestellungen in diesem Zusammenhang ist faszinierend: Ist die Shoa darstellbar? - Darf sie überhaupt künstlerisch repräsentiert werden oder greift im Falle dieses unvergleichlichen Verbrechens das Bilderverbot, wie im Anschluss an ein missverstandenes Diktum Theodor W. Adornos behauptet wurde? 9 - Welche künstlerischen Mittel sind, sollte die letzte Frage bejaht werden, angemessen? Welche Rolle dürfen Fiktionen spielen? Wie sieht eine angemessene „Sprache des Schweigens“ aus? 5. Unsere literaturgeschichtliche Fragestellung steht für die Nachkriegszeit auch im engen Zusammenhang mit einer neuen Erinnerungskultur, der sich das literarische Schreiben nicht autonomieästhetisch entziehen kann. 10 Im kulturellen Gedächtnis funktionieren Medien der Erinnerung an den Holocaust auf unterschiedliche Weise. Gedächtnispolitisch entscheidend ist vor allem die Frage, in welcher Form und Speicherung Erfahrungsberichte über diesen „Zivilisationsbruch“ auch Generationen erreichen, die keinem Zeitzeugen mehr zuhören können: Wie lassen sich die Erinnerungen an den Holocaust vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis überführen? Und wer ist autorisiert, diese Erinnerungen zu (re-)formulieren? Im Film, auf der multimedialen CD-Rom, in aufwändig gestalteten Ausstellungen, Gedenkstätten und Museen, in historischen, sozialpsychologischen, theologischen, philosophischen Sachbüchern und Reflexionen? In der Literatur? 8 F RIEDMANN , Unbefangenheit und Anspruch, 81-97. 9 Vgl. den wirkungsmächtigen Aufsatz von A DORNO , Kulturkritk und Gesellschaft, 11-30; zentrale Texte und Gedichte, die sich mit Adornos diskussionsbedürftigem Satz „[N]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben“ auseinandersetzen, sammelt die Anthologie von K IEDAISCH , Lyrik nach Auschwitz? ; zu diesem Thema vgl. ferner L INDNER , Was heißt: Nach Auschwitz? 10 Grundlegend A SSMANN , Das kulturelle Gedächtnis; vgl. ferner W ELZER , Das kommunikative Gedächtnis, bes. 7-45. - Unter kommunikativem Gedächtnis wird eine Zeitspanne von etwa 80 Jahren begriffen, innerhalb derer die mündliche Weitergabe von Erinnerungen über zwei bis drei Generationen möglich ist, unter kulturellem Gedächtnis versteht man mit Jan und Aleida Assmann die über Jahrhunderte tradierte und verfestigte Überlieferung von sozialen Techniken und Institutionen, von Bildern und Texten, die das Selbst- und Geschichtsverständnis der Mitglieder einer Kultur entscheidend mitbestimmen, ohne dass es diesen immer bewusst wäre. Peter Fassl/ Friedmann Harzer/ Berndt Herrmann 16 Wenn für das jüdische Selbstverständnis häufig auf die Shoa als wichtigen, manchmal zentralen Bestandteil hingewiesen wird, dann spiegelt sich dies auch in seiner literarischen Darstellung notwendigerweise wider. 6. Der Umgang mit den Juden als einer religiösen und sozialen Minderheit führt zu der in den Cultural Studies der Gegenwart zentralen Frage nach dem Anderen, den Fremden, den Zugereisten, den Eingewanderten, also nach der Homogenität, Offenheit, den Brüchen, Divergenzen, Ambivalenzen, den geistigen und wertemäßigen Grundlagen einer Gesellschaft, die vor Historikern, Soziologen und Politikern in der Regel Literaten beschrieben haben. Die so genannte Holocaust-Literatur macht, so hoffen wir, hellhöriger für gesellschaftliche Schieflagen und Gefährdungen und offener für fremde und neue Stimmen. Der Blick auf die Anthologien zur Gegenwartsliteratur in Schwaben scheint dies zu bestätigen. 11 7. Die hier unternommene literarische Spurensuche verweist auf eine Beobachtung, die in den letzten Jahren zu einem neuen Gespräch zwischen Historikern und Literaturwissenschaftlern geführt hat. Der Historiker als Wissenschaftler stößt bei der Darstellung der Shoa, der Ursachen, Entwicklungen, Motive, der Durchführung, der Opfer, Täter, Mitläufer, Unterstützer an Grenzen, die mit seinen Quellen - Berichte, Akten, Statistiken etc. - nicht zu überwinden sind. Sachliche Nüchternheit als Qualitätsmerkmal von Wissenschaftlichkeit erscheint unter Umständen als „Herzlosigkeit“. Die natürliche Empathie mit den Opfern lässt sich nur ungenügend darstellen. Die Gefühle, die Nöte, Ängste, das Leiden und Schrecken der Opfer können in der Sprache der Wissenschaft nicht adäquat ausgedrückt werden. In der literarischen und bildlichen Darstellung ist es zumindest bis zu einem gewissen Grad möglich. Die Geschichtsschreibung benötigt also die autobiographischen Zeugnisse der Überlebenden und die Kompetenz der Literatur, um mit ihren je eigenen Mitteln die Shoa darzustellen. Da der Mensch das animal narrans ist, das erzählende Wesen, gehen wir davon aus, dass auch die Erzählungen von der Shoa nicht verstummen werden. James E. Young hat 1988 mit großer Wirkung auf die Spannung zwischen dem WAS und dem WIE in autobiographischer Zeitzeugenliteratur hingewiesen: „Anstatt die konkurrierenden Berichte zu disqualifizieren, erkennt der kritische Leser an, dass jeder Schreiber des Holocaust eine ‚andere Geschichte‘ zu erzählen hat, und zwar nicht etwa, weil das, was so vielen anderen geschah, so wesentlich ‚anders‘ war, sondern weil die Art und Weise, wie Opfer und Überlebende ihre Erfahrungen begriffen und erzählt haben, mit zum tatsächlichen Kern ‚ihrer‘ Geschichte gehört. So gesehen, geht es nicht darum, ob ein Komplex von Fakten wahrheitsgemäßer als ein anderer ist oder ob Fakten überhaupt zu einer literarischen Darstellung transformiert wurden.“ 12 Während für einen Literaturwissenschaftler vielleicht die Verteidigung der Wahrhaftigkeit der Zeitzeugen fundamental erscheint, stellt die faktische Stichhaltigkeit der Quellen für einen Historiker ein entscheidendes Kriterium dar, zumal im Umgang mit Quellen aus der so genannten Oral History. Für das Erinnern des 11 Vgl. Anm. 6 und F ASSL , Literaturpreis des Bezirks Schwaben. 12 Y OUNG , Beschreiben des Holocaust, 71, vgl. auch 37. Einleitung 17 Holocaust gilt unseres Erachtens besonders: Eine historische Monographie ist nicht relevanter als eine Autobiographie oder ein historischer Roman - aber auch nicht weniger relevant! Wir haben gemäß unserer einleitenden Überlegungen die Beiträge zu zwei größeren Sektionen zusammengefasst: In der ersten Abteilung finden sich Aufsätze zu Autoren, die vor der Shoa geschrieben, in der zweiten Abteilung solche zu Schriftstellern, die sich nach dem Holocaust geäußert haben. Die erste Rubrik in Sektion eins („Antijüdische Darstellungen“) befasst sich mit dem Bild des Ewigen Juden in der alemannischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie mit Ludwig Auerbach und Alban Stolz. Unter dem Stichwort „Öffnungen und neue Wahrnehmungen“ finden sich sodann Beiträge zu Ulrich von Hutten, Christoph Martin Wieland, Johann Peter Hebel, Eduard Mörike und Ludwig Ganghofer. Mit „Jüdische Selbstwahrnehmung“ schließlich sind Beiträge über Hedwig Lachmann, Fritz Mauthner, Jacob Picard und Max Riccabona überschrieben. 13 Sektion zwei versammelt neben der Rubrik „Autobiographisches“ (mit einem Beitrag von Sebastian Seidel) unter dem Titel „Erinnerung und Identität“ Aufsätze über Bertolt Brecht, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Rainer Werner Fassbinder, W. G. Sebald, Stephan Wackwitz, Monika Helfer und Michael Köhlmeier sowie Maya Rinderer. Nun zu den einzelnen Beiträgen. 1. Vor 1945 1.1 Antijüdische Darstellungen Die materialreiche und dichte Studie von Ulrich Scheinhammer-Schmid macht auf zwei grundsätzliche Probleme aufmerksam. Inwieweit wurden literarische Judenbilder rezipiert und haben sie überhaupt einen wie auch immer gearteten realen Kern? Am Beispiel des Volksbuchs vom Ewigen Juden, erstmals 1602 belegt, das im alemannischen Raum eine weite Verbreitung und zahlreiche Bearbeitungen fand, kann Scheinhammer-Schmid zeigen, wie sich im Bild des Juden das kirchliche Judenbild (Gottesmörder, ewige Schuld), aber auch Melancholie und Verzweiflung spiegeln können und wie es im 19. Jahrhundert zur Metapher für die Unbehaustheit des Menschen angesichts des technisch-industriellen Wandels wird. Den antijüdischen Autoren, darunter eine bemerkenswerte Entdeckung von Scheinhammer-Schmid aus dem Ulmer Wengenkloster - die Umkehrung vom Stereotyp des betrügerischen Juden in dem bäuerlichen Selbstverständnis, „einen Juden darf man schon anlügen“ - stehen anrührende jüdische Dorfbeschreibungen von Alexander Weill (Elsass) und 13 In diesem Zusammenhang sei auf die monumentale Anthologie der Posen Library „Jewish Culture and Civilization“ verwiesen, die das Ziel hat, „to collect all the primary texts, documents, images, and artifacts constituting Jewish culture and civilization, from ancient times to the present.“ (Bd. 10, S. XX). Peter Fassl/ Friedmann Harzer/ Berndt Herrmann 18 Berthold Auerbach (Schwarzwald) gegenüber, die erstmals einen genaueren Einblick in die jüdisch-christlichen Lebensverhältnisse auf dem Land geben und Vorbild für weitere ländliche Sittengeschichten wurden. Von christlicher Seite wird Johann Peter Hebel hervorgehoben, der individuelle Figuren zeichnete, und Peter Dörfler (1870-1955), dessen früher Roman „La Perniziosa“ (1910) die innere Zerrissenheit des Autors durch eine jüdische Geschichte ausdrückt. Alois Epple untersucht Stereotype des Judentums in Erzählungen des 1784 in Türkheim geborenen Ästhetik-Professors Ludwig Aurbacher. Dieser hat, im Zuge der katholischen Spätromantik, Märchen und Erzählungen gesammelt und umgeschrieben, in denen jüdische Figuren keine Seltenheit sind. Drei Aspekte hebt Epple in Aurbachers Judenbild hervor: Erstens kolportiere er, in einer ethnologischen Perspektive, vermeintlich typisch jüdische Gepflogenheiten und Eigenschaften. Zweitens zeichne er jüdische Figuren, in theologisch-christlicher Perspektive, als Gegner Christi und drittens stellt er sie, inspiriert durch wandernde jüdische Händler seiner Zeit, als raffinierte Krämer dar, die häufig gedemütigt wurden. Epple rekonstruiert in Aurbachers Erzählungen ein ambivalentes Bild des Judentums, in dem die negativen Tendenzen überwiegen. Im Rahmen eines Dissertationsprojekts von Tanja C. Muller über den katholischen Antisemitismus in Luxemburg im 19. Jahrhundert kommt der katholischen Zeitschrift „Luxemburger Wort“ eine zentrale Bedeutung zu, in der wiederum der katholische Theologieprofessor, Volksschriftsteller und Erziehungswissenschaftler Alban Stolz (1808-1883) rezipiert wurde. Stolz war seit 1845 Direktor des Freiburger Priesterseminars und wurde 1848 zum Professor für Pastoraltheologie und Pädagogik ernannt. Von 1843 bis zu seinem Tod gab er den „Kalender für Zeit und Ewigkeit für das gemeine Volk und nebenher für geistliche und weltliche Herrenleute“ heraus, der weit verbreitet war und - wie Tanja Muller zeigen kann - bereits in den 1840er Jahren einen rassistischen und biologischen Antisemitismus vertrat. Ihre Fragestellung im Hinblick auf die Bedeutung Stolz‘ Schriften lautet: „Zu untersuchen ist somit, inwieweit sich Stolz in seinen rassisch bezogenen Aussagen von den Schriften anderer Antisemiten unterschied und inwiefern er mit seinen diskriminatorischen Metaphern an der rassischen Begründung des Antisemitismus beteiligt war.“ Muller kann überzeugend eine breitere antisemitische Strömung in Luxemburg nachweisen, die wie Stolz ungehemmt mittelalterliche Stereotype, angereichert durch sexistische Neurosen, verbreitete. 1.2. Öffnungen und neue Wahrnehmungen Am Anfang steht, gewissermaßen aus „Augsburger Perspektive“ von Michael Friedrichs skizziert, das Judenbild Ulrich von Huttens (1488-1523), der 1517 in Augsburg zum poeta laureatus ernannt und an Syphillis behandelt worden war. In den von ihm mitverfassten Dunkelmännerbriefen, eigentlich den Briefen unbedeutender (obscuri) Personen, war er Johannes Reuchlin gegen Jacobus Hoogstraeten zu Hilfe geeilt. 14 Aber auf welche Weise? Während man die kirchlichen Kreise, die auf eine 14 Zuletzt P ETERSE , Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin. Einleitung 19 Vernichtung des Talmud drängten, als ungebildet lächerlich machte, reichte das literarische Interesse nicht über die Texte bis zu den Juden selbst, die in herkömmlicher Weise diffamiert wurden. Ob Hutten persönliche Kontakte zu Juden hatte, darf angesichts seiner derben Worte bezweifelt werden. Auch in den Schriften Christoph Martin Wielands, die Stefan Lindl nach Passagen über Juden untersucht, bleibt das Judenbild eigenartig unkonkret, obwohl das Thema der Judenemanzipation auch ein Anliegen der Aufklärung war. Natürlich sieht er die Vorurteile gegenüber den Juden und persifliert sie, doch beschreibt er die Juden als in traditionellem Denken verhaftet und mit einem strengen Gottesbild, also weit entfernt von einem aufgeklärten Weltbürger, als den er sich selbst sieht. Die ihm natürlich bekannten Diskussionen von und über Lessing und Moses Mendelssohn werden nicht aufgegriffen. Johann Peter Hebel: In Johann Peter Hebels Verhältnis zum historischen und zeitgenössischen Judentum zeichnen sich, so Friedmann Harzer in seiner Untersuchung einschlägiger Briefe, Kalendergeschichten, Predigten und theologischer Aufsätze, drei Aspekte ab: Erstens sei Empathie für das historische wie zeitgenössische Judentum in der Diaspora für den Theologen und Zeitgenossen Hebel gleichermaßen zentral. Zweitens bewahre sich Hebel bei aller Einfühlung einen differenzierten Blick auf seine jüdischen Zeitgenossen. Und drittens schließlich beweise er, als Autor, ein Faible für jene geistreichen Aporien, die gerade auch in Talmud- Geschichten vielfach durchgespielt werden. In Hebels jüdisch-christlichalemannischen Gesprächsspielen herrsche entsprechend eine nicht-binäre Logik vor, die den Gesetzen eines prinzipiell offenen und ad infinitum espritvollen Gespräches gehorche. Eduard Mörike: Martina Todesko findet in Mörikes Werk nur wenige Darstellungen jüdischer Figuren. Sie konzentriert sich in ihrem Beitrag vor allem auf die Figur eines Juden in „Der Schatz“, welcher die Erzählerfigur zwei Mal begegnet; beim ersten Mal könnte dieser jüdisch attribuierte Reisende ihm etwas gestohlen haben, ohne dass die Erzählung dies indes sicher wüsste. Die gründliche Rekonstruktion des historischen Kontextes dieser Erzählung sowie der Sprachgeschichte des dort für den Juden verwendeten Begriffs „Mauschel“ führt Todesko dazu, ein vorsichtiges Urteil zu fällen: Mörikes Erzählung könne als behutsame Kritik im 19. Jahrhundert verbreiteter Stereotype gelesen werden, mit denen die Erzählerfigur nicht unbedingt affirmativ operiert. Ludwig Ganghofer: Andreas Freidl hat jüdische Figuren in Ludwig Ganghofers Romanen „Der laufende Berg“, „Das Gotteslehen“ und „Die Trutze von Trutzberg“ untersucht. Seine überraschende These ist, dass dieser Bestseller-Autor der wilhelminischen Ära fast systematisch Vorurteile über die Juden mit übertrieben klischeehaft wirkenden Charakterisierungen freilegt und unterläuft - und dies unbeschadet seiner deutschnationalen Positionen: „Die Juden gehörten für ihn“, schließt Freidl, „einfach dazu.“ Peter Fassl/ Friedmann Harzer/ Berndt Herrmann 20 1.3 Jüdische Perspektiven Hedwig Lachmann: Armin Strohmeyr zeigt, dass im Werk der Sozialistin und Anarchistin Hedwig Lachmann, die mit Gustav Landauer verheiratet war, Judentum und Christentum eine wichtige Rolle spielen. Dies hänge einerseits mit dem jüdischen Vater zusammen, andererseits mit Erfahrungen in der jüdischen Gemeinde ihrer Kindheit, in der sie einer prophetischen Poetik der Beschwörung begegnet sei. Diese habe sie mit Gedichten wie „Empörung“ in einer engagierten Literatur umgesetzt, welche auch die Diskriminierung jüdischer Zeitgenossen zum Gegenstand hatte. Lachmann habe einerseits oberflächliche Formen der Frömmigkeit abgelehnt, andererseits aber an der Vorstellung eines überkonfessionell zu verstehenden, gerechten Gottes des „alten“ wie des „neuen Bundes“ festgehalten. Fritz Mauthner: Fritz Mauthners 1882 erschienener Berlin-Roman „Der neue Ahasver“ ist von der Forschung lange als erzählerische Darstellung des Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert gelesen worden. Tobias Krüger kann in seinem Beitrag allerdings zeigen, dass Mauthner in diesem Frühwerk jene Sprach- und Religionskritik bereits vorwegnimmt, die er später in den „Beiträgen zu einer Kritik der Sprache“ und in der kurz vor seinem Tod in Meersburg geschriebenen Monographie „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande“ expliziert hat. Krüger zeichnet in genauen Lektüren des Romans, der Autobiographie und sprachkritischer Schriften nach, dass Mauthner für Strukturen sowohl der jüdischen Religion als auch der menschlichen Sprache architektonische Metaphern wie Haus oder Stadt benutzt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Erzählung von der Großstadt Berlin in „Der neue Ahasver“ eine bislang nicht erkannte Bedeutung, die Metropole des Kaiserreichs wird zugleich zum Bild für die religiöse und sprachliche Desorientierung des Romanhelden Heinrich Wolff. Mit Jacob Picard (1883-1967) verbindet sich im Rahmen unserer Spurensuche das Bild vom letzten Erzähler des alemannischen Landjudentums. Oswald Burger beschreibt seine Herkunft aus einer kinderreichen, alteingesessenen jüdischen Familie in Wangen am Bodensee, dann sein Studium der Germanistik und Rechtswissenschaft, seine schriftstellerische Tätigkeit, das Exil in Amerika und seine Rückkehr nach Deutschland 1957. Lyrik, Reportagen, literaturgeschichtliche Arbeiten, die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und ganz zuletzt 1936 das anrührende Denkmal für die bereits untergegangene Welt des Dorfjudentums und des Zusammenlebens von Christen und Juden auf dem Land (1936, 1963), in Nachfolge von Berthold Auerbach und Alexander Weill. Wie beschreibt man während der NS-Zeit und nach der Shoa die liebenswerte, verlorene Welt der Kindheit? Man kann aus der Distanz leicht und zutreffend von moralisierendem Ton und idealisierenden Bildern sprechen. Für den Heimatfreund Picard, man nannte ihn „Bodenseele“, blieben der Schmerz und die Trauer über eine verlorene Sehnsuchtswelt. Man musste Picards jüdische Dorfgeschichten unter mehreren Perspektiven lesen. Ulrike Längle, die Herausgeberin der Erinnerungen 15 von Max Riccabona (1915-1997) an die Zeit als Häftling im KZ Dachau (1942-1945), hat sich immer wieder mit diesem „kreuzüberquer belesenen und beschlagenen Dichter“ (Wolfgang 15 R ICCABONA , Auf dem Nebengeleise. Einleitung 21 Baur) auseinandergesetzt, dessen Selbstbeschreibung in einem unveröffentlichten Brief von 1968 sie hier vorlegt. Dies führt zur Frage, warum ein Halbjude - Vater welschtiroler Adel, Mutter aus katholisch-jüdischem Elternhaus - trotz Hass, Widerstand und aktivem Kampf gegen die Nazis, Gefängnis und KZ-Aufenthalt sich als „ka Jud“ bezeichnet. In einer detektivischen Spurensuche gelingt es Ulrike Längle, den schier unglaublichen Lebensweg Riccabonas zu belegen und der, man kann vielleicht sagen, Überlebensstrategie des sich vielfach dissimilierenden Humanisten näherzukommen, kurz: Riccabona muss man lesen. 2. Nach 1945 2.1. Autobiographisches Autobiographien und Erinnerungsberichte über die NS-Zeit erschienen zunächst in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Opfern und sich rechtfertigenden und reinwaschenden Tätern und dann im größeren Umfang seit den 1990er Jahren. Zum einen konnten die über 70jährigen sich nun frei von allen Zwängen und Rücksichten äußern, zum anderen wollten sie angesichts einer zunehmenden Forschungsarbeit von Jüngeren ihre Sicht der Dinge darlegen. Die Komplexität der Diskussion und Probleme zeigt vielleicht am besten die Diskussion um Martin Walsers Erinnerungen, „Ein springender Brunnen“; zwischen Einfühlen und Eindenken in die jugendliche Gefühls-und Wahrnehmungswelt und den Vorwurf, sich gefühlskalt gegenüber einem jüdischen Schüler zu zeigen, liegt die Spannbreite. Unter den Autobiographien aus Bayerisch-Schwaben ragen die Arbeiten von Elisabeth Wolf und Elisabeth Hiller heraus, die sehr anschaulich Kindheiten, Schulzeit in Augsburg und die Studienzeit in München und Würzburg ab 1940 schildern und einen Beitrag zur Zeitgeschichte darstellen. Der Bericht über Begegnungen mit und Wahrnehmungen von Juden dagegen ist dünn, obwohl die Bedeutung dieses Themas allen Autoren bewusst ist. Fassl spricht in Anlehnung an Christine Schlant von einer „Sprache des Schweigens“, aber auch von Verdrängung, Überforderung und der Schwierigkeit einer angemessenen Darstellung. Familientreffen haben eine lange Tradition und können eine besondere Dynamik entwickeln. Das jüdische Ehepaar Schweitzer-Hollaender aus Breslau war 1902 in Berlin zum Protestantismus übergetreten. 1988 trafen sich neun von zwölf Enkeln aus Amerika, England und Deutschland in Bonn, um über ihr jüdisches Selbstverständnis zu sprechen. Im Nachklang zum Treffen wurde von Carl-Christoph Schweitzer, SPD-Bundestagsabgeordneter und Politologe in Bonn, ein Fragebogen mit über 200 Fragen entworfen und an alle Familienmitglieder versandt. Er gliedert sich in folgende Rubriken: „1. Fragen an die ältere Generation (also ‚Enkel‘) das ‚dritte Reich‘ betreffend 2. Fragen an die ältere Generation das jüdische ‚Erbe‘ betreffend 3. Fragen an die Ausgewanderten und (z.T.) Rückgewanderten zum Problemkreis Emigration als solche Peter Fassl/ Friedmann Harzer/ Berndt Herrmann 22 4. Fragen an die Rückwanderer und Hiergebliebenen (ältere Gen.) in Bezug auf die Zeit nach dem Krieg 5. Fragen an die ältere Generation in der neuen Heimat 6. Fragen an die jüngere Generation in der neuen Heimat (in Englisch) 7. Fragen an die jüngere Generation in Deutschland“. Während die Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts christlich wurde, gehören heute einige Mitglieder durch Heirat auch wieder der jüdischen Religion an. Die Antworten der Fragebögen, die Sebastian Seidel hier vorlegt, führen mittenhinein in das allgemeine Gespräch über die Pluralität des Judentums und besonders die deutsch-jüdische Geschichte der Gegenwart. Im Rahmen der Tagung führte Matthias Klösel den Einakter für eine Person „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ von Charles Lewinsky auf, der die Frage der heutigen jüdischen Identität, die Schwierigkeiten der Normalität, die verschiedenen Rollenerwartungen und deren Verweigerung thematisiert. Sebastian Seidel, Theatermacher, Autor, Kulturorganisator und selbst Referent dieser Tagung, nimmt den Gesprächsfaden auf und führt ihn in die Augsburger Kulturszene der Gegenwart. Ein ganz gewöhnlicher Jude wurde zuerst 2005 veröffentlicht und erschien 2006 im Fernsehen. Die Landeszentrale für politische Bildung in Bayern finanzierte 2011 zehn Schulaufführungen von Klösel. Lewinsky schreibt über sich: „Nein, ich bin kein Berufsjude“, aber er kann nach seinem Theaterstück und den Romanen „Melnitz“ (2007) und „Kastelau“ (2014) zweifellos als eine der wichtigsten literarischen jüdischen Stimmen im deutschsprachigen Raum bezeichnet werden. 2.2. Erinnerung und Identität Bertolt Brecht: Franz Fromholzer versucht in seinem umfassend recherchierten Aufsatz zu Brechts Einschätzung und Beschreibung der Shoa nicht nur, eine Forschungslücke zu schließen, sondern auch gegen ein Tabu anzuschreiben, das in der Brecht-Forschung bis in die jüngste Zeit Bestand hat. Anhand von zwischen 1938 und 1955 notierten „Journal“-Einträgen fragt er nach Gründen für Brechts „Schweigen über den Holocaust“. Fromholzer beschreibt zunächst, wie Brecht den Antisemitismus in Deutschland aus dem Exil wahrgenommen und bewertet hat. Aus einer Rekonstruktion der Rezeption des jungen Marx bei Brecht erhellt, dass sich beide für den Antisemitismus als kapitalistisch-bürgerliches Ideologem nur in Maßen interessiert haben. Sodann untersucht Fromholzer Brechts Engagement in jüdischen Emigrantenzirkeln und dessen diaristische Wahrnehmung der Konzentrationslager, über die er aus Zeitschriftenberichten gut informiert war. Der Dichter orientiere sich, so Fromholzer, hierbei am dialektischen Herr-und-Knecht-Modell Hegels in der Deutung von Marx; wiederum wird so eine materialistische Sichtweise einer ideengeschichtlichen vorgezogen. Brechts strategisches Schweigen über den Holocaust leitet Fromholzer zunächst aus dem Kälte-Theorem der Neuen Sachlichkeit her. Je bedrohter sich der Emigrant indessen selber fühlen musste, desto entschiedener habe er allerdings eine orthodox-marxistische Position zur Rassendoktrin der Nazis und zur Shoa bezogen. Fromholzer hebt schließlich hervor, dass Brecht von Zeitgenossen wie Alfred Döblin, Fritz Kortner oder George Tabori ganz unter- Einleitung 23 schiedlich wahrgenommen wurde, wenn es um seine Einschätzung des Antisemitismus und der Judenverfolgung ging: als marxistischer Dogmatiker, als solidarischer Humanist oder auch als indifferenter Religionskritiker. Das Thema „Brecht und das Judentum“, hier vielleicht erstmals systematisch umrissen, wartet noch auf seine gründliche Erforschung, so Fromholzer. Hans Magnus Enzensberger: Katja Schneider zeigt in Ihrem Beitrag zu Hans Magnus Enzensberger zunächst, wie der aus Kaufbeuren stammende Schriftsteller auf Adornos berühmtes Diktum, nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, reagiert hat. Zum anderen rekonstruiert die Autorin, wie Enzensbergers Gedicht die verschwundenen einen intertextuellen Dialog mit Nelly Sachs‘ Gedichten führt. Der Dichter stelle damit nicht die Shoa direkt dar, er bringe, im lyrischen Spiel mit vorgeprägten sprachlichen Mustern, vielmehr deren Nichtdarstellbarkeit zur Sprache - das ist die paradox klingende Pointe dieser Studie. Martin Walser: In dezidiert kritischer Abgrenzung von der bei Matthias Lorenz greifbaren Kritik an Martin Walsers Auseinandersetzung mit der Ermordung der europäischen Juden konzediert Helmut Gier dem aus Wasserburg stammenden Doyen der Nachkriegsliteratur einen je nach Genre und historischer Situation differenzierten und niemals antisemitischen Umgang mit dem Thema „Die Deutschen und das Judentum“. Gier tut dies eingestandenermaßen als von den Großautoren der Gruppe 47 geprägter Bibliotheksdirektor und auch als Verehrer Martin Walsers. Er hat Walsers persönliche Beziehung zu Ruth Klüger und seine Dissertation über den Prager Juden Franz Kafka dabei ebenso im Blick wie Walsers Kritik am verleugnenden Umgang mit der Shoa in den Dramen und Essays der 1960er und 1970er Jahre einerseits und seine Kritik an einer inzwischen habitualisierten „Vergangenheitsbewältigung“ in der Friedenspreis-Rede von 1998 andererseits, welche die Walser-Bubis-Debatte ausgelöst hat. Rainer Werner Fassbinder: Auch in seinem Beitrag über Rainer Werner Fassbinder widerspricht Helmut Gier entschieden einer Lesart, die den umstrittenen und skandalisierten Theater- und Filmemacher eindeutig auf antisemitische Tendenzen festlegen will. Gier zeigt von den Stücken „Nur eine Scheibe Brot“ und „Der Müll, die Stadt und der Tod“ über die Filme „In einem Jahr mit dreizehn Monden“ oder „Lili Marleen“ und die bekannte Fernseh-Serie zu Döblins „Berlin Alexanderplatz“ bis hin zu nicht mehr realisierten Projekten zu Freytags antisemitischem Roman „Soll und Haben“ oder Freuds Moses-Buch, dass sich Fassbinder von Anfang an mit dem Thema des Judentums, des Nationalsozialismus und des deutschen Antisemitismus auseinandergesetzt hat, und zwar, so Gier, als erster und einziger Filmemacher seiner Generation überhaupt mit großer Intensität und Hartnäckigkeit. Ähnlich wie Walser (der sich ebenfalls kritisch mit Ignaz Bubis auseinandergesetzt hat) nimmt sich Fassbinder künstlerische Freiheiten im Umgang mit jüdischen und deutschen Traditionen heraus, die als eindeutig judenfeindlich indessen nur dann zu klassifizieren seien, wenn man von ihrer ästhetischen Funktion absehe. W. G. Sebald: Berndt Herrmann fragt sich, ob und inwiefern man den 1944 in Wertach geborenen W. G. Sebald als Holocaust-Autor verstehen könne. Er zeigt an „Die Ausgewanderten“, „Austerlitz“ und „Die Ringe des Saturn“, wie Sebald vom (Ver-)Schweigen schreibt, indem er, darin Enzensberger vergleichbar, das Unaus- Peter Fassl/ Friedmann Harzer/ Berndt Herrmann 24 sprechliche - die Selektionen, die Gaskammern, die Leichengruben - nur indirekt und in Fiktionen umschreibt. Diese gleichsam defensive Strategie, die sich, wie Berndt Herrmann andernorts zeigen konnte, auch bei Gerhard Köpf finden lässt, sei literarischer Ausdruck für Sebalds eigene Erfahrungen mit dem Nachkriegsdeutschland und dessen (von ihm vor allem mit Häme überzogener) Erinnerungsliteratur, aber auch für seine pessimistische Geschichtsphilosophie: Dass durchs Erinnern und Erzählen nichts mehr heil werden könne, davon handeln Sebalds Texte, die mittlerweile zur schwäbischen Weltliteratur zählen. Stephan Wackwitz: Friedmann Harzer untersucht in seinem Beitrag über den Roman „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ sowie die autobiographischen Schriften „Ein unsichtbares Land“ bzw. „Neue Menschen“ Stephan Wackwitz’ Imagination und Reflexion jüdischer Identitäten als literarischen Kniff, der auch ein später Reflex linksintellektueller Überidentifikation mit dem Judentum sein könnte. Wackwitz‘ ‚eingebildetes Judentum‘ sei aufgrund seines spezifischen ‚Bildungsromans‘ problematischer als das Identitäten-(Er-)Finden von Juden der zweiten Generation. Alain Finkielkrauts einschlägiger Essay „Le juif imaginaire“ ist für Harzers Argumentation zentral. Monika Helfer / Michael Köhlmeier, Maya Rinderer: Ulrike Längle geht der Frage nach, inwiefern, beim Übergang vom kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis, das Erzählen vom Holocaust dessen „authentische“ Erinnerung durch die Überlebenden mehr und mehr überlagere. Sie stellt dabei zwei Texte aus dem Bereich der Kinder- und Jugendliteratur vor: Zum einen das mehrfach ausgezeichnete Kinderbuch „Rosie und der Urgroßvater“ (2010) des Vorarlberger Autorenpaars Monika Helfer und Michael Köhlmeier. Diese erfinden Geschichten für Kinder, welche die Erinnerung an die Hohenemser Juden aus der Zeit vom 17. bis ins 20. Jahrhundert wachhalten wollen. Zum anderen stellt Längle den 2011 erschienenen Roman „Esther“ der fünfzehnjährigen Schülerin Maya Rinderer vor. Diese erinnert sich in ihrem Debüt an einen Großvater, der Auschwitz überlebt hat, und sie verbindet dessen Geschichte mit einer Figur namens Esther Levi, die ebenfalls die Shoa überlebt. Längle hebt hervor, dass „Rosie und der Urgroßvater“ von Vertretern der zweiten Generation für Kinder und Jugendliche späterer Generationen erfunden worden sei, während die Autorin von „Esther“ bereits selber der Altersgruppe angehöre, an die sich Helfer und Köhlmeier richten. Maya Rinderer übernehme (mit Mitteln der Literatur) Verantwortung für das künftige kulturelle Gedächtnis. Literatur A DORNO , T HEODOR W.: Kulturkritik und Gesellschaft, in: D ERS ., Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schulz, Bd. 10.1, Frankfurt am Main 1977, 11-30. A SSMANN , J AN : Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Einleitung 25 B ANNASCH , B ETTINA / H AMMER , A LMUTH (Hrsg.): Verbot der Bilder - Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah, Frankfurt am Main 2004. B EA , A UGUSTIN K ARDINAL : Die Kirche und das jüdische Volk, Freiburg im Breisgau/ Basel/ Wien 1966. B OGDAL , K LAUS -M ICHAEL u.a. (Hrsgg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart/ Weimar 2007. B RECHENMACHER , T HOMAS : Der Vatikan und die Juden. 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Antijüdische Darstellungen Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen Das Bild des Juden in der alemannischen Literatur des späten 18. und des 19. Jahrhunderts Ulrich Scheinhammer-Schmid Anfang Mai 1856 erhielt der 15 Jahre vorher gegründete Verein für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben „von Herrn Conditor Finckh“ ein ganz besonderes Geschenk gestiftet: „ein kolossales Paar Schuhe, einer Familiensage nach vom Ewigen Juden zurückgelassen“, der auf seiner ruhelosen Wanderung durch die Welt auch Ulm passiert haben soll. 1 Ergänzend wusste die „Ulmer Schnellpost“ am 11. Mai 1856 zu berichten: 2 „Schon seit Jahren spricht man in Ulm von diesen Schuhen, die hier lange mit einer gewissen Scheu verborgen gehalten worden sind. Die Mythe feierte nicht und dichtete ihnen goldene Nägel und wer weiß was Alles zu. Vor vielen, vielen Jahrzehnten soll einst ein fremder Wanderer, der in der oberen Bleich ein Nachtquartier gefunden, diese Schuhe dort zurückgelassen haben. Sie sind ohne Zweifel viele Jahrhunderte alt, von kolossaler Größe und kolossalem Gewicht, zusammen wohl ein Viertel-Centner schwer und mit ungeheuren Nägeln gepflastert.“ Im letzten Satz ihrer Notiz räumt die „Ulmer Schnellpost“ allerdings ein: „Es scheinen Pönitentiarschuhe gewesen zu sein, d. h. Schuhe, die von Lästerern zur Strafe für ihre Sünden getragen werden mußten.“ 3 Aufschlussreich ist jedoch, wie sich die mythische und im Volksbuch überlieferte Vorstellung vom „Ewigen Juden“ hier inmitten der schwäbischen Reichsstadt materialisiert, einer Gestalt, die unbehaust durch die Länder zieht, ein Bruder des Fliegenden Holländers und des irrenden Toren Parzival, alle drei unerlöst und doch nichts dringender suchend als ihre endliche Erlösung. Auf der anderen Seite wohnten Juden nicht nur seit Jahrhunderten in vielen Orten Schwabens, sondern zogen auch jedes Jahr als Hausierer oder als Viehhändler durchs Land, auf abseits gelegenen oder verborgenen „Judenwegen“. Deren verwehten Spuren ging die großartige Dissertation von Barbara Rösch „Der Judenweg“ nach, die in faszinierender Weise ein subkutanes Wegenetz aufzeigt, das sich neben und unter den offiziellen christlichen Wegen durch Bayern und andere deutsche Gebiete zog und auf denen sich die jüdischen Viehhändler und Hausierer bewegten. 4 1 Zit. nach: R IBBERT , Die Kunstsammlung des Vereins, 16. 2 Ebd., 128, Anm. 25. 3 Ebd. 4 R ÖSCH , Der Judenweg. Ulrich Scheinhammer-Schmid 30 Zwischen diesen Polen wird sich meine Darstellung bewegen: Auf der einen Seite der diffus fassbare Mythos des unbehausten Wanderers am Rand der Gesellschaft, auf der anderen Seite das alltägliche Allerlei der deutsch-jüdischen Beziehungen, das vielfältig durch Klischees und antisemitische Zerrbilder beeinträchtigt wurde und wird. Dabei wird unser Wegenetz die Schweiz aussparen, aber vom südwestdeutschen Raum zumindest einmal ins Elsass, auf die andere Seite des Rheins, ausgreifen. 1. Weltschmerz und Wanderschaft 1602 erschien zum ersten Mal das Volksbuch vom „Ewigen Juden“, das im 17./ 18. Jahrhundert mit über 70 Auflagen rasch zum Longseller wurde und in zahlreiche andere europäische Literaturen wanderte, 5 das aber nicht zuletzt im alemannischen Raum durch zahlreiche billige „Volksbüchlein“-Drucke des 19. Jahrhunderts weithin verbreitet wurde, vorzugsweise aus Reutlinger Verlagen wie Fleischhauer & Spohn, Ensslin & Laiblin oder Bardtenschlager. 6 5 Ahasvers Spur. Dichtungen und Dokumente vom „Ewigen Juden“, 9-14. Diese Ausgabe druckt als „Erstausgabe“ die „Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden/ mit Namen Ahaßverus“ nach einem Druck, der mit „Bautzen/ bey Wolffgang Suchnach/ Anno 1602“ bezeichnet ist. Dr. Arno Schmidt (Das Volksbuch vom Ewigen Juden. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Buches. Danzig 1927 (Festgabe des Deutschen Heimatbundes Danzig für die Teilnehmer an der Danziger Jahrestagung der Gesellschaft für deutsche Bildung)) dagegen bezieht sich - im Anschluss an die Forschungen von Leonhard Neubaur - auf „20 verschiedene Drucke des ersten Druckjahres“ 1602 - „im Vergleich zu den Erstdrucken der anderen Volksbücher eine ganz ungewöhnliche Tatsache.“ (S. 13). Nach einem sorgfältigen Vergleich der Druckorte bzw. Drucker, bei dem sowohl der Druckort „Leiden/ Leyden“ wie der angebliche Bautzener Drucker „Suchnach“ als Fiktionen ausscheiden, schreibt er den Druck mit guten Gründen der Danziger Offizin von Jakob Rhode zu („Gedruckt zu Dantzig/ bey Jacob Rothen Erben/ Im Jahr 1602“) (S. 40). 6 Eine genauere Untersuchung dieser Reutlinger Verlagsproduktion ist mir nicht bekannt; einige Hinweise gibt Manfred Bosch in seinem Beitrag „Kolporteure, Raubdrucker, rührige Verleger. Verlagswesen im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1800-1950, hrsg. von Manfred Bosch, Ulrich Gaier u.a., Bd. 2,2. Aufsätze, Biberach/ Riß 2006, 1297-1312 (über Reutlingen S. 1300-1303). Der schwäbische Erzähler Hermann Kurz, der selbst 1834 das Vorwort zu einer Neuausgabe des „Faust“- Volksbuchs schrieb, berichtet in seinen „Denk- und Glaubwürdigkeiten“ (1859) von seinen kindlichen Kontakten mit der Produktion eines solchen Reutlinger Verlags, einem „Literaturschatz“, der „trotz seines dürftigen, verschlissenen und armutseligen Aussehens einen hohen Rang behauptet [...] Die Literatur, die ich meine, gehörte gewissermaßen in die Familie, denn sie erschien, allzeit „gedruckt in diesem Jahr“, bei einem Vatersvetter, der einen Buchhandel für das Volk mit den beliebtesten geistlichen und weltlichen Schriften betrieb.“ Der „Hauptschatz“ dieser Literatur aber habe „in den geliebten Volksbüchern“ bestanden (K URZ , Denk- und Glaubwürdigkeiten, 69-71). Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 31 In der ursprünglichen Form der Erzählung (1602) berichtet Paulus von Eitzen, „Bischoff zu Schleßwig“, er habe 1542 im Winter in der Kirche einen großgewachsenen Mann („ein sehr lang Person“) in zerschlissenen Kleidern bemerkt. Über diesen Fremden habe er erfahren, „daß er ein geborner Jud von Jerusalem/ mit seinem Namen Ahasverus“ sei, von Beruf Schuster, und dass er an der Verhaftung und Verurteilung Jesu, den er für einen „Verführer“ und Ketzer hielt, aktiv mitgewirkt habe. Er habe Jesus, der sich auf dem Kreuzweg vor dem Haus des Ahasver ausruhen wollte, „mit schelt worten [...] fort gewisen“. Daraufhin habe Jesus ihn angesehen und gesagt: „Ich wil stehen und ruhen/ du aber solt gehen“. Seitdem wandere der Fremde ruhelos über die Erde und finde weder Tod noch Erlösung. Auffallend ist an dieser Erzählung, dass Ahasverus nicht nur die Unbehaustheit des jüdischen Volks in der Diaspora widerspiegelt, sondern vor allem die jüdische Schuld am Tod Christi bestätigt: „Hab auch endlich jhn [Jesus] fangen [...]/ anklagen/ über ihn das Crucifige schreyen/ und umb Barrabam bitten/ auch so weit bringen helffen/ biß er zum Todt verurtheilt worden.“ 7 Dieses Volksbuch erschien bei Ensslin & Laiblin als „Die Sage von dem ewigen Juden“ mit dem Untertitel „Merkwürdige Erlebnisse des Israeliten Ahasverus, welcher der Kreuzigung Christi angewohnt und bis auf den heutigen Tag am Leben erhalten worden sein soll“ als Nr. 30 der „Reutlinger Volksbücher“, 8 während der Verlag Fleischhauer & Spohn 1849 eine wohl von Ottmar Friedrich Heinrich Schönhuth (1806-1864) stammende Fassung unter dem Titel „Ahasverus der ewige Jude. Eine wunderbare und gar erbauliche Historie“ herausbrachte und der Verlag Bardtenschlager eine anonyme Version mit dem Titel „Der ewige Jude Ahasverus aus Jerusalem, welcher vorgibt, bei der Kreuzigung Christi persönlich zugegen gewesen zu sein“ auf den Markt brachte. 9 Alle diese „wohlfeilen“ broschierten Heftausgaben sind heute nur noch vereinzelt nachweisbar - sie dürften aber insgesamt eine nicht zu unterschätzende Breitenwirkung gehabt haben, nicht zuletzt, weil sie von den Reutlinger bzw. Eninger Hausierern auch in die entferntesten Dörfer gebracht wurden. 10 So stellt Alfred Messerli in seiner 2002 erschienenen, auf die Schweiz bezogenen Arbeit „Lesen und Schreiben 1700 bis 1900“ eine ganze Reihe von autobiographischen und amtlichen Zeugnissen zusammen. Er zitiert etwa aus den Erinnerungen von Jakob Christoph Heer (1859-1925), der im Kanton Zürich aufwuchs und dessen Phantasie nicht zuletzt „durch schwäbische Hausierer“ angeregt wurde, „die alljährlich für einige Tage im Dorf einkehrten und [...] Reutlinger Volksbücher und Kalender mit sich brachten“. Auch der Theologe und Verleger Johannes Schultheß (1763-1836) habe sich an die Reutlinger Hausierer erinnert, die „religiö- 7 Wiedergegeben nach dem Faksimile-Abdruck in: Ahasvers Spur, 9-14. Zum Volksbuch vgl. auch: H EIDEN , Der Jude als Medium, 120-126. 8 Nachweisbar in der UB Augsburg in einer Ausgabe von 1873; der frühen Nummer nach bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen. 9 Die beiden Titel wurden durch Internet-Recherchen ermittelt; der Bardtenschlager-Band wurde in einer Ausgabe „um 1900“ im Antiquariatshandel angeboten, während das Schönhuth-Heft im Katalog der Brown University Library, Providence/ Rhode Island, im Rahmen von deren (sehr vielfältiger) Wandering Jew Collection verzeichnet ist. 10 Zur Kolportage immer noch grundlegend: S CHENDA , Volk ohne Buch, 250-268. Ulrich Scheinhammer-Schmid 32 se Bücher zweifelhaften Inhalts“ auf den Dörfern verkauften (darunter „Der ewige Jude“). 11 Die im schwäbischen Raum heute noch bekannteste Fassung des Volksbuchs stammt von dem 1784 in Türkheim geborenen Ludwig Aurbacher, der 1827 in seinem „Volksbüchlein“ ebenfalls eine stark legendenhafte Fassung des Volksbuchs veröffentlichte. Er macht schon in der ersten Zeile beim Christusnamen mit dem Zusatz „dessen Name hochgelobt sei“ klar, wohin die Wanderung Ahasvers führt und aus wessen Sicht sie beschrieben wird - sie führt aus einem dezidiert christlichen Blickwinkel weder in die Verzweiflung noch zur von Gott geschenkten Erlösung, sondern zu einem christlichen Pilger- und Bußweg und zur Ergebung in das vom Herrn auferlegte Schicksal. 12 All diese Fassungen der Legende verkündeten, wie unterschiedlich sie auch gestaltet sein mochten, ihren Lesern die einheitliche Botschaft von der Schuld der „ungläubigen Juden“ und von der „Verblendung jenes Volkes“ (so die alljährlichen Karfreitagsfürbitten bei der großen Kreuzverehrung in der katholischen Kirche). 13 Ahasver ist der Jude schlechthin, von Christus verdammt und bei Aurbacher bis zu seiner endlichen Bekehrung als Feind des Christentums und als Christenverfolger aktiv: „Ahasverus sah mit boshafter Freude, wie die Anhänger Dessen, der ihn verflucht, von den Heiden verfolgt und gemartert wurden, und um seine Rache an ihnen auszulassen, bot er sich selbst an zum Henkerdienste. Und manches unschuldige Opfer wurde von seinen Händen erwürgt mit gedoppelter Qual“ (Fünftes Kapitel). Und obwohl er sich zunächst bekehrt und in der Wüste Thebaïs als Einsiedler Buße tut, schließt er sich den Scharen des Islam an, um Jerusalem zu erobern und die Grabeskirche zu schänden. Dort erscheint ihm der Auferstandene, Ahasver wird getauft und kämpft nun auf der Seite der christlichen Kreuzritter. Die Prophezeiung Christi verweigert freilich dem Büßer auch fernerhin die endliche Erlösung: „Durch seinen Glauben war ihm Gnade widerfahren, und die Vergebung seiner Sünde geworden; und obwol die Folge jener Sünde, die Strafe, nicht aufgehoben werden konnte, weil das Wort erfüllt werden mußte, so hat er doch von Stund an selige Ruhe und heiligen Frieden empfunden, wie ein Kind, das an der Folge einer schweren Krankheit leidet und langsam zum Tode reif wird, das aber im Schooße der mütterlichen Barmherzigkeit ruht, und daher willig und geduldig das unheilbare Weh erträgt unter der Pflege eines liebenden Herzens.“ Im heiligen Land dient er, das ‚alte Kind‘, in frommer Ergebung als christlicher Fremdenführer, in Erwartung des „heiligen, großen, ewigen Sabbath, der anbricht nach den sechs Tagen, die wir Jahrtausende nennen.“ 11 M ESSERLI , Lesen und Schreiben 1700 bis 1900, 395. 12 Aurbachers anonym erschienener Text ist im Internet leicht zugänglich als Digitalisat bei http: / / www.zeno.org/ Literatur/ M/ Aurbacher,+Ludwig (Ausgabe Leipzig o.J. [um 1878/ 79]). Die Erstausgabe erschien in München bei Lindauer 1827 (über Aurbacher: P ÖRNBACHER , Schwäbische Literaturgeschichte, 246-251). 13 S CHOTT , Das Meßbuch, 322f. Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 33 Neben dieser volkstümlichen Tradition der Sage gibt es im schwäbischen Raum auch hochliterarische Gestaltungen der Ahasver-Gestalt. Im 18. Jahrhundert wird die Geschichte des Unerlösbaren in Schwaben erstmals 1785 literarisch fassbar. Vermutlich im Jahr 1783 schrieb der auf dem Hohenasperg widerrechtlich eingekerkerte Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) ein Gedicht, dem er den Untertitel „Eine lyrische Rhapsodie“ gab. Der vom württembergischen Herzog seit 1777 willkürlich inhaftierte Autor entwirft hier eine Phantasie mit dem Titel „Der ewige Jude“, die 1785 in Schubarts „Sämtlichen Gedichten“ veröffentlicht wurde. 14 Sie beginnt mit großem Gestus und einer Kurzfassung der Geschichte Ahasvers: „Aus einem finstern Geklüfte Karmels Kroch Ahasver. Bald sind’s zweitausend Jahre, Seit Unruh’ ihn durch alle Lande peitschte. Als Jesus einst die Last des Kreuzes trug, Und rasten wollt’ vor Ahasveros Thür’; Ach! da versagt’ ihm Ahasver die Rast, Und stieß den Mittler trotzig von der Thür: Und Jesus schwankt’ und sank mit seiner Last.“ Der die Rast Verweigernde (und in anderen Fassungen den Kreuzträger auch noch verspottende oder gar schlagende) Jude wird verdammt zum ruhelosen Wandern: „Des Sterbens süßer Trost,/ Der Grabesruhe Trost ist dir versagt! “ In prometheischer Auflehnung wirft er nun mit Totenschädeln vom Gebirge, stürzt sich vergeblich zum Sterben in die Schlacht, sagt den Gewaltherrschern ins Gesicht „Du bist ein Bluthund! “, erlebt „Das gähnende Ungeheuer Einerlei! “ und „die geile, hungrige Zeit,/ Immer Kinder gebärend, immer Kinder verschlingend! “ - doch am Ende von Schubarts Gedicht steht die Erlösung des Geschundenen: „Und Ahasveros sank. Ihm klang’s im Ohr; Nacht deckte seine borst’gen Augenwimper. Ein Engel trug ihn wieder ins Geklüft, ‚Da schlaf nun,‘ sprach der Engel, ‚Ahasver, Schlaf süßen Schlaf; Gott zürnt nicht ewig! Wenn du erwachst, so ist er da, Des Blut auf Golgatha du fließen sahst; Und der - auch dir verzeiht.‘“ Diese Schubartsche Fassung des Themas, geprägt von der für den aufrührerischen Autor bezeichnenden Mischung aus Empörungswillen und Erlösungssehnsucht, trägt alle Züge der rebellischen Auflehnung wie der Kraftsprache des Sturm und Drang, auch wenn am Ende der, der nicht sterben kann, den Schlaf und die Verzeihung Gottes findet. 15 14 S CHUBART , Sämtliche Gedichte. Hier zit. nach: Ahasvers Spur, 28-31. 15 Schubart hat sich auch in mehreren Artikeln seiner „Vaterlandschronik“ (nach seiner Haftzeit) im Sinne einer „Judenapologie“ (so der Titel seiner Betrachtung) geäußert, wenn er et- Ulrich Scheinhammer-Schmid 34 Fünfzig Jahre später, 1833, stellte dann Nikolaus Lenau (1802-1850) seinem Gedicht über die Figur des Ahasver in Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“ Verse aus Schubarts „Rhapsodie“ voran. 16 Lenau, ein im Banat geborener Autor, der auf seiner lebenslangen Wanderschaft für längere Zeit in Schwaben Rast machte, eng mit der Schwäbischen Romantik verbunden war und der deshalb mit gutem Grund dem alemannischen Raum zuzurechnen ist, veröffentlichte zwei Gedichte über den jüdischen Wanderer. 17 Aufschlussreich ist der Vermerk, mit dem die Redaktion des „Morgenblatts“ den Abdruck des ersten begleitet: „Mit diesem Gedicht begrüßt der edle Sänger, der seine Phantasie mit den Bildern einer neuen Welt genährt hat, und noch vor wenigen Monaten am Niagarafalle gestanden ist, seine europäische Heimath zum erstenmale wieder.“ Lenaus letztlich gescheiterter Versuch, sich in den Jahren 1832/ 33 in Amerika eine neue Existenz zu suchen, spiegelt sich in diesem in der Neuen Welt entstandenen Gedicht deutlich durch die Beschwörung nicht der Neuen, sondern der alten europäischen Welt - der Ewige Jude wird zum Gegenbild des scheiternden, der Melancholie verfallenen Auswanderers. Für Lenaus Figur allerdings („Ahasver, der ewige Jude“) ist die bei Schubart flammende Empörung nur eine ferne Reminiszenz. Sie hat dem Gefühl tiefer Resignation und dem Weltschmerz Platz gemacht, mit denen er „auf weiter grüner Heide“ an die Bahre eines jungen Hirten tritt und den Toten beneidet: „O süßer Schlaf! o süßer Todesschlaf! Könnt ich mich rastend in die Grube schmiegen! Könnt ich, wie der, in deinen Armen liegen, Den schon so früh dein milder Segen traf! Den Staub nicht schütteln mehr vom müden Fuße! Wie tiefbehaglich ist die Todesmuße! “ Doch sie ist ihm nicht vergönnt und so muss er weiter ziehen: wa im 65. Stück vom 12. August 1788 schreibt: „Niemand ist geneigter als ich, jedes Stäublein wegzublasen, das den Charakter dieses ohnehin so schwer gedrückten Volkes verunstalten könnte.“ (S CHUBART , Deutsche Chronik, 291). Weitere Stellungnahmen finden sich 1788 und 1790 (C. F. D. Schubarts Vermischte Schriften. Dritter Theil. Stuttgart: J. Scheible’s Buchhandlung 1840. C. F. D. Schubart’s, des Patrioten, gesammelte Schriften und Schicksale. Achter Band, 142, 158f. und 213f.). 16 L ENAU , Werke und Briefe, Band 1: Gedichte bis 1834, 272-276 „Ahasver, der ewige Jude“. Band 2: Neuere Gedichte und lyrische Nachlese, 7-11 „Der ewige Jude“). - Nach 1840 schrieb Lenau auch ein Gedicht „Der arme Jude“, in dem ein armer jüdischer Kleiderhausierer im Winter unter einem Wegkreuz erfriert, nachdem er die Taufe abgelehnt hat (Band 2, 267-269). 17 Das Ahasver-Motiv in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem in seinem Bezug zu Richard Wagners „Fliegendem Holländer“ und zur Weltschmerz-Thematik der Vormärzzeit, behandelt D IETER B ORCHMEYER in seiner Studie: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, 117-142. Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 35 „Ob seinem Haupt die Heidevögel schwirrten. Und wie er fortschritt auf den öden Matten, Zog weithingreifend sich sein Schattenstrich Bis zu den Hirten, die bekreuzten sich, Die Weiber schauderten an seinem Schatten.“ Lenaus zweite Gestaltung des Sujets verdankt sich mehreren Alpenwanderungen in den Jahren 1834 bis 1836. „Der ewige Jude“ (auch: „Ahasver II“) ist eher eine Ballade oder ein Erzählgedicht. Die romantische Welt der Alpen-Wilderer wird hier mit dem Motiv des rastlosen Wanderers verknüpft und der Weltschmerz des Ewigen Juden mit dem des Ich-Erzählers identifiziert. „Ich irrt’ allein in einem öden Thale/ Von Klippenkalk umstarrt, von dunklen Föhren“ - der Geier zieht seine Kreise und der Regen weckt die Tränen des einsamen Wanderers, der des Lebens überdrüssig ist: „‚Dahin, dahin des Lebens helle Stunden! Mir nachtets, Tal, wie dir! ich wollt, ich wäre Versunken, eh mein Licht versank, im Meere! ‘ Ich riefs und ließ aufbluten meine Wunden.“ Der Gedanke an Ahasver ist für den in Weltschmerz versunkenen Sprecher nicht weit und schließlich findet der einsame Wanderer eine Hütte, in der die Wilderer gerade dabei sind, ihre Beute zuzubereiten und die rußgeschwärzte Büchse zu reinigen. Dem Gast werden die Schätze des Hauses gezeigt, darunter eine Münze - sie trifft sein Herz „mit wunderlichem Grauen“: „Die Münze bleiern sah so traurig blinkend, Fast wie ein brechend Auge, das Gepräge War Christus mit dem Kreuz am Leidenswege, Nach Ruhe schmachtend und zusammensinkend.“ In der Nacht entwickelt das erzählende Ich im Traum eine wilde Vision von der Begegnung des Wilderers mit dem Ewigen Juden, einem „riesenhaften Greis“ mit einer Keule. Dessen „toddürstendes Gebrülle“, er wolle erschossen werden, befolgt der Jäger, doch die Kugel prallt an dem Fremden ab, „den’s weiter treibt, umsonst den Tod zu suchen“. Und als der „Waidgeselle [...] sein plattgequetschtes Blei“ sucht und findet, nimmt der zuschauende Ich-Erzähler „das Blei [...] mit Grauen“: „Zur Münze wars geprägt, auf der zu schauen Des ewgen Juden Herzqual eingeschnitten.“ Für Lenau wie für viele seiner Zeitgenossen ist der Ewige Jude, der ruhelose Wanderer und verzweifelnd am Schmerz Leidende, ein Bild der eigenen ruhelosen Existenz - das jüdische Thema ist zugleich ein Spiegelbild der Epoche der beginnenden Industrialisierung und der durch sie bedingten Wanderungsbewegungen, wie sie gerade in einzelnen Bereichen des alemannischen Raums schon seit dem 18. Jahrhundert erkennbar werden. Ulrich Scheinhammer-Schmid 36 Auch Wilhelm Hauff, er nun ein in Stuttgart gebürtiger Schwabe (1802- 1827), versetzt den Ewigen Juden in die eigene Gegenwart, allerdings anders als Lenau in einen deutlich antisemitischen und zugleich antipreußischen Kontext. Die von dem 23jährigen Jungautor 1825/ 26 veröffentlichten „Mitteilungen aus den Memoiren des Satan“ sind in erster Linie eine Literatursatire, aber auch geprägt vom Geist der ersten Judenkrawalle in Südwestdeutschland, der seit 1819 immer wieder aufflackernden antisemitischen „Hep-hep“-Ausschreitungen, die sich in nicht wenigen Gemeinden des alemannischen Sprachgebiets austobten. 18 Hauff ist einer, der in mehreren Werken diesem Antisemitismus Material lieferte - nicht zuletzt und vor allem in den „Memoiren des Satan“. 19 Der Ewige Jude selbst ist hier allerdings eher eine komisch-ungehobelte Figur, die in Begleitung des eleganten Lebemanns Satan in den Berliner Salons auftaucht und sich nicht zu benehmen weiß, ein komisches Gegenbild zu den schwärmerisch-übersteigerten feinen Damen und Stutzern beim „ästhetischen Thee“. Er landet schließlich spätnächtlich mit seinem Begleiter Satan im Weinhaus und verschwindet dann auch ganz rasch aus der Geschichte, um einer bösartigen Karikatur der Frankfurter Juden Platz zu machen, von der noch zu sprechen sein wird. 2. Geschlecht und Geschichte Wir befinden uns im Karneval des Jahres 1737 in Stuttgart. Ein rauschendes Maskenfest feiert den „Kabinettsminister und Finanzdirektor“ des Landes. Sein Ball steht in deutlichem Widerspruch zur Geisteshaltung des „strengen, ernsten Württemberg, streng geworden durch einen eifrigen, oft asketischen Protestantismus, der Lustbarkeiten dieser Art als Überbleibsel einer andern Religionspartei [ergänze: der katholischen] haßte“. Am Rande dieses Festes begegnen sich ein als „Sarazene“ verkleideter junger Mann und ein als „Orientalin“ maskiertes Mädchen: 20 18 W IRTZ , Widersetzlichkeiten. - Wirtz registriert (232-240) 101 „Protestfälle“ in dem von ihm untersuchten Zeitraum; den größten Anteil haben dabei die antisemitischen Ausschreitungen (25) gegenüber 22 „politischen“ und 19 „antifeudalen“ Protesten, wobei letztere allerdings zusammengenommen doch an der Spitze stehen). Bei den ersteren könne man allerdings „keinerlei religiösen oder rassischen Inhalt“ feststellen, sondern Ursachen „sehr konkret ökonomischer oder rechtlicher Art“ (233). 19 H AUFF , Mittheilungen aus den Memoiren des Satan, 58-78, 87-94 (der den Ewigen Juden betreffende Teil der „Memoiren“ umfasst unter der gesonderten Überschrift „Unterhaltungen des Satan und des Ewigen Juden in Berlin“ das elfte bis fünfzehnte Kapitel des ersten Teils). - Zu diesem von der Forschung bisher kaum beachteten Roman vgl. O STERKAMP , Der Autor als Teufel, 100-114. 20 H AUFF , Jud Süß, 179f. Zu Hauffs Novelle gibt es eine umfangreiche Literatur, deren Titel bis etwa zum Jahr 2000 bei Anne von der Heiden, Jude als Medium, nachgewiesen sind (323-344). Nicht bei ihr enthalten sind u.a.: D ÜSTERBERG , Wilhelm Hauffs 'opportunistische' Judenfeindschaft, 190-212; M OJEM , Heimatdichter Hauff? , 143-166; P OLASCHNEGG , Der andere Orientalismus, 169-174; G LASENAPP , Literarische Popularisierungsprozesse. Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 37 „Man konnte ihr Gesicht die Vollendung orientalischer Züge nennen. Dieses Ebenmaß in den feingeschnittenen Zügen, diese wundervollen dunkeln Augen, beschattet von langen seidenen Wimpern, diese kühn gewölbten, glänzendschwarzen Braunen und die dunkeln Locken, die in so angenehmem Kontrast um die weiße Stirne und den schönen Hals fielen, und den Vereinigungspunkt dieser lieblichen Züge, zarte rote Lippen und die zierlichsten weißen Zähne noch mehr hervorhoben; der Turban, der sich durch ihre Locken schlang, die reichen Perlen, die den Hals umspielten, das reizende und doch so züchtige Kostüm einer türkischen Dame - sie wirkten, verbunden mit diesen Zügen, eine solche Täuschung, daß der junge Mann eine jener herrlichen Erscheinungen zu sehen glaubte, wie sie Tasso beschreibt, wie sie die ergriffene Phantasie der Reisenden bei ihrer Heimkehr [ergänze: aus dem Morgenland] malte.“ Der Unterton, der in dem Wort „Reisenden“ liegt, beschreibt eine Gestalt aus der Fremde des Orients, deren Herkunft gleich darauf durch den biblischen Hinweis auf „Rebekka und die Tochter Jephthas“ verdeutlicht wird. Das Fest veranstaltet, aus Anlass seines Geburtstags, der in der ganzen Erzählung nur mit seinem Schmähnamen als „Jud Süß“ bezeichnete Joseph Süß Oppenheimer. Dessen Schwester Lea ist es, die mit ihrem orientalischen Liebreiz die Liebesleidenschaft des jungen württembergischen Juristen Gustav Lanbeck weckt, nicht zufällig in einem aus Holz gezimmerten, nur für die kurze Zeit des Karnevals errichteten Gebäude. Sie repräsentiert einen Typus, der zu diesem Zeitpunkt (1827 erschien Hauffs Novelle in 24 Ausgaben von Cottas „Morgenblatt“ 21 ) längst seine Wanderung durch die deutsche Literatur angetreten hat: die schöne Jüdin. Sie hat ihre Wurzeln, wie der Germanist Florian Krobb in seiner 1993 erschienenen Dissertation herausarbeitet, im Barock, im zweiten Teil von Grimmelshausens „Wunderbarlichem Vogelnest“ (auch er aus dem alemannischen Bereich) und in der dort erzählten Geschichte der schönen Jüdin Esther aus Amsterdam. 22 Lea Oppenheimer und ihr Bruder aber sind in Hauffs Novelle der Beleg dafür, dass der Schritt aus dem Frankfurter Ghetto, den beide vollzogen haben, sie ins Verderben führt und gleichzeitig die biederen und aufrechten Württemberger mit sich zu reißen droht. 23 Der allmächtige Minister Jud Süß will die Beziehung seiner Schwester zu Lanbeck in erpresserischer Weise ausnutzen - sein Sturz erscheint so als gerechte Strafe für seine Schurkereien. Lea ist unschuldig und hat mit den Taten ihres Bruders nichts zu tun - dennoch wird eine Verbindung zwischen ihr und Lanbeck von den Figuren der Erzählung strikt abgelehnt, vor allem von Gustavs Vater, der zur Begründung lapidar erklärt: „Weil ich keine Jüdin zur Tochter mag“. 24 21 Nähere Angaben bei von der H EIDEN , Jude als Medium, 293, Anm. 3. 22 K ROBB , Die schöne Jüdin. - Zur grundlegenden Charakteristik des Typus „Schöne Jüdin“ vor allem 1-20 sowie 187-194 („Unschuldsengel und Sataninnen. Die Vielfalt jüdischer Frauengestalten in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“). 23 M OJEM , Heimatdichter Hauff? , verweist neben der eigentlichen „Jud Süß“-Thematik noch auf eine zweite Schicht der Hauff-Novelle: die Auseinandersetzungen in Württemberg im Kontext der Verfassungsfrage nach 1800, in die Hauffs Familie unmittelbar verwickelt war. 24 H AUFF , Jud Süß, 217. Ulrich Scheinhammer-Schmid 38 Erst durch diese massiven Vorhaltungen und Mahnungen seiner Familie allerdings lässt sich Gustav Lanbeck bewegen, die mit dem Sturz ihres vorher allmächtigen Bruders hilf- und schutzlose Ex-Geliebte aufzugeben, die ins Nichts entschwindet: 25 „Sie [...] warf noch einen Blick voll Liebe auf ihn und ging, [...]. Der junge Mann blickte ihr wehmütig nach; es war ihm, als hätte diese Stunde einen mächtigen Einfluß auf sein Leben, aber er ahnete auch, daß er das unglückliche Mädchen zum letzten Mal gesehen habe.“ Hauff äußert im letzten Kapitel durchaus Zweifel an der Gerechtigkeit des Urteils gegen Joseph Süß Oppenheimer und distanziert sich halbherzig von diesem offenbaren Unrechtsurteil; aber seine Darstellung sowohl des Finanzministers wie von dessen Schwester rechtfertigen letztlich die Abgrenzung von Christen und Juden und die Ablehnung der Judenemanzipation und seine Berufung auf die Staatsräson entschuldigt den Justizmord, durch den die eigentlichen Schuldigen verschont werden sollten. 26 Gustav allerdings wird vom Erzähler im Schlusskapitel als gebrochener Mensch geschildert, „ernst und düster“, als jemand, der „nie wieder gelächelt“ habe, „und die Sage ging damals, daß er nur einmal, und ein unglückliches Mädchen geliebt habe, das ihren Tod im Neckar freiwillig fand.“ 27 3. Alltag und Abseits Auffallend gegenüber den bisher beschriebenen Texten ist es, wie wenig Spuren der Alltag des deutsch-jüdischen Zusammenlebens in der alemannischen Literatur hinterlassen hat. Sieht man von jüdischen Autoren wie Alexander Weill oder Berthold Auerbach ab, so findet man neben dezidiert antisemitischen Darstellungen nur wenige Bilder aus dem alltäglichen Leben, obwohl die jüdischen Viehhändler und Hausierer in vielen Landgemeinden des alemannischen Raums gegenwärtig waren, ganz zu schweigen von den Dörfern, in denen Christen und Juden eine mehr oder weniger gelingende Symbiose bildeten. Die große Ausnahme ist Johann Peter Hebel, der nicht nur in seinen Kalendergeschichten ein differenziertes Bild der badischen Juden zeichnet, in dem Licht und Schatten ohne antisemitische Verzerrungen nebeneinanderstehen. Er hat auch 1809 unter einem leicht durchschaubaren Pseudonym 28 und dem Titel „Die Juden“ ein 25 Ebd., 228. 26 Helmut Mojem weist darauf hin, dass der Text der Novelle nicht nur in der Buchausgabe deutlich vom Zeitschriftenabdruck abweicht (161), sondern möglicherweise auch durch die staatliche Zensur oder auch durch „Änderungswünsche“ des Verlegers Cotta anders gefasst wurde (162, Anm. 37). 27 H AUFF , Jud Süß, 229f. 28 „Joh. Peter Parm.“: „Parmenides“ war Hebels Name im Freundschaftsbund der „Proteuser“ in Lörrach (vgl. „Den Blick zum Belchen gewendet“. Johann Peter Hebel im Markgräflerland, bearbeitet von Gerhard Moehring. Marbacher Magazin, Sonderheft 23/ 1982, 42-51). Der Text des Aufsatzes „Die Juden“ in: H EBEL , Werke, Bd. 1, 483-491. Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 39 „Sendschreiben an den Sekretär der theologischen Gesellschaft zu Lörrach“ veröffentlicht; diese „Gesellschaft“, eigentlich Hebels Freundeskreis in Lörrach, markiert er mit einem ironisch augenzwinkernden Untertitel („die wenig bekannt ist“) und er beendet den Aufsatz mit einer Schlusswendung, die seine Vertrautheit mit dem realen Landjudentum seiner Zeit bekundet: „Grüße mir den Thumringer Juden, und, wenn er noch lebt, den Scheitele in Lörrach, und den Nausel! “ Zwar finden sich bei Hebels Judengestalten durchaus auch negative Züge; sie bleiben aber immer an individuelle Figuren gebunden und werden nicht böswillig-karikierend generalisiert. 29 Vergleicht man Hebels Judengestalten und seine Aussagen über das Judentum mit anderen zeitgenössischen Äußerungen, von den Berliner Romantikern wie Achim von Arnim bis zur schwäbischen Romantik Wilhelm Hauffs, dann wirkt der Aufklärer Hebel wie die große Ausnahme. Er ist nicht nur ein scharfer Beobachter, sondern auch ein Menschenfreund - er nennt sich ja selbst gerne den „Hausfreund“ -, auf den sich nicht zuletzt Berthold Auerbach mehrfach in höchst positiver Wertung bezieht. 30 Die Gegenposition zu Hebels Ehrfurcht vor jüdischem Glauben und Wesen demonstriert Wilhelm Hauff in seinen „Mitteilungen aus den Memoiren des Satan“. Deren „Zweiter Teil“ zeigt schon in Überschriften wie „Ein Schabbes [Sabbat] in Bornheim“ oder „Das gebildete Judenfräulein“ sowie vor allem in der denunzierenden Wortwahl, worum es dem Autor geht: 31 „Aus dem Garten des Goldenen Löwen in Bornheim tönten uns die zitternden Klänge von Harfen und Gitarren, und das Geigen verstimmter Violinen entgegen; das Volk Gottes ließ sich vormusizieren im Freien, wie einst ihr König Saul, wenn er übler Laune war. Wir traten ein; da saßen sie, die Söhne und Töchter Abrahams, Isaaks und Jakobs, mit funkelnden Augen, kühn gebogenen Nasen, fein geschnittenen Gesichtern, wie aus einer Form geprägt, da saßen sie vergnügt und fröhlich plaudernd, und tranken Champagner aus saurem Wein, Zucker und Mineralwasser zubereitet, da saßen sie in malerischen Gruppen unter den Bäumen, und der Garten war anzuschauen, als wäre er das gelobte Land Kanaan, das der Prophet vom Berge gesehen, und seinem Volk verheißen hatte. Wie sich doch die Zeiten ändern durch die Aufklärung und das Geld! Es waren dies dieselben Menschen, die noch vor dreißig Jahren keinen Fuß auf den breiten Weg der Promenade setzen durften, sondern bescheiden den Nebenweg gingen; dieselben, die den Hut abziehen mußten, wenn man ihnen zurief: ‚Jude, sei artig, mach dein Kompliment! ‘ Dieselben, die von dem Bürgermeister und dem Hohen Rat der freien Stadt Frankfurt jede Nacht eingepfercht wurden in ihr schmutziges Quartier. Und wie so ganz anders waren sie jetzt anzuschauen. Überladen mit Putz und köstlichen Steinen saßen die Frauen und Judenfräulein; die Männer, konnten sie auch nicht die spitzigen Ellbogen und die vorgebogenen Knie ihres 29 S TEIGER , Unverhofftes Wiedersehen (mit einem Kapitel „Hebel und die Juden“); L ITT- MANN , „Es sei nicht Rede vom Fortschicken, sondern vom Dableiben“; Z UMKEHR , „Denn man muß um des Bartes willen den Kopf nicht verachten, an dem er wächst.“, 243-276. 30 Berthold Auerbach 1812-1882, 53-55. 31 H AUFF , Memoiren, 146f. Ulrich Scheinhammer-Schmid 40 Volkes verleugnen, suchten sie auch umsonst den ruhigen, soliden Anstand eines Kaufherrn von der Zeile oder der Million zu kopieren, die Männer hatten sich sonntäglich und schön angetan, ließen schwere goldene Ketten über die Brust und den Magen herabhängen, streckten alle zehn Finger, mit blitzenden Solitairs besteckt, von sich, als wollten sie zu verstehen geben: ‚Ist das nicht was ganz Solides? Sind wir nicht das auserwählte Volk? Wer hat denn alles Geld, gemünzt und in Barren, als wir? Wem ist Gott und Welt, Kaiser und König schuldig, wem anders als uns? ‘“ Hier sind alle Elemente versammelt, die der Antisemitismus der letzten Jahrzehnte des 19. und der des 20. Jahrhunderts zur schrecklichen Fratze ausbauen wird: die physiognomischen Klischees, die später der „Stürmer“ per Schaukasten in jedes Dorf tragen wird („die kühn gebogenen Nasen“ und „vorgebogenen Knie ihres Volkes“), die angebliche Geschmacklosigkeit und das neureiche Gebaren, die angebliche „Frechheit“ derer, deren bürgerliche Gleichstellung man am liebsten rückgängig machen würde („überladen mit Putz und köstlichen Steinen“), den gefälschten Champagner wie die falschen Töne und die spitzen, durchsetzungsfähigen Ellbogen und schließlich die These von der jüdischen Weltherrschaft und vom allen Herrschern überlegenen jüdischen Kapital, das dem „ruhigen, soliden Anstand eines [deutschen] Kaufherrn“ entgegengesetzt wird. 32 Hauff bedient in seinem Roman alle Vorurteile, wenn auch in ironischsatirischer Einkleidung, die von da an durch die deutsche Geschichte geistern - bis hin zur sprachlichen Karikatur, die sich mischt mit dem Vorwurf, alle Juden seien Diebe, vom Autor einem jüdischen Hausherrn in den Mund gelegt, nachdem seine Tochter ihre Verlobung gefeiert hat: 33 „Die Gesellschaft unterhielt sich ganz angenehm, und bewies sich nach Herrn Simons Begriffen sehr gesittet und anständig, denn als er am Abend, nachdem alle sich entfernt hatten, mit seiner Tochter Rebekka, das Silber ordnete und zählte, riefen sie einmütig und vergnügt: ‚Gotts Wunder! Gotts Wunder! was war das für noble Gesellschaft, für gesittete Leute! Es fehlt auch nicht ein Kaffeelöffelchen, kein Dessertmesserchen oder Zuckerklämmchen ist uns abhanden gekommen! Gotts Wunder! ‘“ 32 Aufschlussreich für Hauffs Antisemitismus ist besonders „Die Geschichte von Abner, dem Juden, der Nichts gesehen hat“, die zweite Erzählung in der Sammlung „Der Scheik von Alessandria und seine Sclaven“ (1827). Hier werden „die Juden“ ebenso wie die Titelfigur in wenigen Zeilen mit einer ganzen Sammlung antisemitischer Klischees belegt: Sie „sind mit Falkenaugen für den kleinsten Vortheil begabt“ und „verschlagen“; Abner ist „in einen nicht übermäßig reinlichen Mantel gehüllt“ und ein Betrüger, der Sklaven „mit einem heimlichen Fehler“ zu teuer verkauft, und nicht einmal vor Mord zurückschreckt - er hat „einem reichen, kranken Mann den letzten Trank“ bereitet, „nicht vor einer Genesung, sondern vor seinem Hintritt“. Das Ende des „Märchens“ ist von antisemitischer Schadenfreude bestimmt; Abner erhält Prügel und muss eine große Geldsumme bezahlen. Hauff hat hier einen Juden als Hauptfigur eingeführt, während in seiner Vorlage, dem dritten Kapitel von Voltaires satirischem Roman „Zadig oder das Geschick“ („Der Hund und das Pferd“), keine jüdische Figur vorkommt. 33 H AUFF , Memoiren, 165. Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 41 Freilich gibt es im alemannischen Raum des 19. Jahrhunderts auch positive Darstellungen jüdischen Lebens, aber sie stammen fast durchweg von jüdischen Autoren. Zwei von ihnen wurden schon genannt und sollen hier noch kurz charakterisiert werden. Der heute kaum noch bekannte Alexander Weill, gebürtiger Elsässer und später weitgehend in Paris beheimatet, veröffentlichte von 1839 an mehrere Dorfgeschichten in den Zeitschriften des Jungen Deutschland, in denen er realistische „Sittengemälde“ lieferte (wie das der Titel seiner ersten Buchveröffentlichung nannte), die dann auch bald, sowohl auf Deutsch wie auf Französisch, in Buchform erschienen. Sie bieten heute noch ein realistisches Bild des Dorflebens der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, bei dem die durch die Französische Revolution befreiten Juden im Elsass mit den Christen zusammensiedeln, wobei Weills Feststellung interessant ist, dass es den Juden in den Dörfern gut gehe, wo Katholiken und Protestanten sind. 34 Dort nämlich würden die Christen aufeinander losgehen, sich anfeinden und die jüdische Gemeinde werde in Ruhe gelassen; wo dagegen nur Katholiken seien, da gehe es häufig gegen die Juden. Der 1812 als Moses Baruch Auerbacher in Nordstetten bei Horb im württembergischen Nordschwarzwald als Sohn eines jüdischen Händlers geborene Berthold Auerbach (1812-1882), so sein späterer Autorenname, schildert in einer seiner Erzählungen diese Situation in Abgrenzung zur Situation der württembergischen Juden: 35 „‚Ja, und die vielen Juden im Elsaß ließen sich eher massakriren, ehe sie deutsch werden thäten; drüben sind sie vollkommen gleich mit den christlichen Bürgern; wir, wir bezahlen alle Steuern gleich, werden Soldaten wie die Christen und haben doch nur die halben Rechte.‘“ Auerbach, zunächst als Rabbiner ausgebildet, wurde 1833 verhaftet und 1836 wegen seiner Zugehörigkeit zu einer verbotenen Burschenschaft zu zwei Monaten Haft verurteilt. Dies versperrte ihm den Weg in den Lehrerberuf und zwang ihn zu einer Existenz als freier Schriftsteller. Seine ersten beiden Romane über den jüdischen Philosophen Spinoza und über eine Gestalt aus dem Kreis um Moses Mendelssohn und Lessing 36 waren wenig erfolgreich - ganz anders als die „Schwarzwälder Dorfgeschichten“, die ab 1842 zunächst in Zeitschriften und ab 1843 in Buchform erschienen und Auerbach in ganz Deutschland berühmt machten. 37 Auerbach, ein vom Antisemitismus zu Unrecht in den Hintergrund gedrängter Autor, wäre einen gesonderten Beitrag wert - seine Biographie führt uns freilich fast an die Schwelle zum 20. Jahrhundert. Denn seine letzten Lebensjahre vor seinem Tod 1882 sind überschattet von dem wild aufschießenden, vor allem von Heinrich 34 Neuausgabe: W EILL , Sittengemälde. 35 A UERBACH , Der Lauterbacher, 300. - Die Erzählung erschien 1843 in den Schwarzwälder Dorfgeschichten, Teil 1-2, Mannheim. 36 A UERBACH , Spinoza; D ERS .: Dichter und Kaufmann. - Die „programmatischen Vorworte“ der beiden Romane in: G LASENAPP / H ORCH , Ghettoliteratur, 87-90 (ebd., 175-197 zeitgenössische Würdigungen Auerbachs, u.a. von Ludwig Geiger, und 407-427 Rezensionen zu Werken Auerbachs). 37 Berthold Auerbach, 46-52, 60-68. Ulrich Scheinhammer-Schmid 42 von Treitschke initiierten preußischen Antisemitismus („Die Juden sind unser Unglück“), über den er 1880 in einem Brief schreibt: 38 „[...] die tiefe Verhetzung, die Aufreizung zur Empörung, den scheelen Blick, der auf jeden Juden fällt [...] und ich kenne die Welt genugsam, ich weiß, wie im Casino zu Rastatt und in der Weinstube in Bingen und im Bierkeller in München das alles mit Jubel aufgenommen wird. Was ist da zu thun? Müssen wir in unserem Alter unthätig und still leidend zusehen, wie das Unheil immer größer wird und was die Kinder in den Schulen leiden von Lehrern und Mitschülern? Ich sehe in die trübste Zukunft hinein.“ Dabei hatte Auerbach in seinen Dorfgeschichten vor allem das christliche Dorf dargestellt, in dem die Juden eher eine Nebenrolle spielten. Eine Ausnahme ist der neue (christliche) Lehrer in Nordstetten, fremd auf dem Dorf und genannt der Lauterbacher, der sich mit dem jüdischen Lehrer anfreundet und ihn und den christlichen „alten Lehrer“ um Rat fragt: 39 „‚Sie können mir gewiß viel Anleitung geben, meine Herren, über mein Verhalten dahier; ich bin hier so ganz fremd.‘ ‚Ich kann mir das noch recht gut denken,‘ nahm der jüdische Lehrer das Wort, ‚ich war auch bloß auf Verfügung des Consistoriums hieher gekommen und kannte keinen Menschen. Ich wünschte mir oft, ich hätte eine Zeit lang incognito da bleiben können, um die Charaktere der Eltern genau zu beobachten, und ohne die Eltern wissen Sie wohl, ist auch bei den Kindern nichts auszuführen. Bei mir war noch der besondere Umstand, daß ich vor fünf und zwanzig Jahren zum erstenmale eine geordnete Schule einzurichten hatte, was die Juden damals noch gar nicht kannten. Ich kam mir in der ersten Zeit vor, als wär’ ich in eine fremde Welt verzaubert.‘“ Die Dorfgeschichten erschienen nach und nach in mehreren Bänden und erlebten immer neue Auflagen, deren Verlag ab 1855 Cotta, die erste Adresse auf dem schwäbischen und deutschen Buchmarkt, übernahm; mehrere erfolgreiche Gesamtausgaben bezeugen den Ruhm des Erzählers Auerbach, der in den fünfziger und sechziger Jahren auch alljährlich (in der ausdrücklichen Hebel-Nachfolge) einen „Volkskalender“ herausgab. 40 Immer wieder kehrte Auerbach nach Württemberg zurück, wo er mit Mörike, Friedrich Theodor Vischer und Hermann Kurz (den er noch vom Studium her kannte) befreundet war. Freilich musste er bei seinen regelmäßigen Besuchen in Nordstetten auch herbe Enttäuschungen erleben: 41 „Nordstetten war mir diesmal ganz verbittert, besonders durch ein steinernes Kruzifix, das dort seit der Anwesenheit der Jesuiten [bei einer Volksmission] errichtet wurde. Es steht gerade an der Stelle, wo man von Horb heraufkommend Nord- 38 Brief an Jakob Auerbach, 11. November 1880; in: Berthold Auerbach, 97; zu Heinrich von Treitschke und seiner Polemik gegen die Juden vgl.: B OEHLICH , Der Berliner Antisemitismusstreit; K RIEGER , Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879-1881. 39 A UERBACH , Der Lauterbacher, 304. 40 W IEDEMANN , „Der Hinkende Bote und seine Vettern“, 44f., 117. 41 A UERBACH , Brief an Wilhelm Hemsen, 16. Juli 1857, zit. nach: Berthold Auerbach, 69. Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 43 stetten zum ersten Mal ganz übersieht, und gerade da, wo ich den Lauterbacher hinsetzte, um ihn die Ergriffenheit vom Tone der Kirchenglocken aufzeichnen zu lassen, u. mit goldenen Buchstaben ist am Sockel die Stelle aus der Epistel Pauli an die Epheser eingegraben: Wir predigen Jesum Christum den Gekreuzigten, der den Juden ein Abscheu und den Heiden eine Thorheit ist. Und das vor einem Dorfe, in dem ein Drittheil Juden wohnen. Mir schnitt es in die Seele.“ Das Zusammenleben zwischen Christen und Juden blitzt auch in einem Hanswurst-Stück des in Ziemetshausen geborenen Chorherrn am Ulmer Wengenstift, Joseph Lederer (1733-1796), auf, das einen mehrteiligen Titel in Form eines Frage- Antwort-Spiels hat: „Ist der Coelibat aufgehoben? / Ja./ Wer sagt das? / Der Hanswurst.“ Hier wird der Zölibat indirekt gerechtfertigt, indem der Autor zeigt, dass Verheiratetsein auch kein Honigschlecken ist - mehrere Handwerkerpaare treten auf, die ihrer scheinbar schlechteren Hälften aufs Äußerste überdrüssig sind. So treten etwa in der ersten Szene des zweiten Aufzugs der Schuster Seppel und der Schreiner Jackel auf und führen einen aufschlussreichen Dialog: 42 „Seppel: Und ich verkauf die meinige an [gestrichen: einen Juden] den nächsten beßten Juden, an den Jud Mayr von Ichenhausen, wenn er nur schon da wäre. Jackel: Ja, da wirst du viel gewinnen. Der Jud müßte der größte Narr seyn, wenn er eine solche Fettel kaufen wollte. Seppel: Ich will ihm dem Braten schon schicken. Ich sag ihm: mein Weib sey das beßte Hausweib. Sie könne nähen, stricken, spinnen, waschen, kochen. Sie sey das beßte Weib von der Welt. Jackel: So lügst du ihn an. Seppel: Und was ist es? einen Juden darf man schon anlügen, es ist keine Sünd.“ Diese kurze Passage spiegelt wohl treffend die Haltung der bäuerlichen Bevölkerung zu den Juden. Man erkennt freilich in dem Stück auch, dass bei den Christen keineswegs alles christliche Liebe und Zuneigung ist, selbst wenn sich die zerstrittenen Paare am Schluss von Lederers Stück doch noch aussöhnen. Der Name Mayer kommt bei den Ichenhausener Juden übrigens Ende des 18. Jahrhunderts mehrfach vor - sehr wahrscheinlich kannte Lederer einen dieser Mayer persönlich oder doch vom Hörensagen. 43 4. Identität und Irritation Beendet sei der Rundgang durch das 18. und 19. Jahrhundert an der Schwelle des 20. Jahrhunderts mit einem ebenso eindringlichen wie rätselhaften Roman, mit dem sich die Forschung, soweit ich sehe, noch so gut wie gar nicht befasst hat. In diesem 42 Das Stück ist neu veröffentlicht in: S CHEINHAMMER -S CHMID , „Hertzhafft und keckh“, 395- 410. 43 G ANZENMÜLLER , Ichenhausen, 163-171. - In der dort veröffentlichten Liste der in Ichenhausen um 1800 ansässigen Juden findet sich zehnmal der Name „Mayer“, teils als Vorname, meist aber als Nachname. Ulrich Scheinhammer-Schmid 44 Werk des schwäbischen Pfarrers und Schriftstellers Peter Dörfler (1878-1955), 1914 bei Kösel unter dem italienischen Titel „La Perniziosa“ erschienen, begegnet uns noch einmal die „schöne Jüdin“, gleichermaßen überhöht wie auf rätselhafte Weise in eine Sphäre von Mord, Tod und Verwesung getaucht und verbunden mit dem unaufgelösten Rätsel einer Identität zwischen Judentum, antikem Rom und katholischer Kirche. Der Titel des Romans, von Dörfler selbst in der zweiten Auflage (1919) in „Die Verderberin“ geändert, scheint sich mit dieser Bedeutung zunächst auf eine dem Leser noch unbekannte Frauengestalt zu beziehen, während das Wörterbuch das Wort „Perniziosa“ mit „bösartiges Wechselfieber“ übersetzt und damit eine schwere Form der Malaria meint, wie sie bis ins 20. Jahrhundert in der römischen Campagna grassierte. 44 Die Handlung beginnt mit einer beunruhigenden Szene in einem ruhigen Kloster in der Nähe von Rom, von dem aus man einen Blick auf die Ewige Stadt hat. Die Schüler sollen im Fach Latein einen Aufsatz schreiben, in dem sie ihren Lebenslauf darstellen („Mein vitae curriculum“). Ein Junge, weit älter als die anderen und hochbegabt, schreibt viel länger als seine Mitschüler. Schon in seinem Äußeren wird dieser „Romolo“ durch „das blasse Gesicht mit der ausdrucksvollen Nase und dem festen Mund“ als „Fremder“ unter den anderen gekennzeichnet: „Man hätte glauben können, er gehöre nicht zu der Schar“ (7). Seine frühesten Eindrücke sind, seinen Aufzeichnungen zufolge, bestimmt von „Musik“ und Luxus - „einem schönen Garten“, „der Decke eines hellerleuchteten Saales“ mit einem Kristall-Lüster sowie einem Fußboden „aus weißem Marmor“ (15f.). In seinem „Curriculum“ fährt er fort: 45 „Die Reihe meiner Lebenserinnerungen [...] beginnt mit einer Nacht, welche für mich alle Schrecken des brennenden Troja inbegreift. Es war eine furchtbare Nacht, die all mein Geschick gewendet und entschieden hat.“ (16) Der Junge hörte damals seiner Schilderung zufolge „Schüsse knallen“ und „einen furchtbaren, markerschütternden, aber gleichwohl sehr schönen, klangreichen Schrei aus einem Frauenmund“ (17): „Noch einmal erklang jeder gräßliche Schrei, der aus Todesangst, Wut und Liebe seltsam zusammengeglüht schien. Gott, wie beschreibe ich ihn nur! So mag Medea aufgeschrien haben, als sie erwachend des verräterischen Jason Schiff in den blauen Fernen entschwinden sah. Dann vernehme ich in meiner Erinnerung ein klägliches Wimmern, ich sehe fliehende, schreckgeschüttelte Menschen kümmerlich gekleidet hin und her irren. Blutige Schrecken waren um mich, und meiner Mutter starker Arm trug mich aus dem Toben der ringenden Menschen. Jemand wollte mich aus ihren Armen reißen, da eben erklang wohl jener Schrei, ebenso schön als wildleidenschaftlich, und der Angreifer prallte zurück“ (17). 44 D ÖRFLER , La Perniziosa. Roman aus der Römischen Campagna. Kempten/ München: Kösel 1914. Die zweite bis fünfte Auflage erschienen unter dem Titel „Die Verderberin“ mit gleichem Untertitel, 1919 (2. Auflage), bei Kösel, ab 1922 bis zur fünften Auflage 1925 bei J. Kösel und F. Pustet. 45 Die Seitenzahlen der Zitate aus Dörflers Roman werden hier im Text nach der Erstausgabe von 1914 in Klammern nachgewiesen. Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 45 Unklar bleibt, ob es sich bei diesem Überfall um ein Judenpogrom, um eine Eifersuchtstragödie oder um eine andere, etwa politische, Auseinandersetzung handelt. Mit seiner Mutter und der Schwester Virginia entkommt der Junge nach dem Überfall in die Campagna, wo an ihrem Lager eines Tages ein Mann vorbeikommt, „mit einem schwarzen Federhut und einer blanken Waffe an der Seite“ (29), der sie bedroht und die Mutter schließlich fragt: „So bist du eine Jüdin? [...] So muß ich euch verhaften; zwinge mich nicht zur Gewalt! “ Daraufhin zieht die Mutter einen Dolch und droht mit Selbstmord: „Da wich der Mann und ging davon.“ (30) Der Junge reflektiert dann das Geschehen: „Das Wort [Jüdin] hat sich wie ein grimmer Wurm in meine Seele gebohrt und darein gegraben und gewühlt und sich immer tiefer eingefressen.“ (31) Er erzählt Pater Antonio von ihrer Flucht, nachdem der fremde Mann sie verlassen hat. Ein großer roter Sonnenschirm, den sie mit sich schleppen, bot ihnen tagsüber Schutz, während sie eine Unterkunft für die Nacht in Ruinenhöhlen der Campagna gefunden hatten. Hier werden die Erinnerungen des jugendlichen Erzählers von Pater Antonio abgelöst, der berichtet, wie er vor längerer Zeit eine Frau mit zwei Kindern in der Campagna angetroffen hat. Die Mutter erscheint im Folgenden immer wieder, in mehreren Szenen, als „Medea“ und zugleich als schöne, fremdartig gekleidete Schauspielerin (ohne dass aufgeklärt wird, ob sie Schauspielerin war), während der verschwundene Vater gelegentlich als „Jason der Verräter“ apostrophiert wird. Ihre Beschreibung folgt physiognomisch wie bezüglich ihrer Kleidung unübersehbar dem Muster der „schönen Jüdin“, etwa wenn Pater Antonio sie und ihre beiden Kinder bei seinem ersten Zusammentreffen mit der Familie in der öden Campagna beschreibt: „Denn sie war nicht gekleidet wie eine der Campagnafrauen, sondern trug ein Gewand, das sicher in einer florentinischen Werkstätte gefertigt worden war. Ein seidenes, glänzendes Busentuch faltete sich um ihre Schulter, schwere, goldene Ohrringe hingen an den Wangen nieder. Blauschwarzes Haar umrahmte ein Angesicht, das der tragischen Muse angehören konnte. Denn alle Züge waren von jener herrischen Schönheit, die wir an den großen Tragödinnen unserer Theater lieben. Männliche Energie und eine gewisse herbe Strenge in dem markig großen Antlitz ließen sofort eine außerordentliche Frau erkennen, deren Schönheit durch ungeheure Bitternisse einen Zug ins Harte, ja Grausame erhalten hatte.“ (76f.) Etwas später wird diese heidnisch-antike wie jüdische Charakteristik der Mutter durch Pater Antonio vertieft, wenn er davon spricht, „die Nüstern der schönen Nase [seien] wild aufgebläht“ gewesen und die Mutter habe seinen Gruß „Laudetur Jesus Christus! “ nicht erwidert. Die Mutter mit ihren beiden Kindern fristet nun jahrelang in der Campagna den Lebensunterhalt dadurch, dass sie etruskische Gräber aufbrechen und die Schätze, die sie dort finden, verkaufen - „wir nährten uns von dem Staub der Toten“ (145); in diesen Gräbern leben sie auch, eine Existenzweise, die Peter Dörfler eindrucksvoll schildert. Ein Menschtierwesen, von Virginia bejubelt und vom erzählenden Romolo in kühnen Bildern der Verfremdung beschrieben, wird von der Mutter als „Sphinx“ erklärt; wenn der Bruder ein weiteres Grab öffnet, zerfallen die Leichen darin zu Staub: „Aber siehe, da regte es sich auf einmal in den Gesichtern, an den Händen und Füßen! Es knisterte, bröckelte, flüsterte. Die Lippen bebten, die Augenhöhlen wur- Ulrich Scheinhammer-Schmid 46 den groß, die Finger zitterten. Und ehe ich recht wußte, wie mir geschehen, waren die Gesichter und Schädel, die Arme und Finger geschwunden. An den kostbaren Kleiderstoffen und glänzenden Harnischen rieselte dunkler Staub hernieder.“ (115f.) Eine Amphore in einer Seitennische des Grabs, in dem sie leben, dient der Mutter als Gefäß, in dem sie Goldmünzen aus den Gräbern sammelt; eine antike, „marmorne Frauengestalt“ dient ihr als imaginärer Gesprächspartner (147f.): „Wenn es mir möglich wäre diese Statue zu finden, ihre Haltung, ihre Züge, ihren Blick zu prüfen, dann müßte ich auf den Grund des dunklen Leidsees schauen können, in dem das Herz meiner Mutter lag.“ (148) Schließlich tauchen in der Nähe der Familie Raubgräber auf, „ein Trupp wilder, bunt gekleideter Männer“ (160), auf die Romolo Steinchen wirft, während Virginia ein kleines weißes Lämmchen mit in die Höhle bringt (165). Überdies erkrankt nun die Mutter an der „Perniziosa“, der „Fieberfurie“ (45), der „Würgerin“ (168), die den Jungen als Vision in eine „weltvergessene Traumseligkeit“ begleitet, aus der er durch einen Überfall erwacht. Die Grabräuber haben das Versteck entdeckt, ermorden die Schwester, rauben die Amphore mit den Münzen und lassen die Mutter gefesselt bei dem hilflosen Knaben zurück. Die Mutter bahrt die Schwester auf und schmückt ihren Leichnam mit Blumen, entzündet alle Lampen (185f.) und will dann in ihrem Fieberwahn den Sohn und sich selbst töten. Romolo entzieht sich, während die Mutter den Selbstmord über der Leiche ihres Kindes vollzieht (189f.). Immer wieder kreisen die Aufzeichnungen und die Gespräche des Jungen mit dem gütigen Pater Antonio um die Frage seiner Herkunft und seiner Identität: „Immer aber, wenn ich in Stunden heißen Heimwehs und quälender Zweifel das Antlitz der Mutter aufdecke, dann lege ich dem göttlichen Bild die eine Frage vor: Welcher Rasse gehörst du an? O wie schön war diese Nase geformt! Wie wölbten und blähten sich ihre Flügel, wenn sie erregt war! [..] War nur ein Zug, eine Linie semitischer Bildung in diesen Formen? “ (36) „La Perniziosa“, „die unheimliche, tausendköpfige Fieberhydra“ (94) erfasst am Ende den Jungen, der aus dem Kloster flieht, um die Leichen von Mutter und Schwester zu suchen. Die Mönche und seine Mitschüler entdecken ihn, schwer fiebernd, in einer Grabkammer, in der sich tatsächlich zwei Leichen befinden, die er umarmt und liebkost, bevor er stirbt. Das Geheimnis von Romolos Herkunft wird von Peter Dörfler nicht aufgelöst, nur eine imaginäre Medaille, die der Sterbende bei den verwesten Leichen seiner Mutter und seiner Schwester zu finden vermeint, löst im Fiebertraum sein Flüstern aus: „Romano de Roma“ (277). Die Entstehung des Romans fällt in eine Zeit schwerer innerer Kämpfe des schwäbischen Geistlichen, deren Abgründe Dörflers Freund und Priesterkollege Joseph Bernhart in seiner Biographie des Autors und in seinen eigenen „Erinnerungen“ eindringlich schildert: „Dörfler rang zeitlebens in schwerem Kampf um die innere Versöhnung von Priestertum und Dichtertum.“ 46 Diese inneren Konflikte rührten nicht zuletzt aus der wachsenden kirchlichen Frontstellung unter Pius X. 46 B ERNHART , Erinnerungen, 213. Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 47 gegen den ‚Modernismus‘ bis hin zur Verpflichtung für alle Geistlichen, den „Antimodernisteneid“ abzulegen und damit allen modernen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts abzuschwören, was ihn im „Herbst 1910“ in „große Unruhe versetzt“. 47 Im Oktober 1911 wird er dann als „Spitalpfarrer und Religionslehrer an der Real- und Präparandenschule“ nach Landsberg am Lech versetzt und im Jahr 1912 erscheint sein Erfolgsbuch „Als Mutter noch lebte“, das nach einigen vergeblichen Bemühungen doch noch durch die Vermittlung von Joseph Bernharts späterer Frau Elisabeth Nieland beim Herder-Verlag eine Heimat gefunden hatte. 48 „Um diese Zeit aber verstrickt er [Dörfler] sich in Herzenswirren“, verursacht „durch die Gemütsschwere des von seiner Umwelt nicht erkannten Außenseiters, der den Klerus ‚beinah in feindseligem Gegensatz‘ zu sich fühlt“ - „ein Geistlicher durch Schickung, aber nicht wie hineingeboren“, wie er selbst erklärt. 49 Im Sommer dieses Jahrs arbeitet Dörfler, schon seit langem von schweren gesundheitlichen Leiden geplagt („mehrere Blutstürze“ und „das alte Magenübel“), 50 an der Fertigstellung seiner Dissertation über „Die Anfänge der Heiligenverehrung nach den römischen Inschriften und Bildwerken“, einer Frucht seines Jahrs am Campo Santo Teutonico in Rom 1906/ 07. Die „Perniziosa“ ist zu dieser Zeit, so Joseph Bernhart, „im Entwurf geschrieben“; 51 auf „einer italienischen Osterreise“ 1913 erfüllen ihn „weite Wanderungen durch die Campagna mit neuen Bildern und Gluten“ für die „Umgestaltung“ des Romans, der dann 1914 bei Kösel erscheint. 52 Seine Hauptgestalt Romolo verweist schon durch ihren Namen auf Romulus und Remus. Wie diese beiden altrömischen Zwillinge ist er ein „Wolfskind“ in mehrfacher Hinsicht. Aufgewachsen in der Wildnis verhält er sich „gleich einem gejagten Fuchs“ (77), fügt sich nicht in die Ordnung der Klosterschule und erscheint dem Pater Antonio bei der ersten Begegnung „als ein fast nackter Knabe“, einem „sinnenden Faun“ ähnlich und an Isaak wie an Adam erinnernd (75f.). Er lebt bei den Toten und nährt sich von ihnen, träumt aber von der einstigen Größe Roms, wobei seine fragile Existenz von der Frage nach seiner jüdischen Herkunft überschattet wird: „Aus seinen Augen glühte eine Frage, der sein Mund kein Wort zu geben wagte.“ (83) Aufschlussreich ist, dass bei der Antwort des Paters Antonio auf diese stumme Frage, einem Lobpreis des Judentums, die katholische Kirche keine Rolle spielt. Es geht nur um das alte Rom, das mit einer Pinie, und um das Volk Israel, das mit einem Ölbaum verglichen wird: 47 Zu diesem Thema ausführlich: A RNOLD , Kleine Geschichte des Modernismus; N EUNER , Der Streit um den katholischen Modernismus. Zahlreiche Hinweise zu den (inneren) Kämpfen um den Antimodernisteneid in Dörflers Freundeskreis in: B ERNHART , Erinnerungen, 545- 548, 1316-1327. 48 Dazu „Auszüge aus der Korrespondenz Joseph Bernharts mit Elisabeth Nieland und Peter Dörfler zur Frage des Antimodernisteneides“, in: B ERNHART , Erinnerungen, 1657-1675 („Dörfler schreibt gestern, eine Wunde bleibe es doch, geschworen zu haben. Verbluten dran wird er ja nicht.“ Joseph Bernhart an Elisabeth Nieland, Murnau, 4. Januar 1911; 1668). 49 B ERNHART , Peter Dörfler, 421f. 50 Ebd., 421, 424. 51 Ebd., 424. 52 Zitate ebd., 425. Ulrich Scheinhammer-Schmid 48 „Der Lenker der Menschheit hat Juda immer auf Steine gepflanzt. Es wurde früh zerspalten, getreten, zerrissen. Aber überall hat es mit köstlichem Öl die Völker gesegnet. Sein Blut war der anderen Nahrung. Wir alle zehren nicht von der königlichen Pinie, sondern vom kümmerlichen Ölbaum. Der Messias wollte kein Zweig aus römischer Wurzel sein - er ist aus dem alten, heiligen Ölbaum herausgewachsen.“ (86) Erst in seinen Fieberphantasien findet Romolo eine (trügerische) Antwort auf die Frage nach seiner Identität, wohl nicht zufällig mit sakraler Überhöhung des Geschehens. „Auf einmal ging ein wundersam glückseliger Zug über sein Gesicht. Er griff mit Zeigefinger und Daumen nach einem Gegenstand, der wohl in seiner Phantasie Wirklichkeit war, nahm ihn dann so wie der Priester die Hostie, wenn er sie bei der Wandlung emporhebt, und schaute das Gebilde seiner Einbildung mit einem leuchtenden Blicke an, küßte es wieder und wieder und flüsterte: Romano de Roma! “ (276f.) Nicht nur die sprachliche Kraft der Darstellung, sondern auch die raffinierte Erzählstruktur und die rätselumwobene Gestaltung der Identitätsfrage in diesem Roman spiegeln wohl, ohne platte Gleichsetzungen, Peter Dörflers eigene Frage nach seiner Existenz als kirchlicher wie als literarischer Außenseiter. Das Geschehen wird aus Romolos Sicht bzw. aus der des Pater Antonio wiedergegeben - beide kennen die Hintergründe des rätselhaften Geschehens nicht und können sie so dem Leser nicht enthüllen. Dabei wechselt die Erzählweise zwischen mündlichem und schriftlichem Bericht (die Dörfler allerdings sprachlich nicht genauer differenziert); Rückblenden und (fragmentarische) Erinnerungen verschränken die Gegenwart im Kloster mit den Geschehnissen früherer Jahre, wobei gelegentlich ein auktorialer Erzähler das Innenleben der Figuren, vor allem der beiden Patres Antonio und Romualdo, preisgibt („Pater Romualdo war bei guter Stimmung“, 275). Eine die Erlebnisse der Personen intensivierende Motivstruktur und Metaphorik unterstreicht die Eindrücke, die dem Leser vermittelt werden - Pflanzen („Wurzelstock“ (37)) und Tiere - „O Romolo! Ihr seid flügge! “ (168) -, aber auch antike Gestalten und Bildwerke sind hier zu nennen. Ein durchgehendes Motiv, immer wieder in der Ferne auftauchend, ist „La cupola“, die Kuppel des Petersdoms, die aber hier nicht die katholische Kirche, sondern das antike Rom repräsentiert; Romolo fragt sich in der Rückschau, warum die Mutter bei diesem Namen nicht „La cupola di San Pietro“ und den Begriff „heilig“ verwendet hat - ein weiterer Hinweis auf ihre jüdische (oder jedenfalls kirchenferne) Existenz (70). Und ausdrücklich vergleicht Romolo die „römischen Frauen“ mit seiner Mutter; auch sie hätten deren „starke, rückwärts neigende Stirn, den charaktervollen Schwung der Nase und die fast mandelförmig geschlitzten, weit und dunkel wie Krater geöffneten Augen“ (36). So entspricht Romolos schwankende Identität zwischen Juden- und Römertum der Unentschiedenheit seines Autors zwischen geistlichem Beruf und Schriftstellerei. Gerade im Sommer 1912, zur Entstehungszeit der „Perniziosa“, „verlautet sein fester Entschluß, bei der Poesie zu bleiben“. 53 Lebenslang wird seine Existenz von diesem 53 Ebd., 423. Vom ewigen Juden zum Jud Mayr von Ichenhausen 49 Zwiespalt zerrissen, auch wenn er schließlich doch zu einem Romolo wird, der sich der Kloster-, sprich Kirchenzucht unterwirft: „Romolo, du bist nicht, wie du scheinst“, sagt Pater Antonio (61). Von dem Preis, den Peter Dörfler dafür lebenslang bezahlt hat, berichtet sein Freund Joseph Bernhart in seinem aus Nähe und vertrauter Kenntnis geschöpften Lebensbild. Literatur Ahasvers Spur. Dichtungen und Dokumente vom „Ewigen Juden“, hrsg. von Mona Körte und Robert Stockhammer, Leipzig 1995. A RNOLD , C LAUS : Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg im Breisgau/ Basel/ Wien 2007. A UERBACH , B ERTHOLD : Spinoza. Ein historischer Roman, Stuttgart 1837. -: Dichter und Kaufmann. 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August 1784 in Türkheim, einem mittelschwäbischen Flecken, geboren. Es war besonders der Wunsch seiner frommen Mutter, dass ihr Sohn Priester würde. 4 Nach vielen Um- und Irrwegen kam er schließlich ins Benediktinerkloster Ottobeuren. Säkularisationsbedingt wechselte er ins Kloster nach Wiblingen, kam mit den dortigen Gepflogenheiten nicht zurecht, wurde Privatlehrer und schließlich Professor für deutschen Stil und Ästhetik am königlichen Kadettenkorps in München. Dies blieb er bis zu seiner Pensionierung. Er starb am 25. Mai 1847 und wurde auf dem Münchner Südfriedhof beigesetzt. In München kam Aurbacher mit der katholischen Spätromantik in Berührung. Zu seinem Freundeskreis zählten der spätere Regensburger Bischof Michael Sailer (1751-1832) und der Hofbibliothekar und Mundartforscher Andreas Schmeller (1785-1852). Er verkehrte mit Joseph Görres (1776-1848) und tauschte sich mit dem dichtenden Arzt Johann Nepomuk Ringseis (1785-1880) und dem dramenschreibenden Minister Eduard Schenk (1788-1841) aus. Er stand im Briefverkehr mit dem Verleger Johann Georg von Cotta (1796-1863) und dem dichtenden Breslauer Kardinal Melchior von Diepenbrock (1798-1853). 5 Neben seiner Lehrtätigkeit sammelte Aurbacher Märchen und Sagen, Legenden und alte katholische Kirchenlieder. Seine Quellen waren u.a. Brandts „Narrenschiff“ und Paulis „Schimpf und Ernst“, Sebastian Sailers Dialektkommödien 6 und Achim 1 O ESTERLE , Juden, Philister, 55-89. 2 G RIMM , Kinder- und Hausmärchen, Nr. 110. 3 R ADLKOFER , Sieben Schwaben; S ARREITER , Ludwig Aurbacher Andenken; D ERS ., Ludwig Aurbacher deutsche Literaturgeschichte; K OSCH , Ludwig Aurbacher; E PPLE , Ludwig Aurbacher. 4 A URBACHER , Mutter. 5 Einige der Briefe sind veröffentlicht bei K OSCH , Ludwig Aurbacher. 6 O EHLER , Sebastian Sailer. Alois Epple 54 von Arnims Wunderhorn. Gesammeltes schrieb er etwas um und veröffentlichte es entweder separat oder in Erzählungen eingearbeitet. Er schickte einige seiner Märchen auch an die Brüder Grimm, welche sie, etwas verändert, in ihre Märchensammlung aufnahmen. 7 2. Der Ewige Jude Im Jahre 1827 erschien in München anonym „Ein Volksbüchlein“ von Ludwig Aurbacher. Es beginnt mit der Erzählung vom „Ewigen Juden“, denn sie ist „eine der ältesten Volkssagen, die vielleicht an volksthümlicher Celebrität keine ihres Gleichen hat […]“. In den „Bemerkungen zur Geschichte des ewigen Juden“ 8 teilt Aurbacher die bisher erschienenen Erzählungen dieses Themas in zwei Kategorien ein. Er meint, dass die einen im ewigen Juden Ahasver „einen gemeinen Stock- und Schacher-Juden“ sehen, einen ständigen, unbelehrbaren Gegenpol zum Christen. Für die anderen hingegen ist Ahasver ein Jude, welcher sich über die Jahrtausende der Erkenntnis, dass Christus der Messias ist, nähert. Aurbacher teilt mit dem „gemeinen Volk“ die zweite, „mehr poetisch, christlich gesinnte“ Sichtweise vom ewigen Juden. 9 Worum geht es in Aurbachers Erzählung? Der Jude Ahasver verweigert Christus auf seinem Kreuzweg eine Rast auf der Bank vor seinem Haus, da er ihn für einen „Sabbathschänder“ und „Gottesläugner“ hält. Daraufhin prophezeit ihm Jesus, dass er rastlos umherirren wird, bis zur Wiederkunft Christi. Die Prophezeiung erfüllt sich. Ahasver wandert ruhe- und rastlos durch Räume und Zeiten. Er ist zur Zeit der Christenverfolgung in Rom, bei den Anachoreten in der Wüste, bei den Kreuzzügen in Palästina. Bei all diesen Aufenthalten erfährt er von Christus. Er erkennt seine Schuld und erträgt die Strafe „in frommer Geduld und treuer Hingebung, voll des Glaubens und unter den Werken der Liebe“. Schließlich erfährt er die Gnade, in Christus den Sohn Gottes zu erkennen. Er begreift seine Schuld und leistet Sühne dafür. Er stirbt zwar nicht, aber er hat sich mit seinem Schicksal versöhnt. Seine Erlösung wird am Ende der Welt im Weltgericht Christi erfolgen. In der Einleitung, der Begegnung Jesu mit Ahasver, stecken mehrere biblische Motive. So kommt der Vorwurf der Juden, dass Christus ein „Sabbathschänder“ und „Gottesläugner“ ist, im Neuen Testament an mehreren Stellen vor (z.B. Mk 2,24 und Lk 22, 70). Auch die Prophezeiung seiner Wiederkunft ist biblisch (z.B. Mt 26, 66). Weiter steckt in der Einleitung das Kain-Motiv. Gott verflucht Kain, nachdem dieser seinen Bruder Abel getötet hat, mit den Worten: „ziel- und heimatlos sollst du sein auf Erden“. (Gen 4, 12) Bei Aurbacher sagt Christus zu Ahasver: „fortan keine Ruhe vergönnt, und du sollst wandeln und wandern, bis dass ich wieder kommen werde“. Schließlich hat die Begegnung von Ahasver mit Christus auf dem Kreuzweg ihre biblische Parallele in der Begegnung von Christus mit den wei- 7 U THER , Brüder Grimm. 8 A URBACHER , Volksbüchlein 1, 2. Auflage, 267-275. 9 Ebd., 274. Der Jude im Werk Ludwig Aurbachers 55 nenden Frauen auf dem Kreuzweg (Lk 23, 28-31). Wie Christus Ahasver eine unheilvolle Zukunft prophezeit, so auch den Frauen, denen er vorhersage: „Denn seht, es kommen Tage […] dann wird man zu den Bergen sagen: fallet über uns! Und zu den Hügeln: Bedecket uns.“ Aurbacher lässt später gleiches den umherirrenden Ahasver sagen. Auch im Hauptteil der Erzählung stecken typisch christliche Aussagen. Ahasver irrt auf der ganzen Welt umher, da er Christus keine Rast auf dem Kreuzweg gewährte. Die Juden sind über die ganze Welt zerstreut, da sie seine Kreuzigung forderten. Die Juden müssen, wie Ahasver, erkennen, dass Christus der wahre Messias ist, zum Christentum konvertieren und sich so mit Gott aussöhnen. Dann können sie sich, wie Ahasver, einstens in Jerusalem wieder sammeln. 3. Placidus und seine Familie Aurbachers Erzählband „Ein Büchlein für die Jugend“ beginnt mit der Legende „Placidus und seine Familie“. In die Rahmenhandlung dieser Legende baut Aurbacher auch eine Geschichte über die Kindheit Christi nach dem apokryphen Kindheitsevangelium des Thomas ein. Danach formte das Knäblein Jesus am Sabbath Vögel aus Lehm. „Da die andern Kinder sahen, daß Jesus solche schöne, kleine Vögel gemacht hat, so freuten sie sich darüber, und wollten auch solche Vögel nachmachen. Während der Zeit kam ein alter Jude, der sah, daß sie mit einander scherzten und spielten, und er strafte sie und sprach: Ihr haltet den Sabbath nicht heilig, ihr seyd Teufelskinder, ihr erzürnet Gott. Er sagte auch zu dem Kinde Jesus: Du bist Schuld daran, die andern Kinder machen es dir nach, ihr gehet alle verloren. Jesus antwortete: Gott weiß es am besten, ob du oder wir den Sabbath am besten heiligen, du darfst nicht Urtheil sprechen über mich. 10 Der alte Jude ward böse, und wollte sich auf der Stelle an dem Kind Jesus rächen; er ging hinzu, und wollte auf die Vögel treten, die das Kind gemacht hatte. Alsbald klopfte Jesus in die Hände, als wenn er die Vögel erschrecken wollte; da wurden sie lebendig, und flogen auf gen Himmel, wie andere Vögel; der alte Jude mußte sie auch lassen fliegen.“ Während im apokryphen Thomasevangelium nur von einem Juden gesprochen wird, welcher die Übertretung des Sabbathgebotes moniert, charakterisiert Aurbacher in seiner Erzählung diesen Juden noch als alt, böse und rachsüchtig. Wie schon in der Geschichte vom Ewigen Juden, so ist auch hier die Nichtbefolgung des Sabbathgebotes der Punkt, welcher den Juden an Christus stört, ihn böse und rachsüchtig macht. Auch hier ist Aurbachers gemäßigter Antisemitismus religiös begründet. Der Jude ist nicht an sich schlecht, sondern seine falsche Sicht auf Christus macht ihn böse und rachsüchtig. Damit aber hat er mit seiner Bekehrung zum Christentum eine Chance. 10 Diese Geschichte hat ihre Parallele im späteren prophetischen Auftreten von Jesus, als er ebenfalls das Sabbathverbot übertritt, indem er am Sabbath heilt und seine Jünger Ähren essen lässt (Lk 6,1-11). Alois Epple 56 4. Der Jude und die Sieben Schwaben Die „Abenteuer der Sieben Schwaben“ 11 von Ludwig Aurbacher ist auch eine kleine schwäbische Landeskunde. Da die Juden zu Schwaben gehören, so kommt auch in Aurbachers Meistererzählung ein Jude vor. Aurbacher erzählt: „Wie der Spiegelschwab dessen [des Juden] ansichtig wurde, sagt er: Den wollen wir schröpfen.“ Und der Blitzschwab schreit den Juden an: „Zahle oder zable“. Der Jude wehrt sich gegen die Erpressung und schmeichelt den sieben Schwaben, bezeichnet sie gar als „ehrliche Leut“ und begründet sein Verhalten indem er meint: „Ehrlich wollen wir alleweil sein; wir können’s aber nicht alleweil sein.“ Der Allgäuer entgegnet: „… aber beiten, mußt du uns; und mach’ nur nicht viel Umständ. […]. Na, sagte der Jud, ich beite nicht heute, muß sonst borgen auf morgen, und der Morgen schiebt's auf Uebermorgen“. Die Sieben drohen dem Juden. Wenn er nicht zahlt, müssen sie ihn eben „morixeln“. Als sich der Jude von dieser Drohung nicht beeindrucken lässt macht ihm der Spiegelschwab ein Angebot: „Mauschele, weißt was? wenn du doch nicht anders willst, so laß uns einen Handel machen.“ Bei diesem Handel versucht der Jude den Spiegelschwab und dieser den Juden zu übervorteilen. Sie werden schließlich handelseins, aber der Spiegelschwab hält sich nicht an die Abmachung. „Der Jud mußte sich’s wol gefallen lassen, denn es waren ihrer Sieben gegen Einen.“ Der Jude entpuppt sich schließlich als Falschmünzer und wird „in Eisen geschlagen, […] denn zur damaligen Zeit hatten sieben Christenmenschen noch mehr Credit, als ein Jud, wogegen es in unsern Zeiten der umgekehrte Fall zu sein scheint“, aber auch die sieben Schwaben werden bestraft. 12 Das ist also schon eine seltsame Geschichte. Einmal schildert Aurbacher, dass die Sieben Schwaben im Betrügen dem Juden nicht nachstehen. Sie fangen auch die Händel mit dem Juden an und erpressen ihn. Andererseits kritisiert Aurbacher, dass zu seiner Zeit den Juden eher geglaubt wird als den Einheimischen. Der Jude wird geschildert als Falschmünzer, schlauer Händler und gewiefter Rhetoriker. Nur so kann er sich der hinterlistigen Schwaben erwehren. Aurbacher dürfte Grimms Märchen „Der Jude im Dorn“ gekannt haben. 13 Parallelen zwischen beiden Erzählungen sind deutlich erkennbar: So erpresst der Spiegelschwab aus purer Lust und Laune den Juden. Aus den gleichen „Gründen“ lässt bei Grimm der Knecht den Juden in der Dornenhecke tanzen. Der Spiegelschwab nimmt dem Juden ohne Gegenleistung einen Taler ab. Der Knecht in Grimms Märchen nimmt dem Juden, ebenfalls erpresserisch, gar einen Sack Gold ab. Bei Grimm wie bei Aurbacher läuft der Jude in die Stadt und klagt bei der Obrigkeit, von einem bzw. mehreren Straßenräubern erpresserisch bestohlen worden zu sein. 11 Erstmals wurde diese Erzählung veröffentlicht in: A URBACHER , Volksbüchlein 1[1. Auflage], 105f.. 12 „Jeder von ihnen erhielt dreißig Prügel minder einen.“ Bei den Juden gab es das Strafmaß von „vierzig Prügel minder einen“. So schreibt es auch der Apostel Paulus im Korinther 11, 24. 13 G RIMM , Kinder- und Hausmärchen, Nr. 110, erstmals veröffentlicht 1815. Der Jude im Werk Ludwig Aurbachers 57 Bei Grimm wie bei Aurbacher endet die Erzählung für den Juden tragisch: Bei Aurbacher wird der Jude in Eisen geschlagen, bei Grimm gleich gehängt. 5. Juden in Franken und Schwaben Im Königreich Bayern gab es Landjuden hauptsächlich in Franken und Schwaben. 14 Hierauf nimmt Aurbacher in seiner Fortsetzung der „Abenteuer der Sieben- Schwaben“, in den „Abenteuern des Spiegelschwaben“, Bezug. 15 An einer Stelle schildert Aurbacher folgendes: „Der Spiegelschwab traf einen Franken und dieser verzählte und verzählte: Da unterbrach ihn endlich der Spiegelschwab, und fragte den Gesellen: ‚ob er, mit Verlaub! ein Jude sei.‘ Und als jener sich dessen aufs heiligste verschworen, sagte der: ‚Aus deiner Sprache zu urtheilen, wenn du kein Jude bist, so bist du doch bei einem Juden zu Kost und Lehre gegangen.‘ Auch das läugnete jener. 16 ‚Nun so sag’ mir denn,‘ sagte der Spiegelschwab: ‚Haben die Juden von euch Franken sprechen gelernt, oder ihr Franken von den Juden? ‘“ Dies ist eine Erzählung gegen Vorurteile, denn nicht nur Juden, wie meist angenommen, reden viel, wohl auch bedingt durch ihre Profession als Händler, sondern auch die Franken. Weiter ist hier auch der Hinweis versteckt, dass es gerade in Franken nicht nur zahlreiche Juden gab, sondern dass das Zusammenleben von Franken mit Juden unproblematisch war, denn Franken gingen gar bei Juden in die Lehre. In Aurbachers „Spiegelschwabenerzählung“ steht an einer anderen Stelle: „Beim Landsberger Stadttor wurde der Spiegelschwab auch vom Zoller gefragt, wer er sei, und wohin und was er wolle. Der sagte: ‚Er sei, salveni, ein Schwab, und er wolle ins Bayerland‘. Darauf der Zoller: ‚Das möge er thun; aber vor allem, wenn er Einlaß wolle, müsse er den Judenzoll zahlen‘ ‚Kotzkutzakatzakralla! ‘ sagte der Spiegelschwab, ‚meint der Herr etwa, ich sei ein Jud? Ich kann dem Herrn meinen christlichen Vorweis zeigen, wenn’s der Herr haben will‘. Der Zoller sagte: ‚Schwaben stecke einmal voll Judennester; von ihm wolle er’s aber glauben, ungesehen, dass er ein Christenmensch sei, weil er so heidnisch fluchen könne, und er möge daher ungeschoren hingehen, wohin er wolle.‘“ Aurbacher spricht hier das schwäbische Landjudentum an. In Bayerisch Schwaben gab es viele kleine Herrschaften. Die meisten Herrschaften duldeten die Niederlassung von Juden auf dem Lande, denn von Juden konnte man hohe Abgaben verlangen, 17 man konnte von den Juden Geld leihen, wenn man gerade nicht flüssig war, und mit der Rückzahlung brauchte man es nicht zu genau nehmen. Und deshalb gab es in Schwaben, worauf der Zöllner am 14 Zur Verteilung jüdischer Gemeinden im Mittelalter in Bayern ist eine Karte abgebildet in: Germanisches Nationalmuseum, Juden in Bayern, 163. 15 Die Erzählung von den „Abenteuern des Spiegelschwaben“ ist erstmals veröffentlicht in: A URBACHER , Volksbüchlein 2[1. Auflage] 104f. 16 Dieses mehrmalige Leugnen erinnert an die dreimalige Leugnung von Petrus im Hof des Kaiphas (Joh. 18-27). 17 Germanisches Nationalmuseum, Juden in Bayern, 195, 5/ 5. Alois Epple 58 Landsberger Lechtor anspielt, so viele „Judennester“ und meint damit die kleinen jüdischen Gemeinden auf dem Lande. Weiters ist hier der entwürdigende „Judenzoll“, auch Leibzoll genannt, erwähnt. 18 Ihn mussten Juden beim Durchqueren eines Territoriums oder beim befristeten Aufenthalt dort, ähnlich wie für Vieh oder für Leichen, bezahlen. Er wurde deshalb als Symbol der Diskriminierung von den Verfechtern jüdischer Emanzipation heftig bekämpft. 6. Kleinere Erzählungen In Aurbachers geschätzten 400 Erzählungen kommen auch einige vor, welche auf Juden oder auf Jüdisches Bezug nehmen. Fast alle diese Erzählungen entnahm Aurbacher frühneuzeitlichen Erzählbüchern, Journalen und Zeitungen. Hier ist deshalb von Interesse, welche „Judengeschichten“ Aurbacher auswählte und was er mit diesen sagen wollte. 6.1. Das Darlehen 19 In dieser Geschichte erzählt Aurbacher, wie sich ein armer Jude, der Rabbiner werden will, von einem reichen Juden kostbare Bücher leiht. Der reiche Jude verlangt hierfür ein Drittel von Gottes Lohn, welcher der Rabbi dereinst für seine Arbeiten im Dienste Gottes erhalten wird. Als der arme Jude bald darauf stirbt, bringt sein Vater dem Reichen die Bücher zurück, bedauernd, dass sein Sohn nun nicht Rabbi geworden und er deshalb nichts für das Ausleihen bekommt. Der Reiche meint darauf, dass er von Gott den Lohn erhalten wird, „denn Gott rechnet nach Rechten“. Eine Aussage dieser Erzählung lautet, dass ein Jude immer und mit jedem handelt, auch mit Juden und auch, wenn dieser Handel recht unsicher scheint. Das betrügerische Moment, welches im Handel mit Juden meistens steckt, fehlt hier. Die Erzählung beginnt mit dem Zitat: „Wer recht und wohl thut, ist Gott angenehm unter jedem Volke.“ In der „Apostelgeschichte“ 10, 34-35 heißt es: „Da öffnete Petrus den Mund und sprach: Nun weiß ich gewiß, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern in jedem Volke ist ihm angenehm, wer ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt.“ Während Petrus sagt, dass jeder Gottesfürchtige Gott genehm ist, auch ein Heide, dreht Aurbacher diesen Gedanken hier um. Auch gottesfürchtige Juden sind Gott genehm, und nicht nur Christen. 18 Unter „Judenzoll“ ist hier der Leibzollschein gemeint. Die entwürdigende Abgabe des Leibzolls bestand in Bayern bis 1808. Germanisches Nationalmuseum, Juden in Bayern, 196, 5/ 6. 19 Veröffentlicht in A URBACHER , Volksbüchlein 2, 2. Auflage, 141f. Der Jude im Werk Ludwig Aurbachers 59 6.2. Eheliche Treue 20 Aurbacher erzählt, dass ein Jude seiner Frau wegen Kinderlosigkeit einen Scheidungsbrief ausstellt (5 Mose 24). Ein Rabbi rät, vor der Scheidung noch ein köstliches Mahl zu halten. Hierbei erlaubt der Jude seiner Frau, zur Scheidung das aus dem Hause mitzunehmen, was ihr am Liebsten ist. Nach reichlichem Weingenuss schläft er ein und die Frau nimmt ihn schlafend mit aus dem Haus. Hierin erkennt der Mann die Liebe seiner Frau und verzichtet auf die Scheidung. Dieses Weibertreu-Motiv kommt schon vor Aurbacher zahlreich vor, so bei Montanus 21 oder bei den Brüdern Grimm. 22 Aurbacher kannte sehr wahrscheinlich Montanus und Grimms Version der „Weibertreue“. Er nahm jedoch, um das Thema „Weibertreue“ zu illustrieren, eine jüdische Vorlage. 23 Die gleiche Vorlage benutzte auch Abraham Tendlau (1802-1878) für sein Gedicht „Des Weibes Kleinod“. 24 Um Weibertreue zu illustrieren eignet sich eine jüdische Erzählung anscheinend besonders gut. Einmal gibt es bei den Juden, im Gegenteil zum Christentum, die Möglichkeit der Scheidung. Dann war die Unfruchtbarkeit der Frau im Judentum ein sinnvoller Grund, sich scheiden zu lassen. Und dass man jemanden betrunken macht, um sein Ziel zu erreichen steht auch in der Thora. 25 Bei Aurbacher macht die Geschichte also einen Sinn, im Gegensatz zu Grimms Märchen. Das Verhalten der klugen Bauerntochter, 26 ihren Mann aus Liebe aus dem Schloss tragen zu lassen, nachdem sie ihn zuvor verraten und er sie deshalb verstoßen hat, ist nicht recht überzeugend. 6.3. Fehlende Solidarität 27 „Also entschuldigte sich auch jener Jude - ich weiß nicht ob er ein beschnittener gewesen, oder ein unbeschnittener 28 - der kam gerade zu einer Zeit in ein Dorf, wo ein Haus eines armen Taglöhners abgebrannt war; und der Wirth, bey dem er eingekehrt, erzählte ihm das Unglück, und sprach ihn um ein Almosen an für den Abgebrannten. ‚Ey was, sagte der Kaufmann; was geht’s mich an? Ihr seht ja, ich bin ein Fremder! Helfet einander selbst‘“. 20 A URBACHER , Volksbüchlein 2 [1. Auflage] 29f. 21 So schreibt bereits Martinus Montanus (1537-1566) in der „Gartengesellschaft“ die Erzählung „Eine Stadt wird gewonnen, daraus die Weiber ihre Männer und Kinder tragen. Abgedruckt in: A LBRECHT , Deutsche Schwänke, 247. 22 G RIMM , Sagen, Nr. 493 (Von den treuliebenden Weinsperger Weibern); D IES ., Kinder- und Hausmärchen, Nr. 94 (Die kluge Bauerntochter). 23 Als Vorlage könnte gedient haben J OST , Neuere Geschichte der Israeliten. 24 T ENDLAU , Jüdische Vorzeit. 25 1 Mose 19, 32. 26 G RIMM , Kinder- und Hausmärchen, Nr. 94. 27 Diese Erzählung findet sich unter dem Titel „Was geht’s mich an? “ in: A URBACHER , Volksbüchlein 1 [1. Auflage], 72f. 28 In einer späteren Ausgabe wird die Aussage von „den beschnittenen oder unbeschnittenen Juden“ ersetzt durch „ob es ein wirklicher gewesen oder gar ein christlicher“. Alois Epple 60 Aurbacher dürfte diese kurze Erzählung einem Journal entnommen haben. Anscheinend gibt sie nicht nur kurz, sondern auch prägnant einen typischen Juden wieder, nämlich: Der Jude zieht umher. Der Jude bleibt ein Jude, trotz Konversion zum Christentum. Der Jude ist unsolidarisch. 6.4. Namensgebung der Juden In einigen Erzählungen spielt Aurbacher auf die Nachnamensgebung bei Juden in Deutschland ab 1813 an. Danach mussten die Juden einen unveränderbaren Nachnamen haben. Oft wurde ihnen ein erniedrigender oder beleidigender Nachname von Beamten zugewiesen. Dies greift Aurbacher in drei kurzen Erzählungen auf. 6.4.1. Weinhändler Mauskopf In der Erzählung „Hans blas’s Licht aus“ 29 wird von einem Frankfurter Weinhändler, „Namens Mauskopf“ berichtet, „der hat die Kunst verstanden, von der Armuth sich Reichthum zu verschaffen. Wenn er nämlich von einem Winzer hörte, daß es mit dessen Vermögen auf die Neige gehe und zur Vergantung, so war er flugs bei der Stelle, wie ein Rabe, der um Sterbende kreiset, des Aases gewärtig“. Zwar nicht explizit erwähnt, dass es sich bei Mauskopf um einen Juden handelt, ging dies für die Leser eindeutig aus dem ausgefallenen Namen und dem gierigen Verhalten des Mauskopf hervor. Letzteres entsprach dem üblichen Vorurteil gegenüber den Juden. 6.4.2. Soldat Wagenschwanz Die Erzählung „Der ehrliche Name“ 30 handelt vom Soldaten Wagenschwanz, welcher nicht reagiert, als er von einem Offizier mit „Schildwacht“ angerufen wird, da er den ehrlichen Namen Wagenschwanz hat. Bei dieser Geschichte, welche Aurbacher dem Erzählband „500 frische und vergüldete Haupt=Pillen […] verordnet von Ernst Wolgemuth, eingeschächtelt im Jahr 1669“ entnahm, 31 geht es wieder um die Verballhornung bei der Namensgebung an Juden, um den Stolz der Juden auf ihren ehrlich erworbenen deutschen Namen und darum, dass Juden zu Aurbachers Zeiten - in Bayern ab 1804 - im Heer dienten. 6.4.3 Riedesel, von Gebsattel, von Aufseß, von Palm „Der alte Adel“ nennt sich eine Erzählung Aurbachers 32 in der die vier Adeligen von Riedesel, von Gebsattel, von Aufseß und von Palm ihren Namen auf Tätigkeiten zurückführen, welche ihre Ahnen beim Einritt Jesu in Jerusalem ausführten. 33 Auch 29 A URBACHER , Volksbüchlein, 2, 2. Auflage, 190f. 30 A URBACHER , Volksbüchlein 1 [1. Auflage] 30f. 31 Hier ist es die Nr. 37: „Ein einfältiger Soldat“. 32 A URBACHER , Volksbüchlein 2, 2. Auflage, 40f. 33 Riedesel leiht Christus seinen Esel zum Einzug in Jerusalem, Gebsattel gibt Christus den Sattel für den Esel, Aufseß hilft ihm auf den Esel zu steigen und von Palm pflückt die Palmzweige, welche dann die Juden beim Einzug von Jesus in Jerusalem schwenken. Der Jude im Werk Ludwig Aurbachers 61 hier geht nur indirekt, wenngleich zwingend, hervor, dass es sich bei den vier Adeligen um Juden handelt. Zweierlei lehrt diese Erzählung. Einmal wird angedeutet, dass es zur Zeit von Jesus ihm wohlgesonnene Juden gab, welche ihn unterstützten. Zum andern wird wieder auf die Namensgebung bei den Juden angespielt. Die meisten Juden hatten, bevor sie einen deutschen Namen erhielten, einen Sippen- oder Stammnamen. Rabbinische Dynastien hingegen, und um solche handelt es sich hier anscheinend, leiteten ihren Namen oft vom Gründer der Dynastie ab. 7. Zusammenfassung Das Bild des Juden bei Aurbacher ist recht vielseitig und teilweise widersprüchlich. In seinen Erzählungen geht es Aurbacher einmal um typisch Jüdisches wie die Möglichkeit, sich scheiden zu lassen oder um den Gotteslohn für den, der Gott treu dient. Weiter wirft Aurbacher einen theologischen Blick auf die Juden. Sie bezichtigten Christus ein Sabbatschänder und Gottesleugner zu sein. Dieses Fehlurteil aus christlicher Sicht können sie revidieren, wenn sie sich zum Christentum bekehren. Drittens spricht Aurbacher die Situation der Juden bei uns an. Juden treten als verschlagene, unsolidarische Händler auf. Sie werden aber auch entwürdigend behandelt, sie werden in Eisen geschlagen und müssen Judenzoll zahlen, obwohl ihr Verhalten sich von dem der Schwaben nicht unterscheidet. Die (sieben) Schwaben übertreffen sogar die Juden noch an negativen Eigenschaften. Literatur A LBRECHT , G ÜNTHER : Deutsche Schwänke, Weimar 1963. A URBACHER , L UDWIG : Erinnerungen aus dem Leben einer frommen Mutter - Ein Denkmal von ihrem ältern Sohne, Augsburg 1816. -: Ein Volksbüchlein [erster Theil], München 1827. -: Ein Volksbüchlein [erster Theil], 2. Auflage, München 1835. -: Ein Volksbüchlein, zweiter Theil, München 1829. -: Ein Volksbüchlein, zweiter Theil, 2. Auflage 1839. -: Ein Büchlein für die Jugend, München 1834. E PPLE , A LOIS : Der Volksschriftsteller Ludwig Aurbacher, in: Literatur in Bayern, Nr. 73, 2003, 52-64. Germanisches Nationalmuseum und Haus Der Bayerischen Geschichte (Hrsg.): Geschichte und Kultur der Juden in Bayern, Ausstellungskatalog im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, 1988/ 1989. G RIMM , J AKOB / W ILHELM : Deutsche Sagen, Köln 2011, Nr. 493. -/ -: Kinder- und Hausmärchen, Stuttgart 1980. J OST , I SAAC M ARKUS : Neuere Geschichte der Israeliten, Berlin 1815-1845. K OSCH , W ILHELM : Ludwig Aurbacher, der bayrisch schwäbische Volksschriftsteller, Köln 1914. Alois Epple 62 O EHLER , H ANS (Hrsg.): Sebastian Sailers Schriften im schwäbischen Dialekte, Weißenhorn 2000. O ESTERLE , G ÜNTER : Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik; in: Athenäum 2 (1992), 55-89. R ADLKOFER , M AX : Die sieben Schwaben und ihr hervorragendster Historiograph Ludwig Aurbacher, Hamburg 1895. S ARREITER , J OSEPH : Ludwig Aurbacher - Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte, München 1880. -: Zum Andenken an den Volksschriftsteller Ludwig Aurbacher, in: Das Bayerland, illustrierte Wochenschrift für bayerische Geschichte und Landeskunde, Nr. 38, 8. Jg., 1897, 448-450. T ENDLAU , A BRAHAM : Buch der Sagen und Legenden jüdischer Vorzeit, Stuttgart 1842. U THER , H ANS -J ÖRG : Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“, Berlin/ New York 2008. Der rassische Antisemitismus bei Alban Stolz im Kontext der mitteleuropäischen antisemitischen Propaganda Tanja C. Muller 1. Alban Stolz im Urteil der Forschung In einer 1983 von der Stadt Bühl herausgegebenen Schrift zum hundertsten Todestag des in dieser Stadt geborenen „Volksschriftstellers“ und Theologieprofessors Alban Stolz hob Wolfgang Müller, emeritierter Professor für kirchliche Landesgeschichte in Freiburg im Breisgau, dessen „zutiefst christlichen Geist“ und „Freigebigkeit“ hervor. Dieser „christliche Geist“ manifestierte sich für Müller vor allem in der „Wärme der Barmherzigkeit“, da sich das „Herz des Professors […] bei den Bedrängten“ befinde. Diese „innere Haltung des Priesters Alban Stolz“ war für Müller indes „in einem zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen“, nämlich in einem Zeitalter, in dem „das von Gewinnstreben beherrschte kapitalistische und wagemutige Unternehmertum größer und größer“ wurde und „auf der anderen Seite […] eine tiefe Verelendung einer wachsenden, abhängigen Arbeiterschaft“ 1 stattfand. Eine antikapitalistische und somit sozialkritische Einstellung bei Stolz stellte ebenfalls Oskar Köhler fest. Für ihn sah Stolz in den „armen Bauern Sklaven des Bodens“, in der „Industrie“ hingegen „den gottwidrigen Fortschritt“, der mit dem „kristallisierte[n] Arbeiterschweiß“ und dem „Geld jener Reichen“ bezahlt wurde, „die es nicht durch gemeinnützige Arbeit gewonnen haben“. 2 Eine sozialkritische Linie bei Alban Stolz erkannte ebenfalls Rudolf Lill. Für ihn stellte Stolz einen typischen „Vertreter des sozialen Antisemitismus“ und einen Kämpfer „gegen Kapitalismus und wirtschaftliche Umstrukturierungen“ 3 dar. Für Michael Langer verband Stolz „antikapitalistische Vorstellungsmuster […] mit Polemik gegen die Juden und ihren vermeintlichen Reichtum“. 4 Vor allem Michael Langer, der die judenfeindlichen Stereotype bei Stolz am gründlichsten aufarbeitete und die zentrale Studie über die wirtschaftlich motivierte Judenfeindlichkeit vorlegte, gelangte zu der Schlussfolgerung, Stolz habe den Diskurs der Dehumanisierung mittels der Sprache mitgetragen, allerdings nur „indirekt […] rassentheoretische Elemente“ formuliert und „seine Judenfeindschaft durch Übernahme von Vorurteilen und Stereotypen“ begründet. Der Feststellung von Langer, rassentheoretische Elemente seien bei Stolz nur indirekt sichtbar, ist zu einem gewissen Teil zuzustimmen, da sich der bei Stolz 1 M ÜLLER , Alban Stolz, 45f. 2 K ÖHLER , Alban Stolz, 59f. 3 L ILL , Katholizismus, 376. 4 L ANGER , Vorurteil und Aggression, 53. Tanja C. Muller 64 manifestierende Antisemitismus vorwiegend auf die Bereiche des „Wucher[s]“ und „Habsucht“ der Juden bezog. „Ansätze“ für „rassentheoretische Elemente“ traten für Langer dann bei Stolz in Erscheinung, wenn „Betrug und Habsucht der Juden als erbbiologische Dominanten definiert“ wurden. Für Langer bewegte sich Stolz „auf der religiösen Ebene der Judengegnerschaft […] in den standardisierten Vorgaben der Substitution“, die ihm „zugleich als Legitimationsmuster“ dienten, um „gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden Stellung zu beziehen“. Immerhin gestand Langer ein, dass die „auffallende sprachliche Ausfälligkeit seiner Ausführungen […] dem politischen und rassischen Antisemitismus“ ähnelten, obwohl „die Gesamtkontexte und Intentionen davon strukturell verschieden“ 5 seien. Zu untersuchen ist somit, inwieweit sich Stolz in seinen rassisch bezogenen Aussagen von den Schriften anderer Antisemiten unterschied und inwiefern er mit seinen diskriminatorischen Metaphern an der rassischen Begründung des Antisemitismus beteiligt war. Hierbei sind vor allem die Schriften der französischen Antisemiten Charles Fourier aus den Jahren 1829 bis 1856, Arthur de Gobineau (1853) und Pierre Joseph Proudhon (1870) von Bedeutung. Ebenfalls in Betracht zu ziehen ist die ab 1848, dem Gründungsjahr der klerikalen Zeitung „Luxemburger Wort“, von den geistlichen Redakteuren dieser Zeitung verbreitete antisemitische Sprache zwecks Schutz der katholischen Bevölkerung vor der vermeintlichen Ausbeutung durch die Juden. Wenn im Folgenden mehrmals Bezug auf die - im 19. Jahrhundert - ultramontane und antisemitische Zeitung „Luxemburger Wort“ genommen wird, geschieht dies aus zwei Gründen: Erstens wurde innerhalb dieser Zeitung mit ausschließlich regionalem Bezug eine unverständlich intensive Polemik gegen die „Verjudung“ der christlichen Länder geführt. Erster Hauptredakteur von 1848 bis zu seinem Tod 1855 war der vom apostolischen Vikar Johannes Theodor Laurent 1844 als Professor der Dogmatik ans Priesterseminar berufene Eduard Michelis, ehemaliger Geheimsekretär des Kölner Erzbischofs Droste zu Vischering. 6 Die Verbindungen von Michelis als auch von Laurent, beide fanatische Gegner Preußens, als auch deren enge Kontakte zu den deutschen ultramontanen Kreisen bewirkten von Anfang an eine intensive Auseinandersetzung mit der „Verjudung“ Deutschlands. Die 1848 geführte, zuerst auf Luxemburg begrenzte Polemik über die Emanzipation der Juden, anfänglich eine Auseinandersetzung zwischen dem Rabbiner Samuel Hirsch und Eduard Michelis, wurde bereits ein Jahr später zum internationalen Problem deklariert. Die angebliche „Verjudung“, insbesondere in Deutschland, diente dem „Luxemburger Wort“ dazu, sämtliche Register judenfeindlicher Einstellungen, sei es der jüdische „Wucher“, die Beherrschung der Presse und Literatur oder die gesellschaftlichen Positio- 5 Ebd., 288. 