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Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit

2019
978-3-7398-8017-4
UVK Verlag 
 Sächsische Jugendstiftung

Zwischen den Zeiten Junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen auf ihren Weg zu führen, dies hat sich die Sächsische Jugendstiftung mit ihrem Programm "Zwischen den Zeiten" zum Ziel gesetzt. Kern des Programms sind maximal einwöchige Pilgerreisen - klar strukturiert und pädagogisch begleitet. Das Pilgern hilft jungen Menschen dabei, das Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen, das zuvor durch prekäre Lebenssituationen oder Straftaten gekennzeichnet war. Die bisherige Bilanz kann sich sehen lassen: Mehr als 500 junge Menschen pilgerten auf mehr als 50 Touren über 5.000 Kilometer. Sie leisteten dabei über 7.000 gemeinnützige Arbeitsstunden als gesellschaftliche Wiedergutmachung ab. In diesem Buch beleuchten und diskutieren ExpertInnen aus der Soziologie, Psychologie, Theologie und Pädagogik diesen Ansatz und ziehen schließlich sozialpädagogische Schlüsse daraus. Ein spannendes und zugleich aufschlussreiches Fachbuch für SozialpädagogInnen, TheologInnen und SoziologInnen sowie für Interessierte aus den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe.

Das Programm „Zwischen den Zeiten“ der Sächsischen Jugendstiftung wird gefördert vom Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes. ISBN 978-3-7398-3017-9 Junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen auf ihren Weg zu führen, dies hat sich die Sächsische Jugendstiftung mit ihrem Programm „Zwischen den Zeiten“ zum Ziel gesetzt. Kern des Programms sind maximal einwöchige Pilgerreisen - klar strukturiert und pädagogisch begleitet. Das Pilgern hilft jungen Menschen dabei, das Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen, welche zuvor durch prekäre Lebenssituationen oder Straftaten gekennzeichnet war. Die bisherige Bilanz kann sich sehen lassen: Nach mehr als 5000 km zu Fuß, über 8000 abgeleisteten gemeinnützigen Arbeitsstunden in 68 Pilgertouren mit über 700 jungen Menschen konnte sich der methodische Ansatz bewähren. In diesem Buch beleuchten und diskutieren ExpertInnen aus der Soziologie, Psychologie, Theologie und Pädagogik diesen Ansatz und ziehen schließlich sozialpädagogische Schlüsse daraus. Ein spannendes und zugleich aufschlussreiches Fachbuch für SozialpädagogInnen, TheologInnen und SoziologInnen sowie für Interessierte aus den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe. Sächsische Jugendstiftung (Hg.) Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Sächsische Jugendstiftung (Hg.) Sven Enger, Stephan Hein, Angela Teichert für junge Menschen in multiplen Problemlagen Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit www.uvk.de 53017_Umschlag_03.indd Alle Seiten 53017_Umschlag_03.indd Alle Seiten 03.12.2019 16: 34: 12 03.12.2019 16: 34: 12 »Zwischen den Zeiten« Sächsische Jugendstiftung (Hg.) Sven Enger, Stephan Hein, Angela Teichert Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit für junge Menschen in multiplen Problemlagen unter Mitarbeit von Ansgar Hoffmann, Kati Masuhr, Iris Milde und Till Winkler UVK Verlag ∙ München Die Sächsische Jugendstiftung Die Sächsische Jugendstiftung ist eine landesweit wirkende, privatrechtliche Stiftung. Sie wurde 1997 auf Beschluss des Sächsischen Landtags ins Leben gerufen. Ihre Satzung und Struktur, mit den Organen Vorstand und Beirat, wurde von der Sächsischen Staatsregierung verabschiedet und von der Stiftungsaufsicht genehmigt. Aus der Absicht des Gründers entsteht ihr hauptsächlicher Stiftungszweck, die Schaffung einer weitestgehend unabhängigen und landesweit wirkenden Einrichtung mit der Zielsetzung, Jugendhilfe insb. Jugendarbeit in Sachsen zu unterstützen und das Engagement in der Generation junger Menschen im Freistaat Sachsen zu befördern. Sächsische Jugendstiftung Weißeritzstraße 3 01067 Dresden www.saechsische-jugendstiftung.de ISBN 978-3-7398-3017-9 (Print) ISBN 978-3-7398-8017-4 (EPDF) ISBN 978-3-7398-0525-2 (EPUB) Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlag 2019 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Lektorat: Rainer Berger, München Einbandmotiv: © Sven Enger, Dresden Druck und Bindung: CPI, Claussen & Bosse, Leck UVK Verlag Nymphenburger Str. 48 80335 München Telefon: 089/ 452174-66 Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG Dischingerweg 5 72070 Tübingen Telefon: 07071/ 9797-0 www.narr.de Geleitwort »Zwischen den Zeiten« von Bernd Holthusen Ambulant statt stationär - heute aktueller denn je „Ambulant statt stationär“ oder mit anderen Worten: Vermeidung von Freiheitsentzug durch bessere Alternativen - das war bereits in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die auf den Punkt gebrachte zentrale Botschaft der „Ambulanten Bewegung“. In dieser Zeit wurde immer lauter gefordert, eine grundlegende Reform des Jugendgerichtsgesetzes vorzunehmen. Die Fachpraxis der Jugendgerichte und vor allem auch der Jugendhilfe setzte sich dafür ein, kriminologische Erkenntnisse systematischer im Jugendstrafverfahren zu berücksichtigen. Die Kriminologie hatte durch viele Studien immer wieder belegt, dass freiheitsentziehende Sanktionen hohe Rückfallraten aufweisen und insbesondere für junge Menschen in der Entwicklung schädliche und eben nicht erzieherische Wirkungen mit sich bringen. So bildete sich die Überzeugung heraus, dass freiheitsentziehende, stationäre Sanktionen, wo immer möglich, zurückgedrängt und durch erzieherisch orientierte, ambulante Sanktionen ersetzt werden sollten. Im Fokus der Zurückdrängung standen vor allem die verschiedenen Formen des Jugendarrests, aber auch die Vermeidung und Verkürzung der Untersuchungshaft, als der wohl schädlichsten Form des Freiheitsentzugs. Die Fachpraxis ging voran und erprobte in Modellprojekten ambulante Alternativen zu den freiheitsentziehenden Sanktionen - noch bevor es eine entsprechende gesetzliche Grundlage gegeben hat. Die wissenschaftliche Begleitung der Modellvorhaben zeigte positive Ergebnisse und so wurden die „Neuen Ambulanten Maßnahmen“ nicht nur fachlich weiterentwickelt, sondern fanden auch immer weitere Verbreitung. Diese Reform durch die Praxis wurde dann vom Gesetzgeber 1990 im Jugendgerichtsgesetz (JGG) aufgegriffen. In dem auch heute noch lesenswerten Gesetzentwurf heißt es wörtlich: „Es hat sich weiterhin gezeigt, daß die in der Praxis vielfältig erprobten neuen ambulanten Maßnahmen (Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer- Ausgleich) die traditionellen Sanktionen (Geldbuße, Jugendarrest, Jugendstrafe) weitgehend ersetzen können, ohne daß sich damit die Rückfallgefahr erhöht. Schließlich ist seit langem bekannt, daß die stationären Sanktionen des Jugendstrafrechts (Jugendarrest und Jugendstrafe) sowie die Untersuchungshaft schädliche Nebenwirkungen für die jugendliche Entwicklung haben können“ (Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vom 27.11.1989, BT- Drucksache 11/ 5829, S. 1). Und weiter: „Durch die Erweiterung der in § 10 Abs. 1 JGG angeführten Erziehungsmaßregeln um die Betreuungsweisung, den sozialen Trainingskurs und den Täter-Opfer-Ausgleich sowie die Aufnahme der Arbeitsauflage in den Katalog des § 15 Abs. 1 JGG unter Beibehaltung der Arbeitsweisung in § 10 Abs. 1 JGG sollen die Reaktionsmöglichkeiten des Jugendrichters vor allem in Fällen der leichten bis mittelschweren Kriminalität verbessert werden, wenn es etwa wegen wiederholter Auffälligkeit oder besonderer Problemlage zwar einer erzieherischen Einwirkung auf den Jugendlichen oder Heranwachsenden bedarf, die Anordnung vor allem von Jugendarrest aber nicht angemessen erscheint“ (BT-Drucksache 11/ 5829, S. 11). Mit der Verankerung der ambulanten Maßnahmen im Jugendgerichtsgesetz 1990 verbreiteten sich die Angebote bundesweit. Die bereits im Jahr 1980 gegründete Bundesarbeitsgemeinschaft Ambulante Maßnahmen in der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. (DVJJ) erarbeitete - um bundesweit fachliche Standards zu etablieren - 1991 den „Leitfaden für die Anordnung und Durchführung der ‚Neuen Ambulanten Maßnahmen‘“ (BAG NAM 1991). Die Standards formulierten als Zielsetzung nicht nur die Zurückdrängung freiheitsentziehender Sanktionen, sondern auch die Erweiterung der Handlungskompetenzen der Jugendlichen sowie deren Legalbewährung. Folgerichtig wurde auch eine Koppelung von Ambulanten Maßnahmen mit Jugendarrest ausgeschlossen. Festgelegt wurde weiter, dass gegen den ausgesprochenen Willen der Jugendlichen keine Weisungen angeordnet werden sollten und für die Durchführung der Maßnahmen besonders qualifizierte, sozialpädagogische Fachkräfte erforderlich sind. Im Fokus der ambulanten Maßnahmen sollten vor allem mehrfach auffällige, mehrfach belastete Jugendliche stehen - für Erst- und Bagatelltäter sollte demgegenüber das Prinzip „informell statt formell“ zur Anwendung kommen, also das Mittel der Diversion im Vorverfahren genutzt werden. Auf dieser Basis etablierten sich die ambulanten Maßnahmen in den folgenden Jahrzehnten als wichtige Sanktionsform, die die erzieherischen bzw. pädagogischen Handlungsmöglichkeiten der Jugendgerichte erheblich erweiterte und so dazu beiträgt, den 2008 auch explizit im Jugendgerichtsgesetz verankerten Erziehungsgedanken (§ 2 Absatz 1 Satz 2 JGG) umzusetzen. Damit sind ambulante Angebote aus dem Jugendstrafverfahren nicht mehr wegzudenken. Soziale Trainingskurse, Täter-Opfer-Ausgleich, Arbeits- und Betreuungsweisungen werden bundesweit in vielfältiger Form angeboten und genutzt. Fachlich modernisiert haben die damaligen „Neuen Ambulanten Maßnahmen“ die neue Bezeichnung „Ambulante Sozialpädagogische Angebote“ erhalten. Damit wird noch einmal deutlich hervorgehoben, dass es sich um Angebote der Jugendhilfe handelt und eben nicht um justizielle Maßnahmen, auch wenn es sich um jugendrichterliche Sanktionen handelt. Bei allen aufgeführten Erfolgen der „Ambulanten Bewegung“ zeigt der aktuelle Blick auf die Sanktionspraxis der Jugendgerichte - soweit es die leider immer noch unzureichenden statischen und empirischen Daten zulassen -, dass die formulierten Ziele bei Weitem noch nicht erreicht sind. So ist es trotz des Ausbaus der ambulanten Angebote nicht gelungen, den Freiheitsentzug, vor allem in Form des Arrestes weiter zurückzudrängen. Auch wenn die mittlerweile dreizehn vorliegenden neuen Jugendarrestvollzugsgesetze der Bundesländer eine stärkere pädagogische Ausgestaltung des Jugendarrests fordern, sind der Pädagogik in diesem Setting enge Grenzen gesetzt und die spezialpräventive Überlegenheit der ambulanten Maßnahmen gegenüber freiheitsentziehenden Sanktionen bleibt bestehen. Dennoch werden nach wie vor - wenn auch regional sehr unterschiedlich - „Sanktionscocktails“ ausgeurteilt, in denen neben ambulanten Weisungen auch ein Arrest verhängt wird. Das heißt, dass damit das zentrale Ziel der ambulanten Angebote grundlegend konterkariert wird. Mit dem sogenannten „Warnschussarrest“ (§ 16a JGG) ist im Jahr 2013 entgegen vieler fachlicher Bedenken gar eine neue Arrestform eingeführt worden. Auch wenn in den letzten Jahren ein leichter Rückgang in den Belegungszahlen des Jugendarrests konstatiert werden kann, wurde im Jahr 2017 bei knapp 20.000 jungen Menschen ein Arrest vollzogen. Neben den Urteilsarresten sind dies auch eine kleinere Anzahl von Arresten aufgrund von Ordnungswidrigkeitsverfahren und vor allem auch sogenannte „Ungehorsamsarreste“, wenn Weisungen oder Auflagen durch die Verurteilten nicht befolgt wurden und erzwungen werden sollen. Die hohe Zahl von „Ungehorsamsarresten“ können auch als ein Problemindikator interpretiert werden: Der Abbruch bzw. die Nichterfüllung von Weisungen und Auflagen kann vielfältige Ursachen haben. Als meistverhängte ambulante Sanktion werden Arbeitsstunden (als Weisung oder Auflage) verhängt, deren Stundenzahl dreistellig ist und häufig