6 Vgl. M ICHELIS , Lieder, XXI-XXXI. Ebenfalls: G REGOIRE , Schriftleiter-Silhouetten, 9-28. Sehr aufschlussreich über das Wirken von Michelis in Luxemburg, allerdings zutiefst apologetisch. Ebenfalls zu Laurent und Michelis, vor allem deren Verstrickung in die „Kölner Wirren“ betreffend: H ELLINGHAUSEN , Kampf, 1987, vor allem 76-81 und 179-186. Der rassische Antisemitismus bei Alban Stolz 65 nen der Juden innerhalb der Bürgerschaft als auch des Staates, in vollem Umfange auszuschöpfen. Zweitens ermöglichte die regelmäßige Teilnahme der katholischen Kirche Luxemburgs an den deutschen Bischofskonferenzen als auch deren Mitgliedschaft im „katholischen Verein Deutschlands“ und im „Boromäusverein“ einen ebenso intensiven wie regelmäßigen Austausch von Informationen. Anlässlich der „Generalversammlung der katholischen Vereine in Freiburg“ im Jahr 1859 dürfte es zu einem persönlichen Kontakt zwischen den Luxemburger Teilnehmern „Michel Jonas, Advokat und Mitglied der Ständekammer, Bernhard Weber, Professor am Seminar und Heribert Weber, Pfarrverwalter zu U. L. F. daselbst“ 7 mit Alban Stolz gekommen sein. Dieser wurde in einem Bericht über diese Versammlung in einem Artikel der katholischen Zeitung „Luxemburger Wort“ als der „unermüdliche Präses für das Gedeihen des Gesellenvereines“ 8 bezeichnet. Von diesem Zeitpunkt an wurde im „Luxemburger Wort“ regelmäßig und bis 1950 auf die Schriften des „berühmten volkstümlichen Schriftstellers“ 9 hingewiesen. 2. Das rassisch bezogene Judenbild bei Alban Stolz im internationalen Vergleich In dem sich von 1843 bis 1884 erstreckenden literarischen Wirken von Stolz bildete der jüdische „Wucher“ ein immer wieder reproduziertes Motiv. Bereits in seinem ersten Kalender aus dem Jahr 1843 wurde jüdischer Wohlstand in Verbindung gebracht mit Betrug und Ausbeutung der Christen, vor allem der Bauern durch die „blutrünstigen“ 10 Juden. Mittels Bezeichnungen der jüdischen Händler als „Schacherjuden“ oder „Wucherjuden“ wurde ein Vergleich zu den Juden als „Ritualmörder“ gezogen und „das Stereotyp“ von den Juden, die „das Blut gemarterter Christenkinder“ 11 trinken, auf die Ausbeutung der christlichen Bevölkerung, insbesondere des Bauernstandes durch die jüdischen „Wucher“ übertragen. Hierbei konnte Stolz für die Darstellung der Juden als Parasiten und Blutsauger auf eine bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition zurückgreifen. In einer 1570 erschienenen Schrift von „Georgium Nigrunum, Pfarrherrn zu Giessen“ wurden die Juden als „Blutegel“ bezeichnet, die sich an den Armen bereichern und diese „aussaugen“. 12 Im Jahr 1765 definierte der französische Philosoph Voltaire die Juden des Alten Testaments als ein „barbarisches und unzivilisiertes Volk, das Menschenfleisch“ 13 gegessen habe. Noch deutlicher verknüpfte Pierre-Joseph Proudhon 1849 seine 7 Verhandlungen der elften Generalversammlung, 74. 8 Luxemburger Wort: Die Generalversammlung der katholischen Vereine in Freiburg, 18. September 1859. Zu den Luxemburger Teilnehmern: Verhandlungen, 1860, 74. 9 Luxemburger Wort: Das Bilderbuch Gottes, 24. Dezember 1896. 10 S TOLZ , Mixtur, 53. 11 H ORTZITZ , Judenfeindschaft, 23. 12 N IGRINUM , Judenfeind, VI./ CLXXVL. 13 Vgl . V OLTAIRE , Dictionnaire, 25. Tanja C. Muller 66 generelle Judenfeindlichkeit mit dem Begriff der Rasse, indem er die jüdische als Feind des menschlichen Geschlechts ansah und die generelle Ausweisung der Juden aus Frankreich forderte, sofern sie nicht mit einem Franzosen verheiratet waren. Neben der Schließung der Synagogen, dem Verbot der Religionsausübung als auch einem generellen Berufsverbot für Juden sah er zwecks Lösung des „Judenproblems“ deren Abschiebung nach Asien oder Ermordung an. 14 Für Proudhon lebten die Juden seit Jesus Christus bis zur Französischen Revolution auf Kosten der anderen Nationen. Dieses Schmarotzertum wurde von Proudhon damit begründet, den Juden sei zur Erhaltung ihrer Lebensexistenz nichts anderes übrig geblieben; allerdings hatte sich die Situation seit der Französischen Revolution und somit der Gleichstellung der Juden für Proudhon nicht geändert. Für ihn waren die Juden nach wie vor eine parasitäre, arbeitsscheue Rasse, die den Praktiken des anarchistischen und betrügerischen Handels ergeben war. Demzufolge befand sich für Proudhon der gesamte Handel in den Händen der Juden. 15 1852 bezeichnete eine von „Dr. Bertold“ verfasste Schrift den jüdischen „Wucher- und Schachergeist“ als „erblich“. 16 Der jüdische „Wucher“ wurde 1859 von Stolz als „Naturell“ und somit ebenfalls als vererbbar angesehen. Ein „Kind“, das in einer „seit Generationen den Schacher“ betreibenden jüdischen Familie aufwuchs, zeigte laut Stolz selbst dann Gefallen am „Wucher“, wenn es, „noch unmündig“, in einer anderen Umgebung und mit einer anderen Erziehung aufgewachsen wäre. 17 Die zwecks Diffamierung der Juden von den Antisemiten im 19. Jahrhundert benutzten wirtschaftlichen Argumentationen waren für Felix Goldmann „stets neben den religiösen zu finden gewesen“. Die durch die Emanzipation bedingte „aufstrebende Minorität“ der Juden wurde von der katholischen Kirche insofern als Bedrohung angesehen, als deren seit dem Mittelalter bestehenden Privilegien dadurch eingeschränkt wurden. Für Goldmann bestanden diese Rechte der katholischen Kirche vor allem darin, dass den Juden das Ausüben verschiedener „Berufszweige“ verboten wurde. Andererseits konnte die katholische Kirche mittels ihrer „weltliche[n] Macht“ den fast „einzigen erlaubten Erwerbszweig“ der Juden, den „Geldhandel“, kontrollieren und somit dafür sorgen, „den Reichtum der Juden nicht allzu groß werden zu lassen“. Obwohl der „Geldhandel“ als eine „verächtliche Beschäftigung“ angesehen wurde, kamen „seine Erträgnisse […] der Kirche und ihren Anhängern zugute“, wobei andererseits „den religiösen Erbfeinden […] der Makel der Minderwertigkeit“ angeheftet wurde. Als eine der Hauptursachen für den wirtschaftlich begründeten Antisemitismus erkannte Goldmann den mit der französischen Revolution bewirkten Machtverlust der katholischen Kirche, mittels „Beschlagnahme des jüdischen Vermögens“ sollte deren „Erwerbsgeist“ eingeschränkt werden. Der wirtschaftliche Antisemitismus als Kampf gegen die Juden „als Träger des Kapitalismus“ „bedurfte zu seiner Legalisierung des religiösen Mantels“. Vorgescho- 14 Vgl. H AUBTMANN , Proudhon, 739. 15 Vgl. P ROUDHON , Essais, 276f. 16 B ERTOLD , Juden-Album, 35f. 17 S TOLZ , Vererbung, 24f. Der rassische Antisemitismus bei Alban Stolz 67 ben wurde der Christenschutz: Die „Unterjochung der gesamten Welt“ durch den „jüdischen Kapitalismus“ 18 sollte verhindert und gleichzeitig die Machtposition der katholischen Kirche innerhalb einer von der Modernisierung und Säkularisierung bedrohten Welt gesichert werden. Vermischt wurde der religiös motivierte Antijudaismus mit dem rassischen Antisemitismus, indem Letzterer dazu benutzt wurde, die emanzipierten Juden trotz oder wegen ihres wirtschaftlichen Erfolges als dennoch minderwertige Rasse zu diskriminieren. Im Kalender von 1859 mit dem Titel „Das Bilderbuch Gottes“ wird der auf die Rasse bezogene Antisemitismus von Stolz am Deutlichsten erkennbar. Hier wurden die jüdischen „Wucher“ mit dem „schmutziggelben Kuckuck“ 19 verglichen, der seine Eier in die Nester anderer Vögel legte und somit als Parasit anzusehen war. Ferner dienten „affektive Wortzusammensetzungen“ mit dem „Grundwort Jude“ 20 (bei Stolz tauchen immer wieder Bezeichnungen wie „Wucherjude“, „Schacherjude“, „Schmuser“, „Herrenjuden“, „Schweinefleischjuden“ oder „verfälschte Juden“ auf) dazu, diese als „fremd“ und als „nichtdeutsch, nichtchristlich“ 21 zu diffamieren. Auffallend ist das Vokabular der antisemitischen Sprache im europäischen Vergleich. Wurden die emanzipierten Juden bei Stolz als „moralisches Aas“ 22 bezeichnet und mit Schweinen verglichen, 23 stufte das „Luxemburger Wort“ die Juden als nur eine Stufe über den Tieren stehend ein und forderte für den Einlass in die Festungsstadt Luxemburg „einen Groschen“, da immerhin auch die Tiere Zoll bezahlen müssten. 24 Wie bei Stolz lassen sich im „Luxemburger Wort“ immer wieder Vergleiche mit „Blutegel[n]“ finden, die sich an dem „üppig ausgestreckten Christenleibe dick und rund saugen oder wie Schmarotzerpflanzen sich an allen christlichen Nationen anhangen“. 25 In der Polemik zur „Judenfrage“ berief sich das „Luxemburger Wort“ auf antisemitische Aussagen wie von Johann Gottfried Herder, der das „Judenvolk“ als eine „Schmarotzerpflanze auf den Stämmen anderer Nationen“ bezeichnete, oder auf Wolfgang Menzel, für den die Juden, anstatt „nach Palestina“ zu gehen, lieber „an dem Christenleibe sitzen“ blieben. 26 Neben der ihnen angedichteten „unverschämte[n] Habgier“ 27 waren die Juden auch ein „gottverlassenes Geschlecht“ 28 und eine „Landplage“. 29 Als „Hasenfüße“ 30 verweigerten sie den Kriegsdienst, scheuten sich vor „körperlicher Anstrengung“ und 18 G OLDMANN , Antisemitismus, 63-69. 19 S TOLZ , Kalender 1859, 39-45. 20 H ORTZITZ , Judenfeindschaft, 34f. 21 Ebd., 36. 22 S TOLZ , Wilder Honig, 383. 23 Vgl. S TOLZ , Kalender 1874, 22. 24 Luxemburger Wort, Etwas auf Rechnung, 12. Januar 1849. 25 Ebd., 24. November 1875. 26 Ebd., 9. Dezember 1879. 27 Ebd., 25.Juli 1852. 28 Ebd., 1. Juni 1848. 29 Ebd., 9. November 1851. 30 Ebd., 24. Februar 1854. Tanja C. Muller 68 „schwerer Arbeit“ und waren eine „heruntergekommene Rasse“. 31 Wie bei Stolz, der die Juden als „Ungeziefer“, 32 als die „blutdürstigen Juden“ 33 bezeichnete, sah das „Luxemburger Wort“ in den Juden „Blutsauger“ und „Blutegel“ und somit „böse Gäste der Christenheit“. 34 Innerhalb des „Luxemburger Wort“ wurde eine im Verhältnis zu der geringen Anzahl Juden in Luxemburg völlig übertriebene demagogische Polemik geführt. Obwohl im Jahr 1866 nur 570 Juden, hingegen rund 188.000 Katholiken in Luxemburg lebten, 35 war für das „Luxemburger Wort“ das „Land kreuz und quer nurmehr von Handelsjuden bewohnt“, 36 die „keine Mühe […] scheuen wenn es nur gilt etwas zu gewinnen“. 37 Mittels meist anonym verfasster Leserbriefe wurde darauf aufmerksam gemacht, dass immer mehr Bauern den Juden „in die Hände fallen“. 38 Der vom „Luxemburger Wort“ betriebene Antisemitismus war somit laut Shulamit Volkov „keine direkte Reaktion auf reale Umstände“, 39 sondern ein Agglomerat von Vorurteilen und Übertreibungen, die ausschließlich dazu dienten, dem christlich motivierten Antijudaismus eine sowohl sozialpolitische als auch rassische und somit pseudowissenschaftliche Komponente zu verleihen. Michael Langer sieht in der Auseinandersetzung von Alban Stolz mit den Juden ein „exemplarische[s] Modell der Wahrnehmung von Juden und Judenemanzipation aus der Perspektive eines kleinbürgerlichen ultramontanen Katholizismus in der Auseinandersetzung mit der Moderne“. 40 Dieser Feststellung ist allerdings zu einem gewissen Teil zu widersprechen, da es sich bei Stolz um einen Theologieprofessor handelte. Die Redaktion des „Luxemburger Wort“ war ebenfalls von hochgestellten geistlichen Führungskräften besetzt. Zu ihnen gehörte als Hauptredakteur der Professor für Theologie am Luxemburger Priesterseminar, Edouard Michelis, von 1848 bis 1855 an, von 1855 bis 1885 der Priester Nikolaus Breisdorff als Hauptredakteur und die Professoren für Theologie Johann Engerling und Nikolaus Wies. 41 Somit ist die sowohl von Stolz auch von den Redakteuren des „Luxemburger Wort“ betriebene Judenhetze weniger als eine kleinbürgerliche ultramontane Denkweise als vielmehr eine von Angehörigen der „Macht- und Bildungselite“ 42 gezielt gesteuerte und sich ihrer Wirkungskraft bewusste Manipulation zu verstehen. 31 Ebd., 6. November 1877. 32 S TOLZ , Spanisches, 62. Ebenfalls: ABC, 23. 33 S TOLZ , Mixtur, 53. 34 L UXEMBURGER W ORT , 5. Dezember 1851. 35 G RÖVIG , Luxemburg, 5-6. 36 Luxemburger Wort, 21. Januar 1855. 37 Ebd., 23. Dezember 1855. 38 Ebd., Leserbrief. Herr Redakteur! , 4. Januar 1873. 39 V OLKOV , Jüdisches Leben, 25. 40 L ANGER , Vorurteil und Aggression, 288. 41 Vgl. zu Michelis: G REGOIRE , Schriftleiter-Silhouetten, 9-28. Zu Breisdorff: D ERS ., Schriftleiter-Silhouetten, 29-53. 42 B ERDING , in: B LASCHKE / M ATTIOLI , Katholischer Antisemitismus, 60. Der rassische Antisemitismus bei Alban Stolz 69 3. Alban Stolz ein „Frühantisemit“? Eine Analyse der von Stolz in den 1840er Jahren verfassten Schriften, insbesondere seiner Kalender, widerspricht der von einem Teil der Geschichtsforschung vertretenen These, der Antisemitismus sei, wie Hans Rosenberg 1967 feststellte, im Zusammenhang mit der „Großen Depression“ und dem damit verbundenen „Prozeß der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums“ 43 zu sehen. Die von Reinhard Rürup vertretene Auffassung des Antisemitismus als „postemanzipatorisches Phänomen“ 44 und auch die von demselben und Nipperdey vorgenommene Differenzierung des Begriffs Antisemitismus als „grundsätzlich neue judenfeindliche Bewegung“ am „Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts“ 45 wurde 2011 erneut von Henning Albrecht in Frage gestellt. Verworfen wurde von Albrecht die innerhalb der neueren Antisemitismusforschung vertretene These - so auch noch im Jahr 2002 von Werner Bergmann -, das Aufkommen des modernen Antisemitismus habe in den 1870er Jahren stattgefunden. 46 Hinweise auf einen bereits vor der „Großen Depression“ vorhandenen konservativen Antisemitismus lieferten Michael Behnen 1976 47 und auch Nicoline Hortzitz. In einer fundierten Analyse über den antisemitischen Sprachgebrauch im frühen 19. Jahrhundert wies Hortzitz auf „Ansätze“ hin, die „den Judenhaß biologisch anthropologisch“ 48 motivierten. Der Begriff „Frühantisemitismus“ wurde von Wolfgang Benz als eine „Phase zwischen der primär religiös geprägten traditionellen Judenfeindschaft (Antijudaismus) und dem modernen, als postemanzipatorisches Phänomen verstandenen Antisemitismus“ gedeutet, „der sich Ende der 1870er Jahre als politisch-ideologische Bewegung etablierte“. Als Hauptproblem für die Integration der Juden erkannte Benz vor allem die Religion der Juden, die „trotz ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Eingliederung ihre Traditionen“ bewahrten und somit ihre Gegner dazu veranlassten, sie als „eine exklusive, eng vernetzte Solidargemeinschaft“ anzusehen. Die „Intensität dieser neuen Judenfeindschaft“ beruhte für Benz „weiterhin im negativen mittelalterlichen Judenbild mit seiner christlichen Wurzel“. Gleichzeitig spielten soziale und ökonomische Argumente eine wesentliche Rolle, da die „erzwungene berufliche Spezialisierung“ der Juden als „gemeinschädlich“ angesehen und deshalb abgelehnt wurde. Zusätzlich wurde, zwecks Deklassierung, den Juden unterstellt, „nicht alle Verpflichtungen“ wie „Wehrpflicht, Loyalität, Anerkennung der Nation“ zu erfüllen. Für Benz benutzte der „Frühantisemitismus“ allerdings neben den „religiösen und ökonomischen Vorbehalten“ bereits „völkisch-nationalistische und rassistische Argumente, um gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden anzukämpfen“. Die den Juden angehefteten „negativen Züge“ wurden nun nicht mehr allein „durch ihre religiöse Verstocktheit“ gedeutet, sondern „innerhalb der sich entwickelnden an- 43 R OSENBERG , Depression und Bismarckzeit, 38. 44 R ÜRUP , Emanzipation und Antisemitismus, 90. 45 N IPPERDEY / R ÜRUP , Antisemitismus, 129. 46 Dazu B ERGMANN , Antisemitismus, 21, 38ff. 47 B EHNEN , Probleme, 244. 48 H ORTZITZ , Judenfeindschaft, 4. Tanja C. Muller 70 thropogisch-rassistischen Forschung“ gedeutet. Allerdings unterschied sich für Benz der „Frühantisemitismus“ vom modernen Antisemitismus dadurch, dass „er keine politische Bewegung noch eine geschlossene Weltanschauung bildete“. 49 Der noch 2011 von Werner Bergmann und Ulrich Wyrwa vertretenen Auffassung, „die Sprache des Rassismus“ sei vor allem 1881 durch Eugen Dühring in seiner Schrift „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“ eingeführt worden, 50 widerspricht die von Henning Albrecht im gleichen Jahr vorgenommene Infragestellung der „Trendperiode 1873 bis 1896“ als Auslöser für die „Intensität und Funktion der Judenfeindschaft“. Da „im Zeitalter der Assimilation“ religiöse Gründe für die Ausgrenzung der Juden nicht mehr ausreichten, musste für Albrecht „die Andersartigkeit der Juden […] anders als religiös begründet werden, um das Ungleichheitsargument mitsamt seinen gesellschaftlichen Implikationen aufrecht erhalten zu können“. Dieses „Ungleichheitsargument“ wurde für Albrecht durch „rassentheoretische Begründungsansätze“ gewährleistet, wobei das in den 1850er Jahren „rassisch begründete Judenbild […] Kriterien des modernen Antisemitismus“ mittels Definitionen der Juden als „Semiten“, „Orientalen“ oder „Söhne des Orients“ 51 erfüllte. Anhand von vor dem Stichdatum 1879 erschienenen Schriften lässt sich nachweisen, dass der rassisch bezogene Antisemitismus bereits in den 1840er und 1850er Jahren ein gängiges Thema darstellte. In einer 1861 zuerst anonym, dann unter dem Pseudonym H. Naudh veröffentlichten Hetzschrift wurde explizit darauf hingewiesen, dass „mehrtausendjährige Abschließung und Inzucht“ den jüdischen „Racentypus“ 52 gefestigt hätten. Wenn auch kaum davon auszugehen ist, dass Stolz die Schriften der französischen Antisemiten kannte, so ist die Ähnlichkeit der körperbezogenen Darstellung der Juden innerhalb des europäischen Antisemitismus dennoch auffällig. Die Auffassung von Stolz, die „Juden im Orient“ seien im Gegensatz zu den deutschen Juden allein schon wegen deren „unangenehme[r] Eigentümlichkeit“ des Gesichtes „viel schöner“, 53 weist Parallelen zu Arthur de Gobineau auf. Für ihn waren die Juden in Deutschland kleiner und schmächtiger als die europäische Rasse, während ihre Männlichkeit im Gegensatz zu den anderen Rassen umso früher ausgeprägter war. 54 Die von Gobineau 1853 anhand des Klimas vorgenommene physiologische Differenzierung der arabischen, französischen, deutschen und polnischen Juden und die damit verbundene Parallele zwischen moralischer und körperlicher Hässlichkeit 55 fanden innerhalb des frühen rassischen Antisemitismus Bestätigung. Das „Judengesicht“ 56 als Bezeichnung für eine abstoßende Physiognomie galt für Stolz neben dem den Juden angedichteten Schmutz als Zeichen der Trägheit. 57 49 B ENZ , in: Handbuch, Stichwort: Frühantisemitismus, 96-99. 50 B ERGMANN / W YRWA , Antisemitismus, 4. 51 A LBRECHT , Preußen, 456, 471f. 52 N AUDH , Juden, 24. 53 S TOLZ , Kalender 1881, 519. 54 G OBINEAU , Essai, 207. 55 Ebd., 206f. 56 S TOLZ , Kalender 1881, 15. Der rassische Antisemitismus bei Alban Stolz 71 Fast derselbe Wortlaut lässt sich bereits 1791 bei Kurt Wilhelm Friedrich Grattenauer, Redakteur des „Schlesischen Inteligenzblattes“ in Breslau 58 finden, „Unsauberkeit und Schmutz“ würden Juden unfähig zu „bürgerlichen Handthierungen“ machen. 59 Schönheit wurde, wie in der Schrift des Schweizer Pfarrers und Philosophen Johann Caspar Lavater, gleichgesetzt mit „Wohlgefallen, Achtung, Liebe“, während Hässlichkeit eine abschreckende und ekelerregende Reaktion bewirkte. 60 Die Überhöhung der indoeuropäischen und somit der arischen Rasse, die für Edouard Drumont als einzige Sinn für Schönheit, Gerechtigkeit und Freiheit aufwies, 61 diente dazu, die christliche Zivilisation zur einzig bedeutenden zu erheben, da alle Fortschritte der Menschheit allein auf der christlichen Religion basierten. Die „Semiten“ beuteten diese Errungenschaften lediglich aus und seien selbst ohne jegliche Kultur 62 . Das Schöne als die „göttliche, ursprüngliche Idee“ wurde somit als Gegenpol zu dem Hässlichen als „Negation“ dieser göttlichen Idee verstanden, wobei vor allem das Schöne als die „Macht“ interpretiert wurde, das Hässliche zu unterwerfen. 63 Durch die Beschreibung der „jüdischen Jünglinge“ in Jerusalem als „ganz weiblich“ mit langen dünnen Haarlocken, die wie „ein kleiner Zopf“ herabhingen, sowie der „langen bartlosen Gesichter“ 64 wurden den männlichen Juden feminine Züge angedichtet und damit der geschlechtliche Bereich für die Entwicklung von rassischen Feindbildern benutzt. Auch hier reihte sich Stolz in eine lange Tradition judenfeindlicher Klischees ein. So wies der preußische Arzt Johann Peter Trusen im Jahr 1853 neben der „Knabenschande (Paederastie)“ noch auf die bei den „Israeliten“ angeblich weitverbreitete Onanie und den Hang zur Homosexualität hin. Vor allem wurde die Beschneidung, für Trusen „die Verstümmelung der natürlichen Decke der so nervenreichen Glans“, als inhuman und als „Opferakt vorchristlicher Zeiten“ angesehen. Damit sprach er den Juden das Anrecht ab, Bürger von zivilisierten Staaten zu werden. 65 Indem die Juden als „chronische Masturbanten gebrandmarkt wurden“, stand das „Weibliche“ im Juden im Gegensatz zu dem Männlichen „als zentrale gesellschaftliche[r] Norm“. 66 Der Vormachtstellung des Mannes, dem hegemonialen Männlichkeitskonzept standen somit die „Anti-Typen“ als „Feindbild“ gegenüber. 67 57 S TOLZ , Kleinigkeiten, 95. 58 Zu Grattenauer: Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 7, 554f. 59 G RATTENAUER , Physische und moralische Verfassung, 7. 60 L AVATER , Fragmente, 179-183. 61 D RUMONT , La France juive, 6. 62 Vgl. ebd., 33. 63 Vgl. R OSENKRANZ , Ästhetik, 7. 64 S TOLZ , Besuch, 308. 65 T RUSEN , Sitten, 131, 151. 66 H ÖDL , Genderkonstruktion, 87. 67 S CHMALE , Männlichkeit, 152. Tanja C. Muller 72 Der geschlechtliche Bereich, insbesondere die Benutzung „diffamierender Sexualbilder“ und somit der „Gleichsetzung mit Weiblichkeit“ 68 eignete sich innerhalb des rassistischen Antisemitismus besonders gut für die Entwicklung von Feindbildern. Maßgebend für die sexuelle Diffamierung der Juden, wie sie von Stolz vorgenommen wurde, war die generell christliche Verurteilung von Sexualität. Bei Stolz wurde diese Ablehnung durch eine zusätzliche Feindschaft gegenüber den Frauen verstärkt, die er als „hitzig“ oder als eitel und charakterlos bezeichnete. Zusätzlich machte sich eine als neurotisch zu definierende Abneigung gegenüber der „Verliebtheit“ bemerkbar, die er in seinem Kalender aus dem Jahr 1873 als „Narrheit“ und „Sünde“ verurteilte. Der „Ehestand“ wurde zwar als von Gott eingesetzt und im Neuen Testament als „zu einem Sakrament erhoben“ angesehen, andererseits als „eine gefährliche Geschichte“ mit einem manchmal „bitterbösen Verlauf“ verstanden. Demzufolge riet der Kalender den verheirateten Männern, „das Kreuz in Geduld“ zu tragen, da es „zu einem christlichen Leben […] gehört“. 69 In seiner Eloge auf Stolz erkannte Oskar Köhler zwar bei diesem „zeitlebens […] abgründiges Mißtrauen gegen das weibliche Geschlecht“, da in dem weiblichen Geschlecht, „wenn es sich nicht um Nonnen handelte, die Sexualität verkörpert war“, doch bezog er diese Sexualfeindlichkeit auf die „lange Vorgeschichte in der Kirche“. 70 Sexualität und „sexueller Rausch“ wurden generell nicht nur als „unmännlich“, sondern „zugleich auch als implizit gegen die Gesellschaft gerichtet“ angesehen und derjenige, der seine „Leidenschaften" nicht beherrschen konnte, wurde als „abnorm" verurteilt. 71 So wies der Berliner Professor für Anatomie Johannes Müller 1840 auf die „in unseren Gegenden“ bereits im Alter von neun Jahren eintretende Menstruation der „Judenmädchen“ hin, wobei die „Mannbarkeit“ beim „weiblichen Geschlecht“ erst generell im Alter von dreizehn bis fünfzehn Jahren in Erscheinung trete. 72 Eine geschlechtliche Frühreife hatte neun Jahre zuvor auch der Franzose Cuvier bei dem „Homo arabicus“ festgestellt. Für ihn wurden die „Weiber […] oft schon im neunten Jahr mannbar“, spätestens im „dreizehnten“, wobei die „Polygamie“ damit begründet wurde, dass die „Mannbarkeit“ der Frauen ab dem dreizehnten Lebensjahr rasch abnehme. 73 Die Frauenverachtung von Stolz kam vor allem in dem Buch „Witterungen der Seele“ zum Vorschein, in dem er eingestand, gegenüber einzelnen Personen des weiblichen Geschlechts eine gewisse „oberflächliche Achtung und Zuneigung“ zu empfinden, zugleich „dieses Geschlecht“ allerdings „im Ganzen“ mehr zu „verachten als recht ist“. Sofern Stolz „je mit Verliebtheit verwandte Gefühle“ hatte, waren sie seiner Auffassung nach „höchst oberflächlich und unstät“. 74 Hingegen drücke sich 68 B RAUN , Säkularisierung, 9. 69 S TOLZ , Kalender 1874, 32-40. 70 K ÖHLER , Alban Stolz, 53f. 71 M OSSE , Nationalismus, 20. 72 M ÜLLER , Physiologie, 639. 73 C UVIER , Thierreich, 64. 74 S TOLZ , Witterungen, 359. Der rassische Antisemitismus bei Alban Stolz 73 „Mannhaftigkeit“ dadurch aus, „von sexueller Leidenschaft frei zu sein“ und „die Sinnlichkeit zu sublimieren“. 75 Die Unfähigkeit zur Triebbeherrschung wurde vor allem auf die Außenseiter, als welche die Juden angesehen wurden, projiziert und als Bedrohung für die Gesellschaft angeprangert. Männlichkeit, welche die Beherrschung der sexuellen Triebe einschloss, wurde somit als Garant für Ordnung und Sicherheit angesehen. So wurde bei Stolz der Mann als „Welt“ und als „Gott seines Weibes“ verstanden, da „der Mann […] mit seinem Denken, Wünschen und Streben in der Welt oder auch in Gott“ sei, wogegen „das Weib […] im Mann“ 76 lebe. Innerhalb dieses hegemonialen Männlichkeitsmodells, in dem sowohl das Ideelle als auch das Moralische durch „überlegene Männlichkeit markiert“ waren, mussten die männlichen Juden als „verweiblicht“ erscheinen, denn sie verhielten sich der antisemitischen Auffassung nach wie Frauen und nicht als Männer, da sie ihre Leidenschaften nicht zähmen konnten. Das Männlichkeitsbild von Stolz sah den „Jüngling“ selbst dann „in seinem Aeußern schon“ als „etwas Schönes und Liebenswertes“ an, „wenn er auch der Gesichtsbildung nach nicht schön ist“. Während allein „Geist und Kraft der Mannheit“ für Stolz genügten, um „sein ganzes Wesen“ zu „veredeln, […] auch den Leib“, reichte die „leibliche Ausstattung“ bei den „Mädchen“, sofern sie „schlecht ist“, aus, um die „Mädchen“ als „gering“ zu achten. Dies genügte Stolz, um „den Mann […] als Geschlecht schön, das Weib nur als Individuum“ anzusehen. 77 Hier dürfte eine als neurotisch zu bezeichnende Ablehnung des eigenen Körpers maßgebend gewesen sein, denn nach seinem Biografen Hägele hatte „die äußere Erscheinung von Stolz […] nichts Blendendes“. Da Stolz „klein und schmächtig von Gestalt“ und „seine Gesichtsfarbe in den letzten Jahrzehnten eine fahle“ war, entsprach er nicht dem von ihm selbst entworfenen Männlichkeitsideal. Hägele zufolge hatte Stolz 1843 „eine zartgebaute Gestalt mit schönem edlem Gesichte und rosig angehauchten Wangen“, außerdem sei er „von Natur aus schüchtern, ja in seiner Kindheit feig, feig nach allen Beziehungen“ 78 gewesen. Keineswegs dem Idealbild eines Mannes entsprechend war die sowohl von seinem Biografen Hägele 1884 als auch von Stolz 1876 selbst beschriebene Angst vor der Rekrutierung in die Armee, 79 wobei davon auszugehen ist, dass Stolz´ schwächliche Konstitution ohnehin eine Wehruntüchtigkeit implizierte. Die eigene körperliche Unvollkommenheit, die dem männlichen Idealbild widersprach, wurde somit auf die Juden übertragen und dadurch das mangelnde Selbstgefühl gestärkt. Ahnliches lässt sich auch bei Edouard Michelis, der als „kleiner, kränkelnder Mann“ beschrieben wurde, als auch bei Nikolaus Breisdorff, der „nicht stärker an Körper“ 80 als sein Vorgänger Michelis, feststellen. Die schwache körperliche Konstruktion sowohl bei Stolz, Michelis als auch bei Breisdorff, der „während seiner Studienzeit vielfach kränkelte […] und 75 M OSSE , Nationalismus, 20-23. 76 S TOLZ , Witterungen, 322. 77 Ebd., 440. 78 H ÄGELE , Stolz, 1-7. 79 Dazu H ÄGELE , Stolz, 19f.; S TOLZ , Dürre Kräuter, 195. 80 G REGOIRE , Schriftleiter-Silhouetten, 9, 29. Tanja C. Muller 74 seiner schwächlichen Constitution wegen nur Geringes […] in der Seelsorge leisten konnte“, 81 führte somit zu einer Aversion gegenüber dem eigenen Körper und zu einer Übertragung auf die Juden als „Anti-Typus des hegemonialen Männlichkeitsmodells“. 82 Somit entspricht die sowohl von Stolz in seinen Kalendern als auch von Michelis und Breisdorff innerhalb des „Luxemburger Wort“ vertretene Judenfeindlichkeit zu einem wesentlichen Teil der Deutung von Béla Grunberger aus dem Jahr 1962, die „Antisemiten“ hätten sich „hauptsächlich aus der Reihe der Schwachen, der Möchtegerne, der Gezeichneten, […] alles Opfer narzißtischer Wunden, die sie nicht ertragen können“, 83 rekrutiert. Den jüdischen Männern, die generell negativ dargestellt wurden, wurden die Frauen, insbesondere die noch ganz jungen Jüdinnen, als schön und mit einem „edlen Kopfbau“ 84 gegenübergestellt. So beschrieb Stolz das „dreizehnjährige Mädchen aus der Taubstummenanstalt von Prag mit einem schönen, geistreichen Gesicht“. Irritiert zeigte sich Stolz allerdings darüber, dass dieses so edle Wesen ein „Judenmädchen“ war, weil ein Mensch, der nicht betete, im Bezug auf Gott taubstumm war, da er ohne Gebet die „Einsprechungen Gottes“ 85 nicht vernehmen könne. Eine spezifische und gradlinige Festlegung auf ein Thema lässt sich innerhalb der Schriften von Alban Stolz nicht ausmachen. Unterschiede zwischen der 1843 beginnenden antijüdischen Polemik und somit dem „Frühantisemitismus“, wie er von Michael Behnen 1976 86 und von Nicoline Hortzitz 1988 definiert wurde, zu dem modernen Antisemtismus ab 1879 lassen sich nicht erkennen. Vielmehr ist ein fließender Übergang zwischen einem sozialen Aspekt, dem Schutz der katholischen Bevölkerung vor der wirtschaftlichen Ausbeutung durch die Juden, mit einem rassisch begründeten Antisemitismus ab den ersten Schriften feststellbar. Die Übernahme von vorhandenen, teilweise auf das Mittelalter zurückgehenden Feindbildern erlaubte es, diese mit pseudowissenschaftlichen, anthropologischen Argumentationen zu vermischen. Die Übernahme von traditionellen Feindbildern, Mythen und Legenden wie dem jüdischen „Ritualmord“ durch den modernen Antisemitismus ermöglichte es somit sowohl Alban Stolz als auch den geistlichen Redakteuren des „Luxemburger Wort“, den Mythos vom ausbeuterischen, blutsaugenden Juden für antisemitisches Gedankengut auszunützen. Die von Yehuda Bauer 1992 vorgeschlagene Differenzierung zwischen dem „spätmittelalterlichen Judenhaß und der frühen Neuzeit“ 87 ist insofern in Frage zu stellen, als sich zwischen dem sogenannten „Frühantisemitismus“ und dem ab 1879 beginnenden modernen Antisemitismus kaum Unterschiede feststellen lassen. Die gegen den jüdischen Reichtum geführte Polemik trat bei Stolz vor allem im Kalender von 1874 in Erscheinung, und dieser ist, abgesehen vom Umfang, vor 81 B LUM , Rückblick, 147f. 82 S CHMALE , Männlichkeit, 231. 83 G RUNBERGER , Antisemit, 262. 84 S TOLZ , Besuch, 17. 85 S TOLZ , Dürre Kräuter, 23. 86 Vgl. B EHNEN , Probleme; H ORTZITZ , Judenfeindschaft. 87 B AUER , Judenhaß, 79. Der rassische Antisemitismus bei Alban Stolz 75 allem durch die hier benutzte Sprache und die übertriebene Demagogie als die wohl drastischste Publikation von Stolz anzusehen. 88 Generell passte sich Stolz allerdings jeweils dem politischen Wandel des Zeitgeistes an. Seine stereotypischen antijüdischen Äußerungen beruhten weniger auf persönlichen Erfahrungen mit Juden als vielmehr auf übernommenen Vorurteilen. In seiner antijüdischen Einstellung unterschied sich Stolz demzufolge nicht von anderen Antisemiten und auch nicht von dem antijüdischen Bild des „Luxemburger Wort“ und dessen Redakteuren. Wendete sich Drumont mittels seiner antisemitischen Schrift „La France Juive“ an eine intelligente Leserschaft, 89 so richteten sich die von Stolz verfassten Kalender an eine weniger belesene Bevölkerungsschicht, die von Stolz selbst als nicht besonders gebildet und nur mit einem eher bescheidenen Geist ausgestattet bezeichnet wurde. 90 An eine wenig belesene Zielgruppe richtete sich ebenfalls das „Luxemburger Wort“, wobei die zwecks Manipulation benutzte Sprache gelegentlich groteske, an Groschenromane erinnernde Formen annahm. Schlussfolgernd lässt sich feststellen, dass alte Motive wie der Christusmord und die Ritualmordbeschuldigung von den Antisemiten wie Alban Stolz als auch den Redakteuren des „Luxemburger Wort“ erneut aufgegriffen und modernisiert wurden, um den Antisemitismus „in jede Hütte“ 91 zu tragen. Wenn auch für Langer „judengegnerische Bemerkungen bei Stolz […] häufig nebenbei“ und „nicht systematisch entfaltet“ 92 stattfanden, so ist dennoch, wie innerhalb des „Luxemburger Wort“, die Regelmäßigkeit der antisemitischen Äußerungen maßgebend. Literatur Alban Stolz 1808-1883. Ein Beitrag der Großen Kreisstadt Bühl zum 100. Geburtstag, hrsg. von der Kreisstadt Bühl, Bühl 1983. A LBRECHT , H ENNING : Preußen, ein „Judenstaat“. Antisemitismus als konservative Strategie gegen die „Neue Ära“ - Zur Krisentheorie der Moderne, in: Geschichte und Gesellschaft 5 (2011), Heft 37, 455-481. B AUER , Y EHUDA : Vom christlichen Judenhaß zum modernen Antisemitismus, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 1 (1992), 77-90. B EHNEN , M ICHAEL : Probleme des Frühantisemitismus in Deutschland (1815- 1848), in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 112 (1976), 244-279. B ENZ , W OLFGANG (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus: Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin 2010. 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Dabei fiel mir auf, dass auch Ulrich von Hutten im Rahmen des Reichstags 1518 in Augsburg war und seine Erlebnisse in einigen Schriften verarbeitet hat, die merkwürdigerweise in Augsburg nicht weiter bekannt sind. Das Judentum ist nicht eigentlich Huttens Thema. Sein großer politischliterarischer Kampf war gegen die religiöse und politische Macht der katholischen Kirche gerichtet. Dieser Auseinandersetzung gilt ein Großteil seiner Schriften. Mit dem Judentum setzt er sich, wenn überhaupt, dann in diesem Rahmen auseinander. Eine der Fragen, die ihm wichtig scheinen, ist die türkische Frage. Für einen Krieg gegen die Türken setzt er sich in seiner „Türkenrede“ zum Augsburger Reichstag 1518 ein. Auseinandersetzung mit dem Islam, mit dem Judentum, mit dem Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland - man kann den Eindruck gewinnen, wären damals die Probleme auf vernünftige Weise gelöst worden, dann hätten wir sie heute nicht mehr. Aber so leicht können wir es uns wohl nicht machen. Es sind mehr als 60 Schriften bekannt, die zu Huttens Lebzeiten veröffentlicht wurden und deren Autor oder Ko-Autor er war, 60 Schriften aus einem Zeitraum von 15 Jahren. Es ist aber für Nicht-Altphilologen wie mich noch heute nicht wirklich möglich, sich ein gültiges Bild von seinen Auffassungen zu machen, da der Großteil seiner Schriften auf Latein verfasst wurde. Erst drei Jahre vor seinem Tod begann er auch auf Deutsch zu veröffentlichen, dies in dem gespaltenen Bewusstsein, dass er einerseits auf diesem Weg eine größere Öffentlichkeit erreichen konnte, andererseits aber sein Deutsch zu diesem Zeitpunkt nicht die Eleganz seines Latein hatte - das Deutsche musste zur Literatursprache erst herangebildet und geformt werden. Michael Friedrichs 82 2. Lebensdaten Hutten führte ein unstetes Leben. Er war praktisch immer unterwegs. 1 Geboren ist er am 21. April 1488 vormittags um halb zehn als erstes Kind des Ritters Ulrich von Hutten und seiner Frau Ottilie von Eberstein auf Burg Steckelberg bei Schlüchtern. Froh wären wir, wenn wir über alle Zeiten seines Lebens so präzise Bescheid wüssten wie über diesen Anfang. Schon zu seinem Schulbesuch stellt sich die erste Frage - er hat die Stiftsschule der Benediktinerabtei Fulda besucht, aber ob bis 1503 oder bis 1505, ist unklar. Ab 1505 hat er studiert, zunächst wahrscheinlich in Mainz, ab Oktober 1505 in Köln, und zwar Latein und Griechisch. 1506 erlebt er in Erfurt den ersten Kontakt mit Humanisten, darunter Crotus Rubeanus und Eobanus Hessus, mit denen sich eine lebenslange Freundschaft entwickelt. Ab Sommer studiert er in Frankfurt an der Oder und erwirbt dort sein philosophisches Bakkalaureat. Er setzt seine Studien fort und geht 1507/ 08 mit seinem Lehrer nach Leipzig, wo er bereits erfolgreich doziert. Er verlässt aber Leipzig überstürzt, noch 1508 oder Anfang 1509; es gilt als sicher, dass er sich dort mit der Syphilis infiziert hat. Die Syphilis war damals eine neue, unheilbare Krankheit, die sich rasch ausbreitete und an der Hutten schließlich unter großen Qualen starb. Wohin Hutten sich zunächst wendet, ist unklar; im Spätsommer 1509 ist er in Greifswald, immatrikuliert sich, kann die Lebenshaltungskosten nicht bezahlen und geht nach Rostock. Auf dem Weg dorthin wird er überfallen und seiner Kleidung sowie mitgeführter Dichtungen beraubt. Von Rostock geht er wieder nach Frankfurt/ Oder, dann nach Wittenberg, wo er bis zum Frühjahr 1511 bleibt; die nächste Station heißt Wien, das er nach einem Streit mit dem Rektor Anfang 1512 wieder verlässt. Im März beginnt er ein Jurastudium an der Universität Pavia. Wegen Kriegswirren wird die Universität geschlossen; Hutten wird gefangen genommen und muss sich freikaufen. Er schreibt erste politische Gedichte, flüchtet nach Bologna und studiert dort etwa ein Jahr lang Jura sowie Rhetorik und Poesie. 1 Hauptquelle für diesen Abschnitt: N ETTNER -R EINSEL , in: Katalog 1988. Petrarca-Meister (? ), Ulrich von Hutten. Ulrich von Hutten und das Judentum 83 1513 erreicht ihn wegen des Krieges keine Geldsendung aus Deutschland mehr, er tritt in das kaiserliche Heer Maximilians ein. Über das Kriegsgeschehen verfasst er reportageähnliche Gedichte. Im November werden die Kämpfe eingestellt, und er kehrt nach Deutschland zurück, auf die Burg Steckelberg, erstmals seit 15 Jahren. Er erhält durch Vermittlung von Freunden ein Amt als eine Art Sekretär von Albrecht von Brandenburg, in dessen Auftrag er viel reist. Albrecht stellt ihm 1515 auch die Geldmittel für eine zweite Reise nach Italien zur Verfügung, eine Art Stipendium: Hutten will das juristische Studium in Rom fortsetzen und anschließend nach Mainz zurückkehren. In Rom sieht Hutten die im Bau befindliche Peterskirche und beobachtet die Auswüchse des Ablasshandels. 1516 setzt er sein Studium in Bologna fort und schließt weitere Freundschaften mit Humanisten. Wegen einer Auseinandersetzung an der Universität verlässt er Bologna und geht nach Ferrara, wird aber 1517 von Verwandten nach Venedig gerufen, die ihn veranlassen wollen, an einer Fahrt ins Heilige Land teilzunehmen. In Venedig wird er von jungen Adligen und Humanisten freundlich aufgenommen. Er bricht aber bald nach Augsburg auf, wo er - auf Empfehlung von Conrad Peutinger - am 12. Juli 1517 von Kaiser Maximilian zum Poeta laureatus gekrönt wird, sicherlich ein Höhepunkt seines Lebens. Maximilian stellt ihn unter den besonderen rechtlichen Schutz des Reiches. Im Herbst wird Hutten kurmainzischer Hofrat im Dienst Albrechts von Brandenburg und er geht in dieser Funktion nach Frankreich, wo er weitere Bekanntschaften mit Humanisten schließt. Anfang Februar 1518 kehrt er nach Mainz zurück, nun mit Vorbereitungen des Reichstags in Augsburg beschäftigt. Während des Reichstags unterzieht er sich in Augsburg einer extrem belastenden Guajakkur gegen die Syphilis, danach glaubt er sich zunächst geheilt. 1519 stirbt Kaiser Maximilian. Hutten nimmt an einem Feldzug gegen den Herzog von Württemberg teil, der Huttens Vetter ermordet hat. Er begleitet Albrecht zur Königswahl Karls V. in Frankfurt, später wird er vom Hofdienst befreit, um sich seinen Studien widmen zu können. 1520 ist er in Brüssel und Brügge, erhält jedoch weder bei Ferdinand von Österreich noch bei Karl V. eine Audienz. Inzwischen ist die Bannbulle von Papst Hans Weiditz (? ), Ulrich von Hutten. Michael Friedrichs 84 Leo X. gegen Luther erlassen, die auch gegen Hutten gilt. Hutten wird von Freunden vor Nachstellungen gewarnt. Er begibt sich in den Schutz von Franz von Sickingen und entfaltet eine rege Korrespondenz. 1521 beginnt er in deutscher Sprache zu schreiben und ist auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Am Reichstag zu Worms nimmt er, wohl aus Vorsicht, nicht teil. 1522 wollen Hutten und Sickingen die Vorherrschaft des Territorialfürstentums brechen und das geistliche Kurfürstentum Trier annektieren, was misslingt. Hutten muss flüchten, seine Habe einschließlich literarischer Werke wird in Heidelberg verkauft. Er geht nach Basel und Zürich, wird von vielen gemieden (vermutlich haben nicht nur die politischen Umstände, sondern auch die offenbar ekelerregenden Symptome seiner Erkrankung zu dieser Isolierung beigetragen), er findet Zuflucht auf der Insel Ufenau im Zürichsee, wo er etwa am 29. August 1523 stirbt. 3. Schriften Die früheste Schrift Huttens stammt von 1507: ein Lobgedicht auf seinen Humanistenfreund Eobanus Hessus. 2 Auch andere frühe Schriften sind allgemein-literarischer Natur, allerdings mit moralischem Einschlag, etwa eine „Elegische Ermahnung […] über die Tugend“ von 1507, eine in Hexametern verfasste Schrift über die Verskunst, „De Arte Versificandi“ von 1511 (bis 1560 sind davon 60 Auflagen erschienen). Im gleichen Jahr 1511 beginnt er, als Autor in das politische Tagesgeschehen einzugreifen, mit einer „Ermahnung an den göttlichen Kaiser Maximilian […], als er in den Krieg gegen Venedig zog“. Darin argumentiert Hutten, das Friedensangebot Venedigs an den Kaiser sei eine Finte, um Zeit für die Aufrüstung zu gewinnen. 1514 folgt ein Lobgedicht auf den Humanisten Johannes Reuchlin, der einen (nur vorläufigen) Sieg in der 2 Dieser Abschnitt stützt sich insbesondere auf S PELSBERG , in: Katalog 1988. Ulrich von Hutten, Gespräch buechlin (Straßburg: Johann Schott 1521). Ulrich von Hutten und das Judentum 85 Frage der jüdischen Schriften errungen hatte. 3 Und ebenfalls 1514 schrieb und veröffentlichte er Verse über einen in Halle getauften Juden namens Johannes Pfefferkorn, der dort bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Aber nicht über das Verfahren entrüstet sich Hutten, sondern über angebliche Zauberkünste dieses Justizopfers. Demnach hat Huttens Humanismus aus heutiger Sicht enge Grenzen, das Mittelalter ist keineswegs überwunden. 4 Dieser Johannes Pfefferkorn (aus Halle) ist nicht identisch mit dem Johannes Pfefferkorn aus Köln, dem Gegenspieler von Reuchlin im Judenbücherstreit. 1516 war Hutten der maßgebliche Autor einer Fortsetzung der „Epistolae obscurorum virorum“, der Dunkelmännerbriefe; als Hauptautor des ersten Teils gilt Huttens Freund Crotus Rubeanus aus Thüringen. Dieses Werk gilt als bedeutende Satire, als Teil der Weltliteratur. 1516/ 17 entwarf er einen Dialog zum Ruhm des Cheruskerfürsten Arminius; diese Schrift wurde erst posthum gedruckt und soll die Initialzündung für den bis heute anhaltenden deutschen Hermann-Kult gewesen sein. Sein Erfahrungsbericht über die sogenannte Französische Krankheit und deren Therapie mittels Guajakholz, geschrieben 1518, war in der medizinischen Literatur 3 Siehe nachfolgend den Abschnitt „Judenbücherstreit“. 4 Vgl. S PELSBERG , in: Katalog 1988, 420: „Es handelt sich bei diesem Gedicht um eine Quelle zur Geschichte des Rechts und des Aberglaubens, die auch zeigt, wie sehr Hutten bei all seinen humanistischen Idealen der spätmittelalterlichen Gedankenwelt verhaftet war“. Hutten und Luther als Vorkämpfer der christlichen Freiheit (Straßburg: Johann Schott 1521). Michael Friedrichs 86 lange Zeit ein Standardwerk. Seine beiden Dialoge über das Fieber, von dieser Krankheit hervorgerufen, wurden im selben Jahr verfasst und zunächst lateinisch veröffentlicht, dann auf Deutsch, wobei nicht klar ist, ob die deutsche Fassung von Hutten selbst stammt. Es handelt sich, formal in der Tradition von Lukians Göttergesprächen, um satirische Angriffe auf Jakob Fugger und auf den Ankläger Luthers, Kardinal Cajetan. Als Hutten 1520 im Zusammenhang mit der Bannbulle gegen Luther ebenfalls vom Bann erfasst wird, hat er die Stirn, diese Bulle mit eigenen satirischen Randglossen zu veröffentlichen. In zwei Schriften protestierte Hutten gegen die Verbrennung von Werken Martin Luthers, 1520 auf Lateinisch und Ende des Jahres auch auf Deutsch: „Eyn Klag über den Luterischen Brandt zu Me¯tz“. Auch zwei Briefe an Luther ließ Hutten drucken. Von sympathisierenden Zeitgenossen wurden Luther und Hutten teilweise gleichrangig gesehen. Es folgten noch einige kleinere Schriften, darunter ein Bündnisangebot an die Städte gegen das Territorialfürstentum und eine Kritik an Erasmus von Rotterdam, ehe er 1523 im Alter von 35 Jahren starb. 4. Judentum Wie war damals die Situation der Juden in Bayern und insbesondere in Augsburg? Es gibt Forschungen hierzu, aber die Quellenlage ist so dürftig, dass wichtige Fragen völlig ungeklärt sind. Bekannt ist: Am 22. November 1348, einem Schabbat, wurden fast alle in Augsburg lebenden Juden in einem Pogrom ermordet; es überlebten nur wenige, die sich gerade außerhalb der Stadt befanden. 5 Nutznießer waren der Stadtrat, der Bischof und Adlige, die dadurch ihre Schulden bei Juden loswurden. Über die Ansiedlung von Juden konnte künftig vom Stadtrat entschieden werden. 1434 erwirkte der Rat bei Kaiser Sigismund die Verordnung, dass die Juden in der Öffentlichkeit für alle sichtbar einen gelben Ring tragen mussten, weil wegen ihrer Tracht angeblich sonst Verwechslungsgefahr mit den Priestern bestand. 1439 wurden in Augsburg die ungefähr 300 jüdischen Einwohner mit Erlaubnis des Kaisers ausgewiesen. Sie durften die Stadt nur noch tagsüber und gegen Bezahlung betreten. Spätestens 1440 wohnte kein Jude mehr in Augsburg; nach 1445 wurde auch der Judenfriedhof nicht mehr genutzt; die Grabsteine wurden für den Bau des alten Rathauses verwendet. 6 Später wurden - belegt seit 1536 - auf Antrag Passierscheine für einen befristeten Aufenthalt ausgestellt. 7 In einem Privileg Kaiser Friedrichs III. vom 5. November 1456 wird der Stadt Augsburg gestattet, beliebig viele Juden aufzunehmen und sie auch als Hausbesitzer 5 S CHIMMELPFENNIG , Christen und Juden, 32. 6 Ebd., 37. 7 J OISTEN -P RUSCHKE , Die Geschichte der Juden, 284. Ulrich von Hutten und das Judentum 87 wohnen zu lassen; die Stadt darf sie auch vertreiben, aber ohne ihnen körperliches Leid zuzufügen. 8 In etwa diesem engen Rahmen haben Juden wohl nach 1500 in Augsburg tätig werden können. Joisten-Pruschke kommt zu dem Ergebnis: „Unstrittig ist, dass in der Zeit nach 1440 bis 1803 sich täglich jüdische Händler und Hausierer in Augsburg aufhielten. Unklar ist, ob es sich dabei um ‚vereinzelte‘ Aufenthalte oder um eine nicht zu unterschätzende Anzahl von jüdischen Händlern und Hausierern handelte.“ 9 Damals kursierten in der Reichsstadt und anderswo diverse Flugschriften für und gegen Juden. Die Angst, der Antichrist würde sich der Juden bemächtigen, ist ein Leitthema der Zeit bis hin zum späten Luther. Die Erwartung ist verbreitet, das Ende der Welt stehe unmittelbar bevor. Nehmen wir als weiteres Beispiel Schedels Weltchronik von 1493. Da liest man auf Blatt CCLVII verso: „Wiewol das öde jamerig und trostlose volck die iude¯ in vergangnen zeite¯ an vil ende¯ teutscher land und andrer gegent. und sundlich zu Preßlaw Passaw unnd Rege¯ spurg etc. mit dem allerheiligste¯ sacrame¯t vergessenlich schmahlich und unwirdiglich geha¯delt habe¯ daru¯ b dañ auch an inen solch ubel taten ungerochen nicht bliben sind yedoch yetzo nehst nach der gepurt Cristi. M.cccc.xcij. iar am .xxij. tag des monats Octobris in der statt Sternberg under der herzoge¯ vo¯ Meckelnburg fürsthenthumb gelegen haben Eleazar ein iud vu¯ sein mitverwandten durch eine¯ briester Petrus genant das allerheilligst sacrament des fronleichnams Cristi in einer größern uñd klainern hostia zu inen gebracht. und dieselben hostien durchstochen 8 B AER , Zwischen Vertreibung und Wiederansiedlung, 112. 9 J OISTEN -P RUSCHKE , Die Geschichte der Juden, 279. Schedels Weltchronik, Blatt CCLVII verso (Ausschnitt). Michael Friedrichs 88 also das dz plut alßbald herauß floße und ein leineins weiß tuch davon plütfarb ward. Als nw die iuden ab solchem wunderzaichen erschracken do trügen sie es wider zu de¯ benanten briester Petro. und als aber die ding an die durchleuchtigen hertzogen Balthazarn und Mangen gebriedere gelangt. sich der ding erkundigten und die narbe¯ der wu¯ den uñ stich sahen do hießen sie nach den iuden greiffen und dieselben als schmeher der götlichen maiestat cristi und unßers glawbens verprennen.“ Hostienfrevel ist einer der Standardvorwürfe gegen Juden. Das dazugehörige grauenvolle Bild ist insgesamt zwölf Mal in Schedels Weltchronik abgedruckt. 5. Reuchlin und der Judenbücherstreit Kommen wir nun zu einer großen gesellschaftlichen Streitfrage, die damals lebhaft diskutiert wurde und die, wie ich meine, im Grunde bis in die Gegenwart fortwirkt. Es geht um den sog. Reuchlinstreit oder auch „Judenbücherstreit“. 10 Johann Pfefferkorn, als Jude geboren und in Köln etwa 1504 zum Christentum konvertiert, glaubte sich berufen, seine früheren Glaubensbrüder ebenfalls zur Konversion bringen zu können. Hinter ihm stand Jakob van Hoogstraten, Dominikaner in Köln, 1496 zum Priester geweiht, Prior des dortigen Konvents, Professor der Theologie, ab 1507 Inquisitor für die Erzbistümer Köln, Mainz und Trier. Es war die Absicht Pfefferkorns, die hebräischen Bücher mit Ausnahme des Alten Testaments zu beschlagnahmen und zu vernichten, die Juden also ihres glaubensmäßigen schriftlichen Fundaments zu berauben. Wieweit er eigenverantwortlich handelte und wieweit als Instrument des Kölner Klerus, ist nicht ganz klar. Jedenfalls erwirkte er am 19. August 1509 ein diesbezügliches kaiserliches Mandat, das Kaiser Maximilian allerdings bald wieder zurücknehmen musste, da sich großer Widerstand zeigte. Schließlich wurden u.a. die Universitäten Köln, Mainz, Erfurt und Heidelberg, der päpstliche Inquisitor sowie Johannes Reuchlin aufgefordert, Gutachten über diese Frage zu erstellen. Das Gutachten Reuchlins wandte sich als einziges uneingeschränkt gegen das Vorhaben der ungeprüften Bücherkonfiskation. Er sah das in diesen Büchern verkörperte Hebräisch als Sprache Gottes an, ja er glaubte in ihnen, vor allem in der mystischen Kabbala, Niederschläge einer mündlichen Offenbarung zu erkennen, welche möglicherweise die Grundlage für eine Bekehrung der Juden eröffnen könnte. Reuchlin hatte sich zu einem der führenden christlichen Hebraisten Europas entwickelt. 1506 veröffentlichte er ein Lehrbuch für die hebräische Sprache: „De rudimentis hebraicis“, das neben einer Grammatik auch ein zweibändiges Lexikon enthält. Mit seiner Feststellung, die Juden seien Mitbürger der Christen, widersprach er der kirchlichen Lehre der servitus Iudeorum, der Knechtschaft der Juden. 10 Hierfür stütze ich mich auf R HEIN , Reuchlin sowie auf O BERMAN , Wurzeln des Antisemitismus. Ulrich von Hutten und das Judentum 89 Unter Bezug auf diese Lehre war in der Vergangenheit die Verbrennung talmudischer Literatur durch die Inquisition immer wieder begründet worden. Andererseits: Auch Reuchlin war von der Kollektivschuld der Juden überzeugt, er sieht ihr Elend als gerechte Strafe Gottes. Die Möglichkeit, dieser Strafe zu entrinnen, bietet sich für ihn nur, wenn man den Talmud aufgibt zugunsten einer christlichen Kabbala. Wenn Reuchlin sich in seinem Rechtsgutachten „dennoch gegen die geforderte Konfiszierung jüdischer Bücher ausspricht, dann argumentiert er […] auf der Grundlage römischen Rechts, des ‚Codex Iustitianus‘. In scheinbarem Gegensatz zum Feindbild der Juden kommt er als Jurist zu dem Schluss, daß Juden […] ‚concives‘ sind, Mit-Bürger, keine Ketzer im Sinne des Kirchenrechts, sondern eine tolerierte Sekte kraft geltenden Reichsrechts“. 11 Daher dürfen die jüdischen Bücher nicht ohne Überprüfung konfisziert werden. Unabhängig davon wünscht Reuchlin eine Bekehrung der Juden, nicht durch Gewalt, sondern, Zitat Reuchlin: „durch vernünftig disputationen, senfftmüttigklich und güttlich.“ 12 Wenn sie sich aber nicht bessern lassen (heute sagt man wohl: integrieren), greift die Unterscheidung zwischen Bürgern und Mitbürgern und die Glaubensfeindschaft wird entscheidend; dann verlieren die Juden ihre Aufenthaltsgenehmigung und sind zu vertreiben: „Bessert euch oder hinaus“ - „reformandi seu expellendi“. 13 Reuchlin selbst, das ist wichtig festzuhalten, wurde in der Folge wegen angeblicher Judenfreundlichkeit mit Prozessen überzogen, diffamiert und gesellschaftlich ruiniert. Uns geht es aber hier in erster Linie um die Begrenztheit der humanistischen Bewegung, von der er und Hutten ein Teil waren. Heiko Oberman sagt, „Humanismus und Reformation, das Eindrucksvollste, was Europa nördlich der Alpen gezeitigt hat“, 14 hätten zwar die Wurzeln des Antisemitismus nicht gelegt, 11 O BERMAN , Wurzeln des Antisemitismus, 38. 12 Augenspiegel, Tübingen 1511. 13 Augenspiegel; zit. nach O BERMAN , Wurzeln des Antisemitismus, 39. 14 Ebd., 55. Johann Jacob Haid, Johannes Reuchlin. Michael Friedrichs 90 aber auch ihre Chance als kritische Erneuerungsbewegung nicht ergriffen. Judenhass wurde nicht wie vieles andere vom Humanismus als „mittelalterlich“ gebrandmarkt. Wenn Hutten sich in der Frage der Judenbücher auf die Seite Reuchlins schlug, tat er das zusammen mit vielen Gebildeten und Humanisten. Andererseits sollte man Huttens Engagement nicht gering schätzen: Er tat weitaus mehr als nur einen Brief zu schreiben. Sein Leiden an der alten Gesellschaft war existenziell, und sein Einsatz war durchaus lebensgefährlich. 6. Böschenstain Wir wissen nicht, ob Hutten die Gelegenheit hatte, Juden persönlich kennen zu lernen. Bei seinen ausgedehnten Reisen kann man es annehmen; Belege sind mir nicht bekannt. Zum Vergleich und zur Beurteilung der damaligen Möglichkeiten ist vielleicht ein Blick auf einen Zeitgenossen hilfreich, den Hutten in Augsburg hätte treffen können und der andere Schwerpunkte setzte. Johannes Böschenstain 15 ist einer der Begründer des Hebräisch-Studiums in Deutschland. Es hieß, er sei das Kind jüdischer Eltern, was er jedoch verneinte. Böschenstain ist 1472 in Esslingen geboren, wurde Priester und Hebräischlehrer. Er war 1505 Hebräischlehrer in Ingolstadt und kam 1513 nach Augsburg. 1518 wurde Böschenstain von Melanchthon nach Wittenberg berufen. Ab 1520 war er erneut eine Zeitlang in Augsburg. Es sind zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe hebräischer Bücher gedruckt worden. Die meisten dieser Judaica sind ihm zu verdanken. Er schrieb in Augsburg ein Hebräisch-Lehrbuch: „Elementale introductorium in hebreas literas“, 1514. Er unterrichtete hier Kaiser Maximilian I. im Hebräischen. Ab 1520 hielt er sich erneut in Augsburg auf. Böschenstain, der bei Reuchlin gelernt hatte, druckte etwa die zehn Gebote auf Hebräisch, Latein und Deutsch, er wollte anscheinend das Hebräische für das wahre Christentum nutzbar machen. Welche Kontakte er in Augsburg mit Juden hatte, ist nicht bekannt, aber dass er die Bücher ganz ohne fachsprachliche Hilfe schreiben und drucken lassen konnte, erscheint unwahrscheinlich, zumal hier auch andere hebräische Bücher 15 Informationen vor allem nach: www.stadtlexikon-augsburg.de (Beitrag „Böschenstein“ von Inge Keil) sowie www.jewishencyclopedia.com. Johann Jacob Haid, Johannes Boeschenstain. Ulrich von Hutten und das Judentum 91 gedruckt wurden. 16 Weitere Stationen seines Lebens sind Heidelberg, Antwerpen, Zürich, Basel, Nürnberg und Nördlingen. Er hat auch ein Rechenbuch für Kinder sowie ein Tanzbüchlein veröffentlicht, in dem er vor den sittlichen Gefahren durch den Gesellschaftstanz warnt. Er hat immer wieder betont (vermutlich also: betonen müssen), dass er das Kind christlicher Eltern und keineswegs ein getaufter Jude sei. Angesichts der vielfältigen internationalen Erfahrungen, die Hutten im Laufe seines kurzen Lebens sammeln konnte, wäre es zu kurz gegriffen, wollte man die Frage, was er vom Judentum wusste und ob er Juden persönlich kannte, nur auf der Basis seiner Erfahrungen in Deutschland beantworten. Selbst da ist ja nichts gewiss. Die vielfältigen Vertreibungsmaßnahmen ermöglichten es den Juden in Deutschland nicht, ihr Leben zu dokumentieren und solche Dokumente zu tradieren. 7. Venedig Eine spannende Nebenfrage ist aus meiner Sicht: Was hat Hutten in dieser Hinsicht in Italien erlebt? Er hat dort studiert, ist gereist und hat an Kriegshandlungen teilgenommen. Er war ein leidenschaftlicher Parteigänger und Soldat von Kaiser Maximilian im Krieg gegen Venedig 1512/ 13, damals ein mächtiges Land. In Venedig selbst hielt sich Hutten, wie gesagt, 1517 eine Zeitlang auf, wohl von April bis Anfang Juni. Hat er dort Juden getroffen? Ein Jahr vorher, am 19. März 1516, war durch Beschluss das Getto von Venedig, das erste Getto der Welt, eingerichtet worden. Etwa 700 Juden, die meisten deutscher Herkunft, mussten dort unter extrem beengten Verhältnissen leben, d.h. wohnen; tagsüber durften sie sich im normalen Venedig aufhalten. 1492 waren die Juden aus ganz Spanien vertrieben worden und die damit verbundene Judenhetze hatte sich auch in Italien ausgewirkt, aber insgesamt hat das gesellschaftliche Klima in Italien damals (wie auch später) weniger antisemitischen Furor hervorgebracht als in Huttens Heimatland, das auch das unsere ist. 8. Dunkelmännerbriefe Im Zusammenhang mit dem Reuchlinstreit entstanden auch die sog. Dunkelmännerbriefe. Sie verstehen sich als Gegenstück zu einer Sammlung von Briefen berühmter Männer, die Reuchlin in der Frage der hebräischen Schriften unterstützt hatten, von Reuchlin unter dem Titel „Epistolae clarorum virorum“ 1514 veröffentlicht. Ein Jahr später erscheinen anonym die sogenannten „Epistolae obscurorum virorum“, deutsch „Dunkelmännerbriefe“. In den Dunkelmännerbriefen machten sich führende Humanisten über die armselige Bildung und himmelschreiende Borniertheit von Klerikern sowie über ihre pseudo-logischen Schlussfolgerungen lustig. Adressat dieser Briefe ist Ortuin Gratius aus Köln, der die Ächtung von Reuchlin 16 B AER , Zwischen Vertreibung und Wiederansiedlung, 113. Michael Friedrichs 92 maßgeblich betrieb. Nachwirkungen der hohen Kunst der Satire in diesen Dunkelmännerbriefen gibt es bis heute. Aus dem ersten Teil seien zwei Beispiele zitiert, in der deutschen Übersetzung von Wilhelm Binder: „Lupold Federfuchser, demnächst Lizentiat entbietet dem Magister Ortuin Gratius so viel Grüße, als die Gänse Gras fressen. Herr Magister Ortuin, es ist zu Erfurt unter allerlei anderen eine gar spitzfindige Frage bei zwei Fakultäten, der theologischen und der naturwissenschaftlichen, aufgeworfen worden. Die einen sagen: wenn ein Jude Christ werde, so wachse ihm die Vorhaut wieder, nämlich die Haut, welche ihm nach dem Gesetze der Juden gleich nach der Geburt vom männlichen Gliede weggeschnitten wurde. Es sind dies diejenigen, welche den theologischen Weg einschlagen, und sie haben ganz gewichtige Gründe für sich, worunter einer der ist, weil sonst die Juden, welche Christen geworden sind, am jüngsten Gerichte für Juden gehalten würden, wenn sie an ihrem männlichen Gliede ohne Haut wären, und ihnen Unrecht geschähe, Gott aber niemandem Unrecht tun wolle, folglich etc.“ 17 Zweites Beispiel: „Anton N. der Arzneikunde fast schon Doktor d. h. für jetzt Lizentiat aber demnächst promovierend schreibt u.a. über Cäsar: Ich glaube nicht, dass Cäsar jene Kommentarien geschrieben hat, und will meinen Ausspruch mit dem Beweise bekräftigen, welcher folgendermaßen lautet: Keiner, der mit Waffen und anhaltenden Arbeiten beschäftigt ist, kann lateinisch lernen. So aber verhält es sich mit Cäsar, er war immer im Krieg und hatte die anstrengendsten Arbeiten, folglich konnte er kein Gelehrter sein, oder lateinisch lernen.“ 18 Die Dunkelmännerbriefe kamen alsbald auf den Index und sind noch heute eher schwer zu bekommen. Die Briefe des zweiten Teils stammen nach heutiger Auffassung weitgehend aus Huttens Feder, mit Ausnahme der Briefe 13, 17, 29, 42 (Jakob Fuchs, Würzburger Domherr) sowie 61, 62 (Hermann von den Busche). Passagen in den Hutten zugeschriebenen Briefen, die von Juden handeln, will ich im Folgenden zitieren, trotz der teilweise für uns sehr abschreckenden Passagen. Brief II.7: (über Pfefferkorn) „Er hat die Theologen zu Köln aufgehetzt, und diese haben auch ihn aufgehetzt, und sie wollten die Bücher der Juden in ganz Deutschland verbrennen. Und das haben sie deshalb getan, daß die Juden sich an die Theologen und den obgenannten Pfefferkorn mit vielem Gelde wenden und ganz in der Stille sagen sollten: ‚Gebet mir meine Bücher frei, hier habt ihr vierzig Goldgulden.‘ Auch hätten einige 17 Brief 37, 96f. 18 Brief 42, 109. Ulrich von Hutten und das Judentum 93 Juden gerne hundert, andere [sogar] tausend gegeben. Da kam Reuchlin und verhinderte jenes Vorhaben; nun sind sie erzürnt über ihn, schreiben Bücher und wollen ihn blamieren, indem sie sagen, er sei ein Ketzer.“ 19 Brief II.25: (über Pfefferkorn) „[…] als einer, der vor zehn Jahren sich auch zu Köln aufgehalten hatte, zu mir sagte, er glaube nicht, daß Pfefferkorn noch ein guter Christ sei, denn er habe ihn vor einem Jahre gesehen, und da habe er noch gestunken wie ein anderer Jude, und doch heiße es allgemein, wenn die Juden getauft seien, so stinken sie nicht mehr. Daher glaubt er, Pfefferkorn habe den Schalk noch hinter den Ohren, und wenn die Theologen glaubten, er sei der beste Christ, dann werde er wieder ein Jude sein, und man dürfe ihm nicht trauen, denn die ganze Welt habe eine üble Meinung von den getauften Juden. […] Da sagte ich: ‚[…] Ihr behauptet, Pfefferkorn stinke; angenommen auch, es sei wahr, was ich aber / nicht glaube, und auch nie wahrgenommen habe, so behaupte ich, daß dieser Gestank eine andere Ursache habe; denn als Johannes Pfefferkorn noch Jude war, da handelte er mit Fleischwaren, und Fleischwarenhändler stinken gemeiniglich.‘ “ 20 Brief II.33: „Ich bitte Euch, Ihr wollet diejenigen, von denen Ihr schreibet, ersuchen, daß sie sich zum Disputieren gegen jene Neulateiner anschicken, und sie tüchtig heruntermachen. Und wenn sie sagen, sie verstehen Griechisch und Hebräisch, so habt Ihr ihnen zu antworten, um solche Sprachen kümmern sich die Theologen nicht, da die heilige Schrift hinreichend übersetzt ist und wir anderer Übersetzungen nicht bedürfen. Und noch viel mehr dürfen wir diese Sprachen nicht lernen wegen der Verachtung der Juden und Griechen; denn wenn die Juden sehen, daß wir ihre Sprache lernen, so sagen sie: ‚Schau, die Christen lernen unsere Wissenschaften, und ohne diese können sie ihren Glauben nicht verteidigen‘, daraus entsteht eine große Schmach für die Christen, und die Juden bestärken sich in ihrem Glauben.“ 21 Brief II.47: „Ein Dekan dieser Kirche, ein getaufter Jude, war sehr lange beim christlichen Glauben geblieben und hatte ein ganz rechtschaffenes Leben geführt; nachher aber, auf dem Totenbette, ließ er sich einen Hasen und einen Hund bringen und ließ beide laufen: da packte der Hund den Hasen auf der Stelle; dann ließ er wieder eine Katze und eine Maus laufen, und die Katze packte die Maus. Nun sagte er zu den zahlreichen Umherstehenden: ‚Ihr sehet, die Tiere lassen von ihrer Natur nicht ab: ebenso läßt auch ein Jude nie von seinem Glauben ab, folglich will auch ich heute sterben als ein guter Jude‘, und er starb.“ 22 Was kann man dazu sagen? Es geht um das Geld von Juden, es geht um angeblichen Körpergeruch, um das Hebräische und um den Widerruf der Taufe auf dem 19 Ebd., 154. 20 Ebd., 201f. 21 Ebd., 224. 22 Ebd., 254. Michael Friedrichs 94 Totenbett. Es geht nicht um die freie Religionsausübung oder bürgerliche Freiheiten. Winfried Frey schreibt über das Judenbild in den Dunkelmännerbriefen: 23 „Ein getaufter Jude zu sein, war in dieser Zeit kaum angenehmer als ein Jude zu sein, denn die Christen waren gegenüber ihren neuen Glaubensgenossen, die oft genug unter Zwang konvertiert waren, äußerst mißtrauisch und interpretierten jede unübliche Handlung als Rückfall in den alten Glauben. Und die Konvertiten wußten, was ihnen drohte, wenn sie als ‚Ketzer‘ angeklagt wurden: der Tod. Kein Wunder, daß sich die meisten der ‚bekehrten‘ Juden unter den Schutz der Kirche stellten, gar selbst Priester wurden, um dem ungeheuren Druck zu entgehen. […] Pfefferkorn ging diesen Weg, indem er sich in den Schutz der Kölner Dominikaner begab.“ Winfried Frey nimmt das oben zitierte Beispiel vom Juden, der auf dem Totenbett die Konversion zum Christentum widerruft, als Beleg dafür, dass „aus Reuchlins Kampf für die jüdischen Schriften und für die Judenheit […] im literarischen Freundesdienst seiner Humanistenkollegen ein antijüdisches Pamphlet geworden“ ist. 24 Man kann ihm nicht widersprechen. Andererseits - so richtig es ist, dass der überkommene mittelalterliche Antijudaismus bei den Dunkelmännerbriefen voll durchschlägt: Die Szene vom alten Juden auf dem Totenbett hat, vielleicht gegen den Willen des Erzählers, doch mehrere Dimensionen und Deutungsmöglichkeiten. Zunächst ist verblüffend, dass Judesein hier als natürliche Eigenschaft dargestellt wird, verglichen mit dem Jagdinstinkt der Katze. War es nicht das theologische Programm und Versprechen des Christentums, dass es jedem Menschen möglich sein soll, Christ zu werden? Das wird hier offenbar bestritten. Aber dass der Jude im Leben doch eben anders gehandelt hat als die Katze, dass er über einen längeren Zeitraum zumindest dem äußeren Anschein nach zum Christen geworden war - ist das nicht ein direkter Widerspruch zu dem Katzenbeispiel? Der Unterschied, so würde ein Zeitgenosse wohl entgegnen, liegt in der Heimtücke, in der arglistigen Täuschung, zu der die Katze nicht fähig ist. Darin bestand dann wohl die Schuld. Aus heutiger Sicht drängt sich aber nach meinem Empfinden eine andere Interpretation auf. Diese Figur des Juden, der auf dem Sterbebett den ihm aufgezwungenen christlichen Glauben ablegt, strahlt Würde und Glaubwürdigkeit aus. Er macht reinen Tisch in einem Augenblick, in dem er angesichts des Todes gewissermaßen Immunität genießt, weil die Todesstrafe ihn nicht mehr schrecken kann. Er kann nun sein Schweigen beenden und der dominanten christlichen Gesellschaft den erzwungenen Gehorsam aufkündigen. Dies wäre sicherlich eine Lesart ohne oder gegen Hutten, zugegeben. 23 Katalog 1988, 199. 24 Ebd., 208. Ulrich von Hutten und das Judentum 95 Jedenfalls müssen wir feststellen, dass Hutten und die Humanisten seiner Zeit die feindselige Sicht des europäischen Mittelalters auf die Juden nicht überwunden, ja nicht einmal in Frage gestellt haben. Die jüdischen Schriften wurden verteidigt, es gab Interesse an ihnen, auch an der hebräischen Sprache, siehe Reuchlin, siehe Böschenstain, aber das geschah vor allem, um Sprache und Schriften für das Christentum nutzbar zu machen. Den Juden als Personen galt offenbar kein Interesse, nicht einmal Mitgefühl. 9. Utopie Andererseits muss es auch damals zumindest als Utopie die Vorstellung von einer Aussöhnung der Religionen gegeben haben. Anders ist wohl ein Augsburger Bild von Jörg Breu nicht erklärlich, gemalt zwischen 1517 und 1520. Es ist Teil der Gemälde auf den Orgelflügeln in der Fuggerkapelle der Annakirche, aber normalerweise nicht zu sehen: Es befindet sich auf der Außenseite des rechten Flügels der kleinen Orgel. Der Klang der Musik vereinigt hier, in der Utopie des Malers, in friedlicher Gruppierung vier Personen, die für vier streitbare Religionen stehen: Katholik, Protestant, Jude und Muslim. Utopien wie diese sind dazu da, verwirklicht zu werden. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir wohl zugeben: Wesentlich näher sind wir diesem Ziel nicht gekommen in den fünfhundert Jahren seit Hutten. Jörg Breu, Orgelflügelbild (Foto: Kunstsammlungen und Museen Augsburg). 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Begriffe, soziale Strukturen und Praktiken, Dinge und Lebewesen sind Seiendes, sind Gewordenes, das schon vor der Gestaltung, also deren Sprach- oder Handlungsmodifikation, vorhanden ist; es ist das, was zu gestalten wäre. „Es ist geworden“ heißt, es existiert, es ist da, es ist sprachlich tradiert oder es ist ein greifbares, sinnlich wahrnehmbares Objekt, das physisch gestaltet werden kann. „Es ist“ bedeutet immer, „es ist geworden“. Damit sind sprachliche und physische Gestaltungen spezifische Formen des Umgangs mit Gewordenem, des Umgangs mit Begriffen, sozialen Strukturen sowie Praktiken, Dingen und Lebewesen. Sprache und physische Handlungen modifizieren also alles, was ist, was wahrnehmbar und denkbar in seiner Materialität und Immaterialität da ist. Im europäischen Verständnis sind die „Gedanken frei“. Es kann und darf alles gedacht werden, aber es darf nicht alles ausgesprochen oder durch physische Handlungen materialisiert werden. Die Relation von Sprache einerseits zu deren Äußerung, andererseits zu deren physischen, materialisierenden Umsetzung ist damit zwar möglich, aber natürlich noch lange nicht durch die Normen der Gesellschaft legitimiert. Doch wie kann gestaltet werden, das heißt, wie kann mit dem Gewordenen umgegangen werden? Gleichgültig, ob es sich um eine Gestaltung von beispielsweise Begriffen und damit Immateriellem oder um eine Gestaltung von Objekten, also Materiellem, handelt, es gibt immer nur drei Möglichkeiten, wie mit dem Gewordenen umgegangen werden kann: Man kann es belassen, überformen oder überformend-belassen. 1 Belassen heißt, es wird Gestaltung unterlassen: Ein Begriff, eine soziale Struktur oder ein Objekt werden aus welchen Motivationen auch immer nicht modifiziert. Damit wird eine konservative Modifikationsstrategie verfolgt. Überformen bedeutet, ein Gewordenes wird völlig, bis zu dessen Verschwinden gestaltet. Es bleibt in dieser Modifikationsart nichts mehr von dem zu gestaltenden Gewordenen übrig. Die Modifikationsstrategie, die damit einhergeht, ist folglich eine innovative. Und die Hybridform der beiden Gestaltungsarten, überformend-belassen, besagt, dass das Gewordene, das modifiziert wird, erkenntlich bleibt, gleichzeitig aber auch ein Ge- 1 Vgl. L INDL , Nackt; D ERS ., Blendend; D ERS ., Entsprechend. Stefan Lindl 100 staltungsanteil, eine Modifikation an dem Gewordenen „sichtbar“ wird. Eine pragmatische Modifikationsstrategie zeigt sich in diesem Gestaltungsmodus. Bei Objekten wie Bauwerken leuchtet das schnell ein: Ein altes, verfallendes Haus aus dem 18. Jahrhundert kann bis zu dessen Verfall belassen werden. Kein Mensch gestaltet es oder verfolgt dann eine Gestaltungsstrategie, die seine Ideen in dem Objekt sichtbar machten. Es kann aber auch völlig überformt werden, indem es abgerissen und an seiner Stelle ein Hochhaus aus Stahl, Beton und Glas gebaut wird. Die Idee der Gestalterin oder des Gestalters wird vollkommen sichtbar, das Haus aber verschwindet. Es kann auch nach Originalplänen und -zeichnungen, überformend-belassend renoviert werden. Originalpläne sind lediglich ideale Zustände, die als Vorlage galten und gelten. Aber sie sind Vorgabe und nicht Ausführung, sie sind nur ein idealer Zustand auf Papier, der nichts mit dem Gebäude zu tun hat, außer einer oft sehr großen ästhetischen Ähnlichkeit. Auch wenn das renovierte Gebäude in einen „Urzustand“ versetzt wird, in dem es nie gewesen ist, bleibt seine ästhetische Parallelität weitgehend erhalten. In Texten finden sich ebenso diese Modifikationsprinzipien: Beispielsweise definiert Jean-François Lyotard die „Postmoderne“ als überformende Gestaltung: „Alles Überkommene, […] selbst wenn es nur von gestern ist, muß hinterfragt werden. […] Mit welcher Voraussetzung bricht Duchamp 1912? Mit der, daß ein Maler ein Bild zu malen hat, und sei es kubistisch.“ 2 Das Überkommene, hier ist es das Gewordene, wird in seinen Grundfesten hinterfragt und radikal bei Duchamp umformuliert, schreibt Lyotard. Lyotard erfasst Duchamps Kunst als überformende Modifikation, die den Kunstbegriff seiner Zeit bis zur Unkenntlichkeit neu sowie innovativ gestaltete. Sein Umgang mit dem alten Kunstbegriff vor Duchamp verhält sich so wie der Bauherr zum verfallenden Haus, der es abreißt und ein Hochhaus an dessen Stelle baut. Um Modifikationen, deren Modi und Strategien geht es in diesem Aufsatz bezüglich der Passagen über Juden in Christoph Martin Wielands Schriften: Wie geht er mit den Juden modifizierend um? Wie geht er mit den sozialen Praktiken seiner Zeit bezüglich der Juden in seinen Texten um? Überformt er diese Praktiken mit dem Begriff der Gleichheit? Belässt er ihren sozialen Zustand? Oder will er überformend-belassend einen langsamen Wandel? Wie verhält sich seine sprachliche Gestaltung zur Materialisierung seiner Gedanken? Sucht er mit physischen Handlungen, vielleicht sogar mit einer Revolution einen neuen Zustand der Juden zu erreichen? Welche Modifikationen im Umgang mit dem Gewordenen, in diesem Fall sind das Gewordenen die sozialen Praktiken bezüglich der Juden, finden sich in seinen Textpassagen? 1913 beschäftigte sich Adolph Kohut in seiner Schrift „Gekrönte und ungekrönte Judenfreunde“ mit Christoph Martin Wieland und dessen Ansichten und Relationen zu Juden. 3 Allerdings geht er vor allem auf einen Text ein, der nicht von Wieland stammt und zu seinem Denken auch nicht passt: „Über das Schicksal der Juden“. 4 Kohut drängt den Text in die Nähe Wielands, aber eine Autorschaft Wielands ist sehr unwahrscheinlich. 2 L YOTARD , Postmoderne, 26. 3 K OHUT , Judenfreunde, 151-162. 4 A NONYMUS , Schicksal. Juden nach den Regeln des Lichts 101 In kaum einem anderen Bereich der europäischen Geschichte wird die Bedeutung der Modifikationen in Sprache und physischer Handlung so deutlich wie in der Geschichte der Juden Europas im 19. und 20. Jahrhundert. Das preußische Judenedikt von 1812, ein Teil der preußischen Reformen, beruhte auf einem durch die Aufklärung getragenen judenfreundlichen Diskurs, der eine allmähliche soziale und wirtschaftliche Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert ermöglichte. 5 Im 20. Jahrhundert hingegen herrschten ein anderer Diskurs und eine andere Sprache, die durch ihre Modifikationen genau das Gegenteil bewirkten: die Ausgrenzung, mutwillige Delegitimierung, Kriminalisierung und schließlich Vernichtung der europäischen Juden - die Shoa. 6 Wielands Texten wird nachgesagt, sie stünden auf der Seite des Lebens, sie seien wohlmeinend, also in ihrer Modifikation der Juden und der sozialen Praktiken bezüglich der Juden belassend oder überformend-belassend. Es heißt, sie verträten das Gute gegenüber allen Menschen. Etwas Schlechtes über Juden sei in den Schriften Wielands nicht enthalten. 7 Insofern dürften Texte des deutschen Epigonen Voltaires, wie Germaine de Staël Wieland kategorisierte, kaum ähnliche antisemitische Äußerungen aufweisen, wie einige Artikel Voltaires in seinem „Dictionnaire philosophique“. 8 Während Gotthold Ephraim Lessing dem Judentum und seinem Freund Moses Mendelsohn mit „Nathan der Weise“ und „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ sprachliche Monumente und Landmarken setzte, finden sich in Wielands Schriften auffallend wenige Passagen über Juden. 9 Das bedeutet keineswegs, er habe wenig Umgang mit Juden gepflegt und noch weniger, er sei antisemitisch gewesen. Beispielsweise bringt er in Briefen Moses Mendelsohn Freundlichkei- 5 Vgl. H EITMANN , Anbruch; B REUER ; G RAETZ , Tradition und Aufklärung; B RENNER / J ERSCH - W ENZEL / M EYER , Emanzipation und Akkulturation; B ATTENBERG , Europäisches Zeitalter; H EUER / W UTHENOW , Konfrontation; H ERZIG / H ORCH / J ÜTTE , Judentum und Aufklärung. Schriften des Judendiskurses im 18. Jahrhundert; D OHM , Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden; G MELIN , Abhandlung von den besondern Rechten der Juden; B UCHHOLZ , Actenstücke; F RIEDLÄNDER , Aktenstücke; K AHLE , Anmerkungen; U NZER , Anmerkungen; S CHAZMANN , Patriotische Gedanken; H OFMANN , Ueber Juden. 6 Vgl. A LTER / B ÄRSCH / B ERGHOFF , Die Konstruktion der Nation; L OWENSTEIN , Umstrittene Integration; B ARKAI / M ENDES -F LOHR , Aufbruch und Zerstörung. 7 K OHUT , Judenfreunde, hier: Berühmte Schriftsteller in ihrem Standpunkt zur Judenfrage. Christoph Martin Wieland, 151f. 8 D E S TAËL , Über Deutschland, Erster Theil, II. Abtheilung, Viertes Capitel: Wieland. „Von allen Deutschen, die in dem Geiste der französischen Schriftsteller geschrieben, ist Wieland der einzige, in dessen Werken man Genie findet. […] In seinen prosaischen Werken findet sich einige Aehnlichkeit mit Voltaire. […] Sogleich betonte Sie, der Deutsche Wieland könne dem Franzosen Voltaire jedoch nicht das Wasser reichen: „Um Voltaire nachzuahmen, bedarf es einer spöttischen philosophischen Sorglosigkeit […]. Nie wird ein Deutscher diese glänzende Freiheit im Scherz erreichen; die Wahrheit fesselt ihn zu sehr.“ Vgl. V OLTAIRE , Dictionnaire. Antisemitische Passagen beispielsweise in den Artikeln „Abraham“, „Juifs“, „Tolérance“. 9 L ESSING , Erziehung. Zu Wieland: Neben den in diesem Aufsatz zitierten Stellen findet sich noch eine Schilderung eines Judenpogroms in Paris. W IELAND , Nikolas Flamel. Stefan Lindl 102 ten, große Bewunderung sowie die Bitte um weiteren Austausch eindringlich entgegen. 10 Zudem konnte er einen Schüler Immanuel Kants, den jüdischen Arzt und Philosophen Marcus Herz, als Autor für den Teutschen Merkur gewinnen. 11 Er bewunderte Juden und arbeitete mit Juden zusammen. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen schrieb er wenig über sie. Die expliziteste mit ihm in Verbindung stehende, aber bereits erwähnte anonyme Schrift über Juden veröffentlichte er als Herausgeber und nicht als Autor im „Teutschen Merkur“ 1775 unter dem Titel „Gedanken über das Schicksal der Juden“. 12 Über den Autor schrieb Wieland in einer Fußnote am Beginn der Schrift: „Von einem Unbekannten eingesendet, den alle gutdenkenden Leser des Merkurs, mit mir, lieben, und zu kennen wünschen werden. W [Wieland]“ 13 Ein Abgleich mit anderen Passagen über Juden in den belletristischen Texten Wielands, aber auch mit den Denkfiguren über das aufgeklärte Menschen- und Gesellschaftsbild in seiner Utopie „Das Geheimnis des Kosmopoliten-Ordens“ von 1788 14 und „Die Rechte und Pflichten des Schriftstellers“ von 1785 15 sollen die „Gedanken über das Schicksal der Juden“ in Wielands Texte einordnen. Methodisch werden aus dem „Schriftsteller“ und dem „Kosmopoliten-Orden“ die „Regeln des Lichts“, also die Regeln des aufgeklärten Menschenbilds und der aufgeklärten Gesellschaft aus Wielands Perspektive modifikationslogisch rekonstruiert. In einem weiteren Schritt werden diese Regeln in der „Geschichte der Abderiten“, im Märchen „Neangir und seine Brüder“ aus der Sammlung von Feen- und Geistergeschichten „Dschinnistan“, dem „Agathodämon“ und dem „Peregrinus Proteus“ untersucht. 16 2. Regeln des Lichts: Vernunft und Gleichheit Den aufgeklärten Menschen und die Gesellschaft im 18. Jahrhundert beschreibt Wieland in seinem Essay über „Die Rechte und Pflichten des Schriftstellers“. Er positioniert darin den idealen politisch-ethnographischen Schriftsteller und dessen gesellschaftliche und aufklärerische Aufgaben für und in der Gesellschaft. Der Text beschreibt, wie und welche Art von Erkenntnissen der Schriftsteller hervorbringen soll: 10 Briefe an Johann Georg Zimmermann und Moses Mendelsohn in K OBLER , Juden und Judentum, 68f. Verwiesen sei auch auf die Edition der Wielandbriefe, die den gesamten Briefwechsel Wielands und Moses Mendelsohns mit einer großen Anzahl von Positionen nachweist. Ebenso den Briefwechsel mit Marcus Herz. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Briefwechsel, hier Bd. 20, Personenregister. 11 S TARNES , Der Teutsche Merkur, 186. 12 A NONYMUS , Schicksal, 213-220. 13 Starnes vermutet die Autorschaft des anonymen Textes bei Markus Herz. Vgl. S TARNES , 186; A NONYMUS , 213. 14 W IELAND , Kosmopoliten, 155-203. 15 D ERS ., Schriftsteller, 137-154. 16 D ERS ., Agathodämon; D ERS ., Neangir; D ERS ., Peregrinus; D ERS ., Abderiten. Vgl. zu Agathodämon und Peregrinus: T HOMÉ , Religion, und L AAK , Satyrspiel. Juden nach den Regeln des Lichts 103 „Die erste und wesentlichste Eigenschaft eines Schriftstellers, welcher einen Beytrag zur Menschen- und Völkerkunde aus eigener Beobachtung liefert, ist: daß er den aufrichtigen Willen habe die Wahrheit zu sagen, folglich keiner Leidenschaft, keiner vorgefaßten Meinung, keiner interessierten Privatabsicht wissentlich einigen Einfluß in seinen Nachrichten und Bemerkungen erlaube.“ 17 Schriftsteller sind Autoren, Mehrer, Gestalter. Sie verfügen über die Möglichkeit, Phantastereien auf Papier zu schreiben, wie es Wieland durchaus in seinen Feen- und Geistergeschichten unter Beweis stellte. Sie können der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit eine narrativ-phantastische Dimension hinzufügen. Aber wenn sich Schriftsteller der Aufgabe widmen, einen „Beytrag über Menschen- oder Völkerkunde aus eigener Beobachtung“ zu liefern, man könnte sagen, politische oder ethnologische „Wissenschaft‘ zu betreiben, so dürfe dieser Beitrag keiner vorgefassten Meinung folgen. Bezüglich Leidenschaften und Privatabsichten wird hier unvoreingenommenes Begegnen mit dem Beschreibungs- oder Forschungsgegenstand gefordert. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde eine solche Einklammerung der Leidenschaften und der Privatabsichten in der „Allgemeinen Geschichtswissenschaft“ von Johann Martin Chladni angezweifelt. Chladni verwies auf die verschiedenen „Sehepunkte“, die zu einer Darstellung führen und Unvoreingenommenheit kaum zuließen. 18 Unvoreingenommenes Begegnen mit Darzustellendem könne es wegen der Perspektiven der Darstellenden schlichtweg nicht geben, schrieb Chladni. Er schlägt deswegen eine bewusste Polyperspektivik vor, die einen Gegenstand immer wieder von einer anderen Seite beleuchtet. Wielands Text, der zeitlich nach der „Allgemeinen Geschichtswissenschaft“ entstand, betont dagegen die Möglichkeit unvoreingenommener Erkenntnis aufgrund einer durchaus für das 18. Jahrhundert typischen rationalen Argumentation. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts wird die Forderung Wielands beispielsweise mit der Konstruktion einer Epoché, einer Einklammerung der Vormeinungen erreicht. In der Phänomenologie Edmund Husserls vollzieht sich die Epoché durch die Eidetische Reduktion, bei Michel Foucault und Jacques Derrida durch die von ihnen gesetzte Dominanz der Diskurse. 19 Auch die Textpassage Wielands konstruiert eine „Epoché“, die sich aber grundlegend von den „Epochéen“ des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Sie besagt zuerst nicht mehr, als dass sich der Schriftsteller disziplinieren soll, um sich von seinen individuellen Leidenschaften und Absichten zu distanzieren, wenn er „Menschen- oder Völkerkunde“ betreibe. Neben der Disziplin gibt es noch die sich selbst reflektierende Vernunft, „daß er den aufrichtigen Willen habe die Wahrheit zu sagen“. Sie ist der Garant einer „Epoché‘ bei Wieland. Der aufrichtige Wille klammert alles Missliebige einer Darstellung ein. So wird dem Schriftsteller in diesem Wieland-Text die Aufgabe zugewiesen, Ereignisse oder Dinge rational darzustellen, aber nicht das Dargestellte nach seinen Wertmaßstäben und seinen Leidenschaften emotional zu verändern. Natürlich birgt dies 17 D ERS ., Schriftsteller, 143f. 18 C HLADNI , Geschichtswissenschaft, 95-115. 19 H USSERL , Phänomenologie, 122-134 (Über die phänomenologische Reduktion.); F OU- CAULT , Archäologie, z.B. 198-200; D ERRIDA , Grammatologie, z.B. 130-170. Stefan Lindl 104 erkenntnistheoretisch ein großes Problem, das Chladni mit seinen „Sehepunkten“ zeitlich weit vor Wieland fasste und zu lösen suchte. Dagegen schwenkt Wieland auf den Weg der Vernunft ein, die an die Natur als große Garantin rückgekoppelt sei. Die Vernunft entspringt also der Natur, die die Wahrhaftigkeit der Darstellung des Schriftstellers legitimiert: „Ein unbefangener Beobachter, den die Natur mit Scharfsinn und Lebhaftigkeit des Geistes ausgesteuert, und die Filosofie mit dem richtigen Maßstabe dessen, was löblich, schön, anständig und schicklich oder das Gegentheil ist, versehen hat, sieht überall, wo er hinkommt, die Menschen und ihr Thun und Lassen, ihre Gewohnheiten und Eigenheiten, Schiefheiten und Albernheiten, in ihrem natürlichen Lichte.“ 20 Was ist am Menschen Natur, was ist an ihm Kultur und Kunst? Die vorhergehende Passage und die Passage über die Aufgaben des Schriftstellers beantworten diese Frage: Natur schenkt Vernunft und somit gehört sie zur Natur des Menschen. Dagegen sind „Leidenschaften“, „vorgefasste Meinungen“, „Privatabsichten“ das Menschliche, das Künstliche des Menschen. In den Texten über Dinge und Ereignisse transformiert der Schriftsteller die Dinge und Ereignisse lediglich von ihrer Existentialität in ihr Textsein, also eine Kategorialität. Beide sind offenbar noch ganz natürlich verbunden und durch eine Korrelation in Deckung zu bringen, die auf die Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten referiert. In dem Text ist das Gewordene das Darzustellende, also das, was der Schriftsteller beobachtet. Während Chladnis Text davon ausgeht, es würde jedes Darzustellende überformt werden, wenn nur ein „Sehepunkt“ bezogen wird, sieht Wieland allein einen überformend-belassenen Gestaltungsmodus als Darstellungsform vor. Wieland verfolgte eine pragmatische Modifikationsstrategie: Das Beschriebene achtet er hoch, respektiert es so, wie es ist, ohne es während des Darstellens zu verbiegen oder ihm Gewalt anzutun, durch individuelle, subjektive Zusätze. Und doch transformiert er das Beschriebene in einen neuen schriftlichen Modus, den ihm die Natur und der Verstand in einer geregelten Transformation ermöglichen. Im besten Fall wird ein Gleichgewicht zwischen dem Beobachteten und seiner Beschreibung in einer schriftlichen Darstellung erreicht (garantiert von der Natur, der alle Ratio entspringt). Gleichsam wird durch diese pragmatische Modifikationsstrategie die „unverfälschte Darstellung“ das oberste Ziel und die oberste Pflicht des Schriftstellers. Darin liegt eine einerseits passive, andererseits eine zurückhaltende, aber durchaus aktiv-gestalterische Haltung, die um Ausgleich von Darzustellendem und Dargestelltem bemüht ist. Sie verbietet dem Schriftsteller dominantes Gestalten, das den Beobachtungsgegenstand nach seinen Ideen extrem, vielleicht bis zur absoluten Unähnlichkeit und Unkenntlichkeit überformt. In der Passage über den Schriftsteller lässt sich Wielands gestalterischer Habitus erstmals positionieren. Seine Aufgabe sieht er nicht darin, etwas, das er beschreibt, mit der Gewalt seiner Worte zu ändern oder gar zu überformen, sondern es würdi- 20 W IELAND , Schriftsteller, 146f. Juden nach den Regeln des Lichts 105 gend möglichst präzise mit seinen Worten überformend und doch belassend zu beschreiben. Diese Art des Textgestaltens, die lediglich „abbildende“ gestalterische Haltung, wird in der aufklärerischen Utopie „Das Geheimnis des Kosmopoliten-Ordens“ von 1788 noch deutlicher. 21 Der Text kann als zweite Position der modifikatorischen Logik Wielands gelesen werden. Wird im „Schriftsteller“ erläutert, wie sich die Sprache zur Wirklichkeit verhalten soll, so wird dieser Umgang mit dem Gewordenen in ein soziales Spiel übertragen. Es geht darum, wie in einer Gesellschaft die Menschen sich untereinander verhalten sollten, wie sie aus ihren vernunftmäßigen Überzeugungen mit Menschen umgehen sollten. Man tritt dem Orden der Kosmopoliten Wielands nicht bei, sondern man wird in ihn hineingeboren ohne Unterschied der Kultur, Religions- oder Konfessionszugehörigkeit oder „Nazion“. Kosmopoliten sind weltoffene, neugierige, vernünftige, tolerante Freigeister. Wielands „Kosmopoliten-Orden“ lässt sich in seine eigene Kategorie einordnen, er ist ein Beitrag zur Menschenkunde, wenn auch ein utopischer, der zeitgemäß von der Aufklärung beseelt ist. All jene Menschen gehören diesem Kosmopoliten-Orden an, die folgende Eigenschaft teilen: „Die Kosmopoliten […] betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie, und das Universum als einen Staat, worin sie mit unzähligen andern vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern.“ 22 Gleichheit in aller individuellen Verschiedenheit der Staatsgebilde, aber auch der Menschen, ist ihnen ein Gebot und ihr Ziel. 23 Und sie sind ein Teil eines Telos, der zur Vollkommenheit des Ganzen führen soll. „Der Kosmopolit befolgt alle Gesetze des Staats, worin er lebt, deren Weisheit, Gerechtigkeit und Gemeinnützigkeit offenkundig ist, als Weltbürger, und unterwirft sich den übrigen aus Nothwendigkeit. Er meint es wohl mit seiner Nazion, aber er meint es eben so wohl mit allen andern, und ist unfähig, den Wohlstand, den Ruhm und die Größe seines Vaterlandes auf absichtliche Übervortheilung und Unterdrückung anderer Staaten gründen zu wollen.“ 24 Die Ziele des Kosmopoliten-Ordens lassen sich also in vernunftbedingter Hochachtung und im gegenseitigen Respekt fassen; „Toleranz“ ist der historische Begriff, dessen Bedeutung sich aus der Duldung anderer Religionen, anderer Meinungen heraus entwickelt. 25 In der Gleichheit aller individuellen Ungleichheit steckt die Zauberformel der Kosmopoliten. Sie wirken darauf hin, diesen Zustand zu erlangen, aber ohne Gewalt, nur mit den Waffen der Vernunft. 26 In Bezug auf Gewalt als Mittel, eigene „ ideelle Ziele zu verwirklichen, eigene Ideen zu materialisieren, ist Zurückhaltung die erste Kosmopolitenpflicht. 21 D ERS ., Kosmopoliten, 155-203. 22 Ebd., 167f. 23 Vgl. Ebd., 172. 24 Ebd., 178. 25 Vgl. Z EDLER , Artikel „Tolerantz“, 1115-1118. 26 W IELAND , Kosmopoliten, 181. Stefan Lindl 106 „Der Kosmopolit ist, vermöge seiner wesentlichsten Ordenspflichten, immer ein ruhiger Bürger, auch wenn er mit dem gegenwärtigen Zustande des gemeinen Wesens nicht zufrieden seyn kann. […] Nie hat ein Kosmopolit an einer Zusammenverschwörung, an einem Aufruhr, an Erregung eines Bürgerkriegs, an einer gewaltsamen Revoluzion, an einem Königsmord, absichtlichen Antheil gehabt.“ 27 In welchen Zeitspannen die Kosmopoliten und mit ihnen Wieland denken, zeigt sich in einer Prophezeiung des Textes, „daß Europa zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts dem, was sie die Regierungsform der Vernunft nennen, um ein großes näher gekommen seyn werden, als dermahlen.“ 28 Eine „Regierungsform der Vernunft“ mit den Waffen der Vernunft herbeizuführen, das ist ein Ziel, das sich der Orden über die Lebenszeit seiner gegenwärtigen Individuen hinaus steckt. Das bedeutet für die Kosmopoliten: Sie müssen den eigenen Gestaltungswillen sowie die eigenen Gestaltungsideen zurücknehmen, um den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Zuständen zu gehorchen, sie hinzunehmen, aber mit Vernunft an einer zukünftigen Lösung zu arbeiten. Eine innovative Modifikationsstrategie schließt der Text aus. Dafür schlägt er eine pragmatische vor, die ein Gemeinschaftswerk ist, das von der Naturgesetzlichkeit geregelt wird. Die Natur ist es, die das Ziel gesetzmäßig vorgibt. Darin liegt auch der Grund für die entspannte Passivität sowie Fatalität der Kosmopoliten. Die Naturgesetzmäßigkeit „will“ die gegenseitige Hochachtung, die Gleichheit und die Vernunft, egal wie lange es dauert, sie zu erreichen. Das Telos ist vom Naturgesetz gegeben. „Die Kosmopoliten haben und erkennen, als solche, keine andern Obern, als die Nothwendigkeit und das Naturgesetz.“ 29 Ebenso interessant ist die Konstruktion einer idealen Gemeinschaft in Wielands Text: „Das ganze Geheimniss liegt in einer gewissen natürlichen Verwandtschaft und Sympathie, die sich im ganzen Universum zwischen sehr ähnlichen Wesen äussert, und in dem geistigen Bande, womit Wahrheit, Güte und Lauterkeit des Herzens edle Menschen zusammen kettet. Ich kenne kein stärkeres; wenigstens bedürfen die Kosmopoliten kein anderes, um eine Gemeinheit auszumachen die an Ordnung und Harmonie alle andere menschliche Gesellschaften übertrifft.“ 30 Die „Gemeinheit“, den historischen Begriff Wielands würde man heute wohl durch „Gemeinschaft“ ersetzen, bedarf keiner Staaten, bedarf keiner Nationen, es bedarf menschlicher Prinzipien, die über allen stehen und ein Ideal menschlicher Verbundenheit darstellen. Was Rousseau der Vertrag war, der nötig ist, eine ideale Gesellschaft zu erwirken, sind Wieland die „geistigen Bande“, die aber keine Gesellschaft, sondern eine „Gemeinheit“/ Gemeinschaft erzeugen. Kein gemeinsamer Ort, kein Zusammenhalt nach dem ius sanguinis ist notwendig, um eine funktionierende, harmonische Gemeinschaft zu gründen. Aus diesen ausgewählten Passagen lassen sich einerseits der Gestaltungsmodus und die Modifikationsstrategie der Begriffe, Dinge und Menschen bestimmen, an- 27 Ebd., 179f. 28 Ebd., 194. 29 Ebd., 171. 30 Ebd., 174. Juden nach den Regeln des Lichts 107 dererseits lassen sich die „Regeln des Lichts der Aufklärung“ rekonstruieren, die Wieland als Aufklärer des ausgehenden 18. Jahrhunderts auszeichnen. Eine Aufstellung dieser „Regeln des Lichts der Aufklärung“ nach Wielands Texten ließe sich folgendermaßen formulieren: Vernunft entspringt der Natur. 1. Naturgesetze regieren die Vernunft. 2. Die Natur strebt die Herrschaft der Vernunft an. 3. Gewordenes muss respektvoll behandelt werden. 4. Veränderungen von gewordenen Zuständen vollziehen sich durch den Gebrauch der Vernunft. 5. Vergemeinschaftung vollzieht sich durch Vernunft. Diese Regeln, extrahiert aus Wielands Texten, zeigen eine unterschiedliche Struktur. Die Regeln eins bis drei konstituieren den Zusammenhang von Vernunft, Natur und Naturgesetzen. Die Regeln vier bis sechs dagegen gehen auf kulturelle und soziale Praktiken ein. Sie können bereits als Ableitungen aus dem Naturgesetz gelesen werden. Vor allem diese letzten drei Regeln sind interessant, um mit ihnen die wenigen Passagen über Juden in Wielands Texten zu untersuchen und zu bewerten. In den theoretischen Texten über erkenntnistheoretische Fragen und seine politische Utopie der Kosmopoliten findet sich dominant eine pragmatische Modifikationsstrategie. Wielands Gestaltungsmodus, den er anwendete, ist demgemäß überformend-belassend. Gewordenes bleibt erhalten, aber die Ideen eines Gestalters sollen in diesem Gewordenen durchaus sichtbar werden. Erneuernde Gestaltung der gesellschaftlichen Zustände geht also mit deren grundsätzlicher Bewahrung einher. Was Adolph Kohut über Wielands Texte schrieb, scheint diese Analyse zu bestätigen: Er ist ein sanfter, wohlwollender Gestalter, der sich als Teil eines Telos der Natur sieht, die sich unaufhaltsam der Besserung und dem Guten nähert - ohne Zerstörung und Gewalt. 31 3. Juden nach den Regeln des Lichts Drei ausgewählten Passagen über Juden werden drei „Regeln des Lichts“ exemplarisch gegenübergestellt, um Wielands Umgang mit dem Gewordenen und damit auch seinen Umgang mit den Juden herauszuarbeiten. 3.1. Die dritte und vierte „Regel des Lichts“: Respekt und Hochachtung vor den Dingen und Menschen Eine kurze Passage im Märchen „Neangir und seine Brüder“ beschreibt, wie Herrscher mit denen umgehen könnten, die nicht Respekt und Hochachtung gegenüber den Dingen und Menschen, in diesem Fall den Juden, entgegen bringen. Neangir ist der Sohn des Bassas vom Meere, der in einem Schloss an der Küste gelebt hatte, 31 Vgl. K OHUT , Judenfreunde, 151. Stefan Lindl 108 bis er sich in seinem zwölften Lebensjahr vor einem Juden in einen Kochtiegel verwandelte und von ihm entwendet wurde. Als sich sein Entführer und vermeintlicher Verwandler ausruhte, einschlief und neben dem Kochtiegel Neangier laut zu schnarchen begann, konnte Neangir auf seinen drei steifen Beinen mühevoll in einen Gemüsegarten entfliehen. Dort verbrachte er eine geruhsame Nacht und wurde morgens von Zinebi und ihrem Mann Muhammed entdeckt und in den gemeinsamen Hausstand integriert. Drei Jahre verbrachte der Sohn des Bassas bei den beiden in Form eines Kochtiegels und diente ihnen. Dann geschah das nächste Wunder: Auf der Feuerstelle, angefüllt von einer Hammelbrust, setzte Zinebi dem Kochtiegel Neangir den Turban ihres Mannes Muhammed auf, weil sie gerade keinen passenden Deckel fand. Dies war offenbar der Anlass der Rückverwandlung Neangirs, dem in seiner menschlichen Gestalt die Füße an dem Feuer heiß wurden. Zwei weitere Jahre blieb nun der Mensch Neangir bei seinen Zieheltern Zinebi und Muhammed, dann schickten ihn die beiden nach Konstantinopel fort. Es folgt die entscheidende Szene mit den Juden: In Konstantinopel trifft sein leiblicher Vater, der Bassa vom Meere, zufällig auf ihn in einem Haus eines Kadi. Neangir klagte dort einen Juden an, der ihn vermeintlich betrogen hatte. Die tumultuarische Szene wird noch verwirrender, weil zwei weitere Juden hinzukommen. Der eine gleicht demjenigen Juden, der Jahre zuvor an seiner Verwandlung in den Kochtiegel beteiligt war. Beide sind Brüder des vermeintlichen Betrügers. Wieland spielt in dieser Passage durchaus mit Klischees, die Juden nachgesagt wurden: Die vermeintliche Betrügerei, die Zauberei des Verwandelns, die auf zeitgemäße, gängige Vorstellungen des Kabbalismus verweist. Diese Klischees werden im Laufe des Märchens entkräftet und erweisen sich als Unwahres im Reich der Märchen. So verwandelte nicht der Jude Neangir, wie der Leser anfangs meinen konnte, sondern Neangir unterlag einem Zauberspruch, der ihn ohne Zutun des Juden verwandelte. Er nahm vor dem Juden lediglich seinen Turban ab. Das war ausreichend, um aus Neangir einen Kochtiegel zu machen. Als ihm, dem Kochtiegel, drei Jahre später Zinebi wiederum einen Turban aufsetzte, verwandelte er sich wieder zurück in einen Menschen. - Von den Zauberkräften der Kabbalisten verflüchtigt sich jede Spur. Wieland setzte auf ein Klischee seiner Leser, um es dann zu dekonstruieren. Märchenhaftes und Abstruses ist allenthalben in der Geschichte zu finden. Auch der vermeintliche Betrug, den Neangir dem Kadi anzeigte, klärt sich als eine Überlebensnotwendigkeit auf. Sie geht auf ein Judenpogrom zurück, bei dem die drei Juden ihr Hab und Gut verloren hatten. Das scheinbar betrügerische Handeln ist eine Folge des Pogroms, das durchaus als Dispositiv des betrügerischen Handelns verstanden werden kann. Dieser Betrug ist jedoch selbst ein märchenhafter Zauber, ähnlich dem, der Neangir in einen Kochtiegel verwandelt hatte. Er funktionierte so: Neangir kaufte bei einem Juden eine Uhr. Diese Uhr war jedoch ein verwandeltes Mädchen, das immer wieder zu seinem Besitzer, dem Juden, zurückkehren muss. So entfloh die Uhr auch Neangir. Der Jude hatte die Uhr wieder, aber auch das Geld Neangirs. Mit dieser stets zurückkehrenden Uhr konnte der Jude, der Opfer eines Pogroms war, seinen Lebensunterhalt verdienen. Aber nicht durch einen Zauber der Kabbala war das möglich, sondern durch den Zauber eines Märchens. Eine Uhr, die ein verzaubertes Mädchen ist, mag erstaunen. Aber ande- Juden nach den Regeln des Lichts 109 rerseits ist ein Mädchen, das in eine Uhr verwandelt worden war, nicht weniger kurios als ein Zwölfjähriger, der sich in einen Kochtiegel verwandelt. All das ist bewusst phantastisch irritierend. Das Märchen lässt keine Aussage darüber zu, was die Wirkung von etwas oder wer der Schuldige und wer das Opfer ist. Das Juden- Klischee, mit dem Wieland spielt, ist ebenso märchenhaft wie die seltsamen Zaubereien. So sind die Juden Spielbälle des Phantastischen, genauso wie die Muslime in der Geschichte. „Neangir und seine Brüder“ ist ein espritvoller Text, der alle Klischees persiflierend dekonstruiert. Der Gestaltungsmodus, den Wieland anwandte, ist ein überformend belassender, die Modifikationsstrategie eine pragmatische: Er spielt mit den Klischees über Juden, die seine Leser kannten, als das Gewordene, belässt sie, um sie im nächsten Moment humorvoll mit seinen humoristischen Phantasmen zu überformen und dorthin zu verweisen, wo sie hingehören: In das Reich der Phantasie, in das Reich der Märchen. Er belässt das Klischee und macht in ihm kaum spürbar deutlich, was er von diesen Klischees hielt. - Eine eindrucksvolle Waffe der Vernunft. Erstaunlich aber ist der Bruch, der sich im weiteren Ablauf des Märchens auftut. An die offensichtlichen Phantastereien, mit denen die Klischees von Juden transportiert und dekonstruiert werden, schließt eine durchaus ernsthafte, aufklärerische Passage. Der Bassa vom Meere schickt entrüstet seinen hochgeschätzten Leibpaschen weg, weil er sich judenfeindlich äußerte. „Ein Leibpasche des Bassa, der alles bei ihm galt, konnte sich […] des Lachens nicht enthalten. ‚Gnädiger Herr‘, sagte er zu Hassan, ‚was kümmern Euch die drei Juden? Ich würde mich an Eurer Stelle an diesen beiden jungen Personen erholen, die ich nicht gegen alle Juden in der Welt vertauschen wollte. […]‘ Der Bassa, dem diese Freiheit seines Paschen […] anstößig war, befahl ihm, sich sogleich zu entfernen und ihm nicht wieder vor die Augen zu kommen.“ 32 Verkleidet in einem Märchen, ungefährlich allenfalls als Waffe der Vernunft zu werten, wird eine ideale soziale Praxis der Gleichheit und der Toleranz aufgezeigt. Judenfeindliche Äußerungen sollten nicht zur Ausgrenzung von Juden führen, sondern zur Ausgrenzung jener, die sich judenfeindlich äußern. Die Kohärenz der Textstellen lässt die Qualität dieser Märchenpassage bewerten: Es handelt sich um eine offenkundige phantastische Erzählung, die aber in sich vernunftgeprägte, naturgegebene Regeln des sozialen Zusammenlebens beschreibt. Schließlich wertete er im Kosmopoliten-Orden alle Menschen als „Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie.“ 33 Wer andere Menschen Juden vorzieht und Juden diffamiert, verstößt gegen dieses Gesetz des Kosmopoliten-Ordens. Der Kosmopolit Wieland kämpfte mit den sanften, gewaltfreien Mitteln des Schriftstellers, um auf lange Sicht Zustände zu verändern. Das Medium scheint unverfänglich. Es sind schließlich „nur“ unterhaltende Feen- und Geistergeschichten. Aber eine der „Regeln des Lichts“ spiegelt sich darin wider: Der respektvolle Umgang mit Menschen. Während Wieland mit den Klischees in seinem Text überformend belassend umgeht, zeigt er durchaus, wie mit Menschen umzugehen sei, die den Wert anderer 32 W IELAND , Neangir, 92. 33 D ERS ., Kosmopoliten-Orden, 167f. Stefan Lindl 110 herabwürdigen. Nichts anderes tut der Leibpasche. Er überformt scheinbar mit seiner Äußerung die (natürliche) Gleichheit der Menschen, in diesem Fall der Juden und der Muslime. Es ist ein Verstoß gegen eine Regel des Kosmopoliten-Ordens. Die Antwort des Bassas ist die Antwort auf einen Regelverstoß, der mit gleichen Mitteln geahndet wird: Überformung durch Exklusion. Der Bassa entbindet den Pascha von seinen Pflichten und schickt ihn entrüstet fort. Das ist eine innovative Modifikationsstrategie, die in dieser Passage zum Ausdruck kommt. Ein gewordener Zustand wird überführt in einen neuen, der durch einen sozialen Bruch ausgedrückt wird. 3.2. Die fünfte Regel des Lichts und die aufgeklärte Kritik am Judentum In dem novellenartigen „Agathodämon“ von 1799 differenziert Wieland durch einen Monolog des „guten Dämons“ Appolonius von Tyana das Judentum gegenüber dem Christentum. „Es ist wirklich interessant […] zu sehen, wie der alte beschränkte Begriff der Juden von einem strengen, eifersüchtigen, launenvollen, aber für sie parteiischen, ihnen ausschließlich gewogenen, und in einem besondern Bunde mit ihnen stehenden Nazionalgott, und seiner irdischen Oberherrschaft über sein erwähltes Volk, sich in dieser schönen, liebevollen Seele zu dem so viel würdigern, reinern und humanern Begriff eines allgemeinen Vaters der Menschen, und eines Allen offen stehenden Reichs Gottes, läuterte. In dieses Reich nicht nur seine leiblichen Stammverwandten, die Juden, sondern alle Völker der Erde einzuladen, dazu glaubte er in die Welt gekommen zu sein.“ 34 Vergleicht man das von Agathodämon beschriebene Judentum und Christentum mit den Prinzipien des Kosmopoliten-Ordens, also Respekt und Hochachtung gegenüber dem und den Anderen, dann liegt das Judentum abseits dieser Regeln der Wielandschen Aufklärung. Das Christentum hingegen ist offen, inklusiv, respektvoll, tolerant und verfügt über ein humaneres Gottesbild als das exklusive Judentum, das sich einen „strengen, eifersüchtigen, launenvollen, aber für sie parteiischen Nazionalgott“ erwählte. Das auserwählte Volk schließt zwangsläufig andere aus, die nicht auserwählt sind. Die Exklusivität des Judentums steht gegen die Aufklärung Wielands. Wesentlich näher an den charakteristischen Zügen des Kosmopoliten- Ordens siedeln die Christen. Im Regelsystem Wielands ist die Folgerung bezüglich der Auserwähltheit, die der Agathodämon beschreibt, kohärent. Fern von Lessing befindet sich Wieland mit diesem Denken nicht. In der „Erziehung des Menschengeschlechts“ wird auf die Fortentwicklung des Judentums durch Christus verwiesen. 35 Es vollzieht sich darin durchaus eine Kritik an der Exklusivität des Judentums, die das Christentum allerdings wiederum aufheben kann, denn es sei so angelegt, dass es alle Menschen und deren Religionen miteinbeziehe oder „einlade“, wie Wieland formulierte, also auch das Judentum. Doch ohne Judentum, hätte es kein Chri- 34 D ERS ., Agathodämon, 285. 35 L ESSING , Erziehung, §§ 53-61, 52-59. Juden nach den Regeln des Lichts 111 stentum gegeben. Diese Kausalität beschreibt eine weitere Passage des „Peregrinus Proteus“. Darin wird das Christentum in einer besonderen Art und Weise zum Judentum differenziert. „Mein Großvater hegte aus mancherlei Ursachen einen gränzenlosen Abscheu vor Juden und Judenthum; seine Vorurtheile gegen sie waren vielleicht zum Theil ungerecht, aber sie waren unheilbar: und weil die Christianer für eine Jüdische Secte galten, und, was noch schlimmer war, für eine, die sogar von den Juden selbst aus ihrem Mittel ausgestoßen worden; so glaubte man ihnen kein Unrecht zu thun, wenn man das Schlechteste von ihnen dachte und sagte […]. Mit diesen Vorurtheilen gegen Juden und Christianern aufgewachsen, hatte ich es, wie gesagt, nie der Mühe werth gehalten, mich genauer nach ihnen zu erkundigen.“ 36 Wer spricht hier? Es ist Peregrinus Proteus, ein griechischer Philosoph, der sich an Lucian wendet. Ein Polytheist vermittelt die Ansichten seines ebenso polytheistischen Großvaters über die monotheistischen Juden und Christen. Voltaire und Lessing sprachen beide vom Judentum als Mutter des Christentums sowie des Islams. 37 Der eine spöttisch, der andere dankbar. Wieland drückt diese mütterliche Verbindung mit einer abspalterischen Sektiererei aus, die ihren vollen Ésprit entfaltet, wenn der Perspektivwechsel in den Polytheismus Peregrins vollzogen wird. In geistreicher, persiflierender Art hinterfragt der Text wiederum die Vorurteile und die Klischees gegenüber anderen Religionen. Je nach Standpunkt, der immer ein kulturell-bedingter, kontingenter und keinesfalls notwendiger ist, sehen Religionen anders aus. Das ist die Regel, die sich in dieser Textpassage verbirgt. Peregrin stellt die Christen als abtrünnige Häretiker und Sektierer des Judentums dar. Das Christentum verhält sich also zum Judentum wie die Albigenser, Jan Hus oder Luther zur römischen Kirche. Die Peregrin-Passage sprengt die Voreingenommenheiten und Vorurteile gegenüber anderen Religionen regelrecht auseinander. Es ist eine Waffe der Vernunft, die ganz im Sinne Wielands Forderung im „Kosmopoliten- Orden“ ist. Sie richtet sich auf die Toleranz, für die er einen schafft. Insgesamt entfalten die Texte eine Einheit von Judentum und Christentum, sie betonen nicht die Differenz, sondern die Konnektivität beider Religionen. Gerade die Agathodämon-Passage zeigt, dass vernunftbetonte Kritik am Judentum auch im Judendiskurs der Aufklärung erfolgen kann. Aber immer nur im Maße der Vernunft. Peregrinus bindet die Kritik wiederum ein in eine notwendigerweise zu berücksichtigende Kausalität von Judentum und Christentum. Wiederum finden sich in dem Text die bereits bekannten Modifikationen wieder. Immer ist eine pragmatische Strategie angewendet: Das Gewordene bleibt, es wird mit ihm gespielt und entlarvt durch dekonstruktive Muster der Vernunft. Ein Klischee ist eine Aussage über etwas, die einen bestimmten Standpunkt benötigt. Sobald dieser Standpunkt verlassen wird, bricht das Klischee in sich zusammen und entbehrt jeglicher Vernunft. Genau dann löst sich nämlich das Klischee auf. Es ist eine Waffe der 36 W IELAND , Peregrinus, I. Teil, 186f. 37 L ESSING , Erziehung, 52; V OLTAIRE , Dictionnaire, Artikel „Juifs“: „Les religions chrétienne et musulmane reconnaissent la juive pour leur mère; et, par une contradiction singulière, elles ont à la fois pour cette mère du respect et de l'horreur.“ Stefan Lindl 112 Vernunft, mit der Wielands Texte überformend-belassend mit dem Gewordenen, den Klischees, umgehen. 3.3. Die sechste Regel des Lichts: Juden und die Art der Vergemeinschaftung Die „Geschichte der Abderiten“ erschien im „Teutschen Merkur“ zwischen 1774 und 1780. Abderiten werden darin als globales Phänomen des Schildbürgertums beschrieben, das keine „nazionalen“ Grenzen kennt. Abderiten ähneln somit den Kosmopoliten, wenn auch die vernunftgesteuerten Kosmopoliten die geistigen Antipoden der vernunftentbehrenden und vernunftfreien Abderiten sind. Die „Geschichte der Abderiten“ ließe sich im Vergleich mit der Utopie des „Kosmopoliten- Orden“ als Dystopie klassifizieren. „[Die Abderiten] sind ein unzerstörbares, unsterbliches Völkchen; ohne irgendwo einen festen Sitz zu haben, findet man sie allenthalben; und wiewohl sie unter allen andern Völkern zerstreut leben, haben sie sich doch bis auf diesen Tag rein und unvermischt erhalten, und bleiben ihrer alten abderitischen Art und Weise so getreu, daß man einen Abderiten, wo man ihn auch antrifft, nur einen Augenblick zu sehen braucht, um eben so gewiß zu sehen und zu hören, daß er ein Abderit ist, als man es zu Frankfurt und Leipzig, Constantinopel und Aleppo einem Juden anmerkt, daß er ein Jude ist.“ 38 Die Passage spielt auf die Versprengtheit der Juden an, die sich an allen möglichen Orten finden und doch trotz der verschiedenen kulturellen Kontexte immer als Juden zu erkennen sind. Sie halten ihre Identität auch ohne räumliche Nähe und gemeinsame soziale Praktiken aufrecht. Hypernationalität, Versprengtheit, Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit fern von nationalen Grenzen haben also Juden, Kosmopoliten sowie Abderiten gemein. Im „Kosmopoliten-Orden“ wird die Nichtigkeit des ius sanguinis für eine ideale Gemeinschaft der Harmonie deutlich. In den Abderiten wird dagegen das Judentum als Metapher, als gängiger und verständlicher Code betrachtet, mit dem sich dieses Prinzip der (Ordens-) Gemeinschaft erläutern lässt. Juden tragen in dieser Passage also den Code für ein Prinzip einer Vergemeinschaftung ohne soziale Relationalität. Während die Kosmopoliten eine ideale Gemeinschaft im Sinne eines „Ordens“ sind, weil sie das Naturgesetz als Ordensregel und Regeln der Vernunft betrachten, sind die Abderiten das Negativbild dessen. Von Unvernunft sind sie geprägt, aber sie bilden nach demselben Prinzip eine Gemeinschaft aus, deren „Ordensregeln“ die Regeln der Unvernunft sind. Im Natur/ Kulturkontext der ausgewählten Wielandpassagen sind die vernunftgeprägten Kosmopoliten unter der Kategorie „Natur“ einzuordnen. Die Abderiten hingegen unter der Kategorie „Kultur“. Die Identität der einen ist die Vernunft, die der anderen die Unvernunft. Obgleich Wieland Juden kaum in seinen Texten erwähnte, lässt sich in dieser „fünften Regel des Lichts“ über die Vergemeinschaftung und Identität von Gemeinschaften/ Orden eine Vorbildfunktion der Juden ableiten. 38 W IELAND , Abderiten, 210f. (Der Schlüssel zur Abderitengeschichte). Juden nach den Regeln des Lichts 113 Wieland schreibt im Märchen „Neangir und seine Brüder“ von der im „Kosmopoliten-Orden“ angesprochenen „Sympathie“, die diese versprengten Menschen aneinander bindet. Der „Neangir“ enthält die „Geschichte der drei Juden“, in der beschrieben wird, wie sympathisch vereint die drei jüdischen Brüder Izif, Izuf und Izaf sind. Geschieht dem einen ein Leid, geschieht es den anderen ebenso. 39 So ist im Falle der Juden nicht nur eine kultisch-religiöse Einheit vorhanden, sondern auch eine sympathische, die sich durch die Texte Wielands als fester Bestandteil zieht. Juden sind also nicht nach den Regeln des Lichts im „Neangir“ dargestellt, es ließe sich vielmehr sagen: Aus ihrer Gemeinschaft wird eine Regel des Lichts abgeleitet, die Verbundenheit, also eine Vergemeinschaftung, die keinen Ort, keine Nation und keine Staatlichkeit benötigt. Juden sind der Schlüssel zu dieser Regel des Lichts einer idealen Gemeinschaft. Liest man die Passagen der „Abderiten“, des „Neangir“ und des „Kosmopoliten-Ordens“ aus diesem Blickwinkel, rücken Wielands Texte in die Nähe Lessings: Die Juden werden zu „Erziehern des Menschengeschlechts“. 4. Wieland und die Modifikationen der Juden Der schwäbische Schriftsteller Christoph Martin Wieland schrieb nicht viel über Juden. Warum er das tat, obwohl er Mendelsohn und Lessing bewundernd nahe stand, ist nicht zu rekonstruieren. Seine Motive sind wie er selbst vergangen und verloren. Die Logik über den Umgang mit anderen Menschen, Völkern und damit auch mit Juden lässt aber durchaus den Schluss zu, dass er die „Regeln des Lichts“ der Aufklärung auf sie anwandte und sogar eine aus dem Judentum möglicherweise ableitete. Der Umgang mit dem Gewordenen, den er in seinen Texten offenbart, unterliegt einer pragmatischen Modifikationsstrategie: Er belässt den Zustand der Juden nicht einfach, er tut nicht einfach nichts, vielmehr fügt er ideale soziale Praktiken im Umgang mit Juden seinen Geschichten bei. Beispielsweise im „Neangir“, indem er zeigt, wie die Obrigkeit mit judenfeindlichen Äußerungen umgehen könne. Seine Sprache wird jedoch nicht performativ in der Hinsicht, dass er Handlungen fordert. Es sind nur Gedanken, deren Handlungsseite nicht des Autoren Sache ist. So fehlt Wielands Texten das akut Performative. Bei ihm heißt es nicht „gesagt, getan“, sondern eher „gesagt, gesät“. Das Gewordene, so seine Texte, soll sich nach dem Willen der Natur und der Vernunft langsam, evolutionär zum Besseren und Guten wandeln. Dafür braucht es keine schnellen Taten, keine Revolution und gewaltvolle Überstaltung. Innovative Strategien lehnt er deswegen ab, um Wandel hervorzurufen. Es ist der langsame, belassende und nur sanft überformende Weg, den er auf der Seite des Denkens und der Vernunft anstrebt. Da mag der Text „Über das Schicksal der Juden“ im Teutschen Merkur zu Wieland nicht recht passen. Er ist zu deutlich strategisch-innovativ, zu nachdrücklich schnell, zu fordernd. In dem explizitesten Text über Juden, der mit Wieland in editorischer Verbindung steht, wird sichtbar, was er möglicherweise wollte, aber nach seinem Verständnis der 39 D ERS ., Neangir, 75f. Stefan Lindl 114 vernunftgeprägten, von ihm bevorzugten pragmatischen Modifikation nicht sagen konnte: „Mich dünkt immer, wenn ich diese Unglücklichen [die Juden] erblicke, daß Gott sie unter uns geworfen habe, um unsern Glauben durch ein herrliches Werk der Barmherzigkeit zu prüfen. Nun wohlan! So laßt uns denn barmherzig seyn gegen sie, gegen das Vaterland, gegen uns selbst! Laßt sie uns aufnehmen als Brüder! Laßt uns ihnen die Vorrechte einräumen, wodurch sie nützliche Mitglieder des Staats werden können! Laßt uns ihnen die Thüren zu allennützlichen Gewerben öffnen! Laßt uns ihnen die Hoffnung zeigen, daß sie auf diesem Wege auch Ehre erlangen können.“ 40 Literatur A LTER , P ETER / B ÄRSCH , C LAUS -E KKEHARD / B ERGHOFF , P ETER (Hrsg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999. A NONYMUS : Über das Schicksal der Juden, in: C HRISTOPH M ARTIN W IELAND (Hrsg.), Der Teutsche Merkur, 3. Vierteljahr 1775, 213-220. 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Meine meiste Zeit auf der Promenade brachte ich in der Gesellschaft einiger interessanten Judenfamilien von Augsburg zu, und Madame Obermeier will mir sogar ein Fäßlein voll Augsburger Bier schicken.“ 1 Hebels persönliche Begegnungen mit Juden reichen bis in seine frühe Jugend zurück. 2 Schon als Kind begegnete er häufig jüdischen Händlern auf dem Weg von Hausen nach Lörrach. Als Schüler am Karlsruher Gymnasium illustre saß er zwischen 1774 und 1778 mit jüdischen Mitschülern im Klassenzimmer. Als Lehrer (ab 1791) und „Professor extraordinarius der dogmatischen Theologie und hebräischen Sprache“ (ab 1798) unterrichtete er jene Sprache des Alten Testaments, die er als Theologiestudent in Erlangen von 1778 bis 1780 erlernte. In dieser Studienzeit soll er in Segringen einmal selbst für einen Israeliten gehalten und um einen Leibzoll angegangen worden sein, wie Christoph Zölle in einer bekannten Anekdote berichtet. 3 Als Mitglied des Karlsruher Establishments pflegte Hebel freundschaftlichen Umgang mit Salomon Haber, Jakob Kusel, David Freiherr von Eichthal oder Salomon Model. Mit Hansfrieder Zumkehr kann man etwa folgende Szene „[...] imaginieren: Wenn Hebel sonntags in die Schloßkirche zur Predigt geht, könnten ihm unterwegs der spätere erste Obervorsteher des jüdischen Oberrates, Oberhoffaktor Elkan Reutlinger, begegnen, mit dem er später im ‚Bären‘ pokulierte (B, 692), oder sein Bankier Christian Meerwein, Freund und ehemaliger Vermieter, den er später nach dessen Bankrott beklagt: ‚[...] der arme Mann dauert mich tief in die Seele hinein. Aber wie oft habe ihm seit 30 Jahren gepredigt‘ (B, 714).“ 4 (262f.) 1 Zit. nach L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 128. 2 Grundlegend hierfür S TORCK , Emanzipation der Juden, 140-143; vgl. auch L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 126-128. 3 Vgl. Z UMKEHR , Hebel und die Juden, 252 mit Quellenangabe, sowie L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 128. - Itta Shedletzky weist mich darauf hin, dass diese in Berthold Auerbachs Volkskalender für 1860 bereits abgedruckte Anekdote am 12.3.1867 auch im elften Jahrgangsheft auf den Seiten 227f. der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ abgedruckt worden ist; vgl. http: / / www.compactmemory.de/ pdfview/ pdfview_page. aspx? ID_0=3&ID_1=59&ID_2=3012&ID_4=z_zei_310124r.tif (Zugriff: 31.07.2014). 4 Z UMKEHR , Hebel und die Juden, 262f.; die Angaben in Klammern beziehen sich auf eine vom Verf. benutzte Brief-Ausgabe. Friedmann Harzer 118 Sein berühmtes „Sendschreiben“ an die Theologische Gesellschaft von Lörrach, von dem gleich die Rede sein wird, beschließt Hebel mit den nicht minder bekannten Worten: „Grüße mir den thumringer Juden, und, wenn er noch lebt, den Scheitele in Lörrach, und den Nausel! “ 5 Johann Peter Hebels Philojudaismus ist sprichwörtlich geworden. In welchen zivilrechtlichen, anthropologischen, exegetischen und schließlich auch literarischen Zusammenhängen er sich nachweisen lässt, sei im Folgenden untersucht. 6 1. Hebel und die Judenemanzipation um 1800 Baden gehörte zum Rheinbund und war politisch um 1800 stark an Frankreich orientiert. Das galt auch für die Judenemanzipation, die sich 1807 zivilrechtlich niederzuschlagen begann. 7 Hebel informierte seine vornehmlich christlichen Leser im „Rheinischen Hausfreund auf das Schaltjahr 1808“ über die Fortschritte der Judenemanzipation unter Napoleon mit dem Bericht über den „großen Sanhedrin zu Paris“, 8 der folgendermaßen einsetzt: „Daß die Juden seit der Zerstörung Jerusalems, das heißt, seit mehr als 1700 Jahren, ohne Vaterland und ohne Bürgerrecht auf der ganzen Erde in der Zerstreuung leben, daß die meisten von ihnen, ohne selber etwas Nützliches zu arbeiten, sich von den arbeitenden Einwohnern eines Landes nähren, daß sie daher auch an vielen Orten als Fremdlinge verachtet, mißhandelt und verfolgt werden, ist Gott bekannt und leid. - Mancher sagt daher im Unverstand: Man sollte sie alle aus dem Lande 5 H EBEL , Erzählungen und Aufsätze. Zweiter Teil, 614. 6 Zur Rezeption und zur Forschungslage wäre noch anzumerken, dass hier im Grunde zwei Themenkreise auseinanderzuhalten wären, nämlich ‚Die Juden und Hebel‘ bzw. ‚Hebel und die Juden‘. Einerseits haben sich viele jüdische Intellektuelle mit Hebel intensiv befasst, zum Beispiel Bloch, Benjamin, Kafka, Canetti oder Vigée; dazu einschlägig Faber, vgl. auch Z UMKEHR , Hebel und die Juden, 255. Zum Thema ‚Hebel und die Juden‘, auf das ich mich hier konzentriere, liegen einige gewichtige Untersuchungen vor, deren Reihe wohl mit Joachim Storcks maßgeblichem Aufsatz von 1985 beginnt. Einschlägig sind ferner die Arbeiten von Richard Faber, Franz Littmann, Johann Anselm Steiger und Hansfrieder Zumkehr. 7 Vgl. S TORCK , Emanzipation der Juden, 138-140. - Das erste Konstitutionsedikt vom 14.3.1807 sollte die bürgerliche Gleichstellung und Religionsfreiheit der Juden gewährleisten, es wurde allerdings mit dem sechsten Konstitutionsedikt vom 14.6.1808 wieder eingeschränkt, das die endgültige Gleichstellung an Bedingungen knüpfte, von denen unten die Rede sein wird. (vgl. S TEIGER , Wie man lernt, 142-145) Das sogenannte ‚Badische Judenedikt‘ von 1809, das Konstitutionsedikt vom 13. Januar also, stellte die Juden im Großherzogtum Baden staatsbürgerlich endgültig gleich. Dies bedeutete für sie u.a. Schul- und Wehrpflicht sowie erbliche Familiennamen. Die badische Verfassung von 1818 machte hier indessen wieder erhebliche Einschränkungen, schloss etwa die Einstellung in den Staatsdienst aus. 8 Der aus dem Hebräischen übernommene Begriff Sanhedrin ist seinerseits vom griechischen (‚Versammlung‘, ‚Rat‘) abgeleitet. Empathie, Exegese, Esprit. Über Hebel und das Judentum 119 jagen. Ein anderer sagt im Verstand: Man sollte arbeitsame und nützliche Menschen aus ihnen machen, und sie alsdann behalten. Der Anfang dazu ist gemacht. Merkwürdig für die Gegenwart und für die Zukunft ist dasjenige, was der große Kaiser Napoleon wegen der Judenschaft in Frankreich und dem Königreich Italien verordnet und veranstaltet hat. Schon in der Revolution bekamen alle Juden, die in Frankreich wohnten, das französische Bürgerrecht, und man sagte frischweg: Bürger Aaron, Bürger Levi, Bürger Rabbi, und gab sich brüderlich die Hand. Aber was will da herauskommen? Der christliche Bürger hat ein anderes Gesez und Recht, so hat der jüdische Bürger auch ein anderes Gesez und Recht, und will nicht haben Gemeinschaft mit den Gojim. Aber zweyerley Gesez und Willen in Einer Bürgerschaft tut gut, wie ein brausender Strudel in einem Strom. Da will Wasser auf, da will Wasser ab, und eine Mühle, die darinn steht, wird nicht viel Mehl mahlen.“ 9 Hebel berichtet hier von einer Versammlung jüdischer Laien und Rabbiner, die tatsächlich vom 4. Februar bis 9. März 1807 auf Einladung Napoleons in Paris getagt hat. Dieser Sanhedrin sollte Antworten finden auf Fragen zum Verhältnis von jüdischem Recht und Zivilgesetzgebung. Im Hintergrund stand dabei die Kardinalfrage, ob es zur Emanzipation und Gleichstellung jüdischer Bürger deren vollständiger Assimilation bedürfe oder ob die gleichberechtigte Koexistenz verschiedener Religionen - mit je eigenen Ritualen, Formen und Codes - unter einem gemeinsamen Zivil-Recht denkbar sei. Im zitierten Text findet sich nun keine naturrechtliche Argumentation für die Gleichstellung der Juden, wie man sie in der Spätaufklärung vielleicht erwarten würde. Vielmehr ergreift der Sprecher zunächst in heilsgeschichtlicher Perspektive Partei für das jüdische Volk. Der Hausfreund erzählt gleichsam aus dem Blickwinkel Gottes, der mit Mitgefühl auf sein auserwähltes, seit 70 n.Chr. in der Diaspora lebendes Volk sieht. Dann nennt er eine Position, die am prominentesten wohl Christian Wilhelm von Dohm vertreten hat: Das Beste für eine Integration sei es, Juden alle Erwerbsmöglichkeiten (also auch Handwerksberufe oder Landwirtschaft) zu erlauben und sie so zu fleißigen Mitbürgern zu erziehen; zu höheren Staatsämtern sollten sie allerdings nicht zugelassen werden. 10 Nun macht Hebel an keiner Stelle seines erhaltenen bzw. veröffentlichten Werkes die volle bürgerliche Gleichstellung der Juden von den Erfolgen ihrer Assimilation und „Umerziehung“ abhängig, auch wenn „Der große Sanhedrin“ hier in der Figurenrede des „Andern“ auf Dohms Position anspielt: „Man sollte arbeitssame und nützliche Menschen aus ihnen machen, und sie alsdann behalten.“ 11 Eher scheint Hebel mit der Position Moses Mendelssohns sympathisiert zu haben, dem er im Kalender auf das Jahr 1809 auch einen eigenen, noch zu diskutierenden Beitrag widmete; Hebel hat diese zentrale Figur der jüdischen Aufklärung hoch geschätzt und Mendelssohns Bücher „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum“ 9 H EBEL , Erzählungen und Aufsätze. Erster Teil, 94f.; zum Folgenden vgl. auch S TEIGER Unverhofftes Wiedersehen, 67-72. 10 Vgl. D OHM , Bürgerliche Verbesserung. 11 Vgl. S TEIGER Unverhofftes Wiedersehen, 74; vorsichtiger L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 131-133. Friedmann Harzer 120 (Frankfurt am Main 1787) und „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ (Berlin 1776) im Regal stehen. 12 In der zuerst genannten Schrift wendet sich Mendelssohn ausdrücklich gegen das Konzept einer Emanzipation qua Assimilation und Konversion: „Brüder! Ist es euch um wahre Gottseligkeit zu thun; so lasset uns keine Uebereinstimmung lügen, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung ist. [...] Glaubensvereinigung ist nicht Toleranz, ist der wahren Duldung grade entgegen! “ 13 Die von Hebel im Kalender referierten neun Gesetze, die der große Sanhedrin in Paris beschlossen hat, formulieren, wohl in Mendelssohns Sinne, für alle französischen Staatsbürger jüdischen Glaubens rein zivilrechtliche Vorschriften und staatsbürgerliche Ratschläge, in einer freilich etwas kuriosen Mischung aus juristischen und ethischen Vorgaben: 14 Monogamie, Scheidung und Trauung durch einen Rabbiner solle nur nach zivilrechtlicher Scheidung oder Trauung erlaubt sein, jüdischchristlicher Mischehen rechtens, die Ausrichtung am gemeinsamen Monotheismus und an den zehn Geboten billig. Hier wird einem Ius Soli das Wort geredet; hier wird Toleranz juristisch manifest, wenn jüdische Soldaten nicht zu „Ceremonien“ gezwungen werden sollen, die sich mit ihrem Bekenntnis nicht vertragen; hier wird die Forderung nach Gleichberechtigung auch darin greifbar, dass der Text für Juden das Recht einklagt, nunmehr auch bürgerliche Berufe ergreifen oder in die Landwirtschaft arbeiten zu dürfen, womit das Verbot der Verzinsung von Hilfskrediten unter Juden und Nichtjuden und von Wucher ebenfalls einen emanzipatorischen Sinn erhält. Bart und Schläfenlocken mögen bleiben, wenn sich die Juden nur in allen staatsbürgerlichen Fragen den Gesetzen des Landes unterordnen, in dem sie gerade leben - so könnte man diesen Text auf den Punkt bringen. Seinem Schüler Friedrich Giehne zufolge trieb Hebel „[...] das Hebräische, das er zu lehren hatte, wahrhaft con amore, und fand ein Interesse daran, auch der jüdischen Neuzeit in ihren Entwicklungen und Eigenthümlichkeiten nachzugehen.“ 15 Er interessierte sich für das Judentum nicht nur als Zeitgenosse der Judenemanzipation, sondern vor allem auch als Hebräisch-Lehrer, Exeget, Katechet und Prediger. So verwundern die Parallelen nicht weiter, die sich etwa zwischen dem empathischen Beginn von „Der große Sanhedrin“ und einer Predigt zum zweiten Weihnachtsfeiertag von 1803 finden lassen, in der Hebel Marias Magnificat aus dem ersten Kapitel des Lukas-Evangeliums auslegt. In einer Reihe von - emphatischen und empathischen - rhetorischen Fragen heißt es dort schließlich: „Und wenn sie es geahndet hätte, daß einst noch der Schutthaufen von Jerusalem ihr Grab bedecken, und ihr Volk noch Jahrtausende lang ohne Thron und Tempel und Messias auf der weiten Erde ohne Vaterland und ohne Bürgerrecht im Elende herumirren würde, hätte sie dann wohl ihren Lobgesang in dem patrioti- 12 Vgl. die Einzelnachweise bei Z UMKEHR , Hebel und die Juden, 267, Anm. 80. 13 M ENDELSSOHN 2001, 133. 14 Vgl. H EBEL , Erzählungen und Aufsätze. Erster Teil, 96-98. 15 Zit. nach L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 126f. Empathie, Exegese, Esprit. Über Hebel und das Judentum 121 schen Aufschwung ihrer Gefühle endigen können: ‚Gott hilft seinem Diener Israel auf und rechtfertigt die Erwartungen unserer Väter‘? “ 16 Die Analogie zwischen Hebels Predigt und seiner Kalendergeschichte liegt auf der Hand, hier wie dort spricht sich ein Bedauern über die jüdische Diaspora aus. Im Kalender kommt dies in einer gleichsam göttlichen Erzähl-Perspektive zur Sprache, in der Predigt in einem Gedankenexperiment, mit dem sich der Redner in Maria hineinversetzt - ein Verfahren, das auf exegetische Verfahren des gut 150 Jahre später entwickelten ‚Bibliodramas‘ vorausweist. 17 Mit der zitierten Christfest- Predigt treten Hebels religionsgeschichtliche und theologische Betrachtungen in den Vordergrund, auf die ich im folgenden Kapitel eingehe. 2. Das auserwählte Volk in Hebels Predigten und theologischen Schriften 2.1. Das „Sendschreiben“ Im Dezember 1809, gut ein Jahr nach der Publikation von „Der große Sanhedrin“, veröffentlicht Hebel einen offenen Brief an den Sekretär der theologischen Gesellschaft zu Lörrach; er erscheint in der seinerzeit viel beachteten Zeitschrift „Jason“. 18 Dieses „Sendschreiben“ handelt, wie der vollständige Titel lautet, „über das Studium des jüdischen Charaktergepräges und dessen Benützung auf Bibelstudium“. Hebel weist dort eine Form zeitgenössischer Exegese zurück, die sich vor allem für Realien und Altertumskunde interessiert hat. Ihr führender Vertreter war der Göttinger Orientalist und Alttestamentler Johann David Michaelis, im Text ironisch der „selige[-] Ritter Michaelis“ genannt. Dieser hatte für eine wissenschaftliche Expedition nach Palästina und in den Libanon, die vom dänischen König Friedrich V. finanziert worden war, einen langen Katalog ‚wissenschaftlicher‘ Fragen formuliert. Hebel nun findet etwa die Fragen 30, 51 und 92 von Michaels - und vor allem das ihnen zugrunde liegende, ‚positivistische‘ Erkenntnisinteresse - wenig hilfreich, wenn es um ein ‚lebendiges‘ Verständnis des Alten Testaments gehen soll: „Der Verzeihung des seligen Ritters aber bedarf ich, weil ich bey allem Respekt vor seiner seltnen Gelehrsamkeit glauben muß, daß er in derselben und durch dieselbe vor Bäumen den Wald nicht recht gesehen habe, als er der arabischen Gesellschaft mancherley Fragen z.B. über die Gottes-Anbeterin, als da ist, nicht die Priesterin Elisabeth oder die Prophetin Hanna, sondern M ANTIS RELIGIOSA L INEI (Frage 51); ferner über die fliegenden Katzen (Fr. 30) und die zweybeinige Maus (Fr. 92) mitgab und aufband, keinesweges aber ihr den Rath ertheilte, [...] vor allen Dingen den Juden und seinen Blutsvetter, den Araber, auf dem heimischen Boden desto näher zu betrachten, und das charakteristische Gepräge zu studiren, welches 16 H EBEL , Predigten. Erster Teil, 264; auf die Stelle brachte mich Z UMKEHR , Hebel und die Juden, 262, der sie allerdings ungenau zitiert. 17 Zum Bibliodrama vgl. etwa S CHRAMM , Die Bibel ins Leben ziehen. 18 Vgl. H EBEL , Erzählungen und Aufsätze. Zweiter Teil, 604-614. Friedmann Harzer 122 das Klima des Landes, wo die Bibel geschrieben wurde, seinen Kindern aufdrückt; da nicht zu läugnen steht, daß man vor allen Dingen diejenigen, an welche geschrieben ist, baß kennen muß, wenn man das, was geschrieben ist, um einen halben Erdgürtel nördlicher, und um ein paar Jahrtausende später ausdeuten, und den heiligen freyen Geist, der heimisch unter den orientalischen Palmen hauset, unter den nordischen Eichen bannen will.“ 19 Hebel befasst sich statt mit Spinnen, Katzen, Mäusen und Zedern im fernen Libanon lieber mit der lebendigen und inspirierenden jüdischen Kultur in seiner Nähe. Er erklärt seinen Lesern zunächst bestimmte jüdische Kleidungsstücke wie Turban, Kaftan und Sandalen, er erwähnt mit Blick auf jüdische Zeitgenossen eine angeblich typisch jüdische Spott-Lust wie eine angeblich typisch jüdische Souveränität im Umgang mit dem Alkohol. 20 Hebel porträtiert und idealisiert hier so wenig wie in den einschlägigen Kalendergeschichten einen kultivierten Salonjuden, wie man ihn etwa immer wieder in Lessings Nathan gesehen hat. Vielmehr befördert er die Toleranz gegenüber den zeitgenössischen Juden, aber auch gegenüber Türken, Griechen oder Italienern, die aufgrund ihrer ‚orientalischen‘ Wurzeln allesamt mit mehr Gelassenheit zu leben verstünden als die Völker im Norden: „Die Paradiese der Morgenländer haben nichts [von abendländischer Betriebsamkeit, F.H.], und Einer, der besser als wir wissen muß, wie es dort aussieht, setzt die Seligen nicht abermal, z.B. an einen Weberstuhl, sondern mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische. Gerne erleichtern wir uns, und beschönigen zwar unsere Arbeitsseligkeit mit der Gemeinstelle, daß Noth die wohlthätige Weckerin unserer Kräfte sey, und Übung durch Arbeit sie zur Vollkommenheit ausbilde. Schön gesagt, wenn’s nicht am Tag läge, was bey diesem nordischen Unfug heraus kommt. Nur wenige von uns erfahren etwas von der Bildung, der Aufklärung und dem Lebensgenusse, der allen gebührt. Die meisten übrigen leben und sterben etwas besser als das Thier, ohne Charakter, ohne Vaterlandsliebe und Muth, ohne Tugend. Auch die wenigen bringens nicht weit. Wir halten uns für die gelehrteste Nation. Wir sind’s leider, wenigstens die schreib- und leselustigste, wenn’s damit gethan wäre. Aber wo ist der reine lebendige Sinn, der das Wahre und Schöne überall und unmittelbar aus der Natur und dem Leben saugt? Wo das innige rege Gefühl, mit welchem der wahre Mensch das Wahre und Schöne sich vereigenthumt? Wo die göttliche Phantasie, beydes an einander zu verherrlichen, und in unsterbliche Ideale zu verschmelzen? Wo die Gabe, rein und klar wiederzugeben, was man so empfangen hat, und so warm, als es im eigenen Herzen lag, in ein fremdes zu legen? Verdampft, schon frühe im Schweiß der Schulen, und später am harten, todten Pult, und unter dem Druck der Folianten und Schatzungsmonate, die auf uns liegen. Wir sind nicht mehr im Stand, den Homer oder Ossian, oder ein einziges Kapitel im Jesaias, z.B. das 60ste bis in sein tiefstes Leben hinein zu verstehen, und zu fühlen, noch viel weniger selber so etwas zu machen, und wenn Homer unsere Messiade lesen sollte, so möchte er über manches den Kopf schütteln [...].“ 21 19 H EBEL , Erzählungen und Aufsätze. Zweiter Teil, 604f. 20 Vgl. H EBEL , Erzählungen und Aufsätze. Zweiter Teil, 605-608, 614f. 21 H EBEL , Erzählungen und Aufsätze. Zweiter Teil, 610f. Empathie, Exegese, Esprit. Über Hebel und das Judentum 123 Von den ‚orientalischen‘ Völkern gibt es demnach etwas ganz Entscheidendes zu lernen: einen unverbildeten, direkten Zugang sowohl zu den alten Texten der Bibel als auch zum Buch der Natur nämlich. Hebel ruft den zeitgenössischen Predigern und religiösen Dichtern gleichsam zu: Überwindet den kalten Pragmatismus einer an Nützlichkeit und irrelevanten Realien ausgerichteten Aufklärung! Hört auf, ein Seitenhieb auf Klopstocks überspannten „Messias“, die Bibel in eine „heilige Poesie“ nach abendländischen Schnittmustern umzuwandeln! Fühlt euch stattdessen in die jüdisch-orientalische Kultur ein, der das Alte Testament entstammt und deren lebendigem Ausdruck ihr noch bei euren jüdischen und „orientalischen“ Zeitgenossen begegnen könnt! Er fordert das nicht umsonst ungefähr zu der Zeit, da Schleiermacher seine universale Hermeneutik entwickelt. Auch Hebel spricht sich - als Exeget und Prediger - für „psychologische Interpretation“ und „Divination“ aus. 22 Die Pointe ist allerdings, dass er die kognitiven und emotionalen Voraussetzungen für diese Applikation im historischen wie zeitgenössischen Judentum und allgemein in den orientalischen Kulturen vermutet. So gipfelt seine Bibelhermeneutik in der Aufforderung zur Einfühlung in die zeitgenössischen Juden, die Nachfahren der ersten Leser der Thora und der Propheten. Die folgende Stelle hat auch Ernst Bloch nachhaltig beeindruckt: „Denn ist nicht Gott selber der erste und größte Dichter, in beyderlei Sinn des Wortes? Die ganze Idee des Weltalls mit allen seinen Theilen und Entwickelungen war in Gott, ehe sie realisirt wurde, ein großes harmoniereiches Gedicht. [...] Was aber den Jesajas betrifft, so behaupte ich nur so viel, daß, wer ihn vom 40. Kapitel an lesen kann, und nie die Anwandlung des Wunsches fühlt, ein Jude zu seyn, sey es auch mit der Einquartierung alles europäischen Ungeziefers, ein Betteljude, der versteht ihn nicht, und so lange der Mond noch an einen Israeliten scheint, der diese Kapitel liest, so lange stirbt auch der Glaube an den Messias nicht aus.“ 23 Als theologischer Lehrer fordert Hebel mithin, die Bibel wieder zu lesen, wie es jüdische Zeitgenossen dank ihrer lebendigen kulturellen Überlieferung vermögen, anstatt sich mit einem zweiten, dritten oder gar vierten, literarisch verwässerten Aufguss zufrieden zu geben. Exegeten und Theologen hätten sich demnach am historischen Publikum des Alten Testaments eben dadurch zu orientieren, dass sie deren legitime Nachfahren in ihrer eigenen Gegenwart (wieder) anerkennen und würdigen. Das gilt gerade auch für die oftmals verarmten zeitgenössischen Juden im Jahre 1809. Hebel überführt damit eine ethnologische Theorie, bei der es einem Leser von heute durchaus unwohl werden kann, in eine exegetische Haltung, in der idealerweise historische Rekonstruktion und gegenwartsbezogene Applikation miteinander verschmelzen - und die, gleichsam als Nebeneffekt, eine genuin theologische (nicht zivilrechtliche! ) Begründung für einen toleranten Umgang mit den jüdischen Zeitgenossen liefert. Und diese wiederum funktioniert nur unter einer heilsgeschichtlichen Prämisse, weshalb Hebel seinen Blick schließlich auf den Messias 22 Dazu immer noch grundlegend F RANK , Das individuelle Allgemeine. 23 H EBEL , Erzählungen und Aufsätze. Zweiter Teil, 611. Friedmann Harzer 124 lenkt, mithin auf die Eschatologie, die für Juden ebenso relevant ist wie für Christen. Diese gewitzte, allerdings nicht ganz unproblematische Argumentation verschränkt mithin Ethnologie, Exegese und Eschatologie auf originelle Weise. In der neueren kirchengeschichtlichen Forschung finden sich zwei Thesen zu Hebels „Sendschreiben“: Zum einen habe er mit ihm eine Kritik der zeitgenössischen, im Grunde schon „positivistischen“ Exegese formuliert, die den Wald (vulgo: sensus anagogicus) vor lauter Bäumen (vulgo: die einzelnen sensus litterales) nicht mehr erkennen und vermitteln kann. Zum zweiten hat man eine wichtige Parallele zur Kalendergeschichte über „Moses Mendelssohn“ herausgestrichen, und zwar die Schilderung der Andersartigkeit der Juden „bis hin zur Emphase einer umgekehrten Assimilation der Christen an die Juden. [Hebel] wirbt somit für die Art von Toleranz, wie sie Mendelssohn vorschwebt.“ 24 Beim Erzähler und Erklärer Hebel zeigt sich mithin eine in der deutschsprachigen Literatur der Zeit wohl singuläre reziproke Toleranz-Idee, die Forderung nach wechselseitiger Anerkennung der Christen und Juden auf Augenhöhe. 2.2 Predigten und theologische Äußerungen Auch Hebel waren indessen antijudaistische Gedanken nicht ganz fremd. So findet sich im nicht allzu umfangreichen Predigt-Nachlass folgende frühe Notiz zu einer Passionspredigt unter dem Titel: „4. Juden u. Pilatus Der Jude zeigt sich hier so ganz als Jude, wie ers noch heut ist, daß die ietzigen Juden eine lebendige Kopie dieses [das Wort „dieses“ ist in der kritischen Ausgabe emendiert, FH] Gemähldes sein müsten, wenn nicht das Gemählde selber Kopie des iüdischen Charakters wäre. IN der nicht zu befridigenden Rachsucht, in dem Pochen, wo sie den Vortheil in der Hand zu haben glauben, in dem verstekten Drohen: Lässest du diesen los pp in dem ganzen ungerechten Verfahren, in dem ungezämten Muthwillen, in dem Spott: Er hat andern geholfen pp in der argwöhnischen Vorsicht mit der sie das Grab versiegeln, sieht und hört man unverkennbar den Juden.“ 25 Schon der Kollektiv-Singular lässt hier eine ausgesprochen platte Stereotypisierung erkennen, die gar nicht zu Ton und Argumentation des „Sendschreibens“ passen will: Der Jude wäre demnach rachsüchtig, auf seinen Vorteil bedacht, hinterhältig, kalt, höhnisch, paranoid. An dieser Stelle wird auch die Gefährlichkeit ethnologischer Argumentationsfiguren wie aus dem „Sendschreiben“ erkennbar, sei diese nun philo- oder antijudaistisch. In einer solchen Perspektive überdauert ein „jüdische Charakter“, unbeschadet aller sich verwandelnden kulturellen Kontexte, die Zeiten, so kann man diesen Zettel paraphrasieren. 24 Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 273. 25 H EBEL , Predigten und Predigtentwürfe. Zweiter Teil, 451; dazu Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 253f. Empathie, Exegese, Esprit. Über Hebel und das Judentum 125 Das ist gewiss ein Kratzer im Bild des sympathischen Karlsruher Judenfreunds. Doch in Hebels Gesamtwerk bleibt ein solcher Antijudaismus ein Einzelfall; alle späteren Passionspredigten und Aufsätze, Hebels „Christlicher Katechismus“ und etwa auch seine Version der Passionsgeschichte im von ihm herausgegebenen Religionsbuch mit „Biblischen Geschichten“ haben einen ganz anderen Tenor. 26 Besonders gut ist Hebels empathische Toleranz dem Judentum gegenüber einem Aufsatz über „Judas Ischarioth“ abzulesen, in dem er diesen, anstatt über ihn zu richten (und die in diesem Zusammenhang bereitstehenden antijudaistischen Topoi aufzugreifen), direkt anspricht, als Exempel für die größtmögliche Bösartigkeit, die sich in menschlichem Handeln zeigen könne. Im Judas-Aufsatz kann man mit Hansfrieder Zumkehr nicht zuletzt Hebels Empathiefähigkeit erkennen, die noch dem unsympathischsten aller Jünger gegenüber nicht aussetzt. Zumkehr spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem „entdiskrimierend-homiletischen Umgang mit den Juden“ und stellt diesen in den Kontext der Zeit. 27 Auch Hebels Vorgesetzter, der Großherzoglich Badische Oberhofprediger Johann Leonhard Walz, habe in diesem Sinne gepredigt; schon die zeitgenössische Homiletik des Gotthilf Samuel Steinhart, die Hebel besaß, habe diese Linie vorgegeben. 28 Damit wird in Hebels Haltung gegenüber dem Judentum eine dekonstruierende Argumentationsstrategie fassbar, die in den Juden-Geschichten der Kalender wiederkehrt: Er setzt bei einem spezifischen, vermeintlich jüdischen Stereotyp oder einer bekannten jüdischen Figur an, um diese dann zum Exemplum einer universal menschlichen Lehre zu machen. Er stellt damit die exegetisch-homiletische Perspektive in einen viel weiteren, anthropologisch-naturrechtlichen Horizont. 26 Vgl. dazu überzeugend Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 255-258. 27 Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 258; dort auch ein längeres Zitat aus dem Judas-Aufsatz. 28 Vgl. Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 258f. - In Hebels Pfingstpredigten und in seinem Katechismus findet sich noch eine weitere Position der Aufklärungstheologie, nach der das Judentum eine konstitutive Vorstufe des Christentums bildet und somit eine wichtige Stufe in der teleologisch fortschreitenden „Erziehung des Menschengeschlechts“ bildet. Vor allem mit den Weihnachtspredigten kommt nach Zumkehr das zeitgenössische Judentum in den Blick. Hebel sieht dort, wie in der zitierten Predigt über das Magnifikat schon sichtbar geworden, das jüdische Volk ebenfalls mit Empathie und Wohlwollen. Friedmann Harzer 126 3. Juden in Hebels Kalendergeschichten 29 Franz Littmann vertritt die These, mit dem „Hausfreund“ - also der Erzählerfigur des Hebel-Kalenders - sei ein jüdischer Hausierer gemeint, der mit seinen Geschichten von Haus zu Haus und Ort zu Ort gezogen sei. 30 Dies lässt sich zwar nicht direkt belegen, ist aber doch keineswegs abwegig. Hansfrieder Zumkehr führt in diesem Zusammenhang Hebels redaktionelle Notiz zum Kalender von 1809 an. In „Der Rheinländische Hausfreund spricht mit seinen Landsleuten“ heißt es, dieser gehe „mit manchem braven Mann einen Sabbatherweg oder zwey, wie es trift [...].“ 31 In jedem der von Hebel verantworteten „Rheinischen Hausfreunde“ findet sich, wie dies für solche Landkalender fast üblich war, ein jüdischer Kalender. 32 Wichtiger für unseren Zusammenhang ist indessen, dass jeder der von Hebel redaktionell betreuten Kalender auch Berichte und Geschichten mit jüdischen Themen und Figuren enthält. Hebel war es, so die communis opinio zu den jüdischen Kalendergeschichten, mit diesen Geschichten nicht zuletzt um eine literarisch wirksame Korrektur und Kritik antijudaistischer Stereotypen und Verhaltensweisen zu tun. An „Der große Sanhedrin“ mag das schon deutlich geworden sein. In anderen Kalendergeschichten zeigt es sich mit noch größerer literarischer Raffinesse. Dort macht Hebel, auch das kam schon zur Sprache, keinen Umweg um Stereotypen und Klischees, er nutzt diese im Gegenteil, um sie zu dekonstruieren: Was zunächst „den“ Juden an Negativem im Gegensatz zu allen anderen zugeschrieben wird, gilt am Ende gerade so und mehr noch für alle anderen auch. Hebels Leser dürften in diesen Geschichten manches aus ihren alltäglichen Begegnungen mit jüdischen Mitbürgern wiedererkannt haben: Viele Juden waren tatsächlich als fahrende Händler oder Kaufleute unterwegs, manche waren handelstüchtig und, wie jeder in einer solchen Situation, am größtmöglichen Gewinn orientiert, andere mögen auch äußerlich etwas ramponiert gewirkt haben nach ihren 29 „Der Badische Landkalender“ war eine wichtige Einnahmequelle des Karlsruher Gymnasiums, an dem Hebel seit 1791 unterrichtete. Das Geschäft mit diesem Privilegium dümpelte um 1800 vor sich hin, der Kalender verkaufte sich schlecht. Deshalb wird Hebel 1802 in die Kalenderkommission berufen; er ist davon zunächst gar nicht begeistert. 1806 reicht er sein berüchtigtes „Unabgefordertes Gutachten über eine vortheilhaftere Einrichtung des Calenders“ ein. 1808 wird er Schulleiter und übernimmt die alleinige redaktionelle Verantwortung für den Kalender, dem er den neuen Titel „Der Rheinische Hausfreund“ gibt. Verschiedene Geschichten der Jahrgänge 1803 bis 1811 werden dann im berühmten „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“ 1811 und in zweiter Auflage 1818 bei Cotta in Stuttgart herausgebracht. Nach einer Zensurquerele um die Geschichte „Der fromme Rath“ legt Hebel 1815 die Kalenderredaktion nieder. 1819 redigiert er noch einmal einen Kalender mit Geschichten, die für einen nie erschienenen württembergischen Kalender geschrieben worden waren. Vgl. dazu das Herausgeber-Vorwort in H EBEL , Erzählungen und Aufsätze. Erster Teil, XV - XVIII. 30 Vgl. L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 87. 31 Zit. nach Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 267, Anm. 75. 32 Vgl. Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 247. Empathie, Exegese, Esprit. Über Hebel und das Judentum 127 langen Wanderungen, wie etwa folgende Hebel-Geschichte von 1808 insinuiert, die den Titel „Schlechter Gewinn“ trägt: „Ein junger Kerl tat vor einem Juden gewaltig groß, was er für einen sichern Hieb in der Hand führe, und wie er eine Stecknadel der Länge nach spalten könne mit Einem Zug. Ja gewiß, Mauschel Abraham, sagte er: Es soll einen Siebzehner gelten, ich haue dir in freier Luft das Schwarze vom Nagel weg auf ein Haar und ohne Blut. Die Wette galt, denn der Jude hielt so etwas nicht für möglich, und das Geld wurde ausgesetzt auf den Tisch. Der junge Kerl zog sein Messer und hieb, und verlor's, denn er hieb dem armen Juden in der Ungeschicklichkeit das Schwarze vom Nagel und das Weiße vom Nagel und das vordere Gelenk mit Einem Zug rein von dem Finger weg. Da tat der Jude einen lauten Schrei, nahm das Geld, und sagte: Au weih, ich hab's gewonnen! An diesen Juden soll jeder denken, wenn er versucht wird, mehr auf einen Gewinn zu wagen, als derselbe wert ist. Wie mancher Prozeßkrämer hat auch schon so sagen können! Ein General meldete einmal seinem Monarch den Sieg mit folgenden Worten: „Wenn ich noch einmal so siege, so komme ich allein heim.“ Das heißt mit andern Worten auch: O weih, ich hab’s gewonnen! “ 33 Der namenlose Jude verkörpert hier jenes vermeintlich jüdische Verhaltensmuster, bei der Konzentration auf möglichst großen Gewinn sogar vor der Gefahr seiner Verstümmelung nicht zurückzuschrecken. Hebel bestätigt allerdings dieses landläufige Vorurteil gerade nicht. Der Vergleich des fahrenden Händlers mit einem General, vor allem aber die abschließende Wendung ins Allgemeine relativiert das Vorurteil vielmehr. Und mehr noch: Die Applikation auf den Alltag der zumeist christlichen Leser zeigt, dass „der Mensch“ schlechthin dazu neigt, bei der Aussicht auf einen schnellen Gewinn kurzsichtig und selbstzerstörerisch zu handeln. Bereits bei diesem Text zeigt sich also ein entschieden anderer Umgang mit vermeintlich jüdischen Eigenschaften als in der vorhin zitierten Predigtnotiz über die „Juden u. Pilatus“. Ähnlich wie die Geschichten „Wie einmal ein schönes Roß ...“ oder „Der wohlbezahlte Spaßvogel“ läuft diese Erzählung allerdings noch in einem vergleichsweise schlichten Morale aus. 34 Weitere „jüdische Geschichten“ zeigen, dass Hebel nicht in erster Linie an den, wie es im „Sendschreiben“ heißt, „blöde[n] Seiten“ im Bild des zeitgenössischen Judentums interessiert war. Ihm kommt es vor allem auf Denk- und Diskursformen an, die vordergründig das Klischee vom „jüdischen Scharfsinn“ bestätigen, das Klischee eines Scharfsinns, der oftmals gepaart ist mit souveräner Selbstironie und Rollendistanz. Er zeigt sich etwa an der relativ bekannten Kalendergeschichte über Moses Mendelssohn, in der ein jüdischer Typus nun durch eine herausragende historische Figur ersetzt wird. Von Moses Mendelssohn war im Zusammenhang mit „Der großen Sanhedrin“ bereits die Rede. Hinter dem Arbeitgeber, von dem im folgenden Kalendertext von 33 H EBEL , Sämtliche Kalendergeschichten, 106. 34 Vgl. L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 135f. Friedmann Harzer 128 1809 auch die Rede ist, verbirgt sich der ebenfalls jüdische Seidenfabrikant Isaak Bernhard: „Moses Mendelssohn war jüdischer Religion und Handlungsbedienter bei einem Kaufmann, der das Pulver nicht soll erfunden haben. Dabei war er aber ein sehr frommer und weiser Mann und wurde daher von den angesehensten und gelehrtesten Männern hochgeachtet und geliebt. Und das ist recht. Denn man muss um des Bartes willen den Kopf nicht verachten, an dem er wächst. Dieser Moses Mendelssohn gab unter anderm von der Zufriedenheit mit seinem Schicksal folgenden Beweis. Denn als eines Tages ein Freund zu ihm kam und er eben an einer schweren Rechnung schwitzte, sagte dieser: ‚Es ist doch schade, guter Moses, und ist unverantwortlich, dass ein so verständiger Kopf, wie Ihr seid, einem Manne ums Brot dienen muss, der Euch das Wasser nicht bieten kann. Seid Ihr nicht am kleinen Finger gescheiter, als er am ganzen Körper, so groß er ist? ‘ Einem andern hätt' das im Kopf gewurmt, hätte Feder und Tintenfass mit ein paar Flüchen hinter den Ofen geworfen und seinem Herrn aufgekündigt auf der Stelle. Aber der verständige Mendelssohn ließ das Dintenfass stehen, steckte die Feder hinter das Ohr, sah seinen Freund ruhig an und sprach zu ihm also: ‚Das ist recht gut, wie es ist, und von der Vorsehung weise ausgedacht. Denn so kann mein Herr von meinen Diensten viel Nutzen ziehen und ich habe zu leben. Wäre ich der Herr und er mein Schreiber, ihn könnte ich nicht brauchen.‘“ 35 An diesem Text hat man den humorvollen Hebel-Ton gepriesen: Geschickt baut die Geschichte Mendelssohn als jüdische Identifikationsfigur für christliche Leser auf. 36 Zentral scheint mir hierbei erneut die Unterscheidung zwischen religions- und kulturbedingten Differenzen und universalen Gemeinsamkeiten - diese Argumentationsfigur ist aus mehreren Texten mittlerweile vertraut. In dem im selben Jahr veröffentlichten „Sendschreiben“ liest man etwa: „Denn man muss um des Bartes willen den Kopf nicht verachten, an dem er wächst.“ 37 Ähnlich gewitzt wie diese Mendelssohn-Figur zeigt sich im Kalender von 1810 ein wieder namenloser, jüdischer Passagier auf einem Rhein-Schiff. Hebel baut die entsprechende Geschichte so auf, dass sie für seine Leser wiederum einen hohen Wiedererkennungswert gehabt haben mag: Ein armer Jude (Stereotyp eins) fährt auf einem Schiff mit elf Christen rheinabwärts; er hat kein Geld, die Passage zu bezahlen, darf sich aber gleichwohl „in einen Winkel“ setzen. Die Mitreisenden mokieren sich zunächst über den Juden - er „musste viel leiden, wie man's manchmal diesen Leuten macht und versündiget sich daran“. Während der Fahrt kommt ihm als schlauem Juden (Stereotyp zwei) - die Idee zu einem, wie die Geschichte heißt, „einträgliche[n] Rätselhandel“, der schlaue ist also auch noch ein geschäftstüchtiger Jude (Stereotyp drei), der mit (seinem) Witz zu handeln weiß: Für jede Frage, die 35 H EBEL , Sämtliche Kalendergeschichten, 181. 36 Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 267-269. 37 Vgl. Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 270-273; der aktualisierende Vergleich mit der „Kopftuchdebatte“ liegt auf der Hand. - Mit der „Vorsehung“ kommt laut Zumkehr in der Mendelssohn-Geschichte ein für Hebel zentraler theologischer Gedanke zur Sprache; ob dieser dem Denken des historischen Mendelssohn entspricht, wäre zu diskutieren, die Pointe der Erzählung hätte jedenfalls auch ohne dieses Konzept funktioniert. Empathie, Exegese, Esprit. Über Hebel und das Judentum 129 ihm die Reisegesellschaft stellt und die er beantworten kann, wird ihm eine Belohnung ausgesetzt. Der Erzähler legt, nachdem diese Versuchsanordnung aufgebaut ist, den christlichen Mitreisenden elf Scherzfragen in den Mund, die der jüdische Passagier alle beantworten kann. Jedes Mal streicht er einen „Zwölfer“ mehr ein und kann somit seinen Fahrpreis doch noch entrichten. Die Stereotypen zwei und drei wären damit, vordergründig betrachtet, beglaubigt. Doch die eigentliche Pointe der Geschichte findet sich dort, wo der Jude nun seinerseits eine Frage stellen soll: „Jetzt war die Reihe an ihm selber, und nun dachte er erst einen guten Fang zu machen. Mit viel Komplimenten und spitzbübischer Freundlichkeit fragte er: ‚Wie kann man zwei Forellen in drei Pfannen backen, also daß in jeder Pfanne eine Forelle liege? ‘ Das brachte abermal keiner heraus, und einer nach dem andern gab dem Hebräer seinen Zwölfer. Der Hausfreund hätte das Herz, allen seinen Lesern, von Mailand bis nach Kopenhagen, die nämliche Frage aufzugeben, und wollte ein hübsches Stück Geld daran verdienen, mehr als am Kalender selber, der ihm nicht viel einträgt. Denn als die elfe verlangten, er sollte ihnen für ihr Geld das Rätsel auch auflösen, wand er sich lange bedenklich hin und her, zuckte die Achseln, drehte die Augen. ‚Ich bin ein armer Jüd‘, sagte er endlich. Die andern sagten: ‚Was sollen diese Präambeln? Heraus mit dem Rätsel! ‘ - ‚Nichts für ungut! ‘ - war die Antwort - ‚daß ich gar ein armer Jüd bin.‘ - Endlich nach vielem Zureden, daß er die Auflösung nur heraussagen sollte, sie wollten ihm nichts daran übelnehmen, griff er in die Tasche, nahm einen von seinen gewonnenen Zwölfern heraus, legte ihn auf das Tischlein, so im Schiffe war, und sagte: ‚Daß ich's auch nicht weiß. Hier ist mein Zwölfer! ‘ Als das die andern hörten, machten sie zwar große Augen und meinten, so sei's nicht gewettet. Weil sie aber doch das Lachen selber nicht verbeißen konnten, und waren reiche und gute Leute, und der hebräische Reisegefährte hatte ihnen von Kleinen-Kems bis nach Schalampi die Zeit verkürzt, so ließen sie es gelten, und der Jud hat aus dem Schiff getragen - das soll mir ein fleißiger Schüler im Kopf ausrechnen: wie viel Gulden und Kreuzer hat der Jude aus dem Schiff getragen? Einen Zwölfer und einen messingenen Knopf hatte er schon. Elf Zwölfer hat er mit Erraten gewonnen, elf mit seinem eigenen Rätsel, einen hat er zurückbezahlt und dem Schiffer achtzehn Kreuzer Trinkgeld entrichtet.“ 38 Hier nun formuliert der jüdische Passagier ein Rätsel, das in kein Entweder- Oder mehr aufzulösen ist, ein Rätsel, bei dem es nicht länger ums Rechthaben geht und für welches das aristotelische tertium non datur nicht länger gilt. Seine aporetische Struktur widerspricht auf den ersten Blick den Regeln des Reisespiels; zugleich kontrastiert es auch zu den eher kalauernden Scherzfragen der nichtjüdischen Passagiere mit einem abgründigen, unauflösbaren Paradoxon. 39 Hebels Text dekonstruiert mit dieser Rätsel-Typologie die vermeintliche Überlegenheit der elf Nichtjuden, denn während deren Scherzfragen allesamt zu beantworten sind, lässt sich die Aporie des Juden nicht einmal von diesem selbst more geometrico auflösen. 38 H EBEL , Sämtliche Kalendergeschichten, 236f. 39 L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 123f., erkennt hier ein Argumentationsmuster aus der talmudischen Logik. Friedmann Harzer 130 Viele von Hebels Kalendergeschichten zu jüdischen Themen beginnen mit einem Konflikt, einer Ausgrenzung oder einer Fremdheitserfahrung. Dann aber stiften diese Erzählungen, wie Johann Anselm Steiger das nennt, eine „interreligiöse Lachgemeinschaft“ zwischen Juden und Christen. Das zeigte sich auch hier, wo sich die elf Passagiere „das Lachen selber nicht verbeißen konnten“ - und das wird noch deutlicher in einer dritten Kalendergeschichte, die ich abschließend anführen will. Denn die Entstehung interreligiöser Lachgemeinschaften in den Kalendergeschichten ebenso wie zwischen deren Erzähler und Lesern kann man gut etwa an folgender Geschichte von 1813 studieren, die den Titel „Glimpf geht über Schimpf“ trägt: „Ein Hebräer, aus dem Sundgau, ging jede Woche einmal in seinen Geschäften durch ein gewisses Dorf. Jede Woche einmal riefen ihm die mutwilligen Büblein durch das ganze Dorf nach: ‚Jud! Jud! Judenmauschel! ‘ Der Hebräer dachte: Was soll ich tun? Schimpf ich wieder, schimpfen sie ärger, werf ich einen, werfen mich zwanzig. Aber eines Tages brachte er viele neugeprägte, weißgekochte Baselrappen mit, wovon fünf soviel sind als zwei Kreuzer, und schenkte jedem Büblein, das ihm zurief: ‚Judenmauschel! ‘ einen Rappen. Als er wiederkam, standen alle Kinder auf der Gasse: ‚Jud! Jud! Judenmauschel! Schaulem leckem! ‘ Jedes bekam einen Rappen, und so noch etliche Mal, und die Kinder freuten sich von einer Woche auf die andere und fingen fast an den gutherzigen Juden liebzugewinnen. Auf einmal aber sagte er: ‚Kinder, jetzt kann ich euch nichts mehr geben, so gern ich möchte, denn es kommt mir zu oft und euer sind zu viel.‘ Da wurden sie ganz betrübt, so daß einigen das Wasser in die Augen kam, und sagten: ‚Wenn Ihr uns nichts mehr gebt, so sagen wir auch nicht mehr Judenmausche.‘ Der Hebräer sagte. ‚Ich muß mir's gefallen lassen. Zwingen kann ich euch nicht.‘ Also gab er ihnen von der Stund an keine Rappen mehr und von der Stund an ließen sie ihn ruhig durch das Dorf gehen.“ 40 Auch hier bilden Sachverhalte und Vorurteile den Ausgangspunkt für Hebels literarisches Exemplum, die den zeitgenössischen Lesern vertraut waren, das Schmähen eines jüdischen Outcasts und dessen an den Beginn von „Einträglicher Rätselhandel“ erinnernde Vertrautheit mit dem Geld, erzählerisch konkretisiert in den Münzen, die er die Fülle verschenkt. Doch dann erzählt der geniale Pädagoge von einer paradoxalen Intervention: 41 Sein jüdischer Held tut genau das Gegenteil dessen, was man von ihm erwarten würde, um die eigentlich erwünschte Reaktionsweise zu provozieren. Er belohnt das unerwünschte Verhalten, anstatt es zu bestrafen, und er setzt die Belohnung erst dann wieder aus, als er die eigentlich erwünschte Reaktion auch zu bewirken vermag. So lässt sich ein in kulturellen Stereotypen eigentlich festgeschriebenes Stimulus-Response-Schema tatsächlich verändern. Intelligenter kann man einen kulturell eingeschliffenen Konflikt, eine geradezu eingefleischte Vorurteilsstruktur, kaum auflösen. Und kunstvoller kann man von alledem auch kaum erzählen und damit eine befreiende, überkonfessionelle Lachgemeinschaft stiften. 42 40 H EBEL , Sämtliche Kalendergeschichten, 429f. 41 Vgl. W ATZLAWICK , Menschliche Kommunikation, 213-238. 42 Vgl. S TEIGER , Wie man lernt, den Fremden von nebenan zu achten, 163-168. Empathie, Exegese, Esprit. Über Hebel und das Judentum 131 Hebels offenes und auf wechselseitige Anerkennung abgestelltes Verhältnis zum historischen und zeitgenössischen Judentum ist in den genannten Kalendergeschichten nicht zu überlesen. Gibt es aber, wie bei den Predigtentwürfen, auch ansatzweise antijudaistische Kalendergeschichten? In der Tat war für den Kalender von 1819 zumindest eine solchermaßen zu verstehende Geschichte vorgesehen. 43 In „Gut bezahltes Divisions-Exempel“ wird erzählt, wie vier junge Juden, als Kriegsgewinnler in den napoleonischen Kriegen unterwegs, der Reihe nach für ihre Machenschaften bestraft werden, am härtesten derjenige, der versucht hat, durch eine Lüge seine Prügelstrafe zu mindern. Dieser Plot ist in seinem stereotypen Antijudaismus so unsympathisch und platt wie die oben angeführte Predigtnotiz. Er bildet aber eine ebenso unbedeutende Ausnahme von Hebels Empathie mit dem Judentum wie diese. Hebel druckt diese Geschichte denn auch gar nicht im Kalender ab, so wenig, wie von ihm eine ausgeführte antijudaistische Passionspredigt erhalten ist. Unser Bild von Hebel als empathischem und kenntnisreichem Judenfreund wird mithin durch diese marginalen Paralipomena nicht weiter beschädigt. 44 Anders wäre die lange Reihe seiner jüdischen Leser und Anhänger seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht zu erklären, die von Kafka, Benjamin, Tucholsky, Canetti und Bloch bis hin zu Max Picard oder Claude Vigée reicht. Dieser rühmte den Theologen und Pädagogen 1984 bei der Verleihung des Johann-Peter-Hebel-Preises folgendermaßen: „Wenn man an Celan denkt und an ‚Der Tod ist ein Meister aus Deutschland’, und dann im ‚alten’ Hebel liest, dann spürt man, daß es auch ein anderes Deutschland gab und gibt.“ 45 4. Drinnen und draußen Hebels „anderes Deutschland“, von dem Claude Vigée spricht, der jüdische Emigrant aus dem Elsaß, lässt sich mit dem Konzept des „Kultur-Innenraums“ rekonstruieren, das Jürgen Joachimsthaler entwickelt hat. Joachimsthaler greift den „spatial turn“ der Kulturwissenschaften auf und denkt ihn folgendermaßen weiter: „[D]er eigentliche Reiz des ‚spatial turn‘ liegt in seiner Möglichkeit, völlig Abschied zu nehmen vom nationalen Paradigma und auf Gegenstandsebene Räume neu zu konstituieren, innerhalb derer dann das Neben- und Miteinander aller dort vorhandenen Literaturen untersucht wird. [...] Der jeweilige Raum braucht nicht 43 Zum Folgenden vgl. S TEIGER , Unverhofftes Wiedersehen, 89-91, und Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 254. 44 Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 263f., formuliert treffend: „Das Konzept der Religionstoleranz schließt das Judentum ein.“ Ein Beispiel dafür wäre etwa Hebels Nacherzählung „Von dem barmherzigen Samariter“ in den „Biblischen Geschichten“ (vgl. H EBEL , Biblische Geschichten, 166f.), einem Schulbuch, das Hebel für die aus lutherischer und reformierter unierte Landeskirche 1824 bei Cotta in Stuttgart herausgebracht hat. Zur literarischen Kritik antijudaistischer Vorurteile in der ebd., 206-208, gestalteten Stephanus- Episode vgl. L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 128f. 45 Zit. nach Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 255. Friedmann Harzer 132 mehr national definiert zu werden - und bleibt als literarisch ‚möblierter‘ doch ein bewohnbarer Kultur-Innenraum mit Bedeutungsdimension. Nur dass die Räume ihre Absolutheit verlieren. An die Stelle stabiler Innen-Außen-Gegensätze treten verschiebbare Wände mit gleitendem Mobiliar [...]. Damit werden Kultur- Innenräume ‚Spielfelder‘, die um die Arbitrarität ihrer Beschaffenheit wissen [...].“ 46 Hebels Offenheit gegenüber dem Judentum in Geschichte und Gegenwart lässt sich mit Hilfe dieser Allegorie genauer erfassen: Auf der „Gegenstandsebene“ finden sich Hebel und das Judentum, das Thema des vorliegenden Aufsatzes, in den diversen pädagogischen, theologischen, homiletischen und poetischen Diskursen, die hier zur Sprache gekommen sind. Hier lässt sich in der Tat ein „Neben und Miteinander aller dort vorhandenen Literaturen“ beobachten, im polyphonen Kalender des Hausfreunds mit dem Bibel-Ton vieler anspielungsreicher Geschichten ebenso wie in Exegese und Predigt, die vom Dialog mit dem antiken wie zeitgenössischen Judentum leben, schließlich auch im fast wörtlichen Zitieren der neuen Zivilgesetzgebung von Baden. Der so entstehende, offene Kultur-Innenraum besteht aus narrativen Räumen wie dem Schiff auf dem Rhein, den badischen Dörfern, Mendelssohns Schreibstube oder dem Pariser Tagungssaal des großen Sanhedrin; er besteht ferner aus transtextuellen Räumen wie dem Kalender, der Predigt oder dem offenen Brief und er zeigt sich schließlich in sozialen Räumen: den Schulen, Kirchen, Gasthäusern und Salons, in denen sich Hebel polyglott, kosmopolitisch und mit Esprit bewegt hat, dank all seiner Bildungs-, Verwaltungs- und Lebenserfahrung. Hausmeister und Hausherr in diesem Kultur-Innenraum, so könnte man weiter pointieren, ist Hebels Erzählerfigur aus dem Kalender, der Rheinländische Hausfreund: empathisch, optimistisch, unbestechlich und, Littmann hat vielleicht Recht, ein mit vielen Wassern gewaschener jüdischer Hausierer. 47 Hebel steht mit der Konstruktion dieses jüdisch-deutschen Kultur-Innenraums wohl weitgehend allein in seiner Zeit. Dessen Komplexität führte dazu, dass Hebel vom dialekt-seligen Heidegger und von völkischen Dichtern und Germanisten missverstanden und benutzt werden konnte - und dass er wenige Jahre zuvor doch auch kongenial gelesen wurde von Denkern wie Walter Benjamin und Ernst Bloch. Drei wesentliche Aspekte zeichnen sich in Hebels Verhältnis zum historischen und zeitgenössischen Judentum ab: 1. Empathie mit dem Judentum in der Diaspora ist für den Theologen und Zeitgenossen Hebel gleichermaßen zentral. 48 Sie begründet einerseits seine Forderung nach einer lebendigen Exegese, andererseits nach einer zivilrechtlichen Gleichstellung der Juden im Großherzogtum Baden und darüber hinaus. Für Hebel hat in beiden Zusammenhängen die eschatologische Vorstellung „vom Ende als Anfang“ 49 eine besondere Bedeutung. Ernst Bloch, der Denker der konkreten Utopie, sagt über sein „Schatzkästlein“, „dass es kaum ein Buch gibt, bei dem der Leser so froh und so ruhig, am Ende jedes Stücks, die Lampe ausdrehen kann, in den treuen 46 J OACHIMSTHALER , Kultur-Innenraum, 68f. 47 Vgl. Anm. 29. 48 Vgl. S TEIGER , Unverhofftes Wiedersehen, 84. 49 Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 273. Empathie, Exegese, Esprit. Über Hebel und das Judentum 133 Schlaf sinken, und das Gefühl hat, es sei alles gut, es werde schließlich alles gut.“ 50 Hansfrieder Zumkehr sieht hier eine spezifisch jüdische Denkfigur realisiert: „Die reflektierte Beschäftigung mit dem Biblisch-Hebräischen und mit dem Judentum hat eine hochbedeutsame Figur in Hebels Leben, Denken und Dichtung befördert, denn er setzt sie immer wieder in diesen Zusammenhang: das Verständnis vom Ende als Anfang und - damit zusammenhängend - die Verortung der Heimat nicht am Anfang; Heimat liegt in der Zukunft, nicht im Gestern, sondern im Morgen- Land.“ 51 2. Bei aller Einfühlung bewahrt sich Hebel einen differenzierten Blick auf seine jüdischen Zeitgenossen. 52 Mag sein, dass er damit auch einem zeitgenössischen Antijudaismus den Wind aus den Segeln nehmen wollte, welcher ihm selbst nicht ganz fremd war, wie aus einer hier angeführten Predigt-Skizze und aus einer unterdrückten Kalendergeschichte erhellt. 3. Schließlich beweist Hebel ein Faible für espritvolle Aporien, wie sie auch in Talmud-Geschichten durchgespielt werden. 53 In Hebels jüdisch-christlichalemannischem Kultur-Innenraum herrscht eine nicht-binäre Logik, die den Gesetzen eines prinzipiell offenen und ad infinitum geistreichen Gespräches gehorcht. Literatur B LOCH , E RNST : Hebel, Gotthelf und bäurisches Tao, in: D ERS .: Literarische Aufsätze, Frankfurt am Main 1965. B OSCH , M ANFRED (Hrsg): Der Johann Peter Hebel-Preis. Eine Dokumentation, Karlsruhe o.J. D OHM , C HRISTIAN C ONRAD W ILHELM VON : Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, 2 Bde., Berlin 1781/ 1783. F ABER , R ICHARD : „Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzählen lassen sie sich alles.“ Über Grimm-Hebelsche Erzählung, Moral und Utopie in Benjaminscher Perspektive, Würzburg 2002. F RANK , M ANFRED : Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt am Main 1977. H EBEL , J OHANN P ETER : Erzählungen und Aufsätze. Erster Teil: Die Beiträge für den Badischen Landkalender und für den Kalender des Rheinländischen Haus- 50 B LOCH , Hebel, Gotthelf, 378. 51 Z UMKEHR , Johann Peter Hebel und die Juden, 273; ebd., 274, zitiert Zumkehr aus der Handschrift H 123 der Badischen Landesbibliothek einen, wie ich finde, überzeugenden Beleg für diese These - es handelt sich um eine unveröffentlichte Notiz Hebels. 52 Vgl. treffend S TEIGER , Unverhofftes Wiedersehen, 88: „Hebels Sichtweise der Juden ist voreingenommen und unvoreingenommen gleichzeitig: Voreingenommen ist Hebel, weil er [... ] in den Juden immer das von Gott auserwählte Volk sieht, unvoreingenommen, weil Hebel dies [...] dazu befreit, moralischen Mangel im Verhalten der Juden auch zu benennen.“ 53 Vgl. L ITTMANN , Es sei die Rede nicht vom Fortschicken, 125f. Friedmann Harzer 134 freundes auf die Jahre 1803-1811, hrsg. von Adrian Braunbehrens/ Gustav Adolf Benrath/ Peter Pfaff, Karlsruhe 1990. -: Erzählungen und Aufsätze. Zweiter Teil: Die Beiträge für den Kalender des Rheinländischen Hausfreundes auf die Jahre 1812-1819. Sonstige Prosa, hrsg. von Adrian Braunbehrens/ Gustav Adolf Benrath/ Peter Pfaff, Karlsruhe 1990. -: Die Kalendergeschichten. Sämtliche Erzählungen aus dem Rheinländischen Hausfreund, hrsg. von Hannelore Schlaffer/ Harald Zils, München 2001. D ERS : Predigten und Predigtentwürfe. Erster Teil: Predigten, hrsg. von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Thomas Illg, Frankfurt am Main 2010. D ERS : Predigten und Predigtentwürfe. Zweiter Teil: Predigtentwürfe, hrsg. von Johann Anselm Steiger unter Mitwirkung von Thomas Illg, Frankfurt am Main 2010. J OACHIMSTHALER , J ÜRGEN : Der Kultur-Innenraum, in: D ERS ./ E UGEN K OTTE (Hrsg.), Kulturwissenschaft(en) in der Diskussion, München 2008, 47-71. 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Die Verknüpfung zur „schwäbischen Romantik“ und die damit einhergehende regionale Gebundenheit ist oftmals ein Aspekt, der das Mörike-Bild bis heute prägt. Noch immer wird er im Allgemeinen als biedermeierlich-romantischer, heimatgebundener, ja sogar harmlos-märchenhafter Dichter wahrgenommen. Diesen Rahmen sprengte zwar bereits bei seinem Erscheinen der Roman „Maler Nolten“: die innere Duplizität wurde bereits von Zeitgenossen thematisiert; in der Darstellung der schwarzen Seite, der Nachtseite des Menschen, und der menschlichen Gebundenheit an ein möglicherweise vorherbestimmtes Schicksal wird „Maler Nolten“ zum Vorläufer eines modernen, psychologischen Romans. 1 Jedoch blieb die Zeichnung Eduard Mörikes als Grübler, als sensibler Spätzeitkünstler oder gar als Zwerg im Vergleich mit seinen Zeitgenossen lange Zeit prägend. 2 Die neuere Forschung verweist stetig darauf, dass Mörikes Werk deutliche Reaktionen auf philosophische, religionsphilosophische, wissenschaftliche und auch politische Diskussionen seiner Zeit aufzeigt. 3 Daher ist es nicht erstaunlich, dass die Fragestellung nach dem vermittelten Judenbild in der Literatur oder dem Umgang mit Antisemitismus - ob kritisch oder untermauernd - eine Perspektive auf Eduard Mörikes Werk aufwirft, die eine eher unbekanntere Seite des schwäbischen Dichters aufzeigt. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit sich jüdische Figuren oder Aussagen über Juden im Werk Eduard Mörikes finden lassen und auch, in welchem Ton bzw. mit welcher Perspektive diese präsentiert werden. 1. Eduard Mörikes Novelle „Der Schatz“ Im Œuvre Eduard Mörikes findet sich bei erster Suche zunächst vor allem eine jüdische Figur. In der Novelle „Der Schatz“ erzählt Hofrat Arbogast in geselliger Runde eine - seine - Geschichte. Auf wunderliche Art war er vom Goldschmied zum königlichen Schatzmeister aufgestiegen, weshalb sich seltsame Sagen um ihn ranken. Und so rückt man am Abend der Rahmenhandlung mit allerlei Späßen und Anspielungen dem Hofrat zu Leibe, bis dieser verspricht „[…] auf die Gefahr hin Genüge zu thun, 1 Vgl. K ITTSTEIN , Nolten, 87-99. 2 Vgl. M AYER , Mörike, 9f. 3 Vgl. W ILD / W ILD , Vorwort, VII-VIII. Martina Todesko 136 daß man Unglaubliches zu hören bekommen und sich am Ende ganz gewiß bitter beklagen würde, als wenn er sie mit einem bloßen Kindermärchen hätte abspeisen wollen.“ 4 Schließlich beginnt er, seine eigene Lebensgeschichte seinem Publikum zu präsentieren. Im Laufe der Erzählung berichtet er von einer Reise nach Frankfurt. Am zweiten Tag der Fahrt wird er von einem Fuhrmann im Wagen mitgenommen. Hier heißt es nun: „Ein junger Mann, ein Jude, wie mir schien, war meine einzige Gesellschaft.“ 5 Wir erfahren weiter nichts darüber, warum Arbogast annimmt, sein Reisegefährte sei ein Jude. Die ethnische Zuordnung scheint uns trotzdem glaubwürdig und eindeutig. Der Einschub „mir schien“ findet keinerlei weitere Berücksichtigung. Der fremde junge Mann verlässt schließlich die Reisegesellschaft. Während Arbogast nun alleine mit dem Wagenbesitzer auf dem Wagen zurückbleibt, ist ihm, als habe er einst gehört, dass die Gegend, in der sie sich aktuell befinden, nicht im besten Ruf stehe, und er erinnert sich an eine Geschichte, nach der einem Galanteriehändler während des Marschierens die Fächer seines Kastens geleert worden seien. Die Versicherung des Fuhrmanns, dass er nichts dergleichen wisse, kann Arbogast nicht beruhigen und immer wieder späht er durch die Abdeckung, lässt seine Hand nicht vom Gepäck. Am Ende der Fahrt muss er jedoch feststellen, dass sein Geld nicht mehr da ist. Ein Messerschnitt findet sich im Felleisen und damit ist für Arbogast klar: Der Jude hat ihn bestohlen! Auch die Tatsache kann ihn nicht beruhigen, dass Gorgoniitag ist und sein Ratgeberbuch für Osterkinder ihm verspricht, dass das, was ihm am Gorgoniitag gestohlen, siebzehn Tage später, an Cyprian, wieder das Seine sein würde. Er beschließt: den Mauschel, den Halunken werde er sich holen und Rache üben. 6 Rache will auch der Fuhrman, denn Anstelle von Geld hat er einen Knopf als Lohn erhalten und seine neuen Handschuhe sind ebenfalls verschwunden. Eine erste Irritation hinsichtlich des Diebstahls durch den Juden bietet Arbogasts Entdeckung, dass sich im Flechtwerk des Korbes noch einige wenige Goldstücke sowie ein Loch im Wagenboden finden. Diesen Fakten wird aber nicht weiter nachgegangen. Schließlich tritt des Hofrats Wunsch, dem Juden wieder zu begegnen, ein. Nach mehreren wundersamen Begegnungen - wie dem lebendigen Wegweiser oder dem Elfen auf der Landkarte, der erzählt, dass der Waidefegerkönig ein so habgieriger Fürst sei, dass er sogar das Menschenvolk bestehle, unter anderem gerade eben erst „einem Kaufherrn den Goldsack zwischen den Füßen ausgeleert habe“ 7 - trifft Arbogast auf den Juden. „In diesem Augenblick gewährte ich den jungen Mann, der sich am Morgen mit so viel Eifer meiner Person hatte versichern wollen und den man mir als Ännchens Bräutigam bezeichnet - Aber wo nehm´ ich Worte her, um mein Erstaunen, 4 M ÖRIKE , Schatz, 33. 5 Ebd., 36. 6 Vgl. ebd., 39. 7 Ebd., 66. Die Frage nach dem Bild des Juden im Werk Eduard Mörikes 137 mein Entsetzen auszudrücken, als ich bei´m zweiten Blick meinen Juden in ihm erkannte! “ 8 Und Arbogast stürzt sich auf ihn. Peter, so sein Name, und Arbogast werden voneinander getrennt und wir erfahren, dass es sich beim vermeintlichen Juden um den Schulzensohn handelt. Dieser, „ein angehender Wirth, filzig und reich, doch sonst ein guter Christ“ 9 , muss nun für zwei Tage in Untersuchungshaft, während Arbogast auf glückliche Weise von aller bis dahin entstandener Not befreit wird. Später kommt es erneut zum Kontakt zwischen Peter und Arbogast. Peter droht Arbogast mit einem Prozess, es sei denn, dieser helfe ihm, seine gekränkte Ehre durch eine Barschaft wiederherzustellen - und Arbogast schenkt ihm den stählernen Knopf, mit dem Peter einst den Fuhrmann betrog. Damit endet Arbogasts Bericht. Denn er pflege „[…] diesen Theil meiner Geschichte, der sich im Wesentlichen übrigens von selbst ergibt, nie gerne zu erzählen.“ 10 Cornelie, „eine geistvolle, höchst liebenswürdige Blondine“, 11 ist die einzige, die dieses Ansinnen versteht. Sie ist es auch, die den übrigen enttäuschten Zuhörern schließlich eine mögliche Variante des weiteren Geschehens darbietet. In dieser entdeckt Arbogast, als dem Traum vom Schatz im Weinberg nachgegangen wird, Irmels unheilvolle Kette, sein Gold und ein eisernes Kästchen, in dem sich möglicherweise der durch Diebstahl zusammengetragene Schatz der Elfen befindet. Ein anwesender Förster erwähnt eine Nachgrabung beim Schloss der Irmel, bei dem möglichweise ein Versteck des berüchtigten Faligan, eines Räubers aus dem Spessart und Odenwald, gehoben wurde und bietet damit neues Material für Spekulationen. Wer also Arbogast bestohlen hatte und wie bzw. ob das Gold gefunden wurde, bleibt verborgen. Diese Ungewissheit im Erzählen, das Spiel mit Möglichkeiten ist ein Kennzeichen der Novelle „Der Schatz“. Darauf haben unter anderem Daniela Evers und Ludwig Völkers in ihren Untersuchungen ausführlich hingewiesen. 12 „Das bewusste Spiel mit der Fiktion und die als authentisch verbürgte Wahrhaftigkeit des Erlebten […]“, 13 die virtuose Vermischung von novellistischen und märchenhaften Elementen 14 sowie die Verschmelzung sämtlicher Binnengeschichten mit der Rahmenhandlung durch die Figur der Freifrau Irmel von der Mähne bilden die Kernaspekte, denen sich die Forschung widmet. Bereits Friedrich Theodor Vischer hatte angemerkt, dass das Wunderbare in der Novelle nur scheinbar sei, nur ein Spiel. 15 Die Annahme, der Mitreisende sei der Dieb, gehört mit in das Spiel von Annahme, Glaube und dem als authentisch verbürgten Erlebten der Erzählung. Zugleich bietet Arbogast als Erzähler und Erlebender die Deutungsmöglichkeit, dass es sich hierbei um einen Zauber seines Büchleins für Osterkinder handeln könne. 16 8 Ebd., 78. 9 Ebd., 82. 10 Ebd., 92. 11 Ebd. 12 E VERS , Diskussion, 118-131; V ÖLKER , Spiel, 324-342. 13 M AYER , Mörike, 108. 14 E VERS , Schatz, 181. 15 M ÖRIKE , Werke, Bd. 13, 100f. 16 M ÖRIKE , Schatz, 38. Martina Todesko 138 Parallel dazu wird weder vom Wirt noch vom Fuhrmann die Annahme, der junge Mann sei ein Jude, infrage gestellt. Wenn uns der Dieb als Jude präsentiert wird, dann reagieren wir als Leser des 21. Jahrhunderts - so unterstelle ich - rückblickend auf die Novelle mit der Frage: Warum wurde denn angenommen, er sei ein Jude? Stellt sich doch später heraus, dass Peter der Sohn des Ortsverwalters ist. Wir finden keine Hinweise, keine äußere Beschreibung, die diese erste Behauptung untermauern. Die Figuren im Stück stellen diese Frage nicht. Findet sich hierin also ein Zeugnis des Judenbildes der 1830er Jahre? Wie sah dieses überhaupt aus? 2. Zur Situation der Juden in Württemberg Anfang des 19. Jahrhunderts Bevor ich auf das Judenbild im Allgemeinen eingehe, möchte ich einen kleinen Exkurs in die Geschichte der Juden in Württemberg wagen, bei der ich mich vor allem auf die Darstellung von Aaron Tänzer, einst Bezirksrabbiner in Göppingen, stützen werde. Schwerpunkt der „Geschichte der Juden in Württemberg“ (erstmals erschienen 1937) von Aaron Tänzer bildet die Phase der Emanzipation und die durch sie bewirkte Eingliederung der Juden als vollberechtigte Bürger in den württembergischen Staatsverband. Jüdische Siedlungen sind für Württemberg entsprechend den Grenzen von 1810 ab dem 11. Jahrhundert nachweisbar. Im Mittelalter waren Juden vor allem in den Städten ansässig, ab dem 14./ 15. Jahrhundert wurden sie aufgrund des in Württemberg geltenden Ausschließungsgesetzes zunehmend vertrieben. 17 Ein Aufenthalt war, wenn überhaupt, auf dem Lande möglich. Von der Ausschließungsgesetzgebung waren lediglich Hofschutzjuden, Hoffaktoren sowie die Juden, die in den zum Besitz des Herzogs Eberhard Ludwig gehörenden Kammer- und Kammerschreibereiorten wohnten, ausgenommen. 18 Trotzdem siedelten sich im 18. Jahrhundert erneut Juden in Württemberg an, eine erneute Ausweisung unter Karl Friedrich 1739 wurde nicht mehr konsequent umgesetzt. 19 Anfang des 19. Jahrhunderts lebten 534 Juden in Württemberg. Durch die Gebietserweiterungen in den Jahren 1805 bis 1810 stieg diese Zahl an, da im sogenannten Neuwürttemberg deutlich mehr Juden ansässig waren. Dazu gehört zum Beispiel auch der Bezirk Oberschwaben. Gleichzeitig wurde mit der ständischen Verfassung des nun zum Königtum erhobenen Staates die Ausschließungsgesetzgebung aufgehoben. Da Juden aus neuwürttembergischen Gebieten Schutzbriefe besaßen, die ihnen unterschiedliche, jedoch im Gegensatz zu Altwürttemberg deutlich umfassendere Rechte zusprachen, wurde der Versuch einer einheitlichen Regelung unternommen, welcher jedoch ohne klare Umsetzung blieb. Gleichzeitig leitete dieser Versuch eine positivere Entwicklung in Württemberg ein. Mit den Wiener Beschlüssen, dem Regierungsantritt 17 Vgl. T ÄNZER , Geschichte, 4-7. 18 Vgl. ebd., 6. 19 Vgl. ebd., 7. Die Frage nach dem Bild des Juden im Werk Eduard Mörikes 139 König Wilhelm I. und dem Verfassungsstreit in Württemberg brach die Frage nach einer einheitlichen Judengesetzgebung wieder auf. 20 Eine eigene Behörde sollte sich nach dem Organisationsedikt vom 18. November 1817 zukünftig um die inneren Verhältnisse der Juden kümmern. Daraus erwuchs die spätere Israelische Oberkirchenbehörde. 21 Die Verfassungsurkunde von 1819 enthält noch keine gesetzliche Regelung der Verhältnisse der Juden. Zählungen im Rahmen des Verfassungsstreites ergaben, dass in 79 Orten unter 101.618 Christen 8.259 Juden lebten. Diese Zahl blieb relativ konstant, lassen sich doch 7.000 Juden für das Jahr 1828 in Württemberg nachweisen. 22 Nach achtjährigen Vorarbeiten trat schließlich das Gesetz mit dem Titel „In Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ 1828 in Kraft. Zu dieser Zeit lebten immer noch 7.000 Juden in Württemberg. Eine bedingte Gleichstellung der Juden wurde gewährt. Inhaltlich zeigt das Gesetzt deutlich, dass den Juden eine Erziehungsbedürftigkeit zugesprochen wurde. Es als Produkt der Toleranz zu deuten, wäre, so Isak Lebrecht und Aaron Tänzer, übertrieben. 23 Im Zuge der Debatten um das neue Gesetz kam es zu zahlreichen Veröffentlichungen von Schmähschriften. Das Judenbild war trotz oder gerade wegen der beginnenden jüdischen Emanzipation ein negatives. Was sich in Jahrhunderten als fester Bestandteil einer kollektiven Mentalität dem Denken und Fühlen eingeprägt hatte, ließ sich nicht durch gesetzliche Regelungen und die Emanzipation der Juden innerhalb einer Generation ausmerzen. 24 Zu Protesten und Pogromen gegen Juden kam es in Deutschland immer dort, wo durch den sozialen Abstieg bedrohte Gesellschaftsschichten jüdische Aufsteiger für ihre Misere verantwortlich zeichneten. So zum Beispiel während der Hep-Hep-Krawalle in Würzburg zwischen 1818 und 1820 oder den Protesten 1848 in Prag sowie im Zuge der beginnenden Revolution im März 1848 in den Wiener Vororten. Antijüdische Motive lassen sich für die Unterschichten-Proteste zwischen 1815 und 1848 in Deutschland kaum nachweisen. 25 Ausgrenzung erfuhr die jüdische Oberschicht von Seiten des Adels, des gehobenen Bürgertums und der Intellektuellen durch Ausschluss von gesellschaftlichen Ereignissen. „Den jüdischen Salons der späteren Aufklärungszeit, in denen die Standes-, Geschlechter- und Religionsbarrieren aufgehoben schienen, folgte als Gegenentwurf die christlich-deutsche Tisch-Gesellschaft, die ‚im Modell reformständischer Staatsauffassung‘ nun wieder Geschlecht und Religion zum Aufnahmebzw. Ablehnungskriterium machte.“ 26 Das schnelle 19. Jahrhundert war also auch für das Judentum in Deutschland ein rasches mit dramatischen Entwicklungen. Sehr schnell fügte sich die jüdische Bevölkerung in das sein Zeitalter bestimmende Wirtschaftssystem ein, so dass sich 20 Vgl. ebd., 21f. 21 Vgl. ebd., 23. 22 Vgl. ebd., 10. 23 Vgl. ebd., 36. 24 Vgl. B ERDING , Antisemitismus, 78-84. 25 Vgl. H ERZIG , Geschichte, 164f. 26 H ERZIG , Geschichte, 166. Ausdruck findet diese Ablehnung auch auf der Bühne. Vgl. dazu unter anderem B AYERDÖRFER , Harlekinade, 92-117. Martina Todesko 140 ihre wirtschaftliche Position extrem veränderte. Lebten Anfang des Jahrhunderts Juden vor allem in ungesicherten Existenzen und am Rande der Gesellschaft, gehörten nun zwei Drittel zum großen und mittleren Bürgertum. 27 Ebenso veränderte sich das Judenbild. Das zu Beginn des Jahrhunderts noch attribut-bestimmte Bild wurde durch physiognomisch-prägnante Darstellungen allmählich abgelöst. 28 Primärattribute wie die Physiognomie 29 , die Körperhaltung, Haar- und Barttracht sowie die Kleidung - der Ostjude im Kaftan oder der assimilierte, reiche Jude im modischen Anzug, als Ergebnis der jüdischen Emanzipation - sind für das 19. Jahrhundert kennzeichnend. Antijüdische Stereotype sind dabei weit über eindeutig antisemitische Kreise hinaus belegbar. Als Sekundärattribute bleiben die ansatzweise bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorhandenen Verweismerkmale, wie der Zwerchsack, der Geldsack, der Bauchladen, der Regenschirm oder der Knoblauch. 30 Der Jude ist nun also nicht mehr nur primär über Attribute visuell zu erkennen, sondern über seine Körpersprache, sein Verhalten und seinen Geruch identifizierbar. Selbst wenn der Jude sich noch so sehr an die Gesellschaft anpasst, er bleibt erkennbar. 3. Der Jude in Mörikes „Der Schatz“ Dem vermeintlichen Juden in Mörikes „Der Schatz“ fehlen diese Zuordnungen in der Anfangsszene. Dadurch wird die spätere Auflösung innerhalb der Novelle auch glaubwürdig. Zugleich eröffnet sich jedoch ein tieferliegender, gesellschaftskritischer Aspekt: keine der Figuren stellt die Zuordnung „es war ein Jude“ in Frage. Weder die Protagonisten der Binnengeschichte, noch die Zuhörer des Hofrats. Auch die Auflösung, dass es sich beim vermeintlichen Juden um einen Schulzensohn handelt, ruft keinerlei Protest hervor. Mörike zeigt hier die Bereitschaft, der Aussage, es handle sich um einen Juden, sofort Glauben zu schenken. Der Jude muss also eigentlich erkennbar sein - das Wie bleibt ungeklärt. Als äußeres Kennzeichen des jungen Mannes wird bei der erneuten Begegnung „filzig und reich“ genannt. Hier erst finden wir einen Hinweis auf herrschende Vorurteile gegenüber Juden. Der Jude als reiche Person basiert auf dem Stereotyp des Händlers, des Wucherers und Schacherers. Die Beschreibung „filzig“ lässt zwei Deutungsmöglichkeiten zu. In seinem Bedeutungsaspekt von „fest verflochten/ verfilzt“ 31 könnte sich hierin die Anspielung auf das äußere Erscheinungsbild Peters verbergen, die die Zuordnung „Jude“ in Anlehnung an das Bild des verarmten Landjuden legitimiert. Oder das Bild des herumziehenden Schacherers. Über dieses ließe sich ein semantisches Feld zur Wortbedeutung „Mauschel“ herstellen (siehe unten). Doch eröffnet sich in die- 27 B ERING , Sprache, 325f. 28 H AIBL , Zerrbild, 246. 29 Vgl. dazu G RÄFE , Karikatur, 47f. 30 W ROCKLAGE , Entstehung. 31 Vgl. G RIMM / G RIMM , Wörterbuch, 491. Die Frage nach dem Bild des Juden im Werk Eduard Mörikes 141 ser Lesart ein Kontrast zu dem vorangestellten „reich“. Erfassen wir „filzig“ in seiner Wortbedeutung „geizig, übertrieben sparsam“ wird dieser Kontrast aufgehoben. Jedoch fehlt nun jeglicher Hinweis darauf, dass Peter bei der ersten Begegnung als Jude identifiziert wird. Dem Leser wird eine weitere Leerstelle geboten, die, ähnlich wie es Cornelie mustergültig vollbringt, gefüllt werden könnte. Peters Charaktereigenschaften „geizig“ und „verschlagen“ wären dann als typisch „jüdische“ Eigenschaften zu bewerten, die in Anlehnung an die erste Szene sich bei genauerem Betrachten in seiner Physiognomie niederschlagen müssten. Dies würde dann auch erklären, warum bei der erneuten Begegnung ein zweiter Blick von Nöten war. Diese Deutung beinhaltet jedoch eine antisemitische Verknüpfung von Verhalten und Erscheinungsbild. Die Tatsache, dass der vermeintliche Jude im weiteren Verlauf nun als „guter Christ“ identifiziert wird und ein christliches Handeln ihm deutlich zugesprochen wird, zeigt so zum einen auf, dass es sich - würde die These, es sei ein Jude, stimmen - um einen bereits emanzipierten Juden handeln müsste, der, wie es die Entwicklung in der antijüdischen Karikatur zeigt, vor allem über seine Physiognomie zuzuordnen wäre. Denn offensichtlich kleidet sich der Schulzensohn nicht jüdisch. Zum anderen wird hierdurch das Vorurteil gegenüber Juden hinterfragt, dass diese zu moralischem Handeln nicht fähig seien und an dieser Tatsache zu erkennen wären. Die Zuordnung zeigt also das Spiel mit Annahmen und spiegelt dabei in leisen, kritischen Tönen fixierte Gesellschaftsbilder wider. Diese bestehen nicht mehr aus äußerlichen Attributen, sondern aus Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. Die Identifikation von Peter in der ersten Begegnung als Jude bleibt auch am Ende als Leerstelle stehen. Wir finden hier keine offene Kritik, keine massive Gesellschaftskritik bezüglich dieser Fixierung, aber ein deutliches Bedienen von Vorurteilen gegenüber „filzig und reich“, um diese ins Leere laufen zu lassen. In Bezug auf die Emanzipation der Juden in Europa und der sich ändernden Merkmale antisemitischer Karikaturen lässt sich die Textstelle also als Beleg für den Vollzug einer jüdischen Assimilation im Erscheinungsbild sowie die Verlagerung antisemitischer Erkennungsmerkmale hinsichtlich einer bestimmten Verhaltensweise auffassen. 4. Ein Jude - ein Dieb - ein Mauschel Als weiteren Aspekt möchte ich im Folgenden auf den Begriff des „Mauschel“ eingehen, mit dem der Dieb in der Novelle belegt wird. Eine Darstellung von Sprache und Antisemitismus bieten verschiedene Forschungsarbeiten; zur Bedeutung des Wortpaares „Mauschel/ mauscheln“ ragt dabei die Arbeit von Hans Peter Althaus hervor. Dietz Bering 32 nennt in seiner Forschungsarbeit vier Formen, durch die antisemitische Haltungen in Sprache zum Ausdruck kommen. Zwei unterschiedliche Formen antisemitischer Vorwürfe gegenüber Juden lassen sich seiner Ansicht nach im Rahmen der Attacken auf die besondere Sprache der Juden unterscheiden. Er- 32 B ERING , Sprache, 325-354. Martina Todesko 142 stens den Vorwurf des anderen Sprechens, d.h. Jiddisch zu sprechen oder kein reines Deutsch (Jüdeln). Da es im Laufe der Emanzipation auch zu einer sprachlichen Assimilation kam, wurde diese Attacke dahingehend verändert, dass zweitens den Juden vorgeworfen wurde, ihre vorauseilende, von zersetzender Modernität geprägte Sprache unterminiere das gute deutsche Deutsch. Im Zuge der freiwilligen oder politisch erzwungenen Assimilation finden sich des Weiteren Angriffe auf die seit 1812 gewählten Namen der jüdischen Bevölkerung. Zudem lässt sich die Formierung einer spezifisch antisemitischen Sprache und Rhetorik nachweisen. 33 Der vermeintliche Jude und Dieb in Mörikes „Der Schatz“ wird, wie bereits erwähnt, als „Mauschel“ bezeichnet. Damit liegt eine sprachliche Bezeichnung vor, die sich meines Erachtens nicht in diese Kategorien eingliedern lässt. Ist auch das Verb „mauscheln“ heute bekannter und weiter verbreitet, so liegt seine Herkunft dennoch im Dunkeln. Die Frage, inwieweit es ein jiddisches Wort darstellt oder im Deutschen von einem jiddischen Ausdruck abgeleitet worden ist, ist stark umstritten. Althaus legt die Forschungsgeschichte ausführlich dar und verweist dabei auf die von Anfang an vorherrschende negative Besetzung des Verbs. 34 Die von ihm aufgeführten Erklärungen kreisen in verschiedenen Bedeutungsphrasen um den Aspekt „wie ein Jude handeln“ und in einem weiteren um „Jüdisch sprechen“, „im jüdisch-deutschen Jargon reden“. 35 Damit werden unterschiedliche Sprachphänomene benannt und Bewertungen und Konnotationen zum Ausdruck gebracht. Es ließe sich also in die von Dietz Bering genannten sprachkritischen Formen eingliedern. Das Substantiv „Mauschel“ ist ab dem 18. Jahrhundert belegt. Lexikographen erwähnen dabei zwei Wortbedeutungen. Für uns von Bedeutung ist die Bezeichnung für Jude in unterschiedlichen, jedoch vor allem negativen Konnotationen. Die Dokumente des 19. Jahrhunderts weisen für die Begriffserläuterung „Mauschel“ neutralere Wortbedeutung auf, als die des 20. Jahrhunderts. Belegbar ist dabei eine Übertragung der im 19. Jahrhundert vorhandenen, möglichen negativen Konnotation auf das Bezeichnungsobjekt. Anders dagegen die Angaben in Konversationslexika und Enzyklopädien. Hier findet sich weitestgehend auch bereits im 18. Jahrhundert die Beschreibung „Spottname für Juden“. Pierers Erläuterung von 1860 „Spottname für Juden und jüdisch handelnde Christen“ - der Zusatz bildet eine Ausnahme innerhalb der Erläuterungen - belegt, welcher Bedeutungsentwicklung die Bezeichnung Mauschel seit 1739 unterworfen war. Es wurden nun auch Erscheinungen wie „Nicht-christliches Handeln“, also Handeln entgegen christlicher Werte- und Moralvorstellungen, mit Worten aus der Wortfamilie „Mauschel/ mauscheln“ bezeichnet - Erscheinungen, die mit Juden nichts mehr zu tun hatten. Man kann also sagen, dass ein unmoralisches Verhalten der Volksgruppe „Juden“ indirekt unterstellt wurde. Etymologisch lässt sich eindeutig der Personenname „Mausche“, „der die bei Westjuden übliche Lautform des 33 Eine weitere Darstellung antisemitischer Sprache bietet Nicole Hortzitz, die sich vor allem auf sprachliche Mittel konzentriert. Vgl. H ORTZITZ , Judenfeindschaft, 20-37. 34 A LTHAUS , Mauscheln, 223f.; zur Wortherkunft ebd., 240-251. 35 Vgl. ebd., 224f. Die Frage nach dem Bild des Juden im Werk Eduard Mörikes 143 biblisch-hebräischen Namens […] M sch darstellt“ 36 , nachweisen. „Mauschel“ entspricht der Form nach dem Diminutivum. Die Wandlung vom Eigennamen zum Gattungsnamen bildet dabei keine Ausnahme. Ähnliche Phänomene lassen sich auch in anderen Sprachen nachweisen. 37 Bemerkenswert ist hierbei gerade im Kontext Antisemitismus, dass im Deutschen ein jiddisches Kosewort zur Gattungsbezeichnung für Juden wurde. Althaus zieht daraus die Schlussfolgerung, dass eine bösartige Verwendung zunächst nicht beabsichtigt gewesen sein kann. 38 Im Werk Mörikes begegnet uns das Substantiv „Mauschel“ in der bereits eindeutig doppeldeutigen und klar negativ konnotierten Bedeutung. Die dadurch geprägte Synonymität von Jude und Dieb spiegelt die gesellschaftliche Stellung von Juden wider. Indem innerhalb der Erzählung jedoch genau dieser Doppelaspekt gebrochen wird, entlarvt Mörike das in der Sprache verankerte Vorurteil. An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch das jiddische „goj“, das wörtlich „Volk“ bedeutet und im Allgemeinen einen Nichtjuden bezeichnet, im Laufe seiner Wortentwicklung auch für Bauer im Gegensatz zu Edelmann und schließlich für die Benennung eines unwissenden Menschen, eines Ignoranten Verwendung fand. 39 Inwieweit die Doppeldeutigkeit von „Mauschel“ daher als explizit antisemitisch oder sich als ein allgemein vorhandenes Phänomen - ähnlich der bereits erwähnten Wandlung von Nomen proprium zum Nomen appellativum - verorten lässt, wurde meiner Einschätzung nach bisher in der Forschung nicht untersucht. 5. Gesellschaftskritik bei Eduard Mörike - Kritik in leisen Tönen Im Werk Eduard Mörikes lassen sich, gegen das Bild Mörikes als den typischen „Biedermeier im Schlafrock“, an verschiedenen Stellen solche Gesellschaftsstudien finden, die in leisen Tönen einen doch sehr kritischen Blick offenbaren. In bereits besprochener Erzählung „Der Schatz“ findet sich die Beschreibung einer königlichen Weinlese, der Weinlese des Weidekönigs. Hier heißt es: „Die Schützen zogen dagegen ihre silbernen Bogen hervor, Alles ordnete sich, das Ziel war gerichtet, der Hahn amtspflichtlich stellte sich darauf. Er krähte hell bei jedem Schuß die betreffende Zahl nach den Ringen. Die Majestät selber verschmähte nicht, die Armbrust einmal zu versuchen, und ob sie gleich ganz abscheulich fehlschoß, ja sogar den Rufer blutig verletzte, so schrie derselbe doch, anständig seinen Schmerz verbeißend, mit lauter Stimme: ‚Zwölf in die Minut’! ‘ was dießmal ausnahmsweise noch höher als das Schwarze galt. Unmäßiger Beifall erscholl aus den Reihen, derweil der Göckel sich insgeheim den Pfeil aus seinem Schwanze zog. Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten. Mein Feldmesser raunte mir zu: auf die 36 Ebd., 247. 37 Althaus verweist hier auf die Wortbedeutung von „Fritz“ für „Deutscher“ im Englischen sowie „Iwan“ im Deutschen für „Russe“. A LTHAUS , Mauscheln, 248. 38 Ebd., 248. 39 Vgl. L ANDMANN , Jiddisch, 166f. Martina Todesko 144 Scheibe sey der König nie glücklich gewesen; vor zwei Jahren sey der gleiche Fall begegnet und man wolle wissen, es habe damals der Monarch, als ihm sein Hofnarr die wahre Bewandtniß mit dem Meisterschuß in´s Ohr gesagt, die edle Delicatesse des Thurmhahns so wohl vermerket, daß er desselben allerunterthänigstes Gesuch, ihm seine unscheinbar gewordene Vergoldung erneuern zu lassen, nicht nur ohne Weiteres bewilligt, sondern ihm überdieß Titel und Rang eines geheimen Wetter- und Kirchenraths gnädigst verliehen habe.“ 40 Eine humorvolle Beschreibung des wahren Hoflebens? Deutlicher wird der ernste Gehalt komischer und wunderbarer Figuren bei Eduard Mörike rund um die Figur Wispel. Diese tritt immer wieder als eine satirische Darstellung vermeintlicher Gebildeter und Kunstkenner auf. Im „Maler Nolten“ zum Beispiel als italienischer Bildhauer. 41 In „Wispel auf Reise“ 42 verlaufen sich der „Professor“ und der Uchrucker (eine Anspielung auf die Wispelfigur). Beide offenbaren hier ihre Lebensunfähigkeit und die Bedeutungslosigkeit ihrer Sprache. Auch die bisher in der Forschung weniger berücksichtigten dramatischen Fragmente können als Reaktion auf aktuelle politische und gesellschaftliche Ereignisse gelesen werden. Die „Verlegungsposse“ bezieht sich zum Beispiel deutlich auf die zur Entstehungszeit brisante und heftig diskutierte Verlegung der Universität und greift deutlich die regionalpolitische Diskussion mit auf. 43 Im dramatischen Fragment „Schicksal oder Vorsehung“ findet sich aus dem Mund des Teufels eindeutige Kritik an Glaubenslehrenden und deren persönlicher Glaubensüberzeugung. Während der Teufel durch die Hallen des Evangelischen Stifts in Tübingen geht, spricht er: „Der jungen Nonne, schon im Leichentuch, / Entschlüpft noch eine irdische Gebärde, / Drum ist der Satan stets willkommen zu Besuch. / Doch hier in diesen halb modernen Hallen / Kann es mir nicht so ganz gefallen: / Wollt´ ich hier einmal meine Kunst versuchen, / So war´s als schleppt´ ich mich im dürren Land, / Es mag sich keiner ganz an mich verfluchen / Und doch ist auch kein rechter Widerstand […].“ 44 6. Der ewige Jude - Ahasver Im Rahmen der dramatischen Versuche Eduard Mörikes stoßen wir erneut auf eine jüdische Figur. Karl Fischer, dem noch der Kalender Eduard Mörikes vorlag, belegt die Auseinandersetzung Mörikes mit dem Mythos des Ewigen Juden: „[…] im Februar und März [1827] beschäftigte er sich wieder ‚mit der angefangenen Oper Ahasverus‘, obgleich er schon lange ‚von einer unerklärlichen Art von Müdigkeit‘, zumal abends und morgens, niedergedrückt wurde.“ 45 40 M ÖRIKE , Schatz, 66f. 41 D ERS ., Nolten, 85ff. 42 D ERS ., Wispel, 335-338. 43 G OESSLER , Pläne, 29-47. 44 M ÖRIKE , Schicksal, 61. 45 F ISCHER , Werke, 70. Die Frage nach dem Bild des Juden im Werk Eduard Mörikes 145 Der Mythos des Ahasvers erzählt zunächst von einem Menschen, der Jesus Christus auf dessen Weg zur Kreuzigung auf Golgatha verspottet, ihm keine Rast gönnt und schließlich dafür von diesem verflucht wird, bis zum Jüngsten Gericht durch die Welt zu wandern. Der Ausgangsmythos ist daher sowohl philosemitisch, neutral, als auch antisemitisch zu deuten. Darin liegt seine Faszination, da seine Bestandteile nicht fixiert sind und Variationen die mythologische Tradition kennzeichnen. Mit der Broschüre „Kurtze Beschreibung und Erzehlung/ von einem Juden/ mit Namen Ahasverus“ (Leyden 1602) wird der Mythos neben „Faust“ und „Tristan und Isolde“ zu einem populären europäischen Bearbeitungsstoff. 46 Zugleich finden hier einige bedeutende Veränderungen statt: der mitleidslose Zeuge der Passion wird eindeutig als Jude identifiziert und erhält den Namen Ahasver 47 . Des Weiteren sorgt das 17. Jahrhundert „[…] neben der Verbreitung jenes ‚Archetyps‘ der Legenden vom Ewigen Juden für eine wesentliche Ergänzung: Ahasver erhält sein Prädikat ‚ewig‘ offiziell 1694, die Wortfolge ‚der Ewige Jude‘ wird nun zu seinem Unter- und Nebentitel, im Weiteren zum Titel und Synonym.“ 48 Wesentlicher Bestandteil ist zunächst die Sündenbock-Position Ahasvers. Seine Opferrolle wird dabei an das Eintreten des Jüngsten Gerichts gekoppelt, also der Erlösung der Christenheit und Wiederherstellung der göttlichen Ordnung. Ahasver ist dadurch Zeuge des Christentums und Sündenbock zugleich, positiv wie negativ charakterisiert. „Ahasver wird in mythischen Überformungen der Folgezeit bußfertiger Heilbringer einerseits, verderbender Unglücksbote andererseits.“ 49 Grundlegende Mythologeme lassen sich anhand der „Kurtze[n] Beschreibung und Erzehlung von einem Juden/ mit Namen Ahasverus“ und dem wenig später erschienenen „Wunderbarliche[n] Bericht von einem Jüden aus/ Jerusalem bürtig/ und Ahasverus genennet“ erschließen, wie es Frank Halbach in seiner Arbeit zum Mythos vom Ewigen Juden im Opernlibretto des 19. Jahrhunderts darlegt. Als Mythologeme nennt Halbach das Kennzeichen der Unsterblichkeit, der Wanderschaft, der Erlösung sowie die jüdische Abstammung Ahasvers. 50 Keines dieser Mythologeme ist dabei unlösbar mit dem Mythos Ahasver verbunden. Dies führt dazu, dass die Bearbeitungen des Stoffes unterschiedlichste Nuancen erhalten können und sich in vielfältiger Weise mannigfachste Bezüge herausbilden. Einige Bearbeitungen können daher sowohl mit dem Ahasver-Mythos als auch anderen Stoffen oder Motiven in Verbindung gesetzt werden. So finden sich Verschmelzungen mit dem Mythos „Kain“, der Figur „Herodias“, aber auch dem Ewigen Jäger „Wotan“. Die Bearbeitungen des Ahasver-Mythos lassen in ihrer Akzentuierung einzelner Mythologeme Rückschlüsse auf den politischen, sozialen und philosophischen Kontext zu. In ihrem Ton reichen sie von tragisch über antisemitisch bis weit in den 46 Bearbeitet wurde der Stoff unter anderem von Wilhelm Hauff, Stefen Heym, Johann Nestroy, Christian Friedrich Daniel Schubart, Friedrich Dürrenmatt, Johann Wolfgang von Goethe, Levin Schücking und anderen. 47 Der Name Ahasver findet sich im Alten Testament im Buch Esther. Hier ist es der Name eines Perserkönigs. Mögliche Erklärungen zur Namensgebung vgl. H ALBACH , Erlösung, 21f. 48 K ÖRTE , Uneinholbarkeit, 31f. 49 H ALBACH , Erlösung, 27. 50 Ebd., 27. Martina Todesko 146 Bereich der Satire - gegen beide Richtungen - hinein. Da uns von Mörikes Auseinandersetzung mit dem Mythos lediglich das Gedicht „Chor jüdischer Mädchen“ 51 erhalten geblieben ist, kann keine Aussage zur Lesart Mörikes getroffen werden. Das Gedicht gibt uns keine Hinweise bezüglich seiner Auffassung des Stoffes und Lesart der einzelnen Bestandteile. Dem Mythos Ahasver und der Doppeldeutigkeit der Bezeichnung „Mauschel“ gemein ist der Kontext „das Fremde benennen“ und damit der Aspekt der Transformation von Weltangst in Weltvertrauen. Der Umgang mit Weltangst und dem gefühlten Riss durch die Welt ist ein zentrales Moment im Schaffen Eduard Mörikes. Im Werk Eduard Mörikes gibt es meines Erachtens keine weiteren Stellen, an denen das Judenbild des 19. Jahrhunderts und Mörikes Stellung dazu weiter thematisiert wird. Es bleibt daher offen, inwieweit das Spiel mit dem Judenbild in der Novelle „Der Schatz“ als eine Stellungnahme Mörikes zum Umgang mit der Judenthematik gelesen werden darf und als Bemühung gelesen werden kann, Vorurteile aufzudecken. Literatur A LTHAUS , H ANS P ETER : Mauscheln. Ein Wort als Waffe, Berlin 2002. B AYERDÖRFER , H ANS -P ETER : Harlekinade in jüdischen Kleidern? - Der szenische Status der Judenrollen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: H ANS O TTO H ORCH / H ORST D ENKLER (Hrsg.), Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Teil II, Tübingen 1989, 92-117. B ERDING , H ELMUT : Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988. B ERING , D IETZ : Sprache und Antisemitismus im 19. Jahrhundert, in: R AINER W IMMER (Hrsg.), Das 19. Jahrhundert. Sprachgeschichtliche Wurzeln des heutigen Deutsch, Berlin/ New York 1991, 325-354. E ITEL , P ETER : Geschichte Oberschwabens im 19. und 20. 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Visuelle Darstellungen von Juden zwischen 1850 und 1900, in: querelles-net Nr. 4 Martina Todesko 148 (2001), <http: / / www.querelles-net.de/ index.php/ qn/ article/ view/ 76/ 76> (Zugriff am 13.10.2012). Ludwig Ganghofers Judenbild Andreas Freidl Der Schriftsteller Ludwig Ganghofer und sein Werk sind ein nachdrückliches Phänomen in der deutschen Literaturgeschichte. Obgleich man heute seine Bücher kaum mehr rezipiert - die meisten seiner ehemaligen Bestsellerauflagen sind nur noch antiquarisch erhältlich - haben viele Leute, wenn von Ganghofer die Rede ist, ein ganz bestimmtes Schema im Kopf, das sich teils über mannigfache Stereotypisierungen speist, vor allem durch die immense nachgeschobene Filmproduktion. Welche jüdischen Spuren lassen sich wohl bei diesem Ganghofer finden? Welche Erwartungshaltung ist uns heute diesbezüglich eingeschrieben? Im Folgenden soll dieser Frage nachgegangen werden und hierfür wird es notwendig sein, das Schema zu decodieren und zu hinterfragen, welches sich im kulturell-kollektiven Gedächtnis von dem Schaffen dieses Ludwig Ganghofers eingeprägt hat. In seiner Autobiographie „Lebenslauf eines Optimisten“ schreibt er: „Ich war zehn Jahre Journalist in Wien! Da lernt man die Juden kennen. Sehr viele! “ 1 Er kannte sie und er thematisierte sie in seinen Schriften. In diesem Aufsatz möchte ich drei seiner jüdischen Protagonisten vorstellen und darüber hinaus auch noch auf andere Spuren jüdischen Lebens verweisen, die Ganghofer in einer spezifischen Art verarbeitet hat. Und es ist - soviel sei vorweggenommen - eine recht eigentümliche Darstellungsweise, die das Klischee, welches sich im Schema Ganghofer manifestiert hat, in gewisser Weise auch etwas abträgt. Wie Rainer Stephan in seiner Qualifikationsschrift zu Ganghofer herausgearbeitet hat, besteht in vielen seiner Romane ein Spannungsverhältnis zwischen restaurativen und progressiven Zügen. 2 Während die programmatisch gehaltenen restaurativen Tendenzen dem Genre der Heimatkunstbewegung, unter der man gewöhnlich auch Ganghofer verortet, zuzusprechen wären, tauchen auch liberal-progressive Tendenzen auf, nicht nur als eingeflochtene Gedanken oder in Form von Aufrufen, sondern in der Figuration bestimmter Charaktere selbst. Ich würde sogar soweit gehen und von subversiven Tendenzen sprechen, versteht man unter Subversion, das gesellschaftlich Normierte und die soziale Haltung einer wie auch immer beschaffenen Majorität zu unterlaufen. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass Ganghofer das zu seiner Zeit gängige Judenbild unter-läuft. Er entfaltet allerdings diese Subversion nicht offen, sondern verlagert sie in dezidierte Nebenfiguren. 3 1 G ANGHOFER , Lebenslauf, 108. 2 Vgl. S TEPHAN , Ganghofer, 13ff. 3 Für diese unterschwellige Subversion gäbe es noch viele andere Beispiele wie etwa die Zuchthäusler-Problematik in seinen Romanen. Die Chancen- und Aussichtslosigkeit für ehemalige Inhaftierte, die der Spirale von sozialer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Ächtung kaum entsteigen können, thematisiert Ganghofer ebenso pointiert und entschlossen anhand seiner Figur Götz aus dem Roman „Der Unfried“ oder anhand der Figur des Jägers Mamertus Andreas Freidl 150 1. Der Viehjude Rusel Eine der Ganghoferschen jüdischen Nebenfiguren ist der Viehjude Rusel aus dem 1904 erschienen Roman „Der laufende Berg“. Beschrieben wird der alte Rusel wie folgt: glattrasiert, eine abgegriffene Schlappmütze, im Großen und Ganzen ärmlich und sehr unscheinbar. Sein Wesen schwankt - und das wird nicht nur beschrieben, sondern auch in der Figur selbst entfaltet - in ambivalenter Weise zwischen gutmütiger Offenheit und misstrauischer Vorsicht, zwischen ruhigem Ernst und wachsamer Schlauheit. Ganghofer macht deutlich, dass diese ambivalenten Züge durch die Kontexte hervorgerufen werden. Der Jude Rusel ist deswegen vorsichtig, ja misstrauisch, weil er die Erfahrung gemacht hat, dass ihm Ablehnung und Aggression von seinen Mitmenschen entgegenschlagen können. Begegnet dem Rusel jemand offen und herzlich, schlägt auch sein Wesen um. Es kommt auch vor, dass ihm beides, Verschlossenheit und Offenheit zugleich entgegenschlägt, Verschlossenheit dem Juden Rusel, Offenheit dem Menschen Rusel. So bleibt ihm ein ständiger Grundzug von Ängstlichkeit, der durch Attribuierungen wie „bleich“, „blass“ oder „zitternd“ markiert wird. Diese dauernde Ängstlichkeit haben alle Ganghoferschen jüdischen Figuren gemeinsam. In der Tat könnte man von einem Reaktionsmuster der Angst sprechen, da die Figuren nur auf die soziale Normierung quasi reagieren können. Aufgrund dieser Angst ziehen sich alle Juden bei Ganghofer - ich werde noch im Weiteren ausführlich darauf zu sprechen kommen - ins Verborgene zurück. Auch Formen jüdischer Integration werden thematisiert, indem etwa Rusel versucht, den Dialekt der Bauern nachzuahmen, sein jüdischer Jargon aber immer wieder durchbricht - was Ganghofer etwas unbeholfen darstellen möchte, indem er eine Art slawisch-jiddischen Akzent bei Rusel ansetzt. Das Spannungsverhältnis, das bei einer Integration ins soziale Gefüge unter Beibehaltung der eigenen Identität entsteht, entgeht Ganghofer nicht und er gibt dem einen Ausdruck, wenn er seine jüdischen Figuren ihre „alte[n], schwermütige[n], wunderbare[n] Tempelweise[n]“ 4 singen oder sie koscher mit eigens dafür vorgesehenem Geschirr kochen lässt. 5 Im Folgenden beziehe ich mich auf ein Gespräch zwischen Rusel und der Bäuerin Karlin, letztere muss in der Ganghoferschen Figurendichotomie zur Fraktion der Guten gerechnet werden. Rusel berichtet ihr von Anfeindungen; wenn die Bauern bei einem Geschäft mit ihm profitieren, dann lachen sie, profitiere er aber einmal, so sei er wüsten Verunglimpfungen ausgesetzt. Karlin erwidert hierauf, dass es ja auch Juden gäbe, die brave Leute um Haus und Hof bringen würden; obgleich sie wisse, dass er, Rusel selbst, redlich und fair sei. 6 Karlin pauschalisiert - und bedient damit das gängige Vorurteil des gewissenlosen Geldjuden. Rusel antwortet ihr: „Die Menschen sind, wie der Herr sie gemacht Troll aus dem Roman „Der hohe Schein“, wie das Carl Zuckmayer im „Hauptmann von Köpenick“ vor Augen führt. 4 G ANGHOFER , Jagen, 169. 5 Vgl. G ANGHOFER , Gotteslehen, 277; D ERS ., Berg, 191. 6 Vgl. G ANGHOFER , Berg, 113f. Ludwig Ganghofers Judenbild 151 hat. Die Hälft hat er geschaffen im Zorn, die andere Hälft in der Lieb. Und ich denk mir, das kommt überall so aufs Gleiche hinaus ... ob ich jetzt sag: Jüden, Christen oder Terken. Überall gibt`s gute Menschen [...] Und überall schlechte.“ 7 In Ganghoferscher Manier ein didaktischer und gut verständlicher Toleranzaufruf, der sich gegen jegliche Form von Pauschalisierung wendet, was mitunter dadurch deutlich wird, dass Karlin in diesem Gespräch immer von Juden spricht, Rusel aber von Menschen. Es gibt das Gute und es gibt das Böse - gemäß dieser Annahme funktionieren Ganghofers Romane und dadurch wird ihnen ein Ruch des Naiven und des Trivialen verliehen - aber das Gute und das Böse ethnisch zu verorten, das geschieht bezüglich der Juden bei Ganghofer nicht. Der Vorwurf eines Bauern, dass er ein Knofl-Jude sei, also ein Knoblauch-Jude, erwidert Rusel, dass ein Knoblauch ein ganz unschuldiges Gewächs sei, zum Vorwurf also nicht tauge. 8 Wie viele Vorwürfe gegen ihn und gegen das Judentum nicht taugen. Ein anderer untauglicher Vorwurf sei der Christusmörder-Vorwurf: „[...] und [sie] nehmen mirs übel, dass e paar Juden vor achtzehnhundert Jahr mitgeholfen haben, den christlichen Heiland zu kreuzigen! Ich bin doch nix dabeigewesen! Und warum schimpfen se nix auf die Italiener? Der Ponzipilatus und seine Kriegsknecht sennen doch Italiener gewesen! “ 9 Rusel fügt hinzu, dass es ganz bestimmt auch nicht recht gewesen wäre, hätten die Juden Christus nicht angeklagt und damit etwa dem göttlichen Plan entgegengestanden. Es sei immer ein Dilemma! Grundsätzlich wird auf das Dilemma verwiesen, dem viele Viehjuden tagtäglich ausgesetzt waren. Man benötigte sie für die Organisation von Viehtransaktionen, gönnte ihnen aber - den Untätigen (so der Vorwurf) - keinen Profit. Ganghofer setzt Rusel hingegen explizit in die bürgerliche Sphäre der Tätigen. Der Roman „Der laufende Berg“ handelt von leichtsinnigen, untätigen Menschen einerseits und andererseits von fleißigen, arbeitsamen Menschen. Die Einen bewähren sich, die anderen gehen unter. Natürlich gehört es zu den Ganghofer-Romanen, dass man diese Wahrheit von Anfang an antizipieren kann und sie sich am Ende bestätigt. Bemerkenswert ist aber, dass Rusel einen erheblichen Teil dazu beiträgt, dass die Fleißigen sich als fleißig erweisen können - oft als deus ex machina der Finanzbrosche. Und er erteilt kluge Ratschläge. Hätte man auf seine Ratschläge am Anfang des Romans gehört, hätten sich keine Katastrophen - vom Feuer bis zum schrecklichen Todesfall - ereignet. Rusel demonstriert eine fast schon (altväterlich) prophetische Weitsicht, indem er Fehlentwicklungen treffend analysiert und zu Korrekturen rät. Eine gewisse Tragik in dem Roman besteht darin, dass man dem klugen Juden kein Gehör schenkt. 7 Ebd., 115. 8 Vgl. ebd., 126. 9 Ebd., 115. Andreas Freidl 152 2. Der Arzt Josephus Klugheit und fachliches Können zeichnen auch den jüdischen Arzt Josephus aus, der in dem Jahr 1900 erschienenen Roman „Das Gotteslehen“ dargestellt wird. „Das Gotteslehen“ ist als historischer Roman angelegt, welcher im 13. Jahrhundert verortet ist und reiht sich in den so genannten Berchtesgadener-Zyklus ein, der sich der Geschichte des Stiftes Berchtesgaden annimmt. Im Mittelpunkt dieses Romanes steht die blinde Tochter des Gotteslechners namens Jutta. Irimbert von Immhof, ein Chorherr des Stiftes Berchtesgaden, der sich allerdings mit dem Kloster überworfen hat, sucht die Nähe des Mädchens. Er möchte dazu beitragen, dass sie sich an der Welt freuen kann und aus diesem Grund schickt er um einer potentiellen Heilung ihrer Blindheit willen nach dem Arzt Josephus aus Regensburg, der in gutem Ruf steht, auf seinem Gebiet einer der Besten zu sein. Es folgt ein erster Eindruck von Josephus: „Es war ein Mann mit bleichem und ernstem Gesicht, das ein schwarzer Bart umkräuselte. Seine Augen waren klar und klug, doch sie hatten einen scheuen Blick. Sein Rücken war gekrümmt als wäre ihm die Demut in den Knochen erstarrt. Er trug eine hohe Pelzmütze und einen langen braunen Rock mit dem gelben Judenfleck.“ 10 Zudem erreicht er Berchtesgaden vollkommen beschmutzt und sein Gewand ist zerrissen. Irimbert zeigt sich betroffen von der antijüdischen Gewalt, welcher Josephus auf dem Weg ausgesetzt gewesen war und wahrscheinlich - Ganghofer formuliert, dass Irimbert dunkle Röte ins Gesicht schießt - blitzen auch Zorn und Scham in ihm darüber auf, dass der Arzt solchen Anfeindungen ausgesetzt war und generell ausgesetzt ist. Josephus‘ Charakterisierung ist auch geprägt von Attributen der Ängstlichkeit und des Misstrauens, was sich nach außen in einer stetig gebückten und gekrümmten Haltung verfestigt. Er geht quasi permanent in Deckung. Selbst auf dem Gotteslehen schlägt dem Josephus Verachtung in der Person der Magd Helgard entgegen: „Da gewahrte Helgard den gelben Tuchfleck am Gewand des Fremden. Sie spuckte auf den Weg, den er gegangen. Um den Zaum des Maultieres zu fassen, hüllte sie die Hand in eine Falte ihres Rockes.“ 11 Es ist bezeichnend, dass, wie bereits im „Laufenden Berg“, diejenigen, die Antipathie gegen Juden verkörpern, auch ansonsten pejorativ gezeichnet sind und destruktiv wirken. Von dieser Magd Helgard geht eine Katastrophe aus, die diesem Ganghoferroman sogar (ganz untypisch) ein richtiges Happy-End versagt. Der Arzt Josephus ist ein Hoffnungsträger und er ist durch fachliches Können im Stande, Jutta die Sehkraft zu ermöglichen. Die Hofbediensteten hegen Zweifel, ob ein Jude so was vollbringen kann: „Ich glaubs nicht, der ist kein Jud! So ein Heilwerk ist wie ein Wunder. Das bringt doch nur ein guter Christ mit Gottes Beistand fertig.“ 12 Sympathie für den helfenden Menschen Josephus, Zweifel am Juden Josephus werden laut - wieder in der dokumentierten Unfähigkeit, beides in einem zu denken. 10 G ANGHOFER , Gotteslehen, 264. 11 Ebd., 266. 12 Ebd., 277. Ludwig Ganghofers Judenbild 153 Durch eine tragische Eitelkeit der schon erwähnten Magd Helgard fällt Jutta wieder in Blindheit zurück. Ganghofer baut hier eine interessante Metamorphose ein, die schon dem Viehjuden Rusel eingeschrieben war. Begegnet man dem Josephus feindselig oder abweisend, so verschließt er sich, er verbirgt sich, was sich insbesondere an der äußeren Haltung kenntlich macht; begegnet man ihm offenherzig, so ändert sich auch seine innere wie äußere Haltung. Im Moment der Heilung liegt alle Sympathie bei Josephus, was sich wie folgt zeigt: „Und völlig ein anderer schien er geworden. Sein Gang war aufrecht, sein Auge ruhig, und freundliche Milde hatte den herben Ernst seiner Züge gelöst.“ 13 Nachdem aber Jutta irreversibel erblindet, fürchtet Josephus Aggression und Anfeindung: „und da schien er wieder jener erste Josephus geworden, mit gekrümmten Rücken, mit scheuem Blick, der ängstlich von einem Gesicht zum anderen glitt.“ 14 Josephus flieht heimlich, und ohne das Wissen des Protagonisten Irimbert jagen ihn die Almsennen des Gotteslehen mit Steinwürfen. Einen fast unmerklichen Umstand möchte ich noch hierbei hervorheben; es fällt in einem Nebensatz, dass Josephus und sein Maultier durch die Steinwürfe verletzt wurden. Das führt dazu, dass Josephus sein Maultier schont und neben ihm herlaufend den Rückweg nach Regensburg antritt. 15 Barmherzigkeit gegenüber dem Tier ist bei Ganghofer immer dem zugeschrieben, der eine besonders empathische Fühlung mit der Schöpfung zeigt - in einer Zeit in der Antiurbanismus und Antijudaismus Hand in Hand gingen, habe ich bei Ganghofer kein Indiz hierfür gefunden, eher Figurationen, die dem entgegenstehen. Auf eine weitere Spur sei noch zusätzlich verwiesen. Beschäftigt man sich mit dem Gesamtwerk Ludwig Ganghofers, so fallen einem Bezüge zu Adalbert Stifter ins Auge. Ganghofer bekräftigt auch in seiner Autobiographie, dass er „ganz trunken“ 16 diesen Autor rezipiert habe; was nicht besonders verwundert, ist doch Stifter durch seine literarische Schaffensweise Vorbild und Initial für viele Autoren der so genannten Heimatkunstbewegung, ich will hier nur exemplarisch Peter Rosegger nennen. Das Geschehen um das blinde Mädchen Jutta, die für kurze Zeit sehend wird, dann aber den Tod findet, entspricht grob skizziert auch der Kernhandlung in Stifters Erzählung „Abdias“. Anhaltspunkte wie der Umstand, dass beide blinde Protagonistinnen, Ganghofers Jutta und Stifters Ditha, auf den alttestamentarischen Mädchennamen Judith zurückgehen, machen aufmerksam auf intertextuelle Bezüge. Diese Bezüge rekurrieren auf Spannungsverhältnisse zwischen Blindheit und Sehen, zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, zwischen Einsamkeit und Zweisamkeit, die eben bei Ganghofer modifiziert, aber ähnlich problematisiert werden. Die intertextuelle Einschreibung des Juden Abdias ist jedenfalls eine Spur auf deren Fährte sich eventuell noch andere finden ließen. 13 Ebd., 267. 14 Ebd., 285. 15 Vgl. ebd., 300. 16 G ANGHOFER , Lebenslauf, 678. Andreas Freidl 154 3. Simeon Lewitter Der dritte jüdische Charakter, der hier vorgestellt werden soll, ist ebenfalls in seiner Profession Arzt. Dass Juden nicht selten von medizinischen Berufen lebten, ist historisch verbürgt, Ganghofer konnotiert diesen Umstand. Seine jüdischen Ärzte weisen eine hohe Hilfsbereitschaft mit ausgeprägten caritativen Zügen auf und zeichnen sich durch eine sehr hohe Kompetenz aus. Ganghofer geht soweit, dass er diese Konnotation mit Gegenbeispielen kontrastiert. In dem Roman „Die Trutze von Trutzberg“ von 1916 tritt im Gefolge des Bayernherzogs Albrecht ein völlig inkompetenter Arzt auf, durch dessen Fahrlässigkeit einem der Protagonisten nicht mehr geholfen werden kann. Dieser Arzt bleibt nahezu uncharakterisiert bis auf die Attribuierung, dass er ein Judenfeind sei und dass auf dessen Veranlassung die Juden aus München vertrieben worden wären. 17 In dem 1918 erschienen Roman „Das Große Jagen“ wird gleich zu Anfang der Medicus Simeon Lewitter vorgestellt. Es handelt sich wieder um einen historischen Roman aus dem Berchtesgaden-Zyklus, der im 18. Jahrhundert verortet ist. „Ein scharf geschnittener Judenkopf mit blassem Gesicht. Der Spitzbart so weiß wie die hohe Stirn. Unter dem Lederkäppchen quollen graue Locken heraus. Zwei stille heißglänzende Augen. Das war der aus Salzburg zugesiedelte Arzt und Handelsmann Simeon Lewitter, der vor fünfzehn Jahren bei einem Judenkrawall das Weib und seine Kinder verloren und in der Verstörtheit dieser Greuelnacht die Taufe empfangen hatte. Für die Bauern galt er immer noch als der Jud, genoß aber als Leibarzt des Fürstpropstes zu Berchtesgaden leidliche Sicherheit. Nur die Trauer seiner Augen erzählte von den Schmerzen einer vergangenen Zeit. Der schmale Mund unter dem weißen Barte hatte das Lächeln einer steingewordenen Geduld.“ 18 Im letzten Satz kommt wieder das Aufsetzen eines maskenhaften Lächelns zum Ausdruck, gute Miene zum bösen Spiel machen - in Deckung gehen - und abwarten - mit steingewordener Geduld. Simeon Lewitter wird als Arzt und Händler eingeführt, in der Klimax meiner Ausführungen könnte man auch von einer Synthese von Rusel und Josephus sprechen - und es bestehen in der Tat viele Parallelen. Die Bauern sehen in Simeon nur den Juden, auch dem Viehjuden Rusel schreien die Kinder und Bauern nur Jud hinterher. Simeon Lewitter spricht weder einen jiddischen Akzent noch eine seltsam gebrochene Syntax, die Ganghofer dem Josephus untergeschoben hatte, sondern von ihm heißt es: „Er sprach, wie die Herren reden, die unter Bauern wohnen.“ 19 Er redet nicht nur vornehm, er ist auch umfangreich gebildet, ein Intellektueller, der sich sogar - trotz aller Furcht und Ängstlichkeit - einem konspirativen Kreis angeschlossen hat. In dem Roman wird die Thematik konfessioneller Konflikte entfaltet: In dem katholischen Stift Berchtesgaden leben viele Menschen, die sich dem evangelischen Glauben zugehörig fühlen, dies aber nicht offen leben oder bekennen dürfen; sie leben als „Unsichtbare“ und sind ständig den Nachstellungen der 17 Vgl. G ANGHOFER , Trutze, 325. 18 G ANGHOFER , Jagen, 6f. 19 Ebd., 10. Ludwig Ganghofers Judenbild 155 Obrigkeit ausgesetzt. Simeon Lewitter schmuggelt verbotene evangelische Literatur ins Land, die im konspirativen Kreis wahrgenommen wird. Dieser Kreis besteht neben Lewitter noch aus zwei anderen Personen: dem „unsichtbaren“ Protestanten Nikolaus Zechmeister und dem eigentlich rechtgläubigen Pfarrer Ludwig, der für einen gutgebliebenen Katholiken steht. „Wann wird die Zeit kommen, dass jeder leben darf nach seiner Farb? Die Zeit, wo jeder spürt, dass er mit gleichen Rechten ein Bruder des anderen ist? Mensch neben Mensch. Lasset uns beten als Brüder, die dem Licht entgegenharren.“ 20 Dies ist quasi ihr Credo. Nikolaus Zechmeister, der den Beruf des Herrgottschnitzers ausübt, fertigt ein „Hoffnungsschnitzwerk“ an, welches „einen katholischen Priester mit der Stola, den Moses mit den Gesetzestafeln und einen evangelischen Prediger mit Kelch“ 21 darstellt. Das Desiderat nach konfessioneller Einigung und konfessionellen Frieden reduziert sich nicht nur auf die zwei christlichen Konfessionen, die neue Ökumene soll unter Katholiken, Protestanten und Juden herrschen. „Stumm, die Herzen erfüllt von träumender Inbrunst, standen die drei Männer vor dem Bilde, das so ergreifend wie kindlich, so tiefsinnig wie voller Einfalt war. Und dieses Schweigen war das verbrüderte Gebet ihres duldsamen Glaubens, war das ungesungene Lied ihrer gemeinsamen Hoffnung auf einen Menschenmorgen, von dem sie wußten, das er kommen muß - bald, meinte der eine; nach Jahrzehnten glaubte der andere; nach Jahrhunderten, hoffte der dritte.“ 22 Ganghofer zeichnet hier die unterschiedliche Beschaffenheit der Hoffnung in Bezug auf den Zeitpunkt, wann sich diese Ökumene verwirklichen lassen könne. Gemäß ihrer sozialen Verankerung und ihrer gesellschaftlichen Erfahrungen differieren deren Ansichten darüber: Der Protestant, der seine frische Euphorie kennt, wähnt nur eine kurze Dauer. Der Katholik, der seine Kirche kennt, wähnt längere Zeit und der Jude, der seine christlichen Mitmenschen kennt, rechnet mit Jahrhunderten. Wie erwähnt, ist Simeon Lewitter ein Gebildeter, der sich nicht nur mit evangelischen Strömungen befasst, sondern vor allem mit seinem Glaubensbruder Baruch Spinoza; von ihm erzählt Lewitter: „Er hat den Tod in seiner Werkstatt eingesogen als Glasschleifer. Die jüdische Synagoge in Amsterdam hat ihn ausgestoßen als Verfluchten. Und er ist von den wärmsten Menschen einer gewesen, ein Erdenkind mit den ewigen Gottesfunken in der Seel, mit dem Durst nach Wahrheit in Blut und Gehirn.“ 23 Und er parallelisiert diesen Ausstoß aus der Amsterdamer Synagoge mit dem Ausstoß der „Unsichtbaren“ in Berchtesgaden, der zuletzt in Form eines Exodus auch realiter eintritt. Die begeisterte Sympathie, die Lewitter für Spinoza hegt, der war auch Ludwig Ganghofer selbst verfallen. Im „Lebenslauf eines Optimisten“ heißt es: „Bei Kant und Hegel fand ich neben allem blitzenden Geiste zu wenig Leben, zu wenig Blut. Am wärmsten konnte ich für Spinoza fühlen.“ 24 Öfter 20 Ebd., 22. 21 Ebd., 23. 22 Ebd., 23f. 23 Ebd., 22. 24 G ANGHOFER , Lebenslauf, 570. Andreas Freidl 156 kommt zur Sprache, was ihm die Ansichten dieses Philosophen bedeuten. Und das schlug sich auch um. Es schlug sich in Ganghofer um, in seine Denkungsart und in seine Weltanschauung. Und das schlug sich wiederum in nahezu allen seinen Romanen um. Die Spuren dieses jüdischen Philosophen lassen sich in seinem ganzen Werk auffinden. Das „sive deus sive natura“, diese Form einer pantheistischen Welt- und Natursicht wirkt bei Ganghofer, man könnte sagen, in der permanenten Propagierung eines Vulgär-Spinozismus. Pars pro toto für unzählige Stellen spinozistischpantheistischen Gedankenguts eine Passage aus dem „Edelweißkönig“ von 1886: „Nie sah man ihn [Veverls Vater] in einem Wirtshaus, nie bei einer Lustbarkeit, und auch in der Kirche nur an den höchsten Festtagen. Er wußte mit den Menschen nicht zu reden, dafür umso besser mit seinen Tieren, Pflanzen und Steinen [...] Die Bäume, Blumen und Pflanzen waren für ihn nicht leblose Produkte der Natur; ihre mannigfache äußere Gestalt erschien als verschiedenartige Gewandung verschiedener Wesen, deren Leben in Wachstum und Blüte der Pflanze sich bekundete; selbst das starre Gestein erschien ihm als die Hülle ähnlichen Lebens. Er liebte die Natur und drum war sie für ihn lebendig. Und all jene Wesen, mit denen er die Natur bevölkert sah, setzte er in harmonische Beziehung zu dem Gott, an den er als guter Christ glaubte, je weniger er sich damals versucht hatte, sich von Gott ein klares Bild zu machen. Er dachte seinen Gott nicht, er fühlte ihn, fühlte ihn als Inbegriff des Guten und Gerechten [...] Natur und Natur, das war der Ausgang und das Ziel all seines Fühlens und Denkens, der Verkehr mit der Natur seine einzige Freude.“ 25 Nach Spinoza sei noch ein weiterer Exkurs gestattet. Gemäß seiner Autobiographie war Ganghofer ein ungebrochener Heinrich-Heine-Anhänger und Bewunderer. 26 Er hatte ihn intensiv gelesen, den Namen „Asra“ für den Titel seiner ersten Veröffentlichung „Vom Stamme Asra“, ein Gedichtband, entlieh er von Heines „Romanzero“. In der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit blieb Heine immer mit seiner jüdischen Herkunft verbunden. Zum Teil deswegen, zum Teil wegen seines satirischen Stils empfanden ihn konservative Schriftsteller, insbesondere in der so genannten Heimatkunstbewegung, für gewöhnlich als eine persona non grata. Erwähnt sei hier nur die Ablehnung Peter Roseggers, ein geplantes Heinrich-Heine- Denkmal in Mainz zu kommentieren. Ganghofer kannte solche Aversionen nicht, im Gegenteil. Um wieder auf Simeon Lewitter zurückzukommen: Ein Arzt, der zu jeder Tages- und Nachtzeit hilft, sogar die fürstpröpstliche Justiz holt Ratschläge von ihm ein. Im Roman kommt Ganghofer deutlich auf Pogrome gegen Juden zu sprechen, die er zwar historisch verortet, die aber für den damaligen Rezipienten eine Aktualität besaßen: etwa die so genannten Hep-Hep-Unruhen von 1819 in Süddeutschland oder Pogrome gegen Juden um 1847. 27 Dem Leser stellt Ganghofer die Rückzugsbedürftigkeit der Juden direkt vor Augen; es folgt eine längere Passage über das Zuhause von Simeon Lewitter: 25 G ANGHOFER , Edelweißkönig, 40f. 26 Vgl. G ANGHOFER , Lebenslauf, 252, 763. 27 R OHRBACHER , Biedermeier, 94ff. Ludwig Ganghofers Judenbild 157 „Vor einer Tür schob Lewitter die Füße in zwei große Filzpantoffel, um den Schnee nicht hineinzutragen in diese Stube, die das Heiligtum seines einsam gewordenen Lebens war. Ein großer Raum mit vielen Teppichen. Die zwei Fenster mit dicken Innenläden verschlossen, durch Eisenstangen verwahrt [...] Allerlei Frauengerät, Haubenstöcke und Kochgeschirr, ein Spinnrädchen und eine Garnhaspel, ein kleiner Webstuhl und ein Gewürzmörser. An den Wänden waren hohe Gestelle mit Spielzeug in solcher Menge angeräumt, daß die Stube fast aussah wie ein Kramladen der Kinderfreude. Während Lewitter in dem roten Lampenlicht huschend umherging und alles Nahe mit zärtlicher Hand berührte, brannte in seinen Augen eine düstere Sehnsucht. Sein Gesicht hatte die steinerne Glätte verloren und war durchwühlt von einer schmerzenden Erschütterung. Sooft er diese Stube betrat, seit fünfzehn Jahren, immer war es so. Immer wurde das Glück in ihm lebendig, das er verloren hatte, und immer mußte er jener grauenvollen Stunde denken, in der er wie ein Irrsinniger an den Leichen seines Weibes und seiner Kinder vorübergetaumelt war [...] Seufzend ließ er die Augen hingleiten, über das verstaubte Spielzeug, hatte wieder das steinerne Gesicht, das geduldige Lächeln, murmelte ein Segenswort seines unverlorenen Väterglaubens und verließ die Stube.“ 28 Er verbarrikadiert sich nach außen! Er ist nicht nur ein ausgeschlossener Jud, er verschließt sich vor der antijüdischen Gewalt, die er am eigenen Leibe und an seiner ermordeten Familie sehr schmerzlich zu spüren bekam. Simeon pflegt die Memoria an seine Familie, das „Frauengerät“ und das „Spielzeug“ bewahrt er auf als letztes Relikt der Seinen, es bleibt ihm - genauso wie der unverlorene Väterglaube, in diesem verbarrikadierten Innen bleibt ihm seine jüdische Identität. Ganghofer schreibt in seiner Autobiographie über jüdische Familienbande: „Man rühmt den Familiensinn der Juden, ihre Treue, jede Not des Lebens und auch das Grab überdauernde Kindesliebe. Dieser kostbare Besitz der jüdischen Familie quillt aus keiner Eigenart der Rasse. Nein! [...] Ich habe gefunden, daß in jüdischen Familien alle Wichtigkeiten vor den Kindern viel natürlicher und verständiger genommen werden, als die verkrüppelte Sittlichkeit unserer ,christlich-arischen‘ Kultur das zuläßt. Die jüdischen Väter und Mütter genießen in der tieferen Liebe ihrer Kinder die Frucht des Vernünftigen.“ 29 Diese Familie wurde Simeon Lewitter genommen, seine Trauer und sein leises Andenken führt Ganghofer deutlich vor Augen. Immer das geduldige Lächeln in der steinernen Gesichtsmaske, im Ab-Warten auf bessere Zeiten - zur Not, wie es hieß, jahrhundertelang. 4. Resümee Der Autor Ludwig Ganghofer hat, wie ich finde, einen Beitrag dazu geleistet, jüdische Fragen und Belange aus einer Verborgenheit ans Licht zu holen. In Anbetracht seines Genres und in Anbetracht der gesellschaftlichen Konventionen der Wilhelminischen Ära - zumal für einen geschäftstüchtigen Bestsellerautor - halte ich diese 28 G ANGHOFER , Jagen, 30. 29 G ANGHOFER , Lebenslauf, 108. Andreas Freidl 158 Entbergung, wie eingangs formuliert, für subversiv. Sicherlich zeichnet Ganghofer plakative Romanfiguren, die jüdischen sind da nicht ausgenommen. Psychologisierungen seiner Charaktere erfolgen ziemlich restriktiv, obschon Grundmotivationen durchaus plausibel angelegt sind und auch überzeugen können. Die immanente Ängstlichkeit, die allen jüdischen Figuren bei Ganghofer eingeschrieben ist, hemmt ihre Tatkraft oder gar offenes Aufbegehren, sie verbleiben alle in einer Sphäre der Passivität. Die Tatkraft bleibt bei Ganghofer in der Tat den blonden und blauäugigen Jäger- und Bauernprotagonisten vorbehalten. Aber dieser Autor decodiert, wie gezeigt, auch Klischees und Vorurteile bezüglich der Juden und schreibt ihnen allen implizite Heldenrollen ein: die Helfer im Verborgenen. In diesem Punkt schreibt Ganghofer liberal und progressiv im Vergleich zu vielen anderen Schriftstellern, die heute wie selbstverständlich im Schul- und Universitätskanon gehalten werden. 30 Unbestritten ist, dass Ludwig Ganghofer für eine rigide Form von deutschem Nationalismus einstand 31 und dies auch in seinen Romanen mitunter propagierte. Aber sein Volksbegriff war nicht der eines autochthonen und indigenen Volkskörpers romantischen Couleurs, er hegte und transportierte ein anderes Volksverständnis, wie er es beispielsweise in einer Passage aus dem Roman „Der Mann im Salz“ von 1906 deutlich macht: „Was für Volk ist alles, derzeit ich leb, durchs [...] Land gelaufen, böhmisch, italisch, französisch und ungrisch. Deutsche Leut, die haben gefremdelt und Fremde sind Deutsche geworden.“ 32 Der Distinktion den Juden gegenüber, sei es gesellschaftlich oder religiös, schrieb er (subversiv) entgegen. Die Juden gehörten für ihn einfach dazu. Quellen und Literatur Quellen G ANGHOFER , L UDWIG : Das Gotteslehen. Roman aus dem 13. Jahrhundert, in: D ERS ., Ausgewählte Werke, Dritter Band, Stuttgart 1930. -: Das große Jagen. Roman aus dem 18. Jahrhundert, Berlin 1918. -: Edelweißkönig, in: Ludwig Ganghofers Gesammelte Schriften, Volksausgabe, Dritter Band, Stuttgart o.J. -: Der laufende Berg. Hochlandgeschichte von Ludwig Ganghofer, in: Ludwig Ganghofers Gesammelte Schriften, Sechster Band, Stuttgart o.J. -: Der Mann im Salz. Roman aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts, in: Ludwig Ganghofers Schriften, Jubiläumsausgabe, Neunter und Zehnter Band, Stuttgart o.J. -: Die Trutze von Trutzberg. Roman aus dem 15. Jahrhundert, Berlin 1915. -: Lebenslauf eines Optimisten, 10. Aufl., Stuttgart 1925. 30 Exemplarisch sei nur auf die nachhaltige Kanonisierung von Gustav Freytags Werk hingewiesen. 31 Ludwig Ganghofer stimmte literarisch in die Kriegsbegeisterung des Ersten Weltkrieges ein, indem er als Kriegsberichterstatter nationaleuphorische Frontberichte verfasste. 32 G ANGHOFER , Salz, 102. Ludwig Ganghofers Judenbild 159 Literatur R OHRBACHER , S TEFAN : Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen im Vormärz und Revolution (1815-1848/ 49), Frankfurt am Main 1993. S TEPHAN , R AINER : Ludwig Ganghofers Romane. Über mögliche Kategorien einer Ästhetik der Trivialliteratur, Diss., Münsterschwarzbach 1981. 1.3. Jüdische Perspektiven Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns Armin Strohmeyr Hedwig Lachmann war lange Zeit selbst Eingeweihten der schwäbischen Literaturgeschichte kaum ein Begriff. Sogar Hans Pörnbacher erwähnt sie in seiner im Jahre 2002 erschienenen „Schwäbischen Literaturgeschichte“ mit keinem Wort. Immerhin haben sich inzwischen mehrere eigenständige Publikationen der Autorin angenommen. Ich erwähne hier nur die umfassenden biographischen Arbeiten von Herbert Auer (1988), Annegret Walz (1993) und Birgit Seemann (1998), zudem verweise ich auf die von mir besorgte Edition der Werke Hedwig Lachmanns aus dem Jahre 1996 und - in erweiterter Fassung - aus dem Jahre 2003, letztere erschienen im Wißner Verlag, Augsburg. Hedwig Lachmann war sich des fragmentarischen Charakters ihres schmalen Werks bewusst. Doch auch hier gilt, dass Quantität und Qualität nicht gleichzusetzen sind. Sie selbst schrieb einmal ihrem Freund Richard Dehmel: „Ich war nie sehr produktiv, es ist auch nicht viel dazugekommen, aber was da ist, so scheint mir, ist jedes für sich, doch immer etwas Entwicklungsmäßiges. Und daher meine ich, kommt es auf die Anzahl nicht so sehr an.“ 1. Der Vater Isaak Lachmann - Herkunft, Wirken und Bedeutung Hedwig Lachmann wurde am 29. August 1865 in Stolp in Pommern als Tochter des Kantors Isaak Lachmann und dessen Frau Minna geboren. Isaak Lachmann kam im Jahre 1838 vermutlich in Dubno in Russland zur Welt, nach eigenen Angaben in seinem Antrag für die Bayerische Staatsbürgerschaft jedoch in Neuteich, Kreis Czarnikow, im preußischen Regierungsbezirk Bromberg / Provinz Posen. Vermutlich wollte Isaak Lachmann bei dieser Angabe seine russische Herkunft den bayerischen Behörden verschleiern, um seine Einbürgerung nicht zu gefährden. Für die Herkunft aus Russland spricht auch die Angabe der Familie, Isaak Lachmann sei als junger Mann Schüler des weithin berühmten Oberkantors von Odessa, Osias Abrass, gewesen. Lachmann sei in den frühen 1860er Jahren nach pogromartigen Übergriffen durch die Kosaken über Russisch Polen nach Preußen geflohen. Angeblich - so die Familienlegende - sei er dabei heimlich durch die Weichsel geschwommen. Auf dieses Ereignis nimmt auch Hedwig Lachmanns Gedicht „Abstammung“ Bezug. Die Flucht des Vaters über die Weichsel wird darin angedeutet, eine Flucht, auf der er zwar seinen Besitz zurücklassen musste, die ihm aber ein weit kostbareres Gut, nämlich die Freiheit, brachte. Der Vater wird in diesem Gedicht als ein ehrfürchtiger „Gottesmann“ gepriesen, der die „edle Gabe“ des Armin Strohmeyr 164 Gesangs besitzt. Diese beiden Eigenschaften, Frömmigkeit und Liebe zum Gesang, so die Dichterin, trugen dazu bei, dass der Vater von anderen „Betern“, also Gottessuchern, geliebt und geachtet wurde. Sie hätten den Kantor und seine Kunst - Gebet und Gesang - gar als „Brücke“ zu Gott betrachtet. Damit schließt sich auch metaphorisch die Kluft, die eingangs mit dem Bild der „schnellen Flüsse“ (der Weichsel? ) aufgetan wurde. Das Gedicht entstand nach dem Tod Isaak Lachmanns, auf das Sterben des Vaters verweist die Dichterin in der Schlusszeile: „Abstammung Mein Vater kam von ferneher ins Land. Aus Gegenden mit reißend schnellen Flüssen, Die er als Flüchtling hat durchschwimmen müssen, Damit ihn Willkür nicht in Knechtschaft band. Und nahm nichts mit auf seine Wanderschaft Und war ihm nur verliehn statt aller Habe Und aller Handwerkschaft die edle Gabe Zu singen, und im Herzen eine Kraft. Er war ein Gottesmann, der Brücken schlug Auf Wolkenzügen in den lichten Äther Und aufwärts trug die Inbrunst vieler Beter, So hingegeben wie ein Vogelflug. Aus seiner Heimat, menschenarm und weit, Klang in ihm nach im Ton der Hirtenflöte Das stumme Dulden langgewohnter Nöte Und eines alten Volkes Traurigkeit. Und eingegraben war in Sinn und Mark Ihm fromme Weisheit einer alten Lehre; Die tat er kund und lebte ihr zur Ehre, Und ward geliebt, und starb so jäh wie stark.“ Die rechtliche Lage für Juden im Königreich Preußen war in den 1860er Jahren vergleichsweise gut: Das preußische Judengesetz von 1847 regelte die Stellung der Juden in Preußen neu. Die Provinz Posen mit ihrem traditionell hohen jüdischen und jiddischsprachigen Bevölkerungsanteil (Ostjudentum) blieb davon jedoch ausgenommen. Das Judengesetz von 1847 erhob die jüdischen Gemeinden zu Körperschaften des öffentlichen Rechts. Juden erhielten zudem die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit innerhalb Preußens. Die erste uneingeschränkte rechtliche Gleichberechtigung in einem deutschen Staat wurde den Juden 1862 im Großherzogtum Baden gewährt. Es folgten 1864 Frankfurt und 1867 Österreich-Ungarn. 1869 erließ Otto von Bismarck für den Norddeutschen Bund ein Gesetz, das das Judentum den anderen Konfessionen rechtlich gleichstellte. Dieses Gesetz wurde nach der Reichsgründung 1871 als Staatsgesetz auf alle deutschen Länder übertragen. Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns 165 1868 übersiedelt die Familie Lachmann nach Lauenburg in Pommern. 1873 bewirbt sich Isaak Lachmann erfolgreich um die freigewordene Stelle eines Kantors in der Gemeinde von Hürben-Krumbach in Bayerisch-Schwaben und zieht mit seiner Familie dorthin. In den Jahren von 1865 bis 1877 gehen aus der Ehe der Lachmanns sechs Kinder hervor, zwei Mädchen und vier Buben. Hedwig ist das älteste Kind. Hedwig Lachmann verbringt den größten Teil ihres Lebens in Berlin. In der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs erhält sie grundlegende dichterische Eindrücke. Doch die Jahre im Elternhaus sind im Hinblick auf unser Thema von entscheidender Prägung. Wertevermittelnd bezüglich jüdischen Glaubens und Lebens ist vor allem der Vater. Die starke Persönlichkeit Isaak Lachmanns fußte sowohl auf persönlichen Qualitäten als auch auf der Rolle, die er nach 1873 als Kantor in Hürben ausfüllen musste und durfte. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Hürben reicht bis ins frühe 16. Jahrhundert zurück. Als 1518 die Juden aus Donauwörth vertrieben wurden, siedelten sie sich überwiegend im Augsburger Raum und in Mittelschwaben an. 1618 erhielten die Juden der mittelschwäbischen Gemeinden einen von Kaiser Matthias ausgestellten Schutzbrief, was Ansiedlung, Handel und Wandel und Ausübung der Religion erleichterte und protegierte. Dies wirkte sich bald auch auf die Population aus. Im 19. Jahrhundert, mit dem Wegfall kleinstaatlicher Zuzugsbeschränkungen, wuchs die jüdische Gemeinde Hürben in der schwäbischen Provinz des Königreichs Bayern. So wurden im Jahre 1802 (vier Jahre vor der Gründung des Königreichs) in Hürben 388 Christen und 281 Juden gezählt, der jüdische Anteil machte also 42 Prozent aus. 1811 wurden gegenüber 493 Christen 421 Juden gezählt. Der jüdische Anteil lag bei 46 Prozent. Damit lag Hürben an der Spitze in ganz Bayern. 1839 zählte man in Hürben 576 Juden, 1840 schließlich 652. In den Jahren und Jahrzehnten danach sank die Zahl der Juden in Hürben wieder. Dies erfolgte im Rahmen der großen Auswanderungswellen nach 1848, nach der gescheiterten Revolution. Immerhin waren auch in Hürben etliche Juden in den Märzvereinen engagiert. Das jüdische Leben Hürbens, das sich erst 1902 mit Krumbach zu einer Gemeinde zusammenschloss, war in den Jahren nach 1850 durch den Rabbiner Hayum Schwarz geprägt, der 1850 auch eine Denkschrift bei der bayerischen Abgeordnetenkammer einreichte, worin er die vollständige rechtliche Emanzipation der Juden in Bayern forderte. Rabbi Schwarz übte sein Amt bis 1873 aus. 1875 starb er. Ein Jahr zuvor, 1874, war bereits der bisherige Vorsänger und Vorbeter Moses Klopfer gestorben. Die jüdische Gemeinde Hürbens war unterdessen durch Aus- und Abwanderung stark geschrumpft und auch verarmt. Die Stelle eine Rabbis konnte auch aus finanziellen Gründen nicht neu besetzt werden. Man entschloss sich, stattdessen eine Kantorenstelle auszuschreiben und diese Stelle gegenüber dem bisherigen Vorsänger und Vorbeter institutionell und finanziell aufzuwerten. Aus den Kreisen der Hürbener Judenschaft gab es keinen geeigneten Bewerber. Die Stelle wurde öffentlich in der jüdischen Kantorenzeitung ausgeschrieben. Es bewarb sich u. a. der in Lauenburg in Pommern tätige Kantor Isaak Lachmann, der im April 1873 die Stelle erhielt und mit seiner Familie nach Hürben zog. Den Schrumpfungsprozess der Hürbener Gemeinde konnte das freilich auch nicht aufhalten. Bis Armin Strohmeyr 166 1910 lebten in Hürben-Krumbach nur noch 94 Juden, 1925 noch 79, 1942 noch 15, die noch im selben Jahr in die Vernichtungslager im Osten deportiert wurden. Nach 1942 war die jüdische Gemeinde ausgelöscht und ist es bis heute. Isaak Lachmann stellte also als Kantor das geistige und geistliche Oberhaupt einer bedeutenden, aber im Schwinden begriffenen jüdischen Gemeinde dar. Das jüdische Leben in Hürben zeigte sich nicht nur in der Synagoge, sondern auch in einem regen Vereinsleben und im Bestand einer jüdischen Volksschule mit eigenem Schul- und Gemeindehaus und zwei jüdischen Lehrern, nämlich seit 1863 Seligmann Heinemann und seit 1875 auch der neue Kantor Isaak Lachmann, der den Religionsunterricht übernahm. 1925 wurde die Volksschule wegen zu geringer Schülerzahl geschlossen. Isaak Lachmann besaß in Hürben bald einen ausgezeichneten Ruf, als Kantor, Lehrer und Bürger. Das bayerische Bürgerrecht erhielten er und seine Kinder freilich erst 1887, nachdem er einen diesbezüglichen Antrag gestellt hatte. Aber auch als Musikologe erwarb er sich einen guten Ruf: 1899 erschien in Leipzig der erste Band der von ihm gesammelten süddeutschen Synagogalgesänge unter dem Titel „Awaudas Jisroeil. Der israelitische Vorbeterdienst. Traditionelle Synagogengesänge des süddeutschen Ritus“. Die folgenden von ihm noch vorbereiteten drei Bände konnten wegen seines plötzlichen Ablebens nicht mehr erscheinen. Sie wurden erst in den 1990er Jahren von Andor Izsák und Adalbert Osterried ediert. Diese Edition von 1899 machte Isaak Lachmann in musikwissenschaftlichen Kreisen deutschlandweit bekannt. Als er am 15. Mai 1900 starb, erschien im „Krumbacher Boten“ kein Nachruf (von der privaten Todesanzeige einmal abgesehen). Auch hier stimmt das Sprichwort: Der Prophet gilt im eigenen Lande nichts. Doch würdigten die „Österreichisch-ungarische Kantoren-Zeitung“ und die Berliner „Neue Presse“ in umfangreichen Nachrufen den Hürbener Kantor. 2. Der Vater, das verehrungswürdige Vorbild Diese Ausführungen mögen verdeutlichen, welche Bedeutung der Kantor und Musikwissenschaftler Isaak Lachmann für das jüdische Leben Hürbens und den jüdischen Synagogengesang Deutschlands hatte. Wer solch einen Mann zum Vater hat, muss ihn verehren, vielleicht auch ein wenig seine Größe und Bedeutung fürchten. Über die persönliche Beziehung Hedwig Lachmanns zu ihrem Vater ist aus Briefen immerhin soviel zu erschließen, dass die Tochter ihren Vater ehrte, ihn in Phasen der Krankheit auch über längere Zeit hin pflegte (weshalb sie eigens aus Berlin anreiste und sich dafür den zynischen Spott Richard Dehmels zuzog), ihm mit Achtung begegnete, aber auch mit Scheu und Furcht - selbst als schon längst erwachsene und in Literatenkreisen bekannte Frau und Dichterin. Bezeichnend ist, dass die 34-jährige Dichterin und ihr 29-jähriger Geliebter Gustav Landauer im Sommer 1899 in Krumbach alles daran setzten, damit der gestrenge Herr Kantor nichts vom Verhältnis seiner Tochter zu dem damals noch verheirateten Anarchisten Landauer erfuhr. Heimliche Rendezvous beim Krumbad mussten umständlich arrangiert werden. Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns 167 All dies mag als Erläuterung genügen, um einige biographisch grundierte Gedichte Hedwig Lachmanns besser verstehen zu können. Dazu gehört auch das Gedicht „Bußtag“, das den Vater in bereits distanzierter Erinnerung zeigt, ihn aber nichtsdestoweniger mit großem Respekt, ja beinahe entrückt zeichnet, wie auf einem etwas nachgedunkelten Gemälde aus alter Zeit. Im Umkreis der Beter erscheint der Vater wie ein Monolith, er steht als Einziger, während die anderen knien, er erscheint in seinem fließenden Gewand beinahe wie ein alttestamentarischer Prophet, übergroß, von ihm erhoffen die jüdischen Büßer und Beter eine bessere Fürsprache vor Gott, eine Fürsprache mittels seines Gesangs. Damit werden der Gesang und die mit ihm verwandte Dichtkunst (denn die Psalmodie ist gesungene Dichtung) dem Wesen irdischer Kunst enthoben, die Psalmodie hat selbst teil am Göttlichen, sie ist Brücke vom Menschen zu Gott. Doch zugleich betont die Dichterin auch die fromme und gottes„fürchtige“ Haltung des Vaters, indem sie ihn in der letzten Strophe auf den Boden hingesunken zeigt, mit dem Gesicht zur Erde, in totaler Demut vor Gott, sich selbst beinahe erniedrigend, niedriger jedenfalls als die anderen Gläubigen, die „nur“ knien, nicht aber vor dem Höchsten ausgestreckt liegen: „Bußtag Ein Bild steigt auf aus meinen Jugendtagen. Im Gotteshause stehen Reih an Reihe Die Männer, Betgewänder umgeschlagen, Sich neigend nach geheimnisvollen Riten; Mein Vater unter ihnen singt mit Weihe Die Bußgebete der Israeliten. Sein Haar ist silbern, und das weiße Leinen Der Priesterkleidung fließt um seine Glieder. Gewaltig drängen zu dem furchtbar Einen, Der Licht und Wolken bläst vom Firmamente, Und bitten und beschwören immer wieder Die klagenden, vertrauenden Akzente. Dann zu noch reuevollerer Kasteiung Sinkt in die Knie die ganze Schar der Beter, Um ihrer Buße willen die Befreiung Aus Sünden und dem Joche der Bedränger Erflehend von dem starken Gott der Väter. Aufrecht steht nur der priesterliche Sänger. Doch nun mit weit ausgreifender Gebärde Beugt er das Knie zum Anruf um Vergebung Und legt sich mit dem Antlitz auf die Erde Und preist den Namen, der von Sünden reinigt, Und aus Gebet und Buße und Erhebung Klingt seine Stimme wie mit Gott vereinigt.“ Armin Strohmeyr 168 Es stellt sich die Frage, ob, in welcher Art und in welchem Ausmaß jüdische Tradition, jüdisches Leben und jüdische Religiosität sich im Werk einer Dichterin niedergeschlagen haben, die aus recht traditionellem jüdischen Hause stammte, das dem Ritus und dem Gottesdienst in der Synagoge verpflichtet war, und ob und in welchem Maße auch das große, lebendige, von Ost- und Westjudentum, von Tradition und Assimilierung gleichermaßen geprägte jüdische Leben Berlins Einfluss auf die Autorin und ihr Werk hatte. Die Gedichte „Abstammung“ und „Bußtag“ zeigen die scheue Reverenz der Dichterin gegenüber ihrem Vater. Er ist nicht nur im Besitz des rechten Glaubens, sondern er verfügt auch über die Macht von Gesang und Dichtung, über den rechten Gebrauch der Psalmodie. Darin gleicht er - wenn man den Vergleich denn wagen will - dem antiken Orpheus. Dichtung und Gesang verfügen über Zaubermacht, mit Gesang wurden seit jeher böse und gute Mächte beschworen, wer den Gesang beherrscht, verfügt über die weiße Magie und kann die schwarze Magie besiegen. Im Glaubensgefüge der Juden hat der Tempelgesang nach wie vor Beschwörungskraft: Die Psalmodie ist die Brücke vom Menschen zu Gott, Gott liebt den frommen Gesang und die Sänger, ebenso die Dichter. Der eigene Vater wird in Hedwig Lachmanns Welt- und Dichtungsverständnis zum Beispiel und Vorbild, auch was die erhoffte Macht des eigenen Gesangs, der eigenen Dichtung darstellt. Dichtung ist eine gute Kraft, die etwas Göttliches in sich birgt. Eine poetische Gabe ist für Hedwig Lachmann eine Aufgabe, um Gottes und der Menschheit willen. Nicht von ungefähr waren ihre letzten Worte auf dem Sterbebett (sie wurden von Gustav Landauer überliefert): „Ich muss doch noch so vieles sagen! “ Wohlgemerkt nicht „Ich will ...“, sondern „Ich muss“! 3. Einflüsse sozialistischer und lebensreformerischer Bewegungen Das Motiv der „Menschheit“ klang an. Hier berührt Hedwig Lachmanns aus dem Judentum herrührendes Verständnis von Dichtung und Gesang die altruistische Haltung aufgeklärter Humanisten und Sozialisten. Die verschiedensten Strömungen und Haltungen eines optimistisch gestimmten ausgehenden 19. Jahrhunderts fließen ein und widersprechen nicht Hedwig Lachmanns jüdischer Prägung, sondern ergänzen und bestätigen sie. Freilich gab es auch in diesem Punkt biographische Einflüsse, nämlich die Ehe Hedwig Lachmanns mit dem Anarchisten Gustav Landauer und die privaten Verbindungen zum Friedrichshagener Kreis und zur „Neuen Gemeinschaft“, die in der brandenburgischen Provinz die Ideale einer anarchischen Gesellschaft - Zusammenleben in kleinen familienähnlichen Verbänden, Tauschhandel statt Geldhandel, gegenseitige Hilfe statt Lohnarbeit, Kollektiv statt Hierarchie - in dorfähnlichen Gemeinschaften vorlebte. Zu diesem Kreis menschenfreundlich-sozialistischer Haltung gehört eine zweite Gruppe von jüdisch motivierten Gedichten im Werk Hedwig Lachmanns: Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns 169 In den Jahren um 1900 galt der russische Graf und Dichter Leo Tolstoi vielen Intellektuellen im Osten und Westen als Idol. Tolstoi, der russische Graf, der den einfachen Bauernkittel anzog und die Verschwendungssucht des russischen Adels anprangerte, zugleich sich selbst als Propheten einer neuen christlichen Wertegemeinschaft sah. Heute wissen wir um die Widersprüche in Tolstois Wesen und Haltung, um den Umstand, dass er sehr wohl auf die äußeren Annehmlichkeiten eines begüterten adligen Hauses nicht verzichten wollte und konnte, um die Tragödie seiner Ehe, um seine geistige und emotionale Abhängigkeit von vermeintlichen Freunden, die sich als falsche Einflüsterer erwiesen. Die damalige Zeit nahm Tolstoi freilich anders wahr. Man sehnte sich nach einem Idol, einem Vorbild, einem Zeugen für eigene Ideale, Wünsche und Projektionen. Davon spricht auch dieses Gedicht Hedwig Lachmanns: „Tolstoi Er trug den Bauernkittel und tat ab Den Reichtum. Keine Rechte Vor dem Bedürftigsten nahm er für sich Und lebte besser nicht als seine Knechte. Wie ein Prophet des alten Bundes, ganz Von Liebe voll in seinem Grimme, Erhob er warnend, wie aus erznem Mund, Und dennoch heilverkündend seine Stimme. Zwei waren in ihm mächtig: Volk und Gott. Und Haus und Hof verließ er, um im Weiten, Dem Menschenschwarm entrückt, an stiller Bucht Ins Meer der Ewigkeit hinauszugleiten.