keine geeignete pädagogische Betreuung haben. Ein anderer Grund für einen Abbruch kann sein, dass die ausgeurteilte Sanktion nicht zu der Lebenssituation und zum pädagogischen Bedarf des jungen Menschen passt: z.B. anstatt eine Betreuungsweisung anzuordnen, um Teilhabeperspektiven zu eröffnen, ein sozialer Trainingskurs verhängt wird. Hier sind die Jugendhilfe im Strafverfahren und die freien Träger, die ambulante sozialpädagogische Angebote durchführen, herausgefordert, für die jeweilige Jugendliche/ den jeweiligen Jugendlichen eine passende ambulante Sanktion anzubieten oder neue Angebote zu entwickeln. Nach der Reformphase mit vielen Innovationen bei den Angeboten ist in den letzten Jahren eine gewisse Stagnation bei Neuentwicklungen zu beobachten. Eine der wenigen Ausnahmen ist die niedrigschwellige Leseweisung und der durchaus eingriffsintensive Arbeitsansatz von „Zwischen den Zeiten“, der im Mittelpunkt dieser Publikation steht. Das innovative Angebot ist gleich in mehrfacher Form hervorzuheben: Das Programm ermöglicht den verurteilten Jugendlichen, bei denen das Risiko besteht, dass umfangreiche Arbeitsleistungen nicht erfüllt werden, in gänzlich anderer Form 60 Arbeitsstunden zeitlich kompakt und überschaubar abzuleisten und trägt damit dazu bei - ganz in Sinne von ambulant statt stationär - mögliche Ungehorsamsarreste zu vermeiden. „Zwischen den Zeiten“ zeigt den jungen Menschen ihre eigenen (vormals ggf. noch unbekannten) Ressourcen auf und im Verlauf der Woche eröffnen sich für sie neue Perspektiven. Sie werden gleichzeitig ernstgenommen und aufgefordert, Selbstverantwortung zu übernehmen. In diesem Sinne folgt „Zwischen den Zeiten“ ganz dem vom Jugendgerichtsgesetz geforderten Erziehungsgedanken. Als Sanktion mit hoher Eingriffsintensität bietet „Zwischen den Zeiten“ der Justiz eine überzeugende Alternative zu freiheitsentziehenden Sanktionen. Das Programm „Zwischen den Zeiten“ der Sächsischen Jugendstiftung sollte auch eine Ermunterung und Motivation sein, neue Angebote zu entwickeln und so zur weiteren erzieherischen Ausgestaltung des Jugendstrafverfahrens beizutragen. So kann die Geschichte der Reform durch die ambulante Praxis fortgeschrieben werden. Literatur Deutscher Bundestag (1989): Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (1. JGGÄndG), BT-Drucksache 11/ 5829, Bonn. Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante Maßnahmen nach dem Jugendrecht in der DVJJ (BAG NAM) (1991): Leitfaden für die Anordnung und Durchführung der „Neuen Ambulanten Maßnahmen“ („Mindeststandards“), In: DVJJ-Journal, 2. Jg., S. 288-295. Vorwort „Nicht der Beginn wird belohnt, sondern einzig und allein das Durchhalten“ Katharina von Siena Seit 2013 wird das bei der Sächsischen Jugendstiftung angesiedelte Programm »Zwischen den Zeiten« mit Erfolg umgesetzt und das Pilgern außerhalb kirchlicher und touristischer Kontexte als eine sozialpädagogische Methode betrachtet. Der gesellschaftlich oft bevorzugten Unterstützung von jungen, engagierten und motivierten Jugendlichen stellte die Sächsische Jugendstiftung damit bewusst ein Konzept zur Seite, welches sich an deutlich weniger anerkannte Zielgruppen richtet, nämlich die der jungen Straftäter und Langzeitarbeitslosen. Diese jungen Menschen auf einem sensiblen Stück Weg ihres Lebens zu begleiten und mit ihnen gemeinsam auf die Suche nach den für sie wegweisenden Antworten auf die vielen Fragen des Lebens zu gehen, war die Zielstellung des Programms. Nach mehr als 5000 km zu Fuß, über 8000 abgeleisteten gemeinnützigen Arbeitsstunden und 68 Pilgertouren mit über 700 jungen Menschen konnte sich der Ansatz von »Zwischen den Zeiten« als Methode der Sozialen Arbeit bewähren und es ist abschließend an der Zeit, mit diesem Fachbuch unsere Ergebnisse zu teilen und dabei auch den vielen Partnern einen großen Dank auszusprechen für die Bereitschaft, neue Wege zu gehen und neue Konzepte auszuprobieren. Verlässliche Partnerschaften sind eine tragende Säule des Projektes, nur gemeinsam mit dem Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz, den Sächsischen Jugendämtern, den Jobcentern, den kommunalen Trägern der Jugendarbeit und den Pilgerherbergen entlang der Via Regia konnte dieser Weg so erfolgreich zurückgelegt werden. Danksagung Dank geht an den Projektleiter Sven Enger, ohne sein Engagement und die Leidenschaft für diese Zielgruppen hätte es dieses Programm nicht gegeben. Wir danken herzlich Herrn Markus Vogel, der uns, als Jugendrichter am Amtsgericht Dresden, unterstützte dieses Programm zu etablieren. Ein besonderer Dank geht an die Kreissparkasse Bautzen, speziell an Dirk Albers und Brigitte Richter, die sich mit besonderem Mut auf dieses Experimentierfeld eingelassen und in eine Zielgruppe investiert haben, die nicht die erste Adresse für den zukünftigen Kundenstamm sein wird. Ohne diese großzügige Geste der Anfangsfinanzierung wäre dieses Programm nicht umsetzbar gewesen. Wir danken für ihr herausragendes gesellschaftlichem Engagement! Birgit Pietrobelli Vorstandsvorsitzende Sächsische Jugendstiftung Inhalt Geleitwort »Zwischen den Zeiten« ......................................................................5 von Bernd Holthusen Vorwort .................................................................................................................. 11 - 1 Durchhalten wird belohnt - Fragen an Sven Enger, Ideengeber des Programms »Zwischen den Zeiten« ................................................. 17 Journalistin Iris Milde im Interview mit Sven Enger 2 »Zwischen den Zeiten« .............................................................................. 35 2.1 - Pädagogische und soziologische Aspekte des Arbeitsweges ........... 35 - von Stephan Hein und Sven Enger Einleitung ..................................................................................................... 35 - Kurzbeschreibung des Programms im Rahmen der Praxis der Jugendgerichtshilfe ......................................................... 38 - Pädagogische Ziele und Konzeption ...................................................... 41 - 2.2 - Pädagogische, personale und gruppendynamische Prozesse im Arbeitsweg ............................................................................ 50 - Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ....................................... 50 - Mehrschichtige Konfrontation mit Erwartungen ............................... 52 - 2.3 - Die Moral autonomer Entscheidungen ................................................. 56 - Ablauf der Befragungen und Gruppendiskussionen.......................... 59 - Systematische Auswertung der Befragungen...................................... 63 - 2.4 - Schluss .......................................................................................................... 67 - Literatur .......................................................................................................... 70 Anhang Anhang A: Fragebögen Lebensmaxime und Heinz-Dilemma ........................ 72 Anhang B: Datensatz und Teststatistiken ...................................................... 74 3 Pilgern aus religiösen Motiven - eine Abgrenzung zum sozialpädagogischen Pilgern .......................... 77 von Ansgar Hoffmann 3.1 - Pilgern als Weg zu einem heiligen Ort.................................................. 78 - 3.2 - Pilgern als Deutung menschlicher Existenz ......................................... 79 - 14 Inhalt 3.3 - Pilgern als intensives Begegnungsgeschehen...................................... 81 - 3.4 - Pilgern aus religiösen Motiven: Gemeinsamkeiten und Differenzen ....................................................... 82 - Literatur .......................................................................................................... 84 4 Pilgern als eine Methode der Sozialen Arbeit - eine Annäherung an den Begriff „Sozialpädagogisches Pilgern“ in Abgrenzung zur klassischen Erlebnispädagogik ................................ 85 4.1 - Sozialpädagogisches Pilgern .................................................................... 85 - von Angela Teichert Literatur .......................................................................................................... 92 4.2 - Abgrenzung zur Erlebnispädagogik - Erlebnis (pädagogisch)? ...... 92 - von Till Winkler Literatur ........................................................................................................ 101 5 Erste Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« - Die Perspektive von professionellen Fachkräften ............................. 103 von Angela Teichert 5.1 - Forschungsmethodik - Interviews und Berichte mit und von professionellen Fachkräften................................................................... 103 - 5.2 - Heranwachsende als Zielgruppe beim Programm »Zwischen den Zeiten« - Volljährigkeit als wichtige Voraussetzung ..................................... 106 - 5.3 - Pilgern im Zwangskontext - Zwang als Rahmen für Soziale Arbeit ............................................. 110 - 5.4 - In fünf Tagen hin und zurück - eine ungewöhnliche Pilgerreise 112 - Montag - Tag 1: Sich auf den Weg machen und die Komfortzone verlassen ........... 112 - Eigenverantwortung und Selbstorganisation .................................... 112 - Vor dem Arbeitsweg ................................................................................ 115 - Selbstaufmerksamkeit und Selbstreflexion als Ziel .......................... 116 - Die Herausnahme aus dem gewohnten Umfeld................................ 120 - Neue Begegnungen - ein neuer Umgang ........................................... 124 - Dienstag - Tag 2: Der Gesellschaft etwas wiedergeben - Soziale Arbeitsstunden und über Dilemmata diskutieren........... 131 - Ableistung von Arbeitsstunden in Form körperlicher Arbeit.......... 131 - Inhalt 15 Mittwoch - Tag 3: Sich wieder auf den Weg machen - 30 Kilometer Durchhalten .................................................................. 137 - Extreme Körperliche Anstrengung und physische Belastung überwinden ......................................................... 138 - Gruppe als Medien für Durchhalten .................................................... 140 - Donnerstag - Tag 4: Nähe und Distanz - Die (Nicht-)Zugehörigkeit der Trainer*innen beim sozialpädagogischen Pilgern ..................... 144 - Nähe und Distanz in der Beziehungsgestaltung - eine theoretische Perspektive ............................................................ 144 - Exkurs: Eine Befragung von zwei Trainern .................................................. 150 Freitag - Tag 5: Das letzte Stück gemeinsam laufen: Die Rolle der Paten, Abschied und durchgehalten ........................... 156 - Ein professionelles Netzwerk ................................................................ 156 - Der Jugendrichter als Pate...................................................................... 160 - Das Jobcenter als Pate ............................................................................. 161 - Das Landesjugendamt und das Jugendamt als Pate ......................... 162 - Die Sozialpädagogen von „Freien Trägern“ als Paten ..................... 164 - Die Pilgerherbergen als Begegnungsstätten und als Pate................. 165 - Literatur ...................................................................................................... 167 6 Pilgern im freiwilligen Kontext - Ergebnisse einer Pilgerreise nach Norwegen .................................... 173 von Kati Masuhr Hintergrund ............................................................................................... 174 - Ausgangslage und Rahmenbedingungen............................................ 175 - Ergebnisse und Wirkungen der Pilgerreise........................................ 177 - Erkenntnisse und Erfahrungen während des Laufens..................... 