“ Man mag heute über dieses idealistische Pathos etwas schmunzeln, vor allem, wenn man die wahren Hintergründe aus Tolstois Leben kennt. Doch scheint die Einbindung christlich-sozialistischer Ideale in das jüdisch-alttestamentarische „Gewand“ viel interessanter zu sein - und das auch im wortwörtlichen Sinne. Leo Tolstoi wird wegen seiner Aufmachung (im Bauernkittel), aber auch wegen seiner gewaltigen Redegabe mit einem Propheten des Alten Bundes verglichen, der - man muss speziell an Moses denken - die Verbindung zwischen gläubigem Volk und Gott hält, der sich aber auch von den Menschen entfernt und in die Einsamkeit geht - man denke an Moses’ Besteigung des Berges Sinai -, um Gott näher zu sein. Einen Hinweis auf den Propheten Moses gibt es auch in Hedwig Lachmanns Gedicht „Verstreuter Besitz“. Es ist das Porträt des Juden an sich, des jüdischen Volkes in Hedwig Lachmanns Gegenwart, das über die ganze Welt verstreut war, sich zwar überall ansiedelte, selbst in den entlegensten und unwirtlichsten Gegenden, und dennoch nirgends Heimat und Heimatrecht hatte. Die Metaphorik des Gedichts greift auf das jüdische Exil in Ägypten zurück und schlägt einen Bogen in die Jetztzeit. Die Metaphorik will also allgemein und allgemeingültig sein und bleibt Armin Strohmeyr 170 doch seltsam im Ungefähren, im Symbolistischen, im Naturbild, als scheue sich die Dichterin, soziale Not und juristische Nachteile konkret und offen auszusprechen: „Verstreuter Besitz Auf einer fernen Insel, Wo die Schiffe nicht landen, Gehört ihm ein Schloß, Das die Meereswogen umbranden. Und in den sagenhaften Ländern am Südpol Ist er Herr über Völkerschaften Aus sieben getrennten Stämmen. Seine Ahnen begannen Im Pharaonenland, Da die paar Häuflein Auserwählter Der Knechtschaft entrannen. Seine Wiege stand, Immer umbraust Von schwarzen Berglandstannen, In eines Dörfleins Obhut. Dort liegt sein Erbgut. Doch ist er unbehaust, Und irrt von Land zu Land. Und sein schlecht gebettetes Haupt Stößt oft an gekalkte Wand.“ Eine deutlichere, anklagende, sozialkritische Sprache sprechen zwei andere Gedichte, die sich an der jüdischen Frage der Zeit kurz nach 1900 entzünden. Es sind die Gedichte „Ewige Gegenwart“ und „Empörung“. Das Gedicht „Ewige Gegenwart“ erschließt sich im jüdischen Kontext zunächst nur über die Schlüsselworte „Schmach von Urahnen“: „Ewige Gegenwart Um eine tausendjährige Fabel spürt Noch Gram mein Herz und geht hoch Wie Springkraut, das man berührt. Um eine längst verschollene Untat trübt Sich noch mein Sinn und ergrimmt Ob des Frevlers, der sie verübt. Um die verjährte Schmach von Urahnen sprüht Noch Racheglut und glimmt Im alt vererbten Geblüt. Um die Erniedrigung von Geknechteten pocht Mein Pulsschlag ungestüm, Als wäre ich selbst unterjocht.“ Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns 171 Hier ist von Geknechteten und Entrechteten die Rede, und von der Empörung des lyrischen Ichs. Die Schlüsselwörter „Schmach von Urahnen“ verraten den Grund der Empörung: Die Ungerechtigkeit gegenüber dem jüdischen Volk. Zwar ist von der „tausendjährigen Fabel“ die Rede, von der „längst verschollenen Untat“, doch stellt die Überschrift „Ewige Gegenwart“ einen eindeutigen Bezug zum zeitlichen Umfeld Hedwig Lachmanns her. Die Knechtung der jüdischen Urahnen setzt sich bis in die Gegenwart fort. Mitleid, aber mehr noch Empörung, also aktive Benennung der Missstände (in diesem Fall durch das lyrische Ich in einem politisch engagierten Gedicht), sind die Folgerungen aus dieser Erkenntnis. Ein ganz konkretes Vorkommnis war Auslöser für Hedwig Lachmanns Gedicht „Empörung“ - das den Aufruf zur Agitation, zum politischen Engagement bereits im Titel trägt. Es ist ein Protestgedicht Hedwig Lachmanns zum Verfahren gegen den russischen Juden Mendel Beilis in Kiew, der im Jahre 1913 des „Ritualmords“ angeklagt war. Am 20. März 1911 fand man in einer Höhle in der Nähe von Kiew die Leiche des acht Tage zuvor verschwundenen 13-jährigen Knaben Andrej Juschtschinskij. Die Leiche war teilweise entkleidet und hatte rund fünfzig Stichwunden. Bei der Beerdigung wurden Flugblätter verteilt, auf denen die Tat als jüdischer Ritualmord bezeichnet wurde. Mit Deckung aus dem russischen Justizministerium, das unter dem ultrarechten und antisemitischen Minister Ivan Schtscheglovitov stand, konzentrierten sich die „Ermittlungen“ bald auf den Juden Mendel Beilis, der Aufseher einer Ziegelbrennerei war. Obwohl die Indizien dafür sprachen, dass der Mörder im Umkreis der Hausbesitzerin Vera Tscheberjak zu suchen war, die einer kriminellen Bande Unterschlupf gewährte, wurden die polizeilichen Ermittlungen auf Geheiß des Ministeriums eingestellt und der widerspenstige Polizeiinspektor, der weiter den objektiven Spuren und Indizien nachging, entlassen. Der neue Polizeiinspektor, der sich ebenfalls als unbestechlich zeigte, wurde wegen angeblicher Unterschlagung verhaftet. Das Ermittlungsverfahren schleppte sich zwei Jahre hin und wurde über die Presse auch der westlichen Öffentlichkeit bekannt. Es gab im Jahre 1913 noch immer keine hinlänglichen Beweise gegen Beilis. Dennoch wurde 1913 der Prozess eröffnet. Die Zeugenaussagen gegen Beilis konnten jedoch rasch entkräftet werden. Die Anklage brachte daraufhin den katholischen Priester Justinas Pranaitis ein. Pranaitis, der sich als „Talmud-Experte“ bezeichnete, versuchte im Prozess die jüdische Praxis des Ritualmords aus dem Talmud abzuleiten. Doch auch dieses „Zeugnis“ konnte entkräftet werden, als die Verteidigung nachwies, dass Pranaitis kaum Hebräisch konnte, also den Talmud weder zu lesen noch auszulegen verstand. Die Geschworenen sprachen daraufhin Mendel Beilis wegen mangelnder Beweise frei. Doch wurde in einem angehängten Urteil festgestellt, dass es sich um einen Ritualmord von unbekannter jüdischer Hand gehandelt habe. Gegen diese juristische Barbarei im vermeintlich aufgeklärten 20. Jahrhundert wandten sich auch Richard Dehmel und Gustav Landauer in der Zeitschrift „Der Sozialist“ im November 1913. Landauer schrieb: „Diese Dinge sind auch in Deutschland heute noch möglich, weil auch in Deutschland selbst unter den Aller- Armin Strohmeyr 172 besten die Eigenschaft des Jüdischen nicht natürlich erkannt und nicht so natürlich genommen wird, wie jede andere geistig-nationale Differenzierung.“ Auch Hedwig Lachmann protestierte. Sie publizierte ihr Gedicht „Empörung“ in der von ihrem Mann herausgegebenen Zeitschrift „Der Sozialist“ am 5. November 1913 unter dem Pseudonym „Hadassa“. Das ist die jüdische Bezeichnung für Esther, die Frau des persischen Königs Xerxes I. Dass Hedwig Lachmann diesen Namen als Pseudonym wählte, lässt vermuten, dass sie sich in Beziehung zu der als mutig und stolz gezeichneten Königin des Alten Bundes setzte. Das Gedicht lautet: „Empörung Es freuen sich die Schergen und die Schächer, Daß man die Unschuld peinigt und verhöhnt, Gebunden steht das Opfer, dran ein frecher Tyrannendünkel seiner Willkür frönt. So muß zu Fluch und ewigem Verderben Der Schwache dulden die metallne Faust, Die, ihm ihr Schandmal in das Fleisch zu kerben, Auf den gebeugten Nacken niedersaust. Zu seinem mörderischen Handwerk rüstet Sich auf dem Markte der gedungne Knecht, Der Menschenwohnungen zu Staub verwüstet, Vom Boden tilgt ein wehrloses Geschlecht. Wie von bekränzten Stieren, an Altären Dem frommen Opfertod geweiht, raucht warm Das Menschenblut zu einer Gottheit Ehren Und keiner fällt den Henkern in den Arm. Einst tönte eine Botschaft in die Lande, Die in Erbarmen wandelte die Gier Und schlug um alle Menschen Liebesbande: Was ihr den Ärmsten tut, das tut ihr mir! Wo wächst die Kraft, daß sie die Flammen schüre, Den Mordgeist wie ein Spukgebild verscheuch’, Mit Allgewalt an alle Herzen rühre: Was diesen hier geschieht, das tut man euch! Wann schwillt zu solch zerstörerischer Welle Getretner Menschengeist, daß er sich bäumt, Wild überflutet seine eigne Schwelle Und dann gelassen wieder weiterschäumt? “ Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns 173 Nachtrag: 1917, nach der Februarrevolution, wurden mehrere Ermittler der Anklage im Fall Beilis verhaftet. Vera Tscheberjak und ihre Kriminellenbande wurden 1919 verhaftet und in einem Prozess verurteilt. Wenigstens dieses Mal, so lässt sich sagen, sorgte die sozialistische Oktoberrevolution für Gerechtigkeit. Mendel Beilis selbst verließ Russland, er emigrierte zunächst nach Palästina, 1920 in die USA und starb 1934 als freier amerikanischer Bürger und Jude im amerikanischen Saratoga Springs im Staate New York. 4. Die politisierte Pazifistin und der Erste Weltkrieg Hedwig Lachmanns Denken politisierte sich unter dem Einfluss ihres Mannes und unter dem Eindruck der zerstörerischen Kraft des Ersten Weltkriegs. Es gibt von Hedwig Lachmann mehrere engagierte Gedichte, die sie als Pazifistin und Philanthropin zeigen. Bezeichnend ist in diesem Kontext auch eine briefliche Auseinandersetzung Hedwig Lachmanns mit Hedwig Mauthner, der Frau des Philosophen Fritz Mauthner. Hedwig Mauthner schreibt in einem Brief an Hedwig Lachmann, es nütze den Soldaten nichts, wenn man ihnen Klarheit und Nüchternheit vor Augen führe. Hedwig Lachmann kontert: „Nein, die Völker sind sich nicht in Wirklichkeit feind und was jetzt als Haß von Volk zu Volk wütet, das ist gedankenlos ererbter Irrglaube, der nun mit allen Mitteln geschürt und in Brand gehalten wird. Ich bin deutsch und ich fühle deutsch. [...] Aber wenn andere jetzt in ihrer Wesensverwandtschaft und Stammeszugehörigkeit gestärkt sind, so ist es mir, als wäre ich herausgehoben und entwurzelt und angeschlossen an die große heimatlose Familie, die nur von einem Band zusammengehalten wird - der Menschheit! “ Von diesem Glauben an die Kraft des dichterischen Wortes und an die Utopie einer gerechteren und freien menschlichen Gemeinschaft kündet auch Hedwig Lachmanns Gedicht „Botschaft“. Gleichwohl ist hier die sozialistische Utopie einer Weltgemeinschaft zurückgenommen. Unter dem Eindruck der realen Verhältnisse des Kriegs, aber auch der menschlichen Unzulänglichkeiten, vertritt die Dichterin einen kleinsten gemeinsamen Nenner: Eine bessere Gesellschaft ist möglich, muss aber von der Kraft einzelner ausgehen und kann nur immer kleine Gruppen aussöhnen. Die Hoffnung auf ein großes Ganzes ist gleichwohl nicht aufgegeben. Letztlich offenbart sich hier auch Gedankengut der anarchistischen „Neuen Gemeinschaft“, die ebenfalls in kleinen Verbänden ihre Ideen vorleben wollten und die Hoffnung hatten, diese kleinen Gesellschaften würden irgendwann in fernerer Zukunft sich zu einer großen welt- und menschheitsumfassenden Gesellschaft zusammenfinden: „Botschaft Du kannst das Heil nicht allen Menschen bringen; Doch werden Hunderte sich um dich scharen, Die willig sind zu dienen und willfahren Und stark in ihrem Glauben ans Gelingen. Armin Strohmeyr 174 Nur um die wenigen gilt es zu ringen, Daß diese ihren Brüdern offenbaren, Was ihnen selbst im Innern widerfahren, Mit Gläubigkeit einander zu durchdringen. Millionen sind es, die vor Gott sich beugen, Doch nur ein Häuflein kündet den Gesandten, Der in ihr Reich zurückführt die Verbannten. So sollst auch du ins Volk die Botschaft tragen Von der Erneuerung in unsern Tagen - Und da und dort wird einer für dich zeugen.“ Interessant ist hier das Schlüsselwort „Brüder“: Es wird im Kontext des Gedichts zunächst im Sinne „Glaubensbrüder“ gebraucht, ist doch auch von „Gläubigkeit“ die Rede, und davon, sich vor „Gott zu beugen“. Es handelt sich also um eine kleine Schar Auserwählter. Doch was zunächst an das „auserwählte Volk“ Israel denken lässt, entpuppt sich im Kontext als die auserwählte Schar derer, die an die „Erneuerung in unsern Tagen“ glauben, die - wie Hedwig Lachmann in den schweren Jahren des Ersten Weltkriegs - nicht den Glauben an das Gute im Menschen verlieren und diesen Glauben als Fackel weitertragen wollen. So transferiert Hedwig Lachmann Bilder und Vorstellungen der jüdischen Mythologie und Geschichte ins allgemein Menschliche, in ihre Utopie von der Möglichkeit und der Pflicht, dem Menschen ein Mensch zu sein, kein Wolf. 5. Facetten des Assimilierungsgedankens in Hedwig Lachmanns Werk Von der Erneuerung des Menschen ist die Rede, und sie vollzieht sich in Hedwig Lachmanns Denken niemals allein aus menschlicher Kraft heraus. Das hebt sie ab von den sozialistischen Tendenzen ihrer Zeit, die, um mit Lenin zu sprechen, in der Religion nur Opium fürs Volk sahen. Hedwig Lachmann bekannte sich zeitlebens zu ihrem Judentum - in einer Mischung aus Stolz (geprägt auch durch die herausragende und achtungsgebietende Stellung ihres Vaters) und schmerzlichem Verständnis um die Andersartigkeit, das Ausgeschlossensein, die Diskriminierung - selbst im vergleichsweise toleranten wilhelminischen Preußen. Dabei verstand sich Hedwig Lachmann sehr wohl als assimilierte Jüdin, als Bildungsjüdin, im Gegensatz zu den in Berlin (etwa im Scheunenviertel) vielfach aus dem polnischen Schtetl zugezogenen Ostjuden, von denen man sich schon aus bürgerlichem Selbstverständnis heraus abgrenzen wollte. Assimilierung war der Versuch der jüdischen Mittel- und Oberschicht, weniger die jüdische Identität als solche abzustreifen, als vielmehr ein bürgerliches Niveau zu festigen, ein Niveau, das man ökonomisch erreicht hatte, das aber sozial und juristisch erst noch gefestigt sein wollte. So ist es nicht verwunderlich, dass auch aus jüdischer Mittel- und Oberschicht jener Zeit vielfach abwertende Urteile über das sozial depravierte Ostjudentum verbürgt sind. Aus Hedwig Lach- Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns 175 manns Umkreis ist dies ebenso überliefert, von ihr selbst jedoch sind keine abwertenden Urteile über das Ostjudentum bekannt. Auch hier mag der Einfluss ihres Ehemannes Gustav Landauer prägend gewesen sein. Landauer schreibt 1916 in der Zeitschrift „Der Jude“ einen Aufsatz mit dem Titel „Ostjuden und Deutsches Reich“, worin er gegen die Arroganz des jüdischen Geldestablishments zu Felde zieht: „Der Jude, der im Ghetto einen kleinen und schmierigen Handel treibt, ist genau derselbe Typus wie der, der auf breiterer Stufe und mit dem erforderlichen Bildungsstoff versorgt von nichts anderem als dem Händlergeist besessen ist.“ Und weiter: „Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass Ausgesetzte und Flüchtlinge zu Pionieren, dass Davonläufer zu Vorläufern geworden sind.“ Assimilation bedeutete also für das Ehepaar Lachmann-Landauer einen eher bildungsbürgerlichen Prozess, keinen besitzbürgerlichen. Assimilation ging für beide zudem nicht einher mit der Leugnung des eigenen Judentums, der jüdischen Wurzeln, es war nicht wie das Ablegen alter, getragener Kleider. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich im Privatleben Hedwig Lachmanns, aber auch in ihrem lyrischen Werk eine Art der Assimilierung zeigt, die von Unvoreingenommenheit gegenüber dem Christentum und christlichen Ritualen zeugt, ohne dass das eigene Jüdischsein dadurch infrage gestellt oder aufgegeben worden wäre. Es ist verbürgt, dass die Familie Lachmann-Landauer - wohl auch wegen der eigenen Kinder - alljährlich das christliche Weihnachtsfest feierte, wobei das Schenken und Beschenktwerden im Mittelpunkt stand. Aus Hedwig Lachmanns Werk sind zwei Gedichte bekannt, die sich unvoreingenommen mit christlicher Symbolik und Glaubensinhalten befassen. Zum einen das Gedicht: „Christnacht Es steht ein Stern verloren Hoch über einem Haus; Drin ist ein Kind geboren: Ein Licht geht von ihm aus. Von wenigen vernommen Tönt eine Botschaft fern: Die Weisen und die Frommen Verkünden jenen Stern. Da lauschen alle Ohren, Zu denen Kunde dringt: Wo ist der Mensch geboren, Der mir Erlösung bringt? Die Stätte zu betreten, Welch Weges muß ich ziehn? Das Wunder anzubeten, Wo gläubig niederknien? “ Armin Strohmeyr 176 Interessant ist, dass die Dichterin die Geburt des Menschensohnes nicht auf den im Stall von Bethlehem geborenen Jesus verengt, sondern dass die Frage „Wo ist der Mensch geboren, der mir Erlösung bringt? “ ins Allgemeingültige, ins Menschlich- Existenzielle gehoben wird. Auch hier verknüpft die Dichterin also religiöse, christlich-jüdische Symbolik mit den uralten Fragen nach der Conditio humana, mit einem humanistisch-aufgeklärten und sozial engagierten Menschenbild. Ähnlich auch in Hedwig Lachmanns Gedicht „Abendmahl“. Hier werden die Kommunion der christlichen Kirchen - das rituelle Opfer - und der Opfertod Jesu Christi nicht per se angezweifelt. Kritisch hinterfragt wird vielmehr die Gleichgültigkeit vieler sogenannter Gläubiger gegenüber dem Ritus, die abgestumpfte, gewohnheitsmäßige Haltung. Dem stellt die Dichterin den „glaubenlosen Träumer“ entgegen, der zwar nicht nominell einer Konfession, einer Glaubenslehre, angehört, der aber als Mensch dennoch die Fragen nach Mensch, Gott und Welt verfolgt. Der vermeintlich Glaubenslose, so die Botschaft der Dichterin, erweist sich als der tiefer Gläubige, der Konfessionslose als der eigentliche Bekenner, der letztlich die Gnade Gottes erhält. Ob dieser Gott jüdisch oder christlich ist - das impliziert das Resümee des Gedichts -, ist letztlich belanglos. Gott interessiert sich nicht für menschliche Definitionen und religiöse Ausgrenzungen, ihn interessiert nur die Lauterkeit der ehrlichen Sinnsuche: „Abendmahl Es drängt die gläubig fromme Beterschar Sich in die weit geöffneten Portale, Auf Knien zu empfangen am Altar Aus Priesterhänden die geweihte Schale. Am Kruzifix die leidende Gestalt Schwebt milde über ihren Büßermienen: Doch Leib und Blut, die mystische Gewalt Von Brot und Wein, ist ohne Macht an ihnen. Ein glaubenloser Träumer sitzt beim Schein Der Lampe, sinnend über jener Lehre Von dem geheimnisvollen Brot und Wein, Mit dem man Leib und Blut des Herrn verzehre. Aus aller Inbrunst dunkelster Magie Taucht sie empor wie eine Zauberweise: Er hält den Kelch, er bricht das Brot, und sieh: In seiner Seele göttlich wird die Speise.“ Die Sozialethik von Altem und Neuem Bund im Werk Hedwig Lachmanns 177 6. Die Utopie von Aussöhnung und Gerechtigkeit als Aufgabe der Dichtung Zusammenfassend kann gesagt werden: Das Thema „Judentum und Christentum“, „Alter und Neuer Bund“, nimmt im schmalen Werk Hedwig Lachmanns einen nicht zu übersehenden Raum ein. Biographisch ist die Auseinandersetzung der Dichterin mit dem Jüdischsein einerseits aus der Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater Isaak Lachmann zu erklären, eine Beziehung, die vonseiten der Dichterin von großem Respekt und auch von Scheu geprägt war. Dabei wird der eigene Vater sogar mit dem alttestamentarischen Propheten Moses verglichen. Zudem knüpft sich an das Lob von Gesang und Gebet, wie sie der Hürbener Kantor vorlebte, auch die poetologische Vorstellung Hedwig Lachmanns von der Macht des dichterischen Worts: beschwörende Kraft zu haben, das Böse zu bannen, Brücke zu sein zwischen Mensch und Gott. Wenngleich die eigene Lebensweise Hedwig Lachmanns in aufgeklärten und sozialistischen und anarchistischen Kreisen in der Großstadt Berlin vom Wunsch nach bildungsbürgerlicher Assimilierung geprägt war, verleugnete sie doch nie ihre jüdischen Wurzeln und ihren jüdischen Glauben - auch wenn sie ihn nicht mehr so traditionell und streng lebte wie der Vater. Eine Moses gleichende Vaterfigur wird auch in dem russischen Dichter Leo Tolstoi angerufen. Auch hier verbindet Hedwig Lachmann idealisierende Vorstellungen von einer gerechten und gottesfürchtigen Menschheit mit dem Wunsch nach einer Aussöhnung von Mensch und Gott in der eigenen Gegenwart. Das Wissen um Antisemitismus, um die geistige und materielle Not der Juden in Geschichte und Gegenwart, veranlasste Hedwig Lachmann auch zur Niederschrift einiger anklagender, sozial engagierter Gedichte, wohl auch unter dem Einfluss des politischen Denkens ihres Mannes Gustav Landauer. Der Dichter, so Hedwig Lachmann, ist zu diesem Protest moralisch verpflichtet. Auch hier spielt die poetologische Vorstellung von der Beschwörungskraft der Dichtkunst hinein. Ganz konkret wird dieser dichterische Protest in dem Gedicht „Empörung“, das die Ereignisse um den Prozess des wegen eines angeblichen Ritualmords angeklagten ukrainischen Juden Mendel Beilis aufgreift und anprangert. Hedwig Lachmann wählte für dieses Gedicht ein Pseudonym, das der jüdischen Königin Hadassa alias Esther. Auch das verrät etwas von ihrem „hohen“ Selbstverständnis als Dichterin. Die Kontakte zu sozialistischen und anarchistischen Kreisen und Gemeinschaften in der Großstadt Berlin beeinflussten Hedwig Lachmanns Denken und ihr dichterisches Werk. Obgleich sie selbst eher romantisch-utopische Vorstellungen von Sozialismus hatte (wie auch ihr Mann Gustav Landauer), hat sie doch - anders als die meisten Sozialisten - grundsätzlich an der Existenz eines gerechten Gottes festgehalten, dies jedoch überkonfessionell gesehen. So befasst sie sich in mehreren Gedichten nicht nur mit dem Gott des Alten Bundes, sondern auch mit dem Menschen- und Gottessohn Jesus aus dem Neuen Armin Strohmeyr 178 Bund, und erkennt ihn metaphorisch als den an, dem die ureigene Sehnsucht des Menschen gilt: Gerechtigkeit und Erlösung zu erlangen. Kritisch befasst sie sich hingegen mit den Menschen, die im oberflächlichen Ritus, im sprichwörtlichen Lippenbekenntnis ihr Heil suchen. Nicht sie - so das Resümee aus dem Gedicht „Abendmahl“ - werden das Heil erlangen, sondern die vermeintlich „Glaubenslosen“, die mit Ernst und Ehrlichkeit Gott suchen und seine Hilfe erbitten. Diesen „glaubenslosen Träumern“ wird Gott seine Gnade schenken. Es ist die Utopie einer jüdischen Dichterin, die - ähnlich wie Lessing in seiner „Ringparabel“ - die Gleichheit der Konfessionen und die Gleichheit der Menschen betont, solange sie, die Menschen, nur ehrlichen und guten Willens sind. Gerechtigkeit aber, so Hedwig Lachmann, muss bereits für das Diesseits erstrebt werden, nicht erst für das Jenseits. Dafür sensibel zu machen, ist Aufgabe der Dichtung. Jenseits aller Konfessionen - religiöser wie sozialutopischer Art - ist in der Dichtung und im Gebet die Sehnsucht aller Menschen aufgehoben. 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Mauthner bezeichnet das Werk in dem Theodor Mommsen gewidmeten Vorwort als geschichtlichen „Tendenz-Roman“. 2 Das Diktum erweist sich als geradezu visionär, hat aber auch zur Folge, dass sich die Forschung vor allem mit Analysen zur Darstellung des Antisemitismus im Roman befasst, meist jedoch rein phänomenologisch, ohne Mauthners Argumentationsstruktur mit einzubeziehen. 3 Der Text sollte nicht auf die für eine Interpretation zweifellos dankbare Selbstzuschreibung reduziert werden. Abseits der überspannenden Handlung trägt der Roman tiefe Spuren von Mauthners frühen sprachskeptischen Überlegungen und kann so als literarisch lesbar gemachte Latenzphase der späteren „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ gesehen werden. Ferner nutzt Mauthner den Roman als Projektionsfläche für seine Kritik am Theismus, der sich in Traditionalismen äußert, welche aus seiner Sicht längst jedweder Bedeutung entleert sind. Damit nimmt „Der neue Ahasver“ in metaphorisch-literarischer Form das kulturkritische Spätwerk vorweg, welches Mauthner kurz vor seinem Tod in Meersburg am Bodensee verfasst: „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande“. Insofern Mauthner betont, „daß die Sprache ein untaugliches Werkzeug der Erkenntnis sei, jedoch ein gutes, ja das allerbeste Werkzeug der Kunst“, 4 lässt sich auf den Stellenwert schließen, den der Autor gerade seinem literarischen Œuvre zuschreibt. Ich wage hier also den Versuch, den Roman als Petrischale der sprachskeptisch begründeten Theismuskritik Mauthners zu lesen. Davon ausgehend biete ich einen kurzen Exkurs dazu, wie sich aus dieser Deutung der geradezu prophetische Blick auf den keimenden Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts erklären lässt. Die Basis dieser Überlegungen bildet eine Gegenüberstellung von Autor- und Protagonistenbiographie: 1 W ITTGENSTEIN , Bemerkungen, 53. 2 M AUTHNER , Ahasver, 8. 3 Vgl. V IERHUFE , Satire, 145-161; Thunecke, Assimilation, 139-149; Klaue, Fremdworte, 85-110. 4 M AUTHNER , Beiträge, Bd. 1, 136. Tobias Krüger 182 1. „Ohne Sprache und ohne Religion“ 5 - Biographische Varianten Bei allem Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Trennung von Autor und Figur kann man sich nicht der stellenweise bis ins Detail reichenden Ähnlichkeiten zwischen der Lebensgeschichte des Protagonisten und der seines Schöpfers erwehren. So schreibt der Autor Heinrich Wolff eine Kindheit in Prag zu und macht ihn zum Sohn einer Familie, die zuhause weder Tschechisch noch Hebräisch oder Jiddisch duldet, sondern ein übertrieben korrektes Hochdeutsch pflegt. Dementsprechend schlägt der Hauptfigur eine wirre Sprachvielfalt entgegen, als sie nach dem Studium in Deutschland nach Prag zurückkehrt: „Trotzdem nur zwei Regimenter vertreten waren, hörte man doch fast alle Sprachen der Monarchie durcheinander tönen. […] aus dem einen Wagen erklang ein recht wehmütiges slowakisches Volkslied, aus dem anderen surrte und knatterte, von hübschen Stimmen vorgetragen, ein italienischer Gassenhauer, dazwischen wetterten polnische und ungarische Flüche, und aus einem überfüllten Coupé dritter Klasse erklang gar zu den Tönen einer böhmischen Ziehharmonika die Weise ‚Es ist bestimmt in Gottes Rat‘.“ 6 Analog dazu beschreibt Mauthner das sprachliche Umfeld seiner Kindheit mit folgenden Worten: „Tschechisch verstanden sie alle, darin hätten wir vielleicht Fortschritte machen können. Darüber hinaus wurde uns nichts geboten. […] meine Sprachkritik wurde geschärft dadurch, daß ich nicht nur Deutsch, sondern auch Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen meiner ‚Vorfahren‘ zu betrachten, daß ich also die Leichen dreier Sprachen in meinen eigenen Worten mit mir herumzutragen hatte.“ 7 Angesichts dieser Wortleichen mag es auch nicht verwundern, dass Mauthners erster schriftstellerischer Erfolg 1878 eine Sammlung von Stilparodien war: „Nach berühmten Mustern“. Durchaus vergleichbar in Roman und Autobiographie ist auch der Hintergrund a-religiöser Erziehung trotz jüdischer Wurzeln. Mauthner selbst bekennt sich offen zu dieser Ähnlichkeit, wenn er bemerkt: „Ich habe diese kindischen Kämpfe [bezüglich des Wissens um das eigene Judentum] einmal darzustellen gesucht, in dem Tagebuche des Helden, das man in meinem Romane ‚Der neue Ahasver‘ nachlesen kann, wenn man mag. Das Tagebuch habe ich erst für diesen Roman niedergeschrieben, und so ist es, wenn man will, erfunden; aber meine religiösen Kämpfe sind darin […] eigentlich ganz getreu und realistisch erzählt.“ 8 So ließe sich die 1918 erscheinende Autobiographie Mauthners nahezu widerspruchsfrei als Vorgeschichte des Romans von 1882 lesen. Neben dieser biographischen Einheit betont Mauthner auch die Interferenz seiner philosophischen Arbeit 5 M AUTHNER , Erinnerungen, 49. 6 M AUTHNER , Ahasver, 12. 7 M AUTHNER , Erinnerungen, 49, 51. 8 M AUTHNER , Erinnerungen, 114f. Ansichten vom Turmbau zu Babel 183 mit dem dichterischen Werk, wenn er erkennt, „daß ich mir da zugleich dichterische, geschichtliche und erkenntniskritische Aufgaben gestellt hatte; und ich kann auch heute noch nicht einsehen, daß ein Schriftsteller, wenn er überhaupt etwas zu sagen hat, sich verpflichten müsse, sein Eigenes immer in einerlei Weise zu sagen.“ 9 Insofern liegt es nahe, zu analysieren, ob einige belletristische Arbeiten Mauthners als durch Dichtung einendes Medium von Biographie, Sprachskepsis und Theismuskritik gelesen werden können. Die oben genannten biographischen Bezüge prädestinieren den Roman „Der neue Ahasver“ für eine derartige Untersuchung, da sie möglicherweise die Quelle der skeptizistischen Denkweise Mauthners hegen. In seiner Schrift „Skeptizismus und Judentum“ erwägt der Autor, inwiefern eine Quelle seines kritischen systemfeindlichen Denkens in seinen jüdischen Wurzeln zu lokalisieren ist: Er attestiert dem Judentum „eine gewisse Scheu vor dem System“. 10 Zumindest seine eigene Scheu vor dem System geht soweit, dass er sogar diese Verallgemeinerung in Frage stellt, indem er seinen Aufsatz mit einem Verweis auf Nietzsche beschließt, welcher „schärfer als je ein jüdischer Skeptiker vor dem Systemmachen gewarnt hat“. 11 Dies hat Goldwasser zu der schlüssigen These geführt, dass die Tendenz zur Skepsis bei Mauthner und Nietzsche ähnlichen Ursprungs ist, dass sie in der biographisch bedingten kritischen Distanz zu den jeweiligen kulturellen Wurzeln gründet. 12 So führt auch die Suche nach den systemfeindlichen Denkmustern auf Parallelen zwischen Autobiographie und Roman zurück: Das Erwachen der Skepsis thematisiert Mauthner in der Darstellung seiner Prager Jugendjahre. Ihn überkommt ein „Sprachschreck“ 13 bei der Feststellung, dass Sprache als Erkenntniswerkzeug völlig untauglich ist. 14 Dieser Aspekt scheint, oberflächlich betrachtet, im Roman zu fehlen. Richtet man jedoch sein Augenmerk auf die strukturale und inhaltliche Engführung von Sprachphilosophie und Theismuskritik in den „Beiträgen zu einer Kritik der Sprache“, so wird „Der neue Ahasver“ zu einem wesentlichen Puzzlestein für das Verständnis der kulturgeschichtlichen Argumentation Mauthners. Einend wirkt eine metaphorische Verklammerung, die sich als Charakteristikum der Gedankenführung des Autors erweist. Diesen Zusammenhang verdeutlicht ein Zitat aus dem Kapitel „Ohne Sprache und ohne Religion“ aus den „Erinnerungen“: „Wie ich keine rechte Muttersprache besaß als Jude in einem zweisprachigen Lande, so hatte ich auch keine Mutterreligion, als Sohn einer völlig konfessionslosen Judenfamilie. Wie mir mit meinem Volke, dem deutschen, nicht die Werksteine ganz gemeinsam waren, die Worte, so war mir und ihm auch das Haus nicht gemeinsam, die Kirche.“ 15 9 M AUTHNER , Mauthner, 127. 10 M AUTHNER , Skeptizismus, 305. 11 Ebd. 12 G OLDWASSER , Jew, 61. 13 M AUTHNER , Mauthner, 131. 14 M AUTHNER , Erinnerungen, 216. 15 M AUTHNER , Erinnerungen, 52f. Tobias Krüger 184 Die Worte der Sprache werden mit „Werksteinen“ verglichen, die Religion erscheint als „Haus“. Indem er beide Bereiche Bildern der Architektur einschreibt, stilisiert Mauthner religiöse und sprachliche Weltdeutungsmodelle zu einer Einheit. Architektonische Figurationen kehren im Werk des Autors in vielfältiger Weise - als Topos wie auch als Trope - wieder. Auf „Fritz Mauthners metaphorisches Sprechen im Zeichen der Großstadt“ 16 hat bereits Kaiser hingewiesen, jedoch die Bedeutung ihrer Feststellung weder innerhalb Mauthners Argumentationsstruktur noch innerhalb seiner Dichtung lokalisiert. Welcher Nexus verbirgt sich hinter der metaphorischen Verklammerung von Architektur und Sprache? 2. Die architektonische Sprache der „Judenstadt“ Wie bereits erwähnt, kehrt Heinrich Wolff nach seinem Studium in Deutschland nach Prag zurück und zeigt sich entsetzt, sein ehemaliges Wohnviertel, die „Judenstadt“, unverändert vorzufinden, resistent gegen andernorts wirkenden Fortschritt und obendrein entzaubert durch den Verlust der ehemals kindlichen Wahrnehmung: „Sichtbarlich war hier freilich das Proletariat der ganzen Stadt angesammelt. Schon übertraf sogar der tschechische Pöbel den jüdischen an Zahl; solange aber noch ein Stein dieser Häuser auf dem andern stand - solange die Gewohnheiten dieser Winkelgassen sich erhielten - solange hieß es mit Recht die Judenstadt, und wenn auch kein einziger Jude mehr in diesem Bezirk sich aufhielt.“ 17 Schon im letzten Satz findet sich ein Hinweis auf die Trennung des „Jüdischen“ in Phänomen und Essenz. 18 Die Bezeichnung „Judenstadt“ ist jenen Anzeichen geschuldet, welche eine Christianisierung bzw. Säkularisierung überdauert haben, jedoch - anstatt gepflegt zu werden - langsam verfallen: „Aus welchen Jahrhunderten stammten diese schmalbrüstigen, krummlinigen, triefäugigen Häuser und Häuschen, deren Dächer sich wie die Köpfe einer verschüchterten Schafherde übereinanderschoben, deren mißfarbene rissige Mauern allen Gesetzen der Baukunst zum Hohne noch aufrecht standen, deren winzige Fenster eher von feindlichen Kanonen hineingeschossen, als von einem vernünftigen Maurermeister vorbedacht erschienen? Aus welchen Jahrhunderten stammte das Holz der Haustüren und der Fenster, das keinen Nagel mehr in seinen morschen Fasern duldete? Aus welchen Ländern, aus welchen Zonen kamen die Formen und die Farben der unzähligen Lappen und Fetzen - man sah nicht, ob vor oder nach 16 K AISER , Mauthners metaphorisches Sprechen, 133-144. 17 M AUTHNER , Ahasver, 17f. 18 Vierhufe spricht diesbezüglich von einer Trennung in „Judentum“ und „Judesein“, wohl in einer nicht unproblematischen Übertragung jener Differenzierung zwischen „Christentum“ und „Christenheit“, welche Mauthner seinem Protagonisten in den Mund legt. V IERHUFE , Satire, 158; M AUTHNER , Ahasver, 187. Ansichten vom Turmbau zu Babel 185 der Wäsche -, die auf unsäglich schmutzigen Stricken sich kreuz und quer von Winkel zu Winkel zogen? “ 19 Der pejorative Ton richtet sich weder gegen die Pflege lebendiger jüdischer Kultur noch gegen die Wandlung religiöser Strukturen, sondern inkriminiert ein Missverhältnis von Phänomen und Essenz: Die Veränderung der inneren Strukturen muss eine äußerliche Wirkung zeigen, muss sich - bildlich wie wörtlich - in der „Fassade“ niederschlagen, sonst ist sie nichtig. Phänomen und Essenz werden durch die Konnotation mit Außenfläche und Innenraum als Gegensatzpaare architektonischer Gebilde voneinander geschieden. Demzufolge bezeichnet Mauthner mit „Jüdisch“ weder eine genetische Abkunft noch eine Glaubenszugehörigkeit, sondern die Spuren einer Kultur. Hier offenbart sich Mauthners „Ineinssetzung“ 20 von Denken, Sprechen und Handeln. Der Anschluss an die moderne abendländische Lebensweise wird nur vollzogen, wenn der geistige Wandel Spuren hinterlässt. Das macht Mauthner deutlich in der Wendung „solange noch ein Stein dieser Häuser auf dem anderen stand […] hieß es mit Recht die Judenstadt“. Diese Sichtweise könnte leicht den Anschein einer traditionsfeindlichen Gesinnung erwecken: Beim Leser evoziert die Schilderung den Eindruck einer „Unveränderbarkeit des Ortes, denn im Bild der ‚Judengasse‘ ist jede räumliche und zeitliche Dynamik zur Gänze aufgehoben“. 21 Dem ist jedoch hinzuzufügen, dass die Judenstadt in Mauthners Schilderung auch von einem konservativen Standpunkt aus keinen Wert besitzt. Sie ist kein Reservat, keine letzte Bastion einer verdrängten Kultur. Sie ist nicht Ausdruck des Versuchs, zu bewahren, sondern Zeichen des Unwillens oder Unvermögens, sich von Strukturen zu trennen, die ihrer Zweckmäßigkeit längst verlustig gegangen sind. Hier spiegelt sich Mauthners Argumentation aus dem Vorwort, die Entwicklung des Antisemitismus betreffend, wider: Die als jüdisch angesehene Bevölkerung ist eigentlich sehr heterogen, bietet aber durch das gemeinsame Verharren in rein äußerlichen Riten unnötigerweise eine Zielscheibe, indem eine große Gegenkultur suggeriert wird, wo sich allenfalls viele kleine finden. Diese Ansicht wird bestärkt, bedenkt man, dass „Im Unterschied zu früheren Ausprägungen der Judenfeindlichkeit, die sich zumeist gegen einzelne Personen richtete, […] der großstädtisch geprägte Antisemitismus der Moderne ‚von einer Gleichgültigkeit gegenüber dem einzelnen Schicksal getragen‘ [war]. Die christliche Aggression begann, sich gegen die Judenheit in ihrer Gesamtheit zu richten.“ 22 Mauthner untermauert daher keineswegs antisemitische Interessen, versucht aber klarzustellen, dass eben jene „Judenheit in ihrer Gesamtheit“ nicht existiert. Gleich einem Familiennamen, der nicht mehr auf einen tatsächlich ausgeübten Beruf verweist und Familien willkürlich miteinander assoziiert, so ist für Mauthner die Gesamtheit der als „Juden“ Bezeichneten nur noch zirkulär über diese Bezeich- 19 M AUTHNER , Ahasver, 18. 20 B URGER , Ohne, 203. 21 K ERNMAYER / H ÖDL / E RNST , Transkulturation, 305. 22 Ebd., 304. Tobias Krüger 186 nung geeint. Dies führt laut Horch auch dazu, „daß der assimilationswillige, aufgeklärt-säkularisierte Jude im Zeitalter des Antisemitismus weder echter Jude bleiben kann noch echter Deutscher werden darf“. 23 Oder mit den Worten einer Figur aus „Der neue Ahasver“: „Wenn man den Juden nicht zu einem Amte zuläßt, so läßt er sich taufen, deshalb bleibt er doch ein Jude. Drum bleib‘ ich dabei: Raus! “. 24 So warnt Mauthner vor den Folgen des falschen Anscheins einer kulturellen Enklave. Aus dieser Perspektive besehen kommt der Zustand der Stadt im Roman einem Sprech-, oder spezifischer, einem Bekenntnisakt gleich. Wenn Mauthner 1901 in seinen „Beiträgen“ Sprache mit den Strukturen einer Stadt vergleicht, vertauscht er gegenüber dem Roman eigentliche und uneigentliche Bedeutung des Bildes der Stadt, wendet die Metapher gleichsam um ihr tertium comparationis: „Die Sprache ist geworden wie eine große Stadt. Kammer an Kammer, Fenster an Fenster, Wohnung an Wohnung, Haus an Haus, Straße an Straße, Viertel an Viertel, und das alles ist ineinander geschachtelt, miteinander verbunden, durcheinander geschmiert, durch Röhren und Gräben“. 25 Das Bild ist das gleiche und auch die pejorative Färbung kehrt wieder. 26 Schon der erste Satz ist doppeldeutig, in der Ambivalenz jedoch nicht widersprüchlich. Folgende Lesarten sind möglich: 1. Der Entwicklungsprozess (das „Werden“) der Sprache ist wie bei einer Großstadt verlaufen. 2. Der gegenwärtige Zustand unserer Sprache (das „Gewordene“) befindet sich gegenüber früheren Zuständen im Stadium einer Großstadt. Einmal liegt der Fokus eher auf der Genese, einmal mehr auf dem Zustand. Die Attribuierung bleibt jedoch gleich. Sprache und Stadt sind nicht Ergebnis finaler Vorausplanung, sondern eines dynamischen Nebeneinanders von Neubau, Verfall und Renovierung, nicht zentral organisiert aus einer Hand, sondern das Konglomerat vieler Baumeister und insbesondere Bau-Laien. Die nahezu plagiatorische, aber dafür vom Widerwillen geläuterte, prominente Wiederaufnahme dieser Metapher lautet folgendermaßen: „Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“ 27 Aus diesem Zitat, entnommen dem Spätwerk Wittgensteins, erhellt die Tendenz der Sprache zum Versteinern. Mauthners „große“ Stadt erscheint als „alte“ Stadt, die ihre geschichtliche Genese widerspiegelt, womit Wittgenstein den Fokus auf die erste Lesart richtet. Trotz aller Bemühung um Neuorganisation, Sanierung und Renovierung behält sie stets einen anachronistischen Zug. Mauthner selbst bezeichnet die Sprache daher als einen „babylonische[n] Turm von Abfallstoffen“. 28 23 H ORCH , Erzählliteratur, 209. 24 M AUTHNER , Ahasver, 248. 25 M AUTHNER , Beiträge, Bd. 1, 27. 26 Auf die Ähnlichkeit der Textpassagen hat bereits Klaue hingewiesen, die metaphorische Verklammerung jedoch nicht weiter analysiert. K LAUE , Fremdworte, 92. 27 W ITTGENSTEIN , Untersuchungen, 245. 28 M AUTHNER , Beiträge, Bd. 1, 671. Ansichten vom Turmbau zu Babel 187 Woher rührt die Neigung in der Sprache zur Bewahrung überkommener Strukturen? 3. Und das Wort war ein Gott Mauthner unterstellt einem bestimmten Gebrauch der Sprache religiöse Wesenszüge: Das Wort scheint jene Referenz, die es im Dialog - ihrem zweckmäßigen Gebrauch - kurzfristig herstellt, zu überdauern, so dass der Glaube entsteht, „weil ein Wort da sei, müsse dem Worte etwas Wirkliches entsprechen. Wie wenn jede Verwitterung in einem Steine der Abdruck einer Pflanze sein müßte“. 29 Würde die Struktur der Sprache die Struktur der Wirklichkeit widerspiegeln, eignete sie sich als mystisches Erkenntniswerkzeug. Gegen diesen Irrtum, der Sprache mit göttlichen Attributen versieht, wendet sich Mauthner. Er pointiert seine Koppelung von sprachkritischem Atheismus und atheistischer Sprachauffassung, indem er sie in einen bedeutungsentleerenden Zirkelschluss stellt: „Worte sind Götter; denn Götter sind nur Worte“. 30 Dies erweckt den Eindruck von epistemologischer Resignation und Antireligiösität. Ersteres mag auf Mauthner zutreffen, wird jedoch im Folgenden noch differenzierter betrachtet. Letzteres weist der Autor selbst von sich: „Wie man sieht, will ich damit nichts gegen die Religion sagen“, 31 vielmehr will er eine „gottlose Mystik“ 32 propagieren. Und „gottlos“ heißt im Sinne Mauthners natürlich „wortlos“. Anders gewendet: Bereits die Rede von Gott ist stets Götzendienst, ist Aberglaube. Was aber verbindet den sprachkritisch begründeten, epistemologischen Nihilismus Mauthners gerade mit dem Judentum? Es ist ebenso wenig Zufall, dass Mauthner seinen Sprache-Architektur-Vergleich auf die Prager Josefstadt projiziert, wie sich in den „Beiträgen“ im Abschnitt „Wortglaube“ ein gesondertes Kapitel zum „Judentum“ findet. Darin heißt es: „Gerade beim Juden aber hat sich der Wortfetischismus in einer Richtung entwickelt, die für unsere Anschauungsweise sehr lehrreich ist. […] Da nun mit der Vernichtung des jüdischen Staates der alte Kultus mit seinen Opfern u.s.w. aufhörte, so wurde das Judentum schließlich zu einer Wortreligion, zu einer Beschäftigung mit dem Worte Gottes. […] Man bringt […] keine materiellen Opfer mehr dar. Die ‚richtigen‘ Worte der Bibel sind an die Stelle getreten.“ 33 Mauthner spielt hier auf die - in einigen Strömungen des Judentums vorhandene - Substitution des zerstörten Tempels durch die Tora an und stellt seine Metaphorik von Sprache und Architektur in den Kontext jüdischer Kulturgeschichte. An die Stelle der Opferhandlung im Tempel ist das Studium der Tora getreten, an 29 Ebd., 159. 30 Ebd., 167. 31 Ebd., 164. 32 M AUTHNER , Atheismus, 425-434. 33 M AUTHNER , Beiträge, Bd. 1, 169f. Tobias Krüger 188 die Stelle des Versammlungsortes die Schrift. 34 Anhand der Kulturgeschichte des Judentums und seiner Entwicklung gemäß dem Talmud glaubt Mauthner besonders eindrucksvoll einen Paradigmenwechsel vom äußerlichen Ritual hin zu einem Wortfetischismus nachzeichnen zu können. 35 Diese Überlegung lässt sich abermals an einer Parallele zwischen Autobiographie und Roman aufzeigen; namentlich an dem erwähnten Jugend-Tagebuch des Heinrich Wolff, mittels dessen Mauthner die religiösen Konflikte seiner eigenen Kindheit in die Fiktion entrückt hat: Wolff muss, um das Gymnasium besuchen zu dürfen, bei einem Rabbiner jene Riten und Gebote des Judentums lernen, die ihm im Elternhaus unbekannt geblieben sind. Dieses rein formelle Wissen löst in dem knapp Zehnjährigen einen schweren Konflikt aus: „Da begann es. Ich fühlte die Pflicht, für Vater und Mutter fromm zu sein. Da ich aber nicht ausgelacht werden wollte, hielt ich nur heimlich die Gebote des Herrn“. 36 Die Ausübung des Judentums vollzieht sich bei Wolff auf einem schmalen Grat. Einerseits müssen die Gebote formal eingehalten werden; andererseits muss sich dies heimlich vollziehen. Will heißen: Heinrich muss sich jede Handlung versagen, die auf religiösen Ursprung schließen lässt. Das Ergebnis ist eine wirkungslose Verehrung des Wortes. So ist auch die Loslösung vom Judentum im Fortgang des Romans für Wolff zunächst nur leerer Sprechakt, nur folgenloses Bekenntnis; es geht lediglich darum, selbstreferentielle Denkmuster abzulegen, die ohnehin keine äußere Wirkung gezeigt haben. Um die selbstbestätigende Struktur der Sprache zu illustrieren, lässt Mauthner den Wortfetischismus im Roman kuriose Blüten treiben, wenn er die Einrichtung im Haus von Heinrichs Großvater schildert: „[…] an der Wand hing ein absonderliches Bild. Es stellte den Moses mit seinen Gesetztafeln dar; aber nicht aus Linien war die Zeichnung entstanden, sondern aus geschickt zusammengestellten, in kleinster Zierschrift ausgeführten Buchstaben des hebräischen Alphabets - denselben Buchstaben, welche doch wieder auf den Tafeln des Bildnisses ganz natürlich die Zehn Gebote in der Ursprache mitteilten.“ 37 Klaue reduziert dieses Zitat auf eine Versinnbildlichung der „Mischkultur des Judenviertels, die von Heinrich als hybrides Gewimmel wahrgenommen wird“ 38 . Mauthner dürfen jedoch getrost subtilere Absichten unterstellt werden: 1. Er verweist auf die Absurdität des Versuchs, mittels Sprache ein Bild der Wirklichkeit zu konstruieren. Das Abbild Moses ist nur die Konstruktionsleistung eines flüchtig Wahrnehmenden. Nähert sich der Betrachter weit genug, zerfällt das Bild in die Beliebigkeit der Zeichen. Diese sind - im Gegensatz zum Bild - nur für den Kenner des Sprachcodes bedeutungstragend. 2. Ferner verweist Mauthner auf die skaleninvariante Struktur fetischisierter Sprache (man könnte auch von dem, leider logisch wenig spezifischen, mise en aby- 34 Zur Substitution des Tempels durch die Tora vgl. S CHREINER , Tempelsubstitution. 35 Es ist anzumerken, dass Mauthner mit dieser Sichtweise seine erwähnte Engführung von Skeptizismus und Judentum in Frage stellt. 36 M AUTHNER , Ahasver, 194. 37 Ebd., 21. 38 K LAUE , Fremdworte, 92. Ansichten vom Turmbau zu Babel 189 me sprechen): Die abgebildete Schrift der Gebote setzt sich abermals aus kleinsten Schriftzeichen zusammen. Diese fraktale Beziehung kann als Seitenhieb darauf gelesen werden, dass eine Begründung der Gebote für den Wortgläubigen abermals nur über Sprache erfolgen kann. Damit legt Mauthner eine versteckte Häresie bloß: Indem der Sprache die Fähigkeit zugebilligt wird, sich aus sich selbst zu begründen, wird ihr eine genuin göttliche Eigenschaft übertragen. 39 3. Daran anknüpfend inkriminiert Mauthner eine sophistische Umgehung des Bilderverbots aus Exodus 20,4: Obwohl er auf die epistemologisch defizitäre Struktur von Sprache hinweist, zeigt er, wie sie als fixierendes Abbild zum Objekt religiöser Verehrung wird. Die „Wahrung“ der Gebote vollzieht sich nicht mehr primär in ihrer Befolgung, sondern in der götzengleichen Verehrung des Wortlauts, in ihrer Aufbe-„Wahrung“ in Sprache. Mauthners Kritik wendet sich also nicht gegen die Sprache als Kommunikationswerkzeug zur Tradierung religiöser bzw. soziokultureller Praxis, sondern gegen „das fetischisierte Wort“ 40 . Insofern weist Lütkehaus Mauthners Sprachkritik treffend als „die pointierteste Form des Namenverbotes, des Gottestabus“ 41 aus. Der Ikonoklasmus wird zu einem Logoklasmus radikalisiert. Mauthner ist sich der Strenge - wenn nicht gar Undurchführbarkeit - seiner Forderung durchaus bewusst. Zur Erklärung weicht er ironischerweise in ein Zitat, also in versteinerte Sprache, aus: „Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer lebendig vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu töten“. 42 4. Der Dichter besetzt die Geisterstadt „Erst die Sprachkritik, erst die Einsicht in den Unwert der Worte, wird dem Religionsbegriff die letzte Stütze nehmen“, 43 notiert Mauthner. Abseits dieser theologischen Konsequenzen hat er durchaus erkannt, dass die „Rebellion gegen die Logokratie“ 44 - wie er die Sprachkritik in seinem „Wörterbuch der Philosophie“ bezeichnet - auch das Fundament seines eigenen philosophischen Gebäudes unterhöhlt. Wie er den Dekalog gegen den Theismus ausspielt, so hebelt er die Sprache gestützt auf ihr eigenes Fundament aus. Item fällt er jener alten pyrrhonischen Skepsis 45 anheim, welche sich schlussendlich selbst in Frage stellt. In diesem Sinne ist Sprachkritik die „letzte sich selbst zerstörende Tat des Denkens“. 46 39 Zum Selbstwert der Sprache als göttliches Attribut vgl. M AUTHNER , Beiträge, Bd. 1, 68. 40 K LAUE , Zerstörung, 45. 41 L ÜTKEHAUS , Sprachkritik, 233. 42 G OETHE , zitiert nach M AUTHNER , Beiträge, Bd. 1, 142. 43 M AUTHNER , Beiträge, Bd. 3, 629. 44 M AUTHNER , Wörterbuch, Stichwort Logokratie, 307. 45 Zur Struktur der pyrrhonischen Skepsis bei Mauthner vgl. G ABRIEL , Philosophie und Poesie, 30. 46 M AUTHNER , Beiträge, Bd. 3, 619. Tobias Krüger 190 Insofern Sprach- und Atheismuskritik als „Ablehnung gewisser Ideen“ 47 zu sehen sind, betreibt Mauthner zwar Kulturkritik, 48 zeigt sich aber dennoch nicht kulturfeindlich: Die Skepsis lässt ein leeres Wortkonstrukt, eine leere Stadt zurück. Diese Gebilde sind umso mehr dem Verfall preisgegeben, als es niemand mehr für nötig befindet, sie zu pflegen. Es sei denn, die Gebäude werden wegen ihres ästhetischen Wertes erhalten. Diese Leerstelle, die aus dem Bedeutungsverlust der Sprache für die Erkenntnis erwächst, dürfte im Sinne Mauthners die Dichtung füllen: „Wirklichkeit wird in Worte gefasst Literatur“. 49 Wer Literatur schreibt, ist sich der epistemologischen Nichtigkeit sprachlicher Konstruktionen bewusst. Poetische Sprache kann jedoch eine Stimmung erzeugen und transportieren. Dabei ist zu beachten, dass Mauthner hier kein unbestimmtes Gefühl meint, sondern „die subjektive Anschauung, welche der Dichter mit dem Stofflichen verbindet“. 50 Sprache bezeichnet nicht die Wirklichkeit, sondern das Verhältnis des Sprechers zu ihr, seine persönliche Ästhetik. Die Dichtung steht zu ihrer Referenzlosigkeit, birgt ihren Wert nicht im Schein von Erkenntnis, sondern im Ausdruck der Selbstbezüglichkeit des Menschen. Die damit assoziierte Gottähnlichkeit wird so dem Menschen anstelle der Sprache zugestanden. Wenn Federmair also behauptet, Mauthner kritisiere „das Unvermeidliche, so dass sich die Frage stellt, wozu überhaupt“, 51 so lässt sich ihm mit einer bisher unausgesprochenen, philanthropischen Sichtweise auf den Skeptiker Mauthner antworten: damit die Sprache nicht gegen sich selbst geschwungene Geißel des Menschen wird, sondern Ausdruck seiner Sozialnatur und seiner Selbstbezüglichkeit bleibt. Somit schließe ich mit der These, dass Mauthners metaphorische Verklammerung von Sprache und Architektur sich zwar recte et inane als „Sprechen im Zeichen der Großstadt“ lesen lässt, in Wahrheit aber auf eines der ältesten Bilder der Weltgeschichte zurückgreift: Sie zeigt die abendländische Kulturgeschichte und den Verlust des Praxisbezugs von Sprache im Schatten der alttestamentarischen Stadt Babel und der Sprachverwirrung, welche die Hybris ihres Baus ausgelöst hat. Sprachphilosophie, Atheismusgeschichte und Dichtung Mauthners sind die vielfältigen Perspektiven auf diesen Nexus: Sie sind Ansichten vom Turmbau zu Babel. Literatur B OSCH , M ANFRED : Der Buddha vom Bodensee, in: D ERS ., Bohème am Bodensee: Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950, Lengwil am Bodensee 1997, 212-220. 47 S CHLEICHERT , Atheismus, 140. 48 Vgl. B OSCH , Buddha. 49 E ISENDLE , Erkenntnis, 101. 50 M AUTHNER , Beiträge, Bd. 1, 122. 51 F EDERMAIR , Früchte, 37. Ansichten vom Turmbau zu Babel 191 B URGER , H ANNA : Ohne Sprache, ohne Gott: Fritz Mauthner oder wie kritisch ist die Sprachkritik? in: Germanoslavica. Zeitschrift für germano-slawische Studien 2 (1999), 199-213. E ISENDLE , H ELMUT : Literatur und Erkenntnis bei Fritz Mauthner, in: D ERS ., Beiläufige Gedanken über Etwas. Essays, Wien u.a. 1989, 100-111. F EDERMAIR , L EOPOLD : Früchte der Resignation: Zu Fritz Mauthner, in: Literatur und Kritik 355 (2001), 30-46. 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Er trug in jüdischen Kulturbünden und Lehrhäusern aus seinem 1936 in der „Jüdischen Buchvereinigung Berlin“ erschienenen Buch „Der Gezeichnete“ vor, um „den Menschen in der schweren Zeit Bestätigung ihres Eigensten zu geben und ein wenig Trost“. Damals besuchte er unter anderem Konstanz, Heidelberg, Karlsruhe, Offenburg, Mosbach, Baden- Baden, Pforzheim, Weinheim, Hechingen, Göppingen, Stuttgart, Ulm und Berlin, wo es überall, obgleich bereits ausgegrenzt und schwerer Verfolgung unterworfen, noch lebendige jüdische Gemeinden gab. Wer war dieser Autor, der jüdischen Menschen „ihr Eigenstes“ vortrug? Er gilt als der letzte Autor des schwäbisch-alemannischen Landjudentums in der Tradition Berthold Auerbachs, der das noch intakte Leben der jüdischen Gemeinden in Erinnerung rief, bevor es endgültig erlosch. Jacob Picard wurde am 11. Januar 1883 in Wangen am Untersee als ältestes von neun Kindern des Maklers Simon Picard geboren, dessen Familie seit mehreren Generationen auf der Halbinsel Höri am Bodensee ansässig war. Seine Mutter Eugenie, geborene Bernheim, stammte aus Tiengen am Hochrhein. Er erlebte eine glückliche Kindheit, besuchte 1889-93 die Volksschule in Wangen und wuchs in einer gläubigen jüdischen Umgebung auf. Der jüdische Glaube, der Besuch der Synagoge und die Bewahrung der traditionellen Gebräuche hatten eine große Bedeutung in seiner Familie. Zum Besuch des Gymnasiums kam der Junge 1893 zu Verwandten in Konstanz, zwei Jahre später zog die ganze Familie nach Konstanz um. 1897 starb sein Vater. Bereits als Schüler schrieb er Gedichte, mit neunzehn veröffentlichte er die ersten Texte. Als er 1903 das Abiturzeugnis erhielt, wurde ihm der Geschichtspreis aus antisemitischen Ressentiments vorenthalten. Im Wintersemester 1903 begann er ein Studium der Germanistik und Geschichte in München, setzte es ein Jahr später in Berlin fort, wechselte im Sommersemester 1905 nach Freiburg und studierte ab dem Wintersemester 1905 wieder in München. Dort gab er dem Wunsch seiner Mutter nach einem „Brotberuf“ nach und begann ein Jurastudium. Dieses setzte er ab dem Sommersemester 1907 in Heidelberg fort, wo er im Herbst 1909 das erste juristische Staatsexamen ablegte. Während der breit angelegten Studien verkehrte er in literarischen Kreisen, knüpfte Kontakte zu Literaten und arbeitete an literarischen Zeitschriften mit (Bekanntschaften mit Wilhelm Schäfer, Siegfried Jacobsohn, Theodor Heuss und Hermann Hesse; Mitarbeit an „Die Rheinlande“, „Schaubühne“, „Hilfe“ und „März“). Oswald Burger 194 Von 1910 bis 1913 war er Justizreferendar in Konstanz und Freiburg. Daneben pflegte er Verbindungen mit dem literarischen Heidelberger Kreis um die Zeitschrift „Die Argonauten“, arbeitete am Literaturblatt der „Heidelberger Zeitung“ mit und veröffentlichte seinen ersten Gedichtband „Das Ufer“. In Heidelberg begegnete er Chaijm Weizmann und beschäftigte sich mit dem Zionismus. 1914 wurde er mit einer Dissertation zum Thema „Die friedengefährdende Klassenverhetzung“ zum Dr. jur. promoviert. Mit Kriegsbeginn 1914 meldeten sich er und drei seiner Brüder freiwillig zum Kriegsdienst. Bereits ab September war er an der Front eingesetzt, zunächst im Westen, dann im Osten. Im Oktober 1914 erhielt er das Eiserne Kreuz, im Mai 1915 wurde er Gefreiter, im Januar 1917 Leutnant. Zwei seiner Brüder fielen während des Kriegs. Er selbst schrieb zurückblickend: „Vierzig Monate nahezu und dauernd bei Kampftruppen in vorderster Linie sowohl im Westen als im Osten! Das Erlebnis wirkt heute noch in mir nach.“ Im Dezember 1918 wurde er aus dem Heeresdienst entlassen. Im Oktober 1919 ließ sich Jacob Picard als Rechtsanwalt in Konstanz nieder. Seinen 1920 veröffentlichten Gedichtband „Erschütterung“ widmete er „Meinen gefallenen Brüdern Wilhelm und Erwin“ - „Meine Strophen aus dem Krieg nehmen das ungeheure Geschehen hin ohne jene hohle Begeisterung, die schon bald unerträglich wurde, aber auch ohne die billige Anklage im luftleeren Raume lebender Optimisten; für mich war es Schicksal wie jedes andere Erlebnis auch, freilich das schwerste, das den Menschen begegnen kann.“ Als Reaktion auf den grassierenden Antisemitismus arbeitete er an jüdischen Presseorganen mit, publizierte Aufrufe und gründete die jüdische Loge „U.O.B.B. Makkabi“ in Konstanz mit. Seit dem Herbst 1924 arbeitete er als Rechtsanwalt in Köln, heiratete im Dezember 1924 die Dentistin Dr. Frieda Gerson. 1925 wurde die Tochter Renate geboren. Bereits 1929 wurde die Ehe wieder geschieden, die Tochter wuchs bei seiner ehemaligen Frau auf. Er empfand seine missglückte Ehe als eine „Vergeltung“ für seine als überaus glücklich empfundene Kindheit im jüdischen Milieu, dem er sich in seinem Denken immer mehr zuwandte. 1933 gab er die Anwaltschaft zu Gunsten der Schriftstellerei auf und wandte sich vor allem den Stoffen „aus dem jüdischen Erlebensraum“ zu. 1934 veröffentlichte er unter dem Pseudonym „J.P.Wangen“ in 19 Folgen seine Erzählung „Das Opfer“ über seine Erlebnisse als jüdischer Weltkriegsteilnehmer in der „Kölnischen Zeitung“. Im Dezember 1934 erhielt er das „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ zur Erinnerung an den Weltkrieg. Im März 1935 wurde Jacob Picard aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Sein Widerspruch dagegen unter Hinweis auf seine Verdienste im Krieg war erfolglos. Damit galt für ihn ein Veröffentlichungsverbot außer in jüdischen Verlagen. Für ein halbes Jahr lebte er bei seinem Vetter Fritz Picard in Berlin, kehrte im Mai 1936 auf die heimatliche Halbinsel Höri am Bodensee zurück und wohnte im Gasthaus „Hirschen“ in Horn, „so als ob einer unseres Geschlechts noch einmal die Verbundenheit der Generationen vor dem großen Abschied hätte bestätigen müssen. […] Wenige jüdische Menschen aus meiner Jugend her lebten nur noch da. Jacob Picard (1883-1967) 195 Aber in dieser Umgebung vollendete ich nun mein früher schon begonnenes Buch von Erzählungen ‚Der Gezeichnete’, die in strenger deutscher Novellenform und in der alemannischen Sprachatmosphäre zum ersten Mal, vor dem Untergang sozusagen, das Leben der süddeutschen Landjuden […] zu gestalten suchten.“ Er lebte in Horn in engem Kontakt zu seinem Jugendfreund Erich Bloch (1897-1994), der, selbst Jurist, Schriftsteller und Verlagsleiter, in Horn auf seinem landwirtschaftlichen Betrieb junge jüdische Menschen aus ganz Deutschland auf die Emigration nach Palästina vorbereitete. Ende 1936 erschienen Jacob Picards „Jüdische Geschichten aus einem Jahrhundert“ unter dem Titel „Der Gezeichnete“ mit einer Auflage von 7.000 Exemplaren in der „Jüdischen Buchvereinigung Berlin“ - im Impressum heißt es: „Dieses Buch wurde als vierter Band der Jahresreihe 1936 den Mitgliedern der jüdischen Buch-Vereinigung EV geliefert“. 1937 und 1938 unternahm Jacob Picard zwei Lesereisen, bei denen er Texte aus dem Buch vorlas, das einerseits auf positive Resonanz, andererseits aber auch auf Ressentiments stieß. 1938 siedelte er nach Berlin über, veröffentlichte noch die autobiographische Erzählung „Erinnerung eigenen Lebens“ in der Zeitschrift „Morgen“, setzte sich für die Publikation der Gedichte von Gertrud Chodziesner (Gertrud Kolmar, geboren 1894, deportiert und ermordet 1943) ein, lernte Leo Baeck, Nelly Sachs und August Scholtis kennen und suchte Möglichkeiten für eine Emigration. Die Schweiz und Frankreich lehnten die Einreise und den Aufenthalt ab. Eine Bürgschaft seines Bruders Hermann, der in New Jersey lebte, ermöglichte 1940 die Ausreise aus dem Reichsgebiet und die Einreise in die USA. Die einzige noch offene Route führte ihn von Oktober bis Dezember 1940 durch die Sowjetunion, die Mongolei, China und Japan. In den USA erhielt er ein einjähriges Stipendium für Sprache, Literatur und Geschichte. Danach arbeitete er als Gärtner, Fabrikarbeiter, Lagerschreiber, schrieb aber auch eine Biographie des badischen Revolutionärs von 1848 Franz Sigel (1824-1902), der die Revolutionäre militärisch anführte, in die USA emigrierte und dort zum General der Truppen der Nordstaaten im Sezessionskrieg wurde. 1946 wurde Jacob Picard amerikanischer Staatsbürger, 1947 übernahm er eine Angestelltentätigkeit bei der Hilfsorganisation CARE. 1956 erschien unter dem Titel „The Marked One“ eine amerikanische Ausgabe von „Der Gezeichnete“. 1957 erhielt Jacob Picard eine finanzielle Wiedergutmachung. Vierundsiebzigjährig konnte er seine Anstellung aufgeben und wieder nach Europa zurückkehren. In Den Haag traf er seine inzwischen verheiratete Tochter Renate wieder, zwei Monate verbrachte er in Wangen auf der Höri. 1960 war er bei der Verleihung des Drostepreises an die Freundin Nelly Sachs in Meersburg anwesend, es ergaben sich nach und nach Publikationsmöglichkeiten in Deutschland. 1963, im Jahr von Jacob Picards achtzigstem Geburtstag, erschien in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart der gegenüber der Sammlung „Der Gezeichnete“ wesentlich erweiterte Erzählband „Die alte Lehre“, für den einige nur jüdischen Lesern bekannte Details für das nichtjüdische deutsche Nachkriegspublikum erläutert wurden. Oswald Burger 196 1964 erhielt Jacob Picard das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und am 14. Juni 1964 den Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen, seine einzige literarische Ehrung. Nach einem Schlaganfall im Januar 1965 lebte Jacob Picard in Pflegeheimen in Holland, Bad Vilbel und ab Mai 1967 auf Vermittlung seines Jugendfreundes Erich Bloch im städtischen Hebelhof in Konstanz, wo er am 1. Oktober 1967 starb. Er wurde im Grab seiner im ersten Weltkrieg gefallenen Brüder auf dem jüdischen Teil des Konstanzer Friedhofs beigesetzt. 2. Literarische Werke 2.1. Lyrik Jakob Picards erste literarische Publikationen waren Gedichte, die er in den Gedichtbänden „Das Ufer“ (1913), „Erschütterung“ (1920) und „Der Uhrenschlag“ (1960) gesammelt herausgab. Sie sind thematisch und formal konventionell, ragen kaum wirklich aus dem zeitgenössischen lyrischen Schaffen heraus durch einen eigenen Ton. Auffällig sind rhythmische Unvollkommenheiten, schiefe Bilder und gelegentlich unfreiwillig komische Stellen. Er selbst befand nach Sichtung seiner Gedichte gegen Ende seines Lebens: „Ich lasse von meiner Lyrik nur noch wenig gelten.“ 1 Im Nachlass fand sich dazu folgender Text: „NACHSPRUCH zu den Gedichten Dies ist meine Stimme. Wenn ich einstens nicht mehr glimme, Spricht sie weiter und spricht reiner, Und vielleicht sagt einmal Einer: Dieser ist einst da gewesen, Und ich darf sein Leben lesen, Eines, das wohl viel gelitten, Da er durch das Licht geschritten, Durch die Liebe, auch inmitten Hass, Verrat und viel Gefahren Bis er kam zu grauen Haaren; Auch fuer mich, der ich erkenne, Dass ich aus ihm weiter brenne, Der zu Asche werden musste, Weil er allzu Vieles wusste; Asche, oh, und auch einst Blut und Zunge, Traumherz, Trauer, Mitleid, Atemlunge, War voll Zorn und voll begluecktem Schauen, 1 P ICARD , Werke, Bd. 2, 301. Jacob Picard (1883-1967) 197 Apfelblueten ueberm Seeland-Blauen Kraenzend Lust mit schoenen Frauen, War vielleicht doch nicht vergebens, Trost im Raetsel meines eigenen Lebens, Da ich dies erfahren darf, Was ihn langher in die Grube warf.“ 2 2.2. Erzählungen Jacob Picards „Erzählungen aus dem Landjudentum“ schildern das Leben der Juden in den alemannischen Dörfern am Bodensee und Oberrhein im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, wie es Jacob Picard in seiner Jugend in Wangen auf der Höri und bei seinen Verwandten im Elsass und am Hochrhein erlebte. Zehn dieser Texte wurden bereits 1936 in dem Erzählband „Der Gezeichnete“ abgedruckt, gewissermaßen als Vergewisserung der Juden über das, was gerade verloren zu gehen drohte. Für die erweiterte Nachkriegsausgabe seiner Geschichten unter dem Titel „Die alte Lehre“ (1963), die für ein vornehmlich nichtjüdisches Publikum erzählte, wie dieses Leben gewesen war, erläuterte der Verfasser zuvor selbstverständlich verwendete hebräische, jiddische und alemannische Begriffe im Textzusammenhang und fügte einen Worterklärungsanhang hinzu. Erzählt wird meist vom Leben der Juden innerhalb ihrer eigenen dörflichen oder kleinstädtischen Welt, von ihren Lebensverhältnissen und Sitten, ihren Gefühlen und ihrem religiösen Leben, von ihrem Gottvertrauen und ihren Menschenschicksalen. Wie einer reich wurde durch Gottesfurcht wider alle Vernunft und Erwartung, wie der arme Hausierer Hirsch Bernheim zum Kaufmann und Parnes (Vorsteher der Gemeinde) wurde, wird in der Geschichte „Das Los“ erzählt, sie handelt aber auch vom ehrerbietigen Verhältnis zwischen den hausierenden Juden und seinen christlichen Kunden. „Der Fuchs“ begründet aus einem Konflikt unter Brüdern heraus, warum Redlichkeit für die Handelsjuden wichtig war. Einige Erzählungen schildern schrullige Ereignisse und merkwürdige Charaktere, bei denen für den heutigen Leser die Informationen über jüdische Gebräuche eindrücklicher sein dürften als die erzählten Ereignisse. „Die alte Lehre“, die titelgebende Geschichte des 1963 veröffentlichten Erzählbandes, beschreibt das einträchtige und friedliche Zusammenleben von Juden und Christen in einem elsässischen Dorf an Hand des Eingreifens des christlichen Bürgermeisters in das religiöse Leben der Juden, das diesen „eine Lehre gegeben hatte für alle Zukunft“ 3 . Die spannendste Erzählung trägt den Titel „Der Gezeichnete“, unter dem der erste Erzählband 1936 erschien. Sie stellt den „Gezeichneten“ Sender Frank vor, der 2 Ebd., Bd. 2, 40. 3 Ebd., Bd. 1, 87. Oswald Burger 198 so alt war wie das neunzehnte Jahrhundert, der arm war und verachtet, der nicht heiraten durfte, der aber die durch die Judenemanzipation versprochenen Rechte wahrnehmen wollte, in die Fremde zog und ein Handwerk erlernen wollte. Aber diese Versuche scheiterten jämmerlich an der engen christlichen Zunftverfassung, an der Angst vor dem jüdischen Konkurrenten. Sender Frank kehrte wieder heim und wurde gehänselt, blieb aber dem Dorf und einem unerreichbaren jüdischen Mädchen innerlich verbunden. Am Ende floh Sender dann doch nach einem unbekannten Ziel. Diese Geschichte ist deshalb so spannend, weil in ihr nicht der Ausgang oder die Tendenz von vorne herein klar sind, wie in manchen anderen. Und sie ist insofern modern und psychologisch einleuchtend, als Sender Frank eine doppelte Zurücksetzung als Jude in einer christlich dominierten Welt und als Außenseiter unter den Juden erfährt. Betulicher dagegen ist beispielsweise die längste Erzählung überhaupt, „Raphael und Recha“, die vom Geiz und der Geldgier der Recha handelt und davon, wie ihr Mann Raphael darunter leidet und zerbricht, aber auch davon, wie Recha noch einmal gut wird und die moralische Welt wieder im Lot ist. In „Raphael und Recha“ herrscht eine Haltung vor, die Jacob Picard in manchen anderen Erzählungen auch einnimmt: er moralisiert, er liefert das positive Urteil über das jeweilige Handeln mit. Und: der Erzähler ist selbst noch gefangen in der Welt, die er beschreibt - freilich häufig als vergangene oder gerade untergehende Welt. Für uns heutige Leser entsteht der Eindruck einer doppelten Ferne: die des frommen und befangenen Erzählers und dahinter die der erzählten Welt. Dieser Erzählton kommt ganz aus dem 19. Jahrhundert, wir kennen ihn von Johann Peter Hebel, der ähnlich kommentiert und ausholt, und der vornehmlich die andere, die christliche Seite der alemannischen Welt des 19. Jahrhunderts schildert. Während Hebel freilich pointiert, holt Picard oft zu weit aus. Gelegentlich verdoppelt Picard das Erzählte durch Moralisieren, was man in der Geschichte selbst längst begriffen hat (so z.B. in „Zwei Mütter“). Gelegentlich blitzt im scheinbar naiven Erzählstil auch die Raffinesse eines Johann Peter Hebel oder Peter Bichsel durch, aber auch die tragische Unerbittlichkeit des strengen Gesetzes schlägt bisweilen ähnlich unerbittlich zu wie in Friedrich Hebbels Tragödien. 2.3. Literarhistorische und historische Arbeiten In seinen literaturhistorischen Aufsätzen und Gelegenheitsarbeiten, die er verstreut publizierte, befasste sich Jacob Picard immer wieder mit anderen jüdischen deutschen Dichtern: mit Berthold Auerbach (1812-1882), dem anderen großen Dichter des deutschen Landjudentums aus dem 19. Jahrhundert, mit Albert Ehrenstein (1886-1950), Julius Bab (1880-1955), Alfred Mombert (1872-1942), Ernst Blass (1890-1939) und mit der von ihm geförderten Gertrud Kolmar (1894-1943). In den Essays wird unter der Hand Jacob Picards Ort in der Literatur des 20. Jahrhunderts deutlich; so etwa, wenn er berichtet, der Expressionist Ernst Blass habe ihn „gelegentlich ‚Bodenseele‘“ 4 genannt. 4 Ebd., Bd. 1, 279. Jacob Picard (1883-1967) 199 Aber auch die schrecklichen Ereignisse, die dem lebendigen jüdischen Landleben ein Ende setzten, bedrängten jedes der geschilderten jüdischen Dichterschicksale. Schon Auerbach hatte antisemitische Vorwürfe ertragen müssen. Und wenn Picard über Mombert berichtet, entfährt ihm der Ausruf: „Wie war das möglich, fragte ich mich: aus Baden verschleppt? “ 5 . Das Buch über Franz Sigel, an dem Jacob Picard in Amerika zwischen 1941 und 1954 arbeitete, erschien weder auf Deutsch (die Veröffentlichung wurde 1946 im Konstanzer Verlag von Curt Weller geplant, der 1949 in Konkurs ging) noch auf Englisch (Picard stellte 1954 eine Übersetzung her, die in der Chicago University Press erscheinen sollte). 2.4. Reportagen Unter seinen „literarischen“ Texten gibt es etliche Erzählungen mit offensichtlich authentischem Charakter, in denen die Grenzen zwischen Reportage und Fiktion fließend sind. Das gilt für eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg mit dem Titel „Der Bruder“ und für die Erzählung „Das Zeitungsblatt“, die im Konzentrationslager spielt, mit der Jacob Picard gegen die Unterstellung einer Kollektivschuld der Deutschen für die Naziverbrechen argumentiert, indem er einen anständigen Wachmann schildert. „Die Vergeltung“ gibt das Verhör eines amerikanischen Soldaten vor einem Kriegsgericht im Sommer 1944 wieder; dieser hatte einen deutschen Kriegsgefangenen tot geschlagen und rechtfertigt sich, indem er seine Lebensgeschichte und damit die Geschichte des Zusammenlebens von Juden und Christen, von anständigen Menschen und Nazis in seiner deutschen Heimat erzählt. Der Totschlag des Deutschen durch seinen früheren Klassenkameraden im Affekt wird schlüssig motiviert und dabei die traurige Geschichte der Zerstörung der lange Zeit friedlichen Symbiose von Juden und Christen erzählt. Diese Geschichte überwindet das Klischee vom gedemütigten Juden und erzählt von nachvollziehbarer Gegenwehr. 2.5. Autobiographisches Im Nachlass (im Leo Baeck-Institute New York) befindet sich eine sehr lesenswerte „Erinnerung eigenen Lebens“, in der Jacob Picard am eindrucksvollsten seine Heimatverbundenheit, seine Wurzeln in der Bodenseelandschaft und sein Glück in der Natur ausdrückt. Aber auch seinen geistigen Prägungen geht Jacob Picard nach: der Begeisterung für die 1848er Revolution, der Tradition liberalen Judentums, der Lektüre guter Dichter, allen voran Johann Peter Hebel. Das juristische Studium, die Berufstätigkeiten als Jurist in Konstanz und Köln, aber auch seine schwierige und dann gescheiterte Ehe blieben Episoden im Leben Jacob Picards, der eigentlich Dichter werden wollte und es dann wurde. Diese Episoden werden knapp geschildert und zusammenfassend als „Zeit der Vergeltung und des Ausgleichs“ für die 5 Ebd., Bd. 1, 256. Oswald Burger 200 glückliche Kindheit verarbeitet 6 , wenngleich sie in der Folge einen schwermütigen Grundzug im Wesen Picards verstärkten. Die „Erinnerung eigenen Lebens“ endet mit dem Untergang des jüdischen Dorflebens und der Erkenntnis seiner „unwiederbringlichen Abgeschlossenheit“ 7 . 3. „Ein Gang nur“ Thematik, Erzählhaltung, Tonfall und Stimmung in den meisten Erzählungen Jacob Picards finden sich in einem seiner kürzesten Text auf kleinem Raum wieder, der diese Erinnerung an den Erzähler des alemannischen Landjudentum abschließen möge: „Ein Gang nur Geboren war er im Jahre 1817 in dem kleinen Dorf am Untersee, wo die Juden mit den nichtjüdischen Menschen schon seit Jahrhunderten friedlich zusammenlebten. Es war zwei Jahre nach der Schlacht bei Waterloo, die das Ende Napoleons bedeutete, der die Juden aus dem Ghetto befreit hat; das heißt die, die noch darin wohnten in den Städten, nicht die auf dem Lande unter den Bauern wie bei uns, die selbst schon bäuerlichen Besitz hatten und ihn bearbeiteten schon seit langer Zeit neben dem, daß sie den Viehhandel trieben, damit die Nachbarn etwas verkaufen oder Ersatz kaufen konnten. Und er starb im letzten Jahr des Jahrhunderts, nachdem er so drei Generationen überlebt und jeden im Dorf gekannt hatte, Geburten und Tode; und war oft hinter den Särgen hergegangen zum Guten Ort oben am Berg zwischen dem Gehölz und den Feldern, wohin er auch, schon lange her, die Mutter seiner Kinder geleitet hatte. Fast hundert Frühlinge, Sommer, Herbste und Winter hatte er erlebt, das Kalben der Kühe alljährlich, das Heuen, die Getreide- und Obsternten, die Stürme des Sees, seine sommerliche Stille und die Vereisung, so daß man zu Fuß hinüber in die Schweiz gehen konnte; und die heiligen Festtage immer wieder jedes Jahr, die kirchlichen Weihnachten und Ostern der christlichen Freunde und die eigenen, das Pessachfest und das der Laubhütten mit dem Schmuck der eigenen Feldfrüchte, Neujahr und auch den Versöhnungstag, da er, vom Morgen bis zum Abend stehend, im Gotteshaus fastete, und Chanukka, das Lichterfest zum Gedenken an den Sieg in den Makkabäerkämpfen, aber auch jene der Trauer zur Erinnerung an die letzte Zerstörung des Tempels und die Vertreibung, die alles Unheil über die tausend Jahre zur Folge hatte; ein langes Leben, die vielen Jahre, und es war Friede im Lande gewesen, oder man hatte nur von ferne einige Male von Krieg gehört. Ein frommer Mann war er gewesen, und alle hatten es gewußt und ihn darum geachtet, Christen und Juden. Er hatte seine Pflichten erfüllt jeden Tag, wie sie 6 Ebd., Bd. 2, 241. 7 Ebd., Bd. 2, 256. Jacob Picard (1883-1967) 201 vorgeschrieben sind im Gesetz, viele tausend Tage, einen wie den anderen mit ihrer Mühe und Sorge und manchmal Freude, zwischen den Häusern, Gärten und Wiesen, die ihm vertraut und ein Teil von ihm waren. Und nie war er längere Zeit aus dem Dorf, ja aus der Gegend fortgewesen. Einst hatte er dichte, hellbraune, wellige Haare gehabt und einen Vollbart, dann waren sie weiß geworden, wenn auch noch dicht geblieben, und er trug noch die Schläfenlocken frommer Juden wie ehmals. So war das Jahr 1899 gekommen, sein dreiundachtzigstes Jahr, als er wußte, daß er sterben müsse und es nur wenig Zeit währen konnte, bis er soweit war. Ergeben sah er ihm entgegen, da er in dem engen halbdunklen Alkoven lag, wo er seit Jahrzehnten täglich zur Ruhe gegangen war. Da sagte er, zu sich selber sprechend, vor sich hin, ja, ohne daß er die Worte direkt an jemand anderen gerichtet hätte: ‚Jetzt isch mir, als ob ich grad amol durchs Dorf gange wär’ …‘, und die Pflegerin hatte es gehört und weiterberichtet. Das war die Mutter von Johanna Lang, der alten Bäuerin aus unserem Dorf, die es von ihr wußte und mir erzählt hat, als ich im Jahre 1959 aus Amerika zurückgekehrt war, wohin ich hatte fliehen müssen. Ich war gekommen, um sein Grab zu besuchen. Denn das schönste an dieser Geschichte bedeutet es für mich, daß es die meines Großvaters ist, eines treuen Juden, seines Lebens und seiner Art, dessen Grab oben am Berg liegt über dem kleinen Dorf am Bodensee, nahe der Schweizer Grenze; der weise wußte, was das Leben ist: nur ein Gang durchs Dorf, zu dem man gehört, wenn man alles recht sieht.“ 8 Literatur Zu Lebzeiten Jacob Picards erschienen folgende Titel: Das Ufer. Gedichte, Heidelberg 1913. Die friedengefährdende Klassenverhetzung (Diss. jur.), Berlin 1914. Erschütterung. Gedichte, Heidelberg 1920. Der Gezeichnete. Jüdische Geschichten aus einem Jahrhundert, Berlin 1936. The Marked One. Stories. Translated by Ludwig Lewisohn, Philadelphia 1956. Der Uhrenschlag. Gedichte, Stierstadt 1960. Die alte Lehre. Geschichten und Anekdoten. Mit einer Einleitung von Josef Eberle, Stuttgart 1963. Maßgeblich ist heute die von Manfred Bosch herausgegebene zweibändige Werkausgabe, aus der im obigen Text zitiert wird (die erste Ziffer bezeichnet den Band, die zweite die Seitenzahl): P ICARD , J ACOB : Werke, herausgegeben von Manfred Bosch, Konstanz 1991. Band 1: Erzählungen aus dem Landjudentum. Literarische Essays. Band 2: Gedichte. Autobiographische Erzählungen. Nachwort. 8 Ebd., Bd. 1, 224-226. Oswald Burger 202 Zur Zeit sind folgende Ausgaben lieferbar: Und war ihm leicht wie nie zuvor im Leben. Die schönsten Erzählungen. Nachwort von Manfred Bosch, Lengwil 1993. Werke. Gesammelte Erzählungen aus dem alemannischen Landjudentum und der Emigration, autobiographische Texte, Gedichte, Essays; herausgegeben von Manfred Bosch, Lengwil 1996. Der biographische Überblick fasst die vorzügliche Biographie Jacob Picards in dem Ausstellungskatalog zusammen: B OSCH , M ANFRED / G ROSSPIETSCH , J OST : Jacob Picard 1883-1967, Freiburg 1992. Im alten Rathaus von Wangen erinnert eine Gedenkstätte an Jacob Picard (Öffnungszeiten über www.literaturland-bw.de). Der Jacob-Picard-Freundeskreis im literarischen Verein Forum Allmende ist erreichbar über die Homepage www.forum-allmende.net unter „Projekte/ Arbeitsgruppen“. „Ka Jud“. Zu einem Brief von Max Riccabona Ulrike Längle Der 1915 in Feldkirch in Vorarlberg geborene und 1997 in Lochau bei Bregenz verstorbene Rechtsanwalt, Schriftsteller und bildende Künstler Max Riccabona ist ein nach wie vor weithin unbekannter Vertreter der österreichischen (Avantgarde-) Literatur und als monarchistischer Widerstandskämpfer und Häftling im KZ Dachau eine höchst interessante Figur der Zeitgeschichte. Er wäre vermutlich sehr erstaunt gewesen, Thema eines Beitrags in einem Band zur „Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben“ zu werden: Riccabona war nicht nur kein Schwabe, er hat sich selbst auch nie als Jude empfunden, obwohl seine Mutter einer jüdischen Familie entstammte. Bevor wir uns Riccabonas eigenem Verständnis seiner Identität zuwenden, wie er es in einem Brief und an anderen Stellen artikuliert hat, soll kurz ein Blick auf sein literarisches Werk geworfen werden. 1. Das literarische Werk: Vom „Halbgreyffer“ zu den „Nebengeleisen“ Riccabonas legendäres unabgeschlossenes - und vielleicht unabschließbares - literarisches opus magnum, „Bauelemente zur Tragikomödie des x-fachen Dr. von Halbgreyffer oder Protokolle einer progressivsten Halbbildungsinfektion“ 1 erschien als Buchausgabe erstmals 1980 im Rhombus-Verlag in Wien; wie auch bei der zweiten Ausgabe dieses Werks handelt es sich um eine Teilpublikation. 1993 kamen, zusammen mit Gedichten des Autors, faksimilierte Typoskripte des „Halbgreyffer“ unter dem Titel „Poetatastrophen“ 2 im Haymon-Verlag in Innsbruck heraus. Daneben erschienen Publikationen einzelner Kapitel in verschiedenen österreichischen Literaturzeitschriften, z. B. in den „protokollen“ 3 oder im „Inn“, dort mit dem barocken Titel: „Muster einer konzertbeschimpfung, erfasst von einem dorfmusikexperten und mitpatienten des dr. v. Halbgreyffer im sanatorium zur frohen seelengenesung zu syndenprumpfstetten ober dem schweinbutzbach“. 4 Der bekannte Grazer Autor Wolfgang Bauer, ein „junger Wilder“, maß dem „Halbgreyffer“-Roman den Stellenwert eines „österreichischen Tristram Shandy“ bei, der bei besserer Würdigung ein Kultbuch geworden wäre, vergleichbar mit Oswald Wieners „Verbesserung von Mitteleuropa“. Der „Halbgreyffer“, so Wolfgang Bauer, sei ein „geniales Fragment, das absolut zur österreichischen, nicht nur Avantgardeliteratur, sondern 1 R ICCABONA , Halbgreyffer. 2 D ERS ., Poetatastrophen. 3 D ERS ., Skizzen. 4 D ERS ., Konzertbeschimpfung, 11. Ulrike Längle 204 zur österreichischen Literatur zählt“. 5 Über den „Halbgreyffer“, aus dem Riccabona 1965 im Forum Stadtpark Graz gelesen hat, schrieb Bauer in einer Rezension mit dem oft zitierten Titel „Sätze wie donnernde Bisons“ Folgendes: „Riccabona, vorgebend, die Protokolle von drei gescheiterten Existenzen, von drei Säufern, zu publizieren, die ‚an einem Winterabend in einer geschmacklos altdeutsch bemöbelten und mit patriotischen Rülpsern in Öl und Aquarell bebilderten Weinschenke‘ den 5 L ÄNGLE , Selbstbeobachter, 23. Max Riccabona beim Twist, 1959 Mit freundlicher Genehmigung des Forschungsinstituts Brenner- Archiv an der Universität Innsbruck. „Ka Jud“. Zu einem Brief von Max Riccabona 205 ‚haarsträubenden Beschluß‘ fassten, ein Werk zu schreiben, ‚dessen Inhalt schlechthin den Endsaldo und die Zusammenfassung einer gigantischen Weltinterpretation in der Mitte des 20. Jahrhunderts bilden sollte‘, entzieht sich von vornherein jeder Verantwortung für das Geschriebene. Eine solche ‚Aufspannung‘ ist der richtige Humus für seine befreiende Hemmungslosigkeit, Ehrlichkeit und Frische. Er läßt die Sätze wie wildgewordene Bisons dahindonnern, er kennt keine Tabus und keine Stilkriterien - nur in einer so ungezügelten Lockerheit, Unwichtiges, das sich ja unbedingt aufdrängt, nicht zurückhaltend, können so poetische, geistreiche, urwüchsige und direkt-komische Gebilde aufschießen. Die ‚Halbbildungsinfektion‘, die sich in seitenlangen Fremdwortkanonaden, in genialen Wortbildungen, in parodistischen Kabinettstücken (herrlich die Parodie im Vatikanlatein) ausbreitet wie Dschungelgewächs, ist aber, wie man sofort feststellt, von einem kreuzüberquer belesenen und beschlagenen Dichter angezündelt.“ 6 1995, zwei Jahre vor Riccabonas Tod, erschienen unter dem Titel „Auf dem Nebengeleise. Erinnerungen und Ausflüchte“ 7 ebenfalls bei Haymon in Innsbruck Riccabonas Erinnerungen an seine Jahre als Häftling im KZ Dachau, wo er vom Jänner 1942 bis zur Befreiung durch die Alliierten im April 1945 festgehalten worden war. In diesen Textfragmenten, an denen er seit den sechziger Jahren arbeitete, weicht Riccabona seinem Thema immer wieder aus, bricht ab, schweift ab. Sie handeln zu einem nicht geringen Teil von den Schwierigkeiten, sich an diese Jahre zu erinnern. Parallel zur Haftzeit in Dachau evoziert er seinen Aufenthalt in der Pflegeanstalt Jesuheim in Oberlochau, wo er während der Niederschrift in den sechziger Jahren lebte, und an ein Lungensanatorium in Davos, in dem er 1932 einige Monate verbrachte. Die Erinnerungsfragmente, meist kleine, grausige Szenen und grotesk verzerrte Porträts von Mitgefangenen, stehen im Zeichen des Absurden. Im Gegensatz zu Viktor Frankl glaubt Riccabona nicht an einen Sinn des Geschehens oder an das Gute im Menschen: „Oder soll ich meine Erinnerungen quasi mit mottenzerfressenen Fußlappen vergleichen, da wir ja eine Zeitlang wirklich Fußlappen tragen mußten, um Gleichheit herzustellen zwischen uns unter das Vieh im Wert unserer Menschenwürde Reduzierten? Also daß ich gewissermaßen irgendwelche eingebildete Kopflappen als geistige Schweißfußfetzen vor Ihnen auswasche und diese Brühe als geistigen Trank oder das Seelenheil förderndes Medikament oder weiters noch schließlich als den ‚Glauben an das Gute im Menschen‘ fördernde Gemüts- und Gefühlsnahrung offeriere? “ 8 2. „Le style, c’est l’homme même“ - Max Riccabonas Brief an Frank Arnau Um einen Eindruck von Riccabonas Leben und seiner Persönlichkeit zu vermitteln - nach dem Motto von Buffon „Le style, c’est l’homme même“ („Der Stil ist der 6 B AUER , Dunkelkammerlesung, 8. 7 R ICCABONA , Nebengeleise. 8 Ebd., 9. Ulrike Längle 206 Mensch selbst“) -, soll hier ein Brief aus dem Nachlass analysiert und kommentiert werden, der sich im Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck befindet. Dieser Brief thematisiert einen wichtigen Komplex im Leben Riccabonas, seinen Kampf gegen die Nationalsozialisten. An ihm zeigt sich aber auch ein Problem, mit dem jeder Riccabona-Forscher konfrontiert wird, nämlich die Frage nach der Zuverlässigkeit seiner Selbstauskünfte. Und nicht zuletzt artikuliert sich in ihm auf geradezu provozierende Weise die Frage von Riccabonas jüdischer Identität. Der maschinengeschriebene Brief datiert vom 18. Mai 1968 und ist an Frank Arnau in München gerichtet. Arnau (1894-1976), wie Riccabona Nazigegner, war ein in Wien geborener bekannter Sachbuchautor, politischer Essayist, erfolgreicher Kriminalschriftsteller und Enthüllungsjournalist. 1933 ging er nach Frankreich ins Exil, 1939-1955 lebte er in Brasilien. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland arbeitete er als Redakteur des Hamburger „Stern“ und der „Abendzeitung“ in München. 9 Er bezichtigte den deutschen Bundespräsidenten Heinrich Lübke der Lüge, weil dieser behauptete, nie etwas mit Konzentrationslagern zu tun gehabt zu haben. 10 In München gründete er die „Demokratische Aktion Januar 1968“, die sich gegen den wieder auflebenden Rechtsextremismus wandte. Die „Zeit“ berichtete damals darüber: „Über 2000 Personen besuchten in der vergangenen Woche eine Veranstaltung der ‚Demokratischen Aktion Januar 1968‘ des 74jährigen Schriftstellers Frank Arnau im Kongreßsaal des Münchener Deutschen Museums. Sie war als eine Demonstration gegen die braune Gefahr und für Freiheit und Demokratie angekündigt worden. Das Programm sollte aufrütteln anläßlich des 35. Jahrestages der braunen Machtergreifung in Deutschland.“ 11 Dabei kam es zu Tumulten zwischen SDS- und NPD-Anhängern; ein NPD-Mitglied erlag einem Herzschlag. Später stellte man Spuren von Schlägen auf seinem Körper fest, sodass die NPD einen Märtyrer hatte. „Den Demokraten kam der gleichzeitige Ansturm von links und rechts beklemmend vor“, resümierte der Kommentator der „Zeit“. Riccabona schrieb Arnau am 18. Mai 1968 auf ein Interview hin, das er in einer Schweizer Illustrierten gelesen hatte. 12 „Durch Zufall habe ich kürzlich beim Zahnarzt in der Schweizerischen Illustrierten ‚Sie und Er‘ deren Interview mit Ihnen gelesen, sowie kenne ich Sie aus anderen Meldungen in der Münchner Presse. Diesmal werden Sie nicht von einem Nazi beschimpft, resp. in diesem Schreiben, sondern dazu beglückwünscht, dass die Nazi so einen ‚Pick‘ auf Sie haben. Damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben, folgt nun eine Kurzbiographie: Dr. rer. pol. und jur. Dr. Max von Riccabona, Reichsritter zu Reichenfels und Tascherlehen, aus dem Hause der Marchesi di Pontealto. Ich schreibe dies alles, damit Sie sehen dass ich ‚ka Jud‘ bin, genau so wenig wie Sie. Es wäre mir zwar völlig wurscht, wenn ich einer wäre, rein rassisch gesehen. 9 W EISZ , Arnau, 205f. 10 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Frank_Arnau. 11 G. B., Märtyrer. 12 Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Forschungsinstituts Brenner-Archiv an der Universität Innsbruck. Die Orthographie folgt Riccabonas Original, lediglich offenkundige Schreibfehler wurden berichtigt und die Beistrichsetzung normalisiert. „Ka Jud“. Zu einem Brief von Max Riccabona 207 Ich hätte es aber bedauert, in der Nazizeit einer gewesen zu sein, weil ich dann nicht hätte die Widerstandstätigkeit entfalten bzw. den Nazi so schaden können, wie ich dies im Rahmen meiner nicht allzu bescheidenen Möglichkeiten in der Lage war. Also kurz: 53 Jahre alt, Absolvent des humanistischen Gymnasiums in Feldkirch mit gewissen gesundheitlich bedingten Unterbrechungen im alpinen Lyzeum in Zuoz und im Institut Dr. Weber-Bieli in Unterägeri, Kanton Zug, wo ich - paradox für einen Österreicher - als ‚Schweizervolk‘ bei Festspielen anlässlich der Schlacht von Morgarten mitwirkte. Dann Studium der Rechte und Staatswissenschaften in Wien, Graz, Paris, Cambridge, Salamanca und Perugia. Dann Rechtsanwalt, dann aus gesundheitlichen Gründen Pension, jetzt freier Journalist, Schriftsteller und Übersetzer (erst seit kurzem). Meine politische Vergangenheit: wollte mit 17 Jahren Nazi werden 1931, sah Hitler, fand ihn zum Kotzen, seit 1932 scharfer Gegner, Mitglied der berüchtigten Penzplatte in Innsbruck, welche die Nazi mit Nazimethoden, also mit Stahlruten und Schlagringen bekämpfte, Rudl Penz wurde 1938 sofort hingerichtet, Mitglied einer Sonderformation des Sturmkorps von Schuschnigg, ebenfalls im Spezialeinsatz gegen die Nazi, dann, weil die Luft dick war, einige Zeit in Italien und Frankreich, dann Kurier zwischen der öst. Widerstandsbewegung und den Emigrationsausschüssen in Paris, die eine Emigrationsregierung zu bilden versuchten. Dann vom Secret Service gegen den SD in Barcelona unter falschem Namen tätig. Zurück nach Vorarlberg. Dann beim Bürgerbräuattentat einige Tage in Haft unter dem ‚berechtigten Verdacht‘, Führer einer katholischen illegalen Pfadfindergruppe zu sein. Dann Wehrmacht, Westfront, dort zweimal vor dem Kriegsgericht, dann Leutnant beim Stalag XVII a Kaisersteinbruch bei Wien 1940/ 41. Dort mit dem jetzigen Staatssekretär Dr. Bobleter u. a. in einer Wehrmachtswiderstandsgruppe tätig. Unsere Tätigkeit: Repatriierung von Juden und Gaullisten der französischen Armee nach Frankreich aus diesem Kriegsgefangenenlager mit von uns mit echten Stempeln versehenen falschen Gesundheitspapieren (Inapteerklärungen), dann durch unser Service als ‚asthenischer Psychopath‘ aus der Wehrmacht avh entlassen. Wieder in der Widerstandsbewegung, war mit 26 Jahren Vorsitzender eines aus ‚Schwarzen‘ und ‚Roten‘ gebildeten geheimen Widerstandsausschusses. 29. Juni 1941 wurde ich im Zusammenhang des Putschversuches einiger österreichischer Offiziere in Salzburg verhaftet, war bis Januar 1942 in verschiedenen Untersuchungsgefängnissen, dann von da ab bis April 1945 im K. Z. Dachau. Dort nach Absolvierung von Fleckfieber entlassen. 1945/ 46/ 47/ 48 Landesvorsitzender der öst. Widerstandsbewegung, 1946 Vorsitzender der gesamten öst. Widerstandsbewegung. Rücktritt, praktizierender Anwalt, dann wegen Fleckfieberfolgen in Pension und jetzt Pensionist, Schriftsteller ect. 13 Mit der Schweiz habe ich enge verwandtschaftliche Beziehungen, vor allem mit Graubünden, stamme von den Familien Scarpatetti, Planta und vor allem Paravicini de Cappellis 14 ab. 8 Mitglieder meiner Familie waren in der Nazizeit inhaftiert. Ein Vetter, der Marchese de Pontealto und ein anderer zum Tode von den Nazi verurteilt. Sie gehörten zu den ladinisch-italienischen Partisanengrup- 13 Riccabona schreibt fast immer „ect.“ statt „etc.“. 14 Zu den Paravicini vgl. R ICCABONA , J OS , Familie, 86-90. Ulrike Längle 208 pen, von welchen die NZZ vor einiger Zeit schrieb, dass ‚sie die wildesten und grausamsten Kämpfer der ganzen europäischen Widerstandsbewegung gewesen seien und auch die schönsten Partisanenlieder gesungen hätten‘. Ferner habe ich als bewusster Ladiner und Raetoromane viel als junger Student mit Disentis u. a. Pater Maurus Carnot in Sache der ‚Romanità‘ zusammengearbeitet und existiert eine formlose Vereinigung dieser Art bestehend aus Schweizern, Österreichern, Ladinern, Italienern ect., der ich angehöre. In Dachau war ich mit Reck-Malleczewen beinander, vielleicht haben Sie meine Zuschrift im ‚Monat‘ gelesen. Ich möchte nun gerne bei Ihrer Bewegung ‚Aktion 1968‘ mitarbeiten. Allerdings möchte ich betonen: Ich bin kein Angehöriger der ‚Linken‘, sondern mehr denn je überzeugter Anhänger der parlamentarischen Demokratie, wenngleich mir Dutschke im Gesicht lieber ist als die NPD im Arsch. Ich möchte mich sogar als Konservativen bezeichnen und bereite eine journalistische Arbeit vor, die die Tätigkeit des grossen Gegners von Bismarck, Freiherrn von Biegeleben (er war mit einer Buol, einer weiten Verwandten von mir, verheiratet), sowie dessen antibismarckische Gegenkonzeption des Deutschlandproblems zum Gegenstand hat. Ich verstehe unter einem Konservativen allerdings nicht einen sturen Reaktionär, sondern folgenden Typus: Einen Skeptiker, der das Neue sorgfältigst prüft, ob es wirklich besser ist als das alte. Ich bitte Sie daher, in mir nicht etwa einen Typ wie das vierkantige Arschloch Armin Mohler, leider ein Schweizer, zu sehen, sondern einen Konservativen im Sinne von Burke und vor allem Disraeli. Es ist bedauerlich, dass es in deutschen Landen keinen echten Liberalismus, wie den Schweizer Freisinn und keine echten Konservativen, wie die schweizerischen Konservativen, letztere allerdings nur in tessinerischer Prägung (die deutsch-schweizerischen katholisch Konservativen sind leider auch furchtbar stur, wie ich bemerken konnte) gibt und müssten solche Parteien, resp. diese Geistesart heranerzogen werden. Also, um zu wiederholen, ich wäre gerne bereit, bei Ihnen mitzuarbeiten, als Redner etc. [sic] auch vor Raufereien hätte ich keine Angst. Es ist zwar dreissig Jahre her, dass ich im Judo den schwarzen Gürtel in Wien bei der Sonderausbildung beim ersten öst. Bundesheer erwarb, aber die wichtigsten Griffe und Schläge beherrsche ich immer noch, sodass ich keinesfalls vor irgendwelchem Nazigeziefer die Hosen voll haben müsste, wenns hart auf hart geht. In München bin ich mit ‚Ochsensepp‘ 15 in Verbindung, der zwar nicht gleichzeitig mit mir in Dachau war, den ich aber vor einigen Jahren in München kennen lernte, als ich Leiter der öst. Delegation beim Widerstandskongress in München war, dessen Gastgeber damals der inzwischen verstorbene Stadtrat Fackler gewesen ist. Einen amüsanten jüdischen Journalisten namens Ortenau lernte ich übrigens auch kennen. Das Raufen ist bei uns übrigens in der Familie; ich habe, darauf bin ich stolz, 4 im Interregnum Geköpfte unter meinen Vorfahren und auch einige der fanatischesten Garibaldianer. Ich könnte also auch Jugendgruppen Ihrer Organisation nicht 15 Übername von Joseph Müller (1898-1979), Abgeordneter der Bayerischen Volkspartei in der Weimarer Republik, im Dritten Reich im katholischen Widerstand und in Buchenwald und Flossenbürg interniert, nach 1945 erster Vorsitzender der CSU. Im Nachlass befinden sich vier Briefe von Müller an Riccabona und vier Riccabonas an Müller. „Ka Jud“. Zu einem Brief von Max Riccabona 209 nur politisch auf Grund meiner grossen Erfahrung (Absolvent der Konsularakademie Wien, science politique Paris ect.) in Diskussion und Information unterrichten, sondern könnte auch Raufen, Boxen ect. instruieren, was mir besonders Spass machen würde, allenfalls in einem Trainingslager? Wie ich höre, macht dies die NPD auch bereits schon. Ich stehe nämlich jetzt nach dreissig Jahren mehr denn je immer noch auf dem Standpunkt, dass [für] Nazis, Neo oder Alt ist wurscht, der Schlagring und die Faust die einzigen ‚beweiskräftigen Argumente‘ sind. Ich habe aber leider den Eindruck, dass die ‚Aktion 68‘ ausschliesslich links orientiert ist. Ich finde aber, dass jede Minderheit, die den anderen ihre Ideen mit Gewalt aufzwingen will, mit Gewalt zu bekämpften ist. Dass hingegen demokratische Allüren selbstverständlich allen gegenüber anzuwenden sind, die sie selbst anwenden. Also diskutieren mit jenen, die diskutieren wollen; aber Prügel sollen mit Prügel beantwortet werden. Was wäre der Welt erspart geblieben, wenn man 1923 beim Hitlerputsch die Ungeziefervertilgung durch Flammenwerfer bei der Feldherrnhalle rechtzeitig durchgeführt hätte, die Denkmalschäden an den Löwen wären wirklich reparierbar gewesen. Trotz meiner (wieder besser werdenden) Invalidität (ich bin von sehr robuster Konstitution, sonst wäre ich nicht unter den 4 Leuten, die von meinem seinerzeitigen Transport nach Dachau (Jänner 1942 waren es 68) übrig geblieben sind, dies ohne andere Kameraden zu schädigen bezw auf deren Kosten). Um wieder - ich bringe Kraut und Rüben durcheinander, bitte entschuldigen Sie -, auf die politischen Probleme zu kommen. Ich stehe Ihnen also zur Verfügung, wenn Ihre Bewegung alle antinazistisch gesinnten Elemente und nicht nur die extreme Linke umfassen soll. Mit meinen schriftstellerischen Problemen möchte ich Sie dz. noch nicht behelligen, ich habe mit diesen Ausführungen Ihre Zeit genug in Anspruch genommen. Ein Echo würde mich freuen Mit besonderer Wertschätzung Ihr sehr ergebener P. S. Ich bitte Sie die formalen und inhaltlichen Mängel dieser Epistel gütigst entschuldigen zu wollen; ich war bisher immer gewöhnt zu diktieren.“ 16 In seiner Antwort vom 5. Juni 1968 schreibt Arnau, dass er Riccabonas Brief an den Generalsekretär Kurt Hirsch weitergeleitet habe. Er sieht große Schwierigkeiten darin, dass die „Aktion 68“ örtlich gebunden sei und Riccabona in Österreich kaum Möglichkeiten zur Mitarbeit haben werde. 17 In einem weiteren Brief vom 7. Juni 1968 vertritt Riccabona die Ansicht, dass es in Österreich doch Möglichkeiten gäbe und kündigt an, sich mit Dr. Hirsch darüber auseinanderzusetzen. 18 Im Nachlass gibt es jedoch keinen Durchschlag eines Briefs an Hirsch noch eine Antwort von ihm; die Korrespondenz bricht ab. 16 R ICCABONA , Brief an Arnau, 18.5.1968. 17 A RNAU , Brief an Riccabona, 5.6.1968. 18 R ICCABONA , Brief an Arnau, 7.6.1968. Ulrike Längle 210 Riccabonas Brief wirkt zuerst einmal für sich als großartiges Stück grobianischer Literatur und als interessante politische Stellungnahme eines aufgeschlossenen konservativen Demokraten. Riccabona gibt sich hier ausgesprochen martialisch. Er wirft mit Kraftausdrücken um sich. Der drastische Humor und die satirischen Anklänge an den Kanzleistil („Nach Absolvierung von Fleckfieber entlassen“) finden sich auch in seinem literarischen Werk. Der amerikanische Germanist David Bronsen, Verfasser der ersten großen Joseph-Roth-Biographie, charakterisiert Riccabonas Briefstil in einem Brief von 10. Dezember 1977 folgendermaßen: „Lieber, sehr verehrter Herr DDr. Riccabona! Jeder Brief von Ihnen ist ein Ereignis. Immer sind sie ereignisreich, skurril, haben etwas vom ‚Gaul 19 im Rosennetz‘ an sich und sprechen implicite von Gemütlichkeit und Umständlichkeit. D. h., Sie sind ein Original, was Ihnen bestimmt keiner abstreiten würde.“ 20 Riccabona ist jedoch weit mehr als ein Original. 3. „Ka Jud“ - Zur Biographie von Max Riccabona Wenn man versucht, einzelne biographische Aussagen in diesem Brief zu überprüfen, stößt man bald an Grenzen. Geboren wurde Riccabona 1915 in ein sehr wohlhabendes, liberales und musisches Feldkircher Elternhaus, das Kontakte mit Intellektuellen, Musikern und bildenden Künstlern aus Vorarlberg, der Schweiz und Süddeutschland pflegte. Der Vater Dr. Gottfried Riccabona war Rechtsanwalt und selbst Schriftsteller - sein Stück „Philippine Welser“, im Selbstverlag erschienen, wurde 1914 vom Augsburger Stadttheater zur Aufführung angenommen, wegen des Kriegsausbruchs kam es aber nicht dazu. Er stammte aus dem Welschtiroler Adelsgeschlecht derer von Riccabona zu Reichenfels, allerdings aus einer Seitenlinie, die wegen einer unehelichen Geburt nicht mehr berechtigt war, das Adelsprädikat „von“ im Namen zu führen. 21 Max Riccabona hat das nie angefochten, er nannte sich zeitlebens gerne Max von Riccabona. Der imposante Adelsstammbaum war ein wichtiger Teil seiner Identität. Die Mutter Anna entstammte der aus Prag zugezogenen jüdischen Kaufmannsfamilie Perlhefter; bereits ihre Eltern waren katholisch getauft gewesen. Über sich und seine Eltern schreibt Riccabona in dem autobiographischen Essay „Ich wurde. Gehversuche zu mir selbst“, der sich wie ein Schelmenroman in Kurzform liest: „Astrologisch Widder mit starken Jupitereinflüssen und einem Wassermannaspekt behaftet, machen sich die Einflüsse des Göttervaters durch eine leider etwas zu starke Neigung zum Embonpoint, der Wassermannimpuls durch eine gewisse Neigung zur Scharlatanerie bemerkbar. Meine Mutter war nüchtern, unpathetisch, daher eine ganz gute Bachspielerin, und im Gegensatz zum Vater, der, ein 19 Hinweis auf Fritz von Herzmanovsky-Orlandos (1877-1954) skurril-österreichischen Roman „Der Gaulschreck im Rosennetz. Eine Wiener Schnurre aus dem modernen Barock“, erstmals im A. Wolf-Verlag, Wien, 1928 erschienen. 20 B RONSEN , Brief an Riccabona, 10.12.1977. 21 R ICCABONA , J OS , Familie, 233. „Ka Jud“. Zu einem Brief von Max Riccabona 211 großer Kenner von Literatur und Musik, in Fragen der bildenden Kunst den Geschmack einer Wildsau hatte, auch diesbezüglich mit einem ungemein entwickelten Spürsinn für Qualität versehen. Sie war eine der ersten, die den inzwischen zu großem Ruhm gelangten Vorarlberger Maler Rudolf Wacker förderte.“ 22 Hier, wie auch sonst an keiner Stelle, erwähnt Riccabona nicht, dass die Ahnen seiner Mutter Juden waren. Riccabonas Angabe über den Aufenthalt im alpinen Lyzeum in Zuoz konnte nicht verifiziert werden. Laut Auskunft des Alpinen Lyzeums in Zuoz ist Max Riccabona auf „keiner Schülerliste der Jahrgänge 1925 bis 1933 [zu] finden“, 23 allerdings gab es damals ein weiteres Internat in Zuoz, das vor Ende des Zweiten Weltkrieges aufgelöst wurde; von dem sind jedoch keine Dokumente erhalten. 24 Auch die kurzzeitige Arretierung nach dem Bürgerbräuattentat (8. November 1939) lässt sich bis jetzt nicht nachweisen, da weder im Landesgericht noch in der Justizvollzugsanstalt Feldkirch Aktenunterlagen über diese Zeit vorhanden sind. 25 Das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, bei dem er als Sohn aus gutem Hause stets mit einem reichlichen Wechsel versehen war, absolvierte Riccabona vor dem Krieg in Graz und Wien; dass er auch ein Semester in Innsbruck studierte, war der Forschung bisher entgangen. 26 In dieses Sommersemester 1936 muss auch die im Brief an Arnau erwähnte Rauftätigkeit bei der sogenannten „Penz-Platte“ fallen. Dabei handelt es sich um eine Teilorganisation der Heimwehr Tirol, eines „1920 in Innsbruck gegründete[n] bürgerliche[n] Wehrverband[es], der zwar der christlich-sozialen Volkspartei nahe stand, aber neben katholisch-konservativen auch deutschnationale Elemente in sich vereinte“ 27 und Sozialisten, Kommunisten und Nationalsozialisten heftig und mit brachialen Mitteln bekämpfte: „Berüchtigt war die ‚Gausturmkompanie Hötting‘ der Brüder Penz (‚Penz-Platte‘), die dem Vorbild der italienischen Faschisten entsprechend öffentliche ‚Rizinusöl-Kuren‘ bei ihren Widersachern durchführte.“ 28 Ob Riccabona tatsächlich Kontakte zur Penz-Platte hatte, konnte ich bis jetzt nicht nachweisen. Professor Thomas Albrich von der Universität Innsbruck, Spezialist für die NS-Zeit, schätzt Riccabonas Angaben folgendermaßen ein: „Penz wurde nicht hingerichtet. Er wurde nach dem ‚Anschluss‘ verhaftet, kam dann ungef. 1940 ins KZ Mauthausen und überlebte! Für mich 22 R ICCABONA , Ich wurde, 141. 23 E-Mail an die Verfasserin von Gerlinde Haas, Sekretariat des Alpinen Lyzeums Zuoz, vom 11.9.2012, der ich für ihre Hilfe danke. 24 Ebd. 25 E-Mail von Regierungsrat Reinhard Huber an die Verfasserin vom 18.9.2012 (Landesgericht Feldkirch) und Mail von Mario Leiter an die Verfasserin vom 2.10.2013 (Justizvollzugsanstalt Feldkirch). Das Gefangenenbuch der Justizanstalt für 1939, in dem Riccabona eingetragen sein müsste, ist derzeit nicht auffindbar. In den Akten des Landesgerichtes im Vorarlberger Landesarchiv wurde bisher noch kein Eintrag über Max Riccabona entdeckt. Für ihre Hilfe danke ich Cornelia Albertani vom Vorarlberger Landesarchiv. 26 Vgl. P ICHLER , Diplomat und die biographischen Angaben zu Riccabona auf der Homepage des Brenner-Archivs. 27 http: / / www.tirolmultimedial.at/ tmm/ glossar/ data/ tiroler_heimatwehr.html. 28 Ebd. Ulrike Längle 212 klingt diese Passage nicht sehr glaubwürdig (weil Riccabona nicht einmal das Schicksal des Chefs der ‚Penz-Platte‘ kennt). Der Rest ist Allgemeinwissen der Zeit, wobei mir zwischen 1936 und 1938 die Penz-Platte nicht mehr untergekommen ist.“ 29 Das spricht gegen Riccabonas Zuverlässigkeit als Zeitzeugen; ein Beweis, dass er an solchen Aktionen nicht teilgenommen hat, ist es jedoch nicht. Seine Promotion zum Doktor der Rechte erfolgte erst 1946 in Innsbruck, da er 1940 zum deutschen Heer einberufen wurde. Schon bei der Wahl des Studienortes Graz war seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus ein Motiv: Er trat der Verbindung „Traungau“ im CV bei, dem katholisch-konservativen österreichischen Cartellverband, weil diese Verbindung sich „die schärfsten Raufereien gegen die Nazis lieferte“. 30 Die in dem Brief erwähnten Studienaufenthalte in verschiedenen europäischen Ländern, die „faustische Herumstudiererei“, 31 wie er es auch nannte, wurde bis jetzt noch nicht biographisch überprüft, Faktum ist aber die Absolvierung der Konsularakademie in Wien, wo die Diplomaten der Republik Österreich ausgebildet wurden. Riccabona schloss die Ausbildung 1938 mit dem Titel eines Diplomkonsuls ab. Seinen damaligen Lebensstil hat er in den „K.Z.-Memoiren“, wie er seine Erinnerungen gerne zu nennen pflegte, so beschrieben: „mein leben verlief damals so, wie dasjenige eines sohnes aus guter und wohlhabender familie in so einem milieu normaler weise verläuft.“ 32 Der Historiker Meinrad Pichler schreibt dazu: „Seine noble Herkunft, seine Jugend als Sohn aus gutem Hause und seine trotz der Zeitläufe recht unbeschwerte, weil finanziell abgesicherte und gesellschaftlich auf hohem Level integrierte Studienzeit verhießen Aussichten, die das spätere Leben mit seinen ‚schicksalseinbrüche[n]‘ nicht einzulösen imstande war. Um aber diesen Vorkriegsstatus halten zu können, war es bereits notwendig, die jüdische Herkunft seiner Mutter zumindest nicht ins Spiel zu bringen; eine Haltung, die bald lebensrettend werden sollte.“ 33 Mit der „Normalität“ war es mit dem Einbruch des Nationalsozialismus endgültig vorbei, sodass Riccabona in den KZ-Erinnerungen schrieb: „hoffnungen entgegen zog mein lebensschiff seine bahnen, von denen nicht die geringste in erfüllung ging“. 34 Er engagierte sich im monarchistischen österreichischen Widerstand, der sich schon vor dem Anschluss um den im Exil lebenden Kaiserenkel Otto von Habsburg scharte und der darauf hinarbeitete, dass Otto von Habsburg österreichischer Bundeskanzler werden sollte, um Hitler entschlossenen Widerstand zu leisten. In den Jahren 1938 und 1939, während seines Studiums an der Konsularakademie und eines Aufenthaltes in Paris, fungierte Riccabona als Verbindungsmann zwischen zwei monarchistischen Widerstandsgruppen: „In Wien bewegte er sich in einem großteils adeligen Zirkel um Wilhelm von Taxis (†2004), Felix von Czernin (1902- 1968), Nikolaus von Maasburg (1903-1965), Erich von Thanner, Geza von Muka- 29 E-Mail von Prof. Thomas Albrich an die Verfasserin vom 27.11.2012, dem ich für seine Hilfe danke. 30 M EUSBURGER , Spinnennetz, 23. 31 R ICCABONA , Ich wurde, 145. 32 D ERS ., Nebengeleise, 84. 33 P ICHLER , Diplomat, 32. 34 R ICCABONA , Nebengeleise, 68. „Ka Jud“. Zu einem Brief von Max Riccabona 213 rovsky und Otto Eiselsberg […] In Paris verkehrte er in der Gruppe um Dr. Martin Fuchs (1903-1969), der ebenfalls die Konsularakademie absolviert hatte und von 1927 bis 1935 und dann wieder ab 1937 an der österreichischen Botschaft in Paris als Pressemann wirkte. Er war der Kopf der österreichisch monarchistischen Diaspora in Paris; er war es, der nach dem ‚Anschluß‘ im Auftrag Otto v. Habsburgs mit den Vertretern der Flüchtlinge aus dem linken politischen Spektrum über die Bildung einer österreichischen Exilregierung verhandelte.“ 35 Riccabona wäre nach seiner eigenen Aussage zum Vizeaußenminister einer solchen Exilregierung bestimmt gewesen. Fuchs führte ihn auch bei dem Schriftsteller Joseph Roth ein, der damals im Café Tournon Hof hielt und der Mittelpunkt eines Zirkels von monarchistischen Emigranten war. Die meisten Roth-Forscher, besonders Bronsen, sehen in Roths Monarchismus einen durch Alkoholismus bedingten Rückfall in den habsburgischen Mythos. Riccabona vertritt in diesem Punkt eine völlig andere Ansicht. In einer Rezension von Bronsens Roth-Biographie schreibt er: „Roth war der Ansicht, es habe sich erwiesen, daß die Mehrheit der Bevölkerung nicht rational denke, sondern ständig irrational gefaselten Idolatrien (so wörtlich), also Massenpsychosen, zum Opfer falle. In diesem Zusammenhang verwies mich Roth damals auf das Werk Gustave Lebons, ‚La Psychologie des Masses‘. Dies mache, so Roth weiter, einen Katalysator erforderlich, eine irgendwie dem Tabuisierungsbedürfnis der Menschen entsprechende Persönlichkeit, welche bewirken könne, daß diese Irrationalismen nicht in Unmenschlichkeit ausarten. Und hier setzte der Legitimismus Roths ein. Anders formuliert: aus der damaligen historischen Sicht war es für Roth unter den vorerwähnten Aspekten nur natürlich, in einem Sproß des Hauses Habsburg, im Hinblick auf die positiven Erfahrungen, welche die Juden der k. u. k. Monarchie insbesondere mit den Kaisern Franz Joseph und Karl gemacht hatten, den am ehesten geeigneten Träger einer Gegenposition gegen die Nazibarbarei zu erblicken. Unter umgekehrtem Blickwinkel war übrigens die Gestapo Hitlers der gleichen Ansicht, wie ich während meiner Haft und bei meinem Verhören feststellen konnte.“ 36 Über diese Bekanntschaft mit Roth bis zu dessen Tod hat Riccabona in Artikeln in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und im „St. Galler Tagblatt“ Auskunft gegeben. Er war anwesend, als Joseph Roth zusammenbrach und anschließend ins Spital eingeliefert wurde; wie er mir und anderen mündlich erzählte und auch in einem Brief an Helmut Zilk erwähnte, hat er ihm bei dieser Gelegenheit die Nottaufe gespendet, da Roth, der behauptet hatte, katholisch zu sein, ihm gestanden habe, er sei gar nicht getauft. Auch an Roths Begräbnis nahm Riccabona teil. Die Bekanntschaft der beiden Männer wird durch das Zeugnis Soma Morgensterns in seinen Erinnerungen an Joseph Roth bestätigt. 37 Die Begegnung mit Roth hat Riccabona tief beeindruckt und geprägt: In seinen späteren Jahren in Vorarlberg hat Riccabona selbst im Kaffeehaus geschrieben und seine meist jüngeren Zuhörer mit 35 P ICHLER , Diplomat, 34. 36 R ICCABONA , Mythomane. 37 M ORGENSTERN , Flucht, 270-273. Ulrike Längle 214 Anekdoten unterhalten. Als materielles Erbe hat Roth seinem jungen Verehrer einen Offiziersring des 21er Infanterieregiments in Wien geschenkt, den Riccabona später der Roth-Forscherin Ingeborg Sültemeyer weitergegeben hat. 38 Fuchs musste nach dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1940 nach Amerika fliehen. Unter den zurückgelassenen Papieren, die die Gestapo gefunden hat, fanden sich auch solche, die Max Riccabona belasteten; zusätzlich soll ihn noch ein Bekannter aus dem Wiener Kreis in einem Verhör verraten haben. Riccabona war 1940 zur deutschen Wehrmacht eingezogen worden, zuerst an der Westfront eingesetzt, dann im Kriegsgefangenenlager Stalag XVII A in Kaisersteinbruch, wie er es in dem Brief an Arnau erwähnt. Es ist mir geglückt, eine Bestätigung für die Widerstandsaktionen zur Rettung französischer Kriegsgefangener zu finden, die Riccabona im Brief an Arnau und auch andernorts erwähnt hat. Im Nachlass hat sich der Durchschlag eines 13-seitigen maschinenschriftlichen „Memorandum[s] über den Widerstand österreichischer Akademiker als Dolmetschoffiziere des STALAG XVII A in Kaisersteinbruch (Burgenland) vom Mai 1940 bis Mai 1945. Wien, 1947“ erhalten, in dem über die Aktionen einer Widerstandsgruppe von sechs Personen berichtet wird, zu denen auch Max Riccabona zählt. 39 Es ist dies das erste mir bekannte Dokument über Riccabonas tatsächliche Widerstandstätigkeit. Es ist umso wertvoller, als an der Glaubwürdigkeit Riccabonas gerade in letzter Zeit Zweifel aufgekommen sind. 40 Riccabona wurde am 31. Mai 1941 in Wien verhaftet, ins Polizeigefängnis Salzburg überstellt und am 16. Jänner 1942 als politischer Häftling nach Dachau eingeliefert. Als ich 1995 die Erinnerungen von Max Riccabona herausgegeben habe, wusste man nur aus Riccabonas eigenem Mund, dass er dort als Pfefferminzpflücker, Hilfsschreiber und Krankenpfleger eingesetzt und dass es der Familie durch Bestechung gelungen war, sein Los zu erleichtern: Er durfte zweimal nach Feldkirch reisen und wurde Vorzugshäftling, was ihm das Privileg eintrug, nicht mehr geschoren zu werden, eigene Wäsche zu erhalten und mehr Pakete zu bekommen. Er kam in Kontakt mit politischen Häftlingen, wie Leopold Figl, dem späteren ersten österreichischen ÖVP-Bundeskanzler nach 1945 und Unterzeichner des österreichischen Staatsvertrags 1955, Viktor Matejka, dem späteren kommunistischen Wiener Stadtrat und Nico Rost, dem niederländischen Schriftsteller, der ihn in seinen KZ-Erinnerungen erwähnt. Auch beteiligte er sich an weiteren Widerstandsaktionen. Kurz vor Kriegsende infizierte er sich mit dem unter Lagerbedingungen zu 90 Prozent tödlichen Flecktyphus, der bei ihm erst nach der Befreiung ausbrach und an dessen gesundheitlichen Folgen er lebenslänglich litt. Erst seit der Nachlass zugänglich ist und seit dem Tagungsband von 2006 weiß man mehr über Riccabonas Haftbedingungen. Die Ehe von Riccabonas Eltern galt 38 R ICCABONA , Brief an Sültemeyer. 39 N.N., Memorandum, 3. 40 Der Wiener Germanist Andreas Weigel hat nachzuweisen versucht, dass das von Max Riccabona behauptete Treffen mit James Joyce 1932 in einem Feldkircher Lokal unmöglich habe stattfinden können, weil Riccabona damals als Patient in einem Lungensanatorium in Davos lebte (W EIGEL , James Joyce). Vgl. dazu meine Einwände gegen Weigel (L ÄNGLE , Onkel). „Ka Jud“. Zu einem Brief von Max Riccabona 215 seit 1938 in der NS-Diktion als Mischehe, da Riccabonas Mutter und ihr Bruder Max Perlhefter, ein erfolgreicher Kaufmann, fortan als Juden galten, obwohl sie getauft und völlig assimiliert waren. Der Historiker Werner Dreier hat die Verfolgung der Familien Riccabona und Perlhefter während der NS-Zeit untersucht und festgestellt, dass Riccabona in Dachau dem berüchtigten SS-Arzt Dr. Sigmund Rascher zugeteilt war. Was er dort genau erlebt hat, ist nicht mehr rekonstruierbar. Dreier schreibt: „Wir wissen nicht, wie nahe der Häftling Max Riccabona bei den medizinischen Versuchen und den damit verbundenen Verbrechen war, auch nicht, wie lange. Schon gar nicht wissen wir, was er tat oder nicht tat. Wir wissen allerdings, unter welch schrecklichen Umständen er im KZ Dachau existierte und mit wem er zusammen war. Das lässt darauf schließen, dass er in Dachau furchtbare Dinge sah oder tat und geschehen lassen musste, dass er dabei war oder davon wusste - und dass er immer am Leben bedroht war“, 41 vor allem, weil er in der Nazi-Zeit als Halbjude galt und ihm ständig der Abtransport nach Auschwitz drohte. Etwas mehr hätte man aber doch wissen können. In einem weiter nicht identifizierten Entwurf zu einem Vortragstyposkript im Nachlass äußert sich Riccabona zum Beispiel über die Gründe, warum er manche Dinge, die er im KZ erlebt hat, nicht zur Sprache bringen wollte: „Die über die Konzentrationslager veröffentlich[t]en Arbeiten sind teils gut teils schlecht, teils tiefschürfend teils seicht aber eine grundsätzliche Feststellung muss getroffen werden; ich habe bisher noch keine einzige Brochüre oder Veröffentlichung gelesen, die irgend wie die tatsächlichen Vorkommnisse aufgebauscht oder übertrieben hätte. Alles was bisher behauptet wurde entspricht der Wirklichkeit, es gibt in manchen Dingen von dem satanischen Sadismus der nazistischen Henkersknechte nur ein schwaches Bild. Und meine Damen und Herren ich kann Ihnen ehrenwörtlich versichern, dass Dinge vorgekommen sind die ich mit eigenen Augen gesehen habe, die zwar den Geheimdiensten der alliierten Länder bekannt sind, die mir jedoch der primitivste Anstand verbietet, Ihnen zu schildern in der abgrundtiefen Scheusslichkeit ihrer Art. Sie bilden eine Bereicherung der wissenschaftlichen Erfahrung von Irrenärzten und einen Beitrag besonderer Art für die Kriminalistik und nicht zuletzt ein Dokument der Kultur jenes deutschen Wesens, von dem gesagt wird, dass daran die Welt genesen soll. Denn es waren Deutsche und nichts als Deutsche die in Sadismus Grausamkeit und Gemeinheit die unbestrittene Rekordleistung menschlichen Tiefstandes erreicht haben“. 42 Riccabona wollte ursprünglich auch seine Erfahrungen aus dem KZ weitergeben. Wie Doris Eibl 43 dargestellt hat, übersetzte er das Buch des französischen Journalisten Christian Bernadac, „Les médecins maudits. Les experiences médicales humaines dans les camps de concentration“, das 1967 in Paris erschienen war und in dem es um die medizinischen Experimente in den Konzentrationslagern geht, und bemühte sich intensiv, aber vergeblich um eine Publikation; das Buch ist bis heute nicht auf Deutsch erschienen. Riccabona fielen die zahlreichen Ungenauigkeiten 41 D REIER , K.Z, 48. 42 R ICCABONA , Vortragstyposkript. 43 E IBL ,Verletzte Sprache, 176-178. Ulrike Längle 216 Bernadacs auf, vor allem bemängelte er die Darstellung des Arztes Dr. Rascher. In einem Anhang wollte er seine eigenen Beobachtungen und Reflexionen einbringen, wie er im zweiten Brief an Frank Arnau schreibt: „Ich selbst war drei jahrelang [sic] zuerst als Leichenträger, dann als sogenannter Protokollschreiber auf der berüchtigten Station Dr. Rascher auf dem Block 5 in Dachau tätig. […] Ich werde daher in einem Nachtrag die Ausführungen Bernadacs entsprechend mit Mitteilungen meiner eigenen Beobachtungen und Reflexionen auf dem ‚Kriegsschauplatz‘ entsprechend [sic] mit einem Nachwort ergänzen.“ 44 An den Psychiater Prof. Paul Matussek, der 1971 ein Buch „Die Konzentrationslagerhaft und ihre Folgen“ herausbrachte, schrieb er am 2. Dezember 1969 nach der Lektüre eines Artikels von Matussek im „Bild der Wissenschaft“ über seine Tätigkeit als Leichenträger und Protokollant bei „den berüchtigten Versuchen des Dr. Sigmund Rascher, mit welchem ich geradezu grotesk abenteuerliche Erlebnisse hatte,“ 45 und erbot sich, Berichte über seine KZ-Zeit zu schicken: „Ich verfüge über ein, wie meine Bekannten sagen, geradezu phänomenales Gedächtnis und habe mich völlig unsentimental, während meines ganzen K.Z. Aufenthaltes gewissermassen wie einen Bazillus unter dem Mikroskop beobachtet. Ich hatte auch mit den Mithäftlingen oft grosse Schwierigkeiten, weil ich den günstigen Parolen nie glaubte, sondern völlig kalt, fast unbeteiligt auch dort immer die Lage analysierte.“ 46 Im Nachlass ist keine Antwort von Matussek erhalten. Mangelndes Interesse der Mitwelt ist vielleicht mit ein Grund, warum Riccabonas schließlich erst 1995 publizierte KZ-Erinnerungen Fragment geblieben sind. Riccabona erzählte immer wieder, er habe sich einen jungen Schriftsteller gewünscht, der ihm Fragen gestellt hätte, auf die er dann hätte antworten können. In den sechziger Jahren war das politische Klima aber noch nicht reif dafür; so schreibt Riccabona selbst am 9. Oktober 1968 an Bernadac, dass die Menschen „noch nicht bereit [seien], sich mit dem dunklen Kapitel der medizinischen Experimente in den Lagern zu konfrontieren, und […] wohl mehr Interesse für die heroischen Taten jener Ärzte aufbringen [würden], die gegen das System arbeiteten.“ 47 Wie er auch an Arnau schreibt, war Riccabona nach dem Krieg kurzzeitig als Vorsitzender der Österreichischen Widerstandsbewegung in Vorarlberg und zeitweise der gesamtösterreichischen Bewegung politisch aktiv; er zog sich aber bald aus der Politik zurück, promovierte 1949 in Innsbruck und arbeitete fortan mehr oder weniger pro forma in der Rechtsanwaltskanzlei seines Vaters in Feldkirch. 1961 erschienen erstmals Gedichte von Riccabona in der Literaturzeitschrift „eröffnungen“. Der Vater, der ihm immer den Rücken gestärkt und ihn finanziell unterstützt hatte, starb 1964. Bald darauf musste Max Riccabona als Spätfolge der Fleckfiebererkrankung seine Rechtsanwaltstätigkeit aufgeben, wurde teilentmündigt und lebte von da 44 R ICCABONA , Brief an Arnau, 7.6.1968. 45 R ICCABONA , Brief an Matussek, 2.12.1969. 46 Ebd. 47 E IBL , Verletzte Sprache, 178. „Ka Jud“. Zu einem Brief von Max Riccabona 217 an als Pensionär im Jesuheim, einem von geistlichen Schwestern geführten Pflegeheim in Oberlochau bei Bregenz. 48 Pichler sieht in diesem existentiellen Bruch mit der neuerlichen, allerdings viel freundlicheren Internierung die entscheidende Wende in Riccabonas Leben „vom angehenden Diplomaten zum ausschweifenden Literaten“, wie er es nennt: Von da an inszenierte Riccabona sich als Kunstfigur: „Jetzt erst wurde Riccabona zum radikalen Künstler, jetzt erst konnte der Dr. Halbgreyffer zupacken und seine ‚Halbbildungsinfektion‘ produktiv werden lassen. Jetzt erst konnte er seine Maskenspiele veranstalten, seine bübische Freunde am Bizarren und Provokativen ohne gesellschaftliche Konsequenzen ausleben und seine Person vor jungem Publikum ironisieren und mystifizieren. Dazu waren auch die Trümmer aus der upperklassigen Vorkriegsexistenz verwertbar, die so fern und damit historisch waren, wie sie den unbedarften Zuhörern im Bregenzer Cafe Neptun unverständlich und damit absurd erschienen.“ 49 Die wesentlichen Komponenten dieser Kunstfigur waren die adelige Herkunft, die Bekanntschaft mit Größen der Weltliteratur - neben Joseph Roth auch James Joyce und Ezra Pound - und die geheimnisumwitterte Widerstandstätigkeit zur Zeit des Nationalsozialismus samt KZ-Haft. Keine Komponente war Max Riccabonas ihm von den Nationalsozialisten zwangsweise aufoktroyiertes Judentum. Meines Wissens hat er sich weder mir noch anderen Bekannten gegenüber jemals dazu geäußert. Dreier schreibt dazu: „War sich Max Riccabona des jüdischen Erbes bewusst? Die Bedrückung und Verfolgung seiner Familie kann ihm jedenfalls nicht entgangen sein - einmal berichtet ihm sein Vater sehr vorsichtig in Briefen nach Dachau davon, dann hat er wohl das Ringen um angemessene Restitution nach 1945 aus nächster Nähe mitbekommen. Und doch ist mir nicht geläufig, dass er sich später dazu geäußert hätte. Im Dezember 1940 jedenfalls war Max Riccabona vermutlich aus der Wehrmacht entlassen worden, weil er als ‚Halbjude‘ nicht ‚wehrwürdig‘ war.“ 50 Selbst in einem Brief an den Wiener Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg, den Riccabona kritisiert, weil er Trachtenträger und Jodler automatisch mit der FPÖ identifiziert hatte, während Riccabona ihm klarmachen will, dass er selbst, ebenfalls Trachtenträger und Jodler, Juden im Stalag Kaisersteinbruch das Leben gerettet hat (was Dreier in Unkenntnis des oben erwähnten Dokumentes im Nachlass bezweifelt), deklariert Riccabona sich zwar als Monarchist, Widerstandskämpfer und Dachau-Häftling, erwähnt aber die jüdische Komponente seiner Familie und die erlittene Verfolgung mit keiner Silbe. 51 Über die Gründe für dieses Verschweigen und ob er es bewusst oder unbewusst getan hat, kann man nur Vermutungen anstellen. Der Brief an Arnau kann einen Hinweis auf den Konflikt geben, der dieser Verdrängung zugrunde liegen könnte. 48 Näheres zu Riccabonas Stellung im Literaturleben Vorarlbergs bei L ÄNGLE , Erratischer Block. 49 P ICHLER , Diplomat, 33. 50 D REIER , KZ, 44. 51 R ICCABONA , Brief an Eisenberg. Ulrike Längle 218 Riccabona bezeichnet sich zuerst umgangssprachlich als „ka Jud“, fügt aber noch eigens hinzu: „Es wäre mir zwar völlig wurscht, wenn ich einer wäre, rein rassisch gesehen. Ich hätte es aber bedauert, in der Nazizeit einer gewesen zu sein, weil ich dann nicht hätte die Widerstandstätigkeit entfalten bzw. den Nazi so schaden können, wie ich dies im Rahmen meiner nicht allzu bescheidenen Möglichkeiten in der Lage war.“ Rein rassisch gesehen war Riccabona nach Nazikriterien ein Halbjude, das muss er zumindest seit den vierziger Jahren auch gewusst haben. Die Stilisierung zum erfolgreichen, auch körperlich besonders kräftigen und durch rauflustige und widerstandsfähige adelige Vorfahren noch mehr beglaubigten Widerstandskämpfer war ihm offenbar nach der fast völligen Ausschaltung der eigenen Persönlichkeit unter den Bedingungen des KZ so überlebensnotwendig, dass er den jüdischen Teil seiner Herkunft verdrängt hat. Außerdem hätte das Jüdische einen Widerspruch zum Aristokratischen gebildet. Vielleicht hat Riccabona es auch abgelehnt, dass ihm von den Nazis, die er zutiefst verabscheute, eine neue Identität aufgezwungen werden sollte, von der er seine ganze Kindheit und Jugend hindurch wahrscheinlich überhaupt nichts gewusst hat. Er wurde als politischer Häftling nach Dachau eingeliefert; Antriebe seines Handelns waren der monarchistische und katholische Widerstand gegen Hitler und nicht eine nun plötzlich vorhanden sein sollende „jüdische“ Identität. 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Erinnerungen aus Bayerisch-Schwaben In unterschiedlichen Fragestellungen wurden in den letzten Jahren in Bayerisch- Schwaben Erinnerungsberichte und Autobiographien zur Darstellung der NS-Zeit und der Nachkriegszeit untersucht, wobei dichtere Zeugnisse erst ab den späten 1980er Jahren erschienen. 1 Claudia Schwartz hat in diesem Zusammenhang bei ihrer Besprechung von Zeitzeugenberichten auf ein „seltsames Paradox“ hingewiesen: „Jetzt, da die Generation der Zeitzeugen allmählich ausstirbt, kann man erzählen, wie es eigentlich gewesen ist.“ 2 Zumindest sind die Autoren 3 nun in einem hohen Alter, außerhalb der Verpflichtungen des Berufslebens und innerlich frei, so zu berichten, wie sie diese Zeit erlebt haben und wie sie wollen, dass ihre Kinder und Enkel und die Nachwelt ihre Sicht der Dinge wahrnimmt. Natürlich sind diese Zeugnisse quellenkritisch zu lesen und die Aspekte der Rechtfertigung, Selbstdarstellung und der Auslassungen sind zu berücksichtigen, doch zeigen viele sehr anschauliche Beschreibungen und eine emotionale Nähe den Willen nach Wahrheit und zugleich die Suche nach Verstehen. Nach dem Stand der Forschung boten sich die vier Autoren für den Untersuchungsraum Bayerisch-Schwaben an, da sie sehr detailliert, umfangreich und anschaulich über ihr Leben berichteten bzw. - wie das Beispiel von Mayr zeigt - anekdotisch, ohne analytischen Zugriff die Zeit behandelten und die nationalsozialistische Dimension eher zwischen den Zeilen steht, als dass sie direkt angesprochen wird. Bei anderen Autoren begegnen kaum Hinweise auf jüdische Begegnungen. 4 Im hohen Alter von 70 und mehr Jahren sich noch einmal auf die mühevolle Suche nach der Vergangenheit zu machen, zu recherchieren, zu forschen, Details nachzugehen, macht man wohl nur, wenn es einem ein dringendes und wichtiges Anliegen ist, gegen Ende des Lebens die Erlebnisse und Erfahrungen, auch die Schrecken der damaligen Zeit, offen und, wie betont wird, „wahrheitsgemäß“ darzu- 1 F ASSL , Das Kriegsende. Hier besonders: K ALESSE , Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen, 245-262; G OTTO , Die Erfindung eines „anständigen Nationalsozialismus“, 263-284; F ASSL , Erinnerungen und Berichte, 299-314; F ASSL , Die NS-Zeit in Ortsgeschichten. 2 „Wieder so schrecklich lebendig.“ Zwei Bücher blicken auf Deutschland im Jahr 1945, in: Neue Zürcher Zeitung, IA, Nr. 39 vom 16.2.2005, 36. 3 G RÜNBAUER , Das Dorf meiner Jugendzeit; H ILLER , Lange vorbei, aber doch nicht fern; W OLF , Der Funke Ewigkeit; M AYR , Blick durch den Zaun. 4 Vgl. F ASSL , Erinnerungen und Berichte. Peter Fassl 224 stellen, zumal alle hier behandelten Autoren in der NS-Zeit noch jung waren oder, soweit wir dies aus den Lebensbeschreibungen von Wolf und Hiller erkennen können, unbelastet waren. Um so interessanter bleibt die Frage, welche Wahrheit hier gemeint ist, die Frage nach der Verdrängung, der Ausblendung und Überarbeitung von Erinnerungen, die hier am Beispiel der Erinnerung bzw. Nichterinnerung an Juden und der Wahrnehmung von Juden in der NS-Zeit untersucht werden soll. 2. Zum Stand der Forschung Zu den Zeitzeugenberichten, Erlebnisberichten, innerfamiliären Traditionen und Autobiographien zur NS-Zeit liegt eine intensive Forschung vor, die bis in die Gegenwart reicht und ganz grundsätzlich danach fragt, wie und in welcher Weise an den Holocaust erinnert wird. 5 Dem kollektiven Gedächtnis des Holocaust als einem unvergleichbaren Verbrechen, an dessen Vorbereitung, Organisation, Beteiligung und Durchführung die historische Forschung immer weitere Kreise der Bevölkerung namhaft gemacht hat, steht in den Erinnerungsberichten ein Selbstbild der Zeitzeugen und Autoren gegenüber, die sich fast ausschließlich als Opfer beschreiben. Das Schweigen über das eigene Leid, die Verluste und die Traumatisierung in der Nachkriegszeit, als die Monumentalität der Verbrechen jede andere Wahrnehmung zurücktreten ließ 6 , änderte sich in den 1980er Jahren: „Denn nicht nur rücken die Deutschen der ‚ersten Generation‘ in der Wahrnehmung ihrer Kinder dorthin zurück, wo sie sich selbst am Ende der Hitler-Zeit gesehen hatten, nämlich an der Seite oder gar an der Stelle der Opfer des Nationalsozialismus, darüber hinaus erheischt die ‚zweite Generation‘ - für sich selbst und für ihr Bild von ihren Eltern - die Anerkennung der eigenen Kinder, mithin der ‚dritten Generation‘. Damit stehen, weil die Täter fast ausnahmslos gestorben sind, den wenigen noch lebenden Opfern des Holocaust und anderer nationalsozialistischer Verbrechen sowie deren Kindern und Kindeskindern inzwischen immer mehr Deutsche gegenüber, die sich ihrerseits als Opfer begreifen.“ 7 Die von der Volkswagenstiftung geförderte Mehrgenerationenstufe „Tradierung und Geschichtsbewusstsein“ hat darauf aufmerksam gemacht, dass das in den 5 Tagungsbericht Der Umgang mit nationalsozialistischer Täterschaft in Familien von Täter/ innen wie NS-Verfolgten sowie in der Gesellschaft von 1945 bis heute. 05.12.2013- 07.12.2013, Neuengamme/ Hamburg, in: H-Soz-u-Kult, 01.04.2014, http: / / hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/ id=5306; B AJOHR / P OHL , Der Holocaust als offenes Geheimnis. Vgl. W ILDT , Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung; B AUERKÄMPER , Das umstrittene Gedächtnis; L ONGERICH , „Davon haben wir nichts gewusst! “; R EICHEL , Vergangenheitsbewältigung in Deutschland; W ELZER / M OLLER / T SCHUGGNALL , „Opa war kein Nazi“; F REI , 1945 und wir; B RAUN , „Wem gehört die Geschichte? “; G IESECKE / W ELZER , Das Menschenmögliche; Ä CHTLER , Generation in Kesseln; K ÜBLER , Europäische Erinnerungspolitik; S EGERS , „Vati blieb im Krieg“; M ÖCKEL , Erfahrungsbruch und Generationenbehauptung. 6 D INER , Das Jahrhundert verstehen, 245f. 7 F REI , 1945 und wir. Die Gegenwart der Vergangenheit, in: D ERS ., 1945 und wir, 15f. Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 225 Gesprächen geäußerte Geschichtsbild „Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive“ umfasse, „wobei Vergangenheit niemals ‚authentisch‘ die Gegenwart erreicht“, sondern stets nur als eine „erstellte, auswählende und deutende Rekonstruktion ins Bewusstsein treten kann.“ 8 Die Traditionstypen, in denen die NS-Vergangenheit erzählt wird, sind „Opferschaft“ - die eigenen Opfer, wobei in einem „Wechselrahmen“ die jüdischen Schicksale auf das eigene Leid übertragen werden -, „Rechtfertigung“, „Distanzierung“ - wir nicht, aber die Anderen -, „Faszination“ - überwältigende Erlebnisse, die Authentizität vermitteln bzw. suggerieren - und „Überwältigung“ durch einzelne Erlebnisse.“ 9 Dies führt letztlich zu dem Ergebnis, dass wir mit den Erinnerungen in erster Linie das Bild vor uns haben, das die Zeitzeugen von sich, ihrer Zeitdeutung und ihrer Wahrnehmung geben wollen und können. Für die literarischen Darstellungen hat Ernestine Schlant aufgezeigt „dass die westdeutsche Literatur sich ununterbrochen des Holocaust bewusst war und dass das durch eine Vielzahl narrativer Strategien bewahrte Schweigen der beredteste Ausdruck hierfür ist. Wenn aber Schweigen ein Eingeständnis des Wissens ist, lautet die wichtigste Frage: Welches Wissen über den Holocaust wird da verdrängt, geleugnet und vermieden, und wie findet diese Vermeidung ihren Ausdruck? “ 10 Die historische Entstehung dieses Verdrängungsprozesses seit 1943 haben zuletzt Frank Bajohr und Dieter Pohl dargestellt. 11 Gilt diese Verdrängung in gleicher Weise noch für die jüngste Zeit angesichts der zeitlichen Distanz, der Dichte der historischen Forschung und den Berichten und Erzählungen damals junger Autorinnen und Autoren, die gar keine Täter sein konnten? 3. Adalbert Mayr, ein Bauernsohn aus Thierhaupten Adalbert Mayr (1930-2009), der Sohn eines Bauern aus Thierhaupten, einem kleinen Marktflecken nördlich von Augsburg, der nach dem Krieg Postbeamter wurde und lange Jahre Gemeinderatsmitglied war, erzählt in dem schmalen Bändchen „Blick durch den Zaun“ 12 (66 Seiten) von seiner Kindheit und Jugend in Thierhaupten. Im Kapitel „Jüdische Hausierer“ schrieb er: 8 W ELZER / M OLLER / T SCHUGGNALL , „Opa war kein Nazi“, 11f. 9 Ebd., 81-87. 10 S CHLANT , Die Sprache des Schweigens, 22. 11 B AJOHR / P OHL , Der Holocaust als offenes Geheimnis. Vgl. W ILDT , Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung; B AUERKÄMPER , Das umstrittene Gedächtnis; L ONGERICH , „Davon haben wir nichts gewusst! “; R EICHEL , Vergangenheitsbewältigung in Deutschland; W EL- ZER / M OLLER / T SCHUGGNALL , „Opa war kein Nazi“. 12 M AYR , Blick durch den Zaun. In seinen sehr viel umfangreicheren episodenhaften Dorferzählungen und Lebenserinnerungen „Halbzeit. Streifzüge durch bewegte Jahre“, Thierhaupten 2005, und „Der oide Hos. Geschichten aus dem Leben eines Lechbaiern 1861 bis 1956“, Thierhaupten 2001, werden die jüdischen Begegnungen nicht mehr erwähnt. Peter Fassl 226 „In Thierhaupten lebten in der Vorkriegszeit meines Wissens keine jüdischen Mitbürger. Folglich konnte in unserem Marktflecken wenigstens in dieser Hinsicht kein Unrecht geschehen. Doch bekamen alle Leute, Erwachsene wie Kinder, offenkundig mit, dass seit 1933 für die Juden in Deutschland schlechte Zeiten angebrochen waren […] Die großen Kaufhäuser, ‚Der Landauer‘ und der ‚Schocken‘ waren seit jeher in jüdischem Besitz. Gerade die mehr konservativen Leute vom Land kauften auch nach 1933 in diesen Geschäften ein, teils aus Gewohnheit, teils wegen des guten Rufes der Kaufstätten. Freilich blieb nicht verborgen, dass ab 1934 jüdische Geschäftsleute nach und nach resignierten und auswanderten. Wie grausam die Verfolgung in Wahrheit vor sich ging, das kam erst nach Kriegsende voll ans Tageslicht. Das Hausierwesen prägte damals das Dorfleben ein wenig mit. Von Woche zu Woche kreuzten die wandernden Händler im Ort auf. Die einen trugen ihre Ware mühsam in einem Kasten auf dem Rücken, man nannte sie die Buttenkramer, andere hatten schon Fahrräder, die sie schwer bepackt von Haus zu Haus schoben. Zur letzteren Zunft zählten auch zwei Juden, die im schwäbischen Buttenwiesen beheimatet waren. Zu deren Kundenkreis gehörte auch meine Familie. Bei meinen Eltern hatte der Textilienhändler namens Stern die besseren Karten, weil er mit dem Preis eher zurück ging und eine richtige Frohnatur war. Amüsiert sahen wir Kinder den gestenreichen und lebhaften Schachereien zu. Unsere Gunst fiel mehr dem Händler Lammfromm zu, da er mit Süßigkeiten freigebiger war. Der vertrieb in der Hauptsache landwirtschaftliches Kleingerät. Entsprechend seinem Namen trug er uns Kleinen fromme und ermahnende Bibelsprüche vor und tadelte offen den Herrn Hitler, der das Judentum verfolge und den christlichen Glauben verachte. Sobald der Händler aus dem Haus war, redeten meine Eltern über dessen Äußerungen und wir Kinder stritten uns um die gerechte Verteilung seiner ‚Guetslein‘. Etwa ab 1937 ging nur noch der Stoffhändler Stern auf seine Verkaufstour. Nach dem Verbleib des Kollegen Lammfromm befragt, erzählte er von einer Spionagegeschichte. Der Lammfromm habe Gießkannen in die Schweiz geschmuggelt, die in doppelten Böden versteckte Geheimdokumente enthielten, daher sei er verhaftet worden. Das aber trauten selbst meine Eltern dem braven Mann nicht zu. Herr Stern betrieb noch eine Zeitlang seine Handelsgeschäfte. Die fröhliche, unbekümmerte Art behielt er bei. Vielleicht war er zu sorglos. Ich glaube, nach der Reichskristallnacht im November 1938 blieb auch er für immer aus.“ 13 Landauer, gegründet 1906, und Schocken, gegründet 1929, waren die beiden großen Kaufhäuser der nahegelegenen Stadt Augsburg. Landauer beschäftigte 1929 406 Personen und war unter den Augsburgern noch in der Nachkriegszeit ein fester Begriff. 14 Dass in der Familie Mayr mit einer gewissen Anteilnahme über die Juden gesprochen wurde, kann man erkennen, aber wie genau bleibt undeutlich. Der Hinweis auf die Religion wird nicht weiter ausgeführt, aber vielleicht angedeutet, dass es 13 Ebd., 19f. 14 R ÖMER , Schwäbische Juden, 115-125. Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 227 einfache Leute gab, welche die unchristliche Politik Hitlers erkannten, aber als Laien in der Amtskirche keinen Widerhall fanden. Bereits der innertextliche Vergleich zeigt, dass der Hinweis auf „schlechte Zeiten“ für die Juden verharmlosend war und nicht dem eigenen Erleben entsprach, das er in einer weiteren Skizze noch einmal verdeutlicht. Adalbert Mayr ging seit 1942 in Augsburg auf das Annagymnasium und berichtet von einer Begegnung mit einem Juden: „Unter den Passanten, die täglich den Annahof durchquerten, fiel mir bald ein untersetzter älterer Mann auf. Er trug einfache, jahreszeitübliche Kleidung, stets jedoch Hut und Krawatte. Sein Gesicht wirkte verschlossen, seine Schritte lenkte er der Annastraße zu. Wegen seiner dicken Hornbrille sah man kaum seine Augen und wenn schon, so sah er traurig oder gar stoisch in die Welt. Eine abgenutzte Aktentasche trug er am Henkel, und noch etwas trug er am Anzug oder Mantelrevers: den gelben Judenstern. Er grüßte niemanden, wurde seinerseits weder behelligt noch gegrüßt. Jetzt schon zwölfjährig, stand ich natürlich ein wenig unter dem Einfluss der anti-jüdischen Propaganda. Doch der tägliche Anblick dieses Mannes erweckte ehrliche Mitleidsgefühle in mir. Die Brandmarkung dieses normal aussehenden alten Menschen konnte ich nicht begreifen, und meine auf völlige Gerechtigkeit bauende ideelle Einstellung war zumindest angeschlagen.“ 15 Zu Kriegsende schildert Mayr eine weitere Episode, die Einblick in die angespannte Situation gab. „Als am 28. April 1945 die Amerikaner Thierhaupten besetzten, nachdem am Vortag noch zwei junge Soldaten, 16- und 18-jährig, von der Wehrmacht wegen Fahnenflucht hingerichtet worden waren, kam es im Haus der Mayr zu einem bemerkenswerten Gespräch: „Gegen Abend, als es schon sehr dunkelte, schlug ein Soldat gegen unsere Haustüre. Also doch Einquartierung, fürchteten wir. Verängstigt schoben wir die Türriegel zurück und es trat ein Amerikaner in voller Kriegsmontur ein. In gutem Deutsch befahl er Mutter, eine mitgebrachte frische Leber in einer Pfanne vor seinen Augen zuzubereiten. Erleichtert atmeten wir auf. Wenn er nicht mehr wollte, dann war es ja gut. Nach beendeter Mahlzeit blieb er und stellte uns allerlei Fragen. Recht verzagt kamen unsere Antworten. Aber da rutschte meiner jüngeren Schwester die Frage heraus: ‚Ja kommen zu uns auch Juden her? ‘ Sichtlich erregt und betroffen offenbarte der Amerikaner seine Herkunft. ‚Ja, ich bin ein amerikanischer Jude, und mein Name ist Leviton. Mit meinen Eltern lebte ich in Fürth, 1933 haben wir Deutschland verlassen. In Amerika haben wir eine kleine Fabrik aufgebaut. Und ich hasse das deutsche Volk.‘ Lähmende Stille für eine Weile. Doch dann folgte sein erlösender Satz: ‚Ihr kleinen Leute auf dem Dorf, ihr könnt nichts dafür.‘ Lange, wohl bis 10 Uhr nachts dauerte diese Unterhaltung. Leviton verhieß unserem Volk eine schwere Zeit, verabschiedete sich aber korrekt. Anderntags zog seine Truppe, deren Dolmetscher er war, weiter.“ 16 Mayr erläutert den Ausruf seiner Schwester wiederum nicht. Einerseits berichtet er davon, andererseits kann und will er aber nicht weiter darauf eingehen. Aus dem Zusammenhang lässt sich wohl folgendes erkennen. 15 M AYR , Blick durch den Zaun, 44f. 16 Ebd., 54f. Peter Fassl 228 1. Die Verbrechen an den Juden waren völlig präsent und standen im Zentrum der Frage nach Rache und Sühne. Durch die Erzählungen der Wehrmachtssoldaten wusste man von den Massenmorden im Osten. Die Aussonderung und Entrechtung hatte man selbst erlebt. 2. Mit der Rückkehr der Juden standen sowohl die Strafe wie die Eigentumsrückgabe zu erwarten, da die Juden, die bis 1939 ausgewandert waren, ja genau wussten, wer ihnen was angetan hatte. 3. Eigentlich hatte man nicht mehr mit einer Rückkehr der Juden gerechnet, nachdem ja ihre materielle Existenz vernichtet war und man von der Ermordung der deportierten Juden ausgehen konnte. So nebenher die jüdischen Erinnerungen in die Dorfgeschichten, die eher Banales beschreiben, eingestreut sind, so weist gerade das beiläufig Zufällige und das Weglassen in den späteren Büchern auf ihr Gewicht. Sämtliche Tradierungselemente begegnen, Distanzierung und Rechtfertigung überwiegen. Wie man innerfamiliär über die Juden dachte, bleibt unklar. 4. Fred Grünbauer - aus einer fanatischen Lehrerfamilie Der nationalsozialistische Fanatismus wird selten und wenn, dann bei den anderen beschrieben. Die Erinnerungen (334 Seiten) von Fred Grünbauer (1929-2003), 17 geboren in München, aufgewachsen in Börwang, bilden hier eine Ausnahme. Sein Vater war Volksschullehrer und nach Börwang bei Kempten 1933 versetzt worden. Beide Eltern waren führend in der Partei tätig, galten als „Obernazis“ im Dorf und traten während des Krieges mit ihren Kindern aus der Kirche aus. Sein Vater, ein begeisternder Redner, wurde NS-Gauredner und im Krieg zeitweilig NS- Führungsoffizier. Grünbauer beschreibt eindrucksvoll die vollständige nationalsozialistische Ideologisierung seiner Mutter, die mit Genugtuung die Zerstörung der Wohnung ihres Bruders in München zur Kenntnis nahm und ihrem Sohn, der die Ausgebombten nach Börwang holen wollte, antwortete: „[…] ich wüßte doch, was mein Onkel für ein antideutscher Mensch sei, und ob ich denn kein ehrlicher Hitlerjunge wäre. Wer sich gegen die Partei entschieden habe, verdiene in den schweren Zeiten, die unser Volk momentan durchstehen müsse, keinen Schutz durch aufrechte Parteigenossen“. 18 Desgleichen wandte sie sich gegen die Vermittlung eines leerstehenden Bauernhofes an die ostpreußischen Schwiegereltern ihres Sohnes beim Nahen der russischen Front: „Der Führer hat verboten abzuwandern und der weiß wohl, was er tut.“ 19 Als ihr Sohn im März 1945 einberufen wurde und beim Abschied weinte, gab sie ihm eine leichte Ohrfeige und meinte: „Dein Vater ist im Krieg, dein Bruder 17 G RÜNBAUER , Das Dorf meiner Jugendzeit. 18 Ebd., 78. 19 Ebd., 226. Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 229 ist aktiver Offizier, sei stolz, daß du für unser Volk auch noch etwas tun darfst. Halt den Kopf hoch, Junge! “ 20 Das jüdische Thema wird vom Autor durch einen Familiendisput eingeleitet. Seine Mutter drängte ihren Bruder, mit dem sie später kein Mitleid hatte, in den 1930er Jahren, seine Stellung bei einem jüdischen Bankhaus in München aufzugeben, in die Partei einzutreten und sich „zu Hitler“ zu bekennen, was dieser sich nach vielen Bedrängungen „verbat“. 21 Grünbauer berichtet weiter: Der „schlaue“ Jude hatte sich 1938 „über Nacht ins Ausland abgesetzt“, 22 zuvor noch „einen guten Bekannten zum Nachfolger seiner Bank“ eingesetzt und der Bruder konnte seiner Arbeit weiter nachgehen. Familiengeschichtlich waren Pro und Contra also paritätisch verteilt, auch wenn Grünbauers Sprache antisemitisch konnotiert ist und im NS-Jargon verbleibt. Die Beschreibung von zwei Begegnungen des elfjährigen Jungen mit Juden führt nun zu einer ganz eigenartigen Schuldumkehr: „Seit Herbst 1941 mußten die deutschen Juden einen handtellergroßen, gelben sechszackigen Stern auf der linken Brustseite der Kleidung tragen. Er war schwarz umrandet und trug die Aufschrift ‚Jude‘ in schwarzen, hebräische Schrift parodierenden Buchstaben. Als wir Fahrschüler in Kempten das erste Mal einen so Gezeichneten sahen, sind wir richtig erschrocken, und zwar weniger über den Juden, als über die Armseligkeit, in der dieser Mensch umherging. Früher soll er immer top gekleidet gewesen sein. Mein Freund Leo Rauh hat ganz entsetzt gerufen: ‚Des isch ja der KOHN, der Viehjud, der hot doch im ganze Gäu ‚s Vieh aufkauft und immer glei bar zahlt. Ohne dean wäret ja a Haufe Baure da Bach nagschwomma. Und jetzt muaß der arm Hund mit’m Leitrwägele Alteisen sammle! ‘ Und dann ging der Leo ostentativ zu dem Juden hin und sagte ganz laut: ‚Griaß Gott, Herr Kohn, kennet ihr mi no, i bin dr Leo Rauh vom Kindberg bei Börwang! Sie händ doch allat unsre Kälble kauft! ‘ Der Jud schaute den Leo lange traurig an und meinte dann: ‚Ja freile kenni di no, Bua, dei Vatr isch doch so a narreter SS-ler, aber zua mir war der immer freundle. Aber jetzt luag, daß de weiterkommscht, i will it, daß de weaga mir no Schwierigkeite kriagscht! ‘, und damit ließ er den Leo einfach stehen und zog mit seinem Handwägelchen davon. […] Eine Zeitlang später sah ich den Juden Kohn am Keckberg, das ist der langgezogene Berg vom Illertal herauf auf die Leubaser Höhen, wie er sein schwer beladenes Wägele bergauf zog und dabei schwer schnaufte. Ich war allein, weil ich früher Schulschluß hatte und schlich vorsichtig von hinten an den Karren heran und hab leicht geschoben, daß es nicht gar so eine Schinderei für den Kohn sei. Eine Weile ging das gut, aber plötzlich blieb er stehen, um u verschnaufen und sah mich. Ja, du heiliger Strohsack, hat der mich verräumt: ‚I denk mr scho allat, warum des auf amol leichter got. Ja bisch denn du it dümmer, Bua. Du derfscht doch so ebbes it mache. Du kriagscht ja dia gröschte Anschtänd mit dene Nazi. Jetzt schausch aber 20 Ebd., 245. 21 Ebd., 75. 22 Ebd. Peter Fassl 230 glei, daß de weiter kommscht, du dummer, dummer Bua! ‘, und dabei liefen ihm die Tränen über die unrasierten Wangen. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte meinen Samariterdienst aufgeben. Ich habe mich nicht getraut, zu Hause mit meiner Mutter über den Vorfall zu sprechen, aus Angst, als Vaterlandsverräter dazustehen. […] Von der Dorfbevölkerung hat den Kohn niemand denunziert, weil die Bauern gern mit ihm Geschäfte machten, aber in der Stadt gab es schon so Eiferer, die dem Juden etwas anhaben wollten, um sich selber damit in linientreue Position zu bringen und eines Tages haben wir den Juden auch nicht mehr gesehen. Und wenn man unter vorgehaltener Hand nachgefragt hat, erntete man nur Schweigen oder Schulterzucken. Keiner wollte darüber reden. Ich möchte nicht wissen, in welchem KZ der arme Mensch gelandet ist.“ 23 Die zweite Erzählung kennt Grünbauer aus Gesprächen der Eltern. „Auch das nächste Ereignis war typisch für diese verworrene Zeit. Ich kann mich dunkel erinnern, daß aus einem Nachbarort ein Arzt unseren Vater um Hilfe bat, der 1942 gerade auf Fronturlaub war. Der Doktor war zwar selbst Parteimitglied und um drei Ecken mit dem Kreisleiter bekannt, aber den wollte er nicht bitten, weil das ein hundertfünfzigprozentiger, überzeugter Nazi und ein zu keinerlei Kompromissen bereiter Mensch war. Die Gattin des Arztes war nicht in der Partei, war eine unglaublich feine und liebenswerte Dame, aber Halbjüdin, und mußte fürchten, von den Nazischergen abgeholt zu werden. Die Mutter war zwar dagegen, daß Vater wegen eines Juden seine Karriere aufs Spiel setzte, aber er hat trotzdem irgendwas in der NS- Kreisleitung angekurbelt, was nicht ganz ungefährlich, aber wirksam war. Die liebe ‚Frau Doktor‘, wie sie von der Landbevölkerung genannt wurde, weil sie in der Praxis mitarbeitete und stets freundlich und hilfsbereit war, kam unbeschadet durch das NS-Regime. Jedoch die absolute Katastrophe kam hinterher. Nach dem Krieg wurden alle Deutschen entnazifiziert, das heißt, daß jeder seine politische Vergangenheit offen auf den Tisch legen und sich einem Verhör unterziehen mußte. Obwohl die Arztfrau keine Parteigenossin war, wurde auch sie verhört und dabei erzählte sie dem relativ jungen prüfenden Deutsch/ Amerikaner, der wahrscheinlich selbst Jude war, wie ihr unser Vater im Dritten Reich aus der Schwierigkeit geholfen hat. Da fauchte der Amilümmel die Arztfrau an, ob sie sich nicht schäme, sich von einem deutschen Nazischwein ihr armseliges Leben retten zu lassen. Ob sie denn nicht wüßte, wieviel Juden sich zu ihrer Abstammung bekannten (die meisten wurden ja gar nicht gefragt) und dafür im KZ landeten, um elend zu Grunde zu gehen. Das tragische Ende war, daß sich die freundliche und allseits beliebte Frau Doktor im Dachboden ihres Hauses erhängte, weil sie diese Schmach nicht ertragen konnte.“ 24 23 Ebd., 153f. 24 Ebd., 155f. Bei dem Namen Kohn handelt es sich wohl um eine Namensverwechslung, falls die Geschichte überhaupt wahr ist; die Geschichte von der Halbjüdin lässt sich nicht nachweisen, sie scheint auf Gerüchten zu beruhen, die von Nazi-Netzwerken auch anderswo be- Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 231 Die Dialoge zeigen heldenhafte Jungen, einen verständnisvollen Juden, der sogar einen „SS-ler“ verteidigt und einen Vater, der sich gegen die fanatische Mutter mit Erfolg für eine Halbjüdin einsetzt, die nach dem Krieg von einem amerikanischen Juden so beschimpft wird, dass sie sich umbringt. Grünbauer, der später Ingenieur für Heizungstechnik wurde, betont in seiner Einleitung: „Ich habe mich strikt an die Wahrheit gehalten, auch wenn es oft noch so unglaublich klingt“, 25 auch wenn er sich „ein bißerl dichterische Freiheit zugesteht und zugibt: Und so richtig verarbeitet habe ich diese Zeit im ganzen eigentlich nie.“ 26 Der gestalterische Aufwand der Verharmlosung und Entschuldung ist erheblich. Durch den gemeinsamen Dialekt wird solidarisches Mitfühlen und Mitleid suggeriert, wobei der alte Jude noch mehr Mitleid mit den armen Jungen zeigt, wodurch die Hilflosigkeit der „braven“ Leute von ihm beglaubigt wird. Das Dorf sei unschuldig, mit den Juden habe es immer ein gutes Verhältnis gegeben. Nur der gute Glaube, der Patriotismus und der Idealismus für die Volksgemeinschaft hätten zum Verschwinden des Kohn geführt, über den dann nicht mehr geredet wurde. Geradezu abenteuerlich ist die Rettung der Halbjüdin und ihr trauriger Selbstmord. Erinnerungsspuren und Gerüchte werden zu fiktionalen Erlebniserzählungen umgearbeitet, deren alleiniger Zweck eine groteske Umkehr der Opfer-Täter-Situation darstellt. Die Hilflosigkeit und Überforderung eines 12-jährigen Jungen wird von dem über 70-jährigen Autor nicht weiter befragt, sondern in eine verharmlosende Rahmenerzählung eingefügt. Was der Junge nachfragen wollte, will der Autor „nicht wissen“. 27 Die Kriegs- und Nachkriegsleiden der Familie, die sich im Gegensatz zu den vielen Anderen mit Stolz zu ihrem nationalsozialistischen Idealismus bekennt, stehen im Mittelpunkt. So offen teilweise die Darlegung der NS-Vergangenheit der Familie ist, und sogar der explizite und fanatische Antisemitismus der Mutter, der sich in der Diktion des Autors widerspiegelt, angedeutet wird, so eng und verfehlt ist die Fokussierung auf einen idealistischen und „ehrlichen“ Nationalsozialismus. Die geistige Distanz von den Eltern ist ihm nur ansatzweise möglich. 28 Die „Wahrheit“ Grünbauers bleibt in diesem Bereich im Kern ein distanzloses Familiengespräch. wusst gestreut wurden. Vgl. L IENERT , Geschichte der Juden in Kempten. Persönliche Nachfrage bei Herrn Ralf Lienert vom 14.4.2015. 25 Ebd., 9. 26 Ebd. 27 Ebd., 154. 28 Die Probleme der familiären Traditionsbildung haben vor allem W ELZER / M OLLER / T SCHUGGNALL , „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, 203-209 untersucht: „Zu all dem gehört, dass immanent völlig widersprüchliche, ihre eigene Widerlegung gleich miterzählende Geschichten, im Gespräch offenbar als durchaus plausibel empfunden werden können. Das über unser Material hinaus bekannte Beispiel ist, dass man nichts von Lagern gewusst hat, aber ständig davon bedroht war, ‚ins KZ zu kommen‘. Wir finden kontraevidente Geschichten, in denen am Beispiel von Fotos über Erschießungen berichtet und im gleichen Atemzug betont wird, dass man so was nie hätte erzählen dürfen, weil man dann sofort erschossen worden wäre, oder solche, in denen zugleich erzählt wird, dass man einer Vergewaltigung durch Russen entging, weil Kinder anwesend waren, und dass Russen auf nichts Rücksicht nehmen, wenn sie vergewaltigen wollen, nicht Peter Fassl 232 5. Elisabeth Wolf und Elisabeth Hiller - Zwischen Distanz, Gegnerschaft und Anpassung Mit den umfangreichen und anspruchsvollen Autobiographien von Elisabeth Wolf und Elisabeth Hiller, universitär gebildeten und promovierten Gymnasiallehrerinnen, können dem männlichen Blick zwei weibliche Sichtweisen gegenübergestellt werden, wobei bei Wolf im Verhältnis zu Grünbauer als weiteres Vergleichsmoment der gleiche Beruf und die soziale Stellung des Vaters (Lehrer und Schulleiter) hinzukommt. Einen wohl glücklichen Zufall bildet es, dass die autobiographischen Erinnerungsberichte von Elisabeth Wolf und Elisabeth Hiller aus Augsburg, die schwerpunktmäßig die NS-Zeit behandeln und gleichzeitig erschienen sind, 29 zwei Vergleichsmöglichkeiten bieten. Beide Autorinnen besuchten die Maria-Theresia- Schule in Augsburg, waren in der gleichen Klasse, machten gemeinsam 1940 Abitur, studierten dann in München, Elisabeth Wolf ab 1941 in Würzburg, und waren danach im Schuldienst tätig. Zu ihren Berichten wiederum liegen autobiographische Aufzeichnungen von jüdischen Schülerinnen vor, die ebenfalls diese Schule besuchten und deren Schicksal seit 2003 in einem schulischen Zeitzeugenprojekt untersucht wird. 30 Elisabeth Wolf, geborene Lang, wurde 1921 in Ederheim bei Nördlingen geboren. Die Eltern zogen wegen der schulischen Ausbildung der Tochter 1920 nach Königsbrunn, südlich von Augsburg. Der Vater war Lehrer und Rektor der dortigen Volksschule. Von 1932 bis 1940 besuchte sie die Maria-Theresia-Schule in Augsburg und studierte nach dem Abitur Naturwissenschaften in München (1940/ 41), wechselte dann nach Würzburg, da sie nicht in den nationalsozialistischen Studentenbund in München eintreten wollte. 1952 promovierte sie in Würzburg über ein pflanzenphysiologisches Thema, war danach 25 Jahre im gymnasialen Schuldienst einmal auf Kinder. Es wäre völlig verfehlt, anzunehmen, einem selbst würden solche kontraevidenten Geschichten weder in der Rolle des Zuhörers noch in der des Erzählers jemals durchgehen: Es ist nicht zuletzt die wahrheitsverbürgende Situation des Familiengesprächs selbst, die logische Widersprüche und sogar hanebüchenen Unsinn wie selbstverständlich plausibel erscheinen lässt. Diese wahrheitsverbürgende Kraft des unmittelbaren Zeugnisses geht sogar, wie man an den Reaktionen der Interviewerinnen und Interviewer ebenso sehen kann wie an den allfälligen medialen Zeitzeugenauftritten, auch weit über den Rahmen von Familiengesprächen hinaus. Sobald ein Zeitzeuge von seinen Erlebnissen berichtet, scheint er mit einem Authentizitätsvorteil ausgestattet zu sein, der diejenigen, die so etwas nicht erlebt haben, tendenziell in ein defensives und affirmatives Mitdenken und Mitfühlen zwingt, das kritische Nachfragen als undenkbar, mindestens aber als unpassend erscheinen lässt.“ 29 Vgl. Anm. 3, die Arbeit von Wolf wurde in der Zeitschrift Frankenland, 51. Jg. (1999), 76, von Harald Popp sehr positiv besprochen. 30 R ÖMER , Vier Schwestern, bes. 149-151; D ERS ., Irmgard, bes. 99-101, 179-181; W OLF , „Spuren“. Die Weiterführung des Projekts findet sich auf der Datenbank des Hauses der Bayerischen Geschichte: www.datenmatrix.de/ projekte/ hdbg/ spurensuche/ index_extern.html [Zugriff vom 14.4.2015]. Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 233 tätig und arbeitete seit 1980 als freie Schriftstellerin in Nürnberg. 1992 gewann sie den deutschen Haikupreis. Elisabeth Wolf starb 2006. Als Vorbemerkung zu ihrer sehr anschaulichen, ausgewogenen und nachdenklichen Autobiographie, die in die Familiengeschichte (ca. 1870-1950) eingebunden ist, schreibt sie kurz: „Meine Großmutter, […] sagte einmal, wenn man über Zeit und Ewigkeit genau nachdenke, ‚täte man darüber hinein kommen‘. Sie meinte, dass man dann wahnsinnig werden könnte. So ist es wohl besser, nicht genau nachzudenken, sondern in seiner Zeit zu leben, das Fünkchen Ewigkeit, in das man hineingeboren und eingebunden ist, das jeder in sich trägt und weitergibt in alle Ewigkeit.“ 31 Das musische Elternhaus stand dem Nationalsozialismus distanziert gegenüber. Der Vater trat erst 1937 in die Partei ein, blieb Organist und kirchentreu. Als Dorfkind erlebte sie eine behütete Kindheit, wurde am Gymnasium von den Mitschülerinnen „leicht geringschätzig“ 32 behandelt, doch sie integrierte sich gut. Etwa in der Mitte ihrer Erinnerungen erzählt sie von dem Gespräch mit einem jungen Kollegen ihres Vaters, der empört darüber war, dass sie nach dem eben bestandenen Abitur keine Lust hatte, den Arbeitsdienst zu absolvieren. „‚Auch du kannst dich dieser Pflicht nicht entziehen […] wenn es heißt, dem Führer zu dienen. Der Arbeitsdienst ist Pflicht am deutschen Volk! ‘ Vorsicht! Schoß es mir durch den Kopf, der ist gefährlich.“ 33 Die Autorin fügt hinzu: „Die Episode Roleder ist für mein Leben gewiß nicht von Bedeutung, aber sie ist typisch für die Generation meiner Jugendjahre, für die Menschen jener Jahrgänge, die sterben mussten für ein Regime, das sie erzogen hat, und die, soweit sie noch leben, dafür büßen müssen bis auf den heutigen Tag.“ 34 Diese schlichte Einsicht scheint die Erinnerungen zu durchziehen und bindet die persönliche Erfahrung und deren Bewertung zurück in das Zeitgeschehen. Und doch bleibt das Wort vom „büßen“ hier ambivalent. Es verweist auf das Eingebundensein in eine Verantwortung für die NS-Zeit, der man sich zu stellen hat, und zugleich auf sich als Opfer der NS-Zeit, dem dieser Opferstatus aufgezwungen wird, indem man mit den Verbrechen der Zeit in Verbindung gebracht wird. So beginnt der Bericht über die Schuljahre am Gymnasium und die Beschreibung der Lehrer folgendermaßen: „[…] bevor ich die Jugendjahre im Königsbrunner Schulhaus weiter an mir vorüberziehen lasse und die Erinnerung daran auskoste, ein Blick in die Zeit um die Mitte der Dreißigerjahre mit einigen Schlaglichtern in Politik und Schulgeschehen. Die Schuljugend wurde ‚erfasst‘ und durchorganisiert. Es gab Uniformen, Appelle, Heimatabende, und Anfang und Ende eines jeden Schuljahres standen im Zeichen von Flaggenhissung bzw. Einholung, Ansprache und Heil auf den Führer. Der Schulgottesdienst wurde nebensächlich, und in dieser Zeit verschwanden auch die jüdischen Mitschülerinnen, deren hoffnungslose Lage ich damals noch nicht 31 W OLF , Der Funke Ewigkeit, 8. 32 Ebd., 79. 33 Ebd., 124. 34 Ebd., 125. Peter Fassl 234 verstand, aus unserer Klasse. Schlag auf Schlag erfolgten neue Beschlüsse und Verordnungen“. 35 In ihrer Klasse, das berichtet auch Elisabeth Hiller, versuchte die Mehrzahl der Lehrer am ideologiefreien Unterricht festzuhalten. Die Schülerinnen schlossen sich im kleinen Kreis Gleichgesinnter zusammen. „Als einen glücklichen Zufall darf man auch werten, dass die Töchter von Parteifunktionären in anderen Klassen saßen, denn sonst wäre der fast liberale Schliff am Ende einer Schulzeit mitten im Dritten Reich wohl nicht so reibungslos gelungen“ 36 Dr. Georg Kessler, den sowohl Wolf wie Hiller als einen der führenden Lehrer der Schule bezeichneten, beschrieb die Situation nach dem Krieg im Hinblick auf den geistigen Einfluss des Nationalsozialismus nüchterner und realistischer: „Bei dem Anspruch des Nationalsozialismus, alle Lebensäußerungen der Nation zu erfassen und zu lenken, musste die Umwertung oder Verlagerung der bisherigen Werte sich auch auf die Schule erstrecken, der vom Nationalsozialismus keine geringere Rolle zugedacht wurde, als zu ihrem Teil an der Schaffung eines völlig neuen Menschen mitzuwirken. Die ganz unpolitische Schule hat es in Wirklichkeit nie gegeben.“ 37 Wie gefährdet die schulische Situation und wie hilflos man eigentlich war, beschreibt Wolf am Beispiel der jüdischen Schülerin Marianne Weil, die 1943 in Auschwitz umgebracht wurde: „In den Kreisen der ‚Bekenntnisfront‘ war man schockiert [von der Ernennung des evangelischen Pfarrers Heinrich Schulz zum Kreisleiter in Nördlingen], hörte aber auch Stimmen, die meinten, das sei gut, so wäre doch wenigstens einmal ein ‚charaktervoller Mensch‘ zum Kreisleiter ernannt worden. In gewissem Sinn traf das für ihn in einem Fall auch zu, denn als solcher konnte er verhindern, daß Dr. Feller, Germanist an unserer Schule und Vater einer Klassenkameradin, im ‚Stürmer‘, dem berüchtigten Hetzblatt gegen die Juden, gebrandmarkt wurde. Ein Schülervater hatte ihn angezeigt, da er gewagt hatte, die Bedeutung der Sippenforschung anhand des mustergültig angefertigten Familienstammbaumes der Jüdin Marianne Weil zu erklären, deren Vorfahren bis zum 18. Jhd. zurückverfolgt werden konnten. Er ließ ihn in der Klasse kursieren, was ihm zum Verhängnis geworden wäre, hätte ihn nicht Kamerad S., 38 so nannten wir das ‚braune Schaf‘ der Landeskirche, rechtzeitig aus der Schlinge gezogen“. 39 Die jüdischen Schülerinnen mussten Ende 1936 die Schule verlassen. Elisabeth Wolf berichtet von einer erschütternden Situation. „Für mich bedeutete der Zeichensaal Erholung und Einkehr. Hier konnte ich träumen, und keine Angst und kein Zwang störten mich beim Malen. Auch so manche kummerbeladene Schülerin 35 Ebd., 99. 36 Ebd., 116. 37 K ESSLER , Festschrift, 59f. 38 Heinrich Schulz, 2. Pfarrer am Augsburger Diakonissenhaus, der seit etwa August 1933 als Gauobmann der Deutschen Christen fungierte, von 1935 bis 1938 evangelischen Religionsunterricht an der Maria-Theresia-Schule gab, von 1933 bis 1935 im Augsburger Stadtrat war, wurde 1938 Kreisleiter von Nördlingen. Vgl. H ETZER , Kulturkampf in Augsburg 1933-1945, 97f.; 100 Jahre Maria-Theresia-Gymnasium, 122; S EIDERER , Evangelische Kirche. 39 W OLF , Der Funke Ewigkeit, 116. Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 235 flüchtete zu Lilli Premauer. So erinnere ich mich an ein schluchzendes Mädchen, das sie zu trösten versuchte. Es war die schon erwähnte Marianne Weil, die als eine der letzten Jüdinnen die Schule verließ und deren verzweifeltes Gesicht ich heute noch vor mir sehe. Mehr als 30 Jahre später erfuhr ich, daß die ganze Familie mit Ausnahme des jüngeren Bruders, der mit Hilfe der jüdischen Hilfsorganisation noch rechtzeitig nach Tel Aviv geschickt werden konnte, in Auschwitz ums Leben gekommen ist.“ 40 Erst am Ende der NS-Zeit erzählt Wolf noch einmal von einer Begegnung mit jüdischem Hintergrund. Im März 1945, bei der Zugfahrt von Würzburg nach Augsburg trifft die Studentin einen alten Mann, der sie bei Flugzeugangriffen auf den Zug rettet und ihr seine Lebensgeschichte erzählt - von seiner Frau, einer Jüdin, die sich umbrachte, um ihn aus seiner bedrängten Situation als Lehrer, von dem man die Scheidung forderte, zu befreien. „Ich schwieg, erschüttert und aufgewühlt. Szenen und Bilder schossen mir durch den Kopf, Bemerkungen und winzige Begebenheiten, die, als Kind wenig beachtet, jetzt deutlich vor mir standen: Die kleine, sommersprossige Jüdin im Zeichensaal ohne Hoffnung, in der Hölle der aussichtslosen Situation. - Der verschüchterte Mann im Bus, Kopf gesenkt, Davidstern auf der Brust. - Das Wegschauen der Leute, das betretene Schweigen. - Das ungute Gefühl, das man dabei empfand, das bißchen schlechte Gewissen. - Alles ging schnell vorüber. Die Juden verschwanden, und man vergaß sie.“ 41 Wie die Erinnerungen nach 50 Jahren zeigen, hatte man die jüdischen Begegnungen nicht vergessen, sondern aus dem ständigen Bewusstsein gedrängt. Wolfs Erinnerungen sind anrührend, detailgenau und erhellend. Sie zeigen, dass man vielleicht dort, wo man sich kritisch, distanzierend und abwehrend mit der herrschenden Ideologie und der Macht des Systems auseinandersetzte, immer wieder von den überzeugten und fanatischen Nazis bedrängt und bespitzelt wurde, völlig mit sich selbst beschäftigt war, sich einen geschützten Raum schuf und die kleinen Freiheiten des eingeschnürten Lebens neben Diensten und Studium suchte und genoss. Das nahe Leid von gefallenen Freunden und Familienmitgliedern überdeckte das ferne der Juden. Die Erinnerungen der jüdischen Mädchen 42 aus den 1930er Jahren zeigen völlig andere Lebens- und Erfahrungswelten, sprechen von zunehmender Ausgrenzung, dem Abbrechen von Kontakten zu Nichtjuden und dem Schock der Reichspogromnacht, die weder von Wolf noch von Hiller erwähnt wird. Wolfs Autobiographie zeigt ihre Lebenswelt, wie das Eingesponnensein in einen Kokon, der schützt, Gefahren abwehrt und eine eigene Entwicklung ermöglicht. Elisabeth Hiller, geborene Eschenlohr (1922-2009), erzählt in ihren umfangreichen Erinnerungen (447 Seiten) direkter, selbstbewusster und will als bewusste Zeitzeugin Geschichte schreiben und, wie sie meint, einseitige Darstellungen korrigieren: „Es ist viel über die Zeit vor und nach dem Krieg geschrieben worden, von berufener und unberufener Seite. Die Historiker haben sich darum gestritten, wie 40 Ebd., 117. 41 Ebd., 236. 42 R ÖMER , Vier Schwestern, 19. Peter Fassl 236 die Zeitläufe zu beurteilen seien. Es fällen ihr Urteil darüber auch solche, die sie nicht erlebt haben - und deshalb umso besser Bescheid wissen. Meine Absicht, die diesen Ausführungen zugrunde liegt, war es, festzuhalten, wie historische Ereignisse in das Leben des einzelnen Bürgers eingriffen und es beeinflussten. Es galt für mich als Zeitzeugen, diese Erfahrungen festzuhalten, zumal die Zahl der Zeitzeugen unaufhaltsam abnimmt. 43 Die Erinnerungen überraschen im gewissen Sinn, da sie frei von Selbstzweifel einen bemerkenswerten Lebensweg selbstbewusst zeichnen. Da die Erinnerungen eine bemerkenswerte geistige Spannweite zeigen und Hiller zweifellos wenigstens in den Grundzügen die zeitgeschichtliche Diskussion kannte, kann man die Autobiographie als Versuch werten, Zeugnis von einem anderen, einem besseren, von dem richtigen Deutschland zu geben. Elisabeth Eschenlohr entstammte einem bildungsbürgerlichen Elternhaus. Der Vater (1886-1978) war Gymnasiallehrer für Englisch und Französisch, seine Leidenschaft waren die Literatur, das Malen und Zeichnen - als Landschaftsmaler wurde er bekannt - und die Kulturgeschichte. Zu seinen Vettern zählten ein Justizrat, ein Forstrat und ein Prälat, zu seinen Freunden vor allem Maler. Wegen Kurzsichtigkeit wurde er vom Kriegsdienst 1914 befreit und hatte auch in der NS-Zeit keine Dienste zu leisten. Der Vater war liberal, weltoffen, umfassend gebildet und ein überzeugter Nazigegner. Mit einem befreundeten Arzt grüßte er sich „Killhim“, womit sie den Führer meinten.“ 44 Seine Tochter beschrieb sein Verhalten in der NS-Zeit folgendermaßen: „Von seiner politischen Überzeugung, die auf Ablehnung des nationalsozialistischen Regimes von allem Anfang an beruhte, wich er kein Jota ab. Daß er bei seiner Unvorsichtigkeit, ja vertrauensseligen Offenheit, das ‚Tausendjährige Reich‘ unbeschadet überlebte, grenzt an ein Wunder. Er stellte während des Krieges verbotene Sender auf volle, alle Wände durchdringende Lautstärke ein, 45 er unterhielt sich ungeniert mit Kriegsgefangenen, was ebenfalls strafbar war, verkehrte und unterrichtete in jüdischen Familien, bezog, von der Gestapo beobachtet, solange es ging, die russische Literaturzeitung ‚Oganjok‘, hielt in seiner Wohnung jeden Samstag ein Treffen Gleichgesinnter ab, die nur auf ein verabredetes Glockenzeichen Einlaß erhielten usw. usw.“ 46 Er trat nie in die Partei ein, weswegen er 1944 pensioniert wurde. Tanten von Elisabeth Hiller lebten in Frankreich und Amerika. Durch die weiten Kunst- und Malreisen und das offene weitgespannte literarische Interesse waren in der Familie die gewissermaßen natürliche Ablehnung und Distanz zum Nationalsozialismus ganz selbstverständlich. Die NS-Ideologie wurde von Hiller drastisch beschrieben und teilweise mit körperlichem Widerwillen erlebt: „Am 5. Juli 1941 hatte die Feier 43 H ILLER , Lange vorbei, aber doch nicht fern, 9. 44 H ILLER / L ÜCKERT , Joseph Eschenlohr, 79. 45 Die BBC druckte einige Geschichten über ihn ab in ihrem Erinnerungsband ‚Hier ist England‘ ‚Live aus London‘. Das deutsche Programm der British Broadcasting Corporation 1938-1988, 296f. 46 Ebd., 78. Vgl. F RIEDRICHS / H OFFMANN / W IßNER , Augsburg in frühen Farbfotos. Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 237 der neuen Rektorwahl im Geist der alles beherrschenden Ideologie stattgefunden. Professor Wüst, Ordinarius für arische Sprachen und Kulturwissenschaft, hielt eine allumfassende Antrittsrede in der großen Aula, von den Indogermanen über die keulenschwingenden Urgermanen und die Bauerndörfer Kretas bis Mittenwald, vom indischen Sonnengott bis Adolf Hitler, alles in großem Zuge in einer ‚klaren‘ Linie zusammengefaßt. Nach Hause berichtete ich von diesem Ereignis, es sei zum Kotzen gewesen, und daß unsere Zeit so viel mit den Indogermanen zu tun habe, habe ich nicht gewußt, aber jetzt: mihi persuasi (jetzt bin ich davon überzeugt).“ 47 Elisabeth Hiller besuchte wie Elisabeth Wolf die Maria-Theresia-Schule in Augsburg und studierte nach dem Abitur 1940 bis 1944 Englisch und Latein in München. Nach ihrem Staatsexamen im Frühjahr 1944 arbeitete sie an einer Dissertation, unterrichtete im Herbst 1944 die nach Nördlingen ausgelagerten Schülerinnen der Maria-Theresia-Schule und gab heimlich den dort in Sippenhaft internierten Kindern von Graf Stauffenberg Unterricht. In Harburg lernte sie nach Kriegsende über die Malerei ihres Vaters einen jüdischen amerikanischen Offizier kennen, der ihr eine Dozentenstelle für Deutsch in Amerika an der Brown Universität in Providence verschaffte. Sie unterrichtete dort drei Jahre, begann mit einer Dissertation in englischer Literaturwissenschaft, die sie 1957 abschloss. In Amerika wurde sie eine weitreisende Referentin über das junge Deutschland und seine Not in der Nachkriegszeit, die auch in der überregionalen Presse und im Radio beachtet wurde und anscheinend Einfluss auf die Meinungsbildung gewann. Von ihren älteren amerikanischen Freunden wurde sie liebevoll als nationale Deutsche bezeichnet, wobei ihr Verständnis vom Deutschen nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte. 48 Für sich selbst nahm sie in Anspruch - bei Reden in Amerika - „zu jung, um schuldig zu sein“. 49 Über ihre Augsburger Schulzeit sagte sie am 8. Mai 1948 vor der Modern Language Association: „In meiner Heimatstadt Augsburg waren zwanzig Gymnasiallehrer von einigen hundert nicht bei der Partei, an meiner späteren Schule nur ein einziger […] Andererseits kann nicht jeder, der der Partei unter beträchtlichem Druck, wie drohendem Verlust seiner Stellung, beitrat, nun als Nazi bezeichnet werden. Das Heer der Mitläufer, wie sie genannt werden, war groß, und eine Diktatur kann nur dem plausibel gemacht werden, der unter ihr gelebt hat.“ 50 Da Hiller die meisten ihrer Gymnasiallehrer als systemkritisch empfand und das humanistische Bildungssystem durchaus mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl in Amerika verteidigte, warb sie um Verständnis für die Notsituation der Lehrer. Ihrem amerikanischen Freundeskreis blieb 47 H ILLER , Lange vorbei, aber doch nicht fern, 182. 48 Ebd., 434; Elisabeth Hiller erzählt von ihrem Freund Howard Young, den sie bei Bibliotheksstudien für ihre Dissertation in London traf: „Er hatte sich auch angewöhnt, meinen deutschen Nationalstolz mit folgendem Satz zu dämpfen: ‚Elisabeth, don’t forget: God is an Englishman seven foot tall‘“. 49 Ebd., 373. 50 Ebd., 376. Dieses Argument, die Deutungshoheit der Zeitzeugen, hat lange Zeit die Forschung dominiert und in die Irre geleitet, da der Authentizitätsanspruch die notwendige „Quellenkritik“ überwölbte. Peter Fassl 238 sie lebenslang verbunden. Nach ihrer Rückkehr aus Amerika heiratete sie und war bis zu ihrer Pensionierung im gymnasialen Schuldienst tätig. Für ihre Erinnerungen konnte Elisabeth Hiller auf den umfangreichen Familienschriftverkehr - man warf nichts weg, ihr Vater sammelte alles -, ihre Tagebücher und zahlreiche familiengeschichtliche und persönliche Zeugnisse und Unterlagen zurückgreifen. Außerdem recherchierte sie z.B. im Archiv in Harburg. Die Erinnerungen sind mit zahlreichen Fotographien, Dokumenten, Zeitungsberichten, auch aus Amerika, und Zeichnungen und Gemälden ihres Vaters und seiner Malfreunde ausgestattet und geben einen sehr lebendigen und präzisen Einblick in ihr Leben und ihre Vorstellungswelt, wobei sie ziemlich direkt und auch ungeschützt berichtet. Ausführlich werden die Lehrer beschrieben, die sie im wesentlichen ideologiefrei empfand. Die Frage nach dem nationalsozialistischen Denken im Unterricht beantwortet sie folgendermaßen: „Bleibt noch die Antwort auf die Frage zu finden, wie das nationalsozialistische Denken Eingang in den Unterricht der Zeit von 1932 bis 1940, meiner Gymnasialjahre, gefunden hat. Abgesehen von der Vorschrift der betonten Rassenkunde im Biologieunterricht und dem besonderen Gewicht, das in Geschichte auf Friedrich den Großen gelegt wurde, untermauert durch geschlossenen Besuch des Filmes ‚Der Choral von Leuthen‘ mit der ganzen Schule, kann ich von meiner Erfahrung als Schülerin dem Unterricht in jenen Jahren ein erfreulich ideologiefreies Klima bestätigen. Anders die nicht zu vermeidenden Vorschriften von oben, was den äußeren Betrieb betraf. In strammer Formation hatten zu Beginn und Ende eines Semesters Schülerinnen und Lehrer anzutreten. Dann wurde bei erhobenem rechtem Arm die Fahne gehißt bzw. eingeholt und dazu die doppelte Nationalhymne gesungen, das Horst-Wessel-Lied und anschließend das Deutschlandlied. Der Druck, sich der nationalsozialistischen Jugendbewegung anzuschließen, war beträchtlich. Man packte die Schüler dort, wo sie am empfänglichsten sind, nämlich bei schulfreien Tagen. Wer beigetreten war, hatte am Samstag frei, wer nicht, mußte zur politischen Unterweisung in die Schule. Dieses raffinierte System des Druckes wurde ergänzt durch Listen am Schwarzen Brett, auf denen mit Namen verzeichnet war, wer sich bislang geweigert hatte, der Hitlerjugend (BDM) beizutreten.“ 51 Im gewissen Sinn relativiert Hiller selbst ihre Aussage über das ideologiefreie Klima, das der von ihr verehrte Dr. Keßler allerdings anders und selbstkritischer sah. Die Durchdringung von Tradition und Ideologie und die Aufwertung neuer Bildungsziele (Gemeinschaft, Opfer, Disziplin) werden nicht benannt bzw. in ihrer nationalsozialistischen Ausrichtung verkannt. Den Arbeitsdienst nach dem Abitur empfand sie als „ein Leben ungeliebten Drills und persönlichkeitsauslöschenden Zwang“. 52 An der Universität erkennt sie bei Zwangsschulungen, dass man den „Fängen [des Regimes] […] nirgends entkommen konnte“. An ihre Eltern schreibt sie „nichts wie Zwang, Freiheit nicht um fünf Pfennig! “ 53 Und selbst bei ihrem Studienaufenthalt in Genf wurde sie bespitzelt, wurden die Briefe geöffnet: 51 Ebd., 74. 52 Ebd., 141. 53 Ebd., 167. Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 239 „Der Arm der Diktatur erwies sich als lang […] der totale Überwachungsstaat hatte uns selbst im Ausland in den Klauen.“ 54 Gleichsam exzessiv in diesem engen Rahmen sucht sie die Freiheiten des Studentenlebens - „ein herrliches Gefühl, jetzt bin ich Studentin“ 55 -, das Bildungsangebot Münchens - „liebenswerte bayerische Stadt“ -, 56 die Exkursionen, Reisen, die Selbstständigkeit und die Unabhängigkeit. In der Schweiz, ein „Paradies inmitten des Krieges“ 57 wird sie erstmals als Deutsche an der Universität angegriffen: „Ihr deutschen Schweine war der Haupttenor“. 58 Elisabeth Eschenlohr sieht sich zu Unrecht beschuldigt und formuliert ihre Grundeinstellung, die sie unangreifbar macht: „Ich lehne jede kollektive Schuld, somit kollektiver Scham für etwas, was ich nicht getan habe, ab, es sei denn, ich schäme mich, daß Menschen zu Verbrechen fähig sind, wo immer auf der Welt es geschieht.“ 59 Bemerkenswerterweise spricht Hiller hier allgemein von Menschen, wo die Verbrechen doch von Deutschen begangen wurden, während sie im Folgenden Deutschland als Opfer eines verbrecherischen Systems sieht. Ins Geschichtspolitische gewendet, lautet dies: „Deutschland, das Opfer eines verbrecherischen Regimes, geliebtes Land, für das Millionen meiner Generation ihr junges Leben hingegeben haben.“ 60 Mit dieser Grundeinstellung, die man als individualistisches, selektives und bildungsbürgerlich traditionelles Deutschsein bezeichnen könnte, schuf sich die Autorin einen Freiraum der inneren Unabhängigkeit, der sie in der Nachkriegszeit wie ein Mantel der moralischen Überlegenheit schützte und bekleidete. Die Verbindung von Deutsch und Verbrechen lehnte sie ab, ja sogar die Frage nach möglichen Verbindungslinien zwischen deutscher Tradition und NS-Ideologie wird überhaupt nicht gestellt. Und so wird eine ganze Generation, die zu jung war, um schuldig zu sein, zum Opfer. Eigentümlich konturlos bleibt die Beschreibung dieses Systems im Gegensatz zur Darstellung der deutschen Opfer. Wie beschreibt Hiller nun ihre Begegnungen mit Juden, den eigentlichen Opfern? Obwohl in der Maria-Theresia-Schule am meisten jüdische Schülerinnen in Augsburg 61 waren (1935: 18 Mädchen) und auch in ihrer Klasse sich eine Jüdin befand, von der Elisabeth Wolf berichtete, werden sie überhaupt nicht erwähnt. In den weiteren Passagen der Erinnerungen werden alle jüdischen Spuren genau aufgelistet: Die jüdische Frau von Hermann Hesse, 62 der jüdische Offizier in Harburg, der ihr die Dozentenstelle in Amerika vermittelte und mit dem sie freundschaftlich verbunden blieb, 63 die jüdische Hausdame in Colorado Springs: „Ich sprach nur selten mit ihr, auch nicht über ihr Schicksal, das einer ausgewanderten 54 Ebd., 205. 55 Ebd., 159. 56 Ebd., 160. 57 Ebd., 191. 58 Ebd., 205. 59 Ebd., 205. 60 Ebd., 404. 61 F INGER , Schule und Lehrer. 62 H ILLER , Lange vorbei, aber doch nicht fern, 244. 63 Ebd., 285. Peter Fassl 240 Jüdin, die hier eine bescheidene Aufgabe gefunden hatte. Sie gab sich reserviert und war mir nicht sonderlich freundlich gesinnt.“ 64 Jede Begegnung mit Juden in Amerika wird erwähnt. Die Studentenverbindung, die keine Juden aufnimmt, und die Begegnung mit drei Juden, „die dank der Einwanderungsliste nach USA gekommen waren und mir ihre ganze Leidensgeschichte erzählt haben. Mir gegenüber waren sie sehr nett. Sie haben kein Verlangen, Deutschland wiederzusehen. Man kann es ihnen nicht verdenken.“ 65 Aus der Zeit des Nationalsozialismus erwähnt Hiller nur eine kurze Begegnung mit Fritz Nebel, mit dessen Familie die Eschenlohr in Harburg - die Mutter stammte aus Harburg - regelmäßigen gesellschaftlichen Kontakt hatten: „Auch Besuche zu machen, gehörte zu den Ritualen der Familie. Bis auf zwei dieser Pflichtübungen ließen uns die Eltern unbehelligt. In Harburg wohnte damals eine Reihe jüdischer Familien, die Viehhandel betrieben und angesehene Bürger waren. Bei einer Familie namens Nebel, deren stattliches Haus gegenüber der Synagoge lag, machten die Eltern zu Ostern ihre Aufwartung. Für uns, die wir mitkommen mußten, war das Vergnügen geteilt. Die Unterhaltung der Erwachsenen über Geschäfte und Tagesereignisse interessierte uns wenig, der Trost des Besuches lag vielmehr darin, daß wir Matzen, das ungesäuerte Brot, bekamen, die wir, auf der Haustreppe sitzend, mit großem Behagen verspeisten. Weshalb uns die faden Fladen so schmeckten, kann ich heute nicht mehr sagen. Offensichtlich war es das Seltene und Ungewohnte, das uns daran reizte. Ein Mitglied dieser Familie, im Dorf der ‚Judenfritz‘ genannt, der mit der Zunge etwas anstieß, traf ich im Krieg unter traurigen Umständen wieder. Den gelben Judenstern am Anzug, kehrte er in Augsburg die obere Maximilianstraße. Als er meine Mutter und mich sah, kam er auf uns zu und sagte zu ihr, auf deren Hochzeit er einst eingeladen war: ‚Theres, sag doch, was hab‘ ich denn getan? ‘ Wo gab es hier eine Antwort? Tieferschüttert konnten wir nur sagen: ‚Nichts, Fritz, nichts.‘ Er verlor sein Leben in Auschwitz, der restlichen Familie war die frühe Auswanderung nach Palästina geglückt, nur er hat die Heimat nicht verlassen wollen. Die Nebels waren die ersten, die uns nach dem Krieg aus Israel einen Korb mit Früchten schickten.“ 66 Eine Antwort hätte es schon gegeben, aber sie wurde nicht formuliert. Bei Kriegsende, das die Familie im Haus der Großeltern in Harburg erlebte, sah sie am Bahnhof einen Zug mit KZ-Häftlingen: „Von Konzentrationslagern, das möchte ich hier deutlich sagen, war uns bis Kriegsende nur Dachau bekannt, zwar nicht gerade als normales Gefängnis oder Zuchthaus, aber nie als Tötungseinrichtung. Der Spruch unter der Bevölkerung hieß: ‚Sei still, oder du kommst nach Dachau! ‘ Als ich kurz vor Kriegsende zum Bahnhof ging, sah ich dort einen auf einem Nebengleis stehenden Zug, auf dem Bahnsteig davor ausgemergelte Leidensgestalten, die sich wie Tiere auf die vor ihnen aufgestellten Kübel stürzten, um daraus, was auch immer, zu essen. Ein deutscher Landser stand dabei, abgewandt von dem Geschehen, auf das Holzgitter der Absperrung gelehnt, das Gewehr geschultert. Ich 64 Ebd., 412. 65 Ebd., 374. 66 Ebd., 121f. Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 241 fragte, was das um Gottes willen sei, und er gab die Antwort: ‚Juden, die wir vor den Amerikanern aus den Konzentrationslagern zurücktransportieren müssen. Ich kann es nimmer mitansehen! ‘ Wir wußten vom Transport der Juden nach dem Osten, aber nicht von dem Schicksal, das sie dort treffen würde.“ 67 Der hier von Elisabeth Hiller mit Wissen und Nichtwissen gerahmte Bericht ist eine der meist diskutiertesten Fragen zum Holocaust und zur NS-Zeit, die sich auf der individuellen Ebene auch nicht auflösen lässt. 68 Doch lassen sich Strategien des Benennens und des Beschweigens aufzeigen. Die Schulzeit, die jüdischen Bekannten, die Verfolgungen und der Novemberpogrom in Augsburg mit zerstörten Geschäften, der Zerstörung der Synagoge etc. werden nicht erwähnt. Das Wissen über ausländische Nachrichtensender, die Kommunikation in der Schweiz werden nicht behandelt. Ausführlich dargestellt wird der Kriegsverlauf im Hinblick auf die Freunde, die praktisch alle sterben. Auch wenn die Erinnerungen sich auf den ersten Blick wie ein ausführlicher Zeitzeugenbericht geben, scheinen sie doch eher wie eine große Verteidigungsschrift, die darlegen will, dass es keinen Grund zur Anklage und daher auch keinen zur Verteidigung gibt. Natürlich kennt Hiller als hochgebildete und wache Zeitzeugin die Diskussionen um die Verantwortung für die Verbrechen der NS-Zeit, die Frage der geistigen Traditionen, der Widerstandsfähigkeit etwa der humanistischen Traditionen gegenüber der NS-Ideologie. In Amerika verteidigt sie diese Traditionen. Mit Vehemenz wehrt sie im Gegensatz zu ihrer Schulkameradin Elisabeth Wolf jede Schuld von sich. Die Betonung des Nichtwissens um das Schicksal der Deportierten heißt ja nicht - so wohl das indirekte Eingeständnis der Autorin -, dass man nicht Vermutungen angestellt hat, dass man nicht Erzählungen gehört hat oder anderweitige Informationen hatte. Auffallend ist eine gewisse kühle Beobachtung, der wiederum traditionelle Judenbilder zugrunde liegen, wenn sie im September 1949 in Amerika die Ankunft eines Schiffes mit jüdischen displaced persons aus Osteuropa schildert, bei der sie Dolmetscherdienste leistete. In einem Brief nach Deutschland schrieb sie: „Die auf der Passagierliste als ‚German‘ angegebenen Kinder waren die in Deutschland nach dem Krieg geborenen Kinder der DPs. Um 13.30 Uhr kamen endlich die ersten Familien mit Kindern vom Schiff. Je ein Zollbeamter wurde von einem Dolmetscher begleitet, half das Gepäck suchen, stand beim Öffnen dabei und holte dann einen Gepäckträger und führte die DPs in die nächste Halle, wo er sie der folgenden Behörde übergab. Viele aus Polen und Rußland verließen das Schiff, samt 1500 Gepäckstücken. Uns war das nichts Neues, die richtige buntgemischte DP-Gesellschaft aus Deutschland, die meisten Juden. Die Frage nach jiddischen Dolmetschern war am häufigsten zu hören. Meist kamen die Familien mit drei bis vier Kindern, und Deutsch sprachen fast alle, Englisch die wenigsten. Was in den verschiedenen Gepäckstücken war, würde ein Buch füllen. Von den ärmlichsten Habseligkeiten in Pappkoffern mit Strick drum, armseligen Decken und Waschbrettern bis zum Silberbesteck und Meißner Porzellan, über dessen Ursprung man nachdenken konnte. Auch wunderschöne 67 Ebd., 277. 68 Zur Diskussion vgl. Anm. 5. Peter Fassl 242 Wäsche mit eingestickten Kronen, wohl dereinst Besitz eines gräflichen Geschlechtes, befand sich darunter. Ein junger Mann, der angab, Medizin studieren zu wollen, hatte gar nichts außer in der Tasche seines schäbigen Rockes das Hörrohr eines Arztes. Eine Polin mit zwei Söhnen bewegte nur die eine Frage, ob ihre Söhne in Amerika eine gute Frau finden würden. Ich beruhigte sie mit der Auskunft, daß es eine große Auswahl gäbe.“ Die Autorin fügt hinzu: „Die Gefühle, die mich bewegten, schwankten zwischen Mitleid mit der Menschheit, deren ganzer Jammer einen wieder einmal anfaßte, und Kummer ob ihres vortheilheischenden Gebarens. Besonders irritiert hat uns eine Gruppe polnischer Juden, die, wie im Zeitungsbericht 69 geschildert, kaum im neuen Land angekommen, sich standhaft weigerten, das Schiff zu verlassen. Der Kapitän des Schiffes lehnte es ab, sie zu behalten, da seine Mannschaft nach der langen Überfahrt zu Urlaub berechtigt war. Er wollte sie auch nicht mehr verköstigen, hatte er ihnen ohnehin während der Überfahrt die Schiffsküche für koschere Kost zur Verfügung gestellt. Schließlich stiegen sie nach vielem Hin und Her vom Schiff. Bei einem früheren Schiff, so erfuhren wir, wurden Schmuck und Silber im Wert von 33 000 Dollar gefunden.“ 70 Genau betrachtet finden sich in dieser Beschreibung von Juden, die den Holocaust überlebt haben, negative und lieblose Bewertungen, die an antisemitische Zuschreibungen für (Ost)Juden erinnern: Sexuelle Gier, Reichtum, Diebstahl, Hochstapelei, Schwindel, vorteilheischendes Gebaren. Sie bewegt zwar „Mitleid mit der Menschheit, deren ganzer Jammer einen wieder einmal anfaßte“, aber nicht mit den konkreten Juden, die gerade noch ihr Leben gerettet hatten. Ist dies überinterpretiert? Wohl nicht. Hiller erwähnt in Amerika nie die dortige Diskussion um den deutschen Judenmord, geht aber subtil auf antijüdische Einstellungen etwa bei der Studentenverbindung ein. Die Schuldabwehr und Distanzierung geschieht bei der Begegnung mit jüdischen DPs durch abwertende Beschreibungen und durch „witzige“ Gespräche mit den irischen Zollbeamten. Hier die „Unseren“, zu denen durchaus auch die „gesitteten“ deutschen Juden, die Juden ihrer Kultur gehören, dort die anderen, die Fremden, die stereotyp beschrieben werden. Hillers Erinnerungen sind äußerst lebendig, zeugen von einer überbordenden Neugierde, von Abenteuerlust, Freude auf neue Erlebnisse und Offenheit für neue Situationen. Als Zeitzeugin will sie wahrhaft von ihrer damaligen Einstellung berichten und zeigt auch Kritik an ihrer Person, verweist auf Schwächen (Eigenliebe) 71 und kontrastiert ihr eigenes Empfinden mit den neutralen Zeitungsberichten etwa zur Ankunft der jüdischen DPs 1949 in Amerika. 69 Der erwähnte Zeitungsbericht erläuterte, dass die Orthodoxen das Schiff nicht verlassen wollten, weil Sabbat war und erst dazu nach Sonnenuntergang bereit seien. 70 H ILLER , Lange vorbei, aber doch nicht fern, 351f. 71 Von ihrem Freund Howard Young berichtet sie, dass er sie bei ihrer Arbeit im Pazifischen Museum freundschaftlich zu korrigieren versuchte: „Er war es auch gewesen, der ein besonderes Vergnügen daran hatte, mir auf meinen Platz in der Bibliothek abträgliche Stellen zur deutschen Geschichte zur Kenntnis zu bringen, ganz zu schweigen von ……….. Valentin- Karten, zum Beispiel eine mit der Frage: Weißt du, wer dich am liebsten hat? Beim Öffnen der Karte schaute man in einen Spiegel.“ (Ebd., 434). Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 243 Frank Bajohr verwies auf eine „Schuldabwehr“ 72 der Bevölkerung bezüglich der Judenverfolgung spätestens seit 1943. Bei Hiller und bei Wolf ist die Situation etwas anders, da es nie auch nur ein stilles Einverständnis mit der Judenverfolgung gegeben hat. Besonders Hiller war, wie gezeigt, entsetzt über die Verfolgung und war sich deshalb nie irgendeiner Schuld bewusst, zumal es in ihrem Elternhaus freundschaftlichen Umgang mit Juden gab. Gerade deshalb trifft auf sie zu, was die Forschung als Grundstimmung am Kriegsende herausgearbeitet hat: „Das Gros der Bevölkerung fühlte sich 1945 als Opfer und Betrogene, verlassen von einer NS-Führung, die ihnen nicht nur eine totale Kriegsniederlage beschert, sondern auch die moralische Hypothek ungeheuerer Massenverbrechen hinterlassen hatte.“ 73 Hiller hatte das NS-System zunehmend immer schärfer abgelehnt und geistig in einer Welt des idealen und idealistischen Deutschtums gelebt, geprägt von Literatur, Musik, Kunst und gleichgesinnten Freunden. Diese Welt eines besseren, des eigentlichen Deutschlands will sie nicht zuletzt für sich selbst retten und sieht sich durch die im Buch erwähnten kritischen Anfragen der Nachkriegsgeneration gefährdet. Der Zeitzeugenbericht von Hiller weiß zu viel, die Autorin ist zu kompetent, der latente rote Faden der Wahrnehmung von Juden ist sowohl zu dicht, wie offensichtlich bestimmte Erinnerungen zu dünn sind, als dass man glauben mag, sie habe erst mit dem KZ-Zug in Harburg das Schicksal der Juden realisiert. 74 Dies offen oder etwas offener zu formulieren, hätte aber ihren Lebensbericht in Frage gestellt und auch ihr bei allen Einschränkungen mit Freude ausgekostetes Studentenleben. 6. Zusammenfassung Die vorgestellten Erinnerungsberichte und Autobiografien reichen von kurzen von episodischen Erinnerungssplittern bis zu den ausführlichen, sorgfältig gestalteten und recherchierten Gesamtdarstellungen des Lebens von Wolf und Hiller in der NS-Zeit. Die jüdischen Spuren sind vom Umfang her gesehen marginal, vom Inhalt aber zentral. Dies wissen erinnerungs- und geschichtspolitisch beide Autorinnen. Ihr Schweigen reflektiert letztlich ihr Schweigen, ihre Hilflosigkeit und auch ihr Wegschauen und Nichtwissenwollen in der NS-Zeit. Während Wolf dieses Defizit benennt, wird dies bei Hiller übergangen. Sie war wohl die aktivere, die Familie war 72 B AJOHR , Vom antijüdischen Konsens zum schlechten Gewissen, 78. 73 Ebd. 74 P OHL , Die NS-Regime und das Bekanntwerden seiner Verbrechen, in: B AJOHR / P OHL , Der Holocaust als offenes Geheimnis; S. 129 fasst den heutigen Forschungsstand zusammen: „Die Massenverbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere der Mord an den Juden waren im Blick und bei den Alliierten seit Mitte 1942 ein offenes Geheimnis. Über den besten Kenntnisstand verfügten deutsche Funktionäre und ihre ausländischen Verbündeten, so dann die Bevölkerung im Reich wie im besetzten Europa und die alliierten Regierungen, und schließlich die internationale Presse.“ Peter Fassl 244 widerständig. Sie war, soweit dies möglich war, selbstständig und unangepasst. Ihr Lebensweg war - allein deswegen wurde die Autobiographie geschrieben - richtig, schuldlos, mit vielen Erlebnissen, Leistungen, Mut, Freuden und Leiden verbunden. In einem Totenhaus wäre dies nicht möglich, daher werden die Opfer des NS- Systems - von den politischen Gegnern bis zu den Juden - nicht genannt und das Deutsche und die Deutschen vom Nationalsozialismus gereinigt. Nur so lässt sich ihr eigener Lebensweg unbeschädigt darstellen. Das im Nachhinein allzu sehr herauszustellen, erschien ihr unangemessen. Bei aller Beredtheit und manchmal auch ich-bezogener Weitschweifigkeit blieb ihr für die Juden nur „die Sprache des Schweigens“. Der Vergleich von zwei männlichen und zwei weiblichen Stimmen zeigt markante Unterschiede, aber auch Übereinstimmungen trotz des unterschiedlichen bildungsmäßigen und intellektuellen Niveaus. Während Mayr und vor allem Grünbauer an der NS-Jugendkultur, Krieg, Militär, Siegen, Kämpfen großes Interesse haben, begegnet dies bei Wolf und Hiller überhaupt nicht oder wird distanziert und kritisch betrachtet. Die Autorinnen beschreiben Verluste von Freunden und Kameraden, erwähnen Heldisches überhaupt nicht und sehen in Musik, Theater, Kunst, Literatur erstrebenswerte Leistungen. Der Opferdiskurs wiederum verbindet Männer und Frauen: Opfer zu bringen ist selbstverständlich und Opfer zu sein verbindet im Leid. Die Treue zum System ist bei den Autoren kaum in Frage gestellt, die Treue zum wahren Deutschtum der Geistes-und Kulturgeschichte steht bei den Autorinnen im Zentrum. Von Machtpolitik und Gewalttätigkeit ist bei den Frauen nicht eine Spur zu entdecken, sie werden nirgends positiv beschrieben. Die Infizierung mit der NS-Ideologie erscheint bei den 10 Jahre älteren Frauen nicht oder kaum vorhanden gewesen zu sein, im Gegensatz zu den begeisterten Jungen. Andererseits verwenden Hiller und Wolf sehr viel Mühe darauf darzustellen, wie ein „richtiges Leben“ in einer falschen Zeit und einem verbrecherischen System möglich war, und weichen einer intellektuellen Auseinandersetzung aus. Das verbindet alle vier Autoren. Man muss nur die Lebensberichte der genannten jüdischen (Maria-Theresia-)Schülerinnen dieser Zeit parallel lesen, um eine gewisse Vorstellung von der gesamten Lebenswirklichkeit zu bekommen und der begrenzten Perspektive und Empathiefähigkeit der vorgestellten Erinnerungen. Literatur 100 Jahre Maria-Theresia-Gymnasium, Augsburg 1992. Ä CHTLER , N ORMAN : Generation in Kesseln. Das soldatische Opfernarrativ im deutschen Kriegsroman 1945-1960, Göttingen 2013. B AJOHR , F RANK : Vom antijüdischen Konsens zum schlechten Gewissen. Die deutsche Gesellschaft und die Judenverfolgung 1933-1945, in: B AJOHR / P OHL , Der Holocaust als offenes Geheimnis, 15-79. -/ P OHL , D IETER : Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS- Führung und die Alliierten, München 2006. Darstellungen von Juden in Erinnerungsberichten und Autobiographien 245 B AUERKÄMPER , A RNDT : Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012. B RAUN , M ICHAEL : „Wem gehört die Geschichte? “ Erinnerungskultur in Literatur und Film, Münster 2012. C RAMER -F ÜRTIG , M ICHAEL / G OTTO , B ERNHARD (Hrsg.): „Machtergreifung“ in Augsburg. Anfänge der NS-Diktatur 1933-1937, Augsburg 2008. D INER , D AN : Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999. F ASSL , P ETER : Erinnerungen und Berichte über das Kriegsende 1945 in Bayerisch- Schwaben, in: D ERS . (Hrsg.), Das Kriegsende in Bayerisch-Schwaben 1945, Augsburg 2006, 299-314. - (Hrsg.): Die NS-Zeit in Ortsgeschichten, Augsburg 2014. F INGER , J ÜRGEN : Schule und Lehrer. Eine „Revolution“ mit Hindernissen, in: C RAMER -F ÜRTIG / G OTTO , „Machtergreifung“ in Augsburg, 108-120. F REI , N ORBERT : 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005. F RIEDRICHS , M ICHAEL / H OFFMANN , S TEPHAN / W ISSNER , B ERND : Augsburg in frühen Farbfotos. Fotografiert von Joseph Eschenlohr, Augsburg 2001. G IESECKE , D ANA / W ELZER , H ARALD : Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012. G OTTO , B ERNHARD : Die Erfindung eines „anständigen Nationalsozialismus“. Vergangenheitspolitik der schwäbischen Verwaltungseliten in der Nachkriegszeit, in: F ASSL , Das Kriegsende in Bayerisch-Schwaben, 263-284. G RÜNBAUER , F RED : Das Dorf meiner Jugendzeit, Altusried 2002. H ETZER , G ERHARD : Kulturkampf in Augsburg 1933-1945. Konflikte zwischen Staat, Einheitspartei und christlichen Kirchen, dargestellt am Beispiel einer deutschen Stadt, Augsburg 1982. 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Einleitung Bereits vor einigen Jahren habe ich über die Geschichte der Familie Schweitzer geforscht, der ich selber entstamme. Es ist die Geschichte einer Auseinandersetzung einer ganzen Familie mit ihren jüdischen Wurzeln, der eigenen Identität und nicht zuletzt dem erlittenen Schicksal unter der Herrschaft der Nationalsozialisten. Es ist eine sehr vielfältige Geschichte, die mich dazu geführt hat, im Jahre 2002 als Leiter des Sensemble Theater Augsburg gemeinsam mit Benigna Schönhagen und damit in Kooperation mit dem Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben das Zeitzeugenprojekt „LEBENSLINIEN“ ins Leben zu rufen. 1 Bei diesem in der Regel einmal jährlich stattfindenden Projekt setzen wir uns mit deutsch-jüdischen Familiengeschichten in einer Matinee, in Workshops und Gesprächen auseinander, laden Zeitzeugen und deren Nachkommen ein, lesen aus Originaldokumenten und spannen den historisch-biographischen Bogen bis heute. Dabei beschäftigten wir uns 2002 bei der allerersten Veranstaltung mit den Lebenswegen meines Urgroßvaters Ernst Schweitzer (1888-1981) und meiner Großmutter Gabriele Seidel, geborene Schweitzer (1916-2003), die als Zeitzeugin von Widerstand, Verfolgung, KZ-Inhaftierung und Emigration berichtete. 2 Gabriele Seidel war es auch, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Kontakt zu emigrierten Familienmitgliedern hielt und ihren Cousin, den Bonner Politikprofessor und ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Carl-Christoph Schweitzer (1924), bei der Organisation von zwei „family reunions“ unterstützte, die 1988 in Bonn und 1991 in Potsdam und Berlin stattfanden. Bei diesen Treffen diskutierte die Familie Schweitzer über ihre „jüdische Abstammung“, welche persönlichen Erfahrungen sie deswegen machen mussten und vor allem, was die Bezeichnung „jüdisch“ damals wie heute bedeutet. Die Diskussion des ersten Treffens war dabei so anregend, dass daraus ein umfassender „Fragebogen“ mit über 200 Fragen entstand, der in der gesamten Familie herumgeschickt wurde. Dieser Fragebogen an sich und die Antworten darauf sind eine spannende Quelle der deutsch-jüdischen Geschichte. Den Sinn des Fragebogens erläuterte Carl-Christoph Schweitzer in einem Brief an die „Großfamilie“ am 12. Juni 1988 wie folgt und hatte auch bereits mit Helmut Schmidt über mehrere Folgen in der Wochenzeitung „Die Zeit“ gesprochen: 1 Seit 2008 gibt das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben (unter der Leitung von Benigna Schönhagen) jedes Jahr zu diesem Zeitzeugenprojekt eine Publikation heraus. 2 LEBENSLINIEN: „Das Haus ist eingestürzt ...“ Wege der Familie Schweitzer, Sensemble Theater Augsburg, Sonntag, 10. November 2002. Sebastian Seidel 248 „Systematischeres ‚Nachsammeln‘ von Einstellungen und Erlebnissen auf der Linie der Diskussionen hier mit Protokollverwertung derselben und Ergänzungen eben durch die Beantwortung offener Fragen [...] unter Umständen schließlich Zusammenfassung von allem [...] Helmut Schmidt [...] ermunterte mich neulich sehr zu einer solchen Zusammenfassung, würde seine ‚Zeit‘ in mehreren Folgen zur Verfügung stellen [...] Wir sprachen sehr lange über diese und andere Probleme [...].“ 3 2. Die Geschichte der Familie Schweitzer 2.1. Eugen und Algunde Schweitzer Für die „jüdische Abstammung“ der Familie Schweitzer aber müssen wir noch eine weitere Generation zurückgehen: Eugen Schweitzer (1845-1911) und Algunde Schweitzer, geborene Hollaender 4 (1856-1930) stammten beide aus einem jüdischen Viertel in Breslau, lernten sich in London kennen, hatten 1884 in Berlin geheiratet und sich 1902 von Hermann von Soden in Berlin christlich taufen lassen. Die Söhne Kurt, Ernst, Carl-Gunther Schweitzer waren bereits 1892 im Kleinkindalter in Misdroy auf Wollin, einem beliebten Ostseebad der Berliner, getauft worden. Die Schweitzers gehörten, nachdem Eugen Schweitzer als Kaufmann und Börsenmakler zu Reichtum gekommen war und sich fortan als Kunstsammler betätigte, zur großbürgerlichen Gesellschaft in Berlin und führten um die Jahrhundertwende ein gastliches Haus, in dem viele Persönlichkeiten der Berliner Gesellschaft, Schauspieler, Maler und Musiker wie der Geiger Joseph Joachim oder der Pianist Richard Buhlig verkehrt haben sollen. 5 Die Zimmer der unteren Wohnung in der Hohenzollernstraße 13 direkt am Tiergarten dienten als Museum; in ihnen hingen kostbare Bilder, standen Statuen und waren Photographien von Kunstwerken in antiken Möbeln untergebracht, von Eugen Schweitzer mit kunsthistorischen Bemerkungen katalogisiert. Aber auch die Privaträume im oberen Stockwerk waren repräsentativ mit wertvollen Möbeln, Teppichen, Kristallleuchtern und zahlreichen Bildern ausgestattet. Anlässlich der ersten Versteigerung von 114 Exponaten der „Sammlung Eugen Schweitzer“ durch das Kunsthaus Cassirer im Jahr 1918 würdigte der Kunsthistoriker Max Friedländer den sieben Jahre zuvor verstorbenen Eugen Schweitzer: „Eugen Schweitzer war ein Dilettant - im ursprünglichen Sinne des glücklichen Wortes -, nämlich ein Mann, der sich zu seiner Freude tätig den Kunstgelehr- 3 Dieser Brief und der Fragebogen befinden sich in mehreren Kopien in den Händen der Familie. 4 Algunde Schweitzer war eine Cousine des Regisseurs und Dramaturgen Felix Hollaender (1867-1931), dessen Roman „Unser Haus“ in der Familie für Aufsehen sorgte. 5 Vgl. G. S EIDEL , Familiengeschichte Schweitzer Hollaender, 8 und 16f. Der Fragebogen. Die Familie Schweitzer hinterfragt ihre „jüdische Abstammung“ 249 ten anschloß, weil seine rührige Natur an dem bloßen Empfangen kein Genüge fand.“ 6 Zur Versteigerung kamen fast ausschließlich Bilder und Statuen mit christlichen Inhalten, vor allem von oberitalienischen Malern wie Gaudenzio Ferrari 7 des sogenannten „Cinquecento“ und von niederländischen Malern des 15. bis 17. Jahrhunderts. Die häufigsten Motive waren „Maria mit dem Kinde“ und Christus- Darstellungen. Anhand dieser und anhand weiterer Gemälde und Statuen, die bei einer zweiten Versteigerung aus dem Nachlass am 28. Oktober 1930 in „Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus Berlin“ 8 angeboten wurden, lässt nichts auf eine jüdische Herkunft des Sammlers schließen. Neben der Kunst bestand im Hause Schweitzer ein besonderes Verhältnis zur Musik. Eugen Schweitzer liebte vor allem Richard Wagner und Johannes Brahms, 9 den er persönlich kannte. Als er 1911 mit 66 Jahren starb, wurden auf dem Grabstein unter dem Namen und den Daten des Verstorbenen die Noten des Brahmsliedes „Der Tod, das ist die kühle Nacht“ (nach dem Gedicht von Heinrich Heine) eingraviert. Die Beerdigung fand auf dem Waldfriedhof in Wannsee bei Berlin statt, wo die Familie Schweitzer in Stolpe ein Sommerhaus unterhielt. 2.2. Die Söhne Kurt, Carl-Gunther und Ernst Schweitzer Politisch waren die Schweitzers konservativ-national eingestellt. Im Ersten Weltkrieg leisteten alle Söhne ihren Dienst: Kurt Schweitzer gehörte als einziger mit jüdischer Abstammung ab 1915 zum Kaiser-Alexander-Garde-Grenadier-Regiment, was eine besondere Auszeichnung und Ehre war. Ernst Schweitzer diente als Arzt. Carl- Gunther Schweitzer meldete sich freiwillig, wurde schwer verwundet und erhielt das „Eiserne Kreuz 2. Klasse“. Er studierte Theologie, wurde Pfarrer und schrieb seine Doktorarbeit über „Bismarcks Stellung zum christlichen Staate“. 10 Alle drei Söhne heirateten nichtjüdische Frauen und erzogen ihre Kinder ohne jeglichen Bezug oder Kontakt zum Judentum. So spielte die „jüdische“ Herkunft schon bei den Kindern von Eugen und Algunde Schweitzer keine Rolle mehr, noch weniger bei ihren zwölf Enkelkindern, die davon wenig bis nichts wussten, bis die Familiengeschichte auf einmal in den Mittelpunkt ihres Lebens rücken sollte. So wurde Gabriele Schweitzer aufgrund ihrer blonden Haare und ihrer blauen Augen in der Schule für eine vorbildliche Arierin gehalten. Sie selbst wurde erst über ihre Abstammung aufgeklärt, als sie eines Tages (1930) einen in ihren Augen jüdisch aussehenden Geigenlehrer ablehnte und von ihrem Vater Ernst Schweitzer (und damit auch ihre Schwester 6 Die Sammlung Eugen Schweitzer, 7. 7 In der italienischen Zeitschrift L’Arte veröffentlichte Eugen Schweitzer 1900 eine Ausstellungsbesprechung über die Maler von Cremona; vgl. E. S CHWEITZER , La scuola pittorica cremonese, 41-71. 8 Gemälde alter Meister. 9 Vgl. E. S CHWEITZER , GE II, Bl. 2: „In Mutters Familie waren 2 professionelle Musiker, Vater war außerordentlich musikalisch, spielte kein Instrument, liebte Brahms und Wagner.“ 10 C. G. S CHWEITZER , Bismarcks Stellung zum christlichen Staate. Sebastian Seidel 250 Marianne Schweitzer) mit den Worten aufgeklärt wurde: „[...] weißt Du nicht, dass Deine Grossmutter aus dem selben Volk stammt wie Jesus? “ 11 (der Großvater Eugen war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben). Die jüdischen Wurzeln hatten bis dahin in den Lebensläufen der Enkelgeneration keine Rolle gespielt. Die Familie war komplett in die deutsche Gesellschaft integriert und hatte im Eilverfahren einen Assimilationsprozess durchlaufen, den man mit dem umstrittenen Begriff der „deutsch-jüdischen Symbiose“ 12 zu bezeichnen versucht hat. Dies aber sollte sich ab 1933 grundlegend ändern, wenn auch die drei Schweitzer-Brüder und ihre Familien noch lange Zeit glaubten, von der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten soweit verschont zu bleiben, um wenigstens in Deutschland leben zu können. Das aber war ein großer Irrtum, auch ihre patriotische Einstellung und ihr Status als „Frontkämpfer“ des Ersten Weltkrieges verhinderte nichts. Sie konnten sehr bald ihre Berufe nicht mehr ausüben und als „Angehörige einer privilegierten Mischehe“ waren auch ihre Kinder von den so genannten „Nürnberger Gesetzen“ betroffen, die am 15. September 1935 erlassen wurden. In den folgenden Jahren wurden alle Familienwege durcheinandergeschüttelt und die Schweitzers vor allem nach England und Amerika zerstreut. Diese Schicksale, diese persönlichen Auswirkungen der nationalsozialistischen Rassenpolitik auf die Familien, sind nachzulesen in einem Buch, das 1996 in englischer Sprache von Christoph Schweitzer (1922), dem jüngsten Sohn von Ernst Schweitzer, in Chapel Hill (North Carolina) herausgegeben wurde, wo er als Germanistik-Professor bis 1993 lehrte. In seinem Vorwort schreibt er, dass sie alle (die Enkelkinder von Eugen und Algunde Schweitzer) ohne die Rassenideologie sicherlich ganz normale Deutsche geworden wären: „One aspect that seems to stand out most clearly is that all of us would have been ordinary Germans had it not been for the racial ideology of the Nazis.“ 13 2.3. Das Schicksal von Kurt Schweitzer Kurt Schweitzer (1886-1973) verlor bereits 1934 als „Jude“ seine Stellung als Regierungsrat bei der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, wurde aber noch ein Jahr später für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet. Nachdem er 1938 kurzzeitig im KZ Sachsenhausen inhaftiert war, konnte er im Juni 1939 nach England ausreisen, wo er bis zum Ende seines Lebens 1973 blieb. Von seinen fünf Kindern Maria, Sabine, Reicke, Michael und Alexander Schweitzer kehrte nur Maria nach dem Krieg über Umwege nach Deutschland zurück. 11 Vgl. LEBENSLINIEN: „... weißt Du nicht, dass Deine Großmutter aus dem selben Volk stammt wie Jesus? ...“ Der Lebensweg von Marianne Burkenroad (geb. Schweitzer), Sensemble Theater Augsburg, Sonntag, 1. Juni 2008. 12 Vgl. V OIGTS , Die deutsch-jüdische Symbiose. 13 C. E. S CHWEITZER , The Twelve Grandchildren, 2. Der Fragebogen. Die Familie Schweitzer hinterfragt ihre „jüdische Abstammung“ 251 2.4. Das Schicksal von Carl-Gunther Schweitzer Carl-Gunther Schweitzer 14 (1889-1965) leitete bis 1932 die „Apologetische Centrale“ in Berlin-Dahlem und war ab 1932 Superintendent des Kirchenkreises Potsdam II der brandenburgischen Landeskirche, wurde aber 1934 wieder von seinem Amt suspendiert, weil er Mitglied der „Jungreformatorischen Bewegung“ (JB) war und zu den Gründern des „Pfarrernotbundes“ (PNB) gehörte. Beide Organisationen hatten sich die Bekämpfung der mehrheitlich nationalsozialistisch orientierten „Deutschen Christen“ (DC) zum Ziel gesetzt und lehnten die Wahl des Reichsbischofs Ludwig Müller ab. Als Carl-Gunther Schweitzer trotz Verbot eine Kanzelerklärung des PNB gegen den „Maulkorb-Erlass“ des Reichsbischofs Müller verlas, wurde er 1934 seines Amtes enthoben, später aber wieder vorübergehend als Pfarrer eingestellt und schließlich 1937 mit 48 Jahren in den Vorruhestand geschickt. Als Mitglied der „Bekennenden Kirche“ und des „Reichsverbandes der nichtarischen Christen“ (seit 1935/ 36 im Vorstand) war er an den Koordinierungsgesprächen der BK für Christen jüdischer Herkunft beteiligt. In der sogenannten „Reichskristallnacht“ 1938 befand er sich unter falschem Namen in einem Diakonissenhaus und wurde nicht wie seine beiden Brüder verhaftet. 1939 emigrierte er mit Hilfe des „Büro Grüber“ über die Niederlande nach England. Seine Söhne Carl-Christoph und Friedrich (Friedel) Schweitzer gingen ebenfalls nach England, wo Friedrich bereits 1943 an Epilepsie starb, während der älteste Sohn Wolfgang Schweitzer durch wundersame Umstände sein Theologiestudium an der Universität Tübingen weiter führen und seine Doktorarbeit schreiben konnte. 15 Carl-Gunther Schweitzer, seine Frau Paula Schweitzer und Carl-Christoph kehrten nach dem Krieg zurück nach Deutschland. 1949 wurde Carl-Gunther Schweitzer der erste Leiter der Evangelischen Sozialakademie in Friedewald bei Siegen/ Westfalen. Nach seiner Pensionierung 1954 lebte er in Bonn, wo er einen Lehrauftrag für Innere Mission und Sozialethik an der Universität innehatte. 1965 starb er dort in Bonn-Ippendorf. 2.5. Das Schicksal von Ernst Schweitzer und seiner Familie Ernst Schweitzer (1888-1981) 16 beendete nach dem Ersten Weltkrieg seine medizinische Ausbildung zum Facharzt für innere Medizin, nachdem er bereits vor dem Krieg seine Doktorarbeit geschrieben hatte, 17 und eröffnete als Internist eine Kassenpraxis in Berlin. Ab 1933 verschlechterte sich die Familiensituation kontinuier- 14 Vgl. C.-G. S CHWEITZER , in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band IX (1995), 1200-1210. 15 W. S CHWEITZER , Gotteskindschaft. 16 Von der Taufurkunde bis zum Testament sind sämtliche Dokumente überliefert. Sie liegen wie der literarische Nachlass im Deutschen Exilarchiv Frankfurt (145, EB 99/ 057). Die Studienbücher und Zeugnisse seiner Studienzeit sowie die Dokumente im Zusammenhang mit seiner Praxis in New York befinden sich im Deutschen Medizinhistorischen Museum, Ingolstadt, Inventarnummer: 98/ 86. 17 Seine Doktorarbeit lautete: E. S CHWEITZER , Über die Grenzwerte des Tiefenschätzungsvermögens bei der Untersuchung mit dem Pfalzschen Stereoskoptometer. Sebastian Seidel 252 lich und spitzte sich 1937/ 38 dramatisch zu. Ernst Schweitzer unterlag sämtlichen Restriktionen der „Nürnberger Gesetze“, durfte zunächst nur noch jüdische Patienten (die er nicht hatte), dann überhaupt keine mehr behandeln. Die vier Kinder konnten nicht die gewünschten Berufsausbildungen absolvieren und keine nichtjüdischen Partner heiraten. Dazu kam, dass die Familie politisch überwacht wurde, weil Gabriele Schweitzer mit ihrem späteren Mann Hans Seidel 18 der Deutschen Jungenschaft vom 1.11.1929 angehörte, die ab 1934 verboten worden war, aber im Untergrund illegal weiter existierte. Am Abend des 1. November 1937 vermutete die Gestapo aufgrund des Hinweises der BDM-Führerin Melita Maschmann, 19 einer ehemaligen Schulfreundin von Gabrieles jüngerer Schwester Marianne Schweitzer, 20 ein geheimes Treffen der Deutschen Jungenschaft vom 1.11.1929 bei Schweitzers zuhause in Berlin in der Ebereschenallee. Aber nicht nur Gabriele Schweitzer wurde wegen des Verdachtes auf Hochverrat verhaftet, sondern vorübergehend auch ihre Mutter Franziska Schweitzer. Gabriele Schweitzer verschwand bis Juli 1938 nach Lichtenburg (Häftlingsnummer 218) ins Konzentrationslager. Hans Seidel wurde am 7. November 1937 verhaftet und saß bis zum 19. August 1938 im Polizeigefängnis Alexanderplatz und im KZ Sachsenhausen. Kurze Zeit später wurde auch Ernst Schweitzer in der sogenannten „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht. Vermutlich weil bereits konkrete Auswanderungspläne vorlagen (unterstützt durch die mit der Familie befreundeten Brüder Paul und Fritz Kempner), kam er aber bereits nach sieben Wochen wieder frei. Am 17. April 1939 empfahl ihn der Psychoanalytiker Carl Müller-Braunschweig, bei dem er illegal eine Lehranalyse angefangen hatte, 21 brieflich an den englischen Psychoanalytiker Ernest Jones weiter, wodurch er ein Transitvisum nach England bekam und in London bei Hans Thorner und Melanie Klein seine Lehranalyse fortsetzen konnte. Im Januar 1940 reiste er weiter nach New York, wo er bis zum Ende seines Lebens, unterstützt durch die Psychoanalytikerin Karen Horney, als Psychoanalytiker bzw. Psychotherapeut praktizierte. 22 Seine Frau Franziska Schweitzer konnte erst 1945 nachkommen, nachdem sie seit 1941, gemeinsam mit dem Sohn Christoph Schweitzer, auf Cuba festgehalten worden war. Im gleichen Jahr fiel Bruder Eike Schweitzer an der Ostfront. Marianne Schweitzer war bereits im September 1939 in New York angekommen. Nur Gabriele Schweitzer blieb mit ihrem 1940 in Berlin geborenen Sohn Hans-Joachim und der 1944 geborenen Tochter Cornelia in Deutschland. Nach dem Tod von Franziska Schweitzer 1972 fühlte sich Ernst Schweitzer sehr einsam, lebte zurückgezogen in Manhattan und versuchte sein persönliches Schicksal literarisch zu verar- 18 Vgl. H.-J. S EIDEL , Versuch über das Leben des Dr. med. Hans Seidel. 19 Vgl. M ASCHMANN , Fazit. 20 Vgl. B URKENROAD , Decisive Events in My Past. 21 Vgl. B RECHT / F RIEDRICH / H ERMANNS / K AMINER / J UELICH , „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter ...“, 186f. Vgl. L OCKOT , Erinnern und Durcharbeiten, 121f. 22 Er veröffentlichte unter anderem folgenden Artikel: E. S CHWEITZER , Problem Young People, in: Counsel for Teachers and Parents of Junior Highs. Volume 6, Number 3, April 1, for April - June, 1954. Als Psychoanalytiker erhielt Ernst Schweitzer in den USA keine Zulassung, sondern erst 1956 als Psychotherapeut. Der Fragebogen. Die Familie Schweitzer hinterfragt ihre „jüdische Abstammung“ 253 beiten, wovon der Gedichtband „Ein Mensch“ 23 und über tausend Gedichte in seinem Nachlass zeugen: „Das Haus ist eingestürzt, drin ich geboren, zerbombt die Stadt, darin es stand. Das Land, darin die Stadt lag, ward erobert, zur Legende ward das Vaterland. Mag’s bestehen in Gottes Namen. Sollte später einer fragen: ‚Woher stammt der E. S. her? ‘ ‚Nichts Genaues, weiß man, nur so ungefähr‘“. 24 Die beiden Kinder Christoph und Marianne Schweitzer blieben ebenfalls in den USA: Christoph Schweitzer wurde Germanistik-Professor in Chapel Hill, North Carolina, und Marianne Schweitzer heiratete 1947 Martin Burkenroad, einen Wissenschaftler aus einer jüdischen Familie aus New Orleans, und arbeitete ebenfalls als Germanistik-Professorin, unter anderem in Panama. Heute lebt sie mit über neunzig Jahren in La Jolla, Kalifornien (ihr zweiter jüdisch-stämmiger Mann Charles Fuchsmann, dessen Eltern um die Jahrhundertwende aus Odessa nach New York ausgewandert waren, starb 2015). Interessanterweise heiratete auch ihr Sohn David Burkenroad eine jüdische Frau und so gibt es drei Generationen nach Eugen und Algunde Schweitzer, die ohne praktische Ausübung eines Glaubens als Erwachsene vom Judentum zum Christentum konvertiert waren und in Familiendokumenten als „getaufte Juden“ 25 bezeichnet werden, im einem Teil der Familie wieder eine vielschichtige Zugehörigkeit zum Judentum. 3. Das erste Familientreffen und der Fragebogen Beim ersten Familientreffen der Familie Schweitzer im Jahre 1988 in Bonn nahmen neun der zwölf Enkelkinder von Eugen und Algunde Schweitzer mit ihren Familienangehörigen teil (insgesamt zeitweise 49 Personen), von denen sechs nach der Emigration nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt waren. Eike und Friedrich Schweitzer waren bereits gestorben. Nur Wolfgang Schweitzer musste aufgrund gesundheitlicher Probleme seiner Frau Marianne (Nana) absagen. Er stand aber auch dem Treffen skeptisch gegenüber, einerseits weil alle Enkelkinder natürlich nicht nur Nachkommen von Eugen und Algunde Schweitzer seien, sondern „daneben auch gleichwertige Beziehungen zu jeweils ganz anderen Familien“ hätten, andererseits auch deswegen, weil sogar der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der ein Klassenkamerad von Eike Schweitzer gewesen war und dessen schwierige Situation mitbekommen hatte, eingeladen werden sollte und aus seiner Sicht das „ganze Unternehmen ein oder zwei Stockwerke zu hoch“ angesetzt war. 23 Vgl. E. S CHWEITZER , Ein Mensch. 24 E. S CHWEITZER , LN VII, Gedicht 62. 25 Dies schreibt Maria Otte (geb. Schweitzer) in ihrem Bericht „Kurze Zusammenfassung meiner Erinnerungen an die N.s.Zeit“. Sebastian Seidel 254 Dies teilte Wolfgang Schweitzer nach dem Treffen brieflich mit, nachdem er vielseitig über das Familientreffen informiert worden war. Die neun Enkelkinder und die Angehörigen hatten bei diesem Treffen u.a. über ihre „jüdische Abstammung“ diskutiert: Hängt aber ein Zugehörigkeitsgefühl allein von der Religion ab? Oder gibt es auch ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem bestimmten Volk oder zu einer bestimmten historischen Gruppierung von Menschen? Gibt es über die Religion hinaus, geprägt durch eine Jahrtausend lange Verfolgung, gemeinsame kulturelle Wurzeln, die identitätsstiftend sein können? Was ist mit säkularen Juden? Sind sie keine Juden, weil sie nicht gläubig sind? Was also heißt heute „jüdisch“? Wer ist heute ein Jude? Genau solchen Fragen wollte auch Carl-Christoph Schweitzer mit seinem umfangreichen Fragebogen nachgehen. Und auch Wolfgang Schweitzer stellte im Nachhinein brieflich ganz explizit die Frage: „Was verbindet uns miteinander? “ Obwohl die „jüdische“ Herkunft nur die Seite der Väter betrifft, gesteht er zu, dass das Stichwort „jüdische Abstammung“ in der Familie „eine besondere Bedeutung“ bekommen hat, wenn auch unfreiwillig. Er schreibt: „Es ist wahr: Die Rassisten haben uns das aufgezwungen; aber weil sie in unser Leben eingegriffen haben, kommen wir nun einmal nicht daran vorbei, daß unsere Väter den Beinamen Israel annehmen und das große ‚J‘ in ihren Paß führen mussten. Die Tatsache, dass diese in unserm Leben eine Rolle spielte [...], unterscheidet nun einmal ein Familientreffen von Schweitzers von andern ähnlichen Familien- Zusammenkünften.“ 26 Die Schweitzers hatten ein gemeinsames Schicksal erlitten und ein Bedürfnis, das aufzuarbeiten, die einen etwas intensiver, die anderen etwas distanzierter, nicht zuletzt deswegen, weil der Altersunterschied unter den Enkeln über zwanzig Jahre betrug und insofern die Erfahrungen mit der Nazizeit sehr unterschiedlich waren. Alle aber waren sehr kritisch sich selbst und den anderen Familienmitgliedern gegenüber. Insbesondere auch kritisch gegenüber dem Fragebogen, den Carl- Christoph Schweitzer nach dem ersten Treffen verschickte. Er gliedert sich in folgende Teile: I. Fragen an die ältere Generation (also „Enkel“) das „dritte Reich“ betreffend II. Fragen an die ältere Generation das jüdische „Erbe“ betreffend III. Fragen an die Ausgewanderten und (zT) Rückgewanderten zum Problemkreis Emigration als solche IV. Fragen an die Rückwanderer und Hiergebliebenen (ältere Gen.) in Bezug auf die Zeit nach dem Krieg V. Fragen an die ältere Generation in der neuen Heimat VI. Fragen an die jüngere Generation in der neuen Heimat (in English) VII. Fragen an die jüngere Generation in Deutschland VIII. Fragen an alle abschließend 26 Dies schreibt Wolfgang Schweitzer in einem Brief Anfang Juni 1988 an die gesamte Familie. Der Fragebogen. Die Familie Schweitzer hinterfragt ihre „jüdische Abstammung“ 255 Alle zehn lebenden Schweitzer-Enkelkinder antworteten auf diesen Fragebogen, nicht aber alle beantworteten die Fragen, so schrieb z.B. Reicke Schweitzer einen kleinen „Essay“ über die Unbegreifbarkeit des Holocaust. Er fühlte sich mit den gestellten Fragen nicht wohl und stellte keinen Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Familienmitglieder und ihrer „jüdischen Abstammung“ fest. Auch andere sahen darin hauptsächlich den äußeren Anlass für ihr Schicksal bzw. ihre Emigration, so war für Carl-Christoph Schweitzer der „jüdische Faktor“ nur „Anlass für Verfolgung, mehr nicht.“ Nicht aber für alle war die Frage nach der Herkunft so schnell beantwortet. Auch hatte die „jüdische Abstammung“ bei einigen wieder Bedeutung gewonnen. So schrieben Marianne Burkenroad und Alexander Schweitzer unabhängig voneinander, dass ihre Ehepartner sie vielleicht überhaupt nicht geheiratet hätten, wenn sie nicht auch einen jüdischen Hintergrund gehabt hätten: „My husband, Martin, was of Jewish descent himself. We probably would not have gotten married if we did not share this background“. Marianne Burkenroad „The fact that I was half-Jewish was important to my Jewish wife (we might not have married if I had not been! ).“ Alexander Schweitzer Für die aus jüdischen Familien stammenden Ehepartner spielte also eine „jüdische Abstammung“ eine durchaus wichtige Rolle. Warum? Gibt es über den jüdischen Glauben hinaus eine Zugehörigkeit zum Judentum, die auch mit einer Konversion zum Christentum nicht endet? Oder gibt es gar „jüdische Verhaltensweisen“, die sich erkennen lassen? Besondere jüdische Verhaltensweisen in Bezug auf die Familie Schweitzer werden aber von allen durchweg verneint, dafür aber andere kritisch oder auch positiv genannt (Sabine Price: „Vielleicht dass wir uns alle für etwas besonderes halten? “): „Ich glaube nicht, dass es besonders typische jüdische Charakterzüge gibt, also auch nicht bei Schweitzers oder Hollaenders. Intelligenz, Musikalität, Streitsucht usw. gibt es in zahlreichen anderen Familien auch, vielleicht dass mit Wissen um die Schwierigkeiten der Ahnen das Interesse und die Sensibilität für Minderheiten jeder Art größer ist als gewöhnlich, mag sein, dass das Gefühl für Recht und Unrecht stärker ausgeprägt ist.“ Gabriele Seidel Gabriele Seidel empfand auch eine gewisse Zugehörigkeit ihres Vaters Ernst Schweitzer zum Judentum, obwohl dieser Zeit seines Lebens immer behauptet hatte, keine Ahnung vom Judentum zu haben: „Für mich gehörte er aber einer Familie an, einem Volk an, das seit Tausenden von Jahren verfolgt in aller Welt herumwanderte und seinem Glauben trotz aller Anfeindungen treu blieb. Erst als für die in Deutschland lebenden Juden eine Emanzipation sich zeigte, begann auch für seine Vorfahren die allmähliche Assimilation, die dann zum offiziellen Übertritt zum Christentum bei seinen Eltern führte.“ Gabriele Seidel Was also hatten die Schweitzers noch mit dem Judentum zu tun? Nichts außer ihrer Familiengeschichte, die jüdischen Vorfahren, und die waren für die einen wichtiger als für die anderen. Für die einen leitete sich daraus eine gewisse Verbundenheit ab und sie versuchten wie Gabriele Seidel, in Anlehnung an Isaac Deutscher, eine religions-unabhängige Definition: Sebastian Seidel 256 „Für mich ist Jude am ehesten der Sproß einer Familie ursprünglich jüdischen (mosaischen) Glaubens und somit Urenkel eines Propheten [...], wobei dann die eigene Religionszugehörigkeit keine Rolle mehr spielt, wohl aber das Bekenntnis zur Vergangenheit der Vorfahren.“ Gabriele Seidel Für andere war klar, dass nur der Jude ist, „der sich zur jüdischen Religion bekennt.“, wie Maria Otte und Christoph Schweitzer schrieben, und damit wäre für sie dieses Kapitel für immer abgeschlossen gewesen, wenn sie nicht aufgrund ihrer „jüdischen Abstammung“ aus Deutschland hätten fliehen müssen. Diese Abstammung wird dann manchmal auch benützt, um in der Emigration, in der neuen Heimat England nicht als „Nazi“ identifiziert zu werden: „Bei neuen Bekanntschaften mache ich es sehr bald klar, dass ich jüdischer Abstammung bin. Nicht, weil [ich] stolz darauf bin, sondern weil ich nicht will, dass sie denken könnten, ich sei Nazi gewesen.“ Sabine Price Daraus entsteht aber wiederum ein anderes Problem, dass oft nicht verstanden wird, dass auch Christen als „Juden“ oder „Halb-Juden“ verfolgt wurden: „Viele haben aber eine sehr verworrene Auffassung. Sie denken, die Juden seien verfolgt worden, weil sie ihren Glauben nicht aufgeben wollten.“ Sabine Price Und schon befinden wir uns wieder in diesem merkwürdigen Zwischenbereich, eigentlich kein Jude zu sein, aber trotzdem irgendwie dafür vereinnahmt zu werden. Und diesen Zwiespalt spürt man in allen Antworten. Auch eine gewisse Hilflosigkeit, wie das Familienschicksal zu bewerten ist, was nicht zuletzt auch von der aktuellen persönlichen Lebenszufriedenheit des einzelnen abhängt und auch nicht davon zu trennen ist. Alle Schweitzer-Enkel durchlebten einen Bruch in ihren Leben, alle mussten sich neu zurechtfinden. Die nach England und Amerika Ausgewanderten versuchten sich perfekt zu assimilieren und blieben doch immer als Ausbzw. Einwanderer erkennbar und wurden immer wieder auf ihre „Abstammung“ gestoßen, allein schon aufgrund ihrer Sprache bzw. Aussprache: „[...] wenn man nicht in dem Lande aufgewachsen ist, in dem man lebt, wenn man eine andere Sprache spricht als die, die man als Kind gesprochen hat, dann kann man nicht umhin als seine ‚Abstammung‘ zu denken - allerdings, wenn mit ‚Abstammung‘ die angeblich jüdische gemeint ist, dann war die ziemlich unwichtig.“ Christoph Schweitzer So gibt es aufgrund der Antworten in Bezug auf die „jüdische Abstammung“ kein Fazit, das auf alle Enkelkinder zutrifft, wohl aber gibt es die von allen erlittene und verbindende Erfahrung, aus Deutschland geflohen zu sein. Dieses Schicksal, das bei allen den gesamten weiteren Lebensweg geprägt hat, wurde zwar durch die „jüdische Abstammung“ ausgelöst, der „jüdische Faktor“ bildet aber keinen weiteren gemeinsamen Erfahrungshorizont, auf den man sich verständigen könnte. Nicht nur die Lebenswelten der Enkelkinder sind in England, Amerika und Deutschland zu unterschiedlich, sondern auch die intellektuellen und geisteswissenschaftlichen Interessen und Seelenlagen. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den unterschiedlichen Reaktionen auf Carl-Christoph Schweitzers Fragebogen und seine akademisch zergliedernde Art des Fragenstellens. Bemerkenswert aber bleibt das gemeinsame Bedürfnis, sich nach fünf Jahrzehnten wieder im Geburtsland Deutschland zu treffen, sich gegenseitig kennenzulernen, Der Fragebogen. Die Familie Schweitzer hinterfragt ihre „jüdische Abstammung“ 257 sich als „Familie“ zu empfinden und die Familiengeschichte zu erforschen. Bereits drei Jahre später im Jahre 1991 verabredeten sich die „Enkelkinder“ nach dem Fall der Berliner Mauer zu einem erneuten Treffen in Berlin und Potsdam. Und nochmal fünf Jahre später erschien das gemeinsame Buch, in dem jeder seine persönlichen Erlebnisse vor allem während des Dritten Reiches niedergeschrieben hatte und auch die Familiengeschichte bis hin zu den Großeltern von Eugen und Algunde Schweitzer, und damit zu den echten jüdischen Wurzeln, dargestellt wird. Quellen und Literatur Quellen Nachlass Ernst Schweitzer Deutsches Exilarchiv, Frankfurt: 145, EB 99/ 057. - LN = Literarischer Nachlass. LN I - LN XV. - GE = Gedanken und Erinnerungen. GE I - GE V. - BR = Briefe. BR I - BR XIII. - DO = Dokumente (noch nicht katalogisiert). Deutsches Medizinhistorisches Museum, Ingolstadt: 98/ 86. Literatur B RECHT , K AREN / F RIEDRICH , V OLKER / H ERMANNS , L UDGER M./ K AMINER , I SI- DOR J./ J UELICH , D IERK H.: „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter ...“ Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Katalog zur Ausstellung beim 34. Kongress der IPA (International Psychoanalytic Association) in Hamburg 28.7.-2.8.1985, Hamburg 1985. B URKENROAD , M ARIANNE : Decisive Events in My Past. 1933, 1937, 1939 and Melita Maschmann. Ins Deutsche übersetzt, bebildert und mit einem Nachwort von Hans-Joachim Seidel. Broschüre „Aus dem Ruhestand“ Nr. 20 + 5, Ulm 2007. D IE S AMMLUNG E UGEN S CHWEITZER . Elfte Versteigerung. 6. Juni 1918. Unter der Leitung von Paul Cassirer und Hugo Helbig, Kunsthaus Cassirer, Berlin 1918. Gemälde alter Meister. Sammlungen. Nachlass Eugen Schweitzer - Berlin, R. Löbbeke - Braunschweig, Sammlung eines deutschen Diplomaten, Gemälde der Bank für deutsche Beamte und anderer Privatbesitz, 28. Oktober 1930, Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus Berlin 1930. L OCKOT , R EGINE : Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus, Frankfurt/ Main 1985. M ASCHMANN , M ELITA : Fazit. Kein Rechtfertigungsversuch, Stuttgart 1963. S CHWEITZER , C ARL G UNTHER : Bismarcks Stellung zum christlichen Staate, Schriftenreihe der Preußischen Jahrbücher (Diss. Phil.), Berlin 1923. S CHWEITZER , C ARL G UNTER , in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band IX (1995), 1200-1210. Sebastian Seidel 258 S CHWEITZER , C HRISTOPH E.: The Twelve Grandchildren of Eugen & Algunde Hollaender Schweitzer. The impact of nazi racial policies on one family. Edited by Christoph E. Schweitzer in Collaboration with Wolfgang und Carl- Christoph Schweitzer, Chapel Hill (USA) 1996. S CHWEITZER , E RNST : Über die Grenzwerte des Tiefenschätzungsvermögens bei der Untersuchung mit dem Pfalzschen Stereoskoptometer, Frankfurt/ Berlin 1913. -: Problem Young People, in: Counsel for Teachers and Parents of Junior Highs. Volume 6, Number 3, April 1, for April-June, 1954. -: Ein Mensch. Gedichte. Ausgewählt und herausgegeben von Wolfgang Heuss, St. Michael 1981. S CHWEITZER , E UGENIO : La scuola pittorica cremonese. Ricordo dell'esposizione d’arte sacra in Cremona, in: L’Arte, Diretto da Adolfo Venturi, Anno III, 1900, 41-71. S CHWEITZER , W OLFGANG : Gotteskindschaft, Wiedergeburt und Erneuerung im Neuen Testament und in seiner Umwelt, Diss., Tübingen 1944. S EIDEL , G ABRIELE : Familiengeschichte Schweitzer Hollaender, Gerlingen 1985 (nicht veröffentlichtes Typoskript in Familienbesitz). S EIDEL , H ANS -J OACHIM : Versuch über das Leben des Dr. med. Hans Seidel, erst Landarzt, dann Arbeitsmediziner, mein Vater. Broschüre „Aus dem Ruhestand“ Nr. 20 + 2, Ulm 2006. V OIGTS , M ANFRED : Die deutsch-jüdische Symbiose. Zwischen deutschem Sonderweg und Idee Europa, Tübingen 2006. „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ von Charles Lewinsky Sebastian Seidel Wer hat sich nicht irgendwann als Außenseiter einer Gemeinschaft gefühlt, der er angehören will, aber in der er - aus welchen Gründen auch immer - nicht heimisch werden kann? Besonders stark erfasst viele dieses Gefühl in der Jugend, aber auch später kann einen diese Entfremdung in vielerlei Beziehungen überfallen, sowohl im privaten Umfeld als auch im gesellschaftlichen Kontext. Es ist die Frage nach der Heimat, die Suche nach vertrauten Menschen, die Sehnsucht nach einem Ort, der einem das Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt. Das klingt so einfach und ist doch so unendlich schwierig in der modernen Welt und ihrer transkulturellen Realität, in der „Heimat“ keine Selbstverständlichkeit, sondern ein beständiger, kreativer Akt der Selbstvergewisserung geworden ist. Viel ist dazu in den vergangenen Jahren gearbeitet worden. Über eine Heimat, in der man selbst noch nie war („Heimat? Da war ich noch nie! “ war der Titel des Friedensfestprogrammes 2014 der Stadt Augsburg), ist in vielfältig differenzierter Weise geschrieben, getanzt, gesungen und nachgedacht worden. Jeder Mensch scheint irgendwie betroffen, fast jede Familie hat irgendwie „Migrationshintergrund“, ob sie sich dessen bewusst ist oder nicht. Einerseits wird die gesellschaftliche Debatte darüber immer ausgefeilter, die sprachlichen Wendungen immer raffinierter, andererseits gibt es immer noch simple Übertragungen (auch wenn sie manchmal witzig gemeint sein sollen), wenn beispielsweise zu einer indisch aussehenden Frau unvermittelt gesagt wird, dass man selber auch sehr gerne Yoga mache, oder ernsthafter, wenn deutsche Muslime auf die Gräueltaten der IS angesprochen werden. Ungleich komplizierter wird es noch, wenn eines der größten Menschheitsverbrechen, der Holocaust, mit ins Spiel kommt und jemand versucht, als „gewöhnlicher Jude“ im Hier und Jetzt in Deutschland zu leben. Eine Einladung in eine Schule, um über das Judentum zu sprechen, kann da schon zu einer Identitätskrise führen, wenn man eben kein „Forschungsobjekt“, sondern ein gewöhnlicher Mitbürger sein will, wenn man eben nicht zu einem Repräsentanten der jüdischen Religion reduziert, sondern als Individuum mit einer ganz persönlichen (Familien- )Geschichte anerkannt werden will. Aber Normalität gibt es für einen Juden in Deutschland nicht, dazu kann man sich selbst als Kind noch so oft „als kleiner Deutscher“ verkleiden, dazu ist die Geschichte der Vertreibung und Vernichtung zu übermächtig, auch wenn von nicht-jüdischen Deutschen versucht wird, antisemitische Vorurteile durch demonstrativ zur Schau gestellte Judenfreundlichkeit zu verdrängen. Die nachgeborene Generation der verfolgten und getöteten Juden bleibt eine besonders beäugte (und vor jeder Synagoge beschützte) Gruppe von „jüdischen Mitbürgern“, sie bleiben Juden „in Deutschland“, denen indirekt z.B. durch Fragen nach der israelischen Politik immer wieder gesagt wird, dass ihre Heimat ja eigentlich Israel sei. Der Jude Goldfarb macht diese Erfahrung seit seiner Kindheit und Sebastian Seidel 260 beschreibt sie in seinem Absage-Brief an den Lehrer, der ihn wohlwollend in die Schule eingeladen hat. Er steigert sich immer weiter in die Beschreibung seines Lebens, seiner Kindheit, das Scheitern der Ehe, die Erziehung des Sohnes hinein und arbeitet sich dabei an „jüdischen Themen“ ab. So wollte er beispielsweise, dass sein Sohn, obwohl er selber inzwischen Atheist geworden ist, beschnitten wird. Einer der vielen Widersprüche, an denen seine Ehe zerbrach und mit denen er persönlich nicht klar kommt. Sein Leben schwankt zwischen Anpassung einerseits und trotziger Betonung der jüdischen Tradition andererseits, geprägt von allerlei Projektionen auf ihn, die ihn für immer und ewig zum Außenseiter degradieren. Charles Lewinsky (geb. 1946) ist ein Schweizer Schriftsteller, der mehrere Romane, Theaterstücke, Hörspiele und Drehbücher verfasst hat; u.a. erhielt er den Schillerpreis für den Roman „Johannistag“. Sein Stück „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ wurde mit Ben Becker in der Hauptrolle für die ARD verfilmt. 2.2. Erinnerung und Identität Brechts Schweigen über den Holocaust Erklärungsversuche anhand der Journal-Einträge (1938-1955) Franz Fromholzer Schreiben Sie, daß ich Ihnen unbequem war und auch zu bleiben gedenke. 1 1. Brecht und das Judentum - kein Thema der Forschung Brechts Verhältnis zum Judentum, seine Reaktionen auf antisemitischen Rassenhass sowie seine zu Lebzeiten unveröffentlichten Notate zum Holocaust haben zu vielfältigen und extremen Vermutungen Anlass gegeben. Dies ist vor allem einer Tatsache zuzuschreiben: Die Brechtforschung kennt das Thema „Brecht und die Juden“ nicht, wie Jan Knopf lapidar 2012 feststellt. 2 Diesem Umstand geschuldet konnte John Fuegi etwa 1994 Brecht als fanatischen Antisemiten charakterisieren, der den Holocaust gerechtfertigt habe. 3 Die Behauptung beruhte auf einer verfälschten Wiedergabe eines Zitats. 4 Gerhard Scheit vermutete andererseits, dass für Brecht Juden „zufällig“ 5 zu den Opfern des Nationalsozialismus geworden seien - er stützt seine These dabei allein auf einen Textbefund. Brecht blende „die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch den Nationalsozialismus aus“, 6 behauptete Tomislav Zelic´ dagegen, ohne weiterführende Erläuterungen zu liefern. Und noch prägnanter formulierte die „Encyclopedia of Holocaust Literature“: Brecht „never thematized the German genocide of the Jews in his writings.“ 7 Stimmt das? Wie können so grundsätzlich divergierende Forschungspositionen selbst weit über 50 Jahre nach Brechts Tod noch vorgebracht werden? Eines ist sicher: Brecht hat sich zweifellos mit dem Antisemitismus seiner Zeit und dem nationalsozialistischen insbesondere auseinandergesetzt. Nicht ganz ahnungslose Brecht-Kenner denken sofort an Gedichte wie „Ballade von der Judenhure Marie Sanders“, „Der Jude, ein Unglück für das Volk“ und „Die Medea von Lodz“, an die dramatischen Werke „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ sowie „Die jüdische Frau“, ferner die kurze Prosaschrift „Die Bestie“. Sie alle zeigen Brechts 1 Der Religionskritiker Bertolt Brecht zu Dompfarrer Karl Kleinschmidt über einen Nachruf auf seine Person, zit. nach W IZISLA , Begegnungen mit Brecht, 371. 2 Vgl. K NOPF , Bertolt Brecht, 265. 3 Vgl. F UEGI , Life and Lies of Bertolt Brecht, 461. 4 Vgl. V OIGTS , Brecht and the Jews, 103. 5 S CHEIT , Brecht und die Zuschreibungen des Totalitären, 15. 6 Z ELIC ´ , Adornos Kritik an Brechts „Ui“, 260. 7 B AHR , Bertolt Brecht, 186. Franz Fromholzer 264 künstlerische Stellungnahmen gegen die antisemitische Hetze seiner Zeit. Insbesondere die im Exil 1938 nochmals überarbeitete Parabel „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ kann als Brechts zentrales Werk gesehen werden, das auf den nationalsozialistischen Antisemitismus zu reagieren sucht. 8 Von einer Ausblendung dieser Thematik in seinem Werk kann folglich gar keine Rede sein. Aber wie hat sich Brecht über den Holocaust geäußert, gibt es von ihm dazu überhaupt eine bekannt gewordene Stellungnahme? Und wieso weiß hierüber die Forschung so wenig zu berichten? Die Vermessung des Terrains ‚Brecht und das Judentum‘ gestaltet sich umso schwieriger, je weiter der Exilant zunächst von Deutschland fliehen musste und je mehr schließlich Brechts späte Jahre in der DDR in den Blick kommen. Der Fokus der Forschung wird zusehends unschärfer und die Aussagen spekulativer. Wie kann hier methodisch vorgegangen werden, auf welche Texte wäre zurückzugreifen? Umfassende biographische Recherchen scheinen von Nöten, bedenkt man, wie eng Brecht mit Autoren und Künstlern aus jüdischen Familien befreundet und verbunden war. Die wichtigste Quelle, um diese eminente Forschungslücke zu füllen, stellt Brechts „Journal“ dar. Zu den Charakteristika dieses häufig als Tagebuch beschriebenen Werks zählt es, dass „Brecht darin viel stärker die Ereignisse der Zeit dokumentiert, reflektiert und bewertet; er bezieht die politischen und literarischen Debatten ein.“ 9 Für die genauere Untersuchung von Brechts Einstellung gegenüber Antisemitismus und Holocaust erweist sich als besondere Stärke, dass der Autor von Ende der 30er Jahre bis Mitte der 50er Jahre kontinuierlich am „Journal“ arbeitete. Das „Journal“ gibt also vielfach Brechts Reflexionen zum Kriegs- und Nachkriegsgeschehen wieder. Zugleich handelt es sich um eine künstlerisch höchst anspruchsvolle Produktion des Autors. Das „Journal“ ist in der Forschung aufgrund seiner Meisterschaft geradezu gefeiert worden. Brecht mache, so Wuthenow, das „Journal“ „zu einer beispiellos unpersönlichen Dokumentation, die bedeutend gerade in dem durchgehaltenen Bemühen des Autors wird, sich selbst zu verschweigen.“ 10 Der bewusst sachlich gehaltene Ton, die möglichst vorurteilsfreie und emotionslose Herangehensweise und die intendierte präzise Einordnung des formulierenden Ichs in gesellschaftliche und ökonomische Zusammenhänge zeichnen Brechts „Journal“ vielfach aus. Da der Autor zugleich direkt auf Ereignisse der Zeit reagiert, hat „dieses Unmittelbare“ 11 des „Journals“ bereits bei der Erstveröffentlichung Siegfried Unseld fasziniert. Brecht hinterfragt dabei konsequent selbst „den Wert der Betrachtungsweise.“ 12 Hierzu montiert Brecht recherchiertes Material wie Bilder oder Zeitschriftenberichte in seine Aufzeichnungen. Diese besitzen im entstandenen Werk für ihn 8 Klaus-Detlef Müller konstatiert hierzu allerdings, dass bei Brecht „der faschistische Antisemitismus in seiner Reichweite und seinen Konsequenzen verkannt“ worden sei. M ÜLLER , Bertolt Brecht, 144. 9 H ECHT , Die Mühen der Ebenen, 286. 10 W UTHENOW , Europäische Tagebücher, 187. 11 U NSELD , Zum Geleit, V. 12 Eintrag vom 20.6.44 in: B RECHT , Journale 2, 196 (= BFA 27). Die „Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe“ wird im Folgenden mit der Sigle „BFA“ zitiert. Brechts Schweigen über den Holocaust 265 „aufklärerisches Potential“. 13 Jacques Le Rider hat dementsprechend dem „Journal“ eine Bedeutung zugemessen, „comparable à celle de la poésie ou de la prose narrative“. 14 Allerdings wurde das „Journal“ bisher nur selten systematisch ausgewertet. Für den Forschungsbereich „Brecht und das Judentum“ soll dieses Unterfangen erstmals unternommen werden. 2. Brechts Wahrnehmung des deutschen Antisemitismus im Exil 2.1. Analysen - Operationen am „Phantom“ des Antisemitismus Wer einen genaueren Blick in Brechts „Journal“ wirft, das im Juli 1938 in Dänemark begonnen wurde und im Juli 1955 in Berlin eine letzte Eintragung erhält, muss erstaunt feststellen: Der vermeintlich gegenüber dem zeitgenössischen Antisemitismus desinteressierte Brecht dokumentiert über die Jahre und Länder hinweg judenfeindliche Tendenzen in seinem Umfeld und Bekanntenkreis. Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und bildliche Darstellungen fließen mit ein und finden Verwendung. Im Juni 1940 montiert etwa Brecht nach antisemitischen Stereotypen verfertigte Karikaturen Jean Cocteaus in seine Aufzeichnungen. In den Notizen führt Brecht Cocteaus Gedanken zur Camouflage aus und fasst sie affirmativ zusammen: „Cocteau fragt sich auch, ob die Wilden ihre Bemalung der Haut nicht weniger, um sich schrecklich, als um sich unsichtbar zu machen, vornehmen. Das ist ein guter Gedanke. Man macht etwas unsichtbar, indem man seine Gestalt zerstört, ihm eine unerwartete Form gibt, es also nicht etwa unscheinbar, sondern auffällig, aber fremdartig macht! Die Deutschen marschieren auf Paris.“ 15 Daneben - Brecht „realisiert Bild-Text-Kohärenzen“ 16 - findet sich im Sinne eines V-Effekts Cocteaus Zeichnung des russischen Bühnenmalers und Künstlers Léon Bakst, dessen Züge von Cocteau mit Hakennase, schiefen Augenbrauen, krummen Beinen und Monokel entstellt werden. 17 Die Leser sind hier folglich dazu aufgerufen, wie Philippe Ivernel zutreffend für das gesamte „Journal“ von Brecht formuliert, „de construire, dans la béance qui s’ouvre, un pont, dialectisant la relati- 13 B ECKER , Neue Sachlichkeit Bd. 1, 201. 14 L E R IDER , Brecht intime? , 320. 15 BFA 26, 377 (Eintrag vom 12.6.40). 16 J OST , „Die Gestaltung der Zukunft […]“, 128. 17 Die Zeichnung ist nicht der aktuellen Presse entnommen, sondern aus einer Broschüre des Jahres 1912 (vgl. BFA 26, 651). Cocteaus Zeichnung gehört also einer Schaffensperiode an, die den Camouflage-Ausführungen im Kontext des I. Weltkriegs vorangehen. Zu antisemitischen Darstellungen im deutschsprachigen Raum bietet einen instruktiven Überblick: H AIBL , Zerrbild als Stereotyp. Franz Fromholzer 266 on entre les deux côtés.“ 18 Durch Brechts provozierende Montage entsteht der Eindruck, Cocteau habe mit seiner Camouflage-Theorie nicht zuletzt auch seine, Cocteaus Erklärungsweise geliefert, wie jüdische Assimilation unter dem Druck einer Unsichtbarmachung der eigenen Kultur bis ins Körperliche hinein die Fremdartigkeit ‚des‘ Jüdischen noch verstärkt habe. Brechts Interesse gilt hier keinen Rassefragen, sondern gesellschaftlich relevanten Strategien der Camouflage, die angesichts des aggressiv expandierenden deutschen Reiches von überlebenswichtiger Bedeutung sein können. Die Maskenhaftigkeit der eigenen Person wird als eine wichtige „Verhaltenslehre der Kälte“ 19 kenntlich. Der Antisemitismus erscheint als nicht befragte historische Gegebenheit. Brechts Interesse gilt den tarnenden Verhaltensweisen der Verfolgten. Zugleich verbindet Brecht Cocteaus Ausführungen über „die Wilden“ mit seinen Zeichnungen von Juden. Der Exotismus fremder Völker, für den sich der junge Brecht faszinieren konnte, scheint auf das Judentum übertragen zu werden. Dieser eigenartige Zugang findet nicht unter den Umständen einer im Elfenbeinturm geschützten wissenschaftlichen Theoriebildung statt: Wenige Tage später notiert Brecht seine großen Sorgen um Lion Feuchtwanger, der im Mai 1940 in das französische Internierungslager Les Milles eingewiesen wurde. Über antisemitische Tendenzen im Kulturbetrieb in Schweden (Eintrag vom 16.1.41 etwa), in Frankreich (z.B. Eintrag vom 12.12.44) oder den USA (z.B. Einträge vom 29.6.42 oder 5.11.42) erfährt Brecht durch Künstler wie den Dirigenten Simon Parmet, den Komponisten Hanns Eisler, den Schauspieler Jean Renoir oder den Regisseur Hans Winge. Brechts Notizen, die im Sinne dokumentarischer Literatur auch mündliche Rede wiedergeben, sind sachlich und ohne persönliche Stellungnahme. Sie lassen jedoch immer wieder auch im selektiven Festhalten des Mitgeteilten eigene Ansichten aufscheinen, etwa wenn das Gespräch Hans Winges mit einem Angestellten der amerikanischen Militärindustrie zitiert wird: „And big money doesn’t like a certain racial minority either, got me? “, 20 so der kühl beim Gesagten eine Karte durchschauende Bürokrat. Brecht gestaltet in diesem Eintrag den Antisemiten als rational agierenden, von ökonomischen Interessen geleiteten, emotionslosen Schreibtischtäter - und nicht als irrationalen, wutschäumenden Rassisten. Ähnlich war er bereits in seinem Text „Die Bestie“ Ende der 1920er Jahre vorgegangen. 21 Zugleich wird angesichts amerikanischer Antisemiten in einflussreichen Positionen klar, dass Antisemitismus für den Exilanten Brecht vor allem eines ist: kein spezifisch deutsches Phänomen. Sucht man im „Journal“ nach Erklärungsmustern des zeitgenössischen Antisemitismus, so zeigt Brecht neben den Interessensverbänden des „big money“ noch 18 I VERNEL , L’œil de Brecht, 226. 19 Vgl. L ETHEN , Verhaltenslehren der Kälte, 60. 20 BFA 27, 134 (Eintrag vom 5.11.42). 21 Brecht thematisiert in dieser 1928 verfassten Geschichte Pogrome im zaristischen Südrussland. Gleich dem Zeitung lesenden amerikanischen Bürokraten schildert er hier den Gouverneur Muratow etwa wie folgt: „Er sucht die Theaternachrichten unterm Strich. Schlägt mit der Hand leicht den Takt zu einem Schlager. (Eröffnet das Verhör.) Indem er die Juden mit einer gemeinen Bewegung des Handrückens drei Meter zurückweist.“ B RECHT , Die Bestie, in: BFA 19, 297. Brechts Schweigen über den Holocaust 267 eine weitere Möglichkeit auf. Brecht vermutet unter dem Eintrag von 28. Februar 1942 das berechnende Kalkül des Bürgertums: „Der Antisemitismus ist ebenfalls nichts ‚Sinnloses‘, wenn er auch etwas Abscheuliches ist. Die Nation operierte da am Phantom. Das Bürgertum, das die politische Herrschaft nie bekommen hatte, schuf so ein Nationalgefühl (‚gegen die Juden‘ war ‚für die Sudetenbrüder‘).“ 22 Die Konstruktion eines jüdischen Feindbildes kennzeichnet Brecht als kühl konzipiertes Trugbild. Diesem Phantom weist er die Funktion der Schaffung eines Nationalgefühls zu. Brecht hebt hier eine wichtige Funktion des deutschen Antisemitismus hervor. 23 Beim Antisemitismus handele es sich aber, so Brecht, genuin um ein bürgerliches Phänomen, das dem noch nicht befriedigten Machtstreben dieser Gesellschaftsschicht geschuldet sei. Brechts Analyse, die keinen Zweifel daran lässt, welche Abscheu er selbst gegenüber Antisemiten empfindet, ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen bewertet Brecht den zeitgenössischen Antisemitismus als Operation am „Phantom“, als etwas, das gegen eine gezielt gestreute Täuschung vorgeht. Der Antisemitismus kann also für Brecht nicht einer „Tatsachenwirklichkeit“ 24 zugeschrieben werden, wie er sie als Dokumentarist im Auge hat, denn hinter diesem Antisemitismus verbirgt sich in Wirklichkeit etwas anderes. Brecht weist damit aber auch energisch Verschwörungstheoretiker und Rassisten zurück, die an ein jüdisches Komplott glauben. Zum anderen engt er antisemitische Gewaltbereitschaft auf bürgerliche Kreise ein und spricht andere Klassen davon frei, für dieses „Phantom“ verantwortlich zu sein. Noch in einem Eintrag vom 3. April 1947 ist der Ärger Brechts zu bemerken, als ihn ein amerikanischer Schriftsteller auf Antisemiten in der deutschen Arbeiterschaft hinweist und die von Brecht „romantisierten“ Arbeiter für wirklichkeitsfremd hält. Selbst in der von Brecht in indirekter Rede wiedergegebenen Tirade bleibt Antisemitismus ein politisches Propagandamittel, dem die Arbeiterschaft „zum Opfer“ 25 gefallen sei. Auch aus diesem Grund ist es so gefährlich, Antisemitismus als Operation am „Phantom“ zu diagnostizieren, dem andere Ursachen zugrunde lägen. Die Wirklichkeit der tatsächlichen Opfer gerät völlig aus dem Blickfeld. Selbst in dieser Diskussion von 1947, wenn nach den vermeintlich wahren - ökonomischen oder nationalistischen - Motiven geforscht wird, die dem rassistischen Irrationalismus eigentlich zugrunde liegen müssten, ist dies der Fall. In den „Journal“-Notizen zum Antisemitismus geht Brecht konsequent von empirischen Hinterwelten aus, die den antisemitischen Hass in Wahrheit motivieren. 2.2. Provokationen - Der junge Marx weist den Weg Brecht kann natürlich nicht entgehen, wie sehr die aus jüdischen Familien stammenden Künstler im Exil angesichts der von Hitler entfachten Vernichtungskampagne mit ihrer eigenen Identität ringen. Nicht selten bereits seit der Jugend jüdi- 22 BFA 27, 64 (Eintrag vom 28.2.42). 23 Vgl. H AURY , Antisemitismus von links, 103-105 (Kapitel: „Die Juden“ als „idealer Feind“). 24 M ILLER , Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, 34. 25 BFA 27, 246. Franz Fromholzer 268 schem Glauben und jüdischer Kultur distanziert gegenüberstehende Exilanten fühlen sich in existentieller Weise auf ihre soziale Herkunft zurückverwiesen. Im amerikanischen Exil intensivieren sich die Diskussionen in Brechts Umfeld, während sich die schrecklichsten Nachrichten aus ganz Europa verbreiten. Zu Brechts Bekanntenkreis zählen hier etwa der im Jüdischen Kulturbund tätige Ludwig Hardt, der durch eine Anzeigenkampagne in amerikanischen Zeitungen auf den Holocaust hinweisende Drehbuchautor Ben Hecht oder Salka Viertel, in deren Haus Brecht ein gern gesehener Gast war. Aus den „Journal“-Einträgen lässt sich gut rekonstruieren, wie Brecht als Zuhörer an Diskussionen teilnimmt, die zusehends innerjüdischen Charakter annehmen und denen gegenüber Brecht äußerst reserviert reagiert. Heine wird zum jüdischen Dichter erklärt, der um eine Annäherung zwischen den Weltreligionen bemühte Schalom Asch gepriesen und von „jüdischen Linken“ 26 empört festgestellt: „Die Juden wissen nichts über ihre Kultur! “ 27 Dem seit Jugendjahren atheistischen Brecht, der auf Jenseitsvertröstungen und religiöse Heilsversprechungen mit scharfen Invektiven zu antworten gewohnt ist, verärgern Gespräche, die eine solche Wendung nehmen. Brecht spricht sich mit klaren Worten gegen eine Verklärung der jüdischen Kultur aus, auch wenn er angesichts der historischen Lage die Beweggründe der Exilanten verstehen kann. Brecht selbst argumentiert demgegenüber wie folgt: „Vergebens suche ich einzuwenden, daß Hebräisch und sogar Jiddisch nicht so voll entwickelte moderne Sprachen sind wie Englisch, Russisch, Französisch, Deutsch, Spanisch und gewisse asiatische Sprachen. Daß Schönberg, Einstein, Freud, Eisenstein, Meyerhold, Döblin, Eisler, Weigel nicht jüdische, sondern andere Kulturen verkörpern usw. usw. Zeugnisse ‚jüdischer‘ Kultur gibt es meines Wissens nicht im gleichen Format wie etwa der Jazz oder die Negerplastik oder die irische Dramatik. Genau wie zu Marxens Zeit müssen die Juden sich vom Kapitalismus (‚dem Kommerz‘) emanzipieren und nicht sich in ihre ‚alte Kultur‘ flüchten.“ 28 An diesen mit großem Ressentiment vorgetragenen Ratschlägen an die jüdischen Intellektuellen fällt besonders auf, wie sehr sich Brecht vom Thema abgestoßen fühlt. Wenn Brecht die jüdische Kultur neben irische Dramatik, Jazz und „Negerplastik“ stellt, versucht er implizit, die zur Geltung drängenden rassischen Bewertungskriterien ad absurdum zu führen. Seine Frau, die Ende der 20er Jahre aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten war, 29 kann er keiner jüdischen Kultur zuzählen - es sei denn, so müsste gefolgert werden, man wolle Judentum im rassischen Sinne definieren. Auf diese Gedankengänge will Brecht sich nicht einlassen. Daher rührt seine Empörung. Darüber hinaus wird aber auch die Geringschätzung Brechts für jüdische Sprache und Kultur deutlich, die keinesfalls allein dem Label „Religionskritik“ zugerechnet werden kann. Eigentlich sind Hebräisch und 26 BFA 27, 208 (Eintrag vom 22.10.44). 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Vgl. hierzu P LÖCKL , Bescheinigung über Helene Weigels Austritt aus dem Judentum, 148f. Brechts Schweigen über den Holocaust 269 Jiddisch keine Sprachen der Moderne, so Brechts Vorurteil. 30 Wann hat er sich mit diesen Sprachen eigentlich intensiver befasst? 31 Emanzipiert Euch! Möchte Brecht den Gesprächspartnern wohl zurufen, fangt nicht wieder damit an, Euch vor falschen Priestern und Propheten gleich welcher Religion zu beugen. Und Brecht nennt auch in einem Atemzug sogleich die Autorität, auf die er seine Argumente stützt. Es ist Karl Marx. Brechts Geschichtsauffassung sieht die jüdischen Gesprächspartner am Scheideweg zwischen Kommerz und alter religiöser Kultur. Beides sind falsche Alternativen. Seit Marxens Zeiten im 19. Jahrhundert hat sich nichts geändert, muss Brecht wohl verärgert festgestellt haben. Seine Verärgerung zeigt sich am deutlichsten in der boshaften Montage, mit der er den Eintrag komplettiert. Er fügt den Notizen einen Comicstrip des Cartoonisten Crockett Johnson hinzu. Es handelt sich um einen Strip aus der „Barnaby“-Serie, in der ein fünfjähriger Junge sich mit dem dicken, Zigarre rauchenden und Flügel schlagenden Gottvater der Feen, Mr. O’Malley, unterhält. Das Kind glaubt fest an den Feengott. Der Titel des Strips lautet: „Miracles are promised but not performed.“ 32 Mit ätzender Religionskritik belegt Brecht beim Verfassen des „Journal“- Eintrags auch aus der Erinnerung das Gespräch mit den jüdischen Linken. Der Rückgriff auf das Medium des Comics ist dabei kein Zufall: Der Comic steht als Text-Bild-Medium für „die Materialisierung gesprochener Sprache“ 33 ein - selbst Gebete und Visionen werden im Comic als Sprach-Material sichtbar. Der eingeklebte Comicstrip spielt auf gekonnte Weise mit der Materialität der Sprache, nicht zuletzt durch leere Sprechblasen. Der Brechtsche V-Effekt schlägt also hier mit vermeintlichem Erkenntnisgewinn wieder zu: Weder auf rassistische Argumente noch auf die Kindereien der Religionspropheten will Brecht sich einlassen. Brecht findet wenig Gefolgschaft für seine Position. Der deutsche Antisemitismus und sein Vernichtungswille ist längst als intellektuelle Herausforderung in den Exilantenkreisen erkannt worden - auch wenn man sich über die Dimensionen der Katastrophe noch nicht im Klaren ist. Vor allem Horkheimer und Adorno und ihr von Brecht geschmähtes Soziologisches Institut forcieren Forschungen zum Antisemitismus. Brecht notiert nach Tiraden gegen Horkheimer und Adorno sowie gegen „die New Yorker Juden“ 34 am 18. Dezember 1944 seine Auffassung - er beruft sich 30 Zu diesem Vorurteil gehört auch die bekannte Geringschätzung der „Judaismen“ in Benjamins Schrift „ Über den Begriff der Geschichte “ . BFA 27, 12 (Eintrag vom August 1941). Mitte der 30er Jahre geht Brecht aber andererseits in das Jiddische Theater in New York, „einem sehr fortschrittlichen Theater“ (BFA 22, 210). Nachhaltige Spuren scheint dieser Theaterbesuch folglich nicht hinterlassen zu haben. 31 Es sind in Emigrantenkreisen etwa gegenüber jiddischer Sprache und Kultur auch ganz andere Einstellungen auszumachen. Erika und Klaus Mann notieren in ihrem 1938 verfassten Exilwerk „Escape to life“ über den Brecht-Freund und gefeierten Schauspieler Alexander Granach: „Der deutsche Schauspieler Alexander Granach spricht jiddisch, und Jiddisch, das ist eine Weltsprache.“ M ANN , Escape to life, 356. 32 BFA 27, 208. 33 K LEIHUES , „Es entsteht ein ununterbrochenes Flimmern“, 396. 34 BFA 27, 213. Brecht hatte bereits 1937 versucht, durch Arnold Zweig bei New Yorker Juden Unterstützung für Hermann Borchardt zu erhalten. An Georg Grosz schreibt Brecht Franz Fromholzer 270 wiederum dezidiert auf Marx, muss zweifellos die kleine Schrift „Zur Judenfrage“ von 1843/ 44 im Exil erneut zur Hand genommen haben: „Marx nahm den Juden, wie er historisch ‚vorlag‘, geformt durch Verfolgungen und Widerstand, in seiner wirtschaftlichen Spezialisierung, seiner Angewiesenheit auf flüssiges Geld (der Notwendigkeit, sich frei- oder einzukaufen), seiner Kultivierung uralten Aberglaubens usw. usw. Und Marx riet ihm, sich zu emanzipieren (und machte ihm dies auch vor). Adornos Gesicht kann nicht lang werden, was ihm als einem Theoretiker gut zustatten kommt. So musste ich ein wenig weitergehen. Ich schlug ihm vor, den Kapitalismus deswegen anzugreifen, weil er den Schacher liquidiert hat. Womit er all die Phantasie, all den Humor, all den amüsanten Kampf, kurz, den Geist aus dem Handel ausgemerzt hat. Ich schilderte Adorno die Verachtung, die der Chinese (dem Juden im Schacher weit überlegen) dem westlichen Händler zollt, der einfach den Preis zahlt und mit der Beute weggeht, ohne daß irgendein menschlicher Vorgang, ein Wettstreit der Gehirne, vorgegangen ist. Wenn die Anwesenheit des Verkäufers so überflüssig ist, warum dann nicht schon gleich einfach einbrechen? “ 35 In den angeführten Notizen vermischen sich persönliche Aversionen gegenüber Adorno mit Rückgriffen auf stereotype Wahrnehmungen des Judentums. Wenn Brecht sich auf eine Deutung des Antisemitismus einlässt, die dessen Ursachen nicht im Kapitalismus erkennt, dann nur in höhnischem Tonfall. So scheint es hier der Fall zu sein. Und mit peinlichen Vergleichen zwischen „dem“ Juden und „dem“ Chinesen will Brecht natürlich in erster Linie den ungeliebten Adorno provozieren. Das Gespräch soll sich, wie Brechts Gedankenführung unmissverständlich verrät, von der Antisemitismus-Forschung hin zur Anti-Kapitalismus-Aktion verschieben. Brechts Camouflage-Technik lautet hierbei: Ich argumentiere mit Karl Marx, auf den ich mich mit genauer Textkenntnis berufen kann. Inwieweit hat dies hier seine Berechtigung - und auf welche spezifische Weise rezipierte Brecht die Schrift „Zur Judenfrage“ von Marx? Hierzu sind kurze Erläuterungen nötig. Die Schrift von Marx ist in der Forschung nicht unumstritten und wiederholt einer kritischen Lektüre unterzogen worden. Der gerade 25 Jahre alte Karl Marx veröffentlicht im März 1844 eine Doppelrezension zu den Schriften „Die Judenfrage“ und „Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden“ von Bruno Bauer. Marx tritt im ersten Teil entschieden für eine allgemeine Emanzipation der Juden ein, er wendet sich jedoch dagegen, die Judenemanzipation als eine religiöse Frage zu betrachten: „Die Religion gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit.“ 36 Dies zeigt sich im zweiten Teil in einer wesentlichen Neuakzentuie- im Februar 1937: „Natürlich habe ich noch einige Leute (wie Arnold Zweig) gebeten, sich bei den Neuyorker Juden zu verwenden, aber B. ist eben in der scheußlichsten Lage. Die einen sagen, warum machen die Berliner Juden nichts für ihn? Und die andern, warum haben die Kommunisten ihn ausgewiesen? Und manchmal sind die einen auch noch die andern.“ BFA 29, 11. 35 BFA 27, 213f. (Eintrag vom 18.12.44). 36 M ARX , Zur Judenfrage, 352. Brechts Schweigen über den Holocaust 271 rung, wenn Marx nicht den frommen Juden, sondern den weltlichen Juden ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückt: „Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatsjuden, wie Bauer es tut, sondern den Alltagsjuden. Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unsrer Zeit.“ 37 Trotz der Verwendung antijüdischer Stereotype bei Marx soll hier zunächst seine Argumentationslinie kenntlich gemacht werden. Marx nutzt die Kritik am weltlichen Judentum, um sie letztlich als einen „Angriff auf die bürgerliche Gesellschaft“ 38 zu instrumentalisieren. Die „Selbstemanzipation unsrer Zeit“ ist nur als allgemeine Forderung aufzufassen, die nicht allein Juden betrifft. So ist Hermann Klenner zuzustimmen, wenn er den berühmten Schluss-Satz der Schrift „Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum“ 39 ohne Verfälschung des Gesagten auch wie folgt formuliert: „Die gesellschaftliche Emanzipation des Christen ist die Befreiung der Gesellschaft vom Christentum! “ 40 Diese gesellschaftliche Stoßrichtung der Schrift von Marx, die die Religion und Verhaltensweisen der Frömmigkeit von materialistischen Gegebenheiten her zu erklären versucht, kann aber über eine Tatsache nicht hinwegsehen: Marx’ „Art der Benutzung antijüdischer Motive durchzieht den gesamten zweiten Teil von Zur Judenfrage.“ 41 Es wird wenig überraschen, dass nach dem Holocaust und angesichts antisemitischer Verfolgungswellen in kommunistischen Ländern Ende der 1940er Jahre eine Diskussion entfacht wurde, inwieweit Karl Marx als Antisemit zu bezeichnen sei. Unter Verwendung eines weit gefassten Antisemitismus-Begriffes unternahm etwa Silberner eine scharfe Kritik an Marx. 42 Aber auch als ein „Paradebeispiel der Projektion jüdischen Selbsthasses“ 43 ließ sich die kleine Schrift des jungen Marx verhandeln. Enzo Traverso schließlich konstatiert, dass Marx’ Schrift „einer rein moralischen Denunziation näher [stehe, F.F.] als einer wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus“. 44 37 Ebd., 372. 38 L AMPE , „Aus ihren eigenen Eingeweiden […]“, 128. 39 M ARX , Zur Judenfrage, 377. 40 K LENNER , Über Klasseninteressen und subjektive Rechte, 121. 41 H AURY , Zur Judenfrage (1843/ 44), 154. 42 Vgl. S ILBERNER , Was Marx an Anti-Semite? , 3-52. 43 L AMPE , „Aus ihren eigenen Eingeweiden […]“, 117. 44 T RAVERSO , Die Marxisten und die jüdische Frage, 42. Franz Fromholzer 272 Marx hat sich in späteren Jahren nicht mehr sonderlich für die Judenemanzipation interessiert, von jüdischen Verschwörungstheorien und personifiziertem Hass auf jüdische Zeitgenossen kann also bei Marx gar keine Rede sein. Die Herausforderung, die der Text auch heute noch Exegeten bereitet, liegt aber darin: Marx nahm „das Stereotyp [des an Eigennutz und Geld interessierten Juden, F.F.] unkritisch als zentralen Topos auf und glaubte es zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft benutzen zu können.“ 45 Diese unkritisch zitierten Stereotype zu Verhaltensweisen ‚des‘ Juden werden jedoch als Vorwurf an die bürgerliche, deutsche Gesellschaft formuliert, um eine allgemeine Emanzipation zu befürworten. Es ist erstaunlich, wie sehr für Brecht diese Schrift im amerikanischen Exil normativen Charakter erhält. Weder die weitaus breiter rezipierte Engels-Schrift „Über den Antisemitismus“ noch die wichtige Resolution zum Antisemitismus, die von August Bebel auf dem Kölner Parteitag der SPD von 1893 eingebracht wurde, nimmt er überhaupt in den Blick. 46 Marx scheint ihm gerade deshalb so entscheidend, weil in seiner Person sowohl Theorie als auch Praxis einer Judenemanzipation vorgeführt werden können (Adorno bleibt dagegen lediglich „Theoretiker“). Als Emigrant, der weder aus einer jüdischen Familie stammt noch für die jüdische Religion Interesse zeigt, will Brecht mit der Berufung auf Marx zu einer innerjüdischen Diskussion Stellung beziehen. Zugleich nutzt Marx, so wie dies auch Brecht gegenüber Adorno fordert, negative Vorstellungen vom Judentum, um diese kämpferisch der bürgerlichen Gesellschaft vorzuhalten. Der „Journal“-Eintrag zeigt Brecht als genauen Kenner der Marx-Schrift, der allein den weltlichen Juden einer analytischen Betrachtung unterziehen möchte. Micha Brumliks Diagnose, bei Marx lasse sich ein „kaum noch aufklärbarer Widerwillen gegen den jüdischen Glauben“ 47 feststellen, ist hier zweifellos zutreffend. Der Rückgriff auf Marx - dieser kritische Hinweis kann nicht unterbleiben - ist natürlich auch eine Flucht Brechts vor den Anforderungen der Gegenwart in die Vergangenheit des 19. Jahrhunderts. Bedenkt man, wie sehr etwa Brechts Freund Lion Feuchtwanger in diesen Jahren um ein differenziertes Verständnis und Verhältnis zum Judentum ringt, 48 wirken Brechts Eintragungen hier geschichtsblind. Brechts Analysen im Anschluss an Marx fügen Marx wenig hinzu. Das sarkastische Spiel mit Stereotypen, wenn „der“ Chinese „dem“ Juden im Schacher überlegen sein soll, macht aber auch deutlich, wie wenig Interesse Brecht daran hat, antijüdische Stereotype als Erklärungsmuster zu nutzen. Sie sind für ihn - wie bei Marx - unkritisch zur Argumentation verwendete Produkte der kapitalistischen Gesellschaft. Hier kennt Brecht „seinen“ Marx. Da Brecht die von Marx verwendeten antijüdischen Stereotype noch mit Verve dupliziert (der Chinese übertrumpft ja bei 45 H AURY , Zur Judenfrage (1843/ 44), 162. 46 Vgl. hierzu F LEMMING , „Berghohe Schwierigkeiten“, 199-201; F ETSCHER (Hrsg.), Marxisten gegen Antisemitismus, 54-57 (Engels) u. 58-76 (Bebel). 47 B RUMLIK , Deutscher Geist und Judenhaß, 309. 48 Flavius Josephus etwa stellt sich für Lion Feuchtwanger wie folgt dar: „Er war eine neue Art Mensch, nicht mehr Jude, nicht Grieche, nicht Römer: ein Bürger des ganzen Erdkreises, soweit er gesittet war.“ F EUCHTWANGER , Der jüdische Krieg, 275. Zum Verhältnis von Lion Feuchtwanger zum Judentum vgl. auch: W OLF , Lion Feuchtwanger und das Judentum. Brechts Schweigen über den Holocaust 273 Brecht noch den Juden), wird ersichtlich, wie wenig Brecht das Hass-Potential dieser Stereotype erkennt und wie wenig kritisch er dagegen vorgeht. Gustav Mayer, ein früher Historiker der Arbeiterbewegung etwa, konstatierte bereits 1918, Marx komme zu einer „karikaturalen Auffassung“ 49 der Juden. Auch Brecht hinterfragt die gelieferten negativen Stereotype auf ihren Wirklichkeitsgehalt hin nicht. Darüber hinaus: Wie Adorno argumentierte, welche Einwände er vorbrachte, wie aus seiner Sicht der Antisemitismus zu erforschen wäre? Darüber macht sich Brecht keine Notizen. Eine kritische Neubestimmung seiner Position hält er im Dezember 1944 nicht für nötig. 2.3. Aktionen - Brechts Engagement in jüdischen Emigrantenkreisen Es wäre ungerecht, wollte man Brecht auf einen überheblichen Intellektuellen reduzieren, der dem zeitgenössischen Antisemitismus mit kaltem Spott begegnete und in Untätigkeit verharrte. Brecht kann und will es nicht dabei belassen, Emigranten wie Adorno mit Marx zu provozieren. Als Theatermann wird er auch im Exil aktiv. In einem „jüdischen Club“ 50 etwa lässt Brecht im November 1941 Texte aus der „Kriegsfibel“ von Fritz Kortner und anderen vortragen. In Klammern notiert er seine Wahrnehmung der Zuhörerschaft: „(Das Publikum besteht aus jüdischen Emigranten, die meisten wohlhabend.)“ 51 Brechts Distanzierung gegenüber den finanziell gut gestellten jüdischen Emigranten ist deutlich zu spüren, gerade weil er diese Beobachtung in Klammern setzt. Tatsächlich befand sich die ursprünglich als German-Jewish Club in New York gegründete Organisation mit zahlreichen Ablegern in den USA in einem fundamentalen Umbruchsprozess. Über Jahre als Hilfsorganisation für Immigranten tätig, wandelte sich der Club nach Hitlers siegreichen Kriegszügen ab 1940 zusehends in einen „Schutzwall“, 52 der einflussreiche und finanzkräftige jüdische Prominente zu gewinnen suchte. Man fürchtete einen weltweiten Siegeszug der Antisemiten. Zugleich distanzierte sich das nun in Jewish Club of 1933 umbenannte Hilfswerk in Los Angeles von seiner Bindung an die deutsche Kultur. Der Präsident Leopold Jessner postulierte im August 1941 die „Amerikanisierung“ 53 der Immigranten als Hauptaufgabe des Clubs. 54 Trotz dieser schwierigen Gemengelage war die Brecht-Lesung ein großer Erfolg. Der Jude Leo Reuss, der unter der Tarnidentität des Tiroler Bauern Kaspar Brandhofer noch 1936 in Wien Theatererfolge feiern konnte, plant begeistert einen „Brechtabend“, bei dem Max Reinhardt „Die jüdische Frau“ mit Fritzi Massary in 49 M AYER , Der Jude in Karl Marx, 57f. 50 BFA 27, 26 (Eintrag vom 16.11.41). 51 Ebd. 52 A MBESSER , Die Ratten betreten das sinkende Schiff, 168. 53 Ebd., 170. 54 Unter dem Titel „German-Jewish Club of 1933. Ein vergessenes Kapitel der Emigration“ widmete 1966 der Süddeutsche Rundfunk der in Los Angeles geleisteten Kulturarbeit ein aufschlussreiches Radiofeature. Das Skript zur Sendung ist vom Center of Jewish History der Öffentlichkeit als Digitalisat zugänglich gemacht worden (http: / / access.cjh.org/ home. php? type=extid&term=1059392#1, aufgerufen am 20.5.2014). Franz Fromholzer 274 der Hauptrolle inszenieren möchte. Brecht hätte sich für diesen Abend jedoch gewünscht, dass seine Frau Helene Weigel die Rolle übernimmt. Die berühmte Operettensängerin Massary hat dann Vorbehalte und sagt ab: „Aber da hatte sich Massary schon geweigert, bei einem Brechtabend aufzutreten; sie wollte den ‚Sketch‘ in einem bunten Programm spielen, entschied sich aber doch am Ende für ‚Böse Buben‘. Der Abend fällt, es sind Widerstände da …“. 55 Wieder sind es Satzzeichen, die Andeutungen markieren. Einen „Sketch“ für das bunte Programm einer Charity-Veranstaltung zu inszenieren, hält Brecht für den Auftritt der emigrierenden Judith Keith alles andere als angemessen. Hier scheint ihm, der selbst gegenüber Adorno noch spöttisch reagierte, die nötige Ernsthaftigkeit für die Thematik zu fehlen. Und die drei Punkte am Ende der Notiz, die nicht die Gründe ausführen, warum es zu keiner Aufführung von „Die jüdische Frau“ im Jüdischen Club kam, sind ebenfalls bezeichnend. Brechts Judith Keith ist in „Die jüdische Frau“ als Frankfurter Arztgattin ja Nutznießerin einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung vor der Nürnberger Rassegesetzgebung. Mit der NS- Diskriminierung wandelt sich ihr Selbstverständnis. Die „Erkenntnis der ‚bürgerlichen Maske‘ erscheint als Alternative zur Anpassung und als erster Schritt zu einer möglichen Resistenz gegen das von der Lüge bestimmte System“, 56 wie Marcus Sander für Judith Keith als rassisch verfolgte Jüdin bilanziert. Brecht lässt die Protagonistin folgende - äußerst umstrittene - Erkenntnisse formulieren: „Ich bin doch eine von diesen Bourgeoisweibern, die Dienstboten halten usw., und jetzt plötzlich sollen nur noch die Blonden das sein dürfen? In der letzten Zeit habe ich oft daran gedacht, wie du mir vor Jahren sagtest, es gäbe wertvolle Menschen und weniger wertvolle, und die einen bekämen Insulin, wenn sie Zucker haben, und die andern bekämen keins. Und das habe ich eingesehen, ich Dummkopf! Jetzt haben sie eine neue Einteilung dieser Art gemacht und jetzt gehöre ich zu den Wertloseren. Das geschieht mir recht.“ 57 Die anti-bürgerliche Ausrichtung der Szene kommt deutlich zum Ausdruck. Das „Bourgeoisweib“ Judith Keith erkennt eine Mitschuld daran, dass sie nun rassisch verfolgt wird, da sie zuvor der Unterdrückung weniger wertvoller Gesellschaftsschichten selbst zugestimmt habe. „Das geschieht mir recht“, erweist sich als provokative Spitze gegen die bürgerlichen jüdischen Sympathisanten des zum Faschismus tendierenden Kapitalismus. Zugleich deutet der Ausblick auf die Emigration an, dass Judith Keith auch im Ausland auf der Suche nach einem bürgerlichen, wohlhabenden Mann ist und damit aus den kapitalistischen Ausgrenzungsmechanismen nichts gelernt hat. Brecht formuliert trotz Erfolgs bei der Lesung auch 1941 sein Misstrauen, wenn er die im Jüdischen Club verkehrenden Kreise als „wohlhabend“ charakterisiert. Zwar gibt es Vermittlerfiguren wie Fritz Kortner oder Leo Reuss, doch zu einem wirklichen Gesprächsaustausch oder gar intensiverem Kulturkontakt zwischen den Emigrantenparteien kommt es nicht. Wie provokativ diese Szene in jüdi- 55 Ebd. (Eintrag vom 21.11.41). 56 S ANDER , Der Tod der Jüdischen Frau, 221. 57 B RECHT , Furcht und Elend des III. Reiches, in: BFA 4, 388. Brechts Schweigen über den Holocaust 275 schen Emigrantenkreisen gewirkt hat, zeigt ein berühmtes Beispiel. Hannah Arendt erklärt angesichts solcher Szenen Brecht enttäuscht zum Lügner. Zitiert sei eine aufschlussreiche Passage aus ihrem Buch „Menschen in finsteren Zeiten“: „Jetzt begann er [Brecht] zum ersten Mal zu lügen, und heraus kamen die hölzernen Dialoge in Furcht und Elend des Dritten Reiches […] Brechts Schwierigkeit damals lag darin, daß es in Hitlers Deutschland weder Hunger noch Arbeitslosigkeit mehr gab, also doch jeder Grund für Brecht wegfiel, dagegen zu sein. Aus diesem Dilemma gab es einen Ausweg, nämlich so zu tun, als gäbe es Hunger und Arbeitslosigkeit, als ginge es gegen das Proletariat und nicht oder doch nicht eigentlich gegen die Juden (ein bloßer Vorwand der herrschenden Klasse natürlich), als stünde man mitten im alten, wohlbekannten Klassenkampf und als wäre die Rassenverfolgung eine optische Täuschung.“ 58 Bei Arendt werden konfrontativ die alternativen Deutungsmuster - Klassenkampf oder Antisemitismus - herausgearbeitet, die bei Brecht hierarchisch zugunsten des Klassenkampfes geordnet sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch im Jüdischen Club die anti-bürgerliche Stoßrichtung von den verfolgten Emigranten als Affront verstanden worden ist. Ein bürgerliches Eingeständnis, „Es geschieht mir recht“, ist hier zweifelsohne starker Tobak und passt als ‚Sketch‘ in kein buntes Programm. Brecht hatte das Werk „Furcht und Elend des III. Reiches“, wie Jan Knopf betont, ja für ein proletarisches Theater im Exil geschrieben. 59 Hinzugefügt sei: Brechts Szene wurde vor der Wannsee-Konferenz verfasst, er konnte von den Plänen einer „Endlösung“ also keine Kenntnis haben. George Taboris Überarbeitung der Szene nach Auschwitz in „Jubiläum“ kann nur als ein allzu berechtigter Versuch verstanden werden, Brechts Werk von Mitte der 1930er Jahre angesichts der historischen Tatsachen neu zu konzipieren. 60 Brecht hält „Die jüdische Frau“ in der amerikanischen Exilzeit ohne Zweifel für eine künstlerisch gültige Bearbeitung des Antisemitismus aus der Perspektive einer jüdischen Protagonistin. Noch im Oktober 1944 vermerkt er, dass die Schauspielerin Kalatosowa in Leningrad „vor Frontsoldaten“ 61 die Szene gespielt habe. Dieser Hinweis auf den Aufführungsort ist sicher kein Zufall. Während in bürgerlichen jüdischen Emigrantenkreisen die Szene abgelehnt und nicht aufgeführt wird, findet sie unter sowjetischen Soldaten ein Publikum. Im Oktober 1944 ist Brecht mit einem weiteren künstlerischen Plan beschäftigt, sich der Thematik des Antisemitismus anzunehmen. Mit Paul Dessau und Hans Winge bespricht er Pläne zu einer Oper „Die Judenhure Marie Sanders“. Brechts gleichnamige Ballade hatte bekanntlich allein das Schicksal der „Judenhure“ in den Blick genommen, während das männliche jüdische Opfer der Rassengesetze gar nicht thematisiert wird. Ob Brecht in diesen Opernplänen über jüdische Opfer intensiver nachgedacht hat? Die „Journal“-Einträge deuten dagegen in eine andere Richtung: 58 A RENDT , Bertolt Brecht, 301f. 59 Vgl. K NOPF , Furcht und Elend des Dritten Reiches, 144. 60 Vgl. T ABORI , Jubiläum, 60f. u. 71-73. 61 BFA 27, 207 (Eintrag vom Oktober 44). Franz Fromholzer 276 „Spreche mit Dessau und Winge über Opernstoff ‚Die Judenhure Marie Sanders‘. Speziell über Chöre. Der Chor sollte nicht starr sein, aus Chorsängern bestehend, eine Kollektivperson. Chöre sollten sich bilden aus Haupt- und Nebenpersonen, durch jeweilige Situationen. Selbst die Unverständlichkeit sollte auf Grund von Unverständigkeit entstehen. usw.“ 62 „Unverständlichkeit“ aufgrund von „Unverständigkeit“ - mit diesen Schlüsselbegriffen skizziert Brecht wichtige Zugänge zum Thema in der geplanten Oper. Brechts Annahme von ökonomischen Interessenlagen hinter dem Antisemitismus scheint im Oktober 1944 etwas brüchiger geworden zu sein. Der Rückgriff auf eine bereits geschriebene Ballade spricht allerdings dafür, dass Brecht nach wie vor der Auffassung ist, schon früher einen nicht mehr zu modifizierenden, gültigen Standpunkt vertreten zu haben. James K. Lyon urteilt in einer abschließenden Bewertung sehr kritisch über dieses Opern-Projekt: „als selbsternannter ‚praeceptor Germaniae‘ wollte Brecht darüber aufklären, wie es zu Hitler und Nazideutschland gekommen war.“ 63 Brecht lebt zu Ende des Zweiten Weltkriegs im Exil in Kalifornien, der Krieg war nicht nur geographisch weit weg von Lebenswirklichkeit und Alltagserfahrung des Emigranten. Bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang Brechts „Journal“-Einträge vom 8. Mai 1945, die schlaglichtartig die Situation des Exilanten Brecht vor Augen führen: „Nazideutschland kapituliert bedingungslos. Früh sechs Uhr im Radio hält der Präsident eine Ansprache. Zuhörend betrachte ich den blühenden kalifornischen Garten.“ 64 Welche Informationen kann sich Brecht in Kalifornien über den millionenfachen Mord in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern überhaupt beschaffen? Welche Vorstellungen hat Brecht von den Vorgängen in den Lagern? Nach den Ausführungen zu Brechts Deutung des gesellschaftlichen Antisemitismus soll nun ein genauerer Blick zunächst auf Brechts Notizen zu Vorgängen in Konzentrationslagern geworfen werden, um schließlich die wenigen Eintragungen über den Holocaust adäquat erläutern zu können. 3. Brechts Auffassung von den Vorgängen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern 3.1. Herrschaft und Knechtschaft: Klassenunterschiede im KZ („Hangmen also die“) Im Herbst 1942 schreibt Brecht am Drehbuch für den Film „Hangmen also die“, bei dem bekanntlich Fritz Lang Regie führt und Hanns Eisler die Filmmusik kom- 62 BFA 27, 206 (Eintrag vom 5.10.44). 63 L YON , Bertolt Brecht in Amerika, 380. 64 BFA 27, 224 (Eintrag vom 8.5.45). Brechts Schweigen über den Holocaust 277 poniert. Die Drehbücher zum Film sind leider nicht vollständig erhalten, 65 Jürgen Schebera hat 1985 allerdings eine deutsche Übersetzung des englischen Skripts mit Materialien herausgegeben. 66 Im „Journal“ skizziert Brecht eine Szene, die in das KZ-Lagerleben filmisch Einblick geben soll. Es handelt sich um aus heutiger Sicht überraschende analytische Einblicke: „Dann sind da einige Geiselszenen, wo die Klassenunterschiede im Lager gezeigt werden. Noch fünf Minuten bevor die Nazis Geiseln zur Exekution holen, gibt es unter diesen antisemitische Auftritte usw.“ 67 Der Eintrag erscheint mehr als kryptisch. Geiseln sollen in der Szene auf die Exekution im KZ warten. Doch noch bevor NS-Schergen zur Tat schreiten, plant Brecht antisemitische Ausschreitungen unter den Geiseln zu inszenieren. Dies alles unter dem Vorzeichen der „Klassenunterschiede im Lager“. Wieder also ein Versuch Brechts, so darf gefolgert werden, die Klassenunterschiede den Rassenunterschieden vorzuordnen. Diesmal allerdings scheint Brecht eine besondere Auffassung des Zusammenlebens im Konzentrationslager zugrunde zu legen. Im KZ, so die implizite These, reproduziere sich die Klassengesellschaft des Faschismus auf fatale Weise. Der nur zwei Sätze umfassenden Notiz liegt eine kausale Verknüpfung zugrunde. Wo es Klassenunterschiede gibt, dort werden sich notwendigerweise auch antisemitische Übergriffe einstellen. Selbst wenn eine Klassengesellschaft von außen durch einen gemeinsamen Feind bedroht wird, verhindert die mangelnde Solidarität ein gemeinsames Vorgehen, vielmehr greifen sich die gesellschaftlichen Gruppierungen unter Rückgriff auf antisemitische Hetze gegenseitig an. Brecht stellt hier folglich die These auf, das Konzentrationslager bilde Antisemiten aus. Nicht-jüdische Insassen eines Konzentrationslagers stünden demnach unter besonderem Verdacht, dem nationalsozialistischen Antisemitismus anheim gefallen zu sein. Wie ist diese Annahme zu erklären? Brecht legt, so die vorgeschlagene Erklärung, seiner filmischen Umsetzung Hegels Verständnis von Herrschaft und Knechtschaft aus seiner Philosophie des Selbstbewusstseins zugrunde. Der „Kampf auf Leben und Tod“, 68 der nach Hegels Dialektik zwischen Herrschaft und Knechtschaft geführt wird, kennzeichnet die sozialistischen Hegel-Exegesen: „Durch die inhumanen Arbeitsbedingungen kommt der Arbeiter nicht zu sich selbst - und wirft das als flammende sozialkritische Anklage den Kapitaleignern an den Kopf.“ 69 Die Furcht vor dem Herrn schreibt hingegen ein knechtisches Bewusstsein fest, das ein neues Selbstbewusstsein und die Aufhebung der Knechtschaft verhindert. Brecht hat in diesem Sinne im Exil-Werk „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ Hegels Philosophie gestaltet, wie dies bereits Hans 65 Vgl. L YON , Hangmen Also Die, 462. 66 S CHEBERA , Henker sterben auch (Hangmen also die). 67 BFA 27, 129 (Eintrag vom 18.10.42). 68 H EGEL , Phänomenologie des Geistes, 143. 69 L UDWIG , Hegel für Anfänger, 98. Identifikationen von Herr und Knecht als Kapitalisten und Proletarier, ursprünglich von Kojève vorgelegt, gelten heute als „geniale, jedoch unhaltbare“ Interpretationen. Vgl. B ODEI , An den Wurzeln des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft, 243. Franz Fromholzer 278 Mayer zeigen konnte. 70 Anders als die Komödie „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, in der „das kalte und unpersönliche Verhältnis verbrämt wird mit feudaler Gestik“, 71 legt Brecht für die Filmszene in „Hangmen also die“ einen Kampf auf Leben und Tod zugrunde, der auf das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft im Konzentrationslager übertragen werden kann. Auch in seinem Verständnis der inhumanen Arbeitsbedingungen in den Konzentrationslagern sucht Brecht, Hegels Deutungshoheit aufrecht zu erhalten. Die Furcht vor den Herren ist im KZ auf brutalste Weise festgeschrieben und die Negierung der Knechtschaft unmöglich. „Zwar kämpft der Knecht für einen Zustand, indem er er selbst sein kann. Dieser Zustand ist aber unerreichbar. Insofern stellt der Herr die positive Verkörperung der knechtischen Unmöglichkeit dar.“ 72 Die Inhumanität des Konzentrationslagers reproduziert das Herrschaft- Knechtschaft-Verhältnis folglich zwischen den Gefangenen. So wäre die soziale Kausalkette der Vorgänge unter den Geiseln in Brechts Filmszene zu dechiffrieren. Es wird ersichtlich, mit welchen tiefgreifenden sozialen Deformationen bei den KZ- Häftlingen Brecht rechnet. Das nationalsozialistische Verbrechensregime hat für Brecht 1942 Dimensionen angenommen, die langfristige Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft zeitigen werden. Diese Sichtweise wird für Brechts Leben in der jungen DDR weitreichende Folgen haben. - Es ist bedauerlich, dass es dem Autor des vorliegenden Beitrags nicht gelang, die ausgeführte Szene in der erhaltenen Fassung des Drehbuchs zu ermitteln, um die Kommentierung und Interpretation des „Journal“-Eintrags weiter unterstützen zu können. 3.2. Das Konzentrationslager als politisches Erziehungslager - Brecht liest Bettelheim Knapp zwei Jahre nach der Eintragung zu Drehbuch-Arbeiten gelangt Brecht an einen Aufsatz von Bruno Bettelheim, der unmittelbar an seine Überlegungen zum Verhalten von KZ-Insassen anknüpft. Bettelheim schildert in diesem Aufsatz seine Erfahrungen als politischer Gefangener in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald. Brecht macht sich am 20. September 1944 hierzu ausführliche Notizen und zieht weitreichende Konsequenzen: „Aufsatz eines Bruno Bettelheim, ‚Behavior in Extreme Situations‘, über das Verhalten von Konzentrationslagerhäftlingen. Borchards Wahrnehmung wird bestätigt, daß Häftlinge Ausdrucksweise und Auftreten ihrer Quäler annehmen. Interessant der rapide (galoppierende) Persönlichkeitsschwund derer, die die ihnen erwiesene Behandlung nur ablehnen können, weil sie ihnen widerfährt, die nur eine gesetzwidrige Anwendung des Gesetzes sehen. Und interessant die gruppenmäßige Behandlung der Häftlinge durch die Gestapo. (Eine Gruppe wird mißhandelt, weil ein Mann für sie eintrat.) Solche Beschreibungen müßten Leute interessieren, die an dem liberalen Persönlichkeitsbegriff festhalten und besonders heftig gegen die Un- 70 Vgl. M AYER , Herrschaft und Knechtschaft. 71 N EUREUTER , Herr Puntila und sein Knecht Matti, 452. 72 M ECHERIL , Das un-mögliche Subjekt, 122. Brechts Schweigen über den Holocaust 279 terdrückung der persönlichen Freiheit in der USSR reagieren. Da ist der Maßstab, mit dem die Persönlichkeit gemessen wird, die Fähigkeit der Person, gegen den Strom zu schwimmen.“ 73 Während es der „Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe“ nicht gelang, den Aufsatz ausfindig zu machen, ist es in Zeiten des Internets kein Problem mehr, sich Bettelheims Beitrag aus der Zeitschrift „Politics“ vom August 1944 als pdf-Dokument in das Arbeitszimmer zu holen. 74 Der gebürtige Wiener Bruno Bettelheim, der nach seiner Emigration in die USA als Psychoanalytiker zu Berühmtheit gelangte, ist Brecht unbekannt. Offensichtlich ist jedoch, dass Brecht sich bei der Lektüre von Bettelheims Aufsatz in seinen bisher skizzierten Ansichten bestätigt fühlt. Betreibt Brecht hier eine selektive Lektüre, um Auffassungen zu stützen, die er bereits vorher hatte? Ein kurzer Überblick über Bettelheims Aufsatz soll der Orientierung dienen. 75 Bettelheim war 1938/ 39 in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald interniert. Obwohl jüdischer Herkunft, richtet Bettelheim in seinem Beitrag „Behavior in Extreme Situations“ seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf politische Gefangene. Rassisch verfolgte Juden sind nicht Gegenstand seiner Untersuchungen. Bettelheims Hauptanliegen in dem von Brecht gelesenen Aufsatz ist die Frage nach der Veränderung der Persönlichkeit während des Lageraufenthalts. Bettelheim teilt anfangs die KZ-Häftlinge in „criminals“, „politically educated prisoners“, „nonpolitical middle-class prisoners“ und „upper class“ ein, die er im Verhalten differenziert. 76 Er gibt unumwunden zu, dass Aussagen über „lower classes“ für ihn nur „guesswork“ 77 sein können. Die Aufsicht im Lager ziele darauf, so Bettelheim, die Individualität der Insassen zu zerstören und sie zu einer folgsamen Masse zu formen. Bettelheim untersucht im Anschluss an diese These die Verhaltensunterschiede, die er zwischen neuen Häftlingen (weniger als ein Jahr im KZ) und alten Häftlingen (mindestens drei Jahre im KZ) selbst beobachtet habe. Dabei streicht er mehrere Aspekte heraus: die Unfähigkeit, sich ein Leben außerhalb des KZs vorstellen zu können; das veränderte Verhalten gegenüber der eigenen Familie und Freunden; Infantilität. Den Zielpunkt in der Verhaltensänderung der KZ-Häftlinge stelle jedoch die endgültige Anpassung an das Lagerleben dar. Die Insassen akzeptierten die Werte der Gestapo und kopierten das Verhalten der Aufseher. Bettelheim macht dies am Beispiel des Verhaltens gegenüber Neuankömmlingen und Verrätern deutlich: „Weaklings usually died during the first weeks in the camp anyway, so it seemed as well to get rid of them sooner. So old prisoners were sometimes instrumental in getting rid of the unfit, in this way making a feature of Gestapo ideology a 73 BFA 27, 205 (Eintrag vom 20.9.44). 74 http: / / www.unz.org/ Pub/ Politics-1944mar-00199 (aufgerufen am 20.5.2014). B ETTELHEIM , Behavior in Extreme Situations. 75 Ergebnisse der neueren Forschung zum Verhalten von Lagerhäftlingen können hier bewusst nicht berücksichtigt werden. Entscheidend ist die Frage, auf welche Informationen Brecht zurückgreifen konnte, um sein Verständnis adäquat rekonstruieren zu können. 76 Vgl. B ETTELHEIM , Behavior in Extreme Situations, 201. 77 Ebd. Franz Fromholzer 280 feature of their own behaviour. This was one of the many situations in which old prisoners demonstrated toughness and molded their way of treating other prisoners according to the example set by the Gestapo. That this was really a taking-over of Gestapo attitudes can be seen from the treatment of traitors. Self-protection asked for their elimination, but the way in which they were tortured for days and slowly killed was taken over from the Gestapo.“ 78 Besonders am langsamen sadistischen Quälen der verräterischen Mithäftlinge bis hin zur Ermordung macht Bettelheim deutlich, wie sehr KZ-Häftlinge nach mehreren Jahren die Gestapo-Ideologie und das entsprechende Verhalten übernommen hätten. Allein unter diesem Aspekt kommt Bettelheim - das einzige Mal - auch auf aus rassischen Gründen Inhaftierte zu sprechen: „Other problems in which most old prisoners made their peace with the values of the Gestapo included the race problem, although race discrimination had been alien to their scheme of values before they were brought into the camp.“ 79 Bettelheim endet seine Untersuchung mit der Hoffnung, aufgrund der vorgebrachten Ergebnisse eine Erziehung im Sinne von Autonomie und Selbständigkeit der Person fördern zu können. Vergleicht man Bettelheims Beitrag mit den Exzerpten von Brecht, so kann festgestellt werden, dass Brecht Bettelheims Ergebnisse keinesfalls selektiv verfälscht oder in seinem Sinne instrumentalisiert. Brecht konnte sich in seiner von Hegels Dialektik geprägten Theorie der Herrschaft und Knechtschaft bestätigt sehen. Hermann Borchardts Roman „Die Verschwörung der Zimmerleute. Rechenschaftsbericht einer herrschenden Klasse“ von 1943, den Brecht ebenfalls hierzu heranzieht, hatte ihn in seinen Ansichten genauso bestätigt. 80 Bruno Bettelheim ist der erste, der aus psychoanalytischer Sichtweise zu dem allgemeinen Schluss kommt, dass „Identifikation mit dem Angreifer einer der wichtigsten Abwehrmechanismen und damit die Voraussetzung des Überlebens“ 81 sei. Anna Freud und Sandor Ferenczi folgen seinen Ansichten, wenn sie sich mit Kindern im Konzentrationslager beschäftigen. 82 Selbst die provokative Filmszene, in der zu Antisemiten erzogene KZ-Häftlinge 78 Ebd., 207f. 79 Ebd., 208. 80 Als Beispiel sei eine Lager-Schilderung aus dem Roman zitiert, in der zwischen Häftlingen und Aufsehern kaum mehr differenziert werden kann: „Der lange Heinrich springt an die Wand, drückt auf die Klingel, und Oskar, der Einbrecher, tritt mit ernster Miene an Simon heran: ‚Nu hör‘ mal zu und laß dir mal aufklären über die Sitten und Gebräuche! Wie der Schlächtermeister hier war, hat der Arnold und der lange Heinrich zusammen den sein Bett machen müssen, und ich habe den Schlächter seine Sachen gesäubert: Kleider und Schuhe jeden Tag, aber tadellos! ‘ Arnold nickt Bestätigung: ‚Der Körner hat uns vielleicht in den Arsch getreten, wenn auf den Schächter seine Sachen ein Stäubchen war. Von wegen Händeschmutzigmachen hast du nicht nötig, diesbezüglich keine Sorge! ‘ Der Schlüssel klirrt, der Gehilfe des Wärters, selbst ein Gefangener in Gefangenentracht, erscheint in der Tür. Die Häftlinge ziehn sich ans Fenster zurück und lassen den Stubenältesten vortreten, der militärische Haltung annimmt[…].“ B ORCHARDT , Die Verschwörung der Zimmerleute 1, 509. 81 F EDERN , Bruno Bettelheim und das Überleben im Konzentrationslager, 105. 82 Vgl. ebd. Brechts Schweigen über den Holocaust 281 inszeniert werden sollten, lässt sich angesichts der von Bettelheim gemachten Beobachtungen damit als nicht unrealistisch bezeichnen. Bettelheims Analysen könnten auch Brechts Ansichten dergestalt nachhaltig geprägt haben, dass in Konzentrationslagern überwiegend politisch Verfolgte gefoltert und ermordet wurden. 83 Auf das Verhalten politischer Widerstandskämpfer geht Bettelheim detailliert ein. In den Schlussfolgerungen allerdings divergieren Bettelheim und Brecht gänzlich. Während Bettelheim seine Hoffnung ganz auf die Stärkung von Individualrechten und das autonome Individuum in einer liberalen Gesellschaft setzt, distanziert sich Brecht vehement vom liberalen Persönlichkeitsbegriff. Er setzt diesem die in der UdSSR postulierte „Kollektivfreiheit der Gruppe“ 84 entgegen. 3.3. Denkmal und Festspiele für Widerstandskämpfer - Brecht betreibt Erinnerungspolitik Aus den „Journal“-Einträgen im Oktober 1944 lässt sich schließen, dass Brecht Konzentrationslager vor allem als politische Erziehungslager verstand, in denen das Wachpersonal äußerst brutal mit den Häftlingen umsprang. Ohne jegliche humane Rücksichten werden hier politische Gegner der NS-Ideologie unterworfen und bei nur geringstem Widerstand ermordet. Dies machen auch Brechts Pläne deutlich, die er 1952 für ein Denkmal im KZ Buchenwald entwirft. Über die Diskussionen hierzu geben Brechts Notizen Auskunft: „Hier der Bildhauer Cremer und ein Gartenbauarchitekt. Für das Nazilager Buchenwald bei Weimar soll ein Denkmal gebaut werden. Cremer frägt an, ob man nicht eine Stätte für Festspiele bauen könne. Ich schlage vor, eine Steinbühne mit Steinarena zu errichten - am Hang jenseits des alten Lagers und oben eine ungerade Anzahl riesiger Männer, befreiter Gefangener, in Stein aufzustellen, die nach Südwesten blicken, wo noch unbefreite Gebiete liegen.“ 85 Die politische und ökonomische Ordnung, die das mörderische Treiben in den Konzentrationslagern überhaupt erst ermöglichte, besteht auch weiterhin fort. Dies stellt Brecht Anfang der 1950er Jahre unmissverständlich fest. Die monumentalen befreiten Gefangenen sollen nach Brechts Plänen über die Grenze, in unbefreites Gebiet blicken. Der Kampf der Gefangenen ist ein politischer Befreiungsakt, der sich nicht auf die Vergangenheit beschränkt und nicht im Frühjahr 1945 endete. Aus den Notizen wird ersichtlich, dass Brecht in die Umgestaltung des Konzentrationslagers beratend unmittelbar hinzugezogen wurde. Der Abriss der erhaltenen KZ- 83 Als weitere wichtige Quelle wäre in diesem Kontext Heinz Liepmanns Roman „Das Vaterland“ zu nennen, der 1934 unter dem Titel „Murder - Made in Germany. A true story of present-day Germany“ erschien, und von Brecht nachweislich gelesen wurde (vgl. BFA 22, 478). Liepmann wurde 1933 im KZ Wittmoor interniert. Er gehört allerdings auch zu jenen Antifaschisten, die bereits früh öffentlich gegen antisemitische Diskriminierung protestierten. 84 BFA 27, 205. 85 BFA 27, 330 (Eintrag vom 3.2.52). Franz Fromholzer 282 Baracken zugunsten einer monumental konzipierten Nationalen Mahn- und Gedenkstätte (NMG), die auch für sozialistische Massenveranstaltungen genutzt werden soll, stößt nicht auf Brechts Widerwillen. Fritz Cremer, der vor dem Turm der Freiheit eine Großplastik auf dem neu entstandenen Areal installierte, teilt das propagandistische Ziel des neuen Staates, den Sieg des Kommunismus über den Faschismus auf dem Boden des Mordschauplatzes zu inszenieren. Die Hierarchisierung der KZ-Opfer, die in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald ganz im Sinne der KPD vorgenommen wurde, ist in der jüngeren Forschung einer kritischen Revision unterzogen worden. 86 Die „widerstandsmystifizierende Perspektive“ 87 der DDR-Gedenkstätte ist von jüdischer Seite auf ihre Exklusionsmechanismen gegenüber den aus rassischen Gründen Ermordeten hinterfragt worden. Ihrer wurde in Buchenwald nicht gedacht. Brecht, der in der Gedenkstätte einen Ort der kämpferischen politischen Erziehung erkennt, äußert hier keine Kritik an der Ignorierung der jüdischen Opfer. 88 4. Brecht und der Holocaust 4.1. Die „Ausrottung der Juden in Polen“ - Brechts Notate vom November 1943 Brecht fasst Konzentrationslager als mörderische politische Erziehungslager auf. Diese Sichtweise wurde sowohl durch vielfältige Berichte aus Brechts Umkreis als auch durch Publikationen von im Widerstand kämpfenden KZ-Überlebenden gestützt. Aus den bisher aufgeführten Notizen Brechts ließe sich sogar darauf schließen, dass in Konzentrationslagern internierte Juden zur Umerziehung der politischen Häftlinge instrumentalisiert werden, um die Identifikation mit der NS- Ideologie durch Abgrenzungsmechanismen gegenüber den jüdischen Insassen noch zu verstärken. Hat Brecht aber auch von der millionenfachen Ermordung der Juden bereits im amerikanischen Exil Kenntnis genommen? Und wenn ja, wann hat er spätestens davon erfahren und wie reagiert er darauf? Während ein „Journal“-Eintrag vom 10.8.43 allgemein von „entsetzlichen Greuel[n] im Osten“ 89 spricht und Brechts Verbitterung über den fehlenden Wider- 86 Dazu G REISER , „Sie starben keinen Opfertod“; Z IMMER , Der Buchenwaldkonflikt. 87 C ERNY -W ERNER , Mindestens dreimal Vergangenheit, 32. 88 Eine Fokussierung auf die in den Konzentrationslager ermordeten Arbeiter findet sich bei Brecht auch in anderen Texten - nicht nur Anfang der 30er Jahre (vgl. „Über die Niederlage“ oder „Argument gegen Hitler“, BFA 19 u. 29), sondern auch Ende der 40er Jahre: „Als ob die Konzentrationslager nicht nötig gewesen wären, wenn man einen solchen Krieg brauchte! Mit freundlichem Zuspruch konnte man doch diese Arbeitervertreter und Arbeiter nicht in einen solchen Krieg locken! “ („Gespräche mit jungen Intellektuellen“, BFA 23, 102). 89 BFA 27, 165 (Eintrag vom 10.8.43). Brechts Schweigen über den Holocaust 283 stand der deutschen Arbeiterschaft Ausdruck verleiht, notiert er im November des gleichen Jahres über einen Zeitungsbericht: „In ‚19 th Century and After‘ ein Bericht über die Ausrottung der Juden in Polen. Ich wünschte wirklich, daß nie mehr gesprochen oder geschrieben werde vom ‚deutschen Menschen‘ (lies: ‚doidschen‘), daß wir nicht diese Eigenschaften jedem von uns zuzuschreiben haben! Alle diese Redensarten einer pfiffigen salesmanship von ‚deutscher Wissenschaft‘, ‚deutschem Gemüt‘, ‚deutscher Kultur‘ führen unhinderbar dann zu diesen ‚deutschen Schandtaten‘. Gerade wir sind die Rasse, die den Anfang machen sollten, unser Land das Land Nummer 11 zu nennen und basta. Deutschland muß sich nicht als Nation emanzipieren, sondern als Volk, genauer als Arbeiterschaft. Es war nicht ‚nie eine Nation‘, sondern es war eine Nation, d.h. es spielte das Spiel der Nationen um Weltmachtstellung und entwickelte einen stinkenden Nationalismus.“ 90 Zwar konnte die „Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe“ den Bericht nicht ermitteln, den Brecht hier gelesen hat, doch stellt es angesichts des Zeitschriften-Titels auch in diesem Fall keine wirkliche Schwierigkeit dar, Elma Dangerfields Beitrag „The Battle of The Ghetto“ in der Oktober-Ausgabe von „The Nineteenth Century and After“ zu recherchieren. 91 Die Veröffentlichungen der englischen Journalistin und Geheimdienst-Informantin Elma Dangerfield über die Dimensionen der Ermordung von Juden durch die deutschen Besatzer sorgten 1943 international für Aufsehen. Der Brecht vorliegende Beitrag beschäftigt sich äußerst fakten- und kenntnisreich mit den Vorgängen in Polen seit 1939. In drei Teilen wird zunächst die Ermordung von Juden im Warschauer Ghetto, die Funktionsweise des Vernichtungslagers Treblinka und der 1943 niedergeschlagene Ghetto- Aufstand in Warschau berichtet. Dangerfield kann sich dabei auf Quellen wie den Radiosender „Swit“, die Zeitschrift „Wiadamosci Polskie“ und Informationen, die der polnischen Exilregierung vorliegen, berufen. Ihr Bericht endet mit dem Schicksal Szmul Zygielbojms, des Repräsentanten der jüdischen sozialistischen Arbeiterbewegung, der in England aus Protest Selbstmord beging. Der Selbstmord sollte als Hilfeschrei an die tatenlos zusehende Weltöffentlichkeit gedacht sein. „We cannot understand your silence …“ 92 lautet am Ende des Berichts ein Zitat aus einer Proklamation der im Warschauer Ghetto kämpfenden Widerstandsgruppe. Dangerfields Ausführungen lassen von Beginn an keinen Zweifel am Ausmaß der Ermordungen, aus diesen Gründen seien die Eingangssätze zitiert: „There were 3,130,000 Jews in Poland before the War, or nearly 10 per cent. of the total population, according to the statistics compiled in 1938. To-day it is estimated that less than 300,000 Polish Jews have survived. The secret Polish radio station ‘Swit’ stated in June this year - after the final destruction of the Warsaw ghetto - that the Germans had exterminated 90 per cent. of the Jews in Poland, and that the remaining 10 per cent. were being systematically murdered in the gas 90 BFA 27, 181f. (Eintrag vom 11.11.43). 91 D ANGERFIELD , The Battle of the Ghetto. 92 Ebd., 168. Franz Fromholzer 284 chambers at Treblinka, about 30 miles north-east of Warsaw which the Germans constructed in March-April 1942.“ 93 Dangerfield nennt keine ökonomischen Gründe für die millionenfache Ermordung von Juden, vielmehr konstatiert sie: „the Germans indulged in ‚unbridled‘ anti-semitism“. 94 Brecht lag folglich im amerikanischen Exil eine fundierte journalistische Quelle vor, die über das systematische Vernichtungswerk informierte und das Schweigen der Weltöffentlichkeit anprangerte. Das Entsetzen über das Gelesene ist in Brechts Notizen spürbar. Brecht rechnet ab mit deutscher Wissenschaft, deutscher Kultur und deutschem Gemüt. Ihm ist klar, dass diese Verbrechen das Selbstverständnis der Deutschen und ihr Ansehen in der Weltöffentlichkeit auf immer beschädigen werden. Besonders erstaunlich ist dabei, dass Brecht sich angesichts der Tatsachen nicht von seinem Herkunftsland distanziert, ganz im Gegenteil: von „wir“ ist die Rede und von „unser Land“. Er lässt sich sogar auf die rassistische Argumentation ein („wir sind die Rasse“), natürlich nicht als Herrenmensch, sondern als jemand, der gewillt ist, angesichts der offensichtlichen Schande Deutschlands mit Rassismus aktiv aufzuräumen. Dieses Land darf nicht mit den nationalsozialistischen Verbrechern gleichgesetzt werden! Darum geht es Brecht vor allem in seiner Reaktion auf die Lektüre. Brecht fordert die Emanzipation vom Gestank des Nationalismus und setzt seine Hoffnung für die Zukunft ganz auf die Arbeiterschaft. Tatsächlich hatte er in Dangerfields Bericht auch Argumente dafür finden können, dass es vor allem die jüdischen Arbeiterorganisationen waren, die gegen die SS-Truppen kämpften. Brecht nennt auch einen Verantwortlichen, der hinter dem deutschen Antisemitismus ausfindig gemacht werden kann: Es sind die „Redensarten einer pfiffigen salesmanship“. Kapitalistische Gewinnsucht vermutet Brecht als eine Erklärungsmöglichkeit für die errichteten Gaskammern und Vernichtungslager. Am Ende des Eintrags richtet sich Brechts Wut dann gegen den Gestank des deutschen Nationalismus. Einen Tag zuvor zieht Brecht im „Journal“ mit den gleichen Formulierungen vom stinkenden Nationalismus gegen Johannes R. Bechers Artikel „Deutsche Lehre“ zu Felde. Es wäre also verfehlt, diese Invektiven aus dem Kontext einer Nationalismus-Debatte zu lösen, die Brecht in jenen Tagen intensiv beschäftigt hat. So fließt die Dangerfield-Lektüre in die Auseinandersetzung mit Becher ein und bestätigt Brechts starke Aversionen gegen den späteren DDR-Funktionsträger. Als kurze kritische Bilanz von Brechts Eintrag soll betont werden: Ökonomische Deutungen des Vernichtungslagers von Treblinka und der Vorgänge im Warschauer Ghetto sind angesichts des Berichts von Elma Dangerfield reine Spekulation, eine Glaubenswahrheit jenseits der referierten Tatsachen. Dass Brecht an solchen dogmatischen Glaubensinhalten festhält, mag auch der Lebenssituation des Exilanten geschuldet sein. Ein unerschütterliches Weltbild kann nicht nur Sinn stiften, es gibt auch Halt in den schwierigen Zeiten des Emigrantendaseins. Es kann allerdings nicht übersehen werden, dass Brecht allein aus der Perspektive eines für 93 Ebd., 157. 94 Ebd., 158. Brechts Schweigen über den Holocaust 285 die Zukunft zu errichtenden Deutschlands formuliert. 95 Das ist seine Hoffnung. Die Millionen ermordeter Juden verliert er ganz aus dem Blick. Auf die offizielle Berichterstattung in der Sowjetunion sei an dieser Stelle noch hingewiesen. Dieser kommt im Hinblick auf Brechts spätere Situation in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR entscheidende Bedeutung zu. Seit Mitte 1942 begannen die offiziellen Darstellungen in der Sowjetunion, die jüdische Identität der nationalsozialistischen Opfer zu verschweigen. Ersetzt wurde das Wort „Juden“ durch „friedliche sowjetische Bürger“. 96 Eine explizite Thematisierung des Holocaust ist im Kontext einer solchen Informationspolitik also kaum denkbar. 4.2. Die Ökonomie der Vernichtungslager - „Monumente der bürgerlichen Kultur“ Es handelt sich bei dem angeführten Eintrag vom November 1943 um die ausführlichste Stellungnahme Brechts zum Holocaust während des Krieges. Nach dem Krieg und zurück in Europa stürzt sich Brecht bekanntlich wieder in die ihm gegebenen Möglichkeiten, sich am Theater betätigen zu können. Auf seinen Reisen zwischen der Schweiz und Berlin liest er im April 1948 Friedrich Meineckes damals von großer öffentlicher Resonanz begleitetes Buch „Die deutsche Katastrophe“. 97 Brecht ist wütend darüber, wie sich das deutsche Bürgertum von der Schuld am Nationalsozialismus zu exkulpieren trachtet und versucht, die unheilige Allianz von Profitsucht und Militarismus zu vertuschen. Am 13. April notiert Brecht in unmittelbarer Bezugnahme auf die Meinecke-Lektüre: „Die Vergasungslager des IG-Farben-Trusts sind Monumente der bürgerlichen Kultur dieser Jahrzehnte. Der SS-Führer Heydrich (oder war es Kaltenbrunner) war ein ‚hervorragender Bachkenner‘; Einstein spielt Quartett und ist Humanist, und irgendwo gibt es Atombombenfabriken, die Tag und Nacht arbeiten. Wir haben Wildwestgeschichten gelesen; unsere Urenkel sollten Wildostgeschichten lesen; Pioniere im Kampf mit gewissen Stämmen.“ 98 Der Eintrag macht deutlich, dass Brecht sich inzwischen in seinem Sinne weiter über die deutschen Vernichtungslager informiert hat. Er kennt das mörderische Engagement der IG-Farben-Werke, die in Auschwitz von KZ-Häftlingen ein Werk errichten ließen und Zyklon B für die Gaskammern lieferten. 99 Die Deutung von Vernichtungslagern als überwiegend dem ökonomischen Profitstreben dienende 95 Horst Jesse etwa stellt für Brecht im Exil lapidar fest: „Während der Exilszeit kreisen sein Dichten und Denken nur um das Thema Deutschland, das es von dem Nationalsozialismus zu befreien und neu auszurichten gilt.“ J ESSE , Brecht im Exil, 8. 96 G RÜNER , Patrioten und Kosmopoliten, 426. 97 Vgl. BFA 27, 267. 98 BFA 27, 268 (Eintrag vom 13.4.48). 99 Als einschlägiges Werk der jüngeren Forschung sei in diesem Zusammenhang hingewiesen auf: W AGNER , IG Auschwitz. Franz Fromholzer 286 Mordstätten findet sich auch noch in den 60er Jahren, etwa bei Peter Weiss. 100 Die prominenten Vertreter des NS-Regimes sind im „Journal“-Eintrag Bildungsbürger, Bachkenner und Mörder. Brechts Erwähnung von Vernichtungslagern erhält sofort eine anti-bürgerliche Stoßrichtung. Eine Verbindung mit antisemitischem Hass stellt Brecht erst gar nicht her. Im Gegenteil: Befremdlich stellt er in eine Reihe mit Heydrich und Kaltenbrunner als Vertreter einer bürgerlichen Kultur den musizierenden Albert Einstein, den er für Atombombenfabriken verantwortlich macht. Wieder will Brecht aggressiv gegen rassische Kategorien vorgehen und auf ökonomische Ausbeutungsverhältnisse hinweisen. 101 Zugleich möchte er als Dokumentarist seine „Kritik der institutionalisierten Öffentlichkeit“ 102 fortschreiben. Der Bogen, den Brecht von den Vernichtungslagern zur Atombombenfabrikation spannt, ist letztlich nur vor dem Hintergrund seines Theaterschaffens begreiflich. Nicht Auschwitz, sondern der Einsatz der Atombombe war für Brecht zu einer zentralen intellektuellen Herausforderung seiner Zeit geworden, die in die überarbeiteten Fassungen des „Galilei“ einflossen. Noch ein Jahr vor seinem Tod plant Brecht ein Theaterstück „Leben des Einstein“. In den erhaltenen Notizen zum Stück weiß Brecht zu offenbaren: „Die Besieger des Faschismus geben sich als Faschisten zu erkennen.“ 103 4.3. Die „Ohnmacht der Literatur“ - mit Anna Seghers und Ilja Ehrenburg im Gespräch Nach der Übersiedlung Brechts in die DDR Ende der 1940er Jahre gerät dieser sofort in ein spannungsreiches Verhältnis zum gegründeten Staat. Die Etablierung eines eigenen Theaters gestaltet sich mühselig, die neuen Machthaber beäugen den international renommierten Autor misstrauisch und mit provinziellem Kunstverstand. Das Verhältnis der DDR-Führung zum Holocaust ist in den letzten Jahren aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vielfach beleuchtet worden. Die spannungsreichen Beziehungen zum 1948 gegründeten Staat Israel erleichterten den Umgang der kommunistischen Regierung mit der deutschen Vergangenheit keineswegs. 104 In diesem Umfeld kommt es 1950 zu einer Begegnung Brechts mit Ilja Ehrenburg in Berlin. Ehrenburg, der als Redner bei einem unter der Ägide der FDJ veranstalteten internationalen Jugendtreffen auftreten soll, 105 gehört zu den ersten, 100 Vgl. etwa C OHEN , Peter Weiss in seiner Zeit, 162f. Weiss erhebt allerdings nicht den Anspruch, den Holocaust marxistisch restlos erklären zu können. 101 Bereits Anfang der 30er Jahre hatte Brecht Einsteins Ausführungen „ Warum Krieg? “ scharf attackiert. Er spitzt zu: „Was verdeckt Einstein die Einsicht in die realen Gründe der Kriege, die in materiellen Interessen liegen? Die Antwort lautet: der Klassenkampf, den er nicht wahrnimmt.“ BFA 21, 588 [Einstein - Freud]. 102 M ILLER , Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, 35. 103 BFA 10.2, 984. 104 Vgl. H ANTKE , Zur Bewältigung der NS-Zeit in der DDR; ferner: B ACHMANN , Die UdSSR und der Nahe Osten, insbesondere 133-141. 105 Ehrenburg war in den Nachkriegsjahren international vielfältig als Friedensbotschafter tätig. Vgl. M ARCOU , Wir größten Akrobaten der Welt, 266-274. Brechts Schweigen über den Holocaust 287 welche die Erforschung des Holocaust wissenschaftlich betrieben. Von Ehrenburg als Dokumentation angelegt, stellte Wassili Grossman 1947 „Das Schwarzbuch“ als umfangreiches Manuskript fertig, in dem über den Genozid materialreich berichtet werden konnte. 106 Die sowjetischen Behörden verhinderten jedoch den Druck des Werkes. 107 Man fürchtete den „jüdischen Nationalismus“. 108 Ehrenburg verstand sich in dieser Zeit zusehends als „Vertreter des jüdischen Volkes“ 109 und blieb als wichtiger Propagandist der Sowjetunion von den stalinistischen antisemitischen Verfolgungswellen 1948/ 49 verschont. Brechts Gespräch mit Ilja Ehrenburg findet in Begleitung von Anna Seghers und Michael Tschesno-Hell statt. Anna Seghers stand mit Ehrenburg über Jahre hinweg in Briefkontakt. Der Austausch könnte folglich auf einer „wirklich persönlichen, ja privaten Ebene“ 110 stattgefunden haben. Es ist auch wahrscheinlich der Vermittlung von Anna Seghers zu verdanken, dass Ehrenburg und Brecht sich am 25. Mai 1950 treffen. Ein Brief Anna Seghers vom gleichen Tag deutet darauf hin. 111 Brecht macht sich im „Journal“ zur Begegnung umfangreiche Notizen, die ungekürzt wiedergegeben werden sollen: „Mit Anna und Tschesno bei Ilja Ehrenburg. Während wir zu Abend essen, gibt es Klatschen und Schalmeienmärsche vor dem Haus der Gäste: die FDJ begrüßt die chinesische Delegation. Wir sprechen davon, daß beim Anblick von Auschwitz die Literatur in Ohnmacht fällt. Ehrenburg erzählt von einer Frau, die während der deutschen Besetzung ihren jüdischen Mann versteckt. Das Haus soll Einquartierung bekommen. Sie macht mit einer Stange ein Loch in das Dach der Hütte, so daß es hereinschneit und die Deutschen nicht einziehen. Aber auch in das Versteck des Mannes ist ein Loch gemacht, damit etwas Licht hineinkommt. Das Kind erzählt der Mutter, durch das Loch habe ein Auge geblickt. Sie sagt ihm, es sei das Auge einer Ratte gewesen. Aber dann erzählt Ehrenburg, fortfahrend, wie in ein deutsches Dorf als Leiter ein jüdischer Sowjetoffizier gekommen sei, dessen ganze Familie ausgerottet worden war. Ehrenburg traf den Offizier an, wie er den Arm um ein kleines deutsches Mädchen hatte, das elternlos aufgegriffen worden war. Dies, und daß er Sorge getragen habe, daß das Kind zu Bett gebracht wurde, fand Ehrenburg, wie er berichtete, noch nicht allzu besonders, jedoch habe er die Tränen nicht zurückhalten können, als der Offizier nach einer Weile aufgesprungen sei und gefragt habe, ob man auch einen Nachttopf für das Kind beschafft habe. Zuhörend war es mir schwer zu verbergen, daß ich auch darin nichts Besonderes erblickte. Freilich, 106 Zur Entstehung des Werks vgl. R UBENSTEIN , Tangled Loyalities, 200-226. 107 Vollständiger Druck erstmals: E HRENBURG / G ROSSMANN (Hrsg.), Das Schwarzbuch. 108 G RÜNER , Patrioten und Kosmopoliten, 421. 109 U RBAN , Ilja Ehrenburg als Kriegspropagandist, 467. 110 Vgl. S EDELNIK , Persönliche Beziehungen zwischen Anna Seghers und sowjetischen Schriftstellern, 34. 111 Über das Pfingstjugendtreffen schreibt sie an Rudolf Vápeník: „Dazu ist der Ilja Ehrenburg da, den ich ebenso gern habe wie er unruhig ist und auf Menschen und Sachen wild usw.“ S EGHERS , An Rudolf Vápeník, 368f. Franz Fromholzer 288 was für ein Verbrechen haben da Deutsche angerichtet, daß selbst solch ein Mann verwirrt wurde! “ 112 Brechts Notizen sind sorgfältig gestaltet. Das Grauen, das die Gesprächsgruppe angesichts der deutschen Verbrechen in Auschwitz befällt, bedarf nicht nur der Kommentierung, sondern auch einer sorgfältigen Rahmung. Brecht verweist auf das veranstaltete Friedensfest, die neue deutsche Jugend, die ohne nationalistischen Hass weltoffen auftritt. Ehrenburgs Berichte, die den Abgrund der Vergangenheit öffnen, werden sozusagen von den Hoffnung gebenden Schalmeiklängen der Gegenwart untermalt. 113 Für Schriftsteller und Künstler, so konstatieren alle vier, bleibe angesichts von Auschwitz nur die „Ohnmacht“. Ehrenburg kann jedoch nicht umhin, aus den umfangreichen Dokumentationen und autobiographischen Erfahrungen zu berichten, die er als „Schwarzbuch“-Herausgeber gesammelt hat. Brecht gibt zwei Erzählungen wieder: Das für den jüdischen Mann gesuchte Versteck stellt Verhaltenslehren der Kälte vor, Camouflage-Techniken, um im Untergrund zu überleben. Wieder notiert Brecht im Kontext des Antisemitismus, mit welchen Masken, Verstellungen und Tarnungen ein Überleben möglich war. Die zweite Erzählung handelt vom humanen Verhalten eines jüdischen Offiziers gegenüber einem deutschen Mädchen. Ehrenburg ist zu Tränen gerührt. Brechts Haltung gegenüber dieser Erzählung bleibt demonstrativ kühl und emotionslos. Wie auch in der Mehrzahl der Notizen, die sich mit Vorgängen in Konzentrationslagern beschäftigen, nimmt Brecht hier die Haltung eines analysierenden Intellektuellen ein, der allein eine verstandesgemäße Erfassung des Sachverhalts intendiert. Für einen sozialistischen Humanisten kann es folglich nichts „Besonderes“ sein, sich um den Nachttopf für ein kleines Kind zu kümmern. Sich hier zu Tränen rühren zu lassen, stellt eine Verwirrung dar, die Brecht aus rationalen Gründen allerdings verstehen kann. - Es ist von nicht geringem Belang, dass auch Ehrenburg sich zu dieser Begegnung in seinen „Memoiren“ geäußert hat. Empfand er Brechts Verhalten als beleidigend? Oder hat sich Brecht in seinen Notizen gar als kühler Intellektueller stilisiert, eine Stilisierung, die gar nicht der Wirklichkeit entsprach? Auch Ehrenburg referiert in seinen „Memoiren“ genau die Umstände des Zusammentreffens, hat die Hintergrundgeräusche nicht vergessen („Die Lautsprecher der zwei Stadthälften prangerten von früh bis spät einander an“ 114 ) und skizziert das hitzige intellektuelle Klima der Zeit. Arnold Zweig sei damals als Zionist unter Verdacht gestanden, Anna Seghers habe man vorgeworfen, von antisemitischen Tendenzen nicht frei zu sein - obwohl ihre Mutter in Auschwitz ermordet wurde. Brecht sei als Formalist beschimpft worden. In Ost und West wären diese drei Schriftsteller Angriffen ausgesetzt gewesen und galten als unbeliebt. Dann kommt Ehrenburg auf Brecht genauer zu sprechen: 112 BFA 27, 312f. (Eintrag vom 25.5.50). 113 Ehrenburg dagegen ist in seiner offiziellen Rede hierzu sehr zurückhaltend: „Tragisch und zugleich optimistisch ist es, die deutsche Jugend inmitten der Ruinen zu sehen. Die vorangegangene Generation hat ihr ein schweres Erbe hinterlassen, nicht nur zerstörte Häuser, sondern den Zusammenbruch des Humanismus eines großen Volkes.“ Zitiert nach: A NONYM , Heute Kongreß der Friedenskämpfer, 1. 114 E HRENBURG , Memoiren, Bd. 3, 449. Brechts Schweigen über den Holocaust 289 „Ich kannte Brecht schon lange. Es war nicht leicht, sich mit ihm zu unterhalten; er machte oft einen abwesenden Eindruck. Dieser Anschein trog, er hörte gut zu, machte sich Notizen und lächelte ab und zu. […] Er war nicht einfach Dichter - er war ein unverbesserlicher Dichter. Er trug immer eine Joppe ohne Schlipps, rauchte starke schwarze Zigarren, war bescheiden, sprach leise; trotz alledem wurden viele Menschen, gleich mir, in seiner Gegenwart von einer seltsamen Unruhe ergriffen. Ich denke, das rührte vom allzu intensiven Innenleben dieses schweigsamen und scheinbar zerstreuten Mannes her.“ 115 Ehrenburg blickt mit großer Sympathie für Brecht auf die nicht einfache Begegnung zurück. Brecht erscheint weder emotionslos noch abweisend, sondern vor allem als guter und genauer Zuhörer. Gar von bescheidenem Auftreten ist die Rede. Ehrenburgs „Memoiren“ sind zweifellos ein milder Rückblick auf den bei der Abfassung des Manuskripts schon verstorbenen Brecht. Ehrenburg erwähnt nichts davon, dass Brecht sich gegenüber seinen Tränen ablehnend verhalten hätte. Es entsteht der Eindruck, dass hier ein nachdenklicher, schweigsamer Brecht sich als Zuhörer betätigt habe. Von Auschwitz und Holocaust als Themen des Gesprächs ist nicht die Rede, obwohl Ehrenburg betont, wie sehr das Ringen um eine jüdische Identität und den Staat Israel die Berliner Gespräche allgemein beherrscht habe. Brecht ist für ihn vor allem eines: ein Dichter, ein „unverbesserlicher“ sogar. Wenige Zeilen später scheint er gar Brechts Selbstverständnis als Kältetheoretiker widerlegen zu wollen, indem er zeitgenössische Kritiker zu Wort kommen lässt: „Ein westdeutscher Schriftsteller hat in einem Buch über Brecht behauptet, der Dichter sei in seinen Entschlüssen ‚schlau‘ und ‚berechnend‘ gewesen. Aber Brechts Schläue war die eines Kindes - und seine Berechnungen waren Rechenfehler des Dichters.“ 116 Unumwunden kommt Ehrenburg hier auf Brechts Fehler zu sprechen. Er vergleicht ihn mit einem Kind und will vor allem den Dichter Brecht geehrt wissen. Von Politik, so lassen sich die Aufzeichnungen auch lesen, hatte Brecht in Ehrenburgs Augen ein unreifes Verständnis an den Tag gelegt. Brecht erklärt nach der Begegnung den zu Tränen gerührten Ehrenburg für verwirrt, Ehrenburg wiederum hält Brecht in Erinnerung an das gemeinsame Gespräch für ein Kind, dessen „Rechenfehler“ allein der dichterischen Perspektive geschuldet seien. Es könnte kaum offensichtlicher werden, wie sehr beide Autoren 1950 in ihrem Gespräch über den Holocaust aneinander vorbei geredet hatten. 5. Erklärungsversuche 5.1. Kältetheoretiker Brecht? Versucht man, die zumeist emotions-, ja mitleidlosen und um sachliche Distanz bemühten Eintragungen Brechts zum nationalsozialistischen Rassenhass näher zu 115 Ebd., 451. 116 Ebd. Franz Fromholzer 290 erklären, so stößt man zweifelsohne auf den literarischen Werdegang des Autors. Helmut Lethen hat in seinem einschlägigen Werk „Verhaltenslehren der Kälte“ auf die Wiederkehr der „kalten persona“ in der Kultur der 1920er Jahre hingewiesen. 117 Brecht spielt hierbei keine geringe Rolle. Die „Forderung nach der Entsentimentalisierung der Literatur“, 118 wie sie innerhalb der literarischen Bewegung der Neuen Sachlichkeit formuliert wurde, hat Brecht selbst noch Ende der 20er Jahre affirmativ aufgenommen. Er fordert die Darstellung von Empfindungen mit „trockener Sachlichkeit“. 119 Jürgen Hillesheim nennt das „Kälte-Axiom“ als Hauptgrund für Brechts kühle Herangehensweise an den zeitgenössischen Antisemitismus. 120 Kälte ist, wie Ursula Heukenkamp griffig formuliert, für den jungen Brecht eine „Konfession“. 121 Insbesondere anhand des Eintrags zu Ehrenburg konnte gezeigt werden, dass der späte Brecht im „Journal“ diese Maske der kalten Person weiterhin gezielt aufsetzt und inszeniert, um eine sachliche und emotionslose Herangehensweise selbst an den Holocaust zu betonen. Zugleich gehört der kalte und mitleidlose Blick konstitutiv zu Brechts Verständnis seines „Journals“ in der Tradition politisch aufklärender Dokumentationsliteratur, die sich gegen eine öffentliche Berichterstattung richtet. Die jüngere Forschung hat aber auch zurecht darauf hingewiesen, dass sich Brecht im Exil angesichts der NS-Verbrechen der Gefahren bewusst wird, die ein sozial kaltes Verhalten mit all seiner Maskenhaftigkeit generiert. Differenzierte Analysen zum späten Brecht, die vielfach „work of undoing the collateral damage of Kälte“ 122 aufzeigen, sind vorgelegt worden. Der Fokus verschiebt sich, so die These, beim selbst von der Ermordung bedrohten Exilanten Brecht von einer sachlichen Kälte hin zu einer festgefügten materialistischen Gläubigkeit, die die schwierige Lebenssituation in der Emigration zu legitimieren hilft. Die klar definierte ideologische Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Verbrecherregime rechtfertigt die erbrachten Opfer. Sie verhindert jedoch auch, dass Brecht seine Ansichten zum Antisemitismus revidiert. Wolfgang Emmerich hat das Glaubensbekenntnis des späten Brecht sehr treffend zusammengefasst: „Das fatalistisch-nihilistische Weltbild des jungen Brecht ist verschwunden. An seine Stelle ist, bei allem nicht nur gelegentlichen nüchternen Pragmatismus, bei aller hartnäckigen Ideosynkrasie gegenüber jeglichem mystischen und metaphysischen Getue, ein Marxismus getreten, dem sowohl Züge von Wissenschaftsgläubigkeit als auch eines gerade nicht wissenschaftlich verifizierbaren Glaubens an den Menschen als sittliches Wesen eigentümlich sind.“ 123 Diese Gläubigkeit lässt Brecht angesichts des irrationalen mörderischen Rassenhasses, den er ohne verbrecherische kapitalistische Interessengruppen nicht für möglich hält, im Rückblick als Dogmatiker erscheinen, dem die analytische Schärfe 117 L ETHEN , Verhaltenslehren der Kälte. 118 B ECKER , Neue Sachlichkeit, 245. 119 BFA 21, 302. 120 H ILLESHEIM , Die Kälte als Prinzip. 121 H EUKENKAMP , Kälte bei Brecht 1945, 40. 122 R IPPEY , Brecht and Exile, 43. 123 E MMERICH , Verkappte Religionen, 41. Brechts Schweigen über den Holocaust 291 fehlt. Antisemitismus ist kapitalistische Propaganda im Klassenkampf. Punkt. In mehreren Anläufen gibt Brecht im „Journal“ dann doch monoton immer die gleiche Antwort. Ein Gegenbeispiel, das Brecht nicht als emotionslosen Dogmatiker zeigt, sind seine Aufzeichnungen vom 20. Oktober 1948. In Prag besucht Brecht den jüdischen Friedhof. Der sonst in den „Journal“-Eintragungen so auf die Zukunft Deutschlands konzentrierte Brecht gedenkt der Ermordeten: „Von 37 000 Juden kamen nach der Hitlerbesetzung 800 zurück. Wir besuchen den Judenfriedhof. Er wurde 1903 verkleinert, man schaffte Platz für ein Polytechnikum, die Steine wurden verlegt, in einen unordentlichen Haufen. Aber auch im alten Teil sind die Steine ungeheuer und unanständig gedrängt - auch für die Synagoge, die älteste Europas, wurden nur 9 m Breite, 15 m Länge erlaubt. Die Steine sind der Form nach häßlich, jedoch bedeckt mit Schriftzeichen, und viele reden von Verfolgungen. Die Gelehrten haben Trauben als Insignien.“ 124 Brechts Ausführungen sind bemerkenswert. Er vergegenwärtigt sich im „unanständig“ verkleinerten Friedhof die Verfolgungen, denen Juden vielfach ausgesetzt waren. Daniel Listoe, der diesem Eintrag einen ganzen Aufsatz gewidmet hat, spricht von „indifferent observation“. 125 Es scheint mir aber das genaue Gegenteil der Fall zu sein: Vor den Gräbern des jüdischen Friedhofs in Prag zerbricht Brechts Maske der sozialen Kälte und weicht der Solidarität mit den Opfern. Die Grabsteine „reden“. Ein 1948 wohl nach dem Besuch des Friedhofs entstandenes Gedicht trägt den Titel „Juden“: „Juden Da ist ein kleines Schaudern: Einer geht über mein Grab“. 126 5.2. Antijüdische Tendenzen in Brechts Schriften? Es ist offensichtlich, dass der Religionskritiker und überzeugte Atheist Brecht dem frommen Judentum mit großer Skepsis gegenübersteht. „Alles verkappt Metaphysische, Transzendente, Religiöse war ihm zuwider, und die Vorstellung eines Gottes kam ihm geradezu absurd vor.“ 127 Diese Vorbehalte teilt Brecht zweifellos gegenüber allen Religionen. Auch bedürfte es sophistischer und wenig glaubhafter Argumentationen, wollte man behaupten, Brecht habe die bei Karl Marx eingesetzten antijüdischen Stereotype als schlüssig befunden - oder diese Stereotype gar als empirisch verifizierbare Belege gehalten, einen engen Bezug zwischen jüdischer Religion und Kapitalismus herzustellen. Satirisch lässt Brecht hier in seinen Eintragungen ja sogleich einen Chinesen den jüdischen Schacher übertreffen. Versucht man, die Anfänge von Brechts Wahrnehmung des Judentums zu rekonstruieren, so stößt man im Notizbuch von 1919 allerdings auch auf einen anti- 124 BFA 27, 275. 125 L ISTOE , Seeing Nothing, 51. 126 BFA 15, 200. 127 E MMERICH , Verkappte Religionen, 40. Franz Fromholzer 292 semitischen Text mit dem Titel „Juden“, der von Brecht nie zur Veröffentlichung bestimmt war. 128 Der mit Bibelzitaten gespickte Text kann mindestens in großen Teilen konventioneller antisemitischer Literatur zugeordnet werden. Vom originellen und innovativen Autor des „Baal“ ist hier nichts zu erkennen. In diesem Stil verfasste etwa auch der einflussreiche katholische Augsburger Publizist und Nazi- Gegner Hans Rost holzschnittartige Judenstereotype. Hat Brecht mit solchen aggressiven Schablonen zu privatem Gebrauch ironisch experimentiert? Brecht ist in jenen Jahren - trotz vielfacher Anfeindungen - ja Sympathisant von Kurt Eisner und eng mit Lion Feuchtwanger befreundet. Im Februar 1921 findet sich dennoch ein weiterer Tagebuch-Eintrag, der ebenfalls auf widerliche Art und Weise mit antisemitischer Polemik arbeitet. 129 Im Anhang der neu herausgegebenen Notizbücher von Brecht stellen die Editoren resümierend fest: „Bis 1933 taucht der Jude in Brechts Schriften als ambivalente, zwischen antisemitischen Stereotypen und eigenwilliger Stärke schwankende Figur auf.“ 130 Dieser Befund, so wenig er unter den Tisch gekehrt werden kann, muss im Werk-Kontext des äußerst produktiven Autors verortet werden: In den zahlreichen Stücken, die Brecht in jener Zeit auf die Bühne brachte, finden sich keinerlei antijüdische Tendenzen. Brecht arbeitete im Gegenteil am Theater mit vielen Künstlern zusammen, die aus jüdischen Familien stammten, zahlreiche Freundschaften entstanden. Brecht hat also bereits in den 20er Jahren die literarische Verarbeitung von Rassismus und Antisemitismus als ein mögliches zentrales Thema seiner Werke verworfen. Auch in Berlin dürfte Brecht zwar mit dem osteuropäischen Judentum bekannt geworden sein. Als einziger Ertrag dieser Begegnung mit dem Ostjudentum scheint bisher das Gedicht „Die Medea von Lodz“ gelten zu können. Bereits Ende der 1920er Jahre war es in Berlin auch zu einem großen Theaterskandal gekommen, als Erwin Piscator den Aufstieg des osteuropäischen Juden Kaftan zum „Kaufmann von Berlin“ inszenierte. 131 Walter Mehrings Stück wurde aus unterschiedlicher politi- 128 „Juden. Oh, dieses starke fröhliche und niederträchtige Volk! Es bedeckt die Erdoberfläche wie ein dickes Pflanzengewächs, und was wurden Messer dagegen geschliffen! Sie waren kälter als der Nordwind, es fror ihn, wenn er durch sie durch mußte, heißer wie der Samum, und auf dem Regen schwammen sie in Archen. Sie machten Kriege und gewannen sie, nicht auf dem Feld der Ehre, sondern im Handelsladen. Gegen die Scheiterhaufen, auf denen man sie brennen ließ, erfanden sie den Holzhandel, und wenn die Pfaffen Hungers sterben, sitzen die Juden schmatzend über den Siegen. Unter den Tritten christlicher Rohlinge vermehrten sie sich wie Seeigel, wo sie hinkamen, wuchsen Getreidemeere, und wo sie weggingen, da wuchs kein Gras mehr.“ BFA 21, 44. 129 Am 26. Februar 1921 notiert er in sein Tagebuch: „Alles Begrabene schläft schlecht. Die Erde, die uns helfen sollte, es zu verdauen, speit es aus. Was nicht der Wind trocknete und der Regen aufwusch, das wächst noch, und es vergiftet die Erde. Leichen sind Angstprodukte. Die Angst bleibt. Warum kann man mit den Juden nicht fertig werden? Weil man sie vierteilt, rädert, foltert, anspeit seit tausend Jahren. Aber der Speichel geht aus, vor der Jude ausgeht.“ BFA 26, 178. 130 B RECHT , Notizbücher 1 bis 3, 337. 131 M EHRING , Der Kaufmann von Berlin; S TROBLMAYR , Juden, Adel, Bürger. Brechts Schweigen über den Holocaust 293 scher Richtung scharf angegriffen. Der Eklat fand seinen Niederschlag in einer umfangreichen Berichterstattung. Das Leben der großen Anzahl ostjüdischer Emigranten in Berlin, insbesondere im Scheunenviertel, ging an den Bühnen der Hauptstadt folglich nicht spurlos vorbei. Äußerungen Brechts hierzu sind mir allerdings nicht bekannt. Im Exil wird es für Brecht zusehends schwer, aus seinen materialistischen Positionen heraus die innerjüdischen Debatten und Diskussionen in sein Weltbild zu integrieren. Einem Denken, das in religiöse Bahnen zurückkehrt, kann Brecht definitiv nicht folgen. Und in Fragen eines jüdischen Selbstverständnisses und einer jüdischen Sprache und Kultur kann Brecht kaum Kenntnisse vorweisen, auch wenn er bei seinem New-York-Besuch Mitte der 30er Jahre sich neugierig in ein jiddisches Theater verirrt. 132 Den amerikanischen Assimilationsbemühungen vieler Emigranten im Jüdischen Club will Brecht nicht folgen. Solche Bemühungen hat Brecht skeptisch und mit Unverständnis kommentiert. Bereits Anfang der 1930er Jahre etwa notiert er sich: „Der Jude, der im Coupé sagt: Ich bin Bayer. Ich staunte: Die Bayern sind doch Türken, dachte ich.“ 133 Seine antibürgerlichen Überzeugungen verschließen ihm zudem die Aufnahme in weite Kreise der jüdischen Emigranten. Angesichts dieser Situation zieht sich Brecht auf den Standpunkt des jungen Marx zurück. Brecht kann hier jene „Blindheit der Intellektuellen“ 134 attestiert werden, wie sie Enzo Traverso fast allen deutschen Denkern und Dichtern angesichts von Auschwitz während und unmittelbar nach dem Krieg zugesprochen hat. Brechts Fehlanalysen bezüglich des nationalsozialistischen Judenhasses bedürfen der Verortung im Umfeld seiner Dichterkollegen, denn Traverso berücksichtigt Brecht erst gar nicht. Zweifellos zeigt der Religionskritiker Brecht im Exil Vorbehalte gegenüber der jüdischen Religion. Auch Brechts Vorurteile, beim Judentum handele es sich um eine „alte“ Kultur, die für ihn wohl anachronistische Züge aufweist, erwachsen aus dieser religionskritischen Position des Autors. Dezidiert antijüdische Auffassungen lassen sich während und nach dem Exil hingegen nicht nachweisen. 5.3. Hat Brecht über den Holocaust geschwiegen? Brecht war bereits während des Krieges über die Dimensionen der nationalsozialistischen Judenverfolgung informiert. Dass er nach dem Krieg sich darüber nicht öffentlich äußerte, wird häufig mit einem Zitat aus den posthum veröffentlichten Texten „Gespräche mit jungen Intellektuellen“ von Ende der 40er Jahre begründet. Dort formuliert Brecht zu Auschwitz. „Die Literatur war nicht vorbereitet und hat keine Mittel entwickelt für solche Vorgänge.“ 135 Dabei wird jedoch nicht auf die Umstände verwiesen, unter denen Brecht zu dieser Aussage kommt. Denn noch bevor sich Brecht über Auschwitz äußert, greift er die antisemitische Hetze auf, die 132 BFA 22, 210. 133 BFA 26, 300. 134 T RAVERSO , Auschwitz denken, 27-33. 135 BFA 23, 101. Franz Fromholzer 294 in der sowjetischen Besatzungszone noch vor der Gründung der DDR aufflammt - unterstützt von stalinistischer Propaganda aus der Sowjetunion. Sie erreichte 1948/ 49 ihren ersten Höhepunkt. Brecht versucht sich selbst als „Vermittler“ zu positionieren: „‚Wer hat sofort wieder Handel getrieben, kaum heraus aus den Konzentrationslagern? Wer hat den schwarzen Markt organisiert? ‘ Schön, ein Vorschlag zur Güte: ihr unterdrückt eure Bourgeois, und ich sage nichts, wenn ihr auch die jüdischen Bourgeois unterdrückt.“ 136 Brechts vermeintliche Vermittlerposition bedeutet nichts Geringeres als einer erneuten Verfolgung von Holocaust-Überlebenden zuzustimmen! In diesen Zitaten betrachten Brechts Gesprächspartner zweifellos „Juden nicht als minderwertig, sondern als überaus gefährlich“ 137 als potentiell mächtige Kapitalisten. Die inszenierten Gesprächspartner sind hier wohl junge Kulturbundangestellte, die sich im Sommer 1948 zu einem Schulungskurs in Ahrenshoop versammelten, so vermutet Jan Knopf. 138 Brecht zitiert die antisemitische Hetze. „Ein Zitat ist immer auch eine Art Montage“. 139 Doch findet hier weder eine explizite Distanzierung noch eine Verfremdung der mündlichen Rede statt. Brecht zitiert die weit verbreiteten Stereotype und zweifelt ihre gesellschaftliche Wirkmächtigkeit nicht an. Die Zitate gehen vielmehr Hand in Hand mit Brechts Hass auf die Bourgeoisie. Einer Kampfansage an bürgerliche Ideale ist scheinbar grundsätzlich zuzustimmen. Wie kann Brecht sich damit einverstanden erklären, Holocaust-Überlebende in der sowjetischen Besatzungszone zu unterdrücken? Verortet man die Notate zu Auschwitz und zur jüdischen Bourgeoisie im Kontext der Schrift „Gespräche mit jungen Intellektuellen“, so sind zwei wichtige Aspekte hervorzuheben. Zum einen begegnen dem Rückkehrer Brecht in Deutschland „Ruinenmenschen“, 140 die vom Nationalsozialismus physisch und psychisch gebrochen wurden. Brecht machen diese Deutschen Angst, er weiß nicht, wie sicher er als NS-Gegner im Nachkriegsdeutschland überhaupt sein kann: „Die Frage ist, ob man euch ohne Befürchtungen betrachten kann.“ 141 Ruft man sich in Erinnerung, wie Brecht davon ausgeht, dass sich auch Verfolgte und im KZ von Ermordung bedrohte Regimegegner als Ruinenmenschen mit der Zeit an die herrschende Ideologie anpassen, so findet man darin einen weiteren Grund für seine tiefgehende Verunsicherung. Zum anderen sieht Brecht die Ursachen für die ungeheuren deutschen Verbrechen im Bürgertum, denn „die riesige Bestialität und die riesige Borniertheit kannte ich noch als sie klein 136 Ebd. 137 P OSTONE , Die Antinomien der kapitalistischen Moderne, 437. 138 K NOPF , Gespräche, 457. 139 S TIEGLER , „Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht“, 36. 140 BFA 23, 99. 141 Ebd., 98. Carsten Gansel irrt, wenn er unter „Ruinenmenschen“ allein einen Typus versteht, der „aus dem Krieg wenig gelernt hatte, keine Schuld empfand, sich im Jammern über das Verlorene einrichtete und die Millionen von Toten verdrängte.“ G ANSEL , Zu Politik und Gesellschaft, 394. Auch die vom NS-Terror gebrochenen Regimegegner sind als Ruinenmenschen zu betrachten. Brechts Schweigen über den Holocaust 295 waren - beim Bürgertum.“ 142 Im Kampf gegen bürgerliche Werte erkennt Brecht den wichtigsten Beitrag, um den verbrecherischen Nationalsozialismus zu überwinden. Es wird klar: Brechts öffentliches Schweigen über den Holocaust ist politisches Kalkül. Die Hoffnung, eine klassenlose Gesellschaft im zukünftigen Deutschland errichten zu können, bestimmt auch weiterhin sein Denken. Dabei handelt es sich zweifellos wiederum um eine Verhaltenslehre der Kälte, die sich der in den USA und auch der Schweiz mit Argusaugen überwachte Emigrant beigebracht hat: „und ich sage nichts …“, so formuliert er sein Schweigen gegenüber der neuen Verfolgungswelle, die auf die Juden in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR zurollt. 143 Zu diesem Zeitpunkt hat Brecht seinen offiziellen Wohnsitz noch in Feldmeilen am Zürichsee. Welcher Brecht-Forscher will hier ernsthaft eine begründete Rechtfertigung des großen Autors wagen? Mit dem Schweigen zu brechen, hätte Zweifel gestreut an einer Grundtatsache des neu zu gründenden sozialistischen Staates und seiner siegreichen Klasse. War die DDR doch, wie Dan Diner zu Recht hervorhebt, „ausschließlich geschichtsphilosophisch legitimiert“. 144 Die geschichtsphilosophische Sendung des Arbeiter- und Bauernstaates durfte in einer entscheidenden Phase keinesfalls hinterfragt werden. Aufgrund solcher Positionen ist es höchst fragwürdig, Brechts öffentliches Schweigen über den Holocaust weiterhin zu legitimieren, wie dies jüngst Dieter Henning getan hat: „Brecht hat zu Auschwitz nicht geschwiegen, sondern er hat gesagt, weshalb er unmittelbar dazu nichts gesagt hat“. 145 Mit seinem Schweigen gesteht der aus dem Exil Zurückgekehrte seine Ohnmacht gegenüber der offiziellen Erinnerungspolitik in den sozialistischen Staaten des Ostblocks ein, die eine rassistische Vernichtung durch die Nationalsozialisten auszuklammern suchten. 146 Die Geschichtsbücher der DDR kannten keinen Holocaust, wenngleich der Kampf gegen Antisemitismus 1947 zur nationalen Pflicht erklärt wurde. 147 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Werner Hecht in seinem 2013 vorgelegten Buch zu „Brecht und die DDR“ die antisemitischen Kampagnen gegen Slánský und im Umfeld des Merker-Prozesses ausspart. 148 Auch Anna Seghers musste sich ja bekanntlich 1950 der Zentralen Parteikontrollkommission der SED stellen und im Kontext des Merker-Prozesses über ihre Kontakte zu Noel Field Rede 142 BFA 23, 102. 143 Zu den antijüdischen Kampagnen in der DDR sowie der folgenden Auswanderungswelle vgl. O FFENBERG , „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“, 78-90; J UNG , Jenseits der Erinnerungspolitik, 173-179; T HIELE , Literatur nach Stalins Tod, 85-98. 144 D INER , Zur Ideologie des Antifaschismus, 25. 145 H ENNING , Das Leben in Beschlag, 49. 146 Vgl. G RÜNER / H EFTRICH / L ÖWE , „Die Kunst ist der Zerstörer des Schweigens“, X. 147 Vgl. P ECK , East Germany, 452f. 148 Vgl. H ECHT , Die Mühen der Ebenen, 137f. Die jüdischen Gemeinden in der DDR wurden dazu gezwungen, offiziell einen „Feldzug des Antisemitismus“ zu dementieren. Vgl. O FFEN- BERG , „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“, 184. Franz Fromholzer 296 und Antwort stehen. 149 Dass in der SED Antisemiten einflussreiche Parteimitglieder waren, bleibt bei Hecht also gänzlich unerwähnt. 150 Hecht kürzt auch Brechts Brief an Peter Suhrkamp vom 1. Juli 1953 um eben die Passagen, in denen Brecht auf die DDR-Propaganda reinfällt und behauptet, eine KZ-Lagerkommandantin wäre in Halle am 17. Juni befreit worden und man habe an mehreren Orten Juden überfallen. 151 Diese Vorgehensweise Hechts gibt einen signifikanten Einblick in das jahrzehntelange Verhältnis vieler Brechtforscher zum Themenkomplex Antisemitismus. Dabei wurde über die Darstellung des Holocaust in der DDR-Literatur inzwischen vielfach geforscht. 152 Brecht dagegen war sich dessen bewusst, dass bei weiten Teilen der Führungsschichten in der sowjetischen Besatzungszone judenfeindliche Einstellungen keine Seltenheit darstellten. Am 2. Januar 1949 notiert er in sein „Journal“: „Im Berliner Rundfunk soll in meiner ‚Grabschrift‘ für Rosa, die von Dessau komponiert ist, die Zeile ‚eine Jüdin aus Polen‘ kritisiert worden sein. (Wahrscheinlich, um die ‚Empfindlichkeit weiter Kreise in diesem Punkt‘ zu schonen.)“ 153 In der „Grabschrift Luxemburg“, einer Auftragsarbeit für den Rundfunk, hatte Brecht Rosa Luxemburg, noch bevor er ihren Einsatz für die deutschen Arbeiter erwähnt, als eine „Jüdin aus Polen“ 154 bezeichnet. Brecht weist damit explizit darauf hin, dass Rosa Luxemburg eben jener Gesellschaftsgruppe zugehört, die der planmäßigen millionenfachen Ermordung durch die Nazis zum Opfer fiel. Es ist dies wohl der einzige indirekte Hinweis auf den Holocaust, den Brecht zeit seines Lebens zur Veröffentlichung freigab. Rosa Luxemburgs Geburtsort Zamosc´ in der Woiwodschaft Lublin muss in zweifacher Hinsicht mit den nationalsozialistischen Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Die „Aktion Zamosc´ “ suchte durch Zwangsumsiedlungen eine „Germanisierung“ des Lebensraums im Osten brutal zu verwirklichen. Der parallel dazu durchgeführten „Aktion Reinhardt“ fielen in den Konzentrationslagern Lublin-Majdanek, Sobibor, Belzec und Treblinka über zwei Millionen Juden zum Opfer. 155 Selbst mit diesem nur indirekten Hinweis auf die Millionen von jüdischen Opfern in Polen erntet Brecht sofort Kritik, da infrage gestellt werden könnte, dass die 149 Vgl. Z EHL R OMERO , Anna Seghers 1947-1983, 106f., sowie die Aussagen Fields von 1954: F IELD , Referenzen für meine politische Tätigkeit, 605. 150 Vgl. hierzu etwa H ERF , Antisemitismus in der SED. 151 Vgl. H ECHT , Die Mühen der Ebenen, 185-187. Hecht gibt auf drei Seiten einen umfangreichen Teil des Briefes wieder. Es fehlt jedoch die Passage: „In der Provinz wurde ‚befreit’. Aber als die Gefängnisse gestürmt wurden, kamen merkwürdige Gefangene aus diesen ‚Bastillen’, in Halle die ehemalige Kommandeuse des Ravensbrücker Konzentrationslagers, Erna Dorn. Sie hielt anfeuernde Reden auf dem Marktplatz. An manchen Orten gab es Überfälle auf Juden, nicht viele, da es nicht mehr viele Juden gibt.“ B RECHT , An Peter Suhrkamp, 696. 152 Vgl. H EUKENKAMP , Jüdische Figuren in der Nachkriegsliteratur der SBZ und DDR; E MME- RICH , Kein Holocaust? . 153 BFA 27, 295. 154 BFA 15, 196. 155 Vgl. hierzu M USIAL , „Aktion Reinhardt“. Brechts Schweigen über den Holocaust 297 Arbeiterklasse als das Hauptopfer des Nazi-Terrors zu bezeichnen ist. Entschieden fordert Brecht in diesem heiklen Konfliktfeld der sich gerade konstituierenden DDR: „Unterdrückte/ Begrabt eure Zwietracht! “ 156 Im „Journal“-Eintrag muss Brecht dann allerdings nüchtern konstatieren, dass allein schon die Bezeichnung „Jüdin aus Polen“ für Rosa Luxemburg in der Öffentlichkeit auf Ablehnung „weiter Kreise“ stößt. Brecht veröffentlicht das Gedicht zusammen mit der „Grabschrift Liebknecht“ in der Zeitschrift „Ost und West“, die von Alfred Kantorowicz als zwischen den verschiedenen Besatzungszonen vermittelndes Publikationsorgan herausgegeben wurde. 157 Den beiden Gedichten zugeordnet ist der Essay „Weimar und Auschwitz“ des Chefredakteurs Maximilian Scheer. Maximilian Scheer leitet zu dieser Zeit nicht nur die Redaktion von „Ost und West“, er hat zugleich die Funktion eines Sekretärs der Hauptabteilung Künstlerisches Wort beim Berliner Rundfunk und beim Deutschlandsender inne. Die Bekanntschaft zwischen Brecht und Scheer geht bis in das Jahr 1928 zurück, als sie sich in Köln das erste Mal trafen. Im Exil sahen sich beide in New York und Vermont mehrmals wieder. Von einer gemeinsamen Besichtigung der Reichskanzleitrümmer 1948 berichtet Scheer eindrucksvoll in seiner Autobiographie „Ein unruhiges Leben“. 158 Die Zusammenarbeit zwischen Brecht und Scheer war im Hinblick auf Hörspielproduktionen für den Rundfunk in den folgenden Jahren sehr eng. Scheer dürfte mithin sowohl die Radioausstrahlung als auch die gedruckte Publikation der „Grabschrift Luxemburg“ maßgeblich verantwortet haben. Scheer fasst in „Weimar und Auschwitz“ einleitend die schockartigen Eindrücke zusammen, die der polnische Auschwitz-Dokumentarfilm „Die letzte Etappe“ bei ihm hinterlassen hat. Dieser wurde an Weihnachten im Berliner Kino „Babylon“ gezeigt. Scheer nimmt den Film zum Anlass, nach den Ursachen in der deutschen Geschichte zu fragen, die zu Auschwitz geführt haben. Er verweist hierbei als eine Ursache - im Anschluss an Brecht - auf die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, die sich im Januar 1948 zum 30. Mal jährt. Scheer zieht in der Folge eine direkte Linie von der Weimarer Republik nach Auschwitz: „Was Hitler tat, war der Zahl nach von dem verschieden, was unter der Weimarer Republik geschah; war die Ausweitung des privaten, vom Staat gedeckten Mordes zum Staatsmord; war mit irrationalen rassischen Elementen umnebelter nackter mörderischer Klassenkampf. Dem Wesen nach war er von dem, was in der Weimarer Republik geschah, nicht verschieden. Das Unwesen von Auschwitz war das ins Gigantische gesteigerte Unwesen der Weimarer Republik.“ 159 Die direkte Linie, die von der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts hin zu Auschwitz zu ziehen sei, erscheint geradezu als erläuternde Erklärung zu Brechts Gedichten, die der Chefredakteur den Lesern anbietet. Es ist durchaus legitim, den Essay „Weimar und Auschwitz“ als kulturpolitisch notwendig gewordene Handreichung aufzufassen, um nach den kritischen Diskussionen über Brechts „Grabschrift 156 BFA 15, 196. 157 Dazu V OIGT , Vorbemerkung, 5-9. 158 S CHEER , Ein unruhiges Leben, 306f. 159 S CHEER , Weimar und Auschwitz, 21. Franz Fromholzer 298 Luxemburg“ im Berliner Rundfunk weiterem Unmut der Zensurbehörden vorzubeugen. Hatte sich der Kulturfunktionär Scheer dazu verpflichtet gesehen, nachdem Brecht die jüdisch-polnische Herkunft Luxemburgs so explizit betont? Hinzu kommt, dass Scheer häufiger Gast in Ahrenshoop war, sich dort mit Ernst Busch und Herbert Ihering traf. 160 Im Gegensatz zur „Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe“, die Ihering für Brechts Informant hält, 161 gehe ich aufgrund dieser Tatsache davon aus, dass es ebenfalls Maximilian Scheer war, der Brecht über die antisemitische Hetze der Kulturbundfunktionäre in Ahrenshoop informierte. Damit ist die Entstehung der „Grabschrift Luxemburg“ im Kontext der oben aufgeführten Notate aus den „Gesprächen mit jungen Intellektuellen“ anzusiedeln. Scheers Erläuterungen in „Weimar und Auschwitz“ sehen im irrationalen Rassenhass gezielt gestreuten Nebel, der die Praxis der staatlichen Legitimation des Mordes im Klassenkampf verschleiern soll. Er führt ferner Publikums- Beobachtungen im Westberliner Rheingau-Theater an, wo Scheer anhand der wahrgenommenen Zuschauer-Gespräche das Fortbestehen der Herrenrasse-Ideologie und des Russenhasses entsetzt feststellen muss. Scheer schließt angesichts dieser Tatsache mit dem pessimistischen Ausblick, dass Auschwitz in Zukunft wiederum möglich sei. 162 Die Januar-Ausgabe von „Ost und West“ wurde von der sowjetischen Zensur zur Veröffentlichung genehmigt, von den amerikanischen Behörden allerdings beschlagnahmt. Der Herausgeber Alfred Kantorowicz fasst in seiner Autobiographie verständnislos zusammen: „Brechts Grabschriften [sic! ] auf Karl Liebknecht kann niemand kränken als seine Mörder“. 163 Dieses Urteil, das der bereits im Westen lebende Kantorowicz Ende der 1950er Jahre fällt, zeigt das weiter vorherrschende tiefe Misstrauen gegenüber der amerikanischen Demokratie. Es ist allein vor dem Hintergrund deutscher Demokratieerfahrungen in der Weimarer Republik verständlich. In der sowjetischen Besatzungszone stößt Brechts Einsatz für die „Jüdin aus Polen“ sofort auf Widerspruch, im Westen passiert seine „Grabschrift Luxemburg“ nicht einmal die Zensur. Angesichts dieses gesamtdeutschen Gesellschaftsklimas verharrt Brecht in Schweigen und enthält sich öffentlicher Äußerungen zum Thema Holocaust. Die Publikation der Grabschriften zusammen mit Scheers Essay „Weimar und Auschwitz“ ist dennoch beachtenswert. 160 Vgl. S CHEER , Ein unruhiges Leben, 256. 161 Vgl. BFA 23, 465. 162 Vgl. S CHEER , Weimar und Auschwitz, 21. 163 K ANTOROWICZ , Deutsches Tagebuch. Erster Teil, 582. Brechts Schweigen über den Holocaust 299 6. Widersprüche: Alfred Döblin, Fritz Kortner und George Tabori kommen zu Wort Bertolt Brecht, ein überzeugter und für seine Überzeugungen verfolgter Gegner des Nationalsozialismus, hat über den Holocaust geschwiegen. Nach jahrzehntelanger Holocaust-Forschung und dem Ende der DDR ist es möglich geworden, Brechts Position einer deutlichen Kritik zu unterziehen. Aber wie sind Brechts Zeitgenossen mit dieser Tatsache umgegangen? Wie haben sie seine Einstellung zu Antisemitismus und Holocaust wahrgenommen? Um Brecht Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollen exemplarisch mit Alfred Döblin, Fritz Kortner und George Tabori drei Stimmen aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis abschließend zu Wort kommen. Denn es sind nur wenige zeitgenössische Aussagen zu Brechts Ansichten über Antisemitismus und Holocaust ausfindig zu machen. Zukünftige biographische Forschungen in diesem Kontext wären dringend erforderlich. Einen Disput zwischen Brecht und Alfred Döblin sowie dem Schriftsteller Martin Lampel Ende der 1920er Jahre gibt Helmut Kindler in seiner Autobiographie „Zum Abschied ein Fest“ wieder. Darin wird Brecht in seinen Ansichten als dogmatisch charakterisiert: „Der Philosemitismus ist die Kehrseite des Antisemitismus. Ich bin weder das eine noch das andere. Alle sollten das sein: weder Antisemit noch Philosemit“, 164 behauptet Brecht laut Kindler gegenüber Döblin und Lampel. Brecht hat keinerlei Verständnis für die philosemitischen Tendenzen in Lampels neuem Stück. Döblin gegenüber will er dessen jüdische Herkunft bezweifeln: „‚Was heißt jüdischer Herkunft‘, konterte Brecht. ‚Hinter dem Antisemitismus versteckt sich der Klassenkampf.‘ ‚Sie sollten nicht nur Marx lesen‘, warf Döblin ein. ‚Sondern? ‘ fragte Brecht. ‚Freud zum Beispiel, außerdem die fünf Bücher Mosis, um nicht so einseitig zu urteilen. Ich würde nicht Klassenkampf sagen, sondern Konkurrenzkampf. Die nichtjüdischen Wirtschaftshyänen nehmen den Antisemitismus als Vorwand, lästige jüdische Konkurrenten auszuschalten.‘“ 165 Döblin hält Brechts Ansichten bereits Ende der 20er Jahre für unterkomplex, rät ihm zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Doch konzediert er Brecht gegenüber, dass deutsche Wirtschaftsunternehmen antisemitische Kampagnen nutzten, um gegen jüdische Konkurrenten vorzugehen. Brecht lässt sich von seinen Ansichten jedoch nicht abbringen. Im Frühjahr 1929 sei Brecht „von seiner Klassenkampftheorie durchdrungen gewesen“, 166 konstatiert Kindler bedauernd. Einen Einblick in die Emigrantenkreise gewährt Fritz Kortner, mit dem Brecht im amerikanischen Exil in freundschaftlichem Austausch stand. Kortner beschreibt die deutschen Emigranten in seiner Autobiographie „Aller Tage Abend“ als ausgesprochen philosemitisch: „Sie alle waren philosemitisch. Nicht so Brecht! Er lehnte es ab, ein Philosemit zu sein. Er hielt das für eine herablassende, begönnernde Haltung. Ihn langweilte 164 K INDLER , Zum Abschied ein Fest, 88. 165 Ebd., 89. 166 Ebd., 90. Franz Fromholzer 300 die Judenfrage maßlos. Es war ganz schwer, mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen. Er hielt sie für kein Thema. - Auch der unbeirrbar hitlerfeindliche evangelische Priester Tillich war unter uns Emigranten und dachte in der Rassenfrage wie Brecht.“ 167 Kortner zeichnet Brecht neben Paul Tillich als große Ausnahme. Hinter dem Philosemitismus verberge sich eine herablassende Haltung, so wird Brecht wiedergegeben. Zugleich betont Kortner die Langeweile, die Brecht bei dieser „Rassenfrage“ überkam. Kortner bezeichnet in seinen weiteren Ausführungen den gesamten deutschen Emigrantenkreis respektvoll als „moralische[n] Instanz“. 168 Kortner hat Brechts Position zum Antisemitismus aber auch nicht in Ruhe gelassen. In den aus dem Nachlass herausgegebenen Fragmenten „Letzten Endes“ zitiert er nochmals Brecht über Antisemitismus („Das Thema sei menschenunwürdig, blöd und fad“ 169 ) und lässt Brecht in seinen Träumen erscheinen: „Da kommt der Frühverstorbene den Gerichtskorridor entlang mit Mütze und Lederjacke, klopft mir auf dem Schemel Sitzenden, seinem Jugendfreund, vertraulich auf die Schulter und will in den Saal. Kennt Brecht denn Kafka nicht? Weiß er nicht, daß da der Türhüter steht und dafür sorgt, vom Gesetze aus darauf achtet, daß kein Brecht je den Saal des Gesetzes betritt? Und ich höre, wie der Türhüter Brecht erklärt, er sei tot, und mehr als das. Ihm, der von Mißerfolg zu Mißerfolg in den Welterfolg schritt, soll der Nachruhm abgesprochen werden. Es wird versucht, ihn aus dem Paradies der Unsterblichkeit auszustoßen und in die Hölle der Überlebtheit zu verweisen.“ 170 Kortner fügt in seinem Traum die Brecht-Figur in Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ ein. Auch Brecht, wie Kortner selbst, stehe vor dem Gesetz. Brecht erscheint wirklichkeitsfremd, naiv und ahnungslos, wenn er glaubt, den Saal des Gesetzes betreten zu können. Kafkas Türhüter wolle Brecht jedoch in „die Hölle der Überlebtheit“ verbannen. Brechts Werk für obsolet zu erklären, den Dichter Brecht selbst für tot, das bleibt für Kortner ein „Angsttraum“. 171 Kortners hohe Meinung von Brecht hat sich über die Jahre hinweg noch verstärkt. Noch mehr: Brechts Ahnungslosigkeit gegenüber dem mörderischen Antisemitismus prädestiniert ihn geradezu dafür, ein „Plädoyer“ 172 für Kortner vor dem Gesetz vorzubringen. Weniger versöhnlich, dafür pointiert und kritisch hat sich der Brecht-Freund und -Verehrer George Tabori geäußert. Tabori, der im amerikanischen Exil von Brecht fasziniert war, hält Brechts wirklichkeitsfremde Position zum Antisemitismus anders als Fritz Kortner für gefährlich. Tabori konstatiert: „BB langweilten die Juden, auch ein Symptom seiner Krankheit, denn Langeweile ist gefährlicher als ein Tritt in den Bauch, er ruhe in Frieden.“ 173 167 K ORTNER , Aller Tage Abend, 373. 168 Ebd. 169 K ORTNER , Letzten Endes, 88. 170 Ebd., 88f. 171 Ebd., 89. 172 Ebd., 88. 173 T ABORI , Kunst und Wahrheit, 27. Brechts Schweigen über den Holocaust 301 Tabori urteilt von den drei Zeitgenossen mit der größten zeitlichen Distanz. Ohne das Andenken an den Verstorbenen beschädigen zu wollen, bleibt für ihn dennoch unumgänglich, auf die Gefährlichkeit von Brechts Haltung hinzuweisen. Von welcher Krankheit Brechts Tabori hier spricht, bleibt wohl Spekulation. Tabori bekannte sich nichtsdestotrotz stets zu seinem literarischen Vorbild. Als Helene Weigels und Brechts Grabsteine geschändet werden, erklärt Tabori öffentlich seine Solidarität mit den Verstorbenen. 174 Die drei recherchierten Positionen von Zeitgenossen Brechts zeigen verschiedene Facetten - den kritikresistenten Dogmatiker, den zutiefst humanistisch geprägten und solidarischen Freund sowie den gelangweilten Religionsverächter. Hat Brecht die Gefahr erkannt, die in seinem Schweigen über den Holocaust lag? Hat Brecht, fest im sozialistischen Glauben an den sittlichen Menschen verwurzelt, die Dimensionen des Bösen erkannt, 175 die im zeitgenössischen Antisemitismus selbst lagen? Seine „Journal“-Einträge sprechen nicht dafür. - Weitere biographische Recherchen zum Thema ‚Brecht und das Judentum‘ sind an der Zeit. Literatur Die Werke Brechts werden zitiert nach der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe (Sigle „BFA“). A NONYM : Heute Kongreß der Friedenskämpfer, in: Neues Deutschland vom 27.05.1950, 1. 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Zur Problematik von Erinnern und Vergessen bei Hans Magnus Enzensberger Katja Schneider 1. Lyrik im Schatten von Auschwitz „Vom ersten Augenblick an, schon zu einer Zeit, da er sich der Welt bei weitem noch nicht offenbart hatte, als er sich, namenlos noch, Tag für Tag in den Schlupfwinkeln namenloser Abgründe ereignete und allein das Geheimnis der Beteiligten, von Opfern und Henkern, war, vom ersten Augenblick an also haftet dem Holocaust eine entsetzliche Angst an: die Angst vor dem Vergessen.“ 1 Diese Feststellung aus Imre Kertész‘ 1994 erschienenem Aufsatz „Der Holocaust als Kultur“ deutet eine Notwendigkeit an, Zeugnis von den ungeheuerlichen Gräueln des NS-Regimes abzulegen, wie sie Kertész im Fortgang seiner Ausführungen zum Überleben des Genozids beschreibt. Denn wie auch Hanno Loewy bemerkt, verweigert sich der Holocaust der Möglichkeit, sich seiner zu erinnern „und fordert zugleich die historische Erinnerung heraus wie kein anderes Ereignis der Geschichte.“ 2 Jedoch stellt sich angesichts Adornos berühmt gewordenen Satzes, nach Auschwitz Lyrik zu schreiben sei barbarisch, besonders für deutsche Schriftsteller und Dichter die Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust innerhalb der Literatur. Im Umgang mit diesem Verdikt werden viele Stimmen laut, die sich des Spannungsfeldes zwischen der Verweigerung der schönen Form auf der einen Seite und dem Bewusstsein einer Unverzichtbarkeit der Thematisierung gerade im Hinblick auf ein Nicht-Vergessen des Völkermordes auf der anderen Seite bewusst sind. Walter Jens sieht in dieser vermeintlichen Absage an eine Lyrik nach Auschwitz „[e]in bitteres, ein abschließendes Wort, ein Wort der Resignation.“ 3 Und auch Peter Szondi setzt sich mit dem adornoschen Satz innerhalb seiner Arbeit mit Celan auseinander und kommt zu dem Schluss, dass vor dem Hintergrund eines Eingedenkens der Opfer insbesondere der Dichtung eine wichtige Funktion zukomme: „Gibt es ein Gedächtnis, Eingedenken, so dank der Spuren, die die Opfer, denen es sich zuwendet, zurückließen. Dank des Wortes. Erinnerung bezeugt die schaffende Kraft des Wortes, das heißt aber den sprachlichen Ursprung der Realität - derer zumindest, auf die es ankommt; dies erst begründet Erinnerung und läßt sie nicht bloß zur Aufgabe, sondern zur poetischen Verpflichtung und Notwendigkeit werden. […] Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz.“ 4 1 K ERTÉSZ , Holocaust, 562. 2 L OEWY , Holocaust, 9. 3 J ENS , Sachs, 4. 4 S ZONDI , Celan-Studien, 102f. Katja Schneider 310 2. Enzensbergers Auseinandersetzung mit Adorno Hans Magnus Enzensberger versucht in seinem 1959 im „Merkur“ erschienenen Aufsatz „Die Steine der Freiheit“ einen eigenen Umgang mit Adornos Diktum zu finden und formuliert einen eigenen Weg der Darstellung dieser geschichtlichen Zäsur, wie dieser sich auch in seinem 1964 erschienenen Gedicht „die verschwundenen“ 5 widerspiegelt. Enzensberger versucht hier Adornos Diktum zu widerlegen und Möglichkeiten der Darstellbarkeit des Holocausts zu erproben. In einem Gespräch mit Karla Lydia Schulz im Sommer 1982 entgegnet Enzensberger auf die Frage, „was er denn von Adorno halte, […] dass dieser für ihn kein Erfassungsgegenstand sei, sondern jemand, von dem man lernen könne“. 6 Betrachtet man sein Werk auf Verweise zu diesem „Lehrer“, finden sich einige Bezugspunkte: seine Beschäftigung mit Adorno in seinem Aufsatz „Die Steine der Freiheit“, ein ihm zugeeignetes Gedicht in Enzensbergers drittem Lyrikband „blindenschrift“ („schwierige arbeit“, für theodor w. adorno) sowie Bezugnahmen in „Kursbuch“ (1967/ 68) und „Politische Brosamen“ (1982). 7 In seinem Aufsatz „Die Steine der Freiheit“ empfindet Hans Magnus Enzensberger Adornos Diktum „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben“, 8 als eines der „härtesten Urteile“, die „über unsere Zeit gefällt werden können“ 9 und konstatiert: „Wenn wir weiterleben wollen, muß dieser Satz widerlegt werden.“ 10 Er ist sich bewusst, dass die moralische Integrität einer Lyrik nach Auschwitz als bloße, schöne Form nicht mehr gegeben ist, jedoch weist er ihr ein Existenzrecht zu, indem sie zu einer Lyrik über Auschwitz wird. 11 Gleichzeitig stellt er fest, dass nur wenige dies vermögen. Eine solche Dichterin, gar die „letzte Dichterin des Judentums in deutscher Sprache“, 12 der es gelingt in dieser Zeit Gedichte zu verfassen, sieht Enzensberger in Nelly Sachs. Ihr Werk sei „das einzig poetische Zeugnis geblieben, das sich neben dem sprachlosen Entsetzen der dokumentarischen Berichte behaupten kann.“ 13 Denn ihrer Sprache wohne etwas Rettendes inne. „Indem sie spricht, gibt sie uns“, laut Enzensberger, „selber zurück, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache“. 14 Hier setzt Enzensberger an einer Problematik an, die mit Adorno artikuliert und auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch wirksam ist: der sprachlichen (oder bildlichen) Undarstellbarkeit des Schreckens. Ihn beschäftigt, wie so viele Dichter und Theoretiker nach dem furcht- 5 E NZENSBERGER , Blindenschrift, 51. 6 S CHULZ , Enzensberger, 237. 7 Vgl. ebd. 8 A DORNO , Kulturkritik, 30. 9 E NZENSBERGER , Freiheit, 772. 10 Ebd. 11 Vgl. L AMPING , Auschwitz, 237. 12 E NZENSBERGER , Sachs, 360. 13 Ebd. 14 E NZENSBERGER , Freiheit, 772. Zur Problematik von Erinnern und Vergessen bei Hans Magnus Enzensberger 311 baren Hiatus des Dritten Reiches, die Möglichkeit der Produktion von Kunst. Das Werk Nelly Sachs’, als deren aufmerksamer Leser er sich zeichnet, spielt für seine Ausführungen eine zentrale Rolle, weswegen gerade vor diesem Hintergrund eine genauere Betrachtung von Sachs‘ Überlegungen zum Schreiben nach Auschwitz unabdingbar ist, um im Weiteren Enzensbergers Arbeit an und mit dieser Problematik als Rezipient von Sachs und Adorno zu beleuchten, bevor daran anschließend der lyrische Versuch der Auseinandersetzung mit dem Holocaust in seinem Gedicht „die verschwundenen“, das Nelly Sachs zugeeignet ist, zu erörtern. 3. Nelly Sachs - Die Wunde Auschwitz Tatsächlich stellt sich Sachs schon in den 1940er Jahren die Frage nach den Möglichkeiten der Produktion von Kunst, insbesondere Lyrik, im Schatten des Holocaust und erläutert dahingehend in einem Brief vom 1. Oktober 1946 an Carl Seelig: „Aber es muß doch eine Stimme erklingen und einer muß doch die blutigen Fußspuren Israels aus dem Sande sammeln und sie der Menschheit aufweisen können. Nicht nur in Protokollform! “ 15 Einige Jahre vor Adornos wirkmächtiger Formel erkennt sie die Notwendigkeit des Zeugnisablegens durch die Kunst. Und ein Brief zwei Jahre später an ihre langjährige Freundin Gudrun Dähnert vom 9. Oktober 1948 berichtet von ihren Überlegungen hinsichtlich einer Repräsentierbarkeit des Holocaust innerhalb ihres Schaffens und der unabdingbaren Notwendigkeit der künstlerischen Auseinandersetzung mit ihm. „Ich habe versucht, in meiner neuen Gedichtsammlung [„Sternverdunkelung“] diese apokalyptische Zeit zu fangen, aber auch die ewigen Geheimnisse dahinter schimmern zu lassen. Unsere Zeit, so schlimm sie ist, muß doch wie alle Zeiten in der Vergangenheit in der Kunst ihren Ausdruck finden, es muß mit allen neuen Mitteln gewagt werden, denn die alten reichen nicht mehr aus.“ 16 Der Singularität des Ereignisses wird das Gebot, neue Modi der Darstellung desselben zu erproben, entgegengesetzt. Dass die alten Mittel künstlerischen Ausdrucks keine Gültigkeit mehr besitzen, stellt sie 1947 in einem ebenfalls an Carl Seelig adressierten Brief fest: „kein Wort, kein Stab, kein Ton“ reichen mehr aus, um das „Martyrium“ zu artikulieren, „wir wollen doch keine schönen Gedichte nur machen.“ 17 Das „Unsägliche“ muss in einer ihm angemessenen Weise zum Ausdruck kommen, „der Äon der Schmerzen darf nicht mehr gesagt, gedacht, er muß durchlitten werden.“ 18 Diese Überlegung findet sich ebenso in ihrem lyrischen Schaffen wieder. In „Chor der Tröster“, 19 das auch Enzensberger in seinem Essay „Die Steine der Freiheit“ zitiert, schreibt sie: „In der Tiefe des Hohlwegs Zwischen Gestern und Morgen 15 S ACHS , Briefe, 67f. 16 Ebd., 98. 17 Ebd., 82. 18 Ebd., 84. 19 S ACHS , Gedichte, 41f. Katja Schneider 312 Steht der Cherub Mahlt mit seinen Flügeln die Blitze der Trauer Seine Hände aber halten die Felsen auseinander Von gestern und Morgen Wie die Ränder einer Wunde Die offenbleiben soll Die noch nicht heilen darf. Nicht einschlafen lassen die Blitze der Trauer Das Feld des Vergessens.“ (V. 12-22) Das Bild der Wunde für einen Einschnitt in die Zeit verweist schon auf das Paradigma des Traumas (griechisch tráuma: Wunde, Verletzung), das spätestens mit Freuds Untersuchungen zur traumatischen Neurose Einzug in die Psychoanalyse gehalten hat. Für ihn sind traumatische Erfahrungen dadurch gekennzeichnet, dass sie „stark genug sind, den Reizschutz [des psychischen Apparats] zu durchbrechen“ 20 und sich so von den gewöhnlichen Gedächtnisinhalten zu dissoziieren und nicht in das Gedächtnis integriert werden können. Eine solche Erfahrung entzieht sich jeder Art der Deutung und Sinngebung, was sie dem psychischen Apparat des rationalen Denkens und damit der Verarbeitung zugänglich machen könnte, und wird so immer wieder unkontrolliert und unfreiwillig aufs Neue erlebt. Dieses immer wieder neue Erleben zeigt sich als charakteristisch für die traumatische Erfahrung, da aufgrund ihrer Nicht-Integration in den geistigen Apparat auch die Grenzziehung von Vergangenem und Gegenwärtigen nicht erfolgt. So bleibt das Trauma als immerwährende Gegenwärtigkeit bestehen, die in den Flashbacks des Individuums fortlebt und nicht als Vergangenes klassifiziert werden kann. Da sich diese Erfahrung nie im Gedächtnis verankern konnte, ist auch ein Vergessen ihrer unmöglich, denn genauso wie sich im Trauma die Unmöglichkeit der bewussten Erinnerung abzeichnet, kennzeichnet es sich auch durch eine Unmöglichkeit des Vergessens. In dem Gedicht „Chor der Tröster“ wird ein ganz ähnliches Bild der Erfahrung des Holocaust gezeichnet. Gerade die Gegenwärtigkeit des Traumas kommt in den hier zitierten Zeilen Sachs‘ zum Tragen, da dieser Einschnitt einer offengehaltenen Wunde gleicht, „die noch nicht heilen darf“ (V. 18), weil dieses Trauma sich jedweder Verarbeitung entzieht und auch entziehen muss, um durch ein immer wiederkehrendes Aufblitzen der Trauer und des Entsetzens jegliches Vergessen zu verhindern. 4. Das Gebot des Erinnerns Nelly Sachs ist es laut Enzensberger gelungen, Lyrik zu erschaffen, die auch in einer solchen Zeit berechtigt ist. So führt er in seinem Aufsatz weiter aus: „Ihr Werk enthält kein einziges Wort des Hasses. Den Henkern und allem, was uns zu ihren Mitwissern und Helfershelfern macht, wird nicht verziehen und nicht gedroht. Ihnen gilt kein Fluch und keine Rache. Es gibt keine Sprache für sie. Die Gedichte spre- 20 F REUD , Lustprinzip, 239. Zur Problematik von Erinnern und Vergessen bei Hans Magnus Enzensberger 313 chen von dem, was Menschengesicht hat: von den Opfern.“ 21 Dass für die Täter keine Sprache gefunden werden kann, bedeutet jedoch nicht, dass diese vergessen wären. Täter sowie deren Taten bleiben unterschwellig in den Texten, die von den Opfern sprechen, präsent. Recht und Kraft zu solch einem Schweigen kann aber nur den Opfern zugesprochen werden. Für die Nachgeborenen bemerkt er, sie müssten die Täter noch ausrufen, solange diese noch leben. Denn auf Brechts „Die Nachgeborenen“ 22 verweisend, konstatiert er: „solange leben wir ‚in finsteren Zeiten‘, ‚wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,/ weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt‘“. 23 Eine Form des Schweigens, die einer Verdrängung des Ereignisses des Holocaust nahe kommt, ist für Enzensberger kein möglicher Umgang mit der historischen Zäsur Auschwitz. Im Medium der Sprache kann weder verschwiegen noch bewältigt, nur Stimme verliehen werden. Dies sieht er in dem Gedichtband „In den Wohnungen des Todes“ (1947) von Nelly Sachs erfüllt, die sich in ihrem Schaffen den Formen der Frage und des Dialogs widmet, einem Dialog nicht mit den Tätern oder deren Nachgeborenen, sondern dem „Dialog mit der Trostlosigkeit“, dem „Gespräch mit dem Sprachlosen“. 24 An dieser Stelle deutet Enzensberger die Problematik der Nicht-Darstellbarkeit dieses Ereignisses, das sich jedweder Integration in ein historisches Kontinuum verweigert, an, die in den darauffolgenden Jahren noch unter anderem von Jean-François Lyotard in Anlehnung an Adornos negative Dialektik aufgegriffen wird. Wie aber ist vor der Folie solcher Überlegungen ein Erinnern, ein Eingedenken des Holocaust möglich? Auschwitz als singuläres Ereignis der Geschichte entzieht sich jeder Deutung und markiert somit die Grenzen des Verstehens. Denn während unter historischen Gesichtspunkten die Vernichtung der Deportierten in Auschwitz sich sehr präzise rekonstruieren lässt, „bleiben diese Vorgänge, die wir beschreiben und ihre zeitliche Abfolge aneinanderreihen können, eigenartig opak, sobald wir sie wirklich zu verstehen suchen.“ 25 In seiner Betrachtung des Sachs-Gedichts „An euch, die das neue Haus bauen“, 26 stellt Enzensberger fest: „Das Gedicht spricht, wovon es schweigt: es mahnt uns, an die zu denken, die nicht mehr mit uns wohnen werden.“ 27 Es vollzieht sich das Denken einer Anwesenheit, eines Sprechens von etwas, das sich der Darstellung zu entziehen scheint, weil nicht von ihm gesprochen werden kann, da Schweigen, die Leerstelle, sein einziger Darstellungsmodus ist. So heißt es im letzten Teil dieses Gedichts: „Baue, wenn die Stundenuhr rieselt, Aber weine nicht die Minuten fort, Mit dem Staub zusammen, Der das Licht verdeckt.“ (V. 16-19) 21 E NZENSBERGER , Freiheit, 772. 22 B RECHT , Gedichte, 85. 23 E NZENSBERGER , Freiheit, 772. 24 Ebd., 773. 25 A GAMBEN , Auschwitz, 7. 26 S ACHS , Gedichte, 12. 27 E NZENSBERGER , Freiheit, 771. Katja Schneider 314 Verkürzt hieße dies: baue, aber weine nicht, es ist eine Warnung, der schon innewohnt, wovor sie warnt - die Erinnerung, das Eingedenken. Laut Enzensberger wird damit eine „Erinnerung von besonderer Art“ beschrieben, „eine Erinnerung nicht nur an die Vergangenheit“, von der sie nichts zu sagen weiß, sondern „vielmehr eine Erinnerung an die Zukunft. Denn das Leid kann nicht vergessen oder ausgelöscht werden“. 28 Dieses hier beschriebene Leid entzieht sich jedweder Deutung und damit seiner Bewältigung. Auf eine der Struktur des Traumas ähnlichen Art sucht es auch die nachfolgenden Generationen heim. Denn es ist gerade ein Wesensmerkmal des Traumas, dass es sich jeder bewussten Erinnerung entzieht, da es aus einem dem psychischen Apparat nicht zugänglichen Ereignis resultiert, das gar nicht erst in einer Form des Bewusstseins gespeichert werden kann und so als Fremdkörper im System verharrt, bis es wieder an die Oberfläche dringt. In diesem Zusammenhang benutzt Lyotard auch den freudschen Terminus der Urverdrängung. Der Schock ist ein Reiz, der „zu viel“ für das psychische System ist, und der infolgedessen nicht in die Psyche integriert wird. Weiter erklärt er, dass dieser Schock nicht vergessen werden könne, da er nie in einem Bewusstsein existiert habe. Das Trauma bleibt als immerwährende Gegenwart im psychischen Apparat haften. Lyrik nach Auschwitz wird demnach bei Enzensberger zu einem Prozess der Erinnerung „an das (und mit dem), was nicht mehr (und noch nicht) ist“. 29 Einem solchen Modus des Erinnerns wird auch in seinem Gedicht „die verschwundenen“ Rechnung getragen. In seinem 1962 erschienenen Essay „Engagement“ reagiert Adorno auf Enzensbergers Entgegnung: „Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt. […] Aber wahr bleibt auch Enzensbergers Entgegnung, die Dichtung müsse eben diesem Verdikt standhalten, so also sein, daß sie nicht durch ihre bloße Existenz nach Auschwitz dem Zynismus sich überantworte. Ihre eigene Situation ist paradox, nicht erst, wie man sich zu ihr verhält. Das Übermaß an realem Leiden duldet kein Vergessen; Pascals theologisches Wort ‚On ne doit plus dormir‘ ist zu säkularisieren. Aber jenes Leiden […] erheischt auch die Fortdauer von Kunst, die es verbietet; kaum woanders findet das Leiden noch seine eigene Stimme, den Trost, der es nicht sogleich verriete.“ 30 Adorno beschreibt in aller Deutlichkeit das Paradox, in dem sich Kunst und insbesondere Lyrik nach dem Holocaust befinden: Zum einen „die Moral, die der Kunst gebietet, keine Sekunde zu vergessen“, die aber jederzeit Gefahr läuft „in den Abgrund ihres Gegenteils“ 31 zu „schliddern“. 32 Adorno sieht in ästhetischen „Stilisationsprinzipien“ 33 die Gefahr immanent, das „unausdenkliche Schicksal“ 34 der Opfer zu kontextualisieren und somit einer Deutung und damit einhergehend der Sinngebung zugänglich zu ma- 28 Ebd. 29 S CHULZ , Enzensberger, 238. 30 A DORNO , Engagement, 125f. 31 Ebd., 126. 32 Ebd., 127. 33 Ebd. 34 Ebd. Zur Problematik von Erinnern und Vergessen bei Hans Magnus Enzensberger 315 chen. Doch gerade solche Verfahren trügen dazu bei, das Grauen zu verklären, womit den Opfern Unrecht widerführe, „während doch vor der Gerechtigkeit keine Kunst standhielte, die ihnen ausweicht.“ 35 Lyrik, die nach Auschwitz noch ethischen Bestand haben soll, muss sich solchen Tendenzen der Sinngebung und der Ästhetisierung des Leids widersetzen, denn „[d]en überlieferten ästhetischen Formen, der traditionellen Sprache […] wohnt keine rechte Kraft mehr inne. Sie alle werden Lügen gestraft von der Katastrophe jener Gesellschaft, aus der sie hervorgingen.“ 36 Sie muss sich neuen Modi der Darstellung zuwenden, die nicht das Undarstellbare zeigen, sondern bezeugen, dass es ein Undarstellbares gibt. Eine solche An-Ästhetik oder Anästhesie vertritt auch Lyotard in Anschluss und Auseinandersetzung mit Adornos Überlegungen. Wenn er aus seiner Adorno-Lektüre resümiert, dass sein Denken sich einer Ästhetik zuwende, einer Ästhetik des „Nach-Auschwitz“. Diese Ästhetik verschließt sich der schönen Form und der Darstellung des Sinnlichen, sie wird zu einer Ästhetik des Zerfalls und des Nicht-Sinnlichen, Intelligiblen. Denn die Einbildungskraft vermag es nicht mehr, Formen zu erschaffen, die das Ereignis „Auschwitz“ ausdrücken können, und gerade durch dieses Unvermögen ist sie in der Lage „negativ Zeugnis dafür abzulegen, […] daß vielmehr nur das Zeugnis dieser Unmöglichkeit möglich bleibt.“ 37 Der Begriff der „Anästhesie“ wird für Lyotard zum spezifischen Modus des Umgangs mit dem Undarstellbaren. In ihm wird auch das „widersprüchliche Gefühl einer ‚Präsenz‘“ deutlich, „die sicherlich nicht präsent, anwesend ist, ja die vergessen werden muss, um repräsentiert, dargestellt zu werden, die aber gleichwohl dargestellt werden muss.“ 38 Hier entwirft Lyotard als Kant- Rezipient einen negativen Begriff des Erhabenen, als Ausweg aus der Problematik der Darstellung des Holocaust, der sich der Nicht-Darstellung, einer Präsenz in der Absenz und dem Vergessenen zuwendet. „Anästhesie, um wider die Amnesie zu kämpfen.“ 39 5. „die verschwundenen“ Das Gedicht „die verschwundenen“ aus Enzensbergers drittem Lyrikband „blindenschrift“ widmet sich dem Eingedenken des Holocaust im Bewusstsein um dessen ethische Brisanz. Enzensberger sucht in diesem Text, wie er es fünf Jahre zuvor in seinem Artikel „Die Steine der Freiheit“ dargelegt hat, einen Modus des Eingedenkens und des lyrischen Schaffens, der den Opfern des Nationalsozialismus kein Unrecht widerfahren lässt. Er greift dabei auf das Verfahren zurück, welches er für Nelly Sachs charakteristisch hält und welches sich auch an Adornos Überlegungen einer negativen Ästhetik orientiert. Allerdings ist hierbei anzumerken, dass Enzensberger an dieser Stelle nicht den von ihm vorgeschlagenen Weg der Nachgeborenen 35 Ebd. 36 A DORNO , Auferstehung, 27. 37 L YOTARD , Heidegger, 60. 38 Ebd., 13. 39 Ebd., 62. Katja Schneider 316 einschlägt und die Täter ausruft. Auch er widmet sich den Opfern des Holocaust, dem, was „Menschengesicht“ besitzt. Der Text dieses Gedichts oszilliert zwischen den Phänomenen des Erinnerns und des Vergessens, da gerade das geschichtliche Ereignis Auschwitz nicht erinnert, nicht künstlerisch abgebildet werden kann. So verbindet das Gedicht die Forderung, nicht zu vergessen, mit der Problematik der Unsagbarkeit des Holocaust. Enzensbergers Text changiert zwischen diesen beiden Polen und lotet so die Möglichkeiten eines Gedenkens der Opfer des Holocausts innerhalb der Kunst aus. Bereits der Titel, „die verschwundenen“, zeugt von dem Dilemma, in dem sich der Dichter eines Textes im Andenken des Genozids befindet. Die Opfer des Nationalsozialismus, derer hier gedacht werden soll, treten im Text selbst nicht als positive Abbilder einer vergangenen Zeit in Erscheinung, sondern nur in dem Begriff der Verschwundenen, derer, die zunichtegemacht wurden. Das Gedicht spricht nicht „positiv“ über diejenigen, die verschwunden sind und auch nicht über Gründe oder Hergang dieses Verschwindens, nicht über Deportation und Massenmord. Auch ist keine Rede von einem Wohin. Zunächst konstatiert der Sprecher des Gedichts: „nicht die erde hat sie verschluckt. war es die luft? wie der sand sind sie zahlreich, doch nicht zu sand sind sie geworden, sondern zu nichte. in scharen sind sie vergessen.“ (V. 1-4) Schon die Frage zu Beginn des Gedichts „war es die Luft? “ (V. 1) gemahnt der Opfer des Nationalsozialismus, deren Leichen in den Krematorien der Konzentrationslager verbrannt wurden und verweist intertextuell auf das erste Gedicht des Zyklus „Dein Leib im Rauch durch die Luft“ 40 aus Sachs’ Gedichtsammlung „In den Wohnungen des Todes“, in dem von den Schornsteinen der „sinnreich erdachten Wohnungen des Todes“ (V. 2) die Rede ist „als Israels Leib zog aufgelöst im Rauch/ durch die Luft“ (V. 3f.). Sie sind vollständig verschwunden, nicht zu Sand geworden, sondern zunichte. Nichts bleibt von ihnen, sie sind in Scharen vergessen. Doch bestehen bei allem Vergessen noch partielle Reste der Erinnerung an diese Abwesenden. Weiter heißt es „häufig hand in hand, wie die minuten.“ (V. 4f.) In diesen Versen wird sowohl diese partielle Erinnerung eines Wie: „Hand in Hand“ als auch eine Irreversibilität dieses Verschwindens zum Ausdruck gebracht. So wie die Minuten im Stundenglas zerrinnen, sind auch sie, die Abwesenden, unwiederbringlich verschwunden. Das in diesen Versen von Enzensberger evozierte Bild der Zeit in Verbindung mit der Auslöschung eines ganzen Volkes, insbesondere durch das Motiv der Stundenuhr, wird auch von Sachs in Verbindung mit der Holocaust- Thematik verwendet. Wenn es in „Chor der Geretteten“ 41 heißt: „Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.“ (V. 9) Bahr sieht hierin „die Zerstörung des Zeitsinns“ verbildlicht, da das Bild des Stundenglases nicht mehr an die Vergänglichkeit des Menschen gemahnt, sondern „direkt mit dem 40 S ACHS , Gedichte, 11. 41 Ebd., 33f. Zur Problematik von Erinnern und Vergessen bei Hans Magnus Enzensberger 317 Blutopfer in Verbindung gebracht“ wird. 42 Die Verschwundenen hinterlassen scheinbar keine Spuren, zumindest keine Spuren materieller Art. „[…] nicht verzeichnet, nicht abzulesen im staub, sondern verschwunden sind ihre namen, löffel und sohlen.“ (V. 6-8) Keine Artefakte, die der Erinnerungsstiftung dienen könnten, sind von ihnen zurückgeblieben. Weder Namen noch Gebrauchsgegenstände sind von ihnen hinterlassen. Gerade das Konzept des Namens, der die Identität seines Trägers sichtbar macht, wird den Verschwundenen genommen: „es kann sich niemand auf sie besinnen“ (V. 10). Doch sind die Verschwundenen nicht spurlos verschwunden, sie bleiben in Erinnerungsspuren erhalten. Das Konzept der Spur stellt im Kontext von Erinnerung und Gedächtnis das „Zeichen einer vergangenen Präsenz“ 43 dar. Sie konstituiert sich nur in der Abwesenheit dieser ehemaligen Anwesenheit. Im Zeichen der Spur verschränken sich Präsenz und Absenz, denn sie berichtet nicht von einer Vergangenheit, sondern bezeugt diese nur. Genau diesem Vorgehen folgt auch der Text Enzensbergers. In ihm wird die Abwesenheit der Verschwundenen thematisiert und kein Abbild ihrer einstmaligen Anwesenheit erschaffen. Es stellt sich sogar die Frage: „sind sie geboren, geflohen, gestorben? “ (V. 10f.) Die Spur, die noch auf sie verweist, scheint schon in ihrer Auflösung inbegriffen, einem konstituierenden Merkmal der Spur. 44 Und weiter heißt es: „vermisst sind sie nicht worden.“ (V. 11f.) Es geht nicht nur um eine Erinnerung oder ein Eingedenken der Verschwundenen aus einer Distanz von fast zwei Jahrzehnten, auch die unmittelbare Erinnerung nach dem Verschwinden wird in Frage gestellt. Hier wird auf eine Politik des Vergessens verwiesen, wie sie Lyotard einige Jahre nach Enzensberger in seiner Schrift „Heidegger und ‚die Juden‘“ (1988) aufzeigen wird. So beschreibt er das Vorgehen der SS folgendermaßen: „Von dieser Schlächterei sollte keine Spur zurückbleiben, in keinem Gedächtnis ihrer gedacht werden. […] Die SS hat alles nur Mögliche getan, um die Spuren der Vernichtung zu verwischen.“ 45 Diese Politik sollte zu einem absoluten Vergessen führen, von dem auch der Text erzählt, denn nichts ist von den Verschwundenen zurückgeblieben, nicht einmal die Gewissheit ihres Todes. „Das heißt dem Ende selbst ein Ende zu setzen.“ 46 Doch gerade in diesem Versuch der vollkommenen Vernichtung selbst des Andenkens an die Verschwundenen, „legt sie [die Politik des Vergessens] Zeugnis von dem ab, was sie niedermetzelt: dass es ein Unsagbares gibt, eine verlorene Zeit, die untilgbar bleibt, eine Offenbarung, die sich nie offenbart, sondern nur da ist. Ein Elend.“ 47 Der Vernichtungsapparat des NS-Regimes war darauf bedacht, keine 42 B AHR , Sachs, 76. 43 R UCHATZ , Spur, 560. 44 So erläutert Derrida: „Die […] Auslöschung der Spur ist nicht nur ein Zufall […] sie ist die Struktur selbst […].“ D ERRIDA , Schauplatz, 349. 45 L YOTARD , Heidegger, 36. 46 Ebd. 47 Ebd. Katja Schneider 318 Spuren zu hinterlassen. Lyotard zeigt in seinen Überlegungen zwei Möglichkeiten auf, es vergessen zu machen: entweder man löscht das Verbrechen aus, die Verbrecher werden nach dem Krieg sofort entnazifiziert, ihnen wird der Prozess gemacht oder man stellt es dar. 48 Da man diese historische Zäsur jedoch nie wirklich darstellen kann, ist „Auschwitz in Bilder und Worten wiederzugeben, […] eine Weise, dies zu vergessen.“ 49 Lyotard denkt hierbei an Texte und Bilder, denen aufgrund ihrer Akribie in der Abbildung am ehesten das Potential zugesprochen werden könnte, das Vergessen zu verhindern. „Aber sie stellen noch dar, was undarstellbar bleiben muss, um nicht [in einem Rückgriff auf Freuds Konzept der Erinnerung in „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“], als das Vergessene selbst, vergessen zu werden.“ 50 Nur das Nicht-Darstellbare, die Spur, ist in der Lage, Zeugnis vom Holocaust abzulegen, ohne ihn mit Hilfe einer Kontextualisierung der Deutung, Sinngebung und somit der Bewältigung und dem Vergessen zu überantworten. In diesem Punkt bezieht sich Lyotard wieder auf das Denken Adornos und dessen Verweigerung einer Integration des Ereignisses Auschwitz in die kulturelle Praxis. Auch Enzensberger verweigert in seinem Text eine Darstellung. Er beschäftigt sich mit der Spur, den Ausgelöschten, und zeugt von ihrer einstigen Gegenwart und ihrem Verschwinden. Er thematisiert das Undarstellbare, indem er es nicht beschreibt oder abbildet, sondern sich ihren Spuren zuwendet und bewahrt so das Andenken der Verschwundenen vor dem Vergessen. Er stellt kein Unsagbares dar, sondern zeigt, dass es ein Unsagbares gibt. Denn dieses Unsagbare ist es auch, das in einer Oszillation von Präsenz und Absenz alles durchdringt und so nicht dem Vergessen, Verschwinden anheimgegeben wird. „[…] lückenlos ist die welt, doch zusammengehalten von dem was sie nicht behaust von den verschwundenen. sie sind überall.“ (V. 12-15) Gerade in ihrer Abwesenheit sind die Verschwundenen nicht vergessen, sie halten die Welt zusammen. Eben weil ihr Verschwinden nicht klassifiziert oder zeitlich und räumlich gefasst werden kann, trägt das Ereignis ihrer Absenz beinahe traumatomorphe Züge. Sie können nicht vergessen werden, da ihre Existenz und ihr Verschwinden nicht erinnert werden können. Lyotard erläutert hierzu: „Denn es war nie anders denn als vergessen da, als ein vergessenes Vergessen.“ 51 In diesem Status des immer nur im Vergessen Gegenwärtig-Seins drückt sich auch aus, dass die Verschwundenen im Sinne einer Gegenwärtigkeit des Abwesenden, gedacht werden. Im Gedicht heißt es weiter: „ohne die abwesenden wäre nichts da. ohne die flüchtigen nichts fest. ohne die vergessenen nichts gewiß.“ (V. 16-18) 48 Ebd., 36. 49 Ebd., 37. 50 L YOTARD , Heidegger, 37. 51 Ebd., 43. Zur Problematik von Erinnern und Vergessen bei Hans Magnus Enzensberger 319 Diese Thematik verweist auf das von Enzensberger in seinem Essay „Die Steine der Freiheit“ zitierte Gedicht von Nelly Sachs „An euch, die das neue Haus bauen“. Auch hier haben die Dahingegangenen noch Einfluss auf das Leben derer, die (über-)leben, auch wenn dies zunächst eher negativ formuliert wird: „Wenn du dir deine Wände neu aufrichtest - Deinen Herd, Schlafstatt, Tisch und Stuhl - Hänge nicht deine Tränen um sie, die dahingegangenen, Die nicht mehr mit dir wohnen werden […].“ (V. 1-4) Denn „es mischen sich sonst deine Träume/ mit dem Schweiß der Toten“ (V. 10/ 11). Genau in der Warnung vor dem Erinnern wird die Einflussnahme der Nicht-mehr-Anwesenden auf das Leben der Anderen illustriert. Am Ende des Gedichtes schließt Enzensberger: „die verschwundenen sind gerecht./ so verschallen wir auch.“ (V. 19/ 20) In der Formulierung „gerecht“ vermutet Schulz einen Nachhall alttestamentarischer Gerechtigkeit, indem der Begriff der Rache und der Gerechtigkeit in der Lautung des Wortes „gerecht“ zusammenfallen. 52 Und so schließt auch dieses Gedicht mit der Mahnung „so verschallen wir auch“, die, gleich einem barocken memento mori, den Leser an seinen eigenen Tod, die eigene Auslöschung erinnert. An dieser Stelle greift Enzensberger erneut ein Motiv von Nelly Sachs auf, das er in seinem Essay „Die Steine der Freiheit“ reflektiert. In Betrachtung des Gedichtzyklus „In den Wohnungen des Todes“ diagnostiziert er, „dass jene Wohnungen immer noch präsent sind, in uns“ 53 , den Nachgeborenen. So heißt es bei Sachs in dem Gedicht „Wer aber leert den Sand aus euren Schuhen“ 54 : „Ihr Finger, die ihr den Sand aus Totenschuhen leertet,/ Morgen schon werdet ihr Staub sein in den Schuhen Kommender! “ (V. 11-14 ) Wie die Dichterin verweist auch er am Ende seines Textes auf das zukünftige Verschwinden derer, die heute noch leben. Denn in den Worten von Nelly Sachs (in „Chor der Tröster“): „Kein Heilkraut läßt sich pflanzen/ Von Gestern nach morgen“ (V. 2f.). In seinem Dialog mit Nelly Sachs’ Werk schafft Enzensberger einen Modus des Sprechens über Auschwitz in der Kunst, der nicht darauf gerichtet ist, ein Abbild des Unsäglichen zu schaffen, sondern der darauf verweist, dass es ein Undarstellbares gibt, das sich gerade nicht mit der Formelhaftigkeit der Sprache ausdrücken lässt. Denn ebenso wie das Trauma verschließt sich das Unsägliche jeder Darstellung und kann somit nur durch eine Negativ-Darstellung medialisiert werden, denn „darstellen heißt relativieren“. 55 Und gerade der Prozess einer solchen Relativierung wäre als bloßer Hohn angesichts der Gräuel der Judenverfolgung zu begreifen. Die Leerstelle wird so zur Andeutung, dass es etwas Undarstellbares gibt, indem sie sich eben genau der Relativierung und der Vereindeutigung verweigert. 52 Vgl. S CHULZ , Enzensberger, 240. 53 E NZENSBERGER , Freiheit, 772. 54 S ACHS , Gedichte, 13. 55 L YOTARD , Vorstellung, 146f. Katja Schneider 320 Literatur A DORNO , T HEODOR W.: Auferstehung der Kultur in Deutschland? , in: D ERS ., Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, hrsg. von Rolf Tiedemann, 3. 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Zur Problematik von Erinnern und Vergessen bei Hans Magnus Enzensberger 321 S ACHS , N ELLY : An euch, die das neue Haus bauen, in: D IES ., Werke, Bd. 1, hrsg. von Matthias Weichelt, Berlin. 2010, 12. -: Chor der Geretteten, in: D IES ., Werke, Bd. 1, hrsg. von Matthias Weichelt, Berlin 2010, 33f. -: Chor der Tröster, in: D IES ., Werke, Bd. 1, hrsg. von Matthias Weichelt, Berlin 2010, 41. -: Dein Leib im Rauch durch die Luft, in: D IES ., Werke, Bd. 1, hrsg. von Matthias Weichelt, Berlin 2010, 11. -: Die Briefe der Nelly Sachs, hrsg. von Ruth Dinesen/ Helmut Müssener, Frankfurt am Main 1984. S CHULZ , K ARLA L YDIA : Ex negativo: Enzensberger mit und gegen Adorno, in: R EINHOLD G RIMM (Hrsg.), Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1984, 237-257. S ZONDI , P ETER : Celan-Studien, Frankfurt am Main 1973. Das Verhältnis zum Judentum im Werk von Martin Walser Helmut Gier 1. Ein zentrales Thema über Jahrzehnte „Jüdische Spuren im Werk von Martin Walser“ war als ursprünglich vorgegebener Titel eines Beitrags zu diesem Thema Ausdruck einer gewaltigen Untertreibung, wie nach intensiverer Beschäftigung mit der Judendarstellung, dem Judenbild und der Judenfeindschaft schnell festzustellen war. Die Behandlung der genannten Themen und Motive im literarischen und publizistischen Schaffen dieses Autors müsste vielmehr eigentlich Gegenstand einer eigenen Tagung sein, denn wie kein anderer deutscher Großschriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich Martin Walser mit dem belasteten deutschen Verhältnis zum Judentum, der Rolle der Juden in der deutschen Gesellschaft und Kultur sowie dem Umgang mit der deutschen Schuld an der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden ein halbes Jahrhundert lang auseinandergesetzt. Ein sehr einseitiges und umstrittenes Werk, die Dissertation von Matthias N. Lorenz „‚Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‘. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser“, die 2005 erschien, hätte sonst nicht einen Umfang von 560 eng bedruckten Seiten annehmen können. 1 In einer Mischung aus der Pose des Großinquisitors und des Beckmessers durchforstet Lorenz in dieser Arbeit das gesamte Werk Walsers in geradezu obsessiver Weise auf den Ausdruck judenfeindlicher Ressentiments oder unter dem Vorzeichen der politischen Korrektheit die zumindest problematische Zeichnung jüdischer Charaktere und Behandlung jüdischer Themen. Sich mit diesem als „denunziatorisch“ polemisch abgewerteten Buch auseinanderzusetzen, wäre wiederum Gegenstand eines eigenen Beitrags. 2 Hier soll nur ein kleines Beispiel für die insgesamt doch fragwürdige, völlig einseitige Vorgehensweise folgen, weil es eine der wenigen Stellen im Werk Walsers betrifft, in denen Augsburg und seine Umgebung eine Rolle spielen. In seinem Roman „Jagd“ aus dem Jahre 1988 tritt ein Hobby-KZ-Forscher, Jahrgang 1947, auf, der gutzumachen versucht, was sein Vater falsch gemacht habe. Deshalb arbeitet er an einem Buch über das KZ Dachau, vor allem über die Außenkommandos. Er will darstellen, wie diese Außenkommandos mit den örtlichen Industrien zusammengearbeitet haben, in Augsburg-Haunstetten, Friedrichshafen oder Überlingen. Damit will er auch die Behauptung widerlegen, die Bevölkerung habe von den KZ-Lagern nichts gewusst. Moralisch und pädagogisch sehr wertvoll würde nun der gutgläubige 1 L ORENZ , Auschwitz. 2 Zur Kritik an Lorenz vgl. die Dissertation von K RISCH , Ideal, besonders 15f. und 141-145, sowie das Vorwort zu dieser Arbeit von G EORG B RAUNGART . Als „denunziatorisch“ bezeichnete das Buch von Lorenz in einer Rezension in der Süddeutschen Zeitung D IETER B ORCH- MEYER , vgl. K RISCH , Ideal, 16. Helmut Gier 324 Leser denken, nicht aber der Antisemitismus-Forscher Lorenz, denn dieser wirft Walser vor, dass mit der Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Außenlager von Dachau die Judenvernichtung ausgeblendet wird und zudem lediglich KZ-Häftlinge deutscher Abstammung als Opfer vorkämen. 3 Die Absicht, jeden Text solange zu zerlegen, bis das gewünschte Ergebnis eines antisemitisch gefärbten, angeblichen Verdrängens der Erinnerung an den Holocaust zutage tritt, ist immer spürbar, dennoch macht das Buch trotz aller problematischen Einseitigkeit die Intensität der Befassung Walsers mit der deutsch-jüdischen Geschichte mehr als deutlich. An dieser Stelle soll das Bekenntnis stehen, dass der Autor dieses Beitrags zu den Walser Geneigten, seinen Verehrern zählt. Das soll der Redlichkeit halber gesagt sein, denn sich auf eine philologische Objektivität zurückzuziehen, ist gerade bei diesem Thema des Umgangs mit der deutschen Vergangenheit, die mit der jüdischen Geschichte unauflöslich verschränkt ist, völlig unmöglich. Das Interesse des Verfassers dieser Ausführungen an Walser und damit an seinem Verhältnis zum Judentum gründet eigentlich auf zwei Motiven, soviel soll doch noch angemerkt sein. Zum einen waren für die Generation der zwanzig Jahre Jüngeren als Walser die Großschriftsteller und Meisterdenker der Gruppe 47, die Mitglieder der manchmal so genannten Viererbande, Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger, prägend für die intellektuelle Entwicklung seit den frühen sechziger Jahren, soweit man nur ein wenig empfänglich für die kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft der frühen Bundesrepublik war. Daher rührt letztlich auch das Gewicht, das Walsers Verhältnis zum Judentum zukommt. Zum anderen verfolgt ein langjähriger Direktor einer Regionalbibliothek in der Hauptstadt des Regierungsbezirks Schwaben den Weg Martin Walsers schon deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit, weil das Werk dieses Autors aus Bayerisch Schwaben, der in Wasserburg geboren ist und in Lindau auf die Oberschule ging, zum Sammelgebiet der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg gehört. Denn jede Regionalbibliothek versucht, die Literatur von und über Schriftsteller aus der Region möglichst umfassend zu sammeln, was fast zwangsläufig zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für diese Autoren führt. 2. Ein repräsentativer Intellektueller seiner Generation Grass und Walser sind beide 1927 geboren, im selben Jahr kam im Übrigen auch Papst Benedikt XVI. zur Welt. Walser gehört damit zu jener Generation, die 1944 noch als blutjunge Soldaten die Lebensbedrohung im Krieg, die Niederlage und die Gefangenschaft erlebt haben, ohne sich doch noch wirklich schuldhaft als Siebzehn- oder Sechzehnjährige in die nationalsozialistische Herrschaft verstrickt zu haben. Gleichwohl blieb ihre Erfahrungs- und Gefühlswelt dadurch doch bestimmt. 4 In seinem Essay „Händedruck mit Gespenstern“ hat Walser diese Prägung durch das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs beschrieben: 3 Vgl. L ORENZ , Auschwitz, 342-345. 4 Vgl. W EHLER , Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 186f. Das Verhältnis zum Judentum im Werk von Martin Walser 325 „Ich habe ein gestörtes Verhältnis zur Realität. Das muss ich zugeben. Insofern ist, was ich zu sagen habe, leicht abzuwehren. Ich würde gern beweisen, wenigstens behaupten, dass mein gestörtes Verhältnis zur Realität etwas damit zu tun habe, dass ich Deutscher bin und 1927 geboren worden bin. Ich glaube nicht, dass man als Deutscher meines Jahrgangs ein ungestörtes Verhältnis zur Realität haben kann. Unsere nationale Realität selbst ist gestört.“ 5 Um die ambivalente Gefühlslage im Umgang mit der deutschen Geschichte, das Ringen um die richtige Haltung angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen und der katastrophalen Umbrüche zu verstehen, muss man die innere Zerrissenheit dieser Generation anerkennen, nachvollziehen und nicht mit moralisierender Besserwisserei der Nachgeborenen herabwürdigen. Walser selbst schildert sie so: „Für mich war 1945 eine Niederlage. Und eine Befreiung. Daß der Krieg aus war, das war Befreiung. Daß ich dann als Achtzehnjähriger ins Gefangenenlager kam, das war Niederlage. Damit bin ich damals nicht fertiggeworden; obwohl ich gewusst habe, dass mir das Leben gerettet worden war. Aber die Medienart, solche Jahrestage zu begehen, bleibt peinlich. Die Medien lügen,wenn sie solche Veranstaltungen zelebrieren. Die Art, wie sie darüber schleimen! “ 6 Aus diesem Erfahrungshorizont und dieser Erlebniswelt heraus speist sich die kritische Auseinandersetzung mit der westdeutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit, gerade nachdem die NS-Verbrechen aufgedeckt worden waren und die früheren Generationen aus Scham über das eigene Verhalten eher zur Geschichtsvergessenheit neigten. In einem Punkte muss man auch als Walser sehr Geneigter ihm doch energisch widersprechen. In einem Gespräch aus dem Jahre 1998 sagt er einmal: „Ich bin das Unrepräsentativste was es gibt. Ich hoffe nur, es gibt viele meinesgleichen, von denen keiner den anderen repräsentieren will. Ich bin schon in großer Verlegenheit, wenn ich mich selber repräsentieren soll. Ich kann mich einfach auf keinen Nenner bringen.“ 7 Auch wenn er damit meint, allzu eindeutige Festlegungen zu vermeiden, so besteht doch kein Zweifel daran, dass er seit seiner Auseinandersetzung mit dem Auschwitz-Prozess in dem Essay „Unser Auschwitz“ aus dem Jahre 1965 über seine lautstarken Proteste gegen den Vietnam-Krieg und sein Eintreten für die Überwindung der deutschen Teilung bis hin zur scharfen Debatte mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden Ignatz Bubis - von seinem großen literarischen Werk einmal ganz abgesehen - der repräsentativste Intellektuelle unter den großen deutschen Schriftstellern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden ist. 8 Keiner unter ihnen - auch nicht Heinrich Böll oder Günter Grass - hat über Jahrzehnte hinweg die Öffentlichkeit immer wieder so polarisiert und aufgewühlt, Anlass zu intensiven heftigen Debatten gegeben wie Martin Walser. „Ich bin dreimal ins Blitzlicht einer Zeitgeistfraktion geraten, die sich auf die Aufklärung beruft und nach Autorität trachtet. Zum ersten Mal 1995 (Laudatio auf Victor Klemperer: 5 W ALSER , Händedruck mit Gespenstern, 623. 6 D ERS ., Ich kann mich auf keinen Nenner bringen, 60f. 7 Ebd., 56. 8 Vgl. G ELLNER , Affektsturm, 26f. Helmut Gier 326 „Das Prinzip Genauigkeit“), dann 1998 („Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“) und 2002 („Tod eines Kritikers“).“ 9 Das ist eher untertrieben, denn heftig umstritten waren schon seine Annäherungen an die DKP oder seine Bekenntnisse zur deutschen Einheit. Im Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Beitrags ist aber bezeichnend, dass er drei erregte öffentliche Debatten anführt, die jeweils unmittelbar die deutsch-jüdische Thematik betroffen haben. 3. Frühe Anstöße Das Verhältnis zum Judentum und zu jüdischen Persönlichkeiten stellt sich bei Walser aber noch intensiver und enger dar, als bei einem Angehörigen seiner Generation mit wachem politischen und geschichtlichem Bewusstsein ohnehin zu erwarten ist. Es begann auf der geistigen und biographischen Ebene sehr früh, wobei auch Zufälligkeiten des Lebens mit herein spielen, so dass es von der unmittelbaren Nachkriegszeit an über ein halbes Jahrhundert seine literarische und intellektuelle Entwicklung entscheidend prägte. Mehr als ein knapper Überblick über die entscheidenden Abschnitte und Wegstrecken kann hier deshalb nicht gegeben werden, aber auch eine solche geraffte Darstellung hat ihren Erkenntniswert, da sie die ganze Dimension und Bedeutung der Fragestellung eindringlich vor Augen führt. Eine solche Darstellung ließe sich nach jüdischen Persönlichkeiten gliedern - Ruth Klüger, Franz Kafka, Marcel Reich-Ranicki und Ignatz Bubis beispielsweise 10 - oder nach literarischen Gattungen wie Romane, Dramen, Essays und Reden; das Hauptraster soll aber doch die Chronologie bilden, zumal sich in Walsers Entwicklung als eben doch repräsentativer Gestalt grundlegende geistige Umbrüche der bundesrepublikanischen Gesellschaft spiegeln. Zu einer der großen biographischen Zufälligkeiten im Leben Walsers, die später noch sehr bedeutungsvoll werden sollte, gehört die Tatsache, dass er an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Regensburg, wo er nach dem Abitur 1946 das Studium begann, eine junge deutsche, genauer gesagt: Wiener jüdische Auschwitzüberlebende kennen lernte, woraus sich eine tiefere Freundschaft auf der geistigen Ebene entwickelte. Denn dass ein junger Deutscher aus der Provinz einem gleichaltrigen deutschen Mädchen, das in Auschwitz war, begegnete, kam nun wahrlich selten vor. Es handelte sich dabei um die spätere bekannte Germanistin Ruth Klüger, die an amerikanischen Hochschulen lehrte. Martin Walser setzte sich 1992 für das Erscheinen ihrer Autobiographie „weiter leben“ im Suhrkamp Verlag ein, was Siegfried Unseld aber ablehnte. In ihr spielt er unter dem Namen „Christoph“ eine Nebenrolle. 11 Trotz ihrer langen Freundschaft und der Unterstützung durch Walser, die ihr durchaus schmeichelte, brach sie mit ihm nach dem Erscheinen 9 W ALSER , „Die Verlagsleitung ging in die Knie“, 163. 10 Vgl. dazu L ORENZ , Auschwitz, 223. 11 Vgl. K LÜGER , Weiter leben, 210-218; M AGENAU , Walser, 437. Das Verhältnis zum Judentum im Werk von Martin Walser 327 seines Romans „Tod eines Kritikers“ in einem langen offenen Brief, da sie dieses Werk als antisemitisch empfand. 12 Die zweite jüdische Persönlichkeit, die sehr früh ins Leben von Martin Walser trat und seinen geistigen Horizont bestimmte, war Franz Kafka. Denn bereits 1951 promovierte er bei dem bekannten Hölderlin-Forscher Friedrich Beißner mit der Arbeit „Beschreibung einer Form. Versuch über die epische Dichtung Franz Kafkas“, nachdem er 1948 an die Universität Tübingen gewechselt war. Seine literarischen Anfänge standen so sehr im Zeichen und unter dem Einfluss dieses Autors, dass er bei seinem ersten Auftritt in der Gruppe 47 im Jahre 1953 wegen seines epigonalen Verhältnisses zu Kafka durchfiel. 13 In der Auseinandersetzung mit dem französischen Gesellschaftsroman, gerade auch dem Werk Marcel Prousts, findet Martin Walser dann zu seiner Form der Erzählliteratur, breit angelegten Panoramen der kritisch gesehenen bundesrepublikanischen zeitgenössischen Wirklichkeit. Im 1960 erschienenen zweiten großen Roman nach „Ehen in Philippsburg“, „Halbzeit“, spielen die nationalsozialistische Vergangenheit und die Verstrickungen führender Vertreter der Gesellschaft in sie eine wichtige Rolle. Sowohl Auschwitz wie auch Juden kommen in dem Roman vor, dennoch stehen deutsche Schicksale im Vordergrund, was bei einem Gesellschaftsroman über die fünfziger Jahre der jungen Bundesrepublik zwangsläufig so sein muss. Das wirtschaftliche und politische Leben dieser Zeit wurde schließlich nicht von NS-Opfern, sondern zu einem guten Teil von Persönlichkeiten mit einer braunen Vergangenheit geprägt. Wie hellsichtig Walsers Gesellschaftskritik in seinen großen Romanen sein kann und zu welchen Verstiegenheiten die zwanghaft auf die Aufdeckung antijüdischer Züge in seinem Werk fixierte Kritik führen kann, mag folgende Passage aus dem Roman „Der Sturz“ von 1973 und deren voreingenommene Interpretation zeigen: „[...] massenhaft vagabundierende Dollars, unberechenbar gefährlich für die Ehrlichen aller Länder, herfallend wie früher Heuschreckenschwärme über Früchte und Arbeit fremder Länder. Der vagabundierende Raubdollar ist aber eine Schädlingsart, gegen die noch kein Mittel gefunden ist.“ 14 Diese Ausführungen über die Macht und Rücksichtslosigkeit der internationalen Kapitalmärkte werden von Walser, so konzediert der Kritiker immerhin, nicht konkret auf Jüdisches bezogen, erinnerten in seinen Augen aber doch deutlich an die gegen jüdische Bankiers gerichtete NS-Propaganda. 15 Auf diese Weise könnte man auch aufrechte sozialdemokratische Politiker wie Franz Müntefering zum Antisemiten uminterpretieren. 12 Vgl. K LÜGER , ‚unterwegs verloren‘, 168-171. 13 Vgl. M AGENAU , Walser, 93-95. 14 W ALSER , Der Sturz, 465. 15 Vgl. L ORENZ , Auschwitz, 279. Helmut Gier 328 4. Zeit der Auschwitz-Prozesse Ganz in den Mittelpunkt seines literarischen Schaffens stellt Martin Walser die politischen Probleme des Verhaltens in der Zeit des Dritten Reichs und des Umgangs mit den nationalsozialistischen Verbrechen, als mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem und den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit die öffentlichen Debatten in der Bundesrepublik in einer bis dahin noch nicht dagewesenen Intensität beherrscht. Walser wählt dazu die breitenwirksamste literarische Gattung, die des Dramas. In den beiden als „Deutsche Chronik 1 und 2“ miteinander verbundenen Stücken „Eiche und Angora“ aus dem Jahre 1962 und „Der schwarze Schwan“ aus dem Jahre 1984 macht er das Mitläufertum und die Verdrängung des schuldhaften Verhaltens als Problem der bundesrepublikanischen Gegenwart zum Thema. 16 In der Figur des Alois, der sich vom Kommunisten zum Gefolgsmann Hitlers bis hin zum Antimilitaristen wandelt, damit aber immer zu spät kommt, verkörpert er in dem Drama „Eiche und Angora“ die bereitwillige Anpassung an die politischen Verhältnisse. Der ehemalige KZ-Häftling Alois wird in seiner Naivität und Ohnmacht zum Fall für eine psychoanalytische Behandlung, er hofft dabei im Sanatorium den einstigen jüdischen KZ-Häftling Josef Woizeck wiederzutreffen, der in einigen Szenen mit irren Schreien im Wald seine Kinder suchte. In „Der schwarze Schwan“ - SS wird in dem Stück Kindern einmal als Abkürzung für „Schwarzer Schwan“ erklärt - steht der Umgang der Kinder der Täter mit der Schuld ihrer Väter im Mittelpunkt. Als der Abiturient Rudi Gothein die Mitwirkung seines Vaters, eines Chirurgen, an den Judenmorden in Konzentrationslagern entdeckt, gerät er angesichts der Verstrickung seines Vaters in diese Verbrechen und sein Verdrängen der Schuld in eine selbstquälerische Identitätskrise, die zu seiner Einlieferung in eine Nervenheilanstalt und seinem Selbstmord führt. Eine befriedigende Antwort auf den Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen und der Scham darüber sowie die angemessene Art der Wiederintegration in ein bürgerliches Leben können und wollen die Stücke Walsers nicht bieten, die Fragen bleiben offen. Dass beide Dramen als Fluchtpunkt das Heil- und Pflegeheim für Geisteskranke haben, macht das Dilemma aber mehr als deutlich. Kein deutscher Autor hat sich in den sechziger Jahren so eingehend mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden sowie der Verdrängung und halbherzigen Aufarbeitung dieser Verbrechen befasst. Ein Stück wie „Der schwarze Schwan“ ist eine unmittelbare literarische Reaktion darauf, Walsers Essay „Unser Auschwitz“ ist eines der bedeutendsten publizistischen Zeugnisse eines großen deutschen Intellektuellen dieser Generation zur Auseinandersetzung mit diesem Massenverbrechen. 17 Der Wiederabdruck dieses Essays in einer erweiterten Fassung bildet nicht von ungefähr die Mitte des 1965 erschienenen ersten Bandes der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen wichtigsten Kulturzeitschrift dieser Jahre, dem „Kursbuch“. Im Zentrum dieses Essays steht die klare eindeutige Aussage, dass 16 Vgl. zu den beiden Stücken H ADEK , Vergangenheitsbewältigung, 62-85. 17 W ALSER , Unser Auschwitz, 158-172; vgl. K RISCH , Ideal, 28f. Das Verhältnis zum Judentum im Werk von Martin Walser 329 wir uns um Auschwitz nicht herumdrücken und die Aufarbeitung dieses Verbrechens auch nicht der Justiz überlassen dürfen. Walser sah die Gefahr, dass die breite sensationelle Berichterstattung über die Brutalitäten in dem Lager die Gefahr mit sich bringen kann, dass sich viele Deutsche von dieser Verbrecherbande distanzierten und Auschwitz nicht in ihr Bewusstsein aufnehmen würden. Walser nahm selbst an dem Prozess teil, um darüber zu berichten; seine mittlerweile veröffentlichten Tagebücher aus diesem Zeitraum lassen sein Nachdenken über die Ermordung der Juden noch unmittelbarer und eindringlicher erscheinen: „Unser Interesse am Grausamen. Das Interesse an Auschwitz. Voraussetzung: Wir haben Schuldige, und wir wissen: Wir gehören nicht zu den Schuldigen.“ 18 Damit ist die große Frage nach dem Geschichtsbewusstsein und daran anknüpfend dem Nationalgefühl der Deutschen gestellt, die ihn die nächsten Jahrzehnte immer wieder beschäftigen wird. Eine Ausklammerung der dunklen Seiten lehnt er dabei in „Unser Auschwitz“ entschieden ab: „Der Idealist lässt es sich wohl sein bei der Vorstellung, der Volksgenosse von Goethe, Kant und Hegel zu sein (vielleicht auch noch von Marx). Aber mit Goebbels, Göring, Heydrich und Himmler hat er nichts gemein (vielleicht noch mit Ludendorff).“ 19 Auf Auschwitz zurück bezogen, heißt dies, wie Walser in seinem Essay von 1965 deutlich ausdrückt: „Und die Folterer waren keine phantastischen Teufel, sondern Menschen wie du und ich. Deutsche, oder solche, die es werden wollten.“ 20 Auf das Thema Auschwitz kommt Walser vierzehn Jahre später unmittelbar zurück, als er mit einer Rede „Auschwitz und kein Ende“ 1979 eine Ausstellung mit Zeichnungen von KZ-Häftlingen eröffnet. 21 Er führt selbst dazu aus: „In jedem Jahrzehnt habe ich mich neu auf dieses Thema eingelassen […] Ich habe mich aber auch nie aufgehoben oder gar entlastet gefühlt in der Behandlungsart, die das jeweilige Jahrzehnt praktiziert hat.“ 22 Die Frage des Umgangs mit den nationalsozialistischen Verbrechen steht wiederum im Vordergrund: „Auschwitz ist nicht zu bewältigen. Dass wir überhaupt nach all dem, was war, auf dieses Wort kamen: Bewältigung der Vergangenheit! “ 23 Dennoch beharrt er entschieden auf der gemeinsamen Verantwortung aller Deutschen angesichts der Vergangenheit: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck.“ 24 Dieses Zitat aus der Rede von 1979 wählt Matthias N. Lorenz als Titel seiner kritischen Abrechnung, weil er in dieser Aussage seine Auffassung verdichtet sieht, dass Walser unter Ausschluss der Opfer die Volksgemeinschaft der Täter zum zentralen Thema mache. Dass für ihn das Bewusstsein des deutschen Volkes einen wichtigen Gegenstand seiner Überlegungen bildet, machen seine folgenden Ausführungen in der Tat deutlich, was als Geisteshaltung eines Schriftstellers seiner Herkunft und seines Alters doch nur zu rechtfertigen und anzuerkennen ist: „Wie wir auf Auschwitz reagiert haben … gestehen wir es uns doch 18 D ERS ., Leben und Schreiben, Tagebücher 1963-1973, 136. 19 D ERS ., Unser Auschwitz, 170. 20 Ebd., 162. 21 Vgl. dazu M AGENAU , Walser, 372; H ADEK , Vergangenheitsbewältigung, 19. 22 W ALSER , Augstein, 48-72. 23 D ERS ., Auschwitz und kein Ende, 633. 24 Ebd., 634. Helmut Gier 330 ein: das zeigt uns eng beieinander. Schlimm genug, dass wir nur durch Schlimmstes, durch die Auschwitz-Schuld auf unsere Gemeinsamkeit hingewiesen werden können.“ 25 Das Thema der nationalen Gemeinsamkeit wird Walser nicht loslassen, aber auch nicht die Frage, ob es auf Auschwitz reduziert werden soll, doch nie wird er einen Zweifel daran lassen, dass die deutsche Nation eine „Volksgemeinschaft von Tätern“ war. „In Auschwitz arbeitete unsere ganze Gesellschaft mit.“ 26 5. „Wunde namens Deutschland“ Hans Magnus Enzensberger hat einmal gesagt, er wolle nicht sein ganzes Leben lang von Beruf Deutscher sein, was sicher auch auf Walser gemünzt war, deshalb habe er sich immer wieder jahrelang im Ausland aufgehalten. 27 Bei Martin Walser, der immer der Bodenseeregion verhaftet blieb, bewirkten Auslandsaufenthalte eher das Gegenteil. Schon bei seinem ersten Amerika-Aufenthalt 1958 schärfte sich sein Bewusstsein dafür, als Deutscher sein Heimatland zu repräsentieren und für die deutsche Schuld einstehen zu müssen. 28 Diese Erfahrungen machten ihn erst recht empfänglich für die Erkenntnis, dass aus seinem „historischen Bewusstsein [...] Deutschland nicht zu tilgen“ sei, zugleich erwachte in ihm dabei das Empfinden: „Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte - so schlimm sie zuletzt verlief - in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen.“ 29 Er setzte damit schon 1978 die Überwindung der deutschen Teilung auf die Tagesordnung, was ihm in der Folge die entschiedene Feindschaft aller linksliberalen Intellektuellen einbrachte, da sie diese Teilung als naturgegebene unumstößliche Folge der nationalsozialistischen Verbrechen im Allgemeinen und von Auschwitz im Besonderen ansahen. Walser war dagegen der Auffassung: „Wir müssen die Wunde namens Deutschland offen halten.“ 30 Diese Haltung führte 1988 zum ersten großen „Walser-Skandal“, der uns heute fast 25 Jahre nach der Wiedervereinigung schon reichlich fremd anmutet. Im Rahmen der Vortragsreihe „Reden über unser Land“ in den Münchner Kammerspielen hielt Martin Walser eine Rede „Über Deutschland reden“. Walsers Weigerung, Leipzig, Thüringen oder Sachsen als Ausland zu empfinden, und seine Auffassung, die deutsche Teilung als Strafaktion, die nicht endgültig sein kann, zu sehen, brachte ihm den Vorwurf des Nationalismus ein. Der Schriftsteller Jurek Becker beschimpfte Walser aus einer jüdischen Position heraus, dass er historisches Gedächtnis und politischen Verstand verloren habe; Walser hingegen avancierte zwei Jahre später zum Propheten der Wiedervereinigung, der ein Thema zu einem Zeitpunkt aufgebracht hatte, als die intellektuellen Meinungsführer keinen Gedanken daran 25 Ebd., 634f. 26 Ebd., 632. 27 Hans Magnus Enzensberger im Gespräch mit Izabela Maria Furtado Kestler, 6. 28 Vgl. H ADEK , Vergangenheitsbewältigung, 51; M AGENAU , Walser, 145f., 418f. 29 W ALSER , Über den Leser, 569f. 30 Ebd., 571; W ALSER , Über Deutschland reden, 906; vgl. M AGENAU , Walser, 368f. Das Verhältnis zum Judentum im Werk von Martin Walser 331 verloren, was ihm auch nicht nur Wohlwollen einbrachte. 31 Walser wollte nicht einmal eine eindimensionale Sichtweise anerkennen, dass das deutsch-jüdische Zusammenleben zwangsläufig in einer Katastrophengeschichte enden musste. Dass auch eine Symbiose hätte glücken können, dafür wurde für ihn der jüdische Romanist Victor Klemperer zur Symbolfigur. Er hatte sich eingehend mit den Tagebüchern Klemperers, der sowohl die Verfolgung durch die Nationalsozialisten wie die Bombardierung Dresdens überlebt hatte, befasst und sich für deren Veröffentlichung eingesetzt. Bei seiner Laudatio auf diesen Gelehrten, der posthum mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, bezichtigte man ihn der Schönfärberei, da er herausarbeitete, wie sehr ein überlebender Jude von der deutschen Kultur durchdrungen war, anstatt den Naziterror in den Mittelpunkt seiner Ausführungen zu stellen. 32 6. Auseinandersetzungen um ein Erinnerungsbuch Eine krisenhafte Zuspitzung erreichten die Auseinandersetzungen um den Umgang Martin Walsers mit den Schwierigkeiten einer deutschen Schriftstellerexistenz und seinem Verhältnis zu der nationalsozialistischen Vergangenheit und jüdischen Persönlichkeiten der Opfergeneration in den Jahren vor und nach der Jahrtausendwende. Mit der Diskussion um diese Streitfragen hat Martin Walser wie kaum ein anderer großer deutscher Intellektueller und Schriftsteller in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands - von Brecht einmal abgesehen - fünf Jahre lang die öffentliche Meinung beherrscht und aufgewühlt. Konkreter Anlass war ausgerechnet sein persönlichstes Werk, sein 1998 erschienener autobiographischer Roman „Ein springender Brunnen“, in dem er Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend literarisch gestaltet. 33 Eine enorme Schärfe und Brisanz kommt in die erregten Debatten dieser Zeit durch das völlig zerrüttete Verhältnis zu Marcel Reich-Ranicki. Es gehört zu den tragischen Verkettungen im Schriftstellerleben von Martin Walser und damit auch in Fragen seines Umgangs mit der deutschen Vergangenheit, dass der einflussreichste zeitgenössische Großkritiker, der sich noch dazu Walser als bevorzugtes Opfer wählte, Jude ist. Der Ausgangspunkt der feindseligen Auseinandersetzungen lag weit zurück. Es war vor allem die vernichtende Kritik von Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ aus dem Jahre 1976, die er im buchstäblichen Sinn als existenzbedrohend empfand, da sie ihn mit dem Titel „Jenseits der Literatur“ gleichsam aus dieser vertrieb, während er als 49jähriger freier Schriftsteller und Familienvater mit vier Töchtern auf den Ertrag 31 Zu Jurek Beckers Auseinandersetzung mit Walser vgl. L ORENZ , Auschwitz, 237-239, zur Rechtfertigung der Teilung mit dem Verweis auf Auschwitz durch Intellektuelle wie Günter Grass vgl. ebd., 341. 32 Vgl. M AGENAU , Walser, 461f. 33 Vgl. dazu H ADEK , Vergangenheitsbewältigung, 112-132. Helmut Gier 332 seines literarischen Schaffens dringend angewiesen war. 34 Die Erfahrungen der bösartigen und zerstörerischen Herabwürdigung in Verbindung mit dem Gefühl von Hilflosigkeit ließen damals in ihm jene Mordphantasien aufkommen, mit denen sein satirischer Roman über den Literaturbetrieb „Tod eines Kritikers“ von 2002 spielt, um sie sofort wieder zurückzunehmen. 35 Konkreter Auslöser der neuerlichen Debatten um den korrekten Umgang Walsers mit der nationalsozialistischen Vergangenheit war die Bemerkung des Kritikers Andreas Isenschmid im „Literarischen Quartett“, dass im Roman „Ein springender Brunnen“ Auschwitz nicht vorkäme. 36 Auschwitz kann jedoch nicht zur dargestellten Wirklichkeit gehören, auch wenn die erzählte Zeit genau die Epoche des Nationalsozialismus umgreift, da die Erzählperspektive sich ganz auf das Erleben und das Bewusstsein eines Heranwachsenden in der Wasserburger Provinz beschränkt. 37 Vorwürfe wurden dann aber sofort laut, Walser verdränge, beschönige, weiche aus, verkläre und verharmlose angesichts der grauenvollen Barbarei im Dritten Reich. Dabei kommen das Konzentrationslager Dachau, Häftlinge als „Dachauer“ und die Judenverfolgung in den Erzählungen eines SS-Mannes in Walsers Roman als dunkle schreckliche Seite des Nationalsozialismus durchaus vor, zugleich zeigt er aber, dass diese in den Kern des Erlebnis- und Erfahrungshorizonts seines jugendlichen Alter Ego nicht wirklich eindrang und dieser sich nach Kriegsende in der Begegnung mit einem halbjüdischen Überlebenden sich gegen die Überwältigung durch die Erinnerung an das Leid von dessen jüdischer Mutter wehrte. 38 Überhaupt will Walser in der Erinnerung an seine Jugend das damalige Bewusstsein und seine Entwicklung so vergegenwärtigen, wie es war, und von der Überformung durch das spätere zeitgeschichtliche Wissen freihalten. Dies brachte ihm den Vorwurf ein, die Vergangenheit mit Scheuklappen schildern zu wollen, worunter er gerade bei diesem autobiographischen Werk sehr litt. Reich-Ranicki benutzte die Debatte im „Literarischen Quartett“ sogar dazu, alte Vorwürfe wieder aufzuwärmen: schon in Walsers erstem großen Roman „Ehen in Philippsburg“ aus dem Jahre 1957 sei die nationalsozialistische Vergangenheit ausgeblendet gewesen. Walser seinerseits wehrt sich in einem Gespräch mit Rudolf Augstein am 2. November 1988 entschieden gegen die Kritik an seinem Buch „Ein springender Brunnen“: „Ästhetik gilt nichts, nur die politische Korrektheitsforderung gilt, und das erlebe ich als ungeheure Bevormundung […] Es wird vorgeschrieben, was vorkommen muss.“ 39 34 Vgl. M AGENAU , Walser, 343-345. 35 Vgl. ebd., 344; W ALSER , Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978, 212 und 219. 36 Vgl. L ORENZ , Auschwitz, 142; K RISCH , Ideal, 54f. 37 Zu dem Roman vgl. M EIKE , H ERMANN , Vergangenwart, 171-179. 38 Vgl. H ADEK , Vergangenheitsbewältigung, 124f. 39 W ALSER , Augstein, 72. Vgl. dazu K RISCH , Ideal, 54f. Das Verhältnis zum Judentum im Werk von Martin Walser 333 7. Walser-Bubis-Debatte Die Auseinandersetzungen um sein Erinnerungsbuch und seine Verärgerung darüber waren einer der Gründe dafür, dass Walser seine Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels zwei Monate nach Erscheinen des Romans dem Themenkomplex des Umgangs mit der deutschen Vergangenheit widmete. 40 In dieser ironisch „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ genannten Ansprache geht er direkt auf die Kritik an seinem Buch „Ein springender Brunnen“ ein: „Ein smarter Intellektueller hisst im Fernsehen in seinem Gesicht einen Ernst, der in diesem Gesicht wirkt wie eine Fremdsprache, wenn er der Welt als schweres Versagen des Autors mitteilt, dass in des Autors Buch Auschwitz nicht vorkomme. Nie etwas gehört vom Urgesetz des Erzählens: der Perspektivität. Aber selbst wenn, Zeitgeist geht vor Ästhetik.“ 41 Die Abscheu vor dieser Geisteshaltung ist eine der Wurzeln für Walsers Wettern gegen die „Meinungssoldaten“ und „Gewissenswarte“, die im Einklang mit dem Zeitgeist anderen vorschreiben, wie sie zu denken und zu fühlen hätten. 42 Seiner Überzeugung nach eignet sich gerade Auschwitz nicht dafür, „Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“. 43 Dabei prangert er besonders die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ an. 44 Ein Musterbeispiel dafür ist die Einstellung vieler Intellektueller zur deutschen Einheit: „Jemand findet die Art, wie wir die Folgen der deutschen Teilung überwinden wollen, nicht gut und sagt, so ermöglichten wir ein neues Auschwitz. Schon die Teilung selbst, solange sie dauerte, wurde von maßgeblichen Intellektuellen gerechtfertigt mit dem Hinweis auf Auschwitz.“ 45 Diese Äußerung zielte besonders auf Günter Grass, der im Jahre 1990 in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung mit dem Titel „Schreiben nach Auschwitz“ dem deutschen Verlangen nach der Wiedervereinigung das Recht absprach, da „ein starkes, das geeinte Deutschland“ eine der Voraussetzungen für den organisierten Völkermord gewesen sei. 46 Das Aussprechen seiner Empfindungen in radikaler Ehrlichkeit und das Beharren auf dem eigenen Gewissen als letzter Instanz brachte Walser großen Beifall in der Paulskirche und viel Zustimmung, dann aber in der Folge auch heftige Angriffe und Vorwürfe ein. Sie gipfelten in den Äußerungen des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, der Walser als einen „geistigen Brandstifter“ und „latenten Antisemiten“ bezeichnete und somit rechtsradikalem Gedan- 40 Vgl. dazu K RISCH , Ideal, 70f.; H ADEK , Vergangenheitsbewältigung, 148f. 41 W ALSER , Sonntagsrede, 19. 42 Ebd., 23 und 25. 43 Ebd., 20. 44 Ebd., 18. 45 Ebd. 46 G RASS , Schreiben nach Auschwitz, 41. Helmut Gier 334 kengut den Weg bereite. 47 Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Kontrahenten und ihren Lagern ging als „Walser-Bubis-Debatte“ in die Geschichte ein, mittlerweile hat sie sogar als Lexikonartikel alphabetisch vor „Wannsee-Konferenz“ Aufnahme in das „Handbuch des Antisemitismus“ gefunden. 48 Angesichts seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der deutschen Geschichte hieße es, Walser misszuverstehen, zu glauben, dass es ihm um die Verharmlosung, Verdrängung oder das Verschweigen des Holocausts gehe oder er einer Schlussstrichmentalität das Wort rede. Dagegen spricht schon die immer wieder auf sich genommene geradezu selbstquälerische Anstrengung, sich den Fragen von Schuld und Scham angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen zu stellen. Walser wohnt aber eine tiefe innere gefühlsmäßige Abneigung und Ablehnung inne, sich selbst über andere besserwisserisch und sittlich zu erheben oder eine solche Haltung bei anderen zu akzeptieren. 49 Moralische Autoritäten über das eigene Gewissen erkennt er nicht an, auch wenn es sich um den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden handelt. Die weite Kreise erfassende Kontroverse um „die unerbittliche Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern“ und die „Dauerpräsentation unserer Schande“ wurde heftigst geführt, blieb aber letztlich ergebnislos. 50 Ein von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zwischen Walser und Bubis organisiertes Gespräch führte zu keiner Versöhnung, auch wenn Bubis den Vorwurf der geistigen Brandstiftung zurücknahm. Nach Bubis Tod im Sommer 1999 verebbte dann die Debatte. 8. Abrechnung mit dem Literaturkritiker Reich-Ranicki Die unrühmliche Rolle, die das „Literarische Quartett“ bei der Rezeption seines Erinnerungsbuches gespielt hatte, kann als einer der Anstöße für Martin Walser gelten, nun endgültig zu einer Generalabrechnung mit dem Literaturbetrieb auszuholen und den angestauten Groll gegen die zentrale Figur in diesem Literaturbetrieb, den Großkritiker, literarisch zu entladen. Vor diesem Hintergrund entstand der satirische Roman „Tod eines Kritikers“, in dessen Mittelpunkt eine unverkennbar nach dem Vorbild Marcel Reich-Ranickis gezeichnete Figur stand. Die Weigerung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, diesen Roman vorabzudrucken, und die Begründung eines der Herausgeber, Frank Schirrmacher, dafür in einem offenen Brief mit dem antisemitischen Charakter des Werks lösten einen beispiellosen Skandal aus. 51 Denn Schirrmacher griff hier mit schwersten Vorwürfen einen Roman an, der noch gar nicht erschienen war und den außer ihm kaum jemand kannte. Seine Lesart des Buches als „Dokument des Hasses“, in dem ein Überlebender des War- 47 Vgl. G ELLNER , Affektsturm, 15. Die zitierten Aussagen von Bubis finden sich dort auf Seite 22 mit den Nachweisen auf Seite 43. 48 L ORENZ , Walser-Bubis-Debatte, 428-430. 49 Vgl. H ADEK , Vergangenheitsbewältigung, 150-155. 50 W ALSER , Sonntagsrede, 17f. 51 Vgl. M AGENAU , Walser, 531-533. Das Verhältnis zum Judentum im Werk von Martin Walser 335 schauer Ghettos zum Gegenstand von Mordphantasien werde, löste einen wild wuchernden Meinungskampf aus, in dem sich Jan Philipp Reemtsma zu der Aussage hinreißen ließ, Walser sei von einem „antisemitischen Affektsturm“ überwältigt worden. 52 Der bekannte Augsburger Schriftsteller Georg Klein würdigt hingegen, in welch „trefflicher Zuspitzung“ die Romangestalt Ehrl-König zeige, „wie weit es kommen kann, wenn sich der Verlust des Lesevermögens, die Verachtung des Lesers und ein Übermaß an Betriebsmacht in einer Figur zu einem furchteinflößenden Popanz vereinigen“. 53 Zum großen Problem in der Auseinandersetzung um den Roman wurde die völlige Vermischung der innerliterarischen und außerliterarischen Ebenen, an der sich Marcel Reich-Ranicki selbst auf ungute Weise beteiligte. Er unterstellte allen Ernstes Walser „Mordabsichten“, dieser sei „auf grausame Weise ungeduldig“, dass er nicht mehr lange lebe. 54 Zu Recht behauptete zwar Martin Walser von der Hauptfigur in seinem Roman: „[...] ich habe das Jüdische so klein gehalten, wie es überhaupt nur geht“. 55 Da aber das erkennbare Vorbild dieses Macht ausübenden Kritikers in der Wirklichkeit ein Jude ist, stellt sich in aller Schärfe die Frage, was die Satire darf. Eine Figur, die auf einen Überlebenden des Warschauer Ghettos verweist, auf bösartige Weise der Lächerlichkeit preiszugeben, zum Gegenstand eines vorgetäuschten Mordes zu machen, provoziert in der deutschen Öffentlichkeit unweigerlich, wie im Roman selbst thematisiert wird, eine Diskussion um literarischen Antisemitismus. Für die andauernden Schwierigkeiten im problematischen deutschjüdischen Verhältnis sind diese Reaktionen bezeichnend. 9. Umgang mit deutscher Schuld und Schande Nach den heftigen Kontroversen um die Friedenspreisrede und den „Tod eines Kritikers“ hat sich Martin Walser aus dem Meinungskampf um Fragen des Nationalgefühls, deutscher Identität, des Verhältnisses zum Judentum und der Gedenkkultur zurückgezogen. Themen wie die Liebe im Alter sowie die Erfahrung des Religiösen und die Sehnsucht nach dem Glauben prägen nun das Werk des mittlerweile fünfundachtzigjährigen Autors. In dieser Zurückhaltung spiegelt sich nicht nur ein Nachlassen der Streit- und Provokationslust mit fortschreitendem Alter, es zeichnet sich darin auch ein grundlegender Wandel in unserem Verhältnis zur deutschen Vergangenheit ab. 56 Jorge Semprun, selbst Träger des Friedenspreises des Deutschen 52 Vgl. dazu G ELLNER , Affektsturm. Die zitierten Aussagen von Schirrmacher und Reemtsma finden sich dort auf den Seiten 54 und 87; vgl. auch L ORENZ , Auschwitz, 80-102. 53 K LEIN , Der starke Leser, zit. nach G ELLNER , Affektsturm, 77. 54 R EICH -R ANICKI , Erklärung in der Fernsehsendung „Solo“, ZDF, 4.6.2002, abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.6.2002; D ERS ., Was ich empfinde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.7.2002, zit. nach M AGENAU , Walser, 536f. 55 Martin Walser im Gespräch mit Jochen Hieber in der am 14. Juli 2002 ausgestrahlten Literatursendung „Weimarer Salon“, zit. nach H EINEN , Kampf um Aufmerksamkeit, 371. 56 Vgl. K RISCH , Ideal, 200-204. Helmut Gier 336 Buchhandels, hat in einer Rede zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZs Buchenwald auf die Tatsache des Ablebens der Zeitzeugen hingewiesen: „Wir wissen es alle […], dass diese Gedenkfeier die letzte sein wird, an der Zeugen jener Erfahrung teilnehmen werden. In zehn Jahren, im Jahr 2015 […] also wird es keine Zeugen mehr geben.“ 57 Inzwischen ist Semprun selbst tot, er starb im Jahre 2011. Mit dem Verschwinden des lebendigen Gedächtnisses wird eine ganz neue Epoche im Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden beginnen, auch die Angehörigen der Generation der jüngsten Soldaten der Wehrmacht und der Flakhelfer werden ja nicht mehr lange Zeit unter uns sein. Die Fragen, die Martin Walser in seinem großen Werk beschäftigt haben, werden sich uns deshalb in einer ganz neuen Weise stellen, wenn die Täter und Opfer nicht mehr am Leben sein werden. Klügere, vielfältigere, aufrichtigere und ergreifendere Gedanken zu diesem Themenkomplex als in den literarischen und publizistischen Werken dieses Autors werden aber schwerlich zu finden sein. Wir, die Nachgeborenen, um mit Brecht zu sprechen, sollten einem Angehörigen dieser Generation nicht nur mit Nachsicht begegnen, sondern ihm größten Respekt und Bewunderung zollen für das jahrzehntelange Ringen um eine Haltung zu den dunkelsten und schrecklichsten Seiten der deutschen Geschichte, angesichts derer jeder nur mit sich selbst vor dem eigenen Gewissen ins Reine kommen kann. Walser hat uns dabei als entscheidende Voraussetzung eindringlich vor Augen geführt, dass nur, wer sich als Deutscher fühlt, sich als historisch belasteter Deutscher begreifen kann. Die Unsicherheit, wie mit deutscher Schuld und Schande umzugehen ist, blieb bei ihm jedoch immer ein vorherrschendes Gefühl. Dies entsprach überhaupt seinem Selbstverständnis als Schriftsteller, denn mehr als den Leser zum Nachdenken über grundlegende Fragen anzuregen, kann die Literatur in seinen Augen nicht tun: „Ich will nur das ausdrücken, was mir selbst zweifelhaft und wichtig ist. Und ich will das öffentlich sagen, um zu erfahren, ob andere ähnliche Zweifel haben. Ich will überhaupt keinem anderen irgendetwas einreden, sondern nur ein Problem anbieten, mit dem ich selber zu tun habe.“ 58 Literatur G ELLNER , T ORSTEN : Ein antisemitischer Affektsturm? Walser, Schirrmacher, Reich-Ranicki und der „Tod eines Kritikers“, Marburg 2004. G RASS , G ÜNTER : Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung, Frankfurt am Main 1990. H ADEK , N ADJA : Vergangenheitsbewältigung im Werk Martin Walsers, Augsburg 2006. 57 S EMPRUN , Niemand wird mehr sagen können, 202. 58 Martin Walser, Ein Schriftstellerleben in Deutschland, 176. Das Verhältnis zum Judentum im Werk von Martin Walser 337 Hans Magnus Enzensberger im Gespräch mit Izabela Maria Furtado Kestler unter Mitwirkung von Colin B. Grant, http: / / www.aporia.com.br/ forumdeutsch/ revistas/ vol1/ enzensb.pdf (Zugriff am 24.8.2013), 6. H EINEN , S TEFANIE : Kampf um Aufmerksamkeit. Die deutschsprachige Literaturkritik zu Joanne K. Rowlings „Harry-Potter“-Reihe und Martin Walsers „Tod eines Kritikers“, Berlin/ Münster 2007. K LEIN , G EORG : Der starke Leser, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.7.2002. K LÜGER , R UTH : Weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992. -: ‚unterwegs verloren‘. Erinnerungen, Wien 2008. K RISCH , A LEXANDER : „Das Ideal: Entblößung und Verbergung gleich extrem. Also eine Entblößungsverbergungssprache.“ Martin Walser und die Shoah, Marburg 2010. L ORENZ , M ATTHIAS N.: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz, Stuttgart/ Weimar 2005. -: Walser-Bubis-Debatte, in: W OLFGANG B ENZ (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, Berlin/ Boston 2011, 428-430. M AGENAU , J ÖRG : Martin Walser. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2005. M EIKE , H ERMANN : Vergangenwart. Erzählen vom Nationalsozialismus in der deutschen Literatur seit den neunziger Jahren, Würzburg 2010. S EMPRUN , J ORGE , Niemand wird mehr sagen können: „Ja, so war es“ - Vor 60 Jahren wurde das KZ Buchenwald befreit - Auf der Gedenkfeier am Sonntag hielt der Schriftsteller Jorge Semprun, einst selbst dort gefangen, eine bewegende Rede - Wir dokumentieren sie - aus dem Spanischen von Michi Strausfeld, in: Die Zeit vom 14.4.2005, 52, zit. nach K RISCH , Ideal, 202. W ALSER , M ARTIN : Der Sturz. Roman (1973), in: D ERS ., Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch, Bd. 3, Frankfurt am Main 1997, 441-755. -: Händedruck mit Gespenstern, in: D ERS ., Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch, Bd. 11, Frankfurt am Main 1997, 617-630. -: Unser Auschwitz, in: D ERS ., Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch, Bd. 11, Frankfurt am Main 1997, 158- 172. -: Auschwitz und kein Ende, in: D ERS ., Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch, Bd. 11, Frankfurt am Main 1997, 631-636. -: Über den Leser - Soviel man in einem Festzelt darüber sagen soll, in: D ERS ., Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch, Bd. 11, Frankfurt am Main 1997, 564-571. -: Über Deutschland reden, in: D ERS ., Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Frank Barsch, Bd. 11, Frankfurt am Main 1997, 896-915. Helmut Gier 338 -: Ich kann mich auf keinen Nenner bringen - Ein Gespräch mit Stephan Sattler, in: R AINER W EISS (Hrsg.), Ich habe ein Wunschpotential - Gespräche mit Martin Walser, Frankfurt am Main 1998, 55-62. -: „Die Verlagsleitung ging in die Knie“. Abschied vom Suhrkamp-Verlag: Offener Brief, in: Der Spiegel 10 (2004), H. 10, 1.3.2004, 162f. -: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998. Laudatio: Frank Schirrmacher, Frankfurt am Main 2008, 19. -: Leben und Schreiben. Tagebücher 1963-1973, Reinbek bei Hamburg 2007. -: Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978, Reinbek bei Hamburg 2010. Martin Walser in einem Gespräch mit Rudolf Augstein über ihre deutsche Vergangenheit, Erinnerung kann man nicht befehlen, in: Der Spiegel 52 (1998), H. 45, 2.11.1998, 48-72. Martin Walser, Ein Schriftstellerleben in Deutschland, Chatroom - Gespräch mit dem Schriftsteller nach dem am 29.8.2001 im Sender n-tv ausgestrahlten Interview Sandra Maischbergers mit Martin Walser, zit. nach K RISCH , Ideal, 176. W EHLER , H ANS -U LRICH : Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band. Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008. Rainer Werner Fassbinder und das Judentum Helmut Gier 1. „Walser-Bubis-Debatte“ und „Fassbinder-Kontroversen“ Bei der Beschäftigung mit der Judendarstellung, dem Judenbild und der Judenfeindschaft im Werk Martin Walsers taucht am Rande des Horizonts unweigerlich das als problematisch angesehene Verhältnis zum Judentum im künstlerischen Schaffen Rainer Werner Fassbinders auf. Denn die Vorgänge um die Veröffentlichung von Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ im Jahre 2002 erinnern doch sehr an die Kontroverse um Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ im Jahre 1976, als der Suhrkamp Verlag nach dem Vorwurf des Antisemitismus alle Exemplare der Druckausgabe des Dramas sogar wieder einstampfen ließ. 1 Eine noch unmittelbarere Verbindung zwischen Fassbinder und Walser stellt die Persönlichkeit von Ignatz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland von 1992 bis zu seinem Tod im Jahre 1999, dar. Er hatte Martin Walser nach dessen Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1998 als „geistigen Brandstifter“ und „latenten Antisemiten“ bezeichnet, was zu erregten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Kontrahenten und ihren Lagern führte. Sie sind als „Walser-Bubis-Debatte“ in die Geschichte eingegangen. 2 Eben dieser Bubis wurde immer wieder als Vorbild für die umstrittene Figur des „reichen Juden“ in Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ genannt. So unmittelbar stimmte dies zwar nicht, da Fassbinder ihn nicht kannte und Bubis im Gegensatz zu anderen Frankfurter jüdischen Immobilienkaufleuten wie Hersch Becker und Josef Buchmann auch nie Verbindungen ins Rotlichtmilieu nachgesagt wurden. 3 Als einer der bedeutendsten Bauherren und Bodenhändler war Bubis aber auch in die umkämpfte Umstrukturierung des Frankfurter Westends in ein Bankenviertel mit Hochhäusern verstrickt, die ein zentrales Thema von Fassbinders Stück ist, und da er für eine breitere Öffentlichkeit der bekannteste war, lag es nahe, den „reichen Juden“ auf ihn gemünzt zu sehen. Auf diese Aktivitäten von Bubis in der Wirtschaftswunderzeit spielt Walser in der Auseinandersetzung mit ihm an: „Ich war in diesem Feld (gemeint ist das Gedenken an Auschwitz) beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt.“ 4 Diese Bemerkung gegenüber einem ehemaligen Lagerhäftling, dessen Vater in Treblinka ermordet wurde, zeugt nicht gerade von großer Feinfühligkeit, macht aber die Heftigkeit der Debatte um den 1 Vgl. T RIMBORN , Fassbinder, 270; L ORENZ , Auschwitz, 80, Anm. 247. Zu den Auseinandersetzungen um Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ vgl. meinen Beitrag in diesem Band. 2 L ORENZ , Walser-Bubis-Debatte, 428-430. 3 Vgl. Z WERENZ , Friedmanns Geheimnis. 4 Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung, 442. Helmut Gier 340 Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen und dem Antisemitismusvorwurf deutlich. Die kämpferische Haltung von Bubis wird wiederum daran offenbar, dass er als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt eine maßgebliche Rolle dabei spielte, als Mitglieder dieser Gemeinde 1985 durch eine Besetzung der Bühne die Aufführung von Fassbinders Stück verhinderten. 5 In der Persönlichkeit von Bubis sind damit die beiden wichtigsten, erregtesten und schärfsten Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Juden und Nichtjuden im Literatur- und Geistesleben Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschränkt. Da sie als entscheidende Einschnitte mit einer immensen Breitenwirkung alle anderen Beschäftigungen mit dem Thema weit überragen, sind die „Fassbinder-Kontroversen“ und die „Walser-Bubis-Debatte“ die beiden einzigen Einträge im vierten Band des Handbuch des Antisemitismus „Ereignisse, Dekrete, Kontroversen“, in denen Schriftsteller nach 1945 namen- und titelgebend sind und im Mittelpunkt stehen. 6 Dass bedeutende Autoren wie Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass und Botho Strauss noch nicht einmal im Register dieses Bandes vorkommen, unterstreicht die Ausnahmestellung der von ihnen ausgelösten Skandale. Damit stoßen wir aber auf ein höchst erstaunliches Phänomen: die schärfsten Auseinandersetzungen um tatsächliche oder vermeintliche antisemitische Tendenzen und Haltungen in der deutschen Literatur und Kultur der Nachkriegszeit entzünden sich ausgerechnet an zwei Schriftstellern, die in Bayerisch Schwaben, in Wasserburg und Bad Wörishofen, geboren sind, also in einem Landstrich, der ansonsten eher als „keine laute Provinz“ gilt. 7 Diese äußere Gemeinsamkeit vor dem Hintergrund des Antisemitismus-Streits legte es nahe, sich nach der Beschäftigung mit Martin Walsers Verhältnis zum Judentum auch mit dem Fassbinders auseinanderzusetzen. Denn ansonsten scheint die beiden Schriftsteller und Künstler viel voneinander zu trennen: der achtzehn Jahre ältere Walser war noch Soldat der Wehrmacht, während der wenige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa geborene Fassbinder der ersten Nachkriegsgeneration angehört. Obwohl sich ihre Persönlichkeitsbildung damit in ganz unterschiedlichen Erfahrungszusammenhängen vollzogen hat, spielte zu bestimmten Zeiten die Frage des deutsch-jüdischen Verhältnisses nach Auschwitz eine zentrale Rolle in ihrem Werk und ihrer Wirkung. Dies ist ein neuerlicher Beleg für die grundlegende Bedeutung dieses Themas in der deutschen Nachkriegskultur. Kaum jemand, der der Generation Fassbinders angehört und ein wenig empfänglich für Theater- und Filmkunst ist, hat nicht fasziniert den Aufstieg und Weg des weltweit berühmtesten deutschen Filmemachers verfolgt. Natürlich erinnert sich darunter auch jeder an die großen Kontroversen um das Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, ansonsten legt ein erster Blick eher die Auffassung nahe, die Dimension des Themas des Judentums zu unterschätzen, als ob von dem berühmten skandalträchtigen Drama einmal abgesehen jüdische Spuren im Werk Fassbinders eher 5 Vgl. T RIMBORN , Fassbinder, 270f. 6 T HURN , Fassbinder-Kontroversen, 127-130; L ORENZ , Walser-Bubis-Debatte. 7 So der Titel der Anthologie: F ASSL / H ERMANN , Keine laute Provinz. Rainer Werner Fassbinder und das Judentum 341 gesucht werden müssten. 8 In vielen, gerade den bekanntesten und erfolgreichsten Filmen, die einem präsent sind, wenn der Name Fassbinder fällt, wie „Katzelmacher“, „Angst essen Seele auf“, „Faustrecht der Freiheit“, „Die bitteren Tränen der Petra Kant“, „Die Ehe der Maria Braun“ und „Lola“ spielen jüdische Themen und Motive ja so gut wie keine Rolle. Bei einer eingehenderen Beschäftigung mit dem gesamten Werk Fassbinders unter diesem Blickwinkel ist aber festzustellen, dass die Verlebendigung jüdischer Gestalten und Geschichten und die Frage des Verhältnisses zum Judentum in seinem Denken und Schaffen eine herausragende Rolle spielen, erst recht wenn die nicht realisierten Projekte in die Betrachtung noch mit hinzugenommen werden. Wie Walser mit der Arbeit von Matthias N. Lorenz „‚Auschwitz drängt uns auf einen Fleck.‘ Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser“ hat so auch Fassbinder den Verfasser einer Dissertation gefunden, der inquisitorisch sein gesamtes Werk auf die Kontinuität einer vermeintlich antisemitischen Thematik hin durchforstet. 9 Der polnische Literaturwissenschaftler Janusz Bodek glaubt in seiner umfangreichen Abhandlung „Die Fassbinder-Kontroversen. Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel einiger Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus in Deutschland nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung“ durchgängig judenfeindliche Ressentiments und eine negative Zeichnung jüdischer Figuren nachweisen zu können. 10 Er läuft dabei doch sehr Gefahr, die Vielfältigkeit der Autorintention und Wirkungsabsicht Fassbinders in seinen entsprechenden Werken immer nur auf die Widerspiegelung eines unterstellten Schuldabwehrantisemitismus und der Opferkonkurrenz zwischen Juden und anderen Außenseitern oder auch Deutschen einzuschränken. 11 Gepaart ist dies mit einer politischen Überkorrektheit, die soweit geht, selbst bei Zitaten aus der Literatur gegen jede wissenschaftliche Gepflogenheit die Namen von Frankfurter Immobilienhändlern wie Ignatz Bubis so zu anonymisieren, dass sie nicht identifiziert werden können. 12 2. Überblick über die einschlägigen Werke Bevor auf einzelne Problemfelder in der Behandlung jüdischer Themen, des Judenbildes und der Frage des Antisemitismus einzugehen ist, soll zunächst das grundsätzlich heranzuziehende Untersuchungsmaterial vorgeführt werden, um einen Eindruck zu vermitteln, wie wichtig das Thema für Fassbinder war, und zugleich die Begründung daran anzuknüpfen, dass das Thema im Rahmen eines Aufsatzes nicht 8 Vgl. G ALT / L AIDE , Fassbinder, 485. 9 L ORENZ , Auschwitz. 10 B ODEK , Fassbinder-Kontroversen. 11 Vgl. ebd. das Kapitel III „Der Schuldabwehrantisemitismus“, 75-103. 12 Ebd., 351, Anm. 9: „Zur Vermeidung der denunziatorischen Praxis der Namensnennung werden in dieser Arbeit alle in Zitaten vorkommenden Namen von Kaufleuten durch ‹X› ersetzt.“ Helmut Gier 342 annähernd erschöpfend zu untersuchen ist. 13 Dennoch erscheint es wichtig, in aller Kürze einen Überblick über die für das Thema einschlägigen Werke zu geben, denn nur so wird seine außerordentliche Dimension und Bedeutung für Fassbinder deutlich und treten die Schwerpunktsetzungen und Eigenheiten in seinem Verhältnis zum Judentum hervor. Damit soll auch die Gefahr vermieden werden, dieses immer nur auf die Figuren des „reichen Juden“ und der Antisemiten in seinem skandalträchtigen Stück zu reduzieren. Bei den Kontroversen um Fassbinders Verhältnis zum Judentum unterbleibt häufig der Hinweis, dass sich bereits sein erstes Theaterstück aus den Jahren 1965 oder 1966 „Nur eine Scheibe Brot“ mit dem Thema der Judenverfolgung und vernichtung befasste. 14 In Fassbinders eigenen Worten geht es darin um „einen Regisseur, der versucht, einen Film über Auschwitz zu drehen, über ein Konzentrationslager“. 15 Schon der Zwanzig- oder Einundzwanzigjährige setzt sich damit in dieser spezifischen Brechung mit den Problemen des künstlerischen Umgangs mit der Judenverfolgung und den damit verbundenen politisch korrekten Erwartungshaltungen auseinander. Denn zum einen wird dargestellt, wie ein Freund den Regisseur zu dem Auftrag als sicherem Erfolgsrezept beglückwünscht: „da hast du ja von vornherein alle Preise und Prädikate in der Tasche“. 16 Zum anderen wird das Bemühen vorgeführt, die Lagerinsassen nicht nur als solidarische Opfer, sondern auch durchaus mit negativen Zügen behaftet zu zeigen. Zum dritten kommt der Regisseur zu der Überzeugung, dass man „nicht einfach einen Spielfilm über Vorgänge in einem Lager machen“ kann, Bedenken, die von dem Produzenten weggewischt werden. 17 Der Film bekommt dann nach seiner Fertigstellung auch das Prädikat „besonders wertvoll“ und drei Bundesfilmpreise. Das Unbehagen am gutgemeinten, hilflosen und zugleich geschäftstüchtigen Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen drückt sich hier bei Fassbinder schon deutlich aus. Bereits in dem Erstlingswerk ist jedenfalls spürbar, dass die konventionellen Rituale des Gedenkens und der Scham im Verhältnis zum Judentum von Fassbinder als sehr problematisch empfunden werden. Er bekam für sein Stück bei einem Dramenwettbewerb den dritten Preis und machte später ein Drehbuch mit dem Titel „Parallelen. Notizen und Texte zu einem Film über Auschwitz“ daraus, um sich damit bei der Berliner Filmhochschule zu bewerben. 18 Er wurde im Übrigen nicht aufgenommen, einer der schwärzesten Tage in der Geschichte dieser Hochschule. Sein nächster Versuch, eine Sichtweise auf das Judentum künstlerisch zu verwirklichen, war dann bereits sein Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Wieder griff der Filmemacher dabei auf die Form des Dramas zurück. Mit ein Grund dafür war die Tatsache, dass Fassbinder ab der Spielzeit 1974/ 75 die Intendanz des Thea- 13 Vgl. dazu neben der Arbeit von B ODEK auch K OCH , Qualen, und W EFELMEYER , Judendarstellungen. 14 F ASSBINDER , Scheibe Brot, 7-39. 15 Fassbinder über Fassbinder, 17. 16 F ASSBINDER , Scheibe Brot, 12. 17 Ebd., 37. 18 Vgl. T RIMBORN , Fassbinder, 53-55. Rainer Werner Fassbinder und das Judentum 343 ters am Turm in Frankfurt übernommen hatte. Schon zu Beginn seiner Tätigkeit als Theaterdirektor hatte er erklärt, dass er ein Stück über Frankfurt erarbeiten und aufführen wollte. Er hatte dabei zunächst die Absicht, den Kriminalfall der Ermordung der Prostituierten Rosemarie Nitribitt als Ausgangspunkt für ein Drama zu nehmen, und verband diesen Mordfall dann mit der Westend-Problematik. 19 In der Zeit von Fassbinders Intendanz fanden Hausbesetzungen und Häuserräumungen in diesem Stadtquartier statt, so dass die politische Sprengkraft des Themas augenfällig war. Zudem hatte Gerhard Zwerenz 1973 seinen Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ mit der Figur des reichen jüdischen Immobilienmaklers Abraham Mandelstam herausgebracht, der Fassbinder als Anregung dienen konnte. Im Mittelpunkt seines Stücks steht die Prostituierte Roma B., die Tochter eines KZ- Aufsehers, die von ihrem Zuhälter Franz B. auf den Strich geschickt wird. Dort begegnet sie einem reichen jüdischen Immobilienspekulanten, der nur der „Reiche Jude“ heißt, und wird zum Callgirl der besseren Gesellschaft, wo sie Einblicke in die Skrupel- und Seelenlosigkeit des städtischen Machtkartells gewinnt und daran zerbricht. Sie bittet den „Reichen Juden“, sie zu töten, was dieser aus Liebe auch tut, der Mord wird aber vom Polizeipräsidenten dem Zuhälter Franz B. in die Schuhe geschoben. Der „Reiche Jude“, dessen Machenschaften von der Stadt gedeckt werden, erwirbt billig Häuser, vertreibt die Mieter, lässt auf den Grundstücken Hochhäuser errichten und verkauft diese dann an große Firmen. Antisemitische Gegenspieler sprechen offen aus, dass sie ihm seine wirtschaftliche und soziale Stellung aufgrund seines Sonderstatus als Juden neiden und Rachegefühle hegen. Die Figuren in dem Stück sind gerade in ihrer pathetischen Überhöhung eher Stereotypen oder Allegorien, eine Entwicklung, die noch dazu in ihrer Motivierung entfaltet wird, findet nicht statt, sie wird bestenfalls behauptet, was in den Augen der meisten Kritiker die ästhetische Schwäche des Werks ausmacht. 20 In dem Film „In einem Jahr mit dreizehn Monden“ aus dem Jahr 1978, der als persönlichstes Werk von Fassbinder gilt, stellt er dieselben Frankfurter Verhältnisse mit Prostitution und Immobilienspekulation in den Mittelpunkt, so dass der Film als Vorgeschichte und Fortschreibung des Stücks zugleich verstanden werden kann. 21 In der Zeichnung der Hauptfiguren versucht Fassbinder nun aber, ihre Einstellungen, Handlungsweisen, Gefühlshaltungen und Seelenlagen durch die ausführliche Erzählung ihrer Geschichte genau herzuleiten. Zentrale Gestalt in dem Film ist der Transsexuelle Erwin/ Elvira, der als uneheliches Kind in einem Waisenhaus aufwuchs, Metzger lernte, aufgrund der Liebe zu der Unterweltsgröße Anton Saitz sich einer Geschlechtsumwandlung vollzog und dann als Prostituierte seinen Lebensunterhalt bestritt. Dieser Anton Saitz ist ein Jude, der das KZ überlebt hat, nach dem Krieg in Frankfurt hängen blieb, mit Schlachtfleisch handelte, dann ein Bordell mit KZ- Methoden betrieb und schließlich zum erfolgreichen Immobilienspekulanten aufstieg. Als Erwin/ Elvira erkennt, dass durch sein sinnloses Opfer sein Leben völlig 19 Vgl. B ODEK , Fassbinder-Kontroversen, 242-247; B ARNETT , Provokation, 108-111. 20 Vgl. die Beiträge von A RNOLD , Fragen; F RIEDRICH , Antisemitismus; A LTENDORFER , Absage. 21 Vgl. B ODEK , Fassbinder-Kontroversen, 210f., 303 und 366; T RIMBORN , Fassbinder, 333- 335. Helmut Gier 344 fehlgeschlagen und er dem kühlen jüdischen Geschäftsmann völlig gleichgültig ist, bringt er sich um. Offensichtlich haben die Frankfurter Erfahrungen zu einer vertieften Befassung mit jüdischen Themen und Figuren bei Fassbinder geführt. In der Fernsehverfilmung von Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Jahr 1980 tauchen bereits in der ersten Folge zwei ostjüdische Rabbis auf, die sich um den gerade aus der Haft entlassenen Franz Biberkopf kümmern. Dazu schafft Fassbinder bewusst eine symbolhafte Umklammerung, indem er in der Traumsequenz im Epilog einen Wurstverkäufer, dem Franz Biberkopf in der zweiten Folge begegnet war, nun in KZ-Häftlingskleidung auftreten lässt. 22 Von der stärkeren Hinwendung Fassbinders zur Zeit des Nationalsozialismus und seinen Auswirkungen auf das deutsch-jüdische Verhältnis zeugt auch der im selben Jahr 1980 entstandene Film „Lili Marleen“. Fassbinder erzählt darin frei nach Lale Andersens autobiographischem Roman „Der Himmel hat viele Farben“ die Geschichte einer gescheiterten Liebe zwischen der deutschen Barsängerin Willie Bunterberg und dem jüdischen Schweizer Komponisten und Dirigenten, für den Rolf Liebermann das Vorbild abgab. Als Mitglied einer Untergrundgruppe versucht er deutschen Juden zu helfen; als Willie ihn dabei unterstützen will, sorgt Roberts einflussreicher Vater dafür, dass sie nicht mehr in die Schweiz einreisen darf, da er fürchtet, sie könnte eine Nationalsozialistin sein und ein Risiko darstellen. Willie wird mit dem Soldatenlied „Lili Marleen“ zum Star in Deutschland. Nach Kriegsende muss sie allerdings erkennen, dass Robert inzwischen die Jüdin Myriam geheiratet hat und als Dirigent Erfolge feiert, während sie eher als Nazi-Kollaborateurin verfemt ist. 23 In Fassbinders vorletztem Film „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ steht wiederum ein weiblicher Star aus der Zeit des Dritten Reichs im Mittelpunkt, dieses Mal eine berühmte Filmschauspielerin. Es ist die Geschichte der Sybille Schmitz, die nicht damit zurecht kommt, dass sie in der Nachkriegszeit - der Film spielt im Jahre 1955 - vergessen ist und keine Rollen mehr bekommt. Sie betäubt sich mit Rauschgift, um ihre Lage zu vergessen, gerät in die Fänge einer sie ausnutzenden Ärztin und wird in den Selbstmord getrieben, nachdem sie dieser ihr Eigentum überschrieben hat. Ob diese dämonische, schwarzhaarige Ärztin, wie ihr Name „Dr. Katz“ andeuten könnte, Jüdin ist, lässt der Film letztlich offen und ist damit Sache der Auslegung. Eindeutig ist der Fall hingegen bei einem Antiquitätenhändler und seiner Frau, die auch zu den Kunden dieser Ärztin gehören. Dieses alte jüdische Ehepaar, das Treblinka überlebt hat, hat ihr ebenfalls sein Eigentum überschrieben, um es gegen Morphium einzutauschen. Das Rauschgift hilft ihnen, mit dem Erlebten zurecht zu kommen. Als ihr Vermögen aufgebraucht ist, gehen sie selbstbestimmt mit innerer Ruhe in den Tod. 24 Der Überblick über die gegen Ende des kurzen Lebens Fassbinders hin zunehmende angestrengte Behandlung jüdischer Themen und Charaktere wäre unvoll- 22 Vgl. H ERMES , Deutschland, 108, 147-150 und 224. 23 Vgl. T RIMBORN , Fassbinder, 353-357. 24 Vgl. K OCH , Qualen, 50; B ODEK , Fassbinder-Kontroversen, 226f. Rainer Werner Fassbinder und das Judentum 345 ständig, wenn unterlassen würde, die großen, nicht zustande gekommenen Projekte zu berücksichtigen. Sie machen erst in ihrem ganzen Ausmaß seine fast obsessive Auseinandersetzung mit dieser Problematik deutlich. Schon unmittelbar nach den heftigen Auseinandersetzungen um sein Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ wollte Fassbinder den Roman von Gerhard Zwerenz „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“, der wie erwähnt die Vorlage für sein Drama gebildet hat, 1977 verfilmen. Für dieses, nach den Debatten um den Antisemitismus-Vorwurf natürlich von Institutionen wie der Filmförderungsanstalt als problematisch angesehene Projekt konnte er aber die nötigen Finanzmittel nicht auftreiben. 25 Bereits anderthalb Jahre lang hatte Fassbinder an dem vom WDR in Auftrag gegebenen, ebenfalls für das Jahr 1977 geplanten Projekt einer Fernsehserie mit der Verfilmung von Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ gearbeitet. Dieser Film sollte die Geschichte des deutschen Bürgertums von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus sowie zugleich die Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus darstellen. Dass in dem Film naturgemäß auch Antisemiten auftreten sollten, führte zu einer öffentlichen Debatte, die wiederum zur Folge hatte, dass der Intendant des WDR von Sell ein Verbot gegen das Vorhaben der Fernsehserie ohne weitere Prüfung erließ. 26 Über Jahre hinweg verfolgte Fassbinder zudem das Projekt, einen Film über die Entstehung der jüdischen Religion zu machen. Grundlage dafür sollte das Werk von Sigmund Freud „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ sein, also die Hypothese von der ägyptischen Herkunft des Moses als Lehrer eines strengen Monotheismus, der mit den semitischen Stämmen eine neue Gesellschaft und schließlich eine neue Nation gründen wollte, indem er sie aus Ägypten wegführte. Dass das Vorhaben nicht ganz unproblematisch war, macht die Erzählung dieser Geschichtsfabel in Fassbinders eigenen Worten deutlich: „[...] er [i. e. Moses] hat sich ein Volk gesucht, mit dem er diese Religion ausprobieren konnte […] und hat die [i. e. die Juden] aber genommen und hat gesagt, ihr seid auserwählt, ihr seid eine bessere Rasse.“ 27 3. Jüdische Figuren als Überlebende Nach diesem Gesamtüberblick dürfte eines klar geworden sein: Fassbinder hat sich außerordentlich intensiv mit jüdischer Geschichte, dem Judenbild und jüdischen Motiven und Figuren auseinandergesetzt, ihm ist sicher als Verdienst anzurechnen, dem Problem des deutsch-jüdischen Verhältnisses nicht ausgewichen zu sein, sondern sich ihm gestellt zu haben. Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass dies in den Jahren zwischen 1965/ 66 und seinem Tod 1982 geschah, in einer Zeit, als die nationalsozialistischen Verbrechen noch nicht sehr lange zurücklagen, so war dies durchaus noch ein brisantes und gewagtes Unterfangen, was aber einen Künstler wie 25 Vgl. T ÖTEBERG , Fassbinder. 26 F ASSBINDER , Anarchie, 87 und 96. 27 Ebd., 63. Vgl. auch Fassbinder über Fassbinder, 402f. Helmut Gier 346 Fassbinder erst recht reizte. Jedenfalls ist sein Ringen mit dem Thema vor dem Hintergrund zu sehen, dass es in der gesamten deutschen Spielfilmproduktion der Nachkriegszeit bis zu seinem Tod nur ganz wenige jüdische Figuren gibt. Zu den ganz wenigen Ausnahmen gehört der Film von Helmut Käutner „Schwarzer Kies“ aus dem Jahre 1961, in dem es in manchen Zügen auf Werke Fassbinders vorausweisend einen jüdischen Bordellbesitzer gibt, der von einem alten Nazi als „Judensau“ beschimpft wird, was Käutner auch schon Antisemitismus-Vorwürfe einbrachte. 28 Fassbinder ist damit der erste deutsche Filmemacher nach 1945, der sich über einen längeren Zeitraum in breiterer, umfassenderer Weise immer wieder mit dem Schicksal der Juden und ihrer Rolle in der deutschen Gesellschaft gedanklich und künstlerisch befasst hat. Gegenüber der vorherrschenden Behandlung der jüdischen Thematik in der deutschen Kultur der Nachkriegszeit vollzieht sich bei ihm allerdings eine auffallende Akzentverlagerung und -verschiebung. Im Zentrum seines Werks stehen jüdische Figuren als Überlebende, die auch nicht in erster Linie als Opfer der Verfolgung und Träger der Erinnerung daran vorgestellt werden. Vielmehr zeigt Fassbinder, welche Stellung sie in der Nachkriegsgesellschaft errangen, behaupteten und einnehmen. Im Vordergrund stehen damit nicht die Zeit des Nationalsozialismus und die schuldhafte deutsche Verstrickung in die Verbrechen in dieser Epoche, auch nicht der Umgang damit, sieht man einmal von seinem Erstlingswerk ab. Dies gilt in gewisser Weise selbst für einen Film wie „Lili Marleen“, der als einziger seiner Werke fast ganz in der Epoche des Dritten Reichs spielt. Denn der eindeutige Fluchtpunkt des Films ist die unmittelbare Nachkriegszeit mit dem Ende der Karriere und der Liebesbeziehung des gefeierten deutschen Stars und dem umjubelten glanzvollen Auftritt des jüdischen Dirigenten. 29 In dieser neuen Sichtweise spiegelt sich zunächst einmal die Tatsache, dass der im Mai 1945 auf die Welt gekommene Fassbinder die erste herausragende Persönlichkeit des deutschen Kulturlebens ist, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde. Im Gegensatz zu den zwei Jahrzehnte älteren Schriftstellern der Gruppe 47 wie Böll, Walser und Grass hatte Fassbinder von den Schrecken des nationalsozialistischen Regimes und des Krieges nichts mehr mitbekommen. Sein Wissen über diese Vorgänge und Ereignisse beruhte schon ausschließlich aus zweiter Hand, sehr viel erfuhr er vom zweiten Mann seiner Mutter. 30 Für Fassbinder steht damit schon eher die Frage im Vordergrund, welche Entwicklungen in der deutschen Geschichte zu den nationalsozialistischen Verbrechen geführt haben, als immer nur Schuldbewusstsein und Scham darüber zu vertiefen. Damit einher geht dann auch eine problematische Züge annehmende Unbefangenheit gegenüber dem Thema der Rolle der Juden in der Gesellschaft. Ihm war weniger das Verdrängen der Judenverfolgung und -vernichtung ein Anstoß und ein Ärgernis, sondern einen Künstler wie ihn, dessen Credo eine radikale Ästhetik des Tabubruchs war, prägte mehr das leisetreterische, verschämte und 28 Vgl. K OCH , Einstellung, 240f. 29 Vgl. ebd., 250-252. 30 Fassbinder über Fassbinder, 477, 538. Rainer Werner Fassbinder und das Judentum 347 zum Teil scheinheilige deutsche Verhältnis zu den Juden: „Ich meine, dass die ständige Tabuisierung von Juden, die es seit 1945 in Deutschland gibt, gerade bei jungen Leuten, die keine direkten Erfahrungen mit Juden gemacht haben, zu einer Gegnerschaft gegen Juden führen kann. Mir ist als Kind, wenn ich Juden begegnet bin, hinter vorgehaltener Hand gesagt worden: Das ist ein Jude, benimm dich artig, sei freundlich. Ich konnte mir nie denken, dass das eine richtige Haltung ist.“ 31 Die Frage des Verhältnisses zum Judentum verschiebt sich damit bei Fassbinder in Richtung der Auseinandersetzung mit einem doppelten Tabu: zum einen, dass in den Juden vollkommene Menschen zu sehen sind, denen mit allergrößtem Wohlwollen zu begegnen ist, zum anderen, dass über den im deutschen Bürgertum tief verankerten Antisemitismus, der zum Dritten Reich geführt hat, am besten zu schweigen ist. Wie kein anderes Werk prägt der Bruch mit diesem doppelten Tabu Fassbinders je nach Sichtweise meisterhaftes oder schwaches Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Denn der „Reiche Jude“ wird als mieser skrupelloser Geschäftsmann vorgeführt, dem gleichgültig ist, „ob Kinder weinen, ob Alte, Gebrechliche leiden“. 32 Er steht mit führenden Politikern und der Polizei im Bunde, so dass sogar die von ihm begangene Tötung auf Verlangen gedeckt wird: „Die Stadt schützt mich, das muss sie. Zudem bin ich Jude.“ 33 Er macht sich also ganz bewusst und berechnend den besonderen Status der Juden in Deutschland nach den nationalsozialistischen Verbrechen zunutze. Noch provozierender war aber, dass Fassbinder das Weiterwirken antisemitischer Denkweisen bei Konkurrenten und ewiggestrigen Nazis vorführte. Dabei gelang ihm die verstörendste und wuchtigste Formulierung des Antisemitismus nach Auschwitz, die es bis heute in der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg gibt: „Und Schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht, denn er ist da. Wär er geblieben, wo er herkam. Oder hätten sie ihn vergast, ich könnte heute besser schlafen. Sie haben vergessen, ihn zu vergasen. Das ist kein Witz, so denkt es in mir.“ 34 Der Deutung dieser Aussagen durch den jüdischen Publizisten Henryk M. Broder in seinem Essay „Vergesst Auschwitz“ ist zuzustimmen: „Vor allem wegen dieser Sätze musste sich Fassbinder den Vorwurf gefallen lassen, ein Antisemit zu sein. Aber das war er nicht. Er hat nur genau und gnadenlos die Befindlichkeit eines Antisemiten in eine Formel gepackt ‚So denkt es in mir.‘“ 35 Allein diese Sprach- und Ausdruckskraft macht deutlich, dass es sich um einen bedeutenden literarischen Text handelt, der nicht von ungefähr bis heute einen Einschnitt in der Behandlung des Themas des Judentums bildet. Dass in den Kontroversen um das Stück noch nicht einmal die Grundregel jeder Interpretation beachtet wurde, dass die Ansichten einzelner Figuren in einem Drama nicht die des Autors sind, soll hier nicht weiter erörtert werden. 31 F ASSBINDER , Anarchie, 82. 32 D ERS ., Scheibe Brot, 59. 33 Ebd., 58. 34 Ebd., 75. 35 B RODER , Vergesst Auschwitz! , 35f. Helmut Gier 348 Großes Gewicht kommt hingegen einer Fragestellung zu, die die gesamten Debatten um die jüdischen Figuren bei Fassbinder beherrscht: ist es zulässig, angezeigt oder verwerflich, dass Angehörige einer Minderheit als solche bezeichnet und erkennbar gemacht werden. Einen erfolgreichen Häusermakler als „reichen Juden“ auftreten zu lassen, kann je nach Sichtweise als üble sowie überflüssige Denunziation oder kühne Provokation verstanden werden. Denn grundsätzlich ist dem jüdischen Schriftsteller Jean Améry zuzustimmen, dass bei Immobilienspekulanten und Bordellbesitzern die jüdische Herkunft nichts mit dem zu tun hat, welcher Beschäftigung sie nachgehen. 36 Unter diesen Juden herauszugreifen und als solche kenntlich zu machen, kann dann bereits als antisemitische Diffamierung gelten. Untermauert wird diese Interpretation durch die Feststellung Adornos in seinem Essay „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“, „dass in einer Demokratie überhaupt die Frage nach dem Anteil verschiedener Bevölkerungsschichten an verschiedenen Berufen von vornherein das Prinzip der Gleichheit verletzt“. 37 Unschwer lässt sich unsere zwiespältige Haltung zu diesem Grundsatz bis heute erkennen. Denn auf der einen Seite tun Politik und Medien nichts lieber als nachzuweisen, dass Frauen in Führungspositionen oder junge Leute mit Migrationshintergrund an Universitäten oder im öffentlichen Dienst unterrepräsentiert sind, auf der anderen Seite gilt es als Verstoß gegen die politische Korrektheit, wenn bei Straftaten Verbrecher als Angehörige einer Minderheit bezeichnet werden oder Einwanderergruppen ein prozentual höherer Anteil an bestimmten Straftaten zur Last gelegt wird. Daher stellt es ein Dilemma dar, dass bei den Frankfurter Verhältnissen, die Fassbinder mit seinem Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ und seinem Film „In einem Jahr mit dreizehn Monden“ im Auge hatte, Prostitution und Drogenhandel und vor allem die Immobilienspekulation bei der Umstrukturierung des Westends zu einem erheblichen Teil von Juden beherrscht wurde. Dafür stehen Persönlichkeiten wie der Bordellkönig Hersch Becker und der Immobilienkaufmann Ignatz Bubis. 38 Bei den Gegnern der Zerstörung des Westends führte dieses Übergewicht von jüdischen Geschäftsleuten zu einer gewissen Hilflosigkeit im Häuserkampf: „Als wir bei der dritten Hausbesetzung 1971 merkten, dass auch dieses Haus einem jüdischen Hausbesitzer gehörte, wussten wir nichts Besseres zu tun, als aus Angst vor antisemitischer Solidarität ein Pappschild an die verbarrikadierte Eingangstür zu nageln, auf der stand: ‚Gegen die Diskriminierung von ausländischen Arbeitern, Studenten und Juden! ‘“ 39 1972 tauchten dann aber schon die ersten Schmierereien „Sau-Jud“ an den Häuserwänden auf, also noch bevor Fassbinder nach Frankfurt kam. 40 Dass ein Autor wie er, der auf die Sprengung von Normen aus war und heftige Reaktionen herausfordern wollte, sich dieses explosive Gemisch nicht entgehen ließ, ist leicht nachzuvollziehen, politische Korrektheit war seine 36 A MÉRY , Shylock, 41. 37 A DORNO , Bekämpfung, 362f. 38 Vgl. dazu den Artikel: „Spekulanten …“. Zu Hersch Beker vgl. auch den Artikel: Gute Beziehungen. 39 K REMER , Spekulation, 82. 40 Vgl. den Artikel „Spekulanten ...“, 43. Rainer Werner Fassbinder und das Judentum 349 Sache nicht. Zu verdanken ist ihm so letztlich dann doch eine künstlerische Auseinandersetzung von Rang mit Vorgängen, die mit ihren Nachwirkungen einen der wichtigsten Einschnitte in der Geschichte der Bundesrepublik darstellen. Schon die Bedeutung der beteiligten Persönlichkeiten macht dies deutlich: denn auf der einen Seite stand ein Repräsentant der Juden in Deutschland wie Ignatz Bubis, auf der anderen Seite der jüdische Studentenführer Daniel Cohn-Bendit und der mit ihm befreundete spätere deutsche Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer, so dass die radikale Agitation angesichts der wirtschaftlichen und städtebaulichen Entwicklungen in Frankfurt einen der Ausgangspunkte für die wichtige Rolle der Partei der Grünen im politischen Leben bildete. 41 4. Tabubruch als Antwort auf Tabuisierung Jüdische Bordellbesitzer und Immobilienspekulanten, die das KZ überlebt haben, sind leicht nachvollziehbar ergreifendere, fesselndere und spannungsreichere Charaktere als alteingesessene Frankfurter Kaufleute. Seit Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ liegt dies auf der Hand. Fassbinders Interesse an jüdischen Figuren gründet aber noch auf einem anderen Motiv. Sein ganzes gesellschaftskritisches Werk bezieht einen großen Teil seiner Wirkung daraus, dass er konsequent Außenseiter, Randgruppen und Minderheiten in den Mittelpunkt seiner Filme und Stücke stellt. 42 Dies wiederum hängt damit zusammen, dass er sich selbst als Homosexueller als Angehöriger einer Minderheit begreift. Ihm geht es aus dieser Eigenwahrnehmung heraus darum vorzuführen, wie Minderheiten mit ihrem Status als Außenseiter umgehen, in welche Stellung sie von der Mehrheitsgesellschaft gedrängt werden und welche verfestigten sozialen Strukturen durch diese Sichtweisen aufgedeckt werden können. Fassbinder erkannte dabei nach seinen eigenen Aussagen sehr früh, dass bei Unterdrückten und Verfolgten eine „Schwarz-Weiß/ Gut-Schlecht-Zeichnung“ den wahren Verhältnissen nicht angemessen ist: „Ich bin auf das Problem gestoßen, als ich mich mit der Unterdrückung der Juden auseinandergesetzt habe. Als ich systematisch Filme über Minderheiten gemacht habe, habe ich den Unterdrücker gewöhnlich als böse, unsympathische Figur gezeigt und das Opfer als gut und freundlich. Aber dann ist mir klar geworden, dass das nicht der richtige Weg ist, um dieses Täter-Opfer-Verhältnis darzustellen. Das wirklich Schlimme ist, dass man Unterdrückung nicht zeigen kann, ohne auch die unterdrückte Person zu zeigen, die auch ihre Fehler hat.“ 43 Fassbinders Blick auf die Juden, die die nationalsozialistische Verfolgung überlebt haben, als Außenseiter wie Homosexuelle, Prostituierte, ausländische Gastarbeiter und auch Frauen in gewisser Weise zeitigt bei ihm darüber hinaus ein auf den ersten Blick paradoxes Ergebnis: unter allen Minderheitengruppen verstanden und 41 Ein Zeugnis dafür ist das Streitgespräch zwischen Ignatz Bubis und Daniel Cohn-Bendit im Spiegel, „Wir haben eine Leiche im Keller“. 42 Vgl. dazu B ODEK , Fassbinder-Kontroversen, 175-178. 43 Fassbinder über Fassbinder, 409. Helmut Gier 350 verstehen es die Juden am besten mit dieser Situation als Außenseiter umzugehen und zurecht zu kommen. Von dieser sich darin ausdrückenden inneren Stärke und Willenskraft zeigt sich Fassbinder tief beeindruckt: „Nimm z. B. die Juden: Jahrhundertelang haben die unter einem extremen Druck gelitten, aber dennoch sind sie weiter gekommen, als die meisten anderen. Es ist halt kein Zufall, dass die bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Zeit, Marx und Freud, beide Juden waren.“ 44 In dieser Anerkennung und Achtung prägt sich vor allem die Zerrissenheit des Angehörigen einer anderen Minderheit, der der Homosexuellen, aus, während die gemeinhin erwarteten Schuldgefühle eines historisch belasteten Deutschen kaum eine Rolle spielen: „Die Juden haben sich nie dafür geschämt, Juden zu sein, während die Homosexuellen so dumm waren, sich für ihre Homosexualität zu schämen. Im Gegenteil, die Juden haben daran geglaubt, Gottes auserwähltes Volk zu sein.“ 45 5. Juden als Außenseiter Fassbinders eigene Sichtweise, seine Akzentverschiebung im Judenbild, spiegelt sich in der Zeichnung aller jüdischen Figuren in seinem Werk, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Eher wird ein ehemaliger Filmstar des Dritten Reichs als verzweifelte, leidende Kreatur dargestellt denn ein Jude, selbst Überlebende von Treblinka besitzen in ihrer Weltabgewandtheit eine würdevolle Gefasstheit. Juden verkörpern nicht vornehmlich Opfer, sondern distanzierte Beobachter oder kühle, beherrschte und rational handelnde Geschäftsleute. 46 6. Täter-Opfer-Beziehung in einer Ästhetik der radikalen Subjektivität Fassbinder, der als von seinen Eltern vernachlässigtes Scheidungskind in der schwierigen Nachkriegszeit aufwuchs, scheint insgeheim paradoxerweise voller Faszination, Bewunderung und vielleicht Neid auf die Juden geblickt zu haben, da diese selbst als Überlebende der Konzentrationslager es schafften, sich im Leben zu behaupten, während sich bei ihm die Traumatisierung durch die frühe Verwahrlosung in einem zügellosen Sexualleben, einem unmäßigen Drogenkonsum und letztlich seinem frühen Tod im Alter von nur 37 Jahren ausdrückte. So waren Juden der ferne, fast mythische Gegenpol zu allen anderen Randgruppen, deren Erfahrungen er ganz unmittelbar teilte. In seiner Ästhetik der radikalen Subjektivität war seine Art zu arbeiten für ihn eingestandenermaßen „so was wie eine Selbsttherapie“, was er tat, war immer etwas, was mit ihm selbst zu tun hatte: „fast alles, was ich mache, sind 44 Ebd., 393. 45 Ebd. 46 Vgl. K OCH , Einstellung, 250-252. Rainer Werner Fassbinder und das Judentum 351 Sachen über mich selbst.“ 47 Bei dieser künstlerischen Verfahrensweise der kompromisslosen Ichbezogenheit ist hervorzuheben, dass alle Themen und Motive, die Normen bürgerlicher Wohlanständigkeit sprengen und in die Randbereiche der Gesellschaft führen, bei ihm wie kaum einem anderen deutschen Künstler der Nachkriegszeit existentiell beglaubigt sind. Fassbinder war homosexuell, er prostituierte sich und verkehrte mit Zuhältern, er trank und konsumierte exzessiv Drogen, er nutzte Menschen, die emotional von ihm abhängig waren, aus und trieb sie in den Selbstmord. Zudem musste er miterleben, wie sein Vater durch illegale Abtreibungen seine Approbation verlor und dieser später sein Geld dadurch verdiente, dass er heruntergekommene Wohnungen an Gastarbeiter teuer vermietete, wobei er ihm zeitweise helfen musste, die Miete einzutreiben. 48 Vor diesem Hintergrund ist unschwer zu erkennen, dass seine Filme und Stücke Erfahrungen, die er selbst gemacht und durchlitten hat, verwerten. Das eindringlichste und verstörendste Beispiel für diese radikale Subjektivität im Sinne einer Selbsttherapie ist sein schon mehrfach erwähnter persönlichster Film „In einem Jahr mit dreizehn Monden“. Anstoß zu diesem Film war nicht der Wille, sich noch einmal vertieft mit der Frankfurter Unterwelt und Häuserspekulation sowie der Rolle der Juden dabei auseinanderzusetzen, sondern die existentielle Krise, in die Fassbinder der Selbstmord seines Freundes Armin Meier gestürzt hatte, da er sich daran die Schuld gab. 49 Einen Monat nach dessen Tod am 1. Mai 1978 begann er mit den Dreharbeiten. Der Transsexuelle Erwin/ Elvira, der wie Armin Meier Metzger gelernt hatte, begeht darin wie dieser, von allen verlassen, aus unerfüllter Liebe Selbstmord. Da sich im realen Leben Fassbinder für Armin Meiers Tod verantwortlich fühlt und im Film der jüdische Bordellbesitzer und Immobilienspekulant letztlich an Erwins/ Elviras Tod schuld ist, identifiziert sich Fassbinder damit mit einem eher negativ als kaltherzig gezeichneten Juden. Dieser Anton Saitz ist aber gleichzeitig selbst ein Opfer, da er das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebt hat. Fassbinder projiziert aber nicht einfach nur das eigene schuldhafte Verhalten auf die jüdische Gestalt, er identifiziert sich auch mit dem tatsächlichen Opfer in der Filmhandlung, dem Transsexuellen Erwin/ Elvira. 50 Ein mehr als deutlicher Hinweis darauf ist die Tatsache, dass Fassbinders Mutter die Ordensschwester spielt, die Erwin/ Elvira die furchtbare Geschichte seiner Kindheit erzählt. Der von seinen Eltern vernachlässigte Fassbinder, dem seiner eigenen Aussage nach „als Kind die echte Zuneigung gefehlt“ hat und der zum Homosexuellen geworden ist, lädt das Schicksal von Erwin/ Elvira mit der Spiegelung seiner Leidensgeschichte auf. 51 Es geht ihm also keineswegs darum, seine Schuld in der Fiktion einer jüdischen Figur zuzuschieben, sondern er setzt ein sehr komplexes Vexierspiel der Persönlichkeitsspaltung und der Täter-Opfer-Beziehung in Gang, bei der Fiktion und Realität 47 Fassbinder über Fassbinder, 542 und 254, Anm. 1. 48 Vgl. T RIMBORN , Fassbinder, 20-22, 33-36, 80 und 191f.; B ODEK , Fassbinder-Kontroversen, 190-192. 49 Vgl. T RIMBORN , Fassbinder, 332f.; Fassbinder über Fassbinder, 544f. 50 Vgl. B ODEK , Fassbinder-Kontroversen, 210f.; W EFELMEYER , Judendarstellungen, 552f. 51 Das Zitat in: Fassbinder über Fassbinder, 368. Helmut Gier 352 verschwimmen. Täter sind Opfer, Opfer werden zu Tätern, in den Machtmechanismen der herrschenden gesellschaftlichen Strukturen ist das Liebe suchende oder liebende Individuum immer schon verloren, selbst oder gerade in der Sphäre der Außenseiter und Minderheiten ist davon niemand ausgenommen: „Wer liebt, der hat seine Rechte verspielt.“ 52 Da eine Änderung der Verhältnisse kaum eine realistische Option zu sein scheint, resultiert daraus eine pessimistische tragische Weltsicht, in der Schuldlosigkeit und Schuldigwerden unentrinnbar miteinander verzahnt und vermengt sind. Nur die Phantasiewelt des Kinos, in die sich der junge Fassbinder selbst immer geflüchtet hatte, im Falle von „Einem Jahr mit dreizehn Monden“ eine amerikanische Filmkomödie wie „You’re Never TooYoung“ aus dem Jahre 1955, lässt für einen kurzen Moment die schmerzlichen Zusammenhänge vergessen. Bei der Wiederbegegnung von Anton Saitz mit Erwin/ Elvira läuft dieser Film im Fernsehen und dieser harte jüdische Geschäftsmann bittet auf einmal alle Anwesenden, auch Erwin/ Elvira, die schmissige Parade in einer Mädchenschule, einen der Höhepunkte des Films, nachzuspielen. Für einen Augenblick scheint damit eine glückhafte Harmonie jenseits von kreatürlichem Leiden, Liebesunglück und kaltherzigem Egoismus auf. 53 Aus den Ausführungen in diesem Beitrag dürfte deutlich geworden sein, dass sich Fassbinder wie kein anderer deutscher Filmemacher vor ihm mit dem deutschen Verhältnis zum Judentum auseinandergesetzt hat und sich mit der Rolle des Judentums sowie jüdischen Charakteren intensiv künstlerisch beschäftigt hat. Er hat dies in einer radikal subjektiven Weise, aber auch mit großem Ernst getan. Ob er dem Thema gerecht geworden ist, ob ein deutscher Künstler diesem Thema überhaupt gerecht werden kann, sei dahingestellt. Jedenfalls hat er dem Betrachter und Zuschauer einiges zugemutet, was zur kritischen Selbstbesinnung zwingt. Mehr kann Film und Literatur nicht leisten. Einem Künstler wie Fassbinder muss erlaubt sein, um abschließend ihn selbst zu zitieren, „an ein Thema, mit gefährlichen, vielleicht angreifbaren Methoden heranzugehen und nicht nur mit diesen abgesicherten, sonst entsteht wieder so etwas Totes wie alles in der deutschen Theaterlandschaft … Ich muss auf meine Wirklichkeit reagieren können, ohne Rücksicht zu nehmen. Wenn ich das nicht darf, dann darf ich gar nichts mehr machen.“ 54 Literatur A DORNO , T HEODOR W.: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: D ERS ., Gesammelte Schriften, Bd. 20,1: Vermischte Schriften I, Frankfurt am Main 1986, 361-383. 52 Kommentar des Kleinen Prinzen nach der Tötung der Prostituierten Roma B. durch den Reichen Juden. F ASSBINDER , Scheibe Brot, 90. 53 Vgl. H ERMES , Deutschland, 154. 54 F ASSBINDER , Anarchie, 84. Rainer Werner Fassbinder und das Judentum 353 A LTENDORFER , N ORBERT : Absage an jeden Milieu-Realismus. 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Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung - Das Treffen von Ignatz Bubis und Martin Walser: Vom Wegschauen als lebensrettende Maßnahme, von der Befreiung des Gewissens und den Rechten der Literatur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.12.1998, wiederabgedruckt in: F RANK S CHIRRMACHER (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte - Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999, 438-465. „Wir haben eine Leiche im Keller“, Ignatz Bubis und Daniel Cohn-Bendit über Juden in Frankfurt und den Fassbinder-Streit, in: Der Spiegel 39 (1985), H. 46, 24-27. Z WERENZ , G ERHARD : Friedmanns Geheimnis, in: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft 6 (2003), H. 13, http: / / www.sopos.org (03.12. 2013). Erzählen am Rand der dunklen Grube Jüdische Figuren bei W. G. Sebald Berndt Herrmann 1. Die Rezeption Sebalds als Holocaust-Autor In den letzten Seiten von Büchern zu blättern, dort, wo die Verlage die Werbung unterbringen, kann mitunter interessant, ja sehr aufschlussreich sein. In der Taschenbuchausgabe von W. G. Sebalds Erzählungsband „Die Ausgewanderten“ findet der Leser, neben der Präsentation der anderen Werke von Sebald, Hinweise auf Bücher von Elias und Veza Canetti, einen Roman von Valentin Senger über Wanderjuden in Deutschland, den zweiten Band der Autobiographie von Manés Sperber - und vier Seiten mit Hinweisen auf die schwarze Reihe im Fischer Taschenbuchverlag mit Bänden über jüdisches Leben auf dem Lande, das Judenpogrom 1938, das Ghetto und die Vernichtung der europäischen Juden. 1 Wenn man zum Grab von Sebald in Framingham in Norwich pilgert, dann kann es sein, dass man dort eine Reihe von Kieselsteinen findet. 2 Patrick Bahners berichtet, dass bei einer Sebald-Konferenz in England einige Teilnehmer erzählten, es gebe eine Legende, dass Sebald selbst jüdischer Herkunft gewesen sei. 3 Nun, wir wissen, dass das nicht stimmt. Dennoch zeigt diese kleine Auswahl an Beobachtungen, wie W. G. Sebald wahrgenommen wurde und immer noch wahrgenommen wird: als Autor, der sich mit jüdischen Lebensläufen beschäftigt hat, auf eine offenbar so eindringliche und empathische Weise, dass er fast als monothematischer Autor verstanden wird. Doch wie schon Ruth Klüger angemerkt hat, stimmt es nicht, dass die „Ausgewanderten“, wie es der Klappentext vermeldet, die Lebensgeschichte von vier europäischen Juden erzählen. Es handelt sich um zwei Juden und zwei Nichtjuden, oder, wie Ruth Klüger genau unterscheidet - wer schon einmal an der falschen Rampe gestanden ist, der ist da genau: um einen Vierteljuden. 4 Das Bild Sebalds als Holocaust-Autor wird noch deutlicher, wirft man einen kurzen Blick auf die Rezeptionsgeschichte vor allem im englischsprachigen Raum. Als Sebald am 14. Dezember 2001 an einem Herzinfarkt, in dessen Folge es zu einem schweren Autounfall kam, starb, galt er in Deutschland immer noch als Geheimtipp, obwohl „Austerlitz“ schon erschienen war. Im englischsprachigen Raum galt er dagegen seit einiger Zeit sogar als Kandidat für den Nobelpreis. E. L. Doctorow nennt ihn den „Meisterstrategen des modernen Romans“, 5 Susan Sontag gerät 1 Vgl. S EBALD , Die Ausgewanderten. 2 Vgl. A PEL , W. G. Sebalds Nachruhm. 3 Vgl. B AHNERS , W. G. Sebald. Magisch zieht des Dichters Grab Gedenkartikel an. 4 K LÜGER , Wanderer zwischen falschen Leben, 97. 5 D OCTOROW , Der Meisterstratege des modernen Romans. Berndt Herrmann 356 angesichts seiner Bücher ins Schwärmen und bezeichnet ihn als einen der letzten Repräsentanten literarischer Größe. 6 Aber auch von ihr wird er vor allem als Holocaust-Autor wahrgenommen. Susan Sontag berichtet zum Beispiel, die meisten Rezensenten in den USA hätten „Die Ausgewanderten“ „routinemäßig als Beispiel für Holocaust-Literatur“ bezeichnet. 7 In England schrieb man ihm, so sagte einmal der Schriftsteller Will Self, eine „gewisse moralische Überlegenheit“ zu, er war der „gute Deutsche“, er sei es gewesen, der deutsche und jüdische Identität und Geschichte in seiner Prosa wieder zusammenbrachte. 8 2. Die Leerstelle - Erzählen vom Nichterzählbaren Aber stimmt das? Ja und nein. Dass Sebald jüdische Schicksale geschildert hat, auf eine Art und Weise, die man formal und inhaltlich vorher nicht kannte, das ist wohl unbestritten. Aber war er deshalb ein Holocaust-Autor? Der Holocaust gehört eigentlich zu den merkwürdigen Leerstellen im Werk Sebalds. Er findet nicht statt, oder kaum oder nur am Rande - oder in anderen Zusammenhängen. Der Nationalsozialismus, zumindest das nationalsozialistische Deutschland, der Alltag im Dritten Reich, der Name Adolf Hitler - von alledem gibt es allenfalls Spuren, diskrete, zurückhaltende Hinweise. Über das Schicksal von Helen Hollaender beispielsweise, der Freundin von Paul Bereyter in der gleichnamigen Erzählung, heißt es: „Nach dem, was sie selbst in Erfahrung habe bringen können, bestünde aber wenig Zweifel daran, dass sie zusammen mit ihrer Mutter deportiert worden sei in einem dieser noch vor dem Morgengrauen von den Wiener Bahnhöfen abgehenden Sonderzüge, wahrscheinlich zunächst nach Theresienstadt.“ 9 Mehr als in diesem für Sebalds Prosa so bezeichnend vorsichtig-umständlichen Satz erfährt man nicht. Theresienstadt ist übrigens (fast) das einzige KZ, das bei Sebald Erwähnung findet, das einzige, das überhaupt benannt wird, ausführlich natürlich in „Austerlitz“, aber Theresienstadt war kein Vernichtungslager. Der Satz zeigt aber, wie Sebald arbeitet, wie er offenbar wollte, dass man ihn liest. Das wichtigste Wort in diesem Satz ist nicht „Sonderzug“ oder „Theresienstadt“, das wichtigste Wort ist „zunächst“. Wo es ein Zunächst gibt, dort gibt es auch ein „Dann“ oder ein „Danach“ oder ein „Später“ - und jeder Leser weiß, was dieses „Danach“ bedeutet, ohne dass es explizit beschrieben werden muss. Eine ähnliche Szene lesen wir in der Erzählung „Max Aurach“. Dort heißt es über Aufzeichnungen, die die Mutter der Hauptfigur in der Zeit zwischen 1939 und 6 S ONTAG , Ein trauernder Geist, 63. 7 Ebd., 68. Zur Wahrnehmung Sebalds als Holocaust-Autor vgl. auch B ANKI , Ähnlichkeiten, 349-350. 8 A PEL , W. G. Sebalds Nachruhm. Vgl. zur anglo-amerikanischen Rezeption auch den Aufsatz von D ENHAM , Die englischsprachige Sebald-Rezeption. Lt. Denham waren die Verkaufszahlen des Gesamtwerks in den USA im Jahr 2002 etwa doppelt so hoch wie die deutschen. 9 S EBALD , Die Ausgewanderten, 73. Erzählen am Rand der dunklen Grube 357 1941 in München machte: „Bis auf die gelegentlichen Andeutungen der ausweglosen Lage, in der sie sich mit dem Vater befand, widmete die Mutter dem Tagesgeschehen keine Zeile“. 10 Auch hier die Leere im Zentrum, das Nichtbenennen von Bedrohung und Gefahr. Es sind bewusste Aussparungen, mit denen Sebald die Leser irritiert und ihre Aufmerksamkeit gerade dadurch auf das Thema lenkt. Ähnlich funktioniert im Übrigen das bewusste Umkreisen des Wortes „Auschwitz“ in „Austerlitz“, wo von einem Besuch in Marienbad und von den Auschowitzer Quellen die Rede ist. Später liest man von dicken Männern, die das Bad bevölkern, und gleichzeitig von anderen Gästen, „die, bleich und etwas vergilbt schon, tief in sich gekehrt über die gewundenen Pfade vom Brunnentempel zum nächsten wandeln“. 11 Was sich auf den ersten Blick vielleicht harmlos-humoristisch liest, ist eine der Szenen, in denen die Lager und der Holocaust bei Sebald eben doch vorkommen: als Ahnung, als Vision, als Assoziation, als metaphorisches Bild. So beschreibt der Erzähler in „Max Aurach“ ein Luftbild und das Judenviertel von Manchester, so dass der Leser an ein Arbeitslager oder ein KZ denkt. 12 Jacques Austerlitz wiederum entdeckt in seiner walisischen Kinderbibel - er wächst zunächst bei einem Predigerpaar auf - ein Bild vom Auszug aus Ägypten, auf dem ein Lager des jüdischen Volkes in der Wüste zu sehen ist. Sebald beschreibt das so: „Tatsächlich, sagte Austerlitz bei einer späteren Gelegenheit, als er die walisische Kinderbibel vor mir aufschlug, wusste ich mich unter den winzigen Figuren, die das Lager bevölkern, an meinem richtigen Ort. Jeden Quadratzoll der gerade in ihrer Vertrautheit mir unheimlich erscheinenden Abbildung habe ich erforscht. In einer etwas helleren Fläche an der steil abstürzenden Bergseite zur Rechten glaubte ich, einen Steinbruch zu erkennen und in den gleichmäßig geschwungenen Linien darunter die Geleise einer Bahn. Am meisten aber gab mir der umzäunte Platz in der Mitte zu denken und der zeltartige Bau am hinteren Ende, über dem sich eine weiße Rauchwolke erhebt. Was damals auch in mir vorgegangen sein mag, das Lager der Hebräer war mir näher als das mir jeden Tag unbegreiflicher werdende Leben in Bala, so wenigstens, sagte Austerlitz, dünkt es mich heute.“ 13 Was Austerlitz in dem Bild sieht, ist ein Arbeits- und Vernichtungslager, und später wird er wissen, dass seine Eltern in einem solchen Lager umgebracht wurden - wobei seine Mutter „zunächst“ nach Theresienstadt deportiert worden war. Ein weiteres Beispiel für dieses literarische Verfahren: Im dritten Teil von „Die Ringe des Saturn“ sieht der Erzähler ebenfalls eine Zeltstadt (diesmal sind es Angler am Strand), die ihn an das Volk Israel erinnert. Darauf nun folgt eine seitenlange Beschreibung der Geschichte des Heringsfangs, der Geschichte einer massenhaften Vernichtung. Auch diese Geschichte wird als Holocaust-Analogie beschrieben, etwa der Transport in Eisenbahnwaggons oder die versuchte Verwertung des Herings für 10 Ebd., 288. 11 S EBALD , Austerlitz, 300. 12 D ERS ., Die Ausgewanderten, 232. 13 D ERS ., Austerlitz, 81-84. Berndt Herrmann 358 Lampen. 14 Diese Beschreibung ist erneut nur indirekt, auch hier gibt es die Leerstelle und das Schweigen im Zentrum. Holocaust und Massenvernichtung treffen sich für Sebald in dem, was er einmal als „Naturgeschichte der Zerstörung“ bezeichnet hat. Sebald selbst sagte in einem Gespräch einmal, es gehe ihm um die „Beschreibung der Aberration einer Species“. 15 Ein heikler Punkt, der hier nur angedeutet werden soll, weil er einer eigenen, gründlichen Beschäftigung bedarf. Sebald widerspricht der These von der Singularität des Holocaust. In eben jenem Interview sagte er: „Ich sehe die von Deutschland angerichtete Katastrophe, grauenvoll wie sie war, durchaus nicht als Unikum an - sie hat sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit herausentwickelt aus der europäischen Geschichte und sich dann, aus diesem Grunde auch, hineingefressen in die europäische Geschichte.“ 16 Sebald positioniert sich mit dieser Äußerung auf der Seite von Ernst Nolte und seinen Unterstützern im Historikerstreit, der heftigen Debatte um die Singularität des Holocaust und der Frage, ob die Vernichtungspolitik als Reaktion auf den Bolschewismus zu verstehen ist. Noch deutlicher wird diese Interpretation der Geschichte in dem höchst umstrittenen Essay „Luftkrieg und Literatur“, in dem er das Flächenbombardement von deutschen Städten durch die Alliierten eine „in der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion“ 17 nennt. Nun ist Sebald jeder Form von Revisionismus, Relativierung oder sonstiger Aufrechnungsambitionen unverdächtig. Problematisch ist eine solche Wertung aber allemal. Dass sie vor allem in den USA auf Widerspruch stieß, 18 , galt er doch vor allem dort als Holocaust- Autor, ist verständlich, dass sie an seinem Rang aber nichts änderte, spricht für die Anerkennung seiner moralischen Integrität. Verstehen kann man diese für viele Sebald-Leser überraschende Position, wenn man sich mit dem melancholischen, zutiefst pessimistischen Geschichtsbild des Autors beschäftigt. Geschichte ist für Sebald die Geschichte von Katastrophen und Zerstörung. 19 Hier stellt sich zwangsläufig die Frage, wie ein so düsteres und negatives Weltbild zum Moralisten passt. Oder ist der Pessimismus die Voraussetzung für die Moralität? Schließlich ist Melancholie auch die Einsicht in die Vergeblichkeit allen Tuns und das gleichzeitige Festhalten am Dennoch. 14 Vgl. S EBALD , Die Ringe des Saturn. Zur Holocaust-Analogie des dritten Kapitels vgl. auch S CHÜTTE , W. G. Sebald, 137-143. 15 P RALLE , Strandspaten, 259. Dabei handelt es sich um das letzte große Interview mit Sebald vor seinem Tod. Es erschien posthum in der Süddeutschen Zeitung am 22./ 23. Dezember 2001, wenige Tage nach dem tödlichen Unfall. 16 Ebd. 17 S EBALD , Luftkrieg und Literatur, 11. 18 Vgl. D ENHAM , Die englischsprachige Sebald-Rezeption, 265. 19 Vgl. S CHÜTTE , W. G. Sebald, 13, sowie S CHULTE , W. G. Sebalds Thesen zu „Luftkrieg und Literatur“, 91-93. Erzählen am Rand der dunklen Grube 359 3. Das Versagen der Literatur und die andere Erinnerung Was heißt das bisher ausgeführte aber für die Frage nach der Darstellung jüdischer Figuren bei W. G. Sebald, für die Frage, ob er ein Holocaust-Autor war? Er war es, aber auf eine andere Art und Weise, als sie bis dahin bekannt war; und Sebald wollte genau das: sich von der Beschäftigung mit der NS-Zeit und der Vernichtungspolitik, von der „Vergangenheitsbewältigung“ und der Erinnerungspolitik, die er kennengelernt hatte, abheben. Ihm geht es um das Schweigen, Vergessen, Verräumen, das im wahrsten Sinne „Zubauen“ der Vergangenheit. Die wenigen Male, die Figuren in seinen Texten in das Nachkriegsdeutschland kommen, sind sie entsetzt über das völlige Verschwinden der Vergangenheit. Als Jacques Austerlitz die Zugreise durch Deutschland wiederholt, die er als Vierjähriger gemacht hat, als er von seinen Eltern von Prag nach England geschickt worden war, steigt er in Nürnberg aus und betritt zum ersten Mal wieder deutschen Boden. Er geht durch die Stadt und erkennt nirgends, weder an den Menschen, noch an den Gebäuden, „eine krumme Linie erkennen konnte oder sonst eine Spur der vergangenen Zeit.“ 20 Ähnlich ergeht es dem Erzähler in „Max Aurach“, als er nach Bad Kissingen fährt, um die Spuren der Lebensgeschichte des Malers zu verfolgen und die Synagoge aufzusuchen. Aber an ihrer Stelle findet er einen Zweckbau aus den 1950er oder 1960er Jahren, der das Arbeitsamt („Arbeit macht frei“) beherbergt. Vom jüdischen Friedhof weiß niemand etwas, und als er endlich einen Beamten findet, der ihm zwei Schlüssel für den Friedhof aushändigt, muss er dort feststellen, dass sie nicht passen, und er klettert über die Mauer. 21 Um zu der weggesperrten Vergangenheit vorzudringen, muss man Hindernisse überwinden. Das tut Sebald in seinen Büchern. Die Vehemenz, mit der er die Verdrängung der Vergangenheit thematisiert, ist ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher ist das scharfe Urteil, das er über (fast) die ganze deutsche Nachkriegsliteratur fällt. Wieder lässt Sebald seine Leser stolpern: Waren es nicht die Intellektuellen und Schriftsteller, die die Beschäftigung mit der Geschichte geleistet und geradezu provoziert haben? Waren es nicht Böll und Grass und Lenz und all die anderen, die die Deutschen zwangen, auf die Jahre des Nationalsozialismus zu blicken, die das Wegsehen nicht mehr zulassen wollten? Nein, meint Sebald, die Literatur habe hier versagt, beim Blick auf die Nazis und ihre Opfer, aber auch beim Blick auf die Opfer in der deutschen Bevölkerung. Die Literatur sei letztlich auf dem selben Ohr taub und auf dem selben Auge blind gewesen, wie die Gesellschaft. Die Literatur habe Schuld und Opfer ausgeblendet und so zur Legitimation der neuen, gerade entstehenden Gesellschaft beigetragen. „Entgegen der allgemeinen Annahme wurde das zeitgenössische Überlieferungsdefizit auch von der seit 1947 bewußt sich rekonstituierenden Nachkriegsliteratur, von der man einigen Aufschluß über die wahre Lage hätte erwarten dürfen, nicht ausgeglichen“, schreibt Sebald in „Luftkrieg und Literatur“. 22 Der deutschen Literatur gesteht Se- 20 S EBALD , Austerlitz, 318. 21 D ERS ., Die Ausgewanderten, 331-334. 22 D ERS ., Luftkrieg und Literatur, 17. Berndt Herrmann 360 bald erst in den 60er Jahren eine Entwicklung zu, die dieses moralische Defizit überwindet. 23 Ein Defizit, das sich in der Ästhetik widerspiegelt. Ethik und Ästhetik, Moral und Stil, sie gehören für Sebald untrennbar zusammen, und daher rührt auch sein Kitschvorwurf an einen Großteil der Nachkriegsliteratur und die ätzende Kritik an Alfred Andersch 24 oder Peter de Mendelssohn. 25 Nur einige Bücher von Hans Nossack und Peter Weiß bleiben übrig, Heinrich Bölls Frankfurter Poetik-Vorlesungen und sein früher, aber erst spät veröffentlichter Roman „Der Engel schwieg“, oder Wolfgang Hildesheimers „Tynset“. Wobei auch die spätere Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und der Judenvernichtung, die so etwas wie die Hauptthemen der deutschen Literatur nach 1960 werden, für Sebald nur das Gegenstück zur vorherigen Verweigerung ist. Er glaubt, dass „die Betriebsamkeit, mit der die Literatur ,Auschwitz' jetzt als ihr Territorium reklamierte, in mancher Hinsicht nicht weniger widerwärtig war als die ihr vorausgehende Weigerung“. 26 Die Literatur habe dem Wiederaufbau sekundiert, der einer „zweiten Liquidierung der eigenen Vorgeschichte“ 27 gleichkam, und dieser Wiederaufbau „unterband durch die geforderte Arbeitsleistung sowohl als durch die Schaffung einer neuen, gesichtslosen Wirklichkeit von vornherein jegliche Rückerinnerung, richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und verpflichtete sie zum Schweigen über das, was ihr widerfahren war.“ 28 Der Betriebsamkeit des Wiederaufbaus wie der Betriebsamkeit, mit der die Literatur das Thema Auschwitz besetzte, beidem verweigert sich Sebald und kritisierte sie radikal. 4. Das Schreiben des Trotzdem Warum aber diese Schärfe des Urteils? Nun, weil es mit ihm, weil es mit Sebald zu tun hat. Der 1944 Geborene hat die Nachkriegszeit und das Schweigen miterlebt, und er weiß, dass die Vergangenheit nicht weit weg, sondern Teil der Gegenwart ist, er weiß, dass die Toten nicht tot sind. „Sie kehren wieder, die Toten“, lautet der Schlusssatz der Erzählung der „Dr. Henry Selwyn“, 29 und tatsächlich tauchen bei Sebald immer wieder Gespenstererscheinungen, Wiedergänger, Scheintote, ja ganze Geisterzüge auf. 30 In seiner Geschichtsphilosophie sind Vergangenheit und Gegenwart, Zeit und Raum eine Art Kontinuum, in dem wir leben, und so hat die Vergangenheit eben immer auch mit der Gegenwart zu tun. Einen Schlussstrich gibt es 23 Vgl. ebd., 65, sowie S EBALD , Mit den Augen des Nachtvogels, 149. 24 Vgl. S EBALD , „Der Schriftsteller Alfred Andersch“, veröffentlicht in dem Band „Luftkrieg und Literatur“. 25 Vgl. D ERS ., Luftkrieg und Literatur, 59-63. 26 D ERS ., Mit den Augen des Nachtvogels, 150. 27 D ERS ., Luftkrieg und Literatur, 16. 28 Ebd. 29 D ERS ., Die Ausgewanderten, 36. 30 Vgl. zum Beispiel das „Spiegelerlebnis“ des Erzählers in „All’estero“ in S EBALD , Schwindel. Gefühle, 103. Erzählen am Rand der dunklen Grube 361 ebenso wenig wie die Gnade der späten Geburt. In „Luftkrieg und Literatur“ schreibt Sebald über dieses Geschichtsverständnis und den autobiografischen Impuls seiner Texte: „Ich habe meine Kindheit und Jugend in einer von den unmittelbaren Auswirkungen der sogenannten Kampfhandlungen weitgehend verschont gebliebenen Gegend am Nordrand der Alpen verbracht. Bei Kriegsende war ich gerade ein Jahr alt und kann also schwerlich auf realen Ereignissen beruhende Eindrücke aus jener Zeit der Zerstörung bewahrt haben. Dennoch ist mir bis heute, wenn ich Photographien oder dokumentarische Filme aus dem Krieg sehe, als stammte ich, sozusagen, von ihm ab und als fiele von dorther, von diesen von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich, unter dem ich nie ganz herausgekommen bin.“ 31 Sebald schreibt im Grunde immer unter diesem Schatten, und man kann sogar relativ genau den Punkt festmachen, wann unter diesem Schatten der Vergangenheit die literarische Beschäftigung ihren Ursprung hat, wann der Impuls zum Schreiben gesetzt wurde. Es ist ein Fotoalbum des Vaters, das Sebald Anfang der 1980er Jahre in die Hände bekommt. Zu sehen sind unter anderem Aufnahmen aus dem Krieg, zum Beispiel das Bild einer internierten Zigeunerin, das auch in „Schwindel. Gefühle“ abgebildet ist. Hier beschreibt der Erzähler auch den Album- Fund. Sebalds Vater Soldat, wenn auch kein Nazi, nie Mitglied der NSDAP, doch wohl ein typischer Mitläufer, später diente er sich in der Bundeswehr bis zum Oberstleutnant hoch und engagierte sich als Pensionär für die SPD in der Kommunalpolitik. Eine Biografie wie viele, die aber Fragen offen lässt. Fragen, die im Wertach der Nachkriegszeit nicht gestellt wurden, Fragen, die nicht beantwortet wurden. Für Sebald wird das Foto-Album zusammen mit der Nachricht, dass sein Volksschullehrer Armin Müller, den der Leser später als Paul Bereyter kennenlernen wird, Selbstmord verübt hat und der Begegnung mit dem Werk Jean Amérys zur Keimzelle des eigenen literarischen Werks. 32 Bei Sebald entstand das Gefühl, so Will Self, unter stillschweigenden Komplizen groß geworden zu sein 33 ; und der Sorge, selbst Komplize zu werden, entspringt das Werk Sebalds. Self beschreibt diesen Vorgang als das „aufkeimende Misstrauen der passiv-kollaborierenden Herkunft in eine aktive Literatur der Schuld und Sühne zu verwandeln.“ 34 Von dort, von dieser autobiografischen Erfahrung, vom Schweigen der Nachkriegszeit über eine Vergangenheit, mit der er sich selbst verbunden fühlte, führt der Weg also zum Holocaust-Autor Sebald, der durch die Leerstellen in den Texten, durch das Schweigen in seinen Büchern, durch Metaphern und sprachliche Bilder und Analogien die einzig mögliche Sprache findet, um das Grauen zu schildern. Sebald maßt sich nicht an, über jüdische Schicksale zu schreiben, er maßt sich nicht an, sich mit ihnen zu identifizieren, er schreibt vielmehr in dem Bewusstsein, dass die Erfahrungen des Leids, der Verfolgung, der Diskriminierung, der drohenden und realen Vernichtung nicht teilbar sind, er weiß, dass nicht auszugleichen ist, was 31 S EBALD , Luftkrieg und Literatur, 77f. 32 Zur Biographie des Vaters und zum Album-Fund vgl. S CHÜTTE , W. G. Sebald, 18f., 27; A NDERSON , Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind. 33 A PEL , W. G. Sebalds Nachruhm. 34 Ebd. Berndt Herrmann 362 dem Opfer widerfuhr, und gleichzeitig hat er bei Jean Améry gelernt, dass es nur die Sprachlosigkeit ist, die dem Schrecken angemessen ist. 35 Aber so wie Amérys, ist auch Sebalds Schreiben ein Schreiben im Wissen um die Unmöglichkeit einer adäquaten Darstellung des Unsagbaren, es ist ein Schreiben des Trotzdem. In diesem Widerspruch schreibt er über jüdische Figuren und jüdische Schicksale. 5. Lauter Jüdische Figuren - ein Paradigma der Moderne Was die Figuren und die Geschichten Sebalds vereint, ist aber etwas, was über jüdische Schicksale und den Holocaust hinausgeht. Was dem Schreiben Sebalds eigentlich zu Grunde liegt - und damit wertet man die Bedeutung des Holocaust nicht ab, relativiert oder verharmlost ihn gar -, was den Büchern Sebalds und seinem Interesse an jüdischen Schicksalen eigentlich zu Grunde liegt, ist das Exemplarische. Ruth Klüger beschreibt diesen Grundzug so: „Jüdisches Schicksal beschäftigt ihn oft, denn es ist für Sebald nicht Ausnahme, sondern paradigmatisch für den modernen Menschen.“ 36 In der Tat: Was die Figuren Sebalds, die jüdischen wie nichtjüdischen, vereint, sind der Heimatverlust und die Heimatlosigkeit, das Herumwandern in der Welt, die Unruhe, die auch eine existenzielle Unruhe ist; sie eint die Flucht, die Vertreibung, die Erfahrung von Exil und Emigration, von Sprachverlust, die Erfahrung der dauernden Diaspora und des ewigen Ausgeschlossenseins, des bleibenden Außenseitertums; sie alle kennen das Provisorische der exterritorialen Existenz. Daher rührt im Übrigen auch die intensive Beschäftigung Sebalds mit der österreichischen Literatur. In der Einleitung zu seinen Essays über die österreichische Literatur, die unter dem bezeichnenden Titel „Unheimliche Heimat“ erschienen ist, schreibt er, die wichtigsten Themenbereiche dieser Literatur ließen sich mit den Begriffen „Heimat, Provinz, Grenzland, Ausland, Fremde und Exil“ 37 umschreiben, und selbst Autoren, auf die das auf den ersten Blick nicht zuträfe, wie Adalbert Stifter oder Thomas Bernhard, seien doch „potentielle Heimatlose und Exilanten“. 38 Dieser Existenzmodus trifft auf fast alle Sebald-Figuren zu, und insofern sind sie alle „jüdische“ Figuren. Das gilt sowohl für das Personal in den fiktionalen Texten, als auch für die Autoren, über die er schreibt 39 , sowie für die Figuren, die ich Figuren dritter Ordnung nennen möchte: Figuren aus Texten anderer Autoren, die bei Sebald - mitunter leitmotivisch - auftauchen, etwa der Jäger Gracchus aus Franz Kafkas gleichnamiger Erzählung, auch er eine Variation des ewigen Juden. Figuren 3. Ordnung sind aber auch Schriftsteller, die in Sebalds Werk semifiktional als Figuren auftauchen wie Franz Kafka in „Dr. K.s Badereise nach Riva“ oder Vladimir 35 S EBALD , Mit den Augen des Nachtvogels, 151. 36 K LÜGER , Wanderer zwischen falschen Leben, 97. 37 S EBALD , Unheimliche Heimat, 11. 38 Ebd, 15. 39 Die österreichischen Autoren, über die Sebald schreibt, sind zum Großteil jüdische Autoren, zum Beispiel Arthur Schnitzler, Hermann Broch, Joseph Roth oder Jean Améry. Erzählen am Rand der dunklen Grube 363 Nabokov in „Die Ausgewanderten“. Aber im Grunde müsste man von vier Ordnungen sprechen, denn die Erzähler, die alle mehr oder weniger deutliche autobiografische Züge tragen, gehören wie Sebald selbst zu den Emigranten, Reisenden, jenen, die immer auf der Suche nach einem Ort in der Welt sind. Wie sehr diese Figuren in Sebald selbst und seiner schriftstellerischen Tätigkeit angelegt sind, zeigt folgende Beschreibung: Wir lernen eine Figur kennen, die still in einem Raum verharrt, die am Ende einer langen Flucht scheint, die keinen Ausweg sieht, der von der Wirklichkeit offenbar jeder Begriff fehlt. Sie ist fremd und ohne Gesellschaft - auch diese Figur ist eine paradigmatische Sebald-Figur: Es ist Peter Handkes „Kaspar“. Sebald hat über das Stück einen Essay geschrieben, eine seiner frühesten literaturwissenschaftlichen Arbeiten. 40 Alle diese Figuren sind gekennzeichnet durch einen Verlust: von Heimat, von Sprache, von Identität, von einem Ort, zu dem sie gehören. Sie suchen, sie sind unterwegs, aber Sebald lässt eigentlich in keiner einzigen seiner Geschichten die Hoffnung aufkommen, dass die Figuren finden werden, was sie suchen, dass dieses Reisen, dieses Unterwegssein irgendein Ziel haben könnte, dass sie an einen Ort kommen könnten, der nicht transitorisch wäre. Sebald erzählt keine Migrations- und Integrationsgeschichten, Sebald erzählt Geschichten vom unwiederbringlichen Verlust. Einen seiner schönsten Essays widmet Sebald Joseph Roth. Die Heimat, die Roth ja zunächst freiwillig verlassen habe, sei ihm später, so Sebald, zum „Sinnbild […] für all die nie wieder gutzumachenden Verlustgeschäfte geworden, aus denen das Leben besteht“. 41 Es ist erneut also eine paradigmatische Erfahrung, eine paradigmatische Figur, die Sebald in seiner Roth-Lektüre findet. Roths Verlusterfahrung geht über den „normalen“ Heimatverlust hinaus. Er hatte nicht nur eine Heimat verlassen, in die - zumindest theoretisch - eine Rückkehr möglich gewesen wäre, seine Heimat, seine ganze Welt, die Welt des Habsburger Reichs, gab es einfach nicht mehr. Verloren, wie die Kindheit, in die es auch kein Zurück mehr geben kann. Waren die Orte auch noch vorhanden, so war die geistig-moralisch-kulturelle Überformung, das, um ein Wort Martin Walsers zu verwenden, „Heimatgefühl“, das Roth mit der untergegangenen Welt verband, verloren. Was ihm blieb, war die literarische Beschwörung dieser Welt, die „symbolische Errettung“ 42 , wie Sebald es genannt hat, in der Literatur - freilich in dem Bewusstsein, dass sie für immer und ewig verloren war. Heimat wird für Roth zum Nirgendwo, zur Utopie. Sebald hat die Verwandtschaften seines literarischen Projekts mit dem Roths genau erkannt. Auch er beschwört untergegangene Welten in dem Bewusstsein der Vergeblichkeit, die ein Grund der Melancholie ist. Eine andere Verlustgeschichte erfährt und gestaltet Sebald in der Beschäftigung mit Jean Amery. Dabei erfährt er zum ersten Mal die Radikalität und Verstörung der Opfer, für die es keinen Trost, keinen Ausgleich und erst recht keine „Bewältigung“ geben kann, genauso wenig, wie Roth Kakanien wiederfinden wird. „Es ge- 40 Vgl. S EBALD , Fremdheit, Integration und Krise, 57. 41 D ERS ., Ein Kaddisch für Österreich - Joseph Roth, 104. 42 Ebd., 107. Berndt Herrmann 364 hört zu den psychischen und sozialen Befindlichkeiten des Opfers, daß nicht auszugleichen ist, was ihm widerfuhr.“ 43 In der Folge und dem Versuch, sich dem Erlebten literarisch zu nähern - was in diesem Fall nur offen, essayistisch geschehen kann -, kommt Amery zu der Erkenntnis, dass die Folter die Essenz der totalen Herrschaft ist. 44 Bei Jean Améry lernt Sebald, dass alle Einschränkungen und Relativierungen, dass das Gerede über die vermeintlich guten oder nicht so schlechten Seiten des Nationalsozialismus, dass alle die Versuche der Aufrechnung und der Rationalisierung unmöglich sind. Und das Vergessen zum größtmöglichen Skandal. Die Radikalität von Sebalds Kritik an der Nachkriegsgesellschaft und den größten Teilen der Nachkriegsliteratur ist wahrscheinlich ohne die Améry-Lektüre nicht denkbar: „Und so ist Améry auch der Einzige geblieben, der die Obszönität einer psychisch und sozial deformierten Sozietät denunziert hat und den Skandal, daß Geschichte, als sei das alles nicht gewesen, so gut wie störungsfrei ihren weiteren Verlauf nehmen konnte.“ 45 Angesichts der Bedeutung, die Améry für Sebalds Interpretation der Nachkriegsgeschichte und ihrer literarischen Aufarbeitung hat, ist die Infragestellung der Singularität des Holocaust umso irritierender. Denn gerade die ist für Améry unbestritten. 46 Noch etwas anderes erfährt Sebald bei Améry: Die besondere Bedeutung, die Exil und Heimatverlust für Menschen aus der Provinz haben - etwas, was Sebald, Améry und Roth verbindet. So verweist Sebald darauf, dass Améry und seine radikalen Positionen nur versteht, wer begreift, dass das Exil für ihn eine ganz besondere Bedeutung hatte: „Vorarlberg, wo die Familie Mayer seit Generationen ansässig gewesen war, und das Salzkammergut, wo Améry aufwuchs, lieferte eine qualitativ andere Textur für den Hintergrund von Emigration und Exil als beispielsweise Berlin und Wien.“ 47 Für Menschen mit dieser besonderen Heimatbindung fällt in der Tat die Zerstörung der Heimat zusammen mit der Zerstörung der Person. 48 Jene Zerstörung der Person, die Améry schließlich an sich selbst vollzog. Die Verlusterfahrung und die Geschichte Max Aurachs ist wiederum der von Jacques Austerlitz sehr ähnlich. Aurach wurde von seinen Eltern im Jahr 1939 mit 15 Jahren nach England geschickt. Seine Eltern, so die nun schon bekannte lakonisch, fast verstummende Beschreibung, „seien im November 1941 mit einem der ersten Deportationszüge aus München nach Riga geschickt und in der dortigen Gegend ermordet worden.“ 49 Der Erzähler trifft auf Aurach bei einem seiner Streifzüge durch Manchester und findet ihn in dessen Atelier, einer alten Fabrikhalle, aus der sich Aurach 40 Jahre lang praktisch nicht herausbewegt. Er arbeitet dort, indem er seine Bilder mit Kohle und Farbe auf die Leinwand oder auf dickes, lederartiges Papier in dicken Schichten aufträgt und immer wieder abkratzt, so dass sich am 43 D ERS ., Mit den Augen des Nachtvogels, 151. 44 Ebd., 157. 45 Ebd., 157f. 46 Vgl. ebd., 152. 47 Ebd., 162. 48 Ebd., 164. 49 D ERS ., Die Ausgewanderten, 266. Erzählen am Rand der dunklen Grube 365 Boden eine dicke Farb- und Staubschicht bildet, die er als sein eigentliches Werk betrachtet. Eines seiner Bilder hat den Anschein, „als sei es hervorgegangen aus einer langen Ahnenreihe grauer, eingeäscherter, in dem zerschundenen Papier nach wie vor herumgeisternder Gesichter.“ 50 Für Aurach gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, sein Leben ist „bis in die äußerste Verzweigung hinein bestimmt gewesen von der Verschleppung“ 51 und der späteren Ermordung seiner Eltern. Er lebt wie Sebald unter dem Schatten einer Vergangenheit, die er selbst nicht erlebt hat, die sein Leben aber bestimmt. Aurachs Rückzug ist der Versuch, sich zu immunisieren gegen das Leid, alles, was an seine Herkunft und das Schicksal seiner Familie erinnert, zu verdrängen - in seinen Bildern tritt es aber hervor. Der Vergangenheit zu entkommen gelingt ihm ebenso wenig wie Jean Amery. Im Gegenteil: Er scheint sein Leben trotz allem als Wiederholung eingerichtet zu haben: Dem Erzähler übergibt er Aufzeichnungen seiner Mutter, der reist der Geschichte der Familie nach, und bei dieser Rekonstruktionsarbeit erscheinen Bilder von Litzmannstadt, dem Ghetto von Lodz, dem polnischen Manchester, 52 wie der Leser erfährt. Nochmals radikalisiert wird die Dialektik von Verdrängung und Wiederholung der Vergangenheit in „Austerlitz“. Die Geschichte dieses Jacques Austerlitz, jüdischtschechischer Herkunft, hat viel Ähnlichkeit mit der Max Aurachs. Austerlitz wird von seinen Eltern nach England geschickt, wo er bei einem walisischen Predigerehepaar aufwächst und erst kurz vor Ende seiner Schulzeit seinen richtigen Namen, nicht aber seine Herkunft erfährt. Austerlitz lebt also mit einer mehrfach gebrochenen Identität. Sein Leben besteht nun in einem unheilvollen, ambivalenten Wechsel zwischen der Vermeidung von allem, was ihn an seine geheime Geschichte erinnern könnte - er agiert im Grunde wie das kollektive Nachkriegsdeutschland - und der unbewussten Beschäftigung mit der Vergangenheit und dem Leben unter ihrem Schatten. So interessiert er sich als Architekturhistoriker besonders für Festungsbauten, bis er, als er sich endlich auf die Suche nach seiner wahren Herkunft begibt, erfährt, dass seine Mutter in Theresienstadt war - eben einer jener sternförmigen Festungsbauten, mit denen er sich intensiv beschäftigt hat. Die Traumatisierung durch die zunächst nur erahnte, später entdeckte eigene Geschichte geht bei Austerlitz so weit, wie bei keinem anderen sebaldschen Helden. Stärker als andere schützt er sich durch die völlige Verweigerung der Erinnerung, eine Weigerung, die bei ihm schließlich zu einem zeitweiligen völligen Verlust der Sprache führt. 53 Aber er empfindet auch die Kontinuität der Geschichte, die Nichtexistenz der Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, beziehungsweise das Vorhandensein von Verbindungsräumen zwischen Gegenwart und Vergangenheit 54 stärker - und in diesen 50 Ebd., 240. 51 Ebd., 285. 52 Ebd., 352. 53 Vgl. D ERS ., Austerlitz, 202. 54 „Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können, und je länger ich es bedenke, desto mehr kommt mir Berndt Herrmann 366 Zwischenräumen droht er verloren zu gehen, bis hin zur Auslöschung der eigenen Existenz. Austerlitz lebt in dem Gefühl, nicht vorhanden zu sein, keine Wirklichkeit zu haben. 55 Tatsächlich verschwindet er aus dem Blick des Erzählers und des Lesers in eine völlig ungewisse Zukunft. Wahrscheinlich ist, dass er - wie viele seiner Vorgänger in den Büchern Sebalds - in einer Nervenheilanstalt endet oder Selbstmord begeht. 6. Unmögliche Leben: Menschen ohne Ort Die Figuren in Sebalds Büchern leben ein eigentlich unmögliches Leben. Um das Unmögliche eben doch - und sei es nur zeitweise - möglich zu machen, entwickeln sie Strategien. Diese Menschen ohne Ort sind mobile Menschen. Freilich nicht in unserem Sinne mobil, wie es in der Berufswelt des 21. Jahrhunderts gefordert und angeblich unabdingbar ist -, sie sind unfreiwillig mobile Menschen. Sie suchen sich Rückzugs- und Schutzorte, Festungen gegen die Welt draußen und ihre Zumutungen, statische Orte, ganz besondere Exile, die auch etwas von einem Gefängnis haben. Ein solcher Ort ist beispielsweise das Atelier von Max Aurach, das er kaum verlässt, und wenn, dann lebt er in einem Hotel - auch ein für Sebald wichtiger, transitorischer Ort. Dr. Henry Seldwyn, der aus einem litauischen Dorf stammt und eigentlich Hersch Seweryn heißt, 56 verlässt seinen Garten so gut wie nie, dort hält er sich in einer kleinen, wie eine Festung wirkenden Einsiedelei auf. 57 Austerlitz' Büro ist eine ebensolche Festung, eine Festung, nur bestehen ihre Mauern aus Papier, aus Manuskripten, Büchern und Plänen. 58 Die Welt soll auch hier nicht eindringen. Eine ähnliche Funktion erfüllen auch die Bibliotheken, die bei Sebald so oft auftauchen. 59 Sie sind Rückzugsräume, gleichzeitig aber auch Orte, in denen sich das unauflösliche Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit manifestiert. Ambros Adelwarth geht am Ende seines Lebens freiwillig in eine Nervenheilanstalt, wo er sich so lange mit Elektroschocks behandeln lässt, bis sein Gedächtnis ausgelöscht ist. Er folgt damit seinem Herrn, Freund und Liebhaber Cosmo, dessen Vater wiederum die letzten Jahre seines Lebens völlig zurückgezogen in einem Gewächshaus verbringt - seine Mauern bestehen aus Blumen. Der Dichter Ernst Herbeck, eine der Figuren dritter und vierter Ordnung, mit denen sich Sebald immer wieder auseinandersetzt, verbringt praktisch sein gesamtes Leben in einer Nervenheilanstalt. Vladimir Nabokov, ebenfalls eine solche Figur, hält sich die letzten Jahre seines Lebens fast nur im Hotel auf. In „Die Ringe des Saturn“ wird die Geschichte des vor, daß wir, die wir uns noch am Leben befinden, in den Augen der Toten irreale und nur manchmal, unter bestimmten Lichtverhältnissen und atmosphärischen Bedingungen sichtbar werdende Wesen sind.“ Ebd., 265. 55 Vgl. ebd. 56 D ERS ., Die Ausgewanderten, 33. 57 Vgl. ebd., 19. 58 Vgl. D ERS ., Austerlitz, 47. 59 Vgl. z.B. die Passagen über die neue französische Nationalbibliothek, ebd., 387-395. Erzählen am Rand der dunklen Grube 367 Major George Wyndham erzählt, von dem es heißt, er habe „das Lager von Bergen- Belsen“ 60 befreit. Mehr als einen dürren Satz erfährt der Leser nicht, es herrscht wieder das Schweigen im Zentrum des Schreckens. Danach zieht sich der Major auf die Güter seines Großonkels zurück, spricht nichts mehr und wird nur noch selten, mit einer Art von Trauermantel bekleidet, gesehen. 61 Diese Rückzugsorte sind bei Sebald die Heimat der Heimatlosen. Als Ambros Adelwart ins Irrenhaus geht, hinterlässt er einen Zettel, auf dem steht: „Have gone to Ithaca.“ 62 Das ist der Name der Klinik, das ist natürlich aber auch die Heimat des großen Reisenden, des Urahns aller Sebald-Helden, Odysseus. 7. Die Hoffnung am Rand der Grube Letztendlich weiß jeder Sebald-Leser, dass dessen Figuren eine Heimkehr niemals vergönnt sein wird. Die meisten erkennen das und setzen ihrem Leben selbst ein Ende. Der Tod ist die einzige noch mögliche Heimat. Die Wanderungen - seien es die äußeren oder die inneren - werden nie an ein Ende kommen. Was verloren ist, ist verloren. Das Vermächtnis von Jacques Austerlitz an den namenlosen Erzähler ist ein Buch des Literaturwissenschaftlers Dan Jacobson, das von der Suche nach dessen Großvater handelt (ein typisches Sebald-Thema). Dessen Frau wandert nach seinem Tod nach Südafrika aus, und Jacobson verbringt einen Großteil seiner Kindheit neben den dortigen Diamantengruben. Später erinnert er sich an die dunkle Tiefe der Gruben, deren Leere, die nur ein Schritt vom sicheren Boden trennte. Der Erzähler in „Austerlitz“ fährt fort: „Der Abgrund, in den kein Lichtstrahl hineinreicht, ist Jacobsons Bild für die untergegangene Vorzeit seiner Familie und seines Volkes, die sich, wie er weiß, von dort unten nicht mehr heraufholen lässt.“ 63 In einer dieser Gruben liegen auch die Lebensgeschichten aller Sebald-Figuren und ihrer Familien. Und das letzte Bild dieser Hoffnungslosigkeit wird nur durch die eine Hoffnung gemildert: Dass man von diesen Geschichten am Rand der dunklen Grube erzählen kann. Genau das also, was Sebald machte. Literatur A NDERSON , M ARK M.: Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind. W. G. Sebalds Dilemma der zwei Väter. Biografische Skizzen zu einem Portrait des Dichters als junger Mann, in: Literaturen, 7/ 8, 2006, Berlin 2006, 30-39. A PEL , F RIEDMAR : W. G. Sebalds Nachruhm - Der gute Deutsche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.4.2005. 60 D ERS ., Die Ringe des Saturn, 82. 61 Vgl. ebd, 82-85. 62 S EBALD , Die Ausgewanderten, 150. 63 S EBALD , Austerlitz, 416. Berndt Herrmann 368 B AHNERS , P ATRICK : W. G. Sebald. Magisch zieht des Dichters Grab Gedenkartikel an, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.9.2008. B ANKI , L UISA : „Was bedeuten solche Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Korrespondenzen? “. W. G. Sebalds polybiographisches Erzählen, in: P ETER B RAUN / B ERND S TIEGLER (Hrsg.), Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart, Bielefeld 2012, 349-376. D ENHAM , S COTT : Die englischsprachige Sebald-Rezeption, in: M ICHAEL N IE- HAUS / C LAUDIA Ö HLSCHLÄGER (Hrsg.), W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, 259-268. D OCTOROW , E. L.: Der Meisterstratege des modernen Romans, in: B ERND H ÜP- PAUF (Hrsg.), Signale aus der Bleecker Street 2, Neue Texte aus New York, Göttingen 2003, 181-185. K LÜGER , R UTH : Wanderer zwischen falschen Leben. Über W. G. Sebald, in: H EINZ L UDWIG A RNOLD , W. G. Sebald, Text und Kritik 158, IV/ 03, München 2003, 95-102. S CHÜTTE , U WE : W. G. Sebald, Göttingen 2011. S EBALD , W. G.: Schwindel.Gefühle, Frankfurt am Main 1994. -: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt am Main 1994. -: Einleitung, in: D ERS ., Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur, Frankfurt am Main 1995, 11-16. -: Ein Kaddisch für Österreich - Über Joseph Roth, in: D ERS ., Unheimliche Heimat, Essays zur österreichischen Literatur, Frankfurt am Main 1995, 104-117. -: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt am Main 1995. -: Austerlitz, München/ Wien 2001. -: Luftkrieg und Literatur. Frankfurt a. M. 2001. -: Fremdheit, Integration und Krise. Über Peter Handkes Stück Kaspar, in: D ERS ., Campo Santo, hrsg. von Sven Meyer, München/ Wien 2003, 57-68. -: Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung, in: D ERS ., Campo Santo, hrsg. von Sven Meyer, München/ Wien 2003, 69-100. -: Konstruktionen der Trauer. Günter Grass und Wolfgang Hildesheimer, in: D ERS ., Campo Santo, hrsg. von Sven Meyer, München/ Wien 2003, 101-127. -: Mit den Augen des Nachtvogels. Über Jean Améry, in: D ERS ., Campo Santo, hrsg. von Sven Meyer, München/ Wien 2003, 149-170. -: Mit einem kleinen Strandspaten Abschied von Deutschland nehmen, Gespräch mit Uwe Pralle, in: D ERS ., „Auf ungeheuer dünnem Eis“, Gespräche 1971 bis 2001, Frankfurt am Main 2011, 252-263. S ONTAG , S USAN : Ein trauernder Geist, in: D IES ., Worauf es ankommt, Essays, Frankfurt am Main 2007, 63-72. „Le plus de verité possible“? Stephan Wackwitz’ Romane und autobiographische Schriften im Kontext jüdisch-deutscher Geschichte(n) Friedmann Harzer Stephan Wackwitz, am 20. Januar 1952 in Stuttgart geboren und ausgebildet in den Evangelisch-theologischen Seminaren in Schöntal und Urach, ist ein literarischer Grenzgänger. Nach zwei wissenschaftlichen Publikationen über Friedrich Hölderlin hat er im literarischen Feld zunächst Essays veröffentlicht, früh im „Merkur“ und später auch in eigenen Essay-Sammlungen wie „Selbsterniedrigung durch Spazierengehen“ (2002), „Osterweiterung“ (2008) oder „Fifth Avenue“ (2010). Es folgten die beiden Romane „Walkers Gleichung“ (1996 bei Steidl) und „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ (1999 bei Piper), bevor Wackwitz im Fischer-Verlag zwei autobiographische Texte vorgelegt hat, die ihn endgültig im Literaturbetrieb etablierten: 1 2003 erschien „Ein unsichtbares Land“, in dem Wackwitz Erinnerungen an seinen Großvater Andreas und seinen Vater Gustav Wackwitz verarbeitet; 2005 kommt „Neue Menschen“ heraus, das vor allem von Wackwitz’ Studienzeit in den 1970er Jahren handelt. Ich würde beide Texte, die im Untertitel den aus der Psychoanalyse stammenden Terminus „Familienroman“ bzw. den 1819 von Karl von Morgenstern eingeführten Gattungsnamen „Bildungsroman“ ironisch zitieren, als autobiographische „Großessays“ bezeichnen, die nicht nur mit verschiedenen Genres spielen, sondern auch eine Vielzahl philosophischer, theologischer, kulturgeschichtlicher und literarischer Modelle und Zitate zu einem offenen Text montieren und damit die Identität des erzählten und des erzählenden Ichs gleichsam kaleidoskopisch vervielfältigen. Für meine Untersuchung jüdischer Figuren und Themen bei Stephan Wackwitz greife ich vornehmlich auf drei der genannten Texte zurück: Im Roman „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ rekonstruiert ein fiktiver jüdischer Ich-Erzähler seine Jugend in der Weimarer Republik und sein Leben nach der Emigration 1933. In den lebensgeschichtlichen Großessays „Ein unsichtbares Land“ und „Neue Menschen“ kommt der Erzähler dagegen mehrfach auf seine intellektuelle Prägung durch jüdische Denker wie Walter Benjamin zu sprechen; die Ortschaft Auschwitz spielt in „Ein unsichtbares Land“ eine noch zu klärende Rolle. Beim Lesen und Wiederlesen habe ich mich wiederholt gefragt: Warum organisiert Wackwitz sein Erzählen um jüdische Figuren und Themen herum, ohne diese Linien dann wirklich auszuziehen? Eine Antwort finde ich, am Ende meiner Überlegungen, in Kafkas Prosaskizze „Die Wahrheit über Sancho Pansa“, der Wackwitz den Titel für seinen zwei- 1 Stephan Wackwitz erhielt 1996 den Förderpreis zum Heimito-von-Doderer-Literaturpreis und 2010 den Wilhelm-Müller-Preis des Landes Sachsen-Anhalt. Friedmann Harzer 370 ten Roman entleiht. Ich entdecke in Kafkas Figurenkonstellation ein Modell für jene eigentümliche Dialektik, in der Wackwitz jüdische Spuren legt und wieder verwischt. 1. Die Wahrheit über Heinrich Katz In „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ berichtet ein Ich-Erzähler namens Heinrich Katz von seiner Kindheit und Jugend in der Weimarer Republik sowie von seiner Flucht, seinem Leben in England und seiner Rückkehr nach Deutschland. Heinrichs Vater ist jüdischer Herkunft, bereits seine Vorfahren sind allerdings, wie so viele jüdische Deutsche im 19. Jahrhundert, zum evangelischen Glauben konvertiert; 2 Heinrichs Mutter stammt aus England. Im Text lassen sich zwei Erzählebenen unterscheiden. Auf der ersten erzählt und kommentiert der gut achtzigjährige Heinrich Katz, wie ihn einige Träume dazu bringen, sich wieder an ein traumatisches Jugenderlebnis zu erinnern, und wie er beginnt, seine Erinnerungen aufzuzeichnen. Diesen Erzählstrang, der mit Heinrichs Tod am 28. Dezember 1998 endet, durchkreuzen immer wieder Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Deutschland, an das Studium, Familien- und Berufsleben in England und die Rückkehr nach Deutschland ca. 20 Jahre vor Heinrichs Tod. Von diesem Lebenslauf, der sich dem Leser nur allmählich und ohne chronologische Ordnung erschließt, werden folgende Stationen erkennbar: 1917 Geburt in einer deutschen Kleinstadt, Ausbruch und langsame Heilung einer religiösen Psychose Ende der Zwanziger Jahre, Ostern 1933 Emigration nach England, 3 Studium der Altphilologie, unbefriedigende Arbeit in einer Londoner Bank, Heirat, ein Sohn, Scheidung, späte Promotion in Altphilologie, 4 zweite Ehe, noch ein Sohn, Altgriechisch-Professur in London, 5 nach Pensionierung und erneuter Scheidung schließlich die Rückkehr nach Deutschland. 6 Stephan Wackwitz hat Heinrich Katz mit deutlichen Strichen als jüdische Figur gezeichnet: So erinnert er sich, dass ihn seine Altersgenossen mit der Bezeichnung „Judenpimmel“ 7 gemobbt hätten, und so erinnert er sich auch an bereits 1932 in seinem Internat „gelegentlich schon auftauchende antisemitische[-]“ 8 Angriffe; überdies erfährt der Leser, Heinrichs Cousine Barbara habe nach Tel Aviv geheiratet. 9 2 Vgl. W ACKWITZ , Sancho Pansa, 9 und 25. 3 Vgl. ebd., 122f. 4 Vgl. ebd., 50. 5 Vgl. ebd., 12. 6 Vgl. ebd., 104. 7 Ebd., 88. 8 Ebd., 58. 9 Vgl. ebd., 117. Stephan Wackwitz’ Romane und autobiographische Schriften 371 Sein Vater erscheint im Text als „Chef der Entwicklungsabteilung, das jüdische Vorstandsmitglied“. 10 Er ist überassimiliert und verkennt die Gefährlichkeit der Lage. 11 Das prekäre Judentum des Vaters - und damit auch Heinrichs eigenes Judentum - kommt in folgender Auseinandersetzung Heinrichs mit seinem Vater zur Sprache: „[Ich sah] die gütige Vernunft meines Vaters zum ersten Mal fassungslos, als ich ihn während eines unserer abendlichen Streitgespräche nach dem Schach mit dem Gedanken konfrontierte, der mich am meisten quälte: daß ich verdammt sein könnte, weil er Jude war. Daß er nicht verstehen könne, was an mir geschehen mußte, weil er ja zu den von Jesus verfluchten Menschen gehöre, zu den Gebildeten, Klugen, zu den Unverwundbaren, Reichen, Hoffärtigen. Ich sehe seine Augen jetzt so deutlich vor mir wie an jenem Abend, als er mich ansah, nachdem es schließlich heraus war. Im verstörten Gesicht seines eigenen Sohns trat ihm entgegen, was ihn haßte und was er nicht verstand. [Ich] hatte nun erlebt, daß mein Unglück die Kraft besaß, auch den mir wichtigsten Erwachsenen bis zur Sprachlosigkeit zu kränken. Das Übel in mir hatte sich mit dem verbunden, das sich auf den Straßen, in den Parlamenten und Hinterzimmern des Landes ausbreitete.“ 12 In dieser Konfrontation zwischen jüdisch-deutschem Vater und Sohn thematisiert der Roman jenen jüdischen Selbsthass und jüdischen Antisemitismus, wie er sich prominent etwa in Otto Weiningers Schrift „Geschlecht und Charakter“ von 1903 gezeigt hat. Die Entfremdung zwischen Vater und Sohn, die auch mit jener Heimsuchung Heinrichs zusammenhängt, auf die ich gleich zu sprechen komme, stellt der Roman hier in einen nicht weiter erklärten Zusammenhang mit dem Rassenwahn der Nationalsozialisten, den mit Heinrich, zumindest für den Moment dieses Vater-Sohn-Gesprächs, einer übernimmt, der doch selber ein Opfer eben dieses Wahnsinns zu werden droht. 13 Auch in England wird Heinrich Katz in einer heiklen Situation als Jude wahrgenommen. Dem Präsidenten jener ungeliebten Bank, in der Katz seine ersten Berufsjahre verbringt, sind Heinrichs philologische und literarische Publikationen suspekt: „Was ich machte und war, galt als unmöglich. Als prätentiös. Als deutsch. Als jüdisch.“ 14 Zentrum des Romans „Die Wahrheit über Sancho Pansa“, seine „unerhörte Begebenheit“, ist eine Heimsuchung des pubertierenden Heinrich: Heinrich quält sich unendlich mit der Wahnvorstellung, der oder doch ein Teufel habe ihn zur irreversiblen „Sünde wider den Heiligen Geist“ verführt. 15 Mit autoaggressiven Reinigungsritualen und Schlafentzug will sich Heinrich von dieser Geisteskrankheit selbst befreien. Sie zeigt sich in lästerlichen Gedanken und Formulierungen, die ihm umso hartnäckiger durch den Sinn gehen, je stärker er sie abzustellen versucht. 10 Ebd., 71. 11 Vgl. ebd., 69 und 102. 12 Ebd., 70. 13 Vgl. in diesem Zusammenhang auch ebd., 84f. 14 Ebd., 38. 15 Vgl. ebd., 24 und öfter. Friedmann Harzer 372 Von dieser psychotischen Episode wird ihn am Ende nicht die Psychiatrie heilen, sondern, wie sich Katz kurz vor seinem Tod wieder erinnern kann, ein katholischer Priester. Dieser Pater Andreas löst Heinrichs Dilemma, wie ein guter Zenmeister, mit einem Paradoxon: „Ich kann dir beweisen, dass du die Sünde wider den Heiligen Geist nicht begangen hast: Du kannst sie nicht begangen haben, weil du dir offensichtlich Sorgen darüber machst, daß du sie begangen haben könntest. Der Heilige Geist ist nichts als die Sehnsucht, Gott nahe zu sein. Solange du diese Sehnsucht hast, kannst du den Heiligen Geist beschimpfen, womit du willst. Es ist bedeutungslos, welche Lästerungen dir deine Denkzwänge eingeben. Gott interessiert das nicht. Gerade daß sie dir einfallen, ist ein Beweis dafür, daß dir diese Sünde fernliegt. Es ist wie eine Schlinge, die endgültig erst in dem Moment aufgeht, wenn du sie zuziehst. Und doch ist sie keiner jener Scheinknoten, die man gar nicht richtig aufziehen kann, weil sie von Anfang an nicht wirklich geknüpft waren. Es ist eine wirkliche Schlinge. Sie zieht sich auch wirklich zu. Und zugleich geht sie auf. Ein Paradox. So funktionieren Gottes Botschaften, Heinrich. So funktioniert Gott. Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber es ist so.“ 16 Mit dieser Analyse seines Problems „löst“ sich auch Heinrichs Wahn wieder „auf“, er hat das Gefühl, „dorthin zurückgekehrt zu sein“, 17 wo er hingehöre. 2. Die Wahrheit über Stephan Wackwitz Ganz ähnlich wird auch der autobiographische Ich-Erzähler am Ende von „Neue Menschen“ die Erlösung des Studenten Stephan Wackwitz von einem Weltverbesserungswahn beschreiben, der ihn fast die gesamte Stuttgarter Studienzeit über im kommunistischen MSB Spartakus festgehalten hat. 18 Zwischen Heinrich Katz und jenem Stephan Wackwitz, der uns im „Familienroman“ und im „Bildungsroman“ als erzähltes Ich entgegentritt, gibt es deutliche Parallelen. 2.1. Parallelen zwischen Wackwitz und Katz So berichtet der autobiographische Erzähler von „Neue Menschen“ - und man meint jetzt wieder und weiterhin die fiktive Erzählerstimme aus dem Roman zu hören -, wie er sich an eine dem Wahn des jungen Heinrich Katz zum Verwechseln ähnliche religiöse Besessenheit erinnert, die ihn ebenfalls im Alter von dreizehn Jahren gequält hat: „Ich war damals bis zum ernsthaften seelischen Kranksein in meinen eigenen Reinheits-, Entmischungs- und Verdammungsängsten gefangen; Opfer eines beunruhigenden, mich fast ein Jahr lang beschäftigenden ekklesiogenen Schizo-Anfalls, mit dem ich die Hormonattacken aus meinem endokrinen System irgendwie mit 16 Ebd., 137f. 17 Ebd., 139; vgl. auch 94f. 18 Vgl. W ACKWITZ , Neue Menschen, 261-270; dazu L INK , Überlegungen, 45-50. Stephan Wackwitz’ Romane und autobiographische Schriften 373 den komplizierten Vorgaben meines Familienromans in eine (vorläufig eben noch pathologische) Balance brachte. [...] An jenem Sommerabend scheint meine Verzweiflung darin bestanden zu haben, dass ich mich vor den Höllenkonsequenzen irgendeiner verbalen Entgleisung fürchtete, die mir in der Hitze eines längst vergessenen Schulhofgefechts herausgerutscht sein mag (‚Heilandssack, du elender Saukrüppel, lass mer mei Ruh‘ oder etwas Ähnliches). Nun lag sie als hässlicher Verdammnisfleck auf meiner reinen Gnosisweste und könnte langfristig, wie ich damals stundenlang grübelnd erwägen zu müssen glaubte, den Gnadeneinzug ‚zu Jesum ‘nauf‘ in Frage stellen. Das Dunkel meines Schlafzimmers. Der sorgfältig und konventionell gekleidete alte Mann auf der Bettkante. Sein weißes Haar, vielleicht das Glitzern einer Uhrkette auf seiner Weste. Der Geruch nach Zigarre und Rasierwasser. Er war das Bild einer Welt, die meine Ängste und Anstrengungen nicht brauchte, weil in ihr ohnehin alles in Ordnung war. Er mache sich keine Sorgen um seine Rückkehr in den reinen Ursprung, sagte der alte Lutheraner. Gott werde ihn schon aufnehmen, er betrachte sich als sein Kind, egal, was er in seinem Leben falsch gemacht haben möge. Und meine Flucherei neulich auf dem Schulhof sei vielleicht nicht schön, aber doch nicht so schlimm gewesen.“ 19 Im Roman wie in der Autobiographie heißt derjenige, der den Dämon bezwingt, welcher die beiden hochsensiblen Dreizehnjährigen plagt, „Andreas“, er raucht jeweils Zigarre und beide Male ist er ein Geistlicher, im Roman ein katholischer Priester, in der Lebensgeschichte ein protestantischer Pastor, Stephans Großvater nämlich. Und im Roman wie im so genannten richtigen Leben wenden sich die Väter mit einem Brief an einen Psychiater, in dem sie relativ minutiös vom „Aufopferungs- und Kasteiungs-‚Fimmel‘“ ihrer Söhne erzählen. 20 Warum aber verarbeitet Stephan Wackwitz diese für ihn offenbar zentrale Lebensepisode zwei Mal, zunächst mittels der Projektion des eigenen - wie er sagt, „ekklesiogenen“ - Kinderwahns auf die Figur eines jüdisch-deutschen Kindes und dann im Rahmen seiner Autobiographie, jetzt ohne historische Überhöhung und Rückprojektion in die schlimmsten Zeiten deutscher Geschichte? Eine Antwort auf diese Frage finde ich im Kapitel „Die Toten“ aus „Ein unsichtbares Land“. Dort ist die Rede von Rudi Dutschke, der sich als Kind und Jugendlicher eine jüdische Herkunft und ein Fremd-Sein in der eigenen Familie und Nation zurecht phantasiert hat. Wackwitz fasst Gretchen Dutschkes Erinnerungen in seinem „Familienroman“ folgendermaßen zusammen: „Rudi Dutschkes Frau hat in ihren Erinnerungen beiläufig auf einen seltsamen und gespenstischen Umstand aufmerksam gemacht, den Rudi Dutschke schon früh und sein ganzes Leben hindurch dann immer weiter dazu benutzt zu haben scheint, diesen Familienroman auszuarbeiten (einen Roman, in dem dann eine Zeit lang meine ganze Generation mitgespielt hat). ‚Wie viele andere, die nicht ganz verdrängen konnten‘, schreibt sie, ‚hatte Rudi Schwierigkeiten mit seiner Identität als Deutscher. Manchmal resignierte er und glaubte, das Nachdenken über die Nazizeit 19 W ACKWITZ , Neue Menschen, 85f. 20 Ebd., 215. Friedmann Harzer 374 aufgeben zu müssen. Die Schande war unermesslich groß. Um sich davon distanzieren zu können, bildete er sich ein, daß er ein Jude sei, den die Dutschkes bei sich versteckt hätten. Diese Einbildung stützte er auf die Tatsache, daß er beschnitten war.‘“ 21 Der Schriftsteller Wackwitz hat sich in seinem zweiten Roman zunächst als jüdischen Jungen phantasiert, wie dies, ohne vergleichbare literarische Spuren zu hinterlassen, offenkundig auch Dutschke tat - ein etwas gefährliches Spiel mit der eigenen vermeintlich jüdischen Herkunft, das häufiger vorkommt. Man denke an Edgar Hilsenraths 1971 zuerst in New York erschienenen Roman „Der Nazi & der Friseur“ oder an den Literaturskandal um die „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939- 1948“ von Binjamin Wilkomirski alías Benno Dösseker. Allerdings handelt es sich bei Hilsenraths Protagonisten um die satirisch verzeichnete fiktive Figur des SS- Mörders Max Schulz, der nach dem Krieg die Identität seines jüdischen Freundes Itzig Finkelstein annimmt und in Palästina ein vollkommenes, zweites jüdisches Leben beginnt, während bei Dösseker schwer zu entscheiden ist, warum er sein reales Kinderleid auf die Biographie eines überlebenden jüdischen Kindes projiziert und damit zunächst großen Erfolg im „Shoah-Business“ erzielt hat. 22 Im Fall von Stephan Wackwitz erlaubt der Genre-Wechsel vom Roman zur Autobiographie einen Blick in die Schreibwerkstatt. Er nimmt seine in die Fiktion verlagerte Selbstvergewisserung ja wieder zurück, und zwar in eben dem Text, in dem er auch bekennt, wie er sich von seinen linksradikalen Wahnvorstellungen gelöst hat - und damit nicht zuletzt auch von Rudi Dutschke und dessen Bewegung. In Wackwitz’ Schreiben, das immer ein essayistisches Schreiben bleibt, findet eine Entwicklung statt, nicht unbedingt vom Fingierten zum Authentischen, so naiv ist der an Richard Rorty geschulte Autor nicht, 23 aber doch eine Entwicklung von der verdeckten zur offenen Re-Konstruktion des eigenen Lebens-Essays. 2.2. Poetik des Essays Die Romanfigur Heinrich Katz kommt, wo sie von ihrem Buch über Plotin erzählt, auch auf dessen Schüler Origines zu sprechen: „Origines hat seiner Leserschaft Zentralpunkte aus den Lehren seines Seelenführers [Plotin, FH] in dem seinerseits verschollenen Traktat ‚Über die Dämonen‘ verraten und in einem anderen, von dem wir ebenfalls nur den Titel kennen - einen Titel freilich, den ich immer besonders geliebt habe; er wiegt in seiner poetischen Rätselhaftigkeit ganze Bibliotheken von Sekundärliteratur auf: ‚Der König allein ist Dichter‘ heißt dieses Werk des Origines.“ 24 21 W ACKWITZ , Ein unsichtbares Land, 257f. 22 Vgl. zu Wilkomirski den glänzenden Aufsatz von B ANNASCH , F für Fälschung, K für Kitsch oder L für Literatur? - In die Reihe solchermaßen literarischer Konstruktionen von jüdischer Identität gehört auch der 2011 mit dem Booker Prize bedachte Roman „Die Finkler-Frage“ von Howard Jacobson. 23 Vgl. L INK , Überlegungen, 38-50. 24 W ACKWITZ , Sancho Pansa, 31; vgl. auch 63 und 136. Stephan Wackwitz’ Romane und autobiographische Schriften 375 Was genau könnte Heinrich Katz an dem Titel „Der König allein ist Dichter“ so geliebt haben? In dieser faszinierenden Formulierung, die an den Topos vom poeta alter deus, vom Dichter als zweitem Schöpfer, erinnert 25 , klingen zwei für Stephan Wackwitz wichtige Themen an: Die Poetik des Essays und, eng damit zusammenhängend, eine konstruktivistische Vorstellung von Erinnerung. 26 Wiederum findet ein Leser, der auch spätere Texte von Wackwitz kennt, bereits in „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ diese beiden Aspekte verdichtet. Denn dort erweist sich der alte Katz als begeisterter Essayist beim Schreiben seiner Lebensgeschichte. Man sieht ihn mehrfach in seiner Bibliothek zwischen aufgeschlagenen Bänden sitzen, die er, über lange Zeiträume hinweg, miteinander ins Gespräch bringt. Heinrich Katz verfasst seine autobiographischen Erinnerungen, wie das wahrscheinlich auch sein Alter Ego Stephan Wackwitz machen würde, in einer essayistisch-bildungssatten Manier. Er macht Umwege, Pausen, Ausflüge in scheinbar abgelegenere Gefilde. Thema- Verfehlung ist gewissermaßen das Prinzip solcher Texte, selbstredend scheinbare Thema-Verfehlung: „[E]inen Umweg zu nehmen über den majestätisch dahinziehenden Strom der Prosa des großen Historikers [Gibbon] verschafft mir offenbar auch jetzt den Abstand, den ich brauche. Meine Abschweifungen lassen mich Atem schöpfen.“ 27 Ein solchermaßen kreativer Umgang mit der Tradition erlaubt es, man möchte fast sagen: erschreckend lange historische Linien in der eigenen Biographie zusammenlaufen zu lassen. In der Fiktion von Heinrich Katz finden solche „wiederholten Spiegelungen“ zwischen dem Neuplatonismus, der Prädestinationslehre, der an Jesu Heilung des Besessenen (Mt. 12, 22-32) anknüpfenden Thematik des Teuflischen und Bösen und dem aufkeimenden Nationalsozialismus statt. In „Ein unsichtbares Land“ spielt sich Wackwitz’ „Familienroman“ an Orten ab, die für deutsche Geschichte schicksalhaft waren: In dem Dorf Anhalt bei Auschwitz, wo vor Stephans Großvater Andreas schon Friedrich Schleiermacher gelebt hatte, im heutigen Namibia und in Luckenwalde, wo Rudi Dutschke aufgewachsen ist. Diese Topographie erlaubt es dem Erzähler zugleich, deutsche Romantik, Hermeneutik, Kolonialismus und 68er-Bewegung mit dem Leben des erzählten Ichs zu verknüpfen; dieses wäre damit doppelt geprägt, genealogisch und kulturhistorisch. In „Neue Menschen“ schließlich, das hat Matthias Link gerade rekonstruiert, stellt Wackwitz - unter Anderem - seinen religiösen Wahn als Jugendlicher und sein späteres Engagement für den MSB Spartakus in die Tradition gnostischer Weltentwürfe von der Spätantike über den Pietismus, dem er im Evangelisch-theologischen Seminar noch begegnet ist, bis hin zum Terrorismus des deutschen Herbstes von 1977. 28 Solche Überblendungstechnik, solches Kurzschließen von Historie und Gegenwart, von Individuellem und Allgemeinem, auf das ich am Beispiel der „Geister von Auschwitz“ noch genauer eingehe, ist typisch für jene Poetik des Essays, wie sie 25 Vgl. zu den Ursprüngen dieses „Genie-Gedankens“ S CHMIDT , Geschichte des Genie- Gedankens, 1-60. 26 Vgl. dazu hervorragend L INK , Überlegungen, 7-27. 27 W ACKWITZ , Sancho Pansa, 29. 28 Vgl. L INK , Überlegungen, 21-27. Friedmann Harzer 376 Adorno in seinen „Minima Moralia“ von 1953 umgesetzt hat, darin selber auf Wackwitz’ vielleicht einflussreichsten intellektuellen Hausheiligen zurückgreifend, auf Walter Benjamin. 29 Die Faszination und Prägung durch diesen deutschjüdischen Philosophen betont Stephan Wackwitz mehrfach, in „Neue Menschen“ mit Blick auf Benjamins Dissertation, in einem am 24. September 2010 in der „Welt“ erschienenen Artikel mit Blick auf Benjamins Essay-Sammlung „Einbahnstraße“: „Eines Tages lag auf dem Marmortischchen eines Ulmer Cafés neben einer Tasse Kaffee ein rotweißes Bändchen aus der ‚Bibliothek Suhrkamp‘. Walter Benjamins ‚Einbahnstraße‘. Mit diesem Buch ging es mir in den nun folgenden Monaten und Jahren so, wie seinem Verfasser in den zwanziger Jahren, der damals schrieb, er könne Aragons ‚Paysan de Paris‘ nur seitenweise lesen, weil er davon derartiges Herzklopfen bekäme, dass er dann nächtelang wachliege. Als ich Benjamins ‚Einbahnstraße‘ nach dem ersten Durchblättern wieder auf die Marmorplatte des Ulmer Cafés zurücklegte (ich wartete auf den Vorortzug in meine Heimatstadt Blaubeuren), wusste ich, dass die Langeweile für immer vorbei war. Nicht weil ich von nun an immer dieses Buch lesen würde, von dem mir meine Münchner Professoren nicht zu sagen gewusst hätten, ob es Poesie oder Prosa war, Theorie oder Fiktion, Tagebuch oder Abhandlung. Wie gesagt, ich konnte eh immer nur einen oder zwei Abschnitte davon auf einmal verdauen. Sondern es war etwas für mein Leben Einschneidendes passiert, weil es ab jetzt und für immer in der Welt der Bücher etwas gab, das ich so grenzenlos bewunderte, wie ich als Kind die Spielzeuge mancher Kameraden bewundert hatte oder wie ich jetzt die glamourösen älteren Studentinnen im Germanistischen Seminar in der Schellingstraße bewunderte.“ 30 Aus Wackwitz’ postmoderner Essayistik über Genregrenzen hinweg, die sich übrigens, neben Benjamin und Adorno, auch an W. G. Sebalds gelehrter Schreibtechnik orientiert und von dort die mehrdeutige Montage von Fotografien übernimmt, 31 folgt notwendig, dass die Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte(n) immer auch eine Konstruktion ist, Wahrheit als Dichtung, Leben als Versuchsanordnung - „Der König [dieser Texte] ist [ebenfalls] Dichter.“ 32 Das Medium solchermaßen weitausgreifender Selbsterforschungen und Zeitreisen sind Gespenster oder, wie Wackwitz gleich das allererste Kapitel seines ersten autobiographischen Versuchs überschreibt, „Geister“; nicht umsonst sind Gespenstergeschichten für den fiktiven Heinrich Katz und für Stephan Wackwitz von früh an wichtig gewesen. 33 Silke Horstkotte greift in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung „Erscheinung, Gespenst“ des lateinischen Substantivs „spectrum“ zurück 29 Vgl. A DORNO , Minima Moralia, 7-11. 30 W ACKWITZ , Rettet ihn vor seinen Fans! , zitiert nach der Online-Ausgabe der „Welt“. 31 Vgl. H ORSTKOTTE , Die Geister, 278. 32 Diese Erkenntnis wird im Roman Heinrich Katz ebenfalls zugeschrieben; vgl. W ACKWITZ , Sancho Pansa, 7, 13f. 33 Vgl. W ACKWITZ , Ein unsichtbares Land, 7-11; W ACKWITZ , Sancho Pansa, 21. Stephan Wackwitz’ Romane und autobiographische Schriften 377 und spricht entsprechend von einer „nachträglichen spektralen Anreicherung der Familiengeschichte“. 34 2.3. Die Geister von Auschwitz Wenige Kilometer von Auschwitz entfernt liegt das kleine Dorf Anhalt. Dorthin wurde Stephan Wackwitz’ Großvater Andreas als junger Pfarrvikar versetzt, dort lebte er mit seiner Frau und den drei Kindern von 1921-1933, dort ist Stephans Vater Gustav 1921 auf die Welt gekommen. Stephan Wackwitz selbst reiste während seiner Zeit als Leiter des Krakauer Goethe-Instituts nach Anhalt, auf den Spuren seiner Familiengeschichte. Diese Recherche bildet denn auch den Ausgangspunkt für den Text seines ersten Familienromans „Ein unsichtbares Land“, der, in der Tradition des Schauerromans, so beginnt: „Im neunzehnten und noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein hat es in der Gegend um die alte galizische Residenzstadt Auschwitz viel gespukt. Es ist, als ob alle Dämonen, die in jenem abgelegenen Winkel des ehemaligen k.u.k. Reiches ihre historische Chance erhalten sollten, sich seit dem Ausgang des Mittelalters in den Bäumen, Teichen, Dörfern und Pfarrhäusern des Herzogtums und der umliegenden Herrschaften bereitgehalten hätten. Polen, Deutsche und Juden haben jahrhundertelang von überall her ihre Geschichten und Gespenster in das moorige, birkenbewachsene Hügelland am Oberlauf der Weichsel mitgebracht und das Gruseln vor Doppelgängern, umgehenden Gestorbenen und Poltergeistern war noch zwischen den Weltkriegen so lebendig und alltäglich in der österreichisch-preußischpolnischen Provinz wie die Sagenerinnerungen an die Mongoleninvasion und an die Schwedengreuel im siebzehnten Jahrhundert.“ 35 Damit ist das bei Wackwitz zentrale Gespenster-Motiv angeschlagen. Als Geister erscheinen zu Beginn seines Buches indessen weniger die in Auschwitz und Birkenau von den Nazis Ermordeten als vielmehr Gestalten, deren Sagen Andreas Wackwitz in den Zwanziger Jahren für eine Sammlung aufgezeichnet hat. Am Ende des kurzen Anfangskapitels „Geister“ kommt der Spuk im Pfarrhaus der eigenen Familie in den Blick. Zwar erinnert sich der Hausmeister der Evangelischen Kirche in Anhalt, der Wackwitz 2001 herumführt, „[e]s habe in seiner Kindheit überall hier manchmal fast unerträglich nach verbrannten Haaren gestunken“ und er habe dann gedacht, „dass da wern Menschen verbrannt“, 36 doch dieser in und für Auschwitz eigentlich gespenstische Sachverhalt verschwindet in Wackwitz Erinnerung zwischen alten Geistergeschichten der Beskiden-Deutschen und der eigenen Familiengeschichte; von einem Besuch der Gedenkstätten in Auschwitz weiß der Text nichts: „Auschwitz fungiert als leeres Zentrum in der Gedächtnislandschaft, die der Erzähler zu rekonstruieren sucht.“ 37 Die Shoah, der zentrale Fluchtpunkt jüdischer Identität 34 H ORSTKOTTE , Die Gespenster, 290. 35 W ACKWITZ , Ein unsichtbares Land, 7. 36 Ebd., 9f. 37 H ORSTKOTTE , Die Gespenster, 287. - Folgende Passage in W ACKWITZ , Ein unsichtbares Land, 138, verstärkt diesen Eindruck noch: „ ‚Auschwitz‘ ist heute für alle Menschen überall Friedmann Harzer 378 nach 1945, kommt in Wackwitz’ Familienroman nur kurz in den Blick - um dann auch gleich schon wieder zu verschwinden. 3. „Der eingebildete Jude“ Im Roman „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ erinnert sich ein fingierter jüdischer Intellektueller kurz vor seinem Tod an sein Leben, das von der nationalsozialistischen Verfolgung entscheidend geprägt wurde. Im Vergleich mit den autobiographischen Texten „Ein unsichtbares Land“ und „Neue Menschen“ fällt auf, dass die Kindheitserinnerungen der fiktiven jüdischen Gestalt, in denen die Zeit nach 1933 merkwürdig unterbelichtet erscheint, deutliche Ähnlichkeiten mit den Erinnerungen ihres Autors Stephan Wackwitz aufweisen: Jeweils geht es um religiöse Zwangsvorstellungen und deren geistliche Heilung. Das Prinzip einer solchen literarischen Selbst-Stilisierung zum jüdischen, verfolgten Intellektuellen findet man mit Wackwitz’ Hilfe bei Rudi Dutschke wieder; für Wackwitz wird es mit dem Wechsel vom fiktionalen zum lebensgeschichtlichen Schreiben offensichtlich entbehrlich. Bei der Lektüre der beiden autobiographischen Großessays schließlich tritt erstens Wackwitz’ Inspiration durch den jüdischen Denker Walter Benjamin zu Tage, von dem zwei entscheidende Bildungsimpulse ausgehen. Zweitens nimmt die rekonstruierte deutsche Familiengeschichte ihren Ausgang in Auschwitz. Diese Spur, die am Rande der Vernichtungslager endet, verlieren Erzähler wie Leser des Lebensromans von Wackwitz wieder aus dem Blick. Dort ist man weniger an die „wahren Geister“ 38 von Auschwitz erinnert, als, dem Prinzip „spektraler Erinnerung“ gehorchend, vor allem an die Geister einer dann doch sehr individuellen Familienstory. Kokettiert Stephan Wackwitz also mit jüdischen Figuren, Traditionen - und vielleicht auch Traumata - in seinen Texten? Zur Beantwortung dieser Frage sei abschließend ein Blick auf jene Prosaskizze Kafkas geworfen, die den Ausgangspunkt für Wackwitz’ zweiten Roman bildet. Die Abwehr teuflischer Heimsuchungen wird in „Die Wahrheit über Sancho Pansa“ mehrfach variiert. Heinrich Katz leuchtet die Geschichte seiner Versuchung aus, indem er auf Jesu’, wie die Pharisäer das nannten, „Austreibung des Teufels mit dem Beelzebub“ zu sprechen kommt, auf zwei spätantike römische Gegenkaiser oder auch auf die Pansgestalt, die bekanntlich ein Vorbild für christliche Teufelsbilder auf der Welt das Wort für eine historische Antimaterie, die im zwanzigsten Jahrhundert zum ersten Mal erschienen und auf die Menschen losgelassen worden ist. Der Name dieses österreichischen Landstädtchens bezeichnet uns ein schwarzes Loch in der Historie der modernen Welt, in das alles hineinstürzt, was in seine Nähe kommt, und dessen Ränder als drohende Horizont alles umgeben, was man von nun an über das letzte Jahrhundert und über die Geschichte überhaupt wird sagen können. Aber das war nicht immer so und es ist erst in den letzten Jahrzehnten so geworden.“ 38 Ebd., 297. Stephan Wackwitz’ Romane und autobiographische Schriften 379 abgegeben hat. 39 Schon Heinrichs Name verweist auf den „Faust“ - und damit indirekt auch auf die Heimsuchungen Hiobs und den Teufelspakt. Anders als Faust oder Hiob gelingt es Kafkas Sancho Pansa allerdings, 40 seinen Teufel mit Büchern von sich abzulenken: „Sancho Pansa, der sich dessen übrigens nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, daß dieser dann haltlos die verrücktesten Taten ausführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefühl, dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.“ 41 Cervantes’ Romanfigur Sancho Pansa kehrt, in einer für Kafka typischen Inversion, das Verhältnis von Verfolger und Verfolgtem um, von Täter und Opfer, von der Freiheit (zu quälen) und der Notwendigkeit (sich zu fügen). Sancho Pansa lenkt seinen Teufel, den er absurderweise Don Quixote nennt, mit Texten von sich ab und verführt ihn, den Spieß gleichsam umdrehend, dazu, wider seine eigentliche Bestimmung Unsinn zu treiben. Ein Ablenkungsmanöver, das in der Literatur von literarischen Figuren mit den Mitteln der Literatur vollbracht wird. Kafkas Version kreuzt den ersten modernen europäischen Roman mit jenem Motivstrang satanischer Verführung, der sich vom Alten Testament bis zu Heinrich Katz und seinem Schöpfer Stephan Wackwitz verfolgen lässt. Und dabei spricht Kafkas Erzähler, dessen Autor in einem berühmten „Literatur-Brief“ an Max Brod vom 5. Juli 1922 die Dichtung einmal als „Teufelsdienst“ 42 bezeichnet hat, eben dieser eine überlebensnotwendige Funktion zu. Stephan Wackwitz verfährt, das wäre meine These, in seinem „Sancho Pansa“- Roman und in den beiden autobiographischen Großessays ebenso wie Kafkas Sancho: Seine Figur Heinrich Katz und der Erzähler der Lebensgeschichten lenken jeweils mit literarischen Mitteln, genauer: mit den Mitteln essayistischen Denkens, Schreibens und Zitierens, das Teuflische, das seit einem Dreivierteljahrhundert auf den Namen ‚Auschwitz’ hört, von sich bzw. der eigenen Familiengeschichte ab, eine 39 Vgl. Mt. 12, 22-32 und W ACKWITZ , Sancho Pansa, 52f. und 134f. bzw. 62 bzw. 125. Auf S. 53 wird auch der Wahnsinn der in Nürnberg angeklagten Nazis als eine Form teuflischer Besessenheit dargestellt: „Die Motive dieser Individuen waren nicht zu verstehen. Sie hatten keine. Ich hatte nicht einmal das Gefühl, die Menschen, die da dieser haarsträubenden Taten überführt wurden und nun pathetisch verzückt oder innerlich reglos daherredeten, seien sinnvoller-und berechtigterweise zu bestrafen. Ich sehnte mich danach, dass jemand kommen würde, der das aus ihnen Handelnde und Redende dahin zurückverweisen könnte, von wo es gekommen und in diese entsetzlichen Lebensläufe gefahren war.“ 40 Vgl. W ACKWITZ , Sancho Pansa, 6, und auch die Herausgeberfiktion ebd., 141. 41 Zit. nach W ACKWITZ , Sancho Pansa, 6; den getreuen Wortlaut des Textes in Kafkas „Oktavheft G“ in K AFKA , Bau der chinesischen Mauer, 167. Hinweise auf Kafkas eigene Ablenkung durch Literatur vom richtigen Leben bei W ACKWITZ , Sancho Pansa, 22 und 59. 42 Vgl. K AFKA , Briefe, 384. Friedmann Harzer 380 Ablenkung im Stil einer historisch versierten und dabei zugleich verspielten, kurz: einer postmodernen Literatur. Dieses Verfahren ist problematisch, denn in Auschwitz gab (und gibt) es ganz andere Geister und Gespenster als diejenigen, die durch die Sagen der Belkiden- Deutschen, durch das Anhaltiner Pfarrhaus oder durch das Archiv der Familie Wackwitz spuken. Die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger nennt die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau nicht ohne Grund einmal ein „Gespenstergelände“. 43 Bernard Glassman, ein amerikanischer Zenmeister, dessen Familie selber von der Shoah betroffen ist, hat seit 1996 mehrfach in Auschwitz Gedächtnisexerzitien geleitet. Seine Frau, die ihn beim ersten Mal begleitet hat, hielt es auf dem Gespenstergelände von Birkenau nicht lange aus: „In der ersten Nacht hatte sie nicht schlafen können, weil sie die rastlosen Geister im Lager gespürt hatte, die Seelen, die keine Ruhe gefunden hatten. Sie war die ganze Nacht über wach gewesen und hatte in ihrem Bett zum Wohle dieser Seelen meditiert. Als der Morgen kam, war sie am Ende ihrer Kräfte, und beim Anschauen des Dokumentarfilms mit den Bildern von verhungernden Kindern und von Gruben voller Leichen brach sie in hemmungsloses Schluchzen aus. Nach dem Ende des Films wurde sie bewusstlos.“ 44 Von dieser wahrhaft gespenstischen Gegenwart der Vergangenheit des nationalsozialistischen Vernichtungswahns ist in Wackwitz’ Erinnerungen erstaunlich wenig zu spüren, wiewohl sie doch ihren topographischen Anfang bei Auschwitz nehmen. Stattdessen dienen eine fiktive jüdische Identität in „Die Wahrheit über Sancho Pansa“, die Würdigung jüdischer Vordenker und Vorbilder in „Neue Menschen“ und schließlich das gespenstische Thema „Auschwitz“ in „Ein unsichtbares Land“ eher als narrative Katalysatoren einer am Ende recht individualistischen Selbstvergewisserung, die sich, mit einigen Tigersprüngen durch die alteuropäische Überlieferung, vor allem entlang der eigenen Genealogie und Identitätssuche bewegt. Es macht nun einen entscheidenden Unterschied, wer, mit Alain Finkielkraut zu sprechen, sich einen Juden oder eine jüdische Identität „einbildet“. Finkielkraut, Jahrgang 1949, stammt aus einer Familie polnischer Juden, die zum größten Teil der Shoah zum Opfer gefallen ist. Wackwitz, Jahrgang 1952, ist Nachkomme einer deutschprotestantischen Pastorenfamilie. Beider intellektuelle Biographie beginnt im Mai 1968 - und doch: Welche Differenzen, wenn es um das Fingieren jüdischer Geschichte(n) geht! Während Wackwitz’ literarisches Spiel mit jüdischen Identitätsmustern äußerlich bleibt, reagieren Juden aus Finkielkrauts Generation der nach Auschwitz Geborenen auf die Traumatisierung und Sprachlosigkeit ihrer Eltern und auf eine damit einhergehende Identitätsdiffusion mit einer eigenwilligen Fiktionalisierungsstrategie, die Finkielkraut in „Le roman de l’étoile jaune“, dem ersten Teil seiner Studie über „Le juif imaginaire“, nicht ohne Selbstironie folgendermaßen beschreibt: „Insignifiante, ma vie? La banalité de mes gestes n’etait qu’un trompe-l’œil : élève casanier et docile, j’étais intérieurement un nomade, un Juif errant ; petit- 43 K LÜGER , weiter leben, 71. 44 G LASSMAN , Zeugnis ablegen, 25. Stephan Wackwitz’ Romane und autobiographische Schriften 381 bourgeois froussard, je me préparais en rêve à reprondre par la violence à la fureur des pogromes. Dans ma sédentarité, il m’était donné de lire en surimpression la réalité plus profonde de l’exil ; sous la normalité des temps agréables, j’entendais à tout instant le grondement de l’apocalypse. Bref, j’étais peinard, sans doute, mais j’avais un remède contre l’angoisse qu’engendre l’excès de sécurité : j’étais juif. Le calvaire passé de mon peuple donnait à ma vie présente un prestige et une beuaté que j’aurais été bien imcapable de trouver dans son déroulement. J’allais chercher dans mes origines les fastes que me refusait la trame sans accroc d’une existence studieuse et sage.“ 45 Finkielkraut würde sich ebenso wie Wackwitz gegen eine essentialistische Identitätskonstruktion verwahren. Ihr jeweils „eingebildetes Judentum“ verdankt sich indessen zwei grundverschieden motivierten, narzisstischen Suchbewegungen: Bei Finkielkraut entspringt die adoleszente Imagination verschiedener jüdischer Identitäten aus der Geschichte der vergeblichen Vergewisserung seines anwesendabwesenden, jüdischen Ursprungs. Deren Dilemmata zu durchschauen führt ihn nicht zur Geschichtsvergessenheit, im Gegenteil: Am Ende heißt es in „Le juif imaginaire“: „Une tâche m’incombatait, où le lyrisme du réprouvé n’avait aucune part : hysterique, j’avais été juif pour qu’on me regarde ; j’apprenais maintenant la fidélité et je me fabriquais - imparfaitement - une mémoire pour détenir et pour transmettre le plus de verité possible sur les êtres que désignait à mon affection le vocable de judaïsme.“ 46 Bei Wackwitz ist die Imagination jüdischer Identitäten und deren gescheite Reflexion indessen vor allem ein literarischer Kniff, vielleicht auch ein später Reflex linksintellektueller Überidentifikation mit dem Judentum. Ob es dem Erzähler dabei ebenfalls um eine „(unzulängliche) Erinnerung“ ans Judentum und um „soviel Wahrheit wie möglich“ über die jüdisch-deutsche Geschichte zu tun ist, mag man bezweifeln. 47 Literatur A DORNO , THEODOR W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951. B ANNASCH , BETTINA : „F für Fälschung, K für Kitsch oder L für Literatur? Zu Binjamin Wilkomirskis ‚autobiographischem‘ Roman Bruchstücke“, in: M ANUELA G ÜNTER (Hrsg.), über leben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah, Würzburg 2002, 179-200. F INKIELKRAUT , A LAIN : Le Juif imaginaire, Paris 1980. -: Der eingebildete Jude. Aus dem Französischen von Hainer Kober, Frankfurt am Main 1984. 45 F INKIELKRAUT , Le juif imaginaire, 14. 46 Ebd., 216. 47 Die Übersetzungen nach F INKIELKRAUT , Der eingebildete Jude, 174. Friedmann Harzer 382 G ANZFRIED , D ANIEL (Hrsg.): ... alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals, Berlin 2002. G LASSMANN , B ERNARD : Zeugnis ablegen. Buddhismus als engagiertes Leben (New York 1998), Zürich 2001. H ILSENRATH , E DGAR : Der Nazi & der Friseur. Roman (Köln 1977), München 2004. 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Kunst jenseits der Authentizität“ ging es auch um die Frage der Erzählbarkeit des Holocaust: „Die Diskussion in der Literaturwissenschaft war mit Auswirkungen in die Geschichtswissenschaft lange vom Postulat der Undarstellbarkeit des millionenfachen Massenmordes bestimmt. Heute liegt vor Augen, dass der Unsagbarkeitstopos selbst Darstellungen angeregt hat. Schon seit Beginn der achtziger Jahre ist immer wieder das nahende Ende unmittelbarer Zeitzeugenschaft angekündigt worden.“ 1 Der Innsbrucker Historiker Dirk Rupnow, einer der Veranstalter, stellte fest, „‚der Diskurs über den Holocaust‘ habe sich ‚längst von den historischen Ereignissen abgelöst‘ und sei ‚zu einem Code für das Böse metaphorisiert‘ worden.“ 2 Im Schlussvortrag konstatierte der Kulturwissenschaftler und Psychoanalytiker Christian Schneider, „der Wunsch nach dem Fortdauern authentischer Erinnerung, der sich in der Beschwörung der Zeugenschaft kristallisiere, sei nicht erfüllbar. Schneider gebrauchte den paradoxen Begriff des sekundären Zeugen, um Menschen zu charakterisieren, die beispielsweise Interviews mit Überlebenden führen. Diese Zeugen der Zeugen wollen durch ihre Zuhörerschaft traumatische Erfahrungen in haltbare Erinnerung umwandeln. Tatsächlich aber mache ihre dialogische Teilnahme aus den echten Erfahrungen eine fiktive Erinnerung. Schneider ging so weit, von einer ‚gefälschten Authentizität‘ zu sprechen. Die ‚Wächterfunktion der Literatur‘ liegt in seiner Sicht gerade im Beharren auf dem Konstruktiven und Selbstbezüglichen ihrer Mitteilungen.“ 3 Aus diesem Artikel sollen einige Formulierungen und Begriffe für den folgenden Aufsatz fruchtbar gemacht werden. Der Titel „Die Erfindung vertritt die Erinnerung“ könnte auch als Motto über den beiden Büchern stehen, die hier vorgestellt werden. Im Kinderbuch „Rosie und der Urgroßvater“, 2010 bei Hanser in München erschienen und von Barbara Steinitz illustriert, hat das Vorarlberger Autorenpaar Monika Helfer und Michael Köhlmeier aus Hohenems Geschichten für Kinder erfunden, die zwar nicht primär die Erinnerung an den Holocaust, aber doch an die 1 H OTTNER , Erfindung. 2 Ebd. 3 Ebd. Ulrike Längle 384 Geschichte der Hohenemser Juden seit dem 17. Jahrhundert einschließlich ihrer Vertreibung wachhalten oder überhaupt erst schaffen sollen. In ihrem 2011 erschienenen Roman „Esther“ wiederum erzählt die erst fünfzehnjährige Schülerin Maya Rinderer aus Dornbirn, deren „geliebtem Großvater“ 4 Saba, einem Auschwitz-Überlebenden, das Buch gewidmet ist, die Geschichte der ungefähr gleichaltrigen Esther Levi aus Frankfurt, die ebenfalls die Shoa überlebt. Kinder- und Jugendliteratur über dieses Thema ist kein Minderheitenprogramm: „Über die Zeit des Nationalsozialismus, über Holocaust und Judenvertreibung erscheinen stetig neue Titel - auch für Kinder und Jugendliche. Nicht nur in den Lehrplänen taucht der Stoff wiederholt auf, auch bei den Verlagen scheint der Wunsch nach Aufklärung der Nachwachsenden ungebrochen: Es gibt Sachbücher, Biografien von Widerstandskämpfern, Erzählungen, die erfundene und reale Figuren und Ereignisse miteinander verweben, und Zeitzeugenberichte in Romangestalt.“ 5 Hier geht es also um zwei literarische Beispiele aus diesem Bereich, die auf ungewöhnliche Art und Weise Beiträge zum Thema „Erinnerung“ leisten. Die Autoren sind keine Zeitzeugen, im Fall von Monika Helfer und Michael Köhlmeier auch keine persönlich oder durch familiäre Beziehungen Betroffenen. Im Folgenden sollen nun die Verfahren, die die Autoren bei ihrem „erfundenen Erinnerungswerk“ anwenden, vorgestellt werden. 1. „Rosie und der Urgroßvater“ 1.1. Die jüdische Gemeinde in Hohenems und das Museum Die Entstehung des Kinderbuchs „Rosie und der Urgroßvater“ ist ursächlich mit dem Jüdischen Museum in Hohenems, der jüngsten Stadt Vorarlbergs, verbunden, das 1991 eröffnet wurde. 6 In Hohenems, einer Marktgemeinde, in der bis ins 18. Jahrhundert die Grafen von Hohenems ihre Residenz hatten und die 1983 zur Stadt erhoben wurde, waren seit 1617 Juden ansässig, die sich durch einen Schutzbrief des Grafen Kaspar hier ansiedelten. 1942 endete diese über dreihundertjährige Geschichte durch die Deportation der letzten jüdischen Einwohner nach Theresienstadt. Die Blütezeit der jüdischen Gemeinde lag im 18. und 19. Jahrhundert; ihren größten Umfang hatte sie 1862 mit 564 Mitgliedern. Eine Synagoge, eine Schule, die auch von Nichtjuden besucht wurde, ein Armenhaus und eine Mikwe wurden errichtet und ein Friedhof angelegt, der noch heute manchmal genutzt wird. 1797 wurde das erste Kaffeehaus Vorarlbergs, das Café Kitzinger, in Hohenems gegründet, in dem sich 1813 eine Lesegesellschaft bildete. Durch die Freizügigkeit der Juden in Österreich-Ungarn ab 1867 nahm die Gemeinde kontinuierlich ab, viele Bewohner wanderten in größere Städte, z. B. ins benachbarte schweizerische St. 4 R INDERER , Esther, 5. 5 H ÖRNLEIN , Hundert Mal, 59. 6 Zur jüdischen Geschichte von Hohenems vgl. T ÄNZER , Geschichte; G RABHERR , Juden. Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz 385 Gallen, aus. 1890 lebten nur noch 190 Juden im Ort, 1935 zählte die jüdische Gemeinde noch 35 Mitglieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren vorübergehend jüdische Displaced Persons in Hohenems untergebracht; von den alten Gemeindemitgliedern kehrte niemand nach Hohenems zurück. 7 Prominente Juden, die in Hohenems geboren wurden und bedeutende Karrieren machten, sind der Kantor und Sänger Salomon Sulzer (1804-1890), der in Wien zu den Freunden Franz Schuberts zählte, den Synagogengesang reformierte und an der 1848er Revolution teilnahm, oder der Arzt Dr. Eugen Steinach (1861- 1944), ein führender Hormonforscher und Pionier der Verjüngungstherapie, zu dessen Patienten auch Sigmund Freud zählte. Auch in der Literatur hat Hohenems Spuren hinterlassen: Aus diesem Ort stammen die Mutter des Schriftstellers Stefan Zweig (1881-1942), eine Angehörige der bekannten Bankiersfamilie Brettauer, der Vater von Jean Améry (1912-1978), der sich noch Paul Mayer nannte, und der Vater der in St. Gallen geborenen Autorin Regina Ullmann (1884-1961), der im Armerikanischen Bürgerkrieg mitkämpfte und vor seiner Auswanderung nach St. Gallen Arzt in Hohenems gewesen war. Das jüdische Museum geht auf die Initiative eines 1986 gegründeten Vereins zurück. 1991 eröffnet, befindet es sich in der von einer Hohenemser Textilfabrikantenfamilie errichteten Villa Heimann-Rosenthal. Laut Wikipedia ist es „das regionale Museum für die Tradition der landjüdischen Gemeinde Hohenems und deren vielfältige Beiträge zur Entwicklung Vorarlbergs und der umliegenden Regionen (bis Bregenz und St. Gallen). Darüber hinaus besitzt es inzwischen mit seiner Tätigkeit internationale Ausstrahlung. Es beschäftigt sich auch mit jüdischer Gegenwart in Europa, der Diaspora und Israel und mit Fragen der Zukunft der europäischen Einwanderungsgesellschaft. [...] Da in Hohenems keine jüdische Gemeinde mehr besteht, kein jüdisches Leben mehr stattfindet, muss die Vermittlung und Kommunikation des Museums weitgehend durch nichtjüdische Personen gemacht werden.“ 8 1.2. Die Ausstellungstexte von Monika Helfer In der seit 2007 neu konzipierten Dauerausstellung im Jüdischen Museum werden Kinder als Besucher besonders berücksichtigt. Der Museumsdirektor Dr. Hanno Loewy schreibt dazu in seinem Vorwort zum Katalog „Heimat Diaspora. Das Jüdische Museum Hohenems“: „Schließlich eröffnet die neue Ausstellung auch Kindern und Jugendlichen einen anderen Blick auf ihre eigene Lebenswelt. Die von der Schriftstellerin Monika Helfer und der Künstlerin Barbara Steinitz entwickelte Kinderausstellung ist integraler Bestandteil der neuen Schau und begleitet den gesamten Ausstellungsrundgang. In lebendigen Szenen aus der jüdischen Geschichte, poetisch erzählt und in Schattenbilder umgesetzt, verfolgen unsere jüngsten Besucher ihre eigenen Interessen im Museum - assoziativ mit den Objekten und Dokumenten, 7 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ J%C3%BCdisches_Leben_in_Hohenems (Zugriff am 7.11. 2011). 8 Ebd. Ulrike Längle 386 Fragen und Themen der ‚großen‘ Ausstellung Beziehungen herstellend. [...] Die Kinder begegnen menschlichen Entscheidungssituationen und Konflikten, die ihnen fremd und bekannt zugleich erscheinen - Anlass genug um nachzufragen, manches genauer wissen zu wollen, Ideen und Bilder auszutauschen, in einen Dialog einzutreten, mit anderen Kindern und den Erwachsenen, die so manches doch auch nicht besser wissen. Manchmal ist es ein Anfang.“ 9 Die 1947 in Au im Bregenzerwald geborene Monika Helfer, die seit vielen Jahren mit ihrem Mann Michael Köhlmeier in Hohenems lebt, hat ein umfangreiches literarisches Werk mit zehn Romanen und Erzählbänden (zuletzt „Bevor ich schlafen kann“ 2010), Theaterstücken („Bestien im Frühling“ 1999) und Kinderbüchern („Rosie in New York“ 2002, „Rosie in Wien“ 2004) vorzuweisen. Viele ihrer Bücher zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus der Perspektive von Heranwachsenden oder Kindern erzählt sind. In Österreich wurde Helfer mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem ORF-Hörspielpreis, dem Ehrenpreis des Vorarlberger Buchhandels und dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur. Die Illustratorin Barbara Steinitz, 1978 in Freiburg im Breisgau geboren, studierte Kommunikationsdesign und Illustration in Saarbrücken und Barcelona; in Nicaragua hat sie sich intensiv mit dem Schattentheater beschäftigt. Dort machte sie die Bekanntschaft der Schriftstellerin Gioconda Belli, für die sie ihr erstes Bilderbuch („Die Blume und der Baum“ 2006) illustrierte. Michael Köhlmeier, der als Koautor für das Kinderbuch dazukam, ist 1949 in Hard in Vorarlberg geboren, lebt seit frühester Kindheit in Hohenems und hat ein sehr umfangreiches, mehr als fünfzig Titel umfassendes literarisches Werk geschaffen, das von Hörspielen über Theaterstücke, Filmdrehbücher, Erzählungen, Romane und Essays bis zur Lyrik und zu Songs praktisch alle literarischen Gattungen umfasst. Bekannt ist er vor allem als Romanautor und - durch seine Sendungen im ORF - als kongenialer mündlicher Erzähler geworden. Zuletzt erschien 2007 sein Jahrhundertroman „Abendland“ bei Hanser. Köhlmeier hat unter anderem den Rauriser Literaturpreis, den Johann-Peter-Hebel-Preis, den Anton-Wildgans-Preis, den Manès-Sperber-Preis, den Grimmelshausen-Preis, den Bodensee-Literaturpreis und den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur erhalten; „Abendland“ stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Für das Hohenemser Museum hat Helfer zwanzig kurze, für sich selbst funktionierende Geschichten geschrieben. Diese Geschichten ziehen sich durch die ganze Ausstellung und stellen Querverbindungen zu deren Objekten und Themen her. Als Quellen standen Monika Helfer das 1905 erschienene Standardwerk des Hohenemser Rabbiners Aron Tänzer „Geschichte der Juden in Hohenems“ sowie das Material über die Ausstellung zur Verfügung. Die „Kinderausstellung“ funktioniert so, dass in den beiden Stockwerken des Museums, in denen die Geschichte der Hohenemser Juden dokumentiert wird, ungefähr in Kniehöhe eines erwachsenen Besuchers zwanzig schwarze Knöpfe installiert sind. Auf Knopfdruck erscheint hinter Milchglas ein Leuchtbild mit einem kurzen Text, mit einem Walkman kann der Text auch abgehört werden. Die an Scherenschnitte oder Schattenbilder erinnernden und 9 L ÖWY , Heimat Diaspora, 44f. Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz 387 mit Collageelementen arbeitenden Illustrationen von Barbara Steinitz machen durch die Historizität der Technik des Scherenschnittes und durch das Schattenelement bewusst, dass es sich bei der dargestellten Welt um eine versunkene handelt. Wie komplex Helfers Texte in Interaktion mit den ausgestellten Objekten funktionieren, soll an einigen Beispielen gezeigt werden. In der Geschichte Nr. 18, „Liebesgabenpakete“, im Dachgeschoss, wo es um die DPs (Displaced Persons) in Hohenems geht, wird erzählt, dass Juden aus Amerika, die noch rechtzeitig vor dem Krieg geflohen waren, Pakete mit Kaffee, Tabak und Zucker schickten, jedoch nie einen warmen Mantel. Zu Herschel, der seit seinem Aufenthalt im Konzentrationslager immer friert, auch inmitten der vielen Liebesgabenpakete, kommt eines Tages eine einheimische Frau, die einen Militärmantel, der ihrem im Krieg gefallenen Mann gehört hat, gegen zwei Pakete Kaffee tauschen will. Die Geschichte endet völlig unsentimental: „Herschel tauschte zwei Pakete Kaffee gegen den Mantel. Es war ein guter Mantel, ein Soldatenmantel, Herschel hatte Männer in solchen Mäntel[n] schon gesehen.“ 10 Die Symbolkraft dieser Geschichte ist evident, an ihr zeigt sich aber auch eine zweifellos intendierte Tendenz zur Irritation. Die jungen Besucher fragen sich wahrscheinlich, wie es sich für einen ehemaligen KZ-Insassen anfühlt, sich mit einem Mantel der Deutschen Wehrmacht zu wärmen, jedenfalls bietet sie „Anlass genug um nachzufragen, manches genauer wissen zu wollen“, wie es im Vorwort von Loewy heißt. Der Figur von Herschel ist noch eine andere Geschichte gewidmet, Nr. 17, „Es war einmal ein Mann, der hieß Herschel“, in der erzählt wird, dass Herschel im KZ war, seine Familie nicht mehr findet, als DP nach Hohenems kommt und das Buch Hiob liest, während in Hohenems selbst wieder Hochzeiten stattfinden und Kinder geboren werden. Eine weitere Geschichte, Nr. 5 aus dem Erdgeschoß, die ebenfalls im Katalog abgedruckt ist, nennt sich „Die widerspenstige Sophie“. Erzählt wird von einem intelligenten kleinen Mädchen, das „zwecks Zähmung und Erziehung“ nach München in eine Schule geschickt wird, seine Wildheit ablegt, aber sich heimlich mit einem Mann verlobt, der weniger intelligent und keine gute Partie ist und auch am Schabbat arbeitet, was die Eltern mit den Worten quittieren: „’Jetzt haben wir sie nach München geschickt, damit sie gebildet wird, und nun vor lauter Bildung achtet sie unsere Bräuche nicht mehr. Ach, hätten wir doch nur unser widerspenstiges Kind wieder! ’“ 11 Auch diese Geschichte ist mehrdeutig: Einerseits bietet sie durch die Figur der widerspenstigen Sophie Anknüpfungspunkte an andere rebellische kleine Mädchen aus der Kinderliteratur wie Pippi Langstrumpf, andererseits erfahren die kleinen Besucher durch einen Blick auf die „große“ Ausstellung von einem Hohenemser Mädchen mit einem ähnlichen Schicksal: „Wir begegnen jüdischen Kaufmannsfamilien wie den Levis, die sich 1813 im Zuge der bayrischen Reformen Löwenberg nennen und ihre Tochter Wilhelmine nach München zur Erziehung als ‚höhere Tochter’ schicken, wo aus dem Mädchen eine ‚gezähmte Widerbellerin‘ werden soll. Das war offenbar ein erfolgreiches Projekt, denn die als Teil eines umfangreichen Konvoluts im Dachboden eines Hohenemser Hauses gefunde- 10 L ÖWY , Heimat Diaspora, 250f. 11 Ebd., 270. Ulrike Längle 388 nen Briefe der Elfjährigen (von 1819) sind von gestochener Schrift und Höflichkeit, zunächst noch in Hebräisch geschriebenem Deutsch, bevor sich die lateinischen Buchstaben auch in ihrer Korrespondenz durchsetzen.“ 12 Soviel zum Verfahren der Ausstellung. Die Themen, die in diesen zwanzig bebilderten Geschichten angesprochen werden, sind vielfältig: die jüdischen Pferdehändler und die Gänse, die die Juden als Zins an den Grafen abliefern mussten (Nr. 1 „Pferde und Gänse“); die Freundschaft zwischen dem jüdischen Mädchen Reikle und dem christlichen Marile im 17. Jahrhundert; jüdischer Messias und christlicher Heiland; ein angedrohtes Pogrom (Nr. 2 „Freundinnen“); die Fabrikantentochter Clara Rosenthal-Heimann, deren Wohnstätte das jetzige jüdische Museum war, die (bei Monika Helfer) schon als Kind gern tanzte und der ihr Vater zur Hochzeit Kissen mit den Zeichnungen schenkte, die Clara von sich selbst als Tänzerin gemacht hat und die in der familieneigenen Textilfabrik hergestellt wurden (die echte Clara Rosenthal bekam zur Hochzeit ein Kissen mit einem Bild der Villa und einem Foto von sich und ihrem Bräutigam, das ausgestellt ist; Nr. 4 „Clara tanzt“, Nr. 9 „Die Tänzerin“); die schon erwähnte „widerspenstige Sophie“ (Nr. 5); der spätere erste jüdische Bürgermeister Samuel Menz, eines von neun Kindern einer armen Witwe, der schon als Kind etwas Besonderes werden wollte und 1867 einen Turm auf die Synagoge bauen ließ (Nr. 6 „Der Turmbauer“); Kashrut-Vorschriften thematisiert die Geschichte eines Milchig-Löffels, der schließlich bei einem Knaben namens Rudolf landet, der damit Fleischsuppe isst, nicht mehr Hebräisch kann und sich nicht mehr um die Speisevorschriften kümmert (Nr. 7 „Der Milchig-Löffel“); ein jüdischer Hausierer, dem die Füße weh tun, der aber das Ausziehen der zu engen Schuhe als besondere Wohltat nicht missen will und sich deswegen keine neuen kauft (Nr. 8 „Hausierer Mendel“) - ein Beispiel für jüdischen Humor, daneben sieht man die Karte mit der Reiseroute eines Hohenemser Hausierers bis nach Augsburg - ; ein in die Schweiz ausgewanderter Onkel, der seinem Neffen nach einem Muster Stiefel machen lässt und die ganze Familie auffordert, in die Schweiz nachzukommen (Nr. 10 „Stiefel wie die der Garde des Kaisers“); die Geschichte eines Mannes, der sich überall fremd fühlt, weil er Jude ist, und deshalb auch dreimal so viel leistet wie andere und schließlich im Ersten Weltkrieg einen Orden vom Kaiser bekommt (Nr. 11 „Ein Orden vom Kaiser“); die Anpöbelung des jüdischen Mädchens Emma, die den Christen Fritz zum Freund hat, durch ihre christliche Konkurrentin Rosemarie auf dem Schulweg, die ebenfalls in Fritz verliebt ist und Emma bezichtigt, die Juden hätten Jesus gekreuzigt (Nr. 12 „Auf dem Schulweg“); die Besorgnis der jüdisch/ christlichen Väter von Emma und Fritz, als diese nach 1938 scheinbar verschwunden sind, sie küssen sich aber nur auf einer Bank auf dem Schlossberg (Nr. 13 „Auf dem Schlossberg“) und schließlich die Geschichte des berühmten Kantors und Kirchenmusikers Salomon Sulzer, der als Kind in den Emsbach gefallen ist und von da an seine Berufung zur Musik gespürt hat (Nr. 21 „Salomon Sulzer“). Im Dachgeschoss, in dem die Verfolgung im Dritten Reich und die Geschichte der DPs dokumentiert ist, erhält die schon bekannte Emma eine Kennkarte mit 12 Ebd., Vorwort, 39. Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz 389 dem eingestempelten J und den Vornamen Sara (Nr. 14 „Die Kennkarte“). Geschildert wird dann die Flucht von Emmas Familie über den Rhein und die Hilfe durch den St. Galler Polizeipräsidenten Paul Grüninger, der damals wegen seiner Hilfe für zahlreiche jüdische Flüchtlinge seines Amtes enthoben, eingesperrt und in der Schweiz erst 1995 rehabilitiert wurde (Nr. 15 „Paul Grüninger“). Dann wird die Geschichte des zehnjährigen Briefmarkensammlers Albert erzählt, dem seine Freundin, die alte Clara Rosenthal, die ihm schon früher ausländische Briefmarken geschenkt hat, auch nach ihrer Deportation noch schreibt; Albert hört nie wieder von ihr. Diese Geschichte (Nr. 16 „Der Philatelist“) ist direkt neben der Liste der Deportationszüge platziert, die damals aus Wien abgegangen sind. Nr. 19 „Amerika! “ thematisiert das Verhalten der Hohenemser Bürger nach 1945, die zum größten Teil behaupteten, sie hätten nichts gewusst; nur Fritz widerspricht und erinnert an Frau Heimann-Rosenthal und seine Freundin Emma und deren Familie. Er bekommt einen Brief von Emma aus Amerika, die ihm schreibt, sie habe geheiratet, er wagt aber nie, ihr zu antworten. Nr. 20 schließlich („Und so war es einmal ...“) beschreibt die Geschichte der Villa Heimann-Rosenthal, in der die französischen Besatzer einquartiert waren und die schließlich an einen Arzt verkauft wurde und verfiel, bis Bürgermeister Otto Amann den Plan für das Jüdische Museum fasste. Die Geschichten reichen also von den Zeiten des Grafen Kaspar bis nach 1945 und greifen wohltuend undidaktisch Themen wie Zusammenleben und Konflikte mit den Christen, jüdische Kultur anhand der Kashrut-Vorschriften, das jüdische Lebensgefühl des Fremdseins, Motive aus der Geschichte der ursprünglichen Besitzerfamilie Rosenthal, typisch jüdische Berufe, wie der des Hausierers oder des Pferdehändlers, bekannte Hohenemser Juden als Kinder (Salomon Sulzer und Samuel Menz), die Geschichte der Vertreibung (mit den Varianten geglückte Flucht und Deportation) und das Thema der DPs auf. 1.2. Die Veränderungen im Kinderbuch Die Direktion des Jüdischen Museums fasste den Plan, diese Ausstellungstexte und die Bilder zu veröffentlichen. Monika Helfer sollte eine Rahmenhandlung entwerfen. Nach einiger Zeit meldeten sich Monika Helfer und Michael Köhlmeier und teilten mit, dass sie das Buch gemeinsam machen wollten. 1.2.1. Die Erzählkonstellation Urgroßvater - Urenkelin Der entscheidende Kunstgriff des nunmehrigen Autorenduos Helfer und Köhlmeier besteht darin, die vorher nur sehr lose oder überhaupt nicht - außer durch den Ort Hohenems - zusammenhängenden Geschichten in einem Generationenmodell zusammenzufügen. Ein Vertreter der ersten Generation, der die Judenverfolgung im Dritten Reich miterlebt hat, erzählt einer Vertreterin der nunmehr bereits vierten Generation nicht primär die Geschichte dieser Verfolgung, sondern Geschichten um die Juden in seiner alten Heimat Hohenems. Dieser besonders große Generationenabstand ist auch ein Garant dafür, dass es keine Konflikte zwischen Erzähler und Zuhörer gibt, wie es etwa zwischen erster und zweiter Generation oft der Fall ist. In Ulrike Längle 390 ihrem aufschlussreichen Aufsatz „Zeitgeschichte, Familiengeschichte und Generationenwechsel. Deutsche zeitgeschichtliche Jugendliteratur der 1990er und 2000er Jahre im erinnerungskulturellen Kontext“ verweisen Hans-Heino Ewers und Caroline Gremmel auf den grundlegenden Wandel der Erinnerungskultur in den letzten eineinhalb Jahrzehnten. Es geht nicht mehr um NS-Zeit oder Holocaust als historische Ereignisse, sondern vorrangig um deren gegenwärtige Bedeutung und um politische, gesellschaftliche oder generationenbedingte Bedeutungszuweisungen. In der Jugendliteratur entstanden vermehrt Werke, „die von der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart handeln.“ 13 Die Autoren unterscheiden drei grundlegende Erzählmodelle zeitgeschichtlicher Romane: 1. Die rein zeitgeschichtliche Erzählung, die ausschließlich in der erinnerten Vergangenheit spielt und einzig der Erlebnisperspektive des erinnerten Ichs folgt. Die Erzählgegenwart kann sich dabei in der Erzählhaltung und in paratextuellen Äußerungen bekunden. 2. Die mehrschichtige zeitgeschichtliche Erzählung, bei der die Ebene der erzählten Vergangenheit durch eine Gegenwartsebene ergänzt wird, in der Handlungen stattfinden oder auch nur Reflexionen angesiedelt sein können. 3. Die reine Gegenwartserzählung mit erinnerungskultureller Thematik. Dabei geht es um eine in der Gegenwart stattfindende Vergangenheitserkundung und deren Folgen für die Betroffenen. Nach Ewers/ Gremmel wird heute der dritte Typus bevorzugt. „Rosie und der Urgroßvater“ zählt zum Typus zwei. Unter dem Generationenaspekt interessant ist die Tatsache, dass Vertreter der zweiten Generation, also die Kinder der Kriegsgeneration, sich besonders um die Weitergabe der Erinnerung an den Holocaust bemühen; das gilt vor allem für Lehrer. Auch in der Kinder- und Jugendliteratur der zweiten Generation, zu der Helfer (Jahrgang 1947) und Köhlmeier (Jahrgang 1949) gehören, zählt die Aufklärung über die Zeitgeschichte zu den Kernanliegen. Kritik an dieser Haltung wurde insofern geübt, als dabei für die Rezipienten nur wenig Spielraum für einen eigenen Zugang bleibt. „Der jugendliche Kommunikationspartner ist nicht mehr als ein williger Zuhörer, welcher die ihm zugedachte Botschaft widerspruchslos aufnimmt“, 14 er wird zum Stichwortgeber reduziert und hat keine Eigenständigkeit als Figur. Wie Helfer und Köhlmeier diese Klippe umschiffen, wird weiter unten gezeigt werden. Urgroßvater und Urenkelin leben beide in New York, der Urgroßvater ist ein in Hohenems aufgewachsener und im Dritten Reich geflohener Jude und nicht nur dadurch von Anfang an sympathisch, dass er seiner Urenkelin Geschichten erzählt, sondern auch durch die Tatsache, dass er politisch völlig inkorrekt gerne Zigarren raucht. Rosie kennt ihren Vater nicht; sie lebt mit Mutter und Großmutter in einem anderen Haushalt. Durch die Namengebung steht dieses Buch auch in einem Zusammenhang mit Monika Helfers vorhergehenden Kinderbüchern „Rosie in Wien“ und „Rosie in New York“; die Rosie dieses Buches hat mit den beiden kleinen Mäd- 13 E WERS / G REMMEL , Zeitgeschichte, 28. 14 Ebd., 37. Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz 391 chen aber nur den Namen und eine gewisse Aufgewecktheit als „wildes Großstadtmädchen“ 15 , wie es im Verlagsprospekt heisst, gemeinsam. Die Rolle des umgebenden Museums, das in der Ausstellung historische Informationen zu den Geschichten lieferte, übernehmen nun ein Glossar am Ende des Buches, in dem jüdische Begriffe von Achbrosch über Diaspora, Mesusa und Talmud bis zu Tora erklärt werden, und ein Nachwort von Hanno Loewy, der die Geschichte der Hohenemser Judengemeinde und des Jüdischen Museums in leicht verständlicher Sprache skizziert. Vom Hanser-Verlag wird das Buch als „rührende Urgroßvater-Urenkel- Geschichte“ und „ideales Vorlesebuch“ ab zehn Jahren empfohlen und das versöhnliche Ende betont: „Rosie ist ein wildes Großstadtmädchen, aber Urgroßvaters schöne alte Geschichten hört sie gern. Als sie eines Tages Urgroßvaters eigene Geschichte hören will, ist die nicht mehr schön, aber wenigstens ist sie für ihn gut ausgegangen.“ 16 1.2.2. Die Aussparung von Deportation und DPs Im Vergleich mit den Ausstellungstexten fällt eine Änderung besonders auf: Die Geschichten, in denen es um die Deportation von Clara Rosenthal („Der Philatelist“), um die Displaced Persons („Es war einmal ein Mann, der hieß Herschel“, „Liebesgabenpakete“) und um das Verhalten der Hohenemser nach 1945 („Amerika! “) geht, fehlen. Das kann daran liegen, dass durch die Erzählerfigur des emigrierten Urgroßvaters eine Integration dieser Geschichten einige erzählerische Verrenkungen erfordert hätte. Kaum thematisiert wird der Holocaust; nur zu Beginn ist von der Mutter und dem wilden Bruder des Urgroßvaters die Rede, die in einem Lager verschwunden sind und von denen man nie mehr etwas gehört hat. Vielleicht wollten die beiden Autoren dem Buch einen optimistischen Grundton geben: Im Verlagsprospekt ist - im Gegensatz zu den eher sachlichen Ausstellungstexten Monika Helfers - nun ausdrücklich von den „schönen, liebenswerten, traurig-komischen jüdischen Geschichten“ die Rede, die Rosies Urgroßvater „wunderbar“ 17 erzählen kann, womit auch ein Klischee bedient wird, das vom besonderen jüdischen Erzähltalent. Viel stärker ausgebaut als im Museum ist die Geschichte der geglückten Flucht von Emma und ihrer Familie, ihr weiteres Schicksal in Amerika kommt neu hinzu. Emma liebt vor der Flucht Robert (in der Ausstellung: Fritz), ihren christlichen Freund, in der neuen Fassung bilden Emma, Robert und dessen jüdischer Freund Julius, der Urgroßvater, der Emma ebenfalls heimlich liebt, ein unzertrennliches Trio, REJ; Robert und Julius musizieren miteinander auf Klarinette und Akkordeon, während die schöne Emma zuhört. Als Julius auf der Flucht über den Rhein seine Klarinette wegwerfen muss, werden seine Gefühle mit einem ironischen Schlenker am Schluss so beschrieben: 15 Kinderbücher, 12. 16 Ebd. 17 Ebd. Ulrike Längle 392 „‚Was war das für ein trauriger Moment! Meine Familie hatte ich zurückgelassen, meinen Freund hatte ich verloren, meine Liebe hatte ich verloren und nun noch mein Instrument. Und Wasser habe ich geschluckt.‘“ 18 1.2.3. Erzählen als Akt der familiären Integration Rosie erfährt erst gegen Ende des Buches, dass die Emma der Geschichten ihre eigene Urgroßmutter ist, da ihre Großmutter immer verhindern wollte, dass über die Nazi-Zeit in der Familie gesprochen wird und ihre Enkelin davon erfährt. „‚Verrate ja nicht unserer einzigen Tochter, dass ich dir diese Geschichte erzählt habe! Deine Großmutter, die leider gar nicht nach meiner Emma geraten ist, hat mir nämlich verboten, mit dir über diese Zeit zu sprechen‘“, 19 sagt der Urgroßvater. Erzählen hat nicht nur die Funktion, die Vergangenheit als solche lebendig werden zu lassen, es bricht hier auch das familiäre Schweigetabu und verhilft den Figuren zu ihrer eigenen Identität. Der Flüchtling über den Rhein, dem Grüninger hilft, ist nun Rosies Urgroßvater Julius, der dabei seine Klarinette verliert und an Salomon Sulzers Sturz in den Emsbach denkt, ein Beispiel dafür, wie in der Buchfassung die Einzelgeschichten in einen größeren familiären Zusammenhang integriert werden. Die Geschichte „Ein Orden vom Kaiser“, deren Protagonist ein namenloser Jude war, wird nun zur Geschichte des Großvaters des Urgroßvaters. 1.2.4. Ausbau der Geschichten zu legendenhaften Erzählungen An zwei Beispielen lässt sich zeigen, wie die knappen Ursprungstexte zu legendenhaften, an die Erzählungen der Chassidim erinnernden Geschichten ausgebaut werden. Das kurze Stück „Pferde und Gänse“, in dem von den jüdischen Pferdehändlern und den Gänsen als Tribut für den Grafen berichtet wurde, wandelt sich im Buch zu der märchenhaften Rettungserzählung von „Reikle und den Tieren im Winter“, 20 in der in einem besonders kalten Winter zur Zeit des Grafen Kaspar zuerst die Lieblingsstute von Reikle, dann aber auch die Gänse, die für den Grafen gemästet werden, die Hühner, Ratten, Mäuse, Käfer, Flöhe, Läuse, Wiesel, Marder, Spatzen, Holzwürmer usw. wie in einer Arche Noah aufgenommen werden und einträchtig zusammen am Tisch sitzen und essen. Bis der Frühling kommt, bleiben sie alle vom Tode verschont, erst dann werden die Gänse doch beim Grafen abgeliefert. Diese utopische Erzählung eines friedlichen Zusammenlebens, die an der Spitze des Buches steht, schlägt einen Grundakkord an, der auch dann noch weiterklingt, als von Verfolgung und Vertreibung die Rede ist. 1.2.5. Erzählen als komplexer Vorgang An der Art, wie diese Erzählung zustande kommt, zeigt sich auch das nicht triviale Verständnis von „Erzählen“ durch das Autorenduo: Die Geschichten entstehen erst im Verlauf des Erzählens durch Entscheidungen des Urgroßvaters und ändern sich 18 H ELFER / K ÖHLMEIER , Rosie, 118. 19 Ebd., 121. 20 Ebd., 7-18. Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz 393 durch das Eingreifen der Zuhörerin Rosie: Sie will beispielsweise wissen, welche Kleider Reikle trug und verlangt, dass die Stute, die der Großvater zuerst Wilma nennt, Mary Rose heißen soll: „‚Nur bevor du fragst, Rosie: Natürlich hat die kleine Stute, die Reikle so gemocht hat, einen Namen gehabt. Reikle selbst hat ihr den Namen gegeben. Aber ich habe ihn vergessen. Er klang wie Wilma. Ich glaube fast, es war Wilma. Bist du mit Wilma einverstanden, Rosie? ‘ ‚Mary Rose wäre mir lieber, das klingt so schön altmodisch.‘ ‚Die Stute hieß aber Wilma. Entweder Wilma oder keine Geschichte.‘“ 21 Schließlich nennt sie der Großvater mit allen drei Namen Wilma Mary Rose. Auch in die Gestaltung der Liebesgeschichte zwischen Emma, Julius und Robert möchte Rosie eingreifen: „‚Das ist eine traurige Geschichte‘, sagt Rosie und zieht die Knie an und legt ihren Kopf darauf [...] Könntest du die Geschichte nicht ein bisschen anders erzählen? Heute kannst du es doch. Mach Emma ein bisschen hässlich und den Robert ein bisschen dumm.“ 22 An dieser Stelle weigert sich der Großvater jedoch, Änderungen vorzunehmen. Das Erzählen des Großvaters kommt oft nur durch kleine Tricks von Rosie in Gang, die ihn durch Scheinerinnerungen erst dazu bringt, zu erzählen, wie es „wirklich“ war. Erinnern und Erzählen sind komplexe Vorgänge, an denen beide, der Erzähler und die Zuhörerin, beteiligt sind. Die an der zeitgeschichtlichen Jugendliteratur kritisierte Funktionalisierung des jugendlichen Zuhörers zum bloßen Stichwortgeber oder Fragesteller wird dadurch vermieden. Der leicht ironische Erzählton bricht zusätzlich das Verhältnis zu den ursprünglichen Geschichten, die auch noch auf andere Weise modifiziert werden. 1.2.6. Jüdische Sprachelemente Man kann generell feststellen, dass im Buch - im Gegensatz zur Ausstellung - sprachlich öfter versucht wird, jüdische Elemente einzubringen, so z. B. am Anfang durch die Phrasenwiederholungen und den komplexen Satzbau, der an das Muster des Schlussfolgerns erinnert: „Rosi [sic] liebt es, ihren Urgroßvater in Williamsburg zu besuchen. Deshalb nämlich, weil sie es liebt, ihm zuzuhören, wenn er Geschichten aus der kleinen Stadt Hohenems in Austria Europe erzählt. Dort war er selbst ein Kind gewesen und hat gern dort gewohnt, bis er nicht mehr gern dort gewohnt hat. Wenn er nämlich weiter dort gewohnt hätte, hätte er sich verstecken müssen, und wenn man ihn erwischt hätte, wäre er wie seine Mutter und sein wilder Bruder Eugen in ein Lager gekommen, und man hätte nichts mehr von ihm gehört, wie man bis auf den heutigen Tag nichts mehr von seiner Mutter und seinem wilden Bruder Eugen gehört hat.“ 23 Der Urgroßvater möchte Rosie auch jiddische Wörter beibringen, die diese aber als „unbrauchbar“ ablehnt; sie wolle „lieber Russisch lernen oder Schifahren.“ 24 21 Ebd., 12f. 22 Ebd., 114. 23 Ebd., 7. 24 Ebd., 21. Ulrike Längle 394 Trotzdem integrieren Helfer und Köhlmeier an dieser Stelle auch ein kleines jiddisches Lied in den Text, dessen Übersetzung ins Hochdeutsche in Klammern hinzugefügt wird; auch ein kleines Lied im Hohenemser Dialekt wird mit Übersetzung in Klammern eingefügt. 25 Die Geschichte von Samuel Menz bekommt einen geradezu biblischen Ton: „‚Es war einmal ein armer Bub, der hieß Samuel Menz, der war schön wie der junge David. Sein Kopf war in Gold getaucht, und das Gold hatte sich zu Locken geformt. Seine Augen strahlten, als würde weit im Kopf hinten ein Chanukka- Leuchter stehen. Seine Stimme war das Instrument, an das König Salomon gedacht haben musste, als er seine Lieder schrieb. Jeder in Hohenems kannte den Samuel Menz, jeder konnte ihn gut leiden, die Christen genauso wie die Juden.‘“ 26 Dieser arme Judenknabe, den seine Mutter mit noch acht Geschwistern allein durchbringen muss, entwickelt schon als Kind die Phantasie, er werde einmal etwas Großes werden; er ist sozusagen ein Prophet. Seine Mutter spricht mit jiddischen Anklängen: „‚Die Leute werden den Hut vor uns ziehen‘, prophezeite er. ‚Worauf hinaus denn, Samele‘, bat sie ihn, es zu benennen, ‚worauf hinaus denn? ‘ ‚Wenn ich groß bin‘, erfand nun Samuel, der Erfinder, seine eigene Zukunft, ‚werde ich Bürgermeister werden. Und dann werde ich auf unsere Synagoge einen Turm bauen mit einer Uhr und einer Kugel aus Messing auf der Spitze. Die Kugel wird heller leuchten als die Kugel auf der Christenkirche, und die Uhr wird immer um eine Minute vorgehen, damit alle, die Hohenems besuchen, sehen, dass wir Juden um ein paar Schritte näher bei Gott sind.‘“ 27 Dieser Samuel Menz ist eine vorbildhafte Figur: Schon mit zehn Jahren soll er den Satz geäußert haben: „‚Wer fragt, tut nichts.‘“ 28 Statt endloser Diskussionen mit ständig neuen Fragen zieht er es vor zu handeln. Nach der Erzählung dieser Geschichte, als der Großvater den Vorschlag macht, Rosie könnte ihn im Rollstuhl spazieren fahren, und fragt, ob ihre Mutter das erlauben würde, antwortet Rosie keck: „‚Wer fragt, tut nichts.‘“ 29 Rosie zieht also sofort die Lehre aus der Geschichte und wendet sie auf ihr eigenes Leben an. Rosie wird auch dadurch dem Urgroßvater gegenüber emanzipiert, dass sie selbst in einem Kapitel als Erzählerin auftritt und die Geschichte ihrer unglücklichen Freundin Billie berichtet, die in einer Patchwork-Familie mit fünf echten und sechs unechten Geschwistern aufwächst. Im Laufe des Erzählens lösen sich Billies Probleme und die Probleme innerhalb der Familie Rosies: Obwohl die Großmutter einen Mann im Haushalt strikt ablehnt, findet Rosies Mutter einen neuen, farbigen Freund, und obwohl die Großmutter behauptet, der Urgroßvater hasse Farbige, verstehen sich die beiden auf Anhieb und spielen miteinander Schach. 25 Ebd., 21f. 26 Ebd., 52f. 27 Ebd., 57. 28 Ebd. 29 Ebd., 58. Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz 395 „Rosie und der Urgroßvater“ wurde von der Kritik einhellig gelobt, stellvertretend seien hier zwei Besprechungen zitiert. In der „Zeit“ vom 8. November 2010 fungiert das Buch als eines von vier „gelungenen Beispielen“ von Büchern, die „die Schrecken jener Zeit plastisch, aber ohne Kitsch darstellen.“ 30 Ulrich Weinzierl schreibt in seiner Rezension in der „Welt“: „Es sind Märchen aus der Realität, in denen das Leben und Treiben, Sitten und Gebräuche der Juden von Hohenems eine zentrale Rolle spielen. Das mag arg pädagogisch klingen, zumal da eine Menge jüdischer Begriffe vorkommen, die ein Glossar im Anhang erklärt, besitzt freilich die Gnade der Leichtigkeit. Spielerisch und nebenbei werden Wissen und auch die Vernunft des Herzens vermittelt. [...] Wichtig scheint die Mischung aus Heiterkeit und Traurigem. Ein anderes Wort dafür lautet: Weisheit. Wer vom Schicksal der Juden spricht, spricht von deren Ausgrenzung und Verfolgung. Doch sind vor solchem Publikum leise Töne anzuschlagen, um verständlich zu bleiben. Helfer und Köhlmeier geben stets die Möglichkeit der Identifikation, sich im Fremden wieder zu erkennen und mitzufühlen.“ 31 Die Autoren und die Illustratorin wurden für „Rosie und der Urgroßvater“ mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet und für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Für die Illustrationen von Barbara Steinitz gab es den Dritten Preis des Troisdorfer Bilderbuchpreises 2011. 2. Maya Rinderers Roman „Esther“ Zum Abschluss sollen noch ein paar Hinweise auf ein anderes, sehr ungewöhnliches Buch folgen, in dem es um den Holocaust geht: auf den 2011 erschienenen und 350 Seiten starken Roman „Esther“ von Maya Rinderer. Ungewöhnlich ist dieses Buch vor allem durch die Person der Autorin, der 1996 geborenen und in Dornbirn wohnenden Enkelin eines Holocaust-Überlebenden, die seit ihrem zwölften Lebensjahr „ausgehend von Gesprächen und persönlichen Berichten“, 32 wie es lapidar in einer äußerst knappen biographischen Anmerkung am Ende des Buches zu lesen ist, an dem Roman gearbeitet hat; beim Erscheinen war sie fünfzehn. 2.1. Das Schweigen des Großvaters als Schreibmotivation Ungewöhnlich und möglicherweise sogar einzigartig 33 ist neben der Jugend der Autorin vor allem das von ihr gewählte Verfahren: Sie erzählt nicht etwa, wie es für eine Angehörige der dritten Generation naheliegend wäre, wie in ihrer Familie von 30 H ÖRNLEIN , Hundert Mal, 59. 31 W EINZIERL , Lebenslehrbuch, 34. 32 R INDERER , Esther, 354. 33 Telefonische Auskunft von Dr. Susanne Blumesberger, Spezialistin für Kinder- und Jugendliteratur am Germanistischen Institut der Universität Wien, der ich für ihre Hilfe herzlich danken möchte. Die Ansicht, dass es nichts Vergleichbares gebe, vertrat auch Dr. Hanno Loewy in einem Telefongespräch. Ulrike Längle 396 der Shoa gesprochen oder geschwiegen wurde, was sie davon gehört oder gelesen und wie das auf sie gewirkt hat. Rinderer schlüpft in ihrem Roman vielmehr in die Rolle eines jungen Mädchens, Esther Levi aus Frankfurt, und erzählt fast durchgehend aus deren Perspektive. Eine Angehörige der Enkelgeneration identifiziert sich also im Medium der Literatur völlig mit einem Mitglied der Großelterngeneration und durchlebt beim Schreiben stellvertretend ein jüdisches Verfolgungsschicksal, das bis nach Auschwitz führt. Anlass zum Schreiben war ursprünglich das Verschweigen der Geschichte des Großvaters in der Familie; auch seine Tochter, die Mutter der Autorin, hatte keine Erinnerung daran. In einem Text mit dem Titel „Familie“, der ein Foto ihrer Mutter als Kind mit den Eltern begleitete, das in der Ausstellung „Ein gewissen jüdisches Etwas“ 2010 im Jüdischen Museum in Hohenems zu sehen war, schreibt Maya Rinderer über ihre Großeltern, die in Israel leben: „Sie [die Großmutter] erzählt mir immer, wie wunderschön sie war, sie erzählt mir viele andere Ereignisse aus ihrem Leben. Ich liebe ihre Geschichten. Leider kann man sich nie sicher sein, was sie erfindet und was nicht. Letzten Endes ist mir das aber egal. Ich habe ihr versprochen, ein Buch über sie zu schreiben. Mein Großvater redet selten über die Vergangenheit. Ich habe ihn letztes Jahr darum gebeten. Ich saß da und er saß da, die Kamera lief, aber er konnte mir nichts erzählen. Ich finde, er ist immer noch sehr gutaussehend. Obwohl seine Mutter und seine Schwester in Auschwitz vergast worden sind, sein Vater im Arbeitslager Mühldorf starb und er selbst Auschwitz, Dachau und Mühldorf überlebte, kenne ich keinen Menschen, der so lachen kann, wie er [...] Bei meiner letzten Reise nach Israel fing mein Großvater an zu erzählen.“ 34 Hier ist es die Enkelin, der es gelingt, durch ihr Erzählen das Schweigen des Großvaters aufzubrechen. Was in dem Roman familiäre Erinnerung ist, was von Maya Rinderer erfunden wurde, kann schwer festgestellt werden, auf Erzählungen des Großvaters geht er jedenfalls nicht zurück. In einem Interview zum Erscheinen des Buches gab Rinderer an, sie habe mit sechs Jahren zum ersten Mal im Internet über Auschwitz recherchiert, weil ihre Mutter und der Großvater damals dorthin gefahren seien: „Ich wusste, dass dort etwas geschehen war - nur was, das wusste ich nicht.“ 35 Mit sieben Jahren habe sie „Das Tagebuch der Anne Frank“ gelesen, mit elf begann sie die Idee zu entwickeln, einen Roman über den Holocaust zu schreiben; ihre Schreibmotivation betrachtete sie nach Vollendung des Buches mit einer gewissen Selbstkritik: „‚Ich war damals wohl ein bisschen naiv. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, ob es passend oder unpassend für ein Kind ist, ein Buch über den Holocaust zu schreiben.“ Später sei ihr dann aber schon klar geworden, dass es manche für anmaßend halten könnten, dass sie sich an so ein Thema wagte, ‚aber da hatte ich schon so lange am Roman gearbeitet, dass ich nicht mehr aufhören wollte. […] Es ist also eine durchgängig fiktive Geschichte. Als klare Abgrenzung zur Familiengeschichte ist die Hauptfigur auch ein Mädchen.‘“ 36 34 R INDERER , Familie. 35 M AYER , Eine 15-Jährige, 38. 36 Ebd., 39. Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz 397 In einem anderen Interview sagt die Autorin zu dem Thema: „Ich war zwölf, als ich ihn geschrieben habe. Über Themen wie das Ausgestoßensein und die Flucht habe ich schon mehrmals geschrieben. Innerhalb der Familie bin ich auf etwas Unausgesprochenes gestoßen, das wollte ich genauer wissen. Mein Großvater hat das selbst erlebt. Ich wollte ihn dazu interviewen, doch er konnte nicht darüber sprechen. Ich wusste aber, dass ich mich damit auseinandersetzen musste. Das war ein wichtiger Teil meiner Familiengeschichte, ich wollte es wissen, und verstehen. Etwas, das mich sehr gefreut hat: Nach der Veröffentlichung des Buches hat mein Großvater (82) begonnen, ein wenig davon zu erzählen.“ 37 Psychologisch gesehen war dieser Roman der Versuch, sich eine unaufgearbeitete Geschichte, die großes Gewicht in der Familie hatte, von der Seele zu schreiben. In der Jugendliteratur zu diesem Thema gibt es ein fast konträr gelagertes Beispiel: In dem vielgelesenen Jugendbuch „Chaja heißt Leben“ der amerikanischen Jugendbuchautorin Jane Yolen, auf Deutsch erstmals 1989 bei Ueberreuter in Wien, dann ab 1992 als Ravensburger Taschenbuch veröffentlicht, das „eines der wichtigsten neueren Jugendbücher über die Judenverfolgung und den Holocaust sein“ 38 dürfte, wird die Geschichte der dreizehnjährigen New Yorkerin Hannah Stern erzählt, die aus einer liberalen Familie stammt und die genug von den Erinnerungen an die Shoa hat. Besonders abgestoßen fühlt sie sich von ihrem Großvater Will, einem Holocaust-Überlebenden, der zu unkontrollierten emotionalen Reaktionen neigt. Sie möchte sich dem Seder-Abend entziehen, wird aber plötzlich in einer Zeitreise in ein kleines Haus in Polen im Jahr 1942 versetzt, von nun an Chaja genannt und in die Ereignisse der Shoa mithineingezogen, die sie manchmal für einen Traum hält. Als sie mit drei Leidensgenossinnen in den Tod gehen will, erwacht sie wieder in ihrem New Yorker Zuhause, und nun tut sie das bewusst, was sie vorher nicht wollte: sich erinnern. 39 Maya Rinderer hat diesen Erinnerungsprozess freiwillig auf sich genommen; ob sie Yolens Buch kannte, entzieht sich meiner Kenntnis. Sie hat aber, wie viele junge Menschen, das „Tagebuch der Anne Frank“ gelesen und von dort möglicherweise einen zusätzlichen Schreibimpuls und Anregungen für die Partie in ihrem Roman bekommen, in denen Esther von einer Familie versteckt wird: „Das Tagebuch ist eines der wenigen Werke von Jugendlichen, die auch publiziert worden sind. Anne Frank steht als Symbolfigur für die Leiden des jüdischen Volkes und verlieh Millionen ermordeter Kinder und Jugendlichen eine Stimme.“ 40 Im Gegensatz dazu repräsentiert Maja Rinderer die Sicht einer heutigen Jugendlichen auf die Geschehnisse des Holocaust, die sich als scheinbar unmittelbare Erzählung tarnt. 37 „Neo-Nazis stimmen mich traurig“, 16. 38 W ERMKE , Jugendliteratur, 173. 39 Das Buch wird ausführlich analysiert in: W ERMKE , Jugendliteratur, 173-182. 40 S CHMIDT , Anne Frank, 31. Ulrike Längle 398 2.2. Zum Inhalt Der Roman erzählt das Schicksal der fünfzehnjährigen Esther Levi aus Frankfurt, deren Familie - Mutter, drei Schwestern, ein Bruder - deportiert werden soll; der Vater, ein Kinderarzt, ist bereits von Nazis umgebracht worden. Esther flieht im letzten Moment mit dem Baby Rachel auf dem Arm, kann sich auf einem Bauernhof verstecken, dann in einem leeren Haus, Rachel erfriert. Esther findet in der nächsten Stadt Hilfe bei einer wildfremden jungen Frau, die sie einfach wegen einer Unterkunft anspricht, wird zu deren Onkel an die belgische Grenze geschickt, der ihr bei der Flucht helfen soll. Der Onkel verrät sie. Esther gelingt die Flucht trotzdem, sie wird aber verletzt und von einem belgischen Jungen namens Alexander Grünwald gerettet, einem Jungen mit einem deutschen jüdischen Vater, der jedoch verschwunden ist. Seine Familie versteckt Esther und pflegt sie gesund. Schließlich fliegt das Versteck auf, die Familie wird verschleppt, Esther gelingt noch einmal die Flucht. Sie lebt eine Zeitlang als Bettlerin, dann in einer Wohnung, die eine jüdische Familie verlassen muss. Schließlich wird auch sie nach Auschwitz deportiert, trifft ihren tot geglaubten Bruder wieder und überlebt das KZ. Am Ende taucht auch der totgeglaubte Alexander wieder auf, in den sie sich verliebt hat. 2.3. Zur Erzählperspektive „Esther“ wird fast durchgehend aus der Perspektive der Protagonistin erzählt, doch erlaubt sich die Autorin gelegentlich auktoriale Einschübe. Der Roman beginnt mit einer ziemlich klischeehaften Schilderung der herbstlichen Natur: „Der Wind erfasste die wenigen Blätter und wirbelte sie stumm durch die Luft. Wie flehend zum Himmel gestreckte Finger ragten die kahlen Äste der Bäume in die Höhe. Bald würde es Winter werden. Das Leben hatte bereits seine Farben verloren und wartete nun auf den erlösenden Schnee, der es behütend einbetten würde. Wenn der Frühling kam, wäre alles wieder gut.“ 41 Von der Natur wandert der Blick in die graue, bedrückende Wohnung der Familie, Esther wird in ihrer Rolle als älteste und verantwortungsbewusste Tochter in der Familie gezeigt. Schon auf Seite 16 wird eine Vorausdeutung gegeben: „In jeder Situation hätte sie sich besser gefühlt als in dieser. Dachte sie … denn schlimmere Tage ihres Lebens standen ihr noch bevor.“ Die Situation wird weniger durch präzise Angaben charakterisiert als durch ein allgemeines Beschwören des „Bösen“, von „Schicksal“ und „Unheil“. Die dominierende Erzählperspektive wird jedoch einige Male durchbrochen, etwa wenn die Träume des Babys Rachel beschrieben werden: „Rachel hingegen träumte. Auch wenn es Esther so vorgekommen war, als würde ihre kleine Schwester großteils von der Ernsthaftigkeit der Situation verschont bleiben und kaum mitbekommen, wie nah sie jeden Tag ihrem Ende kamen, so hatte sie sich geirrt. Man würde kaum glauben, dass ein Baby derart grauenhafte Träume haben kann. Rachel war keineswegs in ihrer heilen Welt geblieben. Sie träumte vom Tod, sie spürte die 41 R INDERER , Esther, 7. Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz 399 Gefahr und sie fühlte Kälte.“ 42 Dieser Traum wird ausgebaut zu einer Szene, in der der Tod höchstpersönlich zu Rachel spricht und in seinen Monologen - wie der Tod im bekannten Schubert-Lied „Der Tod und das Mädchen“ - lockt: „Weshalb fürchtest du mich, liebes Kind? Ich bin dein Freund, ich bin ein Teil von dir. So wie das Leben dich ergriffen hat und dir das schenkt, was dir Leiden bereitet, so bin ich stets in dir, an deiner Seite, denn ich bin dein Spiegelbild, ich bin hier, um dich zu retten, um deinem qualvollen Leben ein Ende zu bereiten. Klingt das nicht verlockend? […] Lass dich doch von meinem samtenen Mantel umhüllen, ich werde dich in meinen Armen wiegend hinfort tragen und alles, was du sehen wirst in jener anderen Welt, wird dein Herz erfreuen und dich glücklich sein lassen. Folge meinem Weg.“ 43 Der Tod erhebt jedoch auch Anklage gegen die Menschen: „‚Ich kann ihre Bosheit riechen, sie schmecken‘, sprach der Tod weiter und die Schönheit wich aus dem Klang seiner Rede. ‚Diese bösen Menschen sorgen dafür, dass ich kaum mehr Freizeit habe. Sie töten zu viel. Selbst ich, der ich mich danach sehne, alle Menschen in die Sicherheit meines Reiches zu führen, bin nicht in der Lage, sie alle auf einmal mitzunehmen und diese Erschöpfung war mir bisher unbekannt.‘“ 44 Auch im 17. Kapitel, wo es um den Tod der Mutter Rivka in einem ungenannten Vernichtungslager in Polen geht, wechselt die Perspektive. Das Geschehen wird hier teils aus der Innensicht der Mutter, teils in auktorialer Perspektive geschildert: „Und Rivka schleppte sich auf die Straße, mit ihren letzten Kräften. Wäre es nicht klüger, einfach jetzt zu sterben? Aber sie wollte nicht in diesem Dreck sterben, wie die armen Seelen, die sie dort liegen sah. […] Und mit dem reinen Bewusstsein, in den Tod zu gehen, wurde Rivka, die einst stolze jüdische Frau, in eine der Gaskammern geführt. Sie sah nicht, ob sie im Schmutz starb, dass sie in [sic] Schmutz starb, aber sie tat es stolz. Und sie bereute ihren Entschluss nicht, sie hätte dafür auch keine Zeit gehabt. Diese Welt völlig zu verlassen, fällt nicht jedem leicht. Manche bleiben, wenn der Weg in das Reich des Todes auch hell erleuchtet und die enge Erde der Lebenden ein dunkler Albtraum ist, aus dem man so bald wie möglich erwachen möchte.“ 45 An dieser Stelle wechselt die Perspektive noch einmal, die vergangene Szene wird nun plötzlich so dargestellt, als habe Esther sie visionär miterlebt: „Sie blickte in die ausdruckslosen Augen ihrer Tochter und wollte weinen. Doch die Toten weinen nicht und so tat sie es auch nicht. Und sie war stolz auf Esther, sie warf ihr nicht vor, an Rachels Tod schuld zu sein. ‚Stolz‘, flüsterte Esther. Der zischende Klang brannte auf ihrer Zunge wie etwas unerträglich Saures. Aber irgendwie wichtig.“ 46 42 Ebd., 113. 43 Ebd., 114. 44 Ebd., 116. 45 Ebd., 155. 46 Ebd., 93. Ulrike Längle 400 2.4. Zur Funktion des Schreibens als Selbstermächtigung Innerhalb der Erzählung setzt Rinderer ganz bewusst einen Wechsel in die Ich- Perspektive ein. Für Esther war Lesen immer schon eine Möglichkeit, ihrem unbefriedigenden Leben zu entfliehen: „Sie liebte es, sich für kurze Zeit in die Welt der Worte zu verlieren, die sie in sich aufsog als wäre sie ein lange erwarteter Gast, den sie nur ungern wieder gehen ließ. Die einzelnen Buchstaben erschienen ihr wie schimmernde Perlen, die sich zu einer Kette zusammenfügten, die sich schillernd auf den Seiten des Buches wand wie ein wunderschönes Schmuckstück. Das Papier atmete. Der Duft, der von ihm ausging, war warm und behaglich. Heimatlich. Das war Esthers Heimat.“ 47 Auch das Lesen im Tagebuch ihrer Großmutter bringt ihr Trost. Die wahre Erleichterung bringt aber erst das Schreiben, und zwar zuerst das Schreiben eines eigenen Erinnerungstagebuchs, was in blumiger Sprache mitgeteilt wird: „Die Worte kamen von selbst. Sie waren schon immer da gewesen. Sie fielen wie Regentropfen in ruhigem Rhythmus auf das Papier. sie benetzten die ohnehin bereits tränennasse Schneelandschaft mit neuen Farben. Und so sprossen die ersten Blumen aus Esther Levis Feder.“ 48 Und dann geht es in Ich-Form weiter: „Die Erleichterung, zu schreiben, ist unbeschreiblich. Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann, dem ich von den Sorgen und Ängsten berichten kann, mit denen mein Herz erfüllt ist. Mein schweres Herz, das ich immer mit mir herumtragen muss, als wäre die auf meinen Schultern liegende Last nicht genug.“ 49 Dem Schreiben wird ausdrücklich die Funktion zugeteilt, eine Stärkung gegen das drohende Unglück zu bilden, deshalb möchte Esther nur über glückliche Ereignisse aus ihrer Kindheit berichten. Erfüllt das Lesen bereits eine eskapistische Funktion, so wirkt das Schreiben noch viel stärker, weil die Schreiberin dabei Macht ausübt, was durch die Ich-Perspektive noch unterstrichen wird. Es wird dadurch zu einem wirksamen Gegengift gegen Esthers reale, ausgelieferte Situation: „Genau so war es beim Schreiben. Nur dass das Schreiben noch schöner war, da sie entscheiden konnte, wie es weiterging. Was passierte. Dann hatte sie die Fäden in der Hand, sie war die Herrin über ihre eigene, von ihr erschaffene Welt. Eine stolze Herrscherin, stolz darauf, eine solche Geschichte zu schreiben.“ 50 Im Zusammenhang mit der „stolzen Herrscherin“ scheint ein Hinweis auf den Namen der Titelheldin angebracht: die alttestamentarische Esther, jüdische Frau des Perserkönigs Xerxes, verhinderte durch ihre Klugheit einen Massenmord an ihrem Volk; noch heute wird ihrer im Purimfest gedacht. Die Namenswahl „Esther“ für die Titelheldin ist also Programm. Der immer wieder erwähnte „Stolz“ verlässt sie sogar an der Selektionsrampe nicht: „Sie wollte nicht weinen, wollte nicht schwach und hilflos vor den SS-Leuten wirken. Sie wollte sich nicht erniedrigen lassen, wollte nicht zeigen, dass sie Achtung vor ihnen verspürte, sich vor ihnen fürchtete. Sie 47 Ebd., 29f. 48 Ebd., 93. 49 Ebd., 93. 50 Ebd., 156. Rosie in New York/ Hohenems und Esther in Auschwitz 401 wollte nicht, dass sie sahen, dass sie ihnen untergeordnet war. Sie wollte ihren Stolz behalten, solange sie noch konnte.“ 51 Die existentielle Funktion, die das Schreiben im Roman für Esther hat, dürfte auch für die Autorin Maya Rinderer gelten. Mit dem Schreiben dieses Buches hat sie sich ihre Familiengeschichte und einen Teil der Geschichte der europäischen Juden angeeignet und eigenständig gestaltet. Dass die literarische Gestaltung nicht mit den üblichen literaturkritischen Maßstäben zu messen ist, versteht sich von selbst. Stilistisch kann man einen Wandel feststellen: Im ersten Teil finden sich viele märchenhafte und esoterische Anklänge. So führt Esther z. B. ein Gespräch mit ihrem Schutzengel, im Traum spricht eine Stimme zu ihr: „‚Geh‘, hatte der Wind gesagt. ‚Und rette dein Leben.‘“ 52 Gegen Ende wird das Buch stilistisch besser und realistischer, was auch mit dem zunehmenden Alter der Autorin zusammenhängen dürfte. Rinderers Darstellung von Geschwisterkonflikten, von der schwierigen pubertären Beziehung zu ihrer Mutter, vom Verliebtsein, vom Erwachsenwerden oder von der komplizierten jüdischen Identität zeugt von erstaunlicher Reflexion und Reife. Bei der literarischen und sprachlichen Gestaltung des Todes oder der Shoa stößt sie naturgemäß an ihre Grenzen. Interessant ist das Buch aber allemal als Dokument für den Umgang einer heutigen Jugendlichen mit diesem Thema. Literatur E WERS , H ANS -H EINO / G REMMEL , C AROLINE : Zeitgeschichte, Familiengeschichte und Generationenwechsel. Deutsche zeitgeschichtliche Jugendliteratur der 1990er und 2000er Jahre im erinnerungskulturellen Kontext, in: G ABRIELE VON G LASENAPP / H ANS -H EINO E WERS (Hrsg.): Kriegs- und Nachkriegskindheiten - Studien zur literarischen Erinnerungskultur für junge Leser, Frankfurt am Main 2008, 27-50. G RABHERR , E VA (Hrsg.): Juden in Hohenems. Katalog des Jüdischen Museums Hohenems, Hohenems 1996. H ELFER , M ONIKA / K ÖHLMEIER M ICHAEL : Rosie und der Urgroßvater. Mit Bildern von Barbara Steinitz und einem Nachwort von Hanno Loewy, München 2010. H ÖRNLEIN , K ATHRIN : Hundert Mal gehört? , in: Die Zeit, 18.11.2010, 59. H OTTNER , W OLFGANG : Die Erfindung vertritt die Erinnerung. Eine Münchner Tagung über den Umgang der Künste mit dem Holocaust, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.11.2011, N3. Interview „Neo-Nazis stimmen mich traurig“. Maya Rinderer und ihr Holocaust- Roman „Esther“, in: Wann und Wo, 10.7.2011, 16. Kinderbücher Herbst 2010 [Prospekt des Hanser-Verlags], München 2010, 12f. M AYER , H ANNES : Eine 15-Jährige und der Holocaust, in: Neue Vorarlberger Tageszeitung, 20. März 2011, 38. 51 Ebd., 320. 52 Ebd., 75. Ulrike Längle 402 R INDERER , M AYA : Esther, Hohenems/ Wien 2011. -: Familie. Unveröffentlichter Text in der Ausstellung „Ein gewisses jüdisches Etwas“, Jüdisches Museum Hohenems 2010. Der Text wurde mir freundlicherweise von Dr. Hanno Loewy zur Verfügung gestellt. S CHMIDT , K ATJA : Anne Frank, in: B ETTINA K ÜMMERLING -M EIBAUER (Hrsg.): Jüdische Kinderliteratur. Geschichte Traditionen Perspektiven. Katalog zur Ausstellung, Wiesbaden 2005, 30f. T ÄNZER , A RON : Die Geschichte der Juden in Hohenems. Mit Vorworten von Fritz Tänzer und Otto Amann und einem Nachruf von Rabbiner Dr. Auerbach, unveränderter Nachdruck, Bregenz 1971. W EINZIERL , U LRICH : Lebenslehrbuch leiser Töne. Monika Helfer und Michael Köhlmeier erinnern an die Juden von Hohenems, in: Die Welt, 11.9.2010, 34. W ERMKE , M ICHAEL : Jugendliteratur über den Holocaust. Eine religionspädagogische, gedächtnissoziologische und literaturtheoretische Untersuchung, Göttingen 1999. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ J%C3%BCdisches_Leben_in_Hohenems (Zugriff am 7.11.2011). 403 Personenregister - A - Abrass, Osias: 163 Adorno, Theodor W: 15, 270, 310, 314f., 348 Amann, Otto: 389 Améry, Jean: 363f. Arendt, Hannah: 275 Arminius (Cheruskerfürst): 85 Arnau, Frank: 206-209 Asch, Schalom: 268 Auerbach, Berthold (Moses Baruch Auerbacher): 39, 41f., 198f. Aurbacher, Ludwig: 18, 32, 53-62 - B - Bab, Julius: 198 Baeck, Leo: 195 Bakst, Léon: 265 Bauer, Bruno: 270f. Bauer, Wolfgang: 203-205 Becker, Jurek: 330 Beilis, Mendel: 171, 173 Benjamin, Walter: 376 Bernadac, Christian: 215f. Bernhart, Joseph: 46f., 49 Bettelheim, Bruno: 278-281 Bismarck, Otto von: 164 Blass, Ernst: 198 Bloch, Erich: 195f. Böschenstain, Johannes: 90f. Borchardt, Hermann: 269, 280 Brahms, Johannes: 248 Brandenburg, Albrecht von: 83 Brecht, Bertolt: 22f., 263-307 Breisdorff, Nikolaus: 68, 73f. Breu, Jörg: 95 Bronnen, David: 210 Bubis, Ignatz: 333f., 339f. Buhlig, Richard: 248 Burkenroad, David: 253 -, Marianne: 255 -, Martin: 253 Busche, Hermann von den: 92 - C - Caesar, Caius Iulius: 92 Cajetan (Kardinal): 86 Chladni, Johann Martin: 103f. Chodziesner, Gertrud (Gertrud Kolmar): 195, 198 Cocteau, Jean: 265f. Cotta, Johann Georg von: 53 Cremer, Fritz: 281f. Cuvier, Baron von: 72 - D - Dangerfield, Elma: 283f. Dehmel, Richard: 171 Dessau, Paul: 275f. Diepenbrock, Melchior von: 53 Döblin, Alfred: 299 Dörfler, Peter: 44-49 Dorn, Erna: 296 Dutschke, Gretchen: 373f. -, Rudi: 373f. - E - Ehrenburg, Ilja: 286-289 Ehrenstein, Albert: 198 Eichthal, David Freiherr von: 117 Eisenberg, Paul Chaim: 217 Eisler, Hans: 276f. Engerling, Johann: 68 Enzensberger, Hans Magnus: 23, 309-321, 330 Erasmus von Rotterdam: 86 Personenregister 404 - F - Fassbinder, Rainer Werner: 23, 339- 354 Fecht, Gustave: 117 Feuchtwanger, Lion: 266, 272 Figl, Leopold: 214 Finkielkraut, Alain: 380f. Fourier, Charles: 64 Frank, Anne: 397 Friedländer, Max: 248 Friedmann, Friedrich Georg: 15 Fuchs, Jakob: 92 Fuchs, Dr. Martin: 213 Fuchsmann, Charles: 253 Fugger, Jakob: 86 - G - Ganghofer, Ludwig: 19, 149-159 Gerson, Frieda: 194 Giehne, Friedrich: 120 Glassman, Bernard: 380 Gobineau, Arthur de: 64, 70 Görres, Joseph: 53 Granach, Alexander: 269 Grass, Günter: 333 Gratius, Ortuin: 91f. Grattenauer, Kurt Wilhelm Friedrich: 71 Grimm, Gebrüder: 54, 59 Grossman, Wassili: 287 Grosz, George: 269f. Grünbauer, Fred: 228-231 Grüninger, Paul: 389 - H - Haber, Salomon: 117 Habsburg, Otto von: 212f. Hardt, Ludwig: 268 Hauff, Wilhelm: 36-40 Hebel, Johann Peter: 19, 38f., 117- 134, 198 Hecht, Ben: 268 Heer, Jakob Christoph: 31 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: 277f. Heine, Heinrich: 156 Heinemann, Seligmann: 166 Helfer, Monika: 24, 383-395, 401f. Herder, Johann Gottfried: 67 Herz, Marcus: 102 Hesse, Hermann: 193 Hessus, Eobanus: 82, 84 Heuss, Theodor: 193 Hiller, Elisabeth (geb. Eschenlohr): 21, 232-244 Hilsenrath, Edgar: 374 Hirsch, Samuel: 64 Hollaender, Felix: 248 Hoogstraten, Jakob van: 88 Horney, Karen: 252 Hutten, Ulrich von: 18f., 81-97 - I - Isenschmid, Andreas: 332 - J - Jacobsohn, Siegfried: 193 Jessner, Leopold: 273 Joachim, Joseph: 248 Johnson, Crockett: 269 Jonas, Michel: 65 Jones, Ernest: 252 Joyce, James: 214 Juschtschinskij, Andrej: 171 - K - Kafka, Franz: 327, 379 Kantorowicz, Alfred: 298 Karl V. (Kaiser): 83 Kempner, Brüder Paul und Fritz: 252 Kessler, Dr. Georg: 234 Klein, Georg: 335 Klein, Melanie: 252 Klemperer, Victor: 331 Klüger, Ruth: 326f., 380 Personenregister 405 Köhlmeier, Michael: 24, 383-395, 401f. Kortner, Fritz: 299f. Kurz, Hermann: 30 Kusel, Jakob: 117 - L - Lachmann, Hedwig: 20, 163-179 -, Isaak: 163-168 Lampel, Martin: 299 Landauer, Gustav: 166, 168, 171f., 175 Lang, Fritz: 276 Laurent, Johannes Theodor: 64 Lavater, Johann Caspar: 71 Lederer, Joseph: 43 Lenau, Nikolaus: 34f. Lewinsky, Charles: 22, 259f. Liepmann, Heinz: 281 Lübke, Heinrich: 206 Luther, Martin: 86 Luxemburg, Rosa: 296 Lyotard, Jean-François: 313-315, 317f. - M - Mann, Klaus und Erika: 269 Marx, Karl: 270-273 Maschmann, Melita: 252 Massary, Fritzi: 273f. Matejka, Viktor: 214 Matthias (Kaiser): 165 Matussek, Prof. Paul: 216 Mauthner, Fritz: 20, 181-192 -, Hedwig: 173 Maximilian I. (Kaiser): 83f., 88, 90 Mayr, Adalbert: 225-228 Meerwein, Christian: 117 Meier, Armin: 351 Melanchthon: 90 Mendelssohn, Moses: 127f. Menz, Samuel: 388 Menzel, Wolfgang: 67 Michaelis, Johann David: 121 Michelis, Eduard: 64, 68, 73 Model, Salomon: 117 Mörike, Eduard: 19, 135-148 Mombert, Alfred: 198f. Montanus, Martinus: 59 Müller, Armin: 361 Müller, Johannes: 72 Müller, Joseph („Ochsensepp“): 208 Müller, Ludwig (Reichsbischof): 251 Müller-Braunschweig, Carl: 252 - N - Nebel, Fritz: 240 Nieland, Elisabeth: 47 Nigrinus, Georgius: 65 - O - Origenes: 374 - P - Penz (Brüder): 211f. Peutinger, Conrad: 83 Pfefferkorn, Johannes (Halle): 85 Pfefferkorn, Johannes (Köln): 85, 88, 92-94 Picard, Erwin: 194 -, Eugenie (geb. Bernheim): 193 -, Fritz: 194 -, Hermann: 195 -, Jacob: 20, 193-202 -, Simon: 193 -, Wilhelm: 194 Piscator, Erwin: 293 Pranaitis, Justinas: 171 Premauer, Lilli: 235 Price, Sabine: 256 Proudhon, Pierre Joseph: 64-66 - R - Rahner, Karl: 15 Rascher, Dr. Sigmund: 215f. Rauh, Leo: 229 Reemtsma, Jan Philipp: 335 Personenregister 406 Reich-Ranicki, Marcel: 331f., 334f. Reinhardt, Max: 273f. Reuchlin, Johannes: 84f., 88-91 Reuss, Leo: 273f. Reutlinger, Elkan: 117 Riccabona, Anna (geb. Perlhefter): 210f. -, Dr. Gottfried: 210f. 216 -, Max: 20f., 203-219 Rinderer, Maya: 24, 384, 395-402 Ringseis, Johann Nepomuk: 53 Rosegger, Peter: 156 Rosenthal, Clara: 388 Rost, Hans: 292 -, Nico: 214 Roth, Joseph: 213f., 363 Rubeanus, Crotus: 82, 85 - S - Sachs, Nelly: 195, 310-313, 316, 319 Sailer, Michael: 53 Schäfer, Wilhelm: 193 Scheer, Maximilian: 297f. Schenk, Eduard: 53 Schirrmacher, Frank: 334 Schmeller, Andreas: 53 Schmidt, Helmut: 247f. Schönhagen, Benigna: 247 Scholtis, August: 195 Schubart, Christian Friedrich Daniel: 33f. Schultheß, Johannes: 31f. Schulz, Heinrich: 234 Schwarz, Hayum: 165 Schweitzer (Familie): 21f., 247-258 -, Alexander: 255 -, Carl-Christoph: 21f., 247, 251, 254f. -, Carl-Gunther: 249-251 -, Christoph: 250, 252f., 256 -, Eike: 252 -, Ernst: 249-253 -, Eugen und Algunde (geb. Hollaender): 21, 248f. -, Franziska: 252 -, Kurt: 249f. -, Marianne: 252f. -, Reicke: 255 Sebald, W. G.: 23f., 355-368 Seghers, Anna: 287f., 296 Seidel, Gabriele: 247, 252, 255f. -, Hans: 252 Semprun, Jorge: 335f. Sickingen, Franz von: 84 Sigel, Franz: 195, 199 Soden, Hermann von: 248 Spinoza: 155f. Steinach, Dr. Eugen: 385 Steinhart, Gotthilf Samuel: 125 Steinitz, Barbara: 385-387, 395 Stifter, Adalbert: 153 Stolz, Alban: 18, 63-78 Sulzer, Salomon: 385, 388 - T - Tabori, George: 275, 300f. Tendlau, Abraham: 59 Thorner, Hans: 252 Tolstoi, Leo: 169 Trusen, Johann Peter: 71 Tscheberjak, Vera: 171, 173 Tschesno-Hell, Michael: 287 - V - Viertel, Salka: 268 Vigée, Claude: 131 Voltaire: 65 - W - Wackwitz, Andreas: 377 -, Gustav: 377 -, Stephan: 24, 369-382 Walser, Martin: 21, 23, 323-340 Walz, Johann Leonhard: 125 Weber, Bernhard: 65 -, Heribert: 65 Weigel, Helene: 274 Personenregister 407 Weil, Marianne: 234f. Weill, Alexander: 41 Weizmann, Chaijm: 194 Weizsäcker, Richard von: 253 Wieland: Christoph Martin: 19, 99- 116 Wies, Nikolaus: 68 Wilkomirski, Binjamin (Benno Dösseker): 374 Winge, Hans: 266, 275f. Wolf, Elisabeth (geb. Lang): 21, 232- 244 - Y - Yolen, Jane: 397 Young, Howard: 237, 242 - Z - Zweig, Arnold: 269f. Zwerenz, Gerhard: 343 Zygielbojms, Szmul: 283 408 Geographisches Register - A - Anhalt (Dorf): 377 Antwerpen: 91 Augsburg: 83, 86f., 90, 95, 227, 232, 237, 240f., 247 Auschwitz: 235, 240, 285, 309, 323, 377f., 380 - B - Baden (Großherzogtum): 164 Baden-Baden: 117 Bad Vilbel: 196 Basel: 84, 91 Berlin: 165, 193-195, 248, 251f., 293, 298 Birkenau: 380 Börwang (bei Kempten): 228 Bologna: 82f. Bonn: 251, 253 Breslau: 87, 248 Brügge: 83 Brüssel: 83 Buchenwald: 279, 281f. - C - Chapel Hill (North Carolina, USA): 250, 253 Cuba: 252 - D - Dachau: 205, 214-216, 240, 279 Davos (Schweiz): 205 - E - England: 250f. Erfurt: 82 Erlangen: 117 - F - Feldkirch: 210, 216 Ferrara: 83 Framingham (Norwich): 355 Franken: 57 Frankfurt am Main: 83, 164, 340, 343, 348 Frankfurt an der Oder: 82 Frankreich: 266 Freiburg: 193f. Friedewald bei Siegen/ Westfalen: 251 Fulda (Benediktinerabtei): 82 - G - Genf: 238 Graz: 204, 211 Greifswald: 82 - H - Halle: 85 Harburg: 237, 240 Heidelberg: 84, 91, 193f. Höri (Halbinsel am Bodensee): 193- 195 Hohenems (Vorarlberg, Österreich): 384-389, 396 Holland: 196 Horn: 194f. Hürben-Krumbach: 165f. - I - Ichenhausen: 43 Ingolstadt: 90 Innsbruck: 211, 216 - K - Kaisersteinbruch (Burgenland, Österreich): 214, 217 Kalifornien (USA): 276 Geographisches Register 409 Kiew: 171 Köln: 82, 88, 194 Königsbrunn (Lkr. Augsburg): 232- 235 Konstanz: 193f., 196 - L - La Jolla (Kalifornien, USA): 253 Landsberg: 57f. Lauenberg (Pommern): 165 Leipzig: 82 Leningrad: 275 Lichtenburg (KZ): 252 London: 248, 252 Los Angeles: 273 Luxemburg: 18, 64f., 68 - M - Mainz: 82f. München: 53, 193, 206, 232, 237, 239 - N - New York: 252, 273 Nördlingen: 91, 234, 237 Nordstetten bei Horb (Württemberg): 41-43 Nürnberg: 91, 233 - O - Oberlochau (bei Bregenz): 205 Österreich-Ungarn: 164 - P - Paris: 213 Passau: 87 Pavia: 82 Polen: 283f. Prag: 139, 184f., 291 Preußen: 164 Providence (USA): 237 - R - Regensburg: 87 Rom: 83 Rostock: 82 - S - Sachsenhausen (KZ): 250, 252 Salzburg: 214 Schöntal: 369 Schwaben: 57f. Schweden: 266 Schweiz: 239 Steckelberg (Burg) bei Schlüchtern: 82f. Stuttgart: 36 - T - Theresienstadt: 356 Thierhaupten (Lkr. Augsburg): 225- 227 Tübingen: 251, 327 - U - Ufenau (Insel im Zürichsee): 84 Ulm: 29 Urach: 369 USA: 195, 239-242, 253, 266 - V - Venedig: 83, 91 - W - Wangen (im Allgäu): 193, 195 Wien: 82, 139 (Vororte Wiens), 211f., 214 Wittenberg: 82, 90 Württemberg: 138f. Würzburg: 139, 232 - Z - Zürich: 84, 91 Zuoz: 211 Autoren und Herausgeber O SWALD B URGER , Lehrer i.R., Historiker, Germanist, Leiter des Literarischen Forums Oberschwaben. D R . A LOIS E PPLE , Türkheim, Archivar des Pfarrarchivs Türkheim. D R . P ETER F ASSL , Heimatpfleger des Bezirks Schwaben, Augsburg. A NDREAS F REIDL , Germanist und Komparatist, Technische Universität Chemnitz. D R . M ICHAEL F RIEDRICHS , Anglist und Germanist, Augsburg, Redakteur des Dreigroschenhefts, einer Vierteljahreszeitschrift zu Brecht. D R . F RANZ F ROMHOLZER , Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Augsburg. D R . H ELMUT G IER , Bibliotheksdirektor i.R., Augsburg. D R . F RIEDMANN H ARZER , Akademischer Direktor am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Augsburg. D R . B ERNDT H ERRMANN , Redaktionsleiter, Kulturjournalist und Literaturwissenschaftler, Aichach. T OBIAS K RÜGER , M.A., bis 2015 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Augsburg; seit September 2015 Studienreferendar in Weilheim M AG . D R . U LRIKE L ÄNGLE , Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Leiterin des Franz-Michael-Felder-Archivs Bregenz. D R . S TEFAN L INDL , Historiker, Universität Augsburg. T ANJA C. M ULLER , Historikerin und Kunsthistorikerin, Promoventin an der Universität Trier (Katholischer Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Luxemburg) und Gymnasiallehrerin im Fach Geschichte am Lycée classique de Diekirch in Luxemburg. D R . U LRICH S CHEINHAMMER -S CHMID , Germanist und Historiker, Neu-Ulm. K ATJA S CHNEIDER , M.A., wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Augsburg. D R . S EBASTIAN S EIDEL , Dramatiker, Regisseur und Leiter des Sensemble Theater Augsburg. D R . A RMIN S TROHMEYR , Schriftsteller und Germanist, Berlin. M AG . M ARTINA T ODESKO , Literaturwissenschaftlerin, Augsburg. Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de : Weiterlesen Irseer Schriften Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte Herausgegeben von Markwart Herzog und Sylvia Heudecker - Schwabenakademie Irsee Band 2 Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hg.) Vorindustrielles Gewerbe Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und früher Neuzeit 2004, 260 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-692-2 Band 4 Markwart Herzog, Cecilie Hollberg (Hg.) Seelenheil und irdischer Besitz Testamente als Quellen für den Umgang mit den »letzten Dingen« 2007, 242 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-630-4 Band 5 Markwart Herzog, Huberta Weigl (Hg.) Mitteleuropäische Klöster der Barockzeit Vergegenwärtigung monastischer Vergangenheit in Wort und Bild 2011, 400 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-189-0 Band 6 Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hg.) Praktiken des Handels Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit 2010, 688 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-203-3 Band 7 Peter Fassl, Markwart Herzog, Jim G. Tobias (Hg.) Nach der Shoa Jüdische Displaced Persons in Bayerisch-Schwaben 1945-1951 2011, 140 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-341-2 Band 8 Christof Jeggle, Andreas Tacke, Markwart Herzog, Mark Häberlein, Martin Przybilski (Hg.) Luxusgegenstände und Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Gegenwart Produktion - Handel - Formen der Aneignung 2015, 558 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-525-6 Band 9 Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hg.) Materielle Grundlagen der Diplomatie Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit 2013, 294 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86496-300-1 Band 10 Peter Fassl, Wilhelm Liebhart, Wolfgang Wüst (Hg.) Groß im Kleinen - Klein im Großen Beiträge zur Mikro- und Landesgeschichte Gedenkschrift für Pankraz Fried 2014, 472 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-365-8 Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de : Weiterlesen Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnete der Soziologe Werner Sombart die Juden als Motoren des Fortschritts. Ihr herausragender Anteil an der Modernisierung der Gesellschaft, die Wirtschaft und Handel ebenso betraf wie die geistigen und intellektuellen Leistungen in Forschung, Presse oder Kunst, war offenkundig und begünstigte antisemitische Stereotypen. Gegenüber den geistigen und intellektuellen Tätigkeitsfeldern waren Juden in traditionellen Berufsfeldern wie Handwerk, Gärtnerei oder Landwirtschaft nur marginal repräsentiert - am ehesten gingen die Begriffe »Jude« und »Landwirtschaft« noch in der Figur des Viehhändlers zusammen. Dennoch gab es jenseits des Landjudentums, das aufgrund von Emanzipation und Stadtflucht ständig an Bedeutung verlor, Juden, die sich für eine landwirtschaftliche Existenzweise entschieden. Was ihre Motive waren, wie sie die Bedrohung des Nationalsozialismus erlebten und welches ihre Schicksale waren, zeigt der vorliegende Band. Pressestimmen: »ein spannender Blick auf ein bislang noch unbekanntes Kapitel unserer Regionalgeschichte.« stadt land see. Kulturmagazin der Städte Weingarten, Ravensburg und Friedrichshafen »Grundlage des Buches sind Akten der Entschädigungsprozesse. Aber um diese mit Leben zu füllen, mussten die Autoren zu den in der ganzen Welt verstreuten Nachkommen Verbindung und Vertrauen aufbauen. Hier liegt die eigentliche Leistung.« Südkurier »… die Schicksale der ›jüdischen Bauern‹ sind an sich schon anrührend genug. Und schärfen heutzutage den Blick auf das Los von Flüchtlingen …« seemoz Manfred Bosch, Oswald Burger »Es war noch einmal ein Traum von einem Leben« Schicksale jüdischer Landwirte am Bodensee 1930-1960 Mit einem Beitrag von Christoph Knüppel 2015, 240 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-630-7 Südseite. Kultur und Geschichte des Bodenseekreises Band 3