186 - Fazit ............................................................................................................. 190 - Wirkungschancen und Wirkungsfiktionen: Eine kurze Nachbetrachtung zum Programm »Zwischen den Zeiten« .................................................................................... 195 von Stephan Hein und Sven Enger Literatur ................................................................................................................ 201 1 Durchhalten wird belohnt - Fragen an Sven Enger, Ideengeber des Programms »Zwischen den Zeiten« Journalistin Iris Milde im Interview mit Sven Enger Mit Straffälligen eine Woche auf alten Pfaden pilgern und am Ende bekommen die Teilnehmer sechzig Sozialstunden gutgeschrieben. Das war die Grundidee von Sven Enger, aus dem er das Programm »Zwischen den Zeiten« entwickelte. Inzwischen hat er Hunderte Jugendliche fünf Tage lang auf ihrem Weg zu sich selbst begleitet. In folgendem Interview lässt er die vergangenen Pilgerreisen Revue passieren. Menschen pilgern, weil sie zu sich selbst oder zu Gott finden wollen, weil sie neue Menschen kennenlernen oder einfach Ruhe und Natur genießen möchten. Die Jugendlichen, die im Rahmen des Programms »Zwischen den Zeiten« pilgern, interessiert das alles herzlich wenig. Was sind das für Jugendliche und welche Motivation haben sie, auf einem Pilgerweg zu gehen? Sven Enger: Sie unterscheiden sich meiner Meinung nach schon von den „traditionellen Pilgern“. Also zuerst einmal sind die meisten jungen Menschen, die mit uns pilgern, geschickt, von einer Behörde, von einem Amt, von einem Jugendmitarbeiter. Beinahe immer ist das Ausgangsmoment eine akute Problemlage. Das kann alles Mögliche sein, also Straffälligkeit, das können aber auch junge Leute sein, die langzeitarbeitslos sind, oder aber in einer Umbruchsituation stecken, die sie gerade allein nicht recht bewältigen, wie die Ablösung vom Elternhaus oder von einer Einrichtung. Das sind die typischen Zugangsmomente. Beim ersten Mal sind sie fast alle geschickt, es ist also ganz, ganz selten, dass jemand absolut freiwillig mit uns gehen möchte, um sich auf sich selbst und seinen Weg zu besinnen. 18 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Junge Menschen in Umbruchsituationen und schweren Lebenslagen. Daher kommt auch der Name des Programms: »Zwischen den Zeiten«. Was bedeutet der genau? Sven Enger: Er hat zwei Bedeutungen. Also zum einen die Zeit, in der das Teenagerdasein aufhört und das Erwachsenwerden beginnt. Zum anderen, nehmen an »Zwischen den Zeiten« straffällige Jugendliche von 18 bis 21 Jahren teil. Diese sind eigentlich schon volljährig, werden aber sehr oft nach dem deutschen Jugendstrafrecht als Heranwachsende behandelt und dadurch noch etwas milder verurteilt. Man öffnet ihnen gewissermaßen noch Entwicklungsfenster. Gerade diese Zielgruppe steht vor einem klaren Umbruch, denn mit 21 beginnt definitiv das Erwachsenenstrafrecht, das weniger erziehend, sondern deutlich mehr strafend ist. Deshalb zwischen den Zeiten. Mildere Verurteilung heißt in diesem Fall, dass die jungen Menschen für ihren Fehltritt nicht in Haft müssen, sondern mit Sozialstunden beauflagt werden. Was haben die Jungs - und bis auf ganz wenige Ausnahmen sind es ja männliche Straffällige, die mit Ihnen pilgern - denn so auf dem Kerbholz? Sven Enger: Also im unteren Bereich ist das sehr häufig Betrug und Erschleichen von Leistungen, zum Beispiel notorische Schwarzfahrer. Im Mittelfeld wurden viele, vor allem männliche Teilnehmer, aufgrund von Körperverletzung, Raub, Beschaffungskriminalität oder Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt. Die Obergrenze bilden Taten, wie etwa fahrlässige Tötung, wenn zum Beispiel jemand alkoholisiert einen Verkehrsunfall verschuldet hat. Solche schwereren Straftaten kommen sehr selten vor. Und alles, was darüber hinausgeht, wird in der Regel sowieso nicht mehr nur mit Arbeitsstunden belegt. »Zwischen den Zeiten« hat zwar keinen religiösen Ursprung. Aber die Idee zu dem Projekt entstand, als Sie in einer Kirchgemeinde gearbeitet haben. Was gab den Impuls? Sven Enger: Das war so 2009. Da habe ich für eine Kirchgemeinde hier in Dresden gearbeitet. Ich war zwar Sozialarbeiter im kirchlichen Dienst, aber zuständig für die „Leute von der Straße“. Auch das hatte keinen religiösen Hintergrund. Das war einfach in der Kirche angesiedelt. Und in diesen Jahren hatten wir ein sehr hohes Aufkommen überwiegend an jungen Männern, die - verordnet vom Gericht - Arbeitsstunden leisten mussten. Sie hatten also die Auflage, gemeinnützige Stunden zu absolvieren wegen kleinerer Vergehen und das bot sich in dieser großen Kirchgemeinde an. Die Gemeinden waren damals gerade fusioniert worden und hatten viele Häuser zu erhalten und zu pflegen. Fragen an Sven Enger 19 Da haben wir Putz abgeschlagen und Laub gerecht, Komposthaufen umgesetzt und Wände gepinselt. Und irgendwann waren die Gebäude und Räume so weit saniert, dass es für ungelernte Kräfte eigentlich keine Einsatzmöglichkeiten mehr gab. Aber die jungen Leute kamen ja trotzdem weiter, wir waren eine etablierte Einsatzstelle geworden. Zu dieser Zeit waren die Pilgerwege in Sachsen noch neu. Und ich hatte von verschiedenen Initiativen gehört, die dort pilgern, und wusste, da gibt es gemeinnützige Herbergen, die gerade im Aufbau sind. Und ich dachte mir: Vielleicht könnte ich mit einer Truppe von jungen Leuten dort entlangziehen und dann könnten sie dort ihre Arbeitsstunden leisten. Da war der Pilgergedanke noch gar nicht so sehr im Vordergrund, sondern eher die Ableistung der Stunden. Man geht eine Woche da lang, es ist sehr kompakt, die jungen Männer können nicht weg und so entstand die Idee aus dem Bedarf heraus. Von der Idee zur Umsetzung war es ein steiniger Weg, denn Sie brauchten Verbündete. Wie kam die Idee tatsächlich „auf den Weg“? Sven Enger: Vor der Umsetzung ist die Hürde der Finanzierung zu nehmen. In den Jahren 2009, 2010 und 2011 wurde das Ganze etabliert. Ich musste ein Grundkonzept entwerfen, musste Leute ansprechen. In dieser Zeit habe ich verschiedene Stellen abgeklappert und bin am Ende bei der Jugendgerichtshilfe gelandet. Dort kam ja auch der eigentliche Bedarf her. Und da habe ich hier im Jugendamt Dresden Glück gehabt, denn die Leute hatten Mut. Das muss man ein bisschen erklären: Die Jugendhilfe ist ein Bereich, in dem auch immer mal wieder gespart wird. Zu dieser Zeit war wirklich wenig Geld da. Und dass eine Behörde den Mut hat, in einer „Sparzeit“ eine neue Idee umzusetzen, ist wirklich außergewöhnlich. Und so gab es dann 2011 die erste offizielle Durchführung in Kooperation mit einem kommunalen Jugendhilfeträger. Und da hieß das Programm auch noch anders. Sven Enger: Ja, da war es vorerst nur ein Projekt und das hatte verschiedene Arbeitstitel. Einer hat sich hartnäckig gehalten: „Der Arbeitsweg“. Also wie wenn man früh zur Arbeit geht. Und das war tatsächlich so: Sie gehen und arbeiten. Später sind wir von dem Begriff abgewichen. Ich finde ihn nicht so treffend. 20 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Warum nicht? Sven Enger: Klar, er beschreibt das Wesentliche für die Zielgruppe der Straffälligen. Aber für andere Zielgruppen als die Straftäter würde ich ihn nie verwenden, er ist sehr einseitig. Und wenn ich Vertreter anderer europäischer Projekte getroffen habe, zum Beispiel in Italien, dann haben die mich völlig entgeistert angeschaut: „Das ist ja wie im Dritten Reich, Arbeitsweg.“ Das hatte für sie einen Widerhall, der mir selbst nie in den Sinn gekommen war. Seit 2013 läuft das Programm unter dem Dach der Sächsischen Jugendstiftung. Wie kam es dazu? Sven Enger: Das ist ein großer Schritt gewesen, ein richtiger Perspektivenwechsel. Die Ergebnisse, die auf kommunaler Ebene in Dresden erzielt wurden, waren so vielversprechend, dass die Stiftung gesagt hat: Ja, das könnten wir vielleicht auf andere Zielgruppen und den ganzen Freistaat ausweiten. Und so ist das Projekt 2013 zur Sächsischen Jugendstiftung gekommen, zunächst in unveränderter Form, aber mit der Maßgabe, das Programm für andere Zielgruppen zu öffnen. Ab da kamen dann junge Leute auf Jobsuche hinzu und junge Erwachsene mit gebrochenen Biographien oder schlechten Teilhabevoraussetzungen, wie fehlendem Schulabschluss. Arbeitslose, also junge Erwachsene, die von den Jobcentern geschickt werden, sind die zweite große Gruppe Jugendlicher, die mit Ihnen pilgern. Was versprechen sie beziehungsweise ihre Betreuer sich von so einer Pilgerreise? Sven Enger: Beim Jobcenter geht es um die Aktivierung und die Mitwirkung. Eine Grundpflicht eines jungen Arbeitslosen ist es, dass er mitwirkt bei seiner Vermittlung. Ich bin in der Zusammenarbeit mit den Jobcentern auf verschiedenste Ansichten gestoßen. Es gab Sachbearbeiter, die gesagt haben: „Wenn die nicht mitgehen, dann kürzen wir denen einfach das Hartz IV.“ So etwas machen wir als Sächsische Jugendstiftung natürlich nicht mit. Wir haben da die Perspektive verändert, indem wir gesagt haben: „Leute, die sich Ihnen verweigert haben und jetzt freiwillig bei so einer Pilgerreise mitgehen, die stellen eigentlich unter Beweis, dass sie zulassen, sich zu belasten. Die wollen sich einer Herausforderung stellen. Und wenn sie das durchgehalten haben, dann sollten die vorzeitig wieder in den Genuss der Bezüge kommen.“ Das ist ein Gedanke, der im Jobcenter ganz gut aufgenommen wird. Aus dem Jobcenterbereich kommen aber tatsächlich auch die meisten, die später freiwillig mit uns eine weitere Tour gehen. Dann meist nach dem Mot- Fragen an Sven Enger 21 to: Irgendwie bin ich in einer Sackgasse, ich muss mal überlegen, wo ich überhaupt hin will. Der Ablauf der Woche ist trotzdem für alle Zielgruppen gleich oder gibt es da Abweichungen? Sven Enger: Das Programm ist nicht das gleiche. Die hohe Konfrontation, die mit den Straffälligen genutzt wird, weil es ja eine gerichtliche Auflage ist, die Stunden abzuleisten, die macht mit Leuten, die freiwillig gehen, wenig Sinn. Es bleibt aber in einem Punkt gleich herausfordernd: Laufen muss jeder selbst. Jeder Weg hat ein Ziel. Für die Jugendlichen ist es zum Beispiel das Ziel, ihre Sozialstunden abzubauen. Was ist Ihr Ziel? Sven Enger: Ich fand es immer sinnvoll, dass sich ein junger Mensch mal aus seinem Umfeld herausbegibt und sich gänzlich andere Lebensentwürfe anschaut. Meiner Meinung nach sollte man nicht immer nur sagen: Mach dies anders oder jenes besser. Junge Leute müssen auch mal sehen, wie es anders geht. Und diese ganze Welt der Herbergen und des Pilgerwegs ist tatsächlich ein sehr konträrer Lebensentwurf zu dem, was neunundneunzig Prozent unserer Teilnehmenden kennen. Also, wenn man zum Beispiel in einem Plattenbau in Dresden oder Leipzig aufwächst, ist das etwas ganz anderes als die ländliche Umgebung der Via Regia und die auf Solidarität und Nächstenliebe ausgerichteten Herbergen. Und darüber hinaus fand ich es immer ein erstrebenswertes Ziel, die jungen Leute nicht nur aus ihrem geographischen Umfeld herauszunehmen, sondern tatsächlich auch mal aus ihren Systemen. Denn dann können sie plötzlich eine völlig neue Rolle annehmen. Man kann austesten, wie es wäre, anders zu sein, aber man wird auch automatisch anders behandelt. Also wenn ich in meinem normalen Umfeld jemand bin, der häufig Probleme verursacht, dann kriege ich irgendwann ein entsprechendes Label. Ich kriege so einen Sticker, auf dem steht „Problem“ und werde dann auch so behandelt. Wenn ich daneben auch noch wenig wirtschaftliche Kraft habe und arm bin, dann unterscheide ich mich schon allein durch meine Kleidung von den anderen in meiner Altersgruppe. Aber wenn dann so ein relativ „zerlumpter“, junger Mensch mit einem Rucksack die Via Regia entlangzieht, dann ist das in der Wahrnehmung der Außenwelt ein Pilger, der schon eine Weile unterwegs ist. Wenn der in eine Herberge eincheckt, wird er, egal mit welchem Problem er kommt, behandelt wie jeder andere. Das heißt, während des Pilgerns wird vorübergehend das alte Label abgemacht und durch ein neues ersetzt. Da erhält ein junger Mensch die Chance zu 22 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit empfinden, wie das ist, ein anderes Label zu tragen, auch wenn die jungen Leute das nicht sofort realisieren. Aber das hat bei manchen Jugendlichen einiges ausgelöst. Zum Beispiel? Sven Enger: Einmal war es so heiß, dass man nicht genügend Wasser tragen konnte. Wenn es sehr heiß ist, braucht man schon einige Liter am Tag. Sie waren gezwungen, Leute an der Strecke zu fragen: Können wir mal in Ihrem Garten Wasser auffüllen. Und eine Frau hat gesagt: „Jungs, ihr werdet doch hier nicht Wasser trinken wie meine Kühe. Ich gebe euch Mineralwasser.“ Und sie schenkte ihnen Mineralwasser in Flaschen. Da sagte einer: „Herr Enger, wissen Sie, wenn ich in meinem Plattenbau irgendwo klingele und nach etwas frage, da kriege ich überhaupt nichts.“ Oder ein junger Mensch hat mal schweigend mit mir in einer Kirche gesessen. Die anderen waren dann schon wieder raus, denen war das zu leise. Und der blieb einfach sitzen. Wir liefen dann weiter und so zwei Kilometer später sagte er plötzlich aus dem Schweigen heraus: „Wissen Sie, was ich gerade gemerkt habe? Ruhe tut mir gut.“ Das ist für einen neunzehnjährigen Rabauken wirklich eine große Erkenntnis. Eine andere Situation war in einer Herberge. Die jungen Leute schlafen getrennt von uns in ihrem eigenen Bereich, das ist mir auch wichtig, die müssen ja auch mal über uns schimpfen können. Und zu mir hat mal einer gesagt: „Ich bin total begeistert. Ich dachte, wir werden hier abends eingeschlossen.“ Das lässt erahnen, wie fest der sein Label schon dran hatte. Sie sagten, die meisten Jugendlichen werden geschickt. Aber für Sie ist auch ein Grundprinzip die Freiwilligkeit. Wie passt das zusammen? Sven Enger: Sie werden geschickt, aber sie müssen selber durchhalten. Das kann ihnen keiner abnehmen und das ist dann freiwillig. Viele „traditionelle“ Pilger haben auch einen konkreten Grund, warum sie losgehen, eine Umbruchzeit, eine Krankheit, einen Verlust, ein Bedürfnis. Und sie entscheiden sich freiwillig loszugehen und zu suchen. Sie werden also aktiv. Das ist bei unserer Zielgruppe anders. Sie sind bis dahin passiv, denn sie werden ja von einem Amt, einer Behörde geschickt. Aber nach dem Loslaufen sind meiner Meinung nach alle gleich, denn das Durchhalten und Weitergehen ist dann eine eigene Entscheidung, die jeder Pilgernde täglich neu treffen muss. Und auch wenn ein junger Mensch sagt, ich breche die Pilgerreise ab, ist das prinzipiell akzeptabel. Dann hat er eine Entscheidung getroffen. Wenn er das ordentlich macht und sagt: „Das ist hier nichts für mich“, dann ist Fragen an Sven Enger 23 das beachtenswert. Denn er hat zum Beispiel nicht den Leiter durch einen Regelverstoß gezwungen, ihn zu entlassen. Und zur Freiwilligkeit gehört letztendlich auch, dass die jungen Straffälligen sich zumindest aussuchen können, wo sie ihre gemeinnützigen Arbeitsstunden leisten, ob in einem Krankenhaus, einem Jugendhaus oder bei uns. Es gibt also keine expliziten Verurteilungen zum Pilgern, und das soll auch so bleiben. Sie sind fünf Tage mit den Jugendlichen unterwegs. Montag bis Freitag. Wie beginnt eine typische Pilgerwoche? Sven Enger: Ich lerne die Gruppen am Montagfrüh kennen. Bei den Straffälligen sind es eigentlich immer junge Männer. Junge Frauen werden in dieser Altersgruppe seltener straffällig oder befinden sich oft schon in anderen Lebenslagen, sind zum Beispiel bereits Mutter. Die meisten jungen Menschen, die ich geführt habe, kannte ich vorher nicht. Bei Straffälligen generell nicht. Ich weiß nichts von ihrer Vorgeschichte. Das macht es mir viel leichter, erst einmal alle gleich zu behandeln. Denn es gibt Straftaten, die auch mich mehr abschrecken als andere. Das heißt, meist erzählen Ihnen die Jugendlichen in einem ruhigen Gespräch auf dem Weg, warum sie dabei sind? Sven Enger: Ja, aber sie müssen es nicht. Es geht in dieser Woche nicht vorrangig um die Taten der Vergangenheit, sondern um eine mögliche Zukunft. Für ihre Fehler sind sie verurteilt worden. Sie haben im Kontext dieser Dinge schon alles erzählt, zum Beispiel bei der Polizei, beim Jugendamt, beim Jugendrichter. Sie haben in der Regel vor den Gerichten und vor den Sachbearbeitern Versprechen abgelegt, dass sie sich bessern wollen. Dafür erfahren sie ja auch Milde. Und meine Aufgabe ist es eher, das gegebene Versprechen zu prüfen und mit ihnen nach Perspektiven zu suchen. Wie wird auf dem Weg ein Versprechen geprüft? Sven Enger: Na, vor allem durch die Bewältigung der Strecke. Achtzig Kilometer lassen sich nicht durch Worte verkürzen, sie müssen gegangen werden. Das Ganze ist in gewisser Hinsicht auch ein Symbol dafür, dass sie es mit ihrer Entscheidung ernst meinen. 24 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Der Beginn des Pilgerns markiert also in jeder Hinsicht einen Neustart für die jungen Menschen. Was passiert am Montag? Sven Enger: Ich übernehme eine Gruppe, fahre mit ihnen, meist mit dem Zug, an den Startpunkt, denn ich laufe mit den Gruppen immer von einem bestimmten Punkt in Richtung ihrer Heimat zurück. Das hat sich bewährt, denn, wenn so ein junger Mensch vor hat abzuhauen, will er in der Regel nach Hause, also kann er eigentlich auch mit der Gruppe weiterlaufen, das motiviert ein bisschen besser. Ein typischer Montagmorgen ist ziemlich wortkarg. Viele der jungen Menschen sind noch deutlich geschwächt vom harten Partywochenende, das doch etwas früher zu Ende ging als üblich. Wir starten um acht, sonst schafft man die erste Tagesstrecke nicht. Am Montag sind ungefähr zwanzig Kilometer dran. Was man auf den ersten Blick sieht, ist der Ausrüstungszustand. Also jeder Teilnehmer bekommt von uns über die Sachbearbeiter eine Information, was sie für die Woche brauchen und was vielleicht eher nicht. Und das Ganze ist vorzugsweise in einem Rucksack zu transportieren, denn sie müssen es ja circa achtzig Kilometer weit tragen. Wer keinen Rucksack hat oder wem etwas fehlt, der kann das über die Sächsische Jugendstiftung kostenfrei ausleihen, sodass niemand ausgeschlossen ist. Ich erlebe aber regelmäßig am Montagmorgen Leute, die mit einer Reisetasche dastehen und sagen: „Ach, das kriege ich schon hin.“ Ich weiß in dem Moment schon, die werden es schwerer haben, weil sich eine Reisetasche einfach nicht so gut trägt wie ein Rucksack. Was machen Sie dann? Haben Sie einen Notfallrucksack dabei? Sven Enger: Nein, denn es gilt die Selbstverantwortung. Es gibt ein Vorbereitungsblatt, das erhalten alle über die zuständigen Jugendmitarbeiter. Und sie haben alle ausreichend Zeit sich vorzubereiten. Und an diesem Punkt beginnt auch die Reflexion. Ich bin Sozialarbeiter, ich helfe beim Reflektieren, nicht beim Tragen. Man kann etwa sagen: „Sehen Sie, das haben Sie selbst verursacht. Es geht Ihnen jetzt schlechter als Ihren Gefährten, weil Sie sich nicht vorbereitet haben. Sie hätten sich einen Rucksack ausleihen können.“ Das hört sich zunächst zynisch an, ist es aber nicht, das ist einfach die Realität. Wenn man sich immer so schlecht vorbereitet, wird man es immer schwerer haben. Nicht die Welt macht es mir schwerer, sondern ich mir selbst. Um eben solche Erkenntnisse, die sich auf den Alltag zurück übertragen lassen, geht es in unserem Programm. Fragen an Sven Enger 25 Wie starten Sie in die Wanderung? Sven Enger: Wir starten mit einer Wiederholung der Regeln. Das ist wichtig, denn es gibt schwere Verstöße, die sofort zum Abbruch und auch zu einer Anzeige führen würden, wie etwa Körperverletzung, absichtliche Sachbeschädigung in den Herbergen und natürlich verfassungsfeindliche Handlungen. Und dann gibt es Sachen, die zum Abbruch des Kurses führen, weil sie die Beauflagung stören. Das heißt: keine Drogen (nur Rauchen ist erlaubt), kein Alkohol, kein Besuch, der mir etwas bringt, das ich vergessen habe. Also Dinge, die mir fehlen, fehlen mir tatsächlich. Und eine Besonderheit bei den Straffälligen ist, sie dürfen das Programm nur einmal durchlaufen, man darf nicht zweimal pilgern gehen, um Stunden abzuleisten. Und wer abbricht, der bekommt auch für den bereits gegangenen Weg keine Stunden gutgeschrieben. Wer pilgert und arbeitet, dem werden pro Tag zwölf Stunden anerkannt, weit mehr, als man sonst erhalten kann. Und wer das nach drei Tagen wegwirft, der hat gar keine Stunden. Also in etwa so wie Katharina von Siena gesagt hat: Nicht der Beginn wird belohnt, sondern das Durchhalten. Neben all den Regeln gibt es von unserer Seite noch einige wichtige Zusagen, wie z.B. das Versprechen der Schweigepflicht. Alles, was vertraulich erzählt wird, darf nicht ohne ausdrücklichen Wunsch des Teilnehmenden an irgendwen weitergegeben werden. Wir beschaffen also in dieser Woche keine Informationen für irgendeine Behörde. Und auch die feste Zusage, dass jeder, der durchhalten und weitergehen will, von uns unterstützt wird. Wenn dieser Rahmen noch einmal für alle ganz klar ist, frage ich die jungen Menschen: „Haben Sie persönliche Regeln? Gibt es etwas, das die anderen nicht machen dürfen? Wo fühlen Sie sich besonders unwohl? Das können wir schließlich nicht voneinander wissen. Gehen Sie ein, zwei Kilometer, dann treffen wir uns wieder und dann würde ich gerne von jedem hören, was ihm wichtig ist.“ Gibt es da typische Antworten? Sven Enger: Es ist zum Beispiel sehr häufig, dass Leute sagen: „Ich will nicht, dass jemand meine Sachen anfasst. Mein Rucksack ist meiner, geklaut wird nicht.“ Viele wünschen sich auch, dass nicht über ihre Familie oder Religiosität gespottet werden soll. Ein respektvoller Umgang auch mit Schwächen wird sehr oft eingefordert. 26 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Der erste Tag ist ein Lauftag. Am Montag werden etwa zwanzig Kilometer bewältigt. Sven Enger: Ja, es ist ein Lauf-Kennlern-Tag. Mehr als zwanzig Kilometer kann man einem ungeübten Läufer nicht zumuten. Das hat sich so bewährt. Und die Strecken sind immer dieselben? Immer offizielle Pilgerwege? Sven Enger: Es sind nicht immer dieselben. Zwei Pilgerwege nutze ich aber häufiger und den Korridor um diese Pilgerwege herum. Das hat sehr praktische Gründe, denn man braucht ja Einrichtungen, die groß genug sind für Gruppen. Bei den Straffälligen sind es maximal acht Teilnehmer. Bei den Leuten aus dem Jobcenterbereich hatten wir auch schon mal eine Gruppe mit fünfzehn Personen. Ich brauche also eine Herberge, die groß genug ist und sich darüber hinaus auf dieses spezielle Klientel einlässt, weil sie sich schon von eher in sich gekehrten, „traditionellen Pilgern“ unterscheiden. Auch wenn sie sich große Mühe geben, sie sind einfach lauter und derber. Und ich brauche natürlich Arbeitsstellen für die jungen Leute. Wir weichen auch von den Pilgerwegen ab, weil wir Städte vermeiden wollen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Touren dann deutlich besser laufen. Was sind das konkret für Herbergen. Pfarrhäuser? Sven Enger: Klassische Pfarrhäuser sind es eigentlich eher weniger. Die Spanne ist breit und geht vom ökologisch geprägten Verein über eine katholische Bildungsstätte, ein Kloster, einen Bibelgarten, bis hin zu einem Pfarrhof, auf dem ein evangelischer Jugendwart lebt. Einige Herbergen sind seit Anfang an dabei und feste Kooperationspartner geworden. Die erste Begegnung mit einer Herberge am Montagabend ist sehr entscheidend. Da kann man sagen: „Wir checken jetzt hier ein. Der erste Eindruck ist eine Chance, die nie wieder kommt. Nutzen Sie die Chance, hier einen guten Eindruck zu hinterlassen.“ Die erste Herberge wähle ich in der Regel so, dass sie etwas komfortabler ist, zum Beispiel mit guter Essensversorgung. Das ist nach so einem ersten, harten Tag kein Fehler. Dann kann man sich erst einmal ausruhen. Und am Abend gibt es eine erste Bildungseinheit. Tägliche Bildungseinheiten sind fester Bestandteil des Programms. Fragen an Sven Enger 27 Nach so einem anstrengenden Wandertag kann man den Jugendlichen wahrscheinlich keinen langen Vortrag mehr zumuten. Wie sehen die Bildungseinheiten aus? Sven Enger: Wir orientieren uns an den Grundsätzen der moralischen Bildung von Lawrence Kohlberg, einem amerikanischen Psychologen. Am ersten Abend geht es um sogenannte Lebensmaximen, also ein Lebensmotto, das man hat. Und da können sich die jungen Leute zwischen sechs Maximen entscheiden und erklären, warum sie diese oder jene gewählt haben. Aber es ist ja ganz klar, bei nur sechs unterschiedlichen Lebensmottos kann mein ganz persönliches noch nicht dabei sein. Und somit erhalten sie die Aufgabe, ihr eigenes Motto herauszufinden und wer den Mut hat, kann das am nächsten Tag erzählen. Und diese ganz persönlichen Maximen sind wirklich spannend, weil sie etwas von der Person preisgeben: Was ist mir wichtig? Wie möchte ich gern sein? Die Bildungseinheiten finden jeden Abend statt und bauen aufeinander auf. Das heißt, das persönliche Lebensmotto ändert sich im Laufe der Woche und wird weiterentwickelt? Sven Enger: Ein Grundprinzip in der ganzen Woche ist, dass sich die Anforderungsprofile ständig ändern und jeder Teilnehmende die Möglichkeit erhält, sich selber zu prüfen. Also, wenn ich am ersten Abend eine Lebensmaxime wähle, kann mir meine Bildung noch helfen. Wenn da zum Beispiel eine Maxime steht, die an Kant erinnert, und derjenige ist gebildet, dann nimmt er vielleicht die, weil das ja erst einmal nicht falsch sein kann. Hier hilft ihm seine Vorbildung bei der Außendarstellung. Am nächsten Abend lege ich den Jugendlichen eine Dilemma- Situation vor. Und die lösen die Teilnehmer in der Regel nicht auf Grundlage ihrer Vorbildung, sondern anhand ihrer moralischen Kompetenzen und Werte. Daraus ergibt sich oft ein Kontrast. Und daran kann man sehen: Aha, der Mensch möchte vielleicht gern so sein, ist aber noch anders. Und über diesen Kontrast kann man sprechen. In der Gruppe oder in Einzelgesprächen auf dem Weg. Sind die Bildungseinheiten bei anderen Zielgruppen genauso aufgebaut? Sven Enger: Da ist es anders. In Dilemma-Situationen zu stecken, ist für das Alter zwar nicht untypisch. Aber trotzdem beziehe ich das bei anderen Zielgruppen eher auf gesellschaftliche Themen. Bei den jungen Straftätern geht es ja aber gerade darum, ihr persönliches Dilemma herauszufinden. Junge Gewalttäter zum Beispiel haben oft ein ganz klares Bild im Kopf, wie sich ein Mann zu verhalten hat. Ein Mann setzt sich 28 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit durch. Aber dadurch kommen sie zwangsläufig mit dem Gesetz in Konflikt. Und das ist so ein Kontrast, den sie dann sehen und über den sie nachdenken können. Lauftage wechseln sich mit Arbeitstagen ab. Der Dienstag ist ein Arbeitstag. Wie läuft der ab? Sven Enger: Der Dienstag beginnt mit einer völlig anderen Anforderung. Das heißt, am Morgen eigenständig aufstehen, den Arbeitstag beginnen, ein normaler Acht-Stunden-Arbeitstag in so einer Herberge, meistens in Kooperation mit den Hausmeistern, die es da gibt, oder den Herbergseltern, nur unterbrochen von einer Mittagspause. Und dort haben die, die vielleicht beim Laufen nicht so gut sind, eine Möglichkeit, durch die Arbeit nach vorn zu treten. Also jeder kann mal der Beste sein. Bei der Bildung genauso. Das wechselnde Anforderungsprofil hat einfach zwei Ziele: Ich kann nach vorne treten, aber es erlaubt mir auch nicht, mich auf einer Fähigkeit auszuruhen. An solchen Tagen werden Tätigkeiten ausgeführt, wie Bretter für einen Schuppen streichen, Heu beziehungsweise Laub rechen, etwas abreißen oder Dinge transportieren. Einmal haben wir zum Beispiel einer kleinen Bibliothek beim Umzug geholfen, indem wir eine Menschenkette gebildet haben und 7000 Bücher von Hand zu Hand gingen. Da gab es nach der Arbeit viel zu lachen, denn jeder konnte nun mit Recht behaupten, dass er öfter mal zu einem Buch greift und nicht immer nur am Handy hängt. Arbeitstage enden ganz normal, um vier, um fünf. Dann gibt eine Pause und meist sehr interessante Auswertungsgespräche mit den Herbergseltern und/ oder den Hausmeistern in der Gruppe, die manchmal aber auch sehr konfrontativ sind. Ich habe dort zum Beispiel mal zwei Hausmeister erlebt, die auf die Frage, ob sie zufrieden waren mit der Gruppe, frei heraus gesagt haben: „Also, von denen würden wir keinen einstellen. Die haben die Arbeit nicht erfunden.“ Da werden klare Sätze gesprochen, die aus meiner Perspektive nicht selten mehr bewirken als geschliffene pädagogische Hinweise. Der Dienstag ist für mich daneben noch sehr spannend, da man am Dienstag die ganze Bandbreite der erprobten Arbeitsverweigerungsstrategien sehen kann. Man kann einen langen Arbeitstag sehr gut verkürzen, indem man zum Beispiel Magen- Darm-Schwierigkeiten hat oder indem man mal ausruht, weil einem irgendetwas wehtut. Nach dem Abendessen beginnen wir die zweite Bildungseinheit. Dort geht es um die Arbeit mit den moralischen Dilemmata von Lawrence Kohlberg - der genaue Ablauf wird in diesem Buch noch erklärt - und um die eigene Lebensmaxime. Nach der Beschäftigung mit Kohlbergs Dilemma gehen die Teilnehmenden wieder Fragen an Sven Enger 29 mit einer Aufgabe ins Bett: „Sie wissen jetzt, was eine Dilemma- Situation ist, morgen haben wir einen sehr langen Wandertag. Nutzen Sie doch bitte die Zeit, darüber nachzudenken, in welchem Dilemma Sie gerade stecken.“ Der Mittwoch ist in jeder Hinsicht ein Wendepunkt. Sven Enger: Ja, der Mittwoch beinhaltet die sogenannte „dreifache Mitte“. Das heißt also, die Hälfte der Strecke ist geschafft, die Mitte des Trainingskurses ist erreicht und die Straffälligen haben die Hälfte ihrer Arbeitsstunden abgeleistet. Ab Mittwochmittag bricht fast keiner mehr ab, was aber ohnehin selten vorkommt. In den letzten Jahren lag unsere Abbrecherquote bei eins zu dreißig. Der Mittwoch ist aber auch der Tag mit den höchsten Herausforderungen. Die Mitte einer Maßnahme ist immer die Krise. Der Anfang ist schon eine Weile her, das Ende ist noch ein wenig hin. An dem Mittwoch gehen wir zwischen dreißig und maximal dreiunddreißig Kilometern. Das ist aus unserer Erfahrung das Maximum, das ein ungeübter Mensch leisten kann. Das haben bisher auch alle geschafft, auch die, die es wirklich schwer hatten. Dann sind Sie wahrscheinlich wirklich den ganzen Tag unterwegs. Sven Enger: Die schnellste Gruppe ist das mit mir im strömenden Regen in siebeneinhalb Stunden gegangen. Wenn es regnet, will man sich einfach nirgendwo so richtig hinsetzen und auch die Raucherpausen fallen kürzer aus. Die langsamste Gruppe, die ich geführt habe, hat sich sehr auseinandergezogen. Die letzten sind nach vierzehn Stunden mit mir durchs Ziel gegangen. Jeder hat die Zusage, solange er weitergehen will, wird einer von uns - wir sind meist zu zweit - mit ihm laufen. Diese lange Strecke hat den Vorteil, dass jeder auf sich zurückgeworfen ist. Jeder hat mit sich zu tun. Ich erlebe regelmäßig an diesem Mittwoch das Wunder der Selbstheilung. Es gibt also doch etwas Religiöses. (lacht) Denn während am Vortag die erwähnten Arbeitsverweigerungsstrategien noch funktioniert haben, lassen sich dreißig Kilometer durch einen häufigen Toilettengang eben nicht verkürzen. Das heißt, die jungen Menschen sind plötzlich wieder gesund. Das ist natürlich eine interessante Erfahrung, mit der man auch arbeiten kann. Der Mittwoch ist eine gute Möglichkeit, mit Einzelnen zu sprechen. Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, hinter der Gruppe zu gehen. Die Pilgerwege sind mit der Muschel sehr gut beschildert, das finden die ersten problemlos. Und von hinten kann man als Pädagoge alle Strukturen sehen, ohne dass man sprechen muss. Man sieht, wer führt. Man sieht, 30 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit wer schwächelt. Man sieht, wer mit wem läuft. Und man sieht Veränderungen über den Tag. Jeder kann sich mal zurückfallen lassen und mit mir sprechen, wenn er das Bedürfnis hat. Und am Mittwochabend, wenn wir in der nächsten Herberge einchecken, ist es in der Regel so, dass noch selber gekocht werden muss, weil das eine einfachere Herberge ist. Das wird auch gern gemacht. Dann essen alle gemeinsam und am späteren Abend gibt es eine sehr spezielle Form der Bildungseinheit. Die Jugendlichen haben sich ja inzwischen an das Prozedere gewöhnt, sie kommen also mit ihrem Zettel und ihrem Stift und ich diktiere ihnen einen Satz: „Schreiben Sie bitte auf: Ein Mensch, der bereit war, bis an seine Grenzen zu gehen, darf sich ausruhen. Heute sind Sie so ein Mensch. Gute Nacht! “ Nach einer kleinen Denkpause endet das meist mit einem großen Gejohle. „Ach, herrlich! “ Und dann sind sie froh und gehen ins Bett. Die Jugendlichen sollen ja trotz Ihrer Begleitung selbstverantwortlich handeln. Dazu gehört auch, dass sie sich zum Teil selbst verpflegen. Das ist sicher ein spannender, gruppendynamischer Prozess, oder? Sven Enger: In der Tat, für Abendessen und Frühstück und bestimmte Reiseabschnitte müssen sie selbst einkaufen. Dort mischen wir uns auch nicht ein. Wir haben mal erlebt, dass ein junger Mann vom Einkauf wiederkam mit sechzig Wiener Würstchen und einem Sack Brötchen. Dann gab es zum Abendbrot Wiener Würstchen, zum Frühstück Wiener Würstchen, zum Mittag Wiener Würstchen und am Abend noch die Reste und dann sagten sie: „Heute müssen wir aber mal Gurken kaufen.“ Es sind also manchmal auch ganz banale, lebenspraktische Dinge, die auf dem Pilgerweg gelernt werden können. Aber in den Herbergen, in denen sie arbeiten, bekommen die Teilnehmenden ein warmes Mittagessen. Ich gebe etwas, ich kriege etwas, ein einfacher Lebenszusammenhang, den sie begreifen sollen. Man darf ja nicht vergessen, dass sie sonst ihr Geld vom Amt erhalten, ohne entsprechende Gegenleistung. Der Donnerstag. Der größte Teil des Weges ist geschafft. Aufgeben ist keine Option mehr. Und es wird wieder in der Herberge gearbeitet. Sven Enger: Der zweite Arbeitstag am Donnerstag unterschiedet sich meist sehr vom Dienstag. Denn die am Dienstag angewendeten Verweigerungsstrategien sind ja am Mittwoch durch die „Selbstheilung“ entlarvt worden. Nach dem Arbeitstag geht es am Abend in die Auswertung dessen, was gelernt wurde. Da hat sich Folgendes gut bewährt. Ich stelle den jungen Leuten drei Fragen, die dürfen sie auf ihren Zettel schreiben und dann mit dem jeweils Wichtigsten beantworten. Die ers- Fragen an Sven Enger 31 te Frage lautet: „Was habe ich von einem erwachsenen Begleiter gelernt? “ Damit sind alle erwachsenen Mitarbeiter in den Herbergen, wir Betreuer oder auch die Nonnen im Kloster gemeint. Die zweite Frage: „Was habe ich von einem anderen Teilnehmer gelernt? “ Das ist ein Lernfeld, das wir als Pädagogen nicht unterschätzen sollten. Und die letzte Frage: „Was habe ich nicht verstanden? “ Und bei dieser Frage habe ich persönlich sehr viel darüber gelernt, was Missverständnisse sein können. Was wäre so ein Missverständnis? Sven Enger: Ich erinnere mich zum Beispiel an einen jungen Mann, der war ausgesprochen stark und dem habe ich in einer Herberge eine Arbeit übertragen, von der ich dachte: „Ja, das schafft der.“ Er sollte Steine stapeln. Und er kam bei der Auswertung auf mich zu und sagte: „Herr Enger, ich habe mir doch wirklich große Mühe gegeben, habe alle Regeln eingehalten. Warum bestrafen Sie mich mit der härtesten Arbeit? “ Und da habe ich ihm erklärt, dass ich das aufgrund seiner Physis nur ihm zugetraut habe. Und da war er dann stolz. Bis dahin dachte er, ich hätte ihn auf dem Kieker. Diese Frage ist also eine Möglichkeit, Missverständnisse vor dem Abschied auszuräumen. Und dann kommt der Freitag. Ist das der Tag des großen Aufatmens? Sven Enger: Ja und nein. Einerseits kann man oft eine physische Veränderung beobachten, die jungen Leute sind aktiviert, also am Freitag laufen sie besser als am Montag. Und am Freitag ist ganz klar: Jetzt geht es nach Hause. Da ist das Tempo höher, da braucht man weniger Pausen. Am Freitag gibt es noch einmal ein Zeitfenster, sich eine persönliche Rückmeldung und Tipps zu holen. Wer das möchte, lässt sich zurückfallen, spricht mit den Pädagogen. Dort holen wir uns auch die Genehmigung zu einer eventuellen Vermittlung ein: Also, wenn jemand Schulden hat, dann muss er mir gestatten, zum Beispiel mit seinem Sachbearbeiter oder einem Schuldnerberater darüber zu sprechen. Diese Genehmigung ist wichtig und vollkommen freiwillig, denn ansonsten gilt: Alles, was auf dem Weg besprochen wird, bleibt dort. Das wurde am Montag ja so zugesagt. Man kann daneben auch sehr gut sehen, wer sich auf zu Hause freut, oder auch, wer diese Gruppe eigentlich lieber nicht verlassen möchte. Einige Teilnehmer habe ich erlebt, die wären gerne noch weiter gegangen mit dieser Gruppe. Sie haben dort Gemeinschaft erlebt. Und ich vermute, das war ihnen angenehmer als das, was sie in der darauffol- 32 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit genden Zeit erwartet hat. Kurz vor Ende der Gesamtstrecke verlassen wir Trainer die Gruppe. Wir verabschieden sie und sagen: „So, Sie sind jetzt so lange und so gut diesen Pilgerweg gegangen. Die letzten drei Kilometer schaffen Sie allein. Und Sie werden auf diesen drei Kilometern jemanden treffen, den Sie kennen.“ Das heißt, sie begegnen einem sogenannten „Paten“, der sie abholt. Das sind in der Regel Sachbearbeiter aus dem Bereich, aus dem sie geschickt wurden. Und die übergeben ihnen das Zertifikat und bei den Straffälligen den Schein fürs Gericht, dass die Stunden abgeleistet sind. Und für uns ist das ein wichtiges Symbol, sie müssen allein weiter, beim eigentlichen „Sieg“ sind wir nicht mehr dabei. Welche Veränderungen sehen Sie noch am Freitag vor dem Ende der Tour? Haben die Jugendlichen zum Beispiel gute Vorsätze? Sven Enger: Am Freitag wird viel darüber gesprochen, was nehme ich mir vor, was mache ich als Erstes? Da gibt es eine große Bandbreite. Aber „erstmal chillen“ oder „ich freue mich auf jemanden“ wird oft genannt. Dort wendet sich der Blick auf das Zuhause, auf das, was ihnen wichtig ist. Es ist auch nicht selten, dass sie einige Dinge fortan nicht mehr machen wollen oder jemanden nicht mehr sehen möchten. Es ist so ein Fazit-Tag. Zum Beispiel dadurch, dass die Handynutzung in dieser Woche so eingeschränkt ist, kommt auch oft die Erkenntnis: „Krass, wenn ich mich nicht melde, ruft mich auch keiner an.“ Das sind Sachen, die geprüft werden. Und in den Einzelgesprächen am Freitag klingen meist auch die etwas größeren Probleme an. Und was die Zeit danach angeht, so bekomme ich regelmäßig die Rückmeldung, dass die jungen Leute rechtschaffen stolz sind, dass sie das geschafft haben. Sie haben ein richtiges Motivationshoch und viele gehen danach Dinge an. Ich weiß, dass Teilnehmende danach eine längst überfällige Therapie begonnen haben. Ich weiß von einem jungen Mann, der ist nach Hause gekommen und hat als Erstes seine Wohnung aufgeräumt. Er hat einen Zustand hergestellt, in dem er sich wohlfühlt. Er war aktiver. Das klingt vielleicht klein, ist es aber nicht. Aber ich weiß, auch dieses Hoch flaut innerhalb von drei, vier Monaten wieder ab. Auch sie holt der Alltag ein. Wann ist für Sie als Sozialpädagoge die Woche erfolgreich? Sven Enger: Na ja, neben den Fakten, die man tatsächlich messen kann, also, wie viele haben es geschafft, gab es Regelverletzungen, wie viele Stunden konnten abgeleistet werden und so weiter, sind es natürlich Entwicklungen, angestoßene Prozesse, die für mich als Sozialpäda- Fragen an Sven Enger 33 gogen einen Erfolg darstellen. Ich habe zum Beispiel eine Tour immer als gelungen erlebt, wenn die Teilnehmenden in der Woche als Gruppe zusammengewachsen sind und sich sogar gegenseitig unterstützt haben. Vor allem gegenseitige Unterstützung ist nicht selbstverständlich. Ich halte es für ein Zeichen von Vertrauen und echte Offenheit, wenn wir in den Gesprächsrunden nicht die üblichen sozial erwünschten Formeln á la: „Das will ich nun auch ganz gewiss nicht wieder tun“ zu hören bekommen, sondern auch mal Sätze wie: „Das normale Leben hat mir nicht viel zu bieten. Im Grunde will ich nicht aufhören, sondern nur nicht mehr erwischt werden. Und ich bin eigentlich hier, weil ich nicht ins Gefängnis will.“ An solche Aussagen lässt sich viel besser und konstruktiver anknüpfen. Und letztendlich fand ich es immer wertvoll, wenn sich die jungen Menschen einer gewissen Flexibilität annähern konnten und zum Beispiel begriffen haben, dass man nicht sofort seine Ehre verliert, wenn man sich nicht um jeden Preis durchsetzt. Eine Lebensmaxime darf sich ändern und dafür muss man sich nicht schämen. Wie viele Touren gehen Sie im Jahr und sind Sie bei jeder Wanderung persönlich dabei? Sven Enger: In den Aufbaujahren 2011 bis 2016 habe ich jede Pilgerreise begleitet. In manchen Jahren waren das bis zu fünfzehn Touren. Mittlerweile sind es weniger, denn einige Träger in Sachsen und in anderen Bundesländern haben das Programm von uns übernommen und führen eigene Pilgerwanderungen durch. Dort mache ich nur Weiterbildungen oder berate bei Fragen. Inzwischen geben die Träger ihr Wissen auch schon wieder an andere weiter, das Ganze verselbstständigt sich also. Inzwischen haben mehrere Fachtage zum Thema „Pilgern - eine Methode der Sozialen Arbeit? “ stattgefunden, die sich an Sozialarbeiter und andere Fachkräfte richteten. Und es gibt Wissenschaftler, die das Projekt begleiten. Welche Aspekte werden da betrachtet? Sven Enger: Es gibt ein wissenschaftliches Interesse an dem Programm, das aus unserer Tätigkeit als Stiftung resultiert. Wir als Sächsische Jugendstiftung entwickeln Ideen, erproben diese, lassen sie anschließend extern evaluieren und das, was sich bewährt hat, geben wir an andere Träger der Jugendarbeit weiter. Das alles ist mit »Zwischen den Zeiten« schon passiert und daraus haben sich langjährige wissenschaftliche Kooperationen ergeben, wobei die Wissenschaftler zuerst 34 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit einmal geschaut haben, was passiert da eigentlich? Welche Kategorien lassen sich erfassen, messen und vergleichen? Es wurden Interviews und teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Daraus entstanden verschiedene Arbeiten und eine umfassende Betrachtung zu den speziellen Bildungsinhalten. Was noch aussteht, ist gewissermaßen ein Blick aus weiterer Ferne. Wie verlaufen die Biographien weiter? Denn welchen Effekt die Pilgerwanderung langfristig hat, wissen wir noch nicht. Das Leben ist zu komplex, um Veränderungen seriös allein auf das Pilgern zurückzuführen. Aber es würde mich schon sehr interessieren, wie gut sich die Teilnehmer im Abstand von einigen Jahren noch an das Erlebte erinnern können. Ich denke, man kann davon ausgehen, dass etwas, an das man sich gut erinnert, einen Impuls gegeben hat. Kontakt Sven Enger Diplom-Sozialpädagoge (FH) Beccaria - Fachkraft Kriminalprävention E-Mail: svenenger@web.de 2 »Zwischen den Zeiten« 2.1 Pädagogische und soziologische Aspekte des Arbeitsweges von Stephan Hein und Sven Enger O-Ton ∣ „ Mich wundert es, dass ich in dieser Umgebung so viel nachdenke.“ (Aussage eines Teilnehmers) „Pestalozzi, Rousseau, Natorp, Blonskij! Wieviele Bücher, wieviel Papier, wieviel Ruhm! Und dabei völlige Leere. Nichts! Nicht einmal mit einem Rowdy kann man fertig werden, keine Methode, kein Werkzeug, keine Logik - einfach nichts.“ Makarenko Einleitung Der nachstehende Text ist ein Bericht 1 über die u.E. wesentlichen pädagogischen und soziologischen Aspekte des „Arbeitsweg“-Projektes der Sächsischen Jugendstiftung. Dieser Bericht wurde in einer ursprünglichen und sehr knappen Fassung unter dem Titel „Erfolgskriterien und -aussichten moralischer Bildung am Beispiel eines sozialen Trainingskurses“ von den Autoren auf dem 20. Deutschen Präventionstag vorgestellt. Dieser Titel, der den rhetorischen Zwängen einer messeförmigen Veranstaltung geschuldet war und welcher Erfolge unter der Maßgabe 1 Für Anregungen und Kritiken möchten wir an dieser Stelle v.a. Oliver Brust (TU Dresden), Roland Braun (TU Düsseldorf), Patrick Wöhrle (TU Dresden), Michael Hein (VHS Altenburger Land) und Jost Halfmann (TU Dresden) danken. 36 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit entsprechender Kriterien in Aussicht stellt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Kriterien kreative und v.a. eigenständige Leistungen von Sozialpädagogen in ihrer konkreten Arbeit mit jungen Heranwachsenden sind. Ebenso wenig soll der sozialwissenschaftliche Duktus unserer Argumentation den Eindruck erwecken, dass das Programm das Resultat der Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien gewesen sei. Auch wenn man schon seit langem um die Aufwertung der Sozialen Arbeit als wissenschaftlich begründeter Tätigkeit bemüht ist, 2 so möchten wir hier dem Wissenschaftlichen einen zwar wichtigen, jedoch zugleich bescheidenen Anteil einräumen: Der „Arbeitsweg“ entstand aus konkreter Sozialarbeit, und Sozialpädagogen wissen nur zu genau, dass sie über die Erfolge und Misserfolge ihrer Arbeit in nur sehr bescheidenem Maße befinden können. Das Bedürfnis nach einer sozialwissenschaftlichen Einordnung stand zudem nicht am Beginn, sondern entstand vielmehr erst im Laufe der Entwicklung des Programms. Es entstand v.a. mit dem Ziel, Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten der sozialpädagogischen Praxis für diese selbst - nicht zuletzt mit Blick auf die an das Programm herangetragenen Leistungserwartungen - formulierbar und einer Diskussion zugänglich zu machen. Für die Erarbeitung entsprechender Anhaltspunkte liefert der nachstehende Bericht erfahrungsbasierte Hinweise und nimmt en passant eine sozialwissenschaftliche Einordnung zentraler, den „Arbeitsweg“ kennzeichnenden Prozesse vor. Dabei wird es v.a. darum gehen, gruppendynamische Prozesse sowie weitere sozialstrukturelle und lebenslaufspezifische Zusammenhänge zu betrachten. Seit der Vorstellung des Projektes auf dem Deutschen Präventionstag im Frühsommer 2015 sind einerseits neue Ideen hinzugekommen, andererseits ist das Konzept in anderen Bundesländern insbesondere von Einrichtungen der Jugendgerichtshilfe (JGH) aufgegriffen und weitergeführt worden. Das ist eine für das Projekt und die ihm zugrunde liegenden Ideen erfreuliche Entwicklung, ist solchen Projekten nach Berichtslegung doch nicht selten ein Schicksal der Folgenlosigkeit beschieden. Die Verbreitung von Ideen bringt aber auch Schwierigkeiten mit sich. Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Einrichtungen hat mehrfach gezeigt, dass die dem „Arbeitsweg“ zugrunde liegenden Konzepte und pädagogischen Selbstverständnisse nicht immer in dem ursprünglich gemeinten Sinn aufgegriffen worden sind und zuweilen erheblich verändert wurden. Unser Anliegen ist es nicht, Veränderungen auszuschließen oder zu kritisieren. Wir möchten aber darauf 2 Über deren Status etwa als „Sozialarbeitswissenschaft“ ist hier nicht zu handeln. Zwischen den Zeiten 37 hinweisen, dass das Konzept über mehrere Jahre Phasen der praktischen Durchführung, der Dokumentation und des Nachdenkens durchlaufen hat. Dabei haben sich bestimmte Konzepte und Selbstverständnisse als besonders tragend, um nicht zu sagen als unabdingbar erwiesen. In den Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen hat sich dann oft gezeigt, dass die diesbezüglichen Abweichungen häufig gar nicht als solche bemerkt oder in ihrer Tragweite für die pädagogischen Prozesse nicht überschaut worden sind. Die Publikation dieses Berichtes nehmen wir deshalb auch zum Anlass, an geeigneten Stellen darauf hinzuweisen, warum bestimmte Konzepte so und nicht anders gedacht worden sind und warum man sie u.E. in dieser Form belassen bzw. bei Veränderungen die die Konzeption tragenden Erfahrungen berücksichtigen sollte. Nicht zuletzt auch darin findet eine sozialwissenschaftliche Perspektivierung eine Rechtfertigung. Darüber hinaus wollen wir mit diesem Bericht natürlich auch anregen, das Projekt weiterzuentwickeln. Die folgende Darstellung der insbesondere pädagogischen Handlungsprobleme soll aufzeigen, dass es viele, durch Persönlichkeit und Erfahrung des Sozialpädagogen zu füllende Räume gibt. Wir haben unserem Text einen technischen Anhang hinzugefügt. Dieser soll dem besseren Nachvollzug unserer Argumente dienen und auch auf die Grenzen der hier zur Anwendung gelangten empirischen Verfahrensweise hinweisen. Für das Verständnis unserer Kernargumente bildet er jedoch keine Voraussetzung. Ein die Einleitung abschließender Hinweis sei noch gegeben. Die Benennung des Programms als „Arbeitsweg“ führte in der Vergangenheit zu unserer Überraschung in Gesprächen gelegentlich zu (teils besorgten, teils amüsierten) Bemerkungen, die auf eine sprachliche Nähe zu nationalsozialistischer Rhetorik aufmerksam machen wollen. Wir entgegneten dann, dass der Titel für uns am besten ausdrückt, was er bezeichnet: Im Unterschied zum Arbeitsweg, der im Arbeitsrecht eine Wegstrecke bezeichnet, die man zwischen Wohnung und Arbeitsplatz zurücklegt, meint er hier (ebenso ganz prosaisch) einen Weg, an und auf dem gearbeitet wird. Wir weisen auch darauf hin, dass der Titel, der ursprünglich nur ein Arbeitstitel war, sich in der Trägerlandschaft der Jugendgerichtshilfe erhalten hat und dies scheinbar unabhängig von einer vermeintlichen ideologischen Ambiguität. 38 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Kurzbeschreibung des Programms im Rahmen der Praxis der Jugendgerichtshilfe Der „Arbeitsweg“ ist ein mobiler sozialer Trainingskurs für junge Menschen, die vor dem Hintergrund einer Jugendstraftat zur Ableistung von gemeinnützigen Arbeitsstunden verpflichtet wurden und/ oder einen sog. „sozialen Trainingskurs“ absolvieren müssen. Der „Arbeitsweg“ integriert dabei die Ableistung von Arbeitsstunden in einen solchen sozialen Trainingskurs. 3 Auf der Basis freiwilliger und einmaliger Teilnahme besteht die Möglichkeit, bis zu 60 Arbeitsstunden 4 in einem zeitlich überschaubaren Rahmen von fünf Tagen abzuleisten. Die Besonderheit dieses sozialen Trainingskurses besteht in der Herausnahme der Jugendlichen aus ihren unmittelbaren Alltagssituationen. Das Ableisten der Arbeitsstunden wird durch das gemeinsame Zurücklegen eines sog. Pilgerweges gerahmt. Die dahinterstehende Grundidee ist dabei einfach: Im gemeinsamen Zurücklegen einer langen und erschöpfenden Wegstrecke und in gemeinsam geleisteter bzw. gemeinsam zu verantwortender Arbeit werden - so die Annahme - Kooperation und Solidarität, aber auch Konflikte und Konfrontationen freigesetzt, deren Dynamiken produktiv für pädagogische Prozesse genutzt werden können. Auf diese Aspekte wird im Verlauf des Textes detailliert eingegangen. Wir lassen in diesem Bericht offen, wie sich das Konzept des „Arbeitsweges“ zu den Motiven und Idealisierungen des Pilgerns (z.B. als freiwillige, der Kontemplation, der Buße u.a. dienende Auszeit) verhält, wie sie v.a. durch eine lange christliche Tradition formuliert und in letzter Zeit auch als Element bürgerlichen Lebensstils popularisiert wurden. 5 Auch gehen wir hier nicht der Frage nach, inwieweit der „Arbeitsweg“ vor diesen Hintergründen treffend als „Pilgerreise“ bestimmt ist, kommen aber am Ende unseres Beitrages kurz darauf zurück. Hier soll zunächst festgehalten werden, dass mit diesem Programm eine Akzentverlagerung in der Praxis der Jugendgerichtshilfe vorgeschlagen wird. Ausgangspunkt ist dabei selbstredend der im Jugendstrafrecht verankerte Erziehungsgedanke, welcher die Verhinderung zukünftiger Straftaten zum Ziel hat. Dieser Erziehungsgedanke bzw. seine Realität in der Praxis des Jugendstrafrechts steht bekanntlich vielfach in der Kritik. So 3 Die Bezeichnung „sozialer Trainingskurs“ ist ein Terminus des Jugendgerichtsgesetzes (§10). Inwieweit hier etwas Soziales „trainiert“ wird, oder ob die Form des Trainings die pädagogischen Prozesse treffend beschreibt, können wir an dieser Stelle offenlassen. 4 Durch die besondere „Herausnahmequalität“ des „Arbeitsweges“ (v.a. die physischen Belastungen des Laufens) werden aufgrund einer gerichtlichen Sonderregelung pro Tag 12 Arbeitsstunden angerechnet. 5 Vgl. dazu den Beitrag von Ansgar Hoffmann in diesem Band. Zwischen den Zeiten 39 verdecke er häufig den objektiv strafenden Charakter bzw. die Tendenzen der Kriminalisierung Jugendlicher. 6 Diese Tendenzen werden v.a. als Dominieren sicherheitsstaatlicher Prämissen richterlichen Entscheidens bei der Verhängung von Freiheitsstrafen diskutiert. Aber, so wollen wir fragen, wie steht es um den Erziehungsgedanken vor den Mauern des Arrests? Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass sich die unterstellte erzieherische, reorientierende bzw. präventive Wirkung 7 von Arbeitsstunden und anderen Sanktionsformen, aber auch der sozialen Trainingskurse nicht oder kaum erwartbar einstellt (vgl. dazu Trenczek/ Müller 2011). Dies betrifft nicht nur die statistisch dokumentierten „Rückfälle“, sondern auch die Häufigkeit, mit der sich den Sanktionen entzogen wird. Dies mag für eine Kritik an dieser Praxis als verfehlte hinreichend sein, aber ebenso auffällig ist, dass eine explizite pädagogische Rahmung dieser Maßnahmen häufig fehlt. Warum also einen (freilich juristisch bestimmten) Erziehungsgedanken kritisieren, wo er doch gar nicht zur Tat gefunden hat oder auf das Verteilen „guter Worte“ (Dießenbacher 1984) beschränkt bleibt? Warum Erziehung kritisieren, wo faktisch kaum nennenswert Erziehung stattfindet? Durch das Fehlen eines pädagogischen Rahmens muten diese Maßnahmen unfreiwillig paradox an: Wie kann man von der Ableistung der Arbeitsstunden ein planvolles und damit an mittelbis langfristigen Zielen orientiertes Handeln erwarten, wenn die Lebenssituationen und -orientierungen der Jugendlichen doch häufig durch Kurzfristigkeit und Planlosigkeit, 8 gar durch Indifferenz 9 gekennzeichnet sind? Ist es unter diesen Bedingungen nicht vielmehr denkbar oder gar wahrscheinlich, dass diese Maßnahmen auch zur Bühne für Abweichung und damit für ihre Verstärkung werden? Ausgehend von diesen Überlegungen liegt der Fokus des Programms - und zwar unter ausdrücklicher Beibehaltung des Charakters einer Negativsanktion - auf der persönlichen und kollektiven Auseinanderset- 6 Für eine schon etwas ältere Diskussion vgl. Deichsel 2004. 7 Zu den Problemen, Konflikten und Paradoxien der pädagogischen Umsetzung von Präventionsaufträgen siehe Hein/ Robert/ Drössler 2013. 8 Als Belege für Planlosigkeit können die in den Gerichtsakten dokumentierten Straftaten selbst herangezogen werden, denn in ihnen kommt diese sehr häufig zum Ausdruck. Die Delikte sind nicht nur kaum durch langfristige und kontextübergreifende Überlegungen hinsichtlich möglicher strafrechtlicher Konsequenzen charakterisiert, sondern v.a. durch das Fehlen von Überlegungen, wie die Identifikation der Tat mit einem Täter durch einen besonders durchdachten und geschickten Plan vermieden werden kann. 9 Viele jugendliche Straftäter aus dem „Arbeitsweg“ konnten nicht mit Gewissheit sagen, wie viele Gerichtsverfahren nach Ableistung der Arbeitsstunden noch offen sind. 40 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit zung der Teilnehmer mit ihren eigenen unmittelbaren Lebenssituationen und darin auffindbaren lebenspraktischen Problemen. Insbesondere das Konzept des Dilemmas bildet hier - wie weiter unten ausführlich erörtert wird - den pädagogischen Dreh- und Angelpunkt: Der pädagogisch angeleitete Zugang zur eigenen Lebenssituation und ihre Charakterisierung als widersprüchlich und konfliktbehaftet sollen helfen, diese in einen - die Unmittelbarkeit und Kurzfristigkeit des Erlebens und Handelns übergreifenden - Zusammenhang zu rücken. Auf diese Weise sollen die Jugendlichen angeregt werden versuchsweise zu prüfen, ob und wie sie längerfristige Lebensperspektiven gewinnen können. Das Programm versteht sich dabei als Erweiterung bzw. als Ergänzung von Angeboten der Jugendgerichtshilfe. Es bietet gegenüber den herkömmlichen Optionen der Ableistung von Arbeitsstunden bzw. der Absolvierung sozialer Trainingskurse eine Reihe von Vorteilen, mit denen versucht wird, eine u.E. substanzielle Lücke zu schließen. So erfüllt die Praxis der Ableistung von Arbeitsstunden zwar ihren Sanktionscharakter (so es dann auch tatsächlich zur Ableistung kommt), inwieweit diese Maßnahmen aber einen (auch systematisch erwartbaren) pädagogischen Effekt haben, ist zumindest schwer nachvollziehbar. Worin ein solcher Effekt im Einzelnen konkret besteht, erscheint kaum begründbar. Der Umstand, dass Jugendliche diese Arbeitsstunden oftmals nicht, nicht regelmäßig oder nur unvollständig ableisten, ist - wie eben schon angemerkt - v.a. auf die auf Kurzfristigkeit und Unmittelbarkeit angelegten Zeit- und Erwartungshorizonte zurückzuführen, wie sie sich im Kontext von Negativkarrieren und mehrfach belasteten Lebenslagen oft einstellen. Die Praxis der Ableistung von Arbeitsstunden ist pädagogisch kaum dahingehend durchdacht, wie sich Jugendliche in einem solchen Rahmen aktiv mit ihrer Lebenssituation bzw. mit der Mittel- und Langfristigkeit eines Lebensentwurfes auseinandersetzen könnten. Ein hierfür geeigneter Rahmen ist auch durch die sog. sozialen Trainingskurse nur bedingt herstellbar. Insbesondere die Punktualität dieser Kursangebote, d.h. ihre Integration in den durch belastete Lebenslagen und deviante Orientierungen geprägten und ständig präsenten Alltag der jungen Erwachsenen, verhindert oftmals ein Sich-Einlassen auf eine solche Auseinandersetzung und motiviert stattdessen oft zu kontraproduktivem „face-work“. Gegenüber diesen Nachteilen bzw. Problemen integriert das Konzept „Arbeitsweg“ - in der Verbindung von Arbeitsstunden und sozialem Trainingskurs - drei Vorteile: [1] Es ermöglicht eine kurzfristige Herauslösung der Jugendlichen aus ihrem Alltag und die systematische Konfrontation mit drängenden Problemen ihrer Lebenssituation; [2] In Zwischen den Zeiten 41 ihm werden Vermeidungs- und Subversionsstrategien weitgehend wirkungslos gemacht; 10 [3] Es ermöglicht die kompakte Ableistung von Arbeitsstunden, die sonst erfahrungsgemäß oft nicht abgeleistet werden. Pädagogische Ziele und Konzeption Ein Programm, welches den Mangel erzieherischer Komponenten in der Praxis der Jugendgerichtshilfe konstatiert und für sich zugleich eine besondere pädagogische Rahmung reklamiert, muss seine eigenen erzieherischen Ziele in besonderer Weise benennen und erklären können. Zugleich muss es darüber Auskunft geben können, in welchem systematischen Zusammenhang Erziehungsziele und die zuhandenen Mittel (z.B. sozialpädagogische Methoden) stehen und welche erzieherischen und sozialisationsbezogenen Problembeschreibungen und Prämissen ihnen zugrunde liegen. Durch die Beschreibung dieses Zusammenhangs soll zugleich sichergestellt werden, dass Ziele, gemessen an dem, was innerhalb eines so kurzen zeitlichen Rahmens geleistet werden kann, realistisch formuliert werden. Zu hohe Erwartungen - etwa an signifikant gesenkte Rückfallquoten, an die langfristige Beendigung sozialpädagogischer und anderer Betreuungsverhältnisse - werden erfahrungsgemäß häufig dann formuliert, wenn die entsprechenden Kriterien nicht aus der Praxis heraus, sondern v.a. als politische Leistungserwartungen (etwa an „nachhaltige Wirkung“) von außen herangetragen werden. Gerade weil sich die Soziale Arbeit ständig und vermehrt mit solchen Leistungserwartungen konfrontiert sieht, muss sie diese mit eigenen Ziele abgleichen und durch einen methodischen Ansatz konkretisieren. Das pädagogische Ziel des Arbeitsweges wurde, wie so vieles andere auch, nicht am Beginn des Projektes, sondern sukzessive in seinem Verlauf und im Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen und Kollegen entwickelt, die einen „Arbeitsweg“ durchgeführt haben. 11 Wir glauben, dass das Ziel des Programms am treffendsten als Stärkung der Fähigkeit der Jugendlichen zu klugen und eigenverantwortlichen Entscheidungen hinsichtlich ihrer Lebenssituationen formuliert werden kann. Dieses Ziel, 10 In den Punkten 1.) und 2.) sehen wir auch einen wesentlichen Unterschied zu erlebnispädagogischen Konzeptionen, die die pädagogischen Handlungs- und Reflexionslasten einseitig dem (diffusen) Erleben von Außergewöhnlichem aufbürden. 11 Die Freiheit, zunächst einmal Erfahrungen sammeln zu können, wurde nicht zuletzt durch den Umstand ermöglicht, dass der Arbeitsweg unabhängig von seiner pädagogischen Konzeption seinen Charakter als gerichtliche Sanktion beibehält. 42 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit wie man es programmatisch in vielen pädagogischen Konzepten der Jugendsozialarbeit ganz allgemein finden wird, soll jedoch nicht als defensiver Gemeinplatz (im Sinne von: „das hilft ja immer“) verstanden werden. Es bezieht sich vielmehr auf eine strukturelle Problemlage der Lebensbewältigung, die für die Altersgruppe junger Heranwachsender eine ganz allgemeine Bedeutung hat - nämlich die mit gesetzlicher Mündigkeit verbundenen Verhaltenserwartungen und -orientierungen. Die Allgemeinheit des Ziels ist somit Ausdruck einer Gemeinsamkeit in den zu bewältigenden Problemstellungen. Diese erfahren jedoch vor dem Hintergrund belasteter Lebenslagen und ganz besonders bei jenen vieler jugendlicher Straftäter eine besondere Ausformung. Denn zum einen befinden sich die Jugendlichen oftmals an einem lebensgeschichtlich kritischen Punkt, an dem deviante Orientierungen und Handlungen gesellschaftlich nicht mehr als in Grenzen tolerable Abweichungen - etwa im Rahmen von Erziehungs- und Entwicklungsprozessen -, sondern als voll zu verantwortende Handlungen mündiger Personen bewertet werden. Zum anderen ist dieser Umstand vielen Jugendlichen oftmals nicht oder nicht hinreichend bewusst: Die eigenen Handlungen und deren langfristige Konsequenzen als eigene Entscheidungen verbuchen zu müssen, aber auch die Zwänge, die eigene Lebenssituation überhaupt als entscheidungsbedürftig zu behandeln, stehen den jungen Erwachsenen in dem durch Kurzfristigkeit und Unmittelbarkeit geprägten Alltag nicht deutlich vor Augen. Dies hat u.E. seine Ursache weniger darin, dass sie mit diesen Problemen nicht konfrontiert worden wären oder diese nicht verstehen könnten. Vielmehr sehen wir einen wesentlichen Grund darin, dass die Bewältigung dieser Probleme aufgrund der durch sie implizierten mittelbis langfristigen Perspektiven als nicht in der eigenen Macht stehend und Anstrengungen in dieser Richtung als nicht erfolgsversprechend erlebt werden. Dieses Erleben findet im sozialen Nahfeld der Jugendlichen auch häufig eine implizite Bestätigung, die dann zur rationalisierenden Moralisierung der eigenen Haltung herangezogen wird. Eine Ausbildung zu beenden ist deshalb sinnlos, weil der Bruder trotz Anstrengung keinen Job kriegt und vom Jobcenter stattdessen zum x-ten Mal zu einer sinnfreien „Maßnahme“ geschickt wird. Eine Familie zu gründen ist deshalb sinnlos, weil die Freundin „Schluss gemacht“ hat, um mit jemandem davonzuziehen, der das vollere Portemonnaie hat. Diese dem Erleben zugrunde liegende spezifische Alltagsmoralität begründet u.E. die Tendenz, solche Fragen der mittel- und langfristigen Lebensbewältigung zu vermeiden und damit erst zu findende Möglichkeiten abzuschatten. Die durch Kurzfristigkeit und Unmittelbarkeit bestimmten Zeithorizonte sind dabei vielfach Ausdruck von vielfältigen sozialen Benachteili- Zwischen den Zeiten 43 gungen 12 und deren aufgeschichteten und miteinander verzahnten Folgen, die pädagogisch gar nicht bearbeitet werden können. 13 So sind die Lebenssituationen der Jugendlichen, die einen Arbeitsweg absolvieren, häufig durch eigene, aber auch die (vielfach auch langjährige) Arbeitslosigkeit der Eltern gekennzeichnet. Was auf den ersten Blick lediglich als eine Erschwernis des Übergangs in eigenen Wohnraum erscheint, da die Jobcenter Jugendliche oftmals in Bedarfgemeinschaften mit ihren Herkunftsfamilien zwingen, erweist sich indirekt auch als Erschwernis für Entwicklungsschritte in die lebenspraktische Selbstständigkeit. In diesem Zusammenhang müssen insbesondere auch prekäre Familienverhältnisse erwähnt werden, deren häufiger sinnfälliger Ausdruck der Umstand ist, dass Jugendliche keine verlässlichen Angaben über die präzise Anzahl ihrer Geschwister bzw. Stiefgeschwister machen können. Damit einher geht auch häufig ein Fehlen konstanter, für die individuelle Entwicklung und Reifung wichtiger Bezugspersonen. Vielfach sind die Lebenssituationen der Jugendlichen auch durch Obdachlosigkeit, Suchterkrankungen, Straffälligkeit verbunden mit einer Beauflagung von mehr als 50 Arbeitsstunden, durch Überschuldung mit drohender Privatinsolvenz sowie durch geringe oder gänzlich fehlende schulische Qualifikation gekennzeichnet. Insgesamt ergibt sich häufig ein Bild von Fremdbestimmung und Autonomieverlust, was sich für die Entwicklung der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen umso fataler erweist, als sie sich in einer Lebensphase befinden, die durch die gesellschaftliche Norm der Ausweitung von individuellen Handlungs- und Wirkungsbereichen (also durch Autonomiegewinne) gekennzeichnet ist. Mit dieser Aufzählung von Problemlagen soll daher nicht nur deutlich gemacht werden, dass der individuelle Lebenslauf durch Probleme des objektiven Zugangs zu gesellschaftlichen Handlungssphären bestimmt ist (Erwerbsarbeit und Konsum, schulische Erziehung, religiöse Gemeinschaften, ggf. Vereine und politische Partizipation), sondern v.a., dass er zu dem subjektiven Problem 12 Es muss hier nicht eigens erörtert werden, dass vieles, was im Rahmen gesellschaftlicher Erwartungsfahrpläne als individuell zu verantwortende Entscheidungen und deren Folgen behandelt wird, z.B. die Berufswahl und damit verbundene künftige Lebenschancen, durch Aspekte sozialer Herkunft (Schicht- und Milieuzugehörigkeit, Migration) vorstrukturiert ist. 13 So ist Armut bekanntlich kein pädagogisch, sondern ausschließlich ökonomisch lösbares Problem. Dennoch findet sich in der Sozialen Arbeit häufig die Vorstellung, dass sich mit der sozialpädagogischen Bearbeitung von Armutsfolgen die Armut selbst beseitigen oder zumindest lindern ließe, eine Vorstellung, die zumeist unkritisch aus der sozialpolitischen Rhetorik übernommen wird. 44 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit wird, die eigene Lebenssituation als Folge eigener Entscheidungen imaginieren zu können (vgl. dazu Schütze 1981). 14 Die andauernde Reduktion der zeitlichen Perspektiven auf die unmittelbare Gegenwart und auf kurzfristige Erwartungshorizonte (z.B. die monatliche Zahlung von Sozialleistungen, die Gewöhnung an die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen) hat dann häufig auch das Ingangsetzen von negativen Verlaufskurven zur Folge, deren bestätigungsselektiver (und damit potentiell abweichungsverstärkende) Charakter dazu führt, dass zusehends nur noch das als relevant empfunden wird, was in diesen zeitlichen Rahmen passt - unter Ausschluss möglicher Alternativen (vgl. Schütze 1981: 90f.). Mit der Stärkung von Entscheidungsfähigkeit als Erziehungsziel wird hier somit kein individuelles Entwicklungsdefizit 15 behauptet, sondern eine Perspektivenverschiebung, zu der die Jugendlichen - wie hier gezeigt werden soll - sehr wohl in der Lage sind. Die Stärkung von Eigenverantwortlichkeit, von Planungs- und Entscheidungsfähigkeit versteht sich hier deshalb v.a. als Hinterfragung von anonym und vermeintlich schicksalshaft verfestigten Lebenssituationen. Sie bezeichnet zuallererst den Versuch zu verstehen, was die eigene Lebenssituation jenseits des unmittelbaren, täglich erfahrenen Lebenszusammenhangs bestimmt. Deutlich werden sollte bis hierher, dass das relativ bescheiden anmutende Programmziel kein Ausdruck einer defensiven Haltung angesichts des Umfanges der Problemlagen ist, sondern sich vielmehr aus ihnen herleitet. Die Jugendlichen im Rahmen einer solchen Situation „ändern“ zu wollen wäre nicht nur schlicht anmaßend, sondern auch der Ausdruck einer naiven Verkennung der Vielschichtigkeit und Dauer von Erfahrungs- und Lernprozessen. Eine kleine Anekdote soll dies noch illustrieren. Eine Sozialpädagogin, die im Bereich der Jugendberufshilfe arbeitet, wurde von einem Behördenmitarbeiter auf eben jene Bescheidenheit angesprochen; ob man nicht die Ansprüche an Umfang und Wirksamkeit der pädagogischen Arbeit viel höher ansetzen müsse, etwa als persönlichkeitsformende. Sie entgegnete daraufhin mit der Gegenfrage, ob sich der Fragende überhaupt vorstellen könnte, zu lernen so zu leben wie die Jugendlichen. 16 14 Und dies weitgehend unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaß dann tatsächlich etwas entschieden wurde. 15 Ein solches kann natürlich nie ausgeschlossen werden, kann dann aber nur fallweise in Erscheinung treten und im Rahmen des Arbeitsweges auch nicht bearbeitet werden. 16 Wir danken an dieser Stelle der Kollegin Doreen Zschiesche für diese originelle Pointe. Zwischen den Zeiten 45 An dieser Stelle soll noch eine weitere, u.E. wichtige Überlegung vorgestellt werden. Ein wichtiges und hier nicht zu vernachlässigendes Kennzeichen der Lebenssituation der Jugendlichen ist der Umstand, dass sie sich häufig (auch wiederholt und schon für längere Zeit) in sozialpädagogischen und anderen Betreuungsverhältnissen befinden. Die sozialpädagogische Bearbeitung von Problemlagen ist den Lebenssituationen somit nicht äußerlich und kann damit selbst zu einem Problemfeld werden, welches besonders ernst genommen werden muss. So ist z.B. oftmals eine auf diese Rahmenbedingungen eingeschränkter Autonomie angepasste (und aus Sicht der Jugendlichen völlig plausible) Haltung anzutreffen, die darin besteht, Hilfsangebote der Sozialen Arbeit gerade nicht zur Gewinnung eigener Autonomie, sondern zur Aufrechterhaltung eigener Unselbstständigkeit zu nutzen, indem z.B. regelmäßig wiederkehrende Situationen, in denen der Sozialarbeiter dem Jugendlichen etwas exemplarisch erklärt, zu andauernden Hilfesituationen umfunktioniert werden. 17 Es ist dabei wichtig zu betonen, dass auch dies kein Indiz eines Defizits ist, sondern vielmehr ein Ausdruck kompetenter Problemlösung im Rahmen prekärer Lebenssituationen. Diese Verlängerung der Abhängigkeit kann aber eben auch bedeuten, Hilfsangebote zur Aufrechterhaltung oder gar zur Verstärkung devianter Handlungsorientierungen zu nutzen. Diesen kontraproduktiven Effekt gilt es auf jeden Fall zu vermeiden. Die Geschichte des Projektes hat regelmäßig gezeigt, dass eine entsprechende Sensibilität für diesen Zusammenhang bei den begleitenden Pädagogen eine wichtige Voraussetzung ist. Eine entsprechende Blindheit für diesen Zusammenhang wird manchmal durch ein pädagogisches Selbstmissverständnis befördert, welches Anerkennung mit der Inszenierung sozialer Nähe verwechselt. So kommt es gelegentlich vor, dass begleitende Sozialpädagogen der Auffassung sind, bei der Ableistung der Arbeitsstunden mitarbeiten zu müssen. Es ist jedoch für den „Arbeitsweg“ ganz wesentlich, dass sich der oder die Begleiter gerade nicht dazu hinreißen lassen, die Statusunterschiede zu den Jugendlichen symbolisch einebnen zu wollen, indem sie sich z.B. an der Ableistung der Arbeitsstunden beteiligen. Durch eine solche „gut gemeinte“ Solidarisierung würde eine völlig unrealistische Problemlösung vorgegaukelt. Den realen Sanktionscharakter symbolisch zu dementieren hätte zwar möglicherweise kurzfristig die angenehme Folge der Spannungsvermeidung, langfristig jedoch würde man sich dem Risiko aussetzen, die Ansprechbarkeit der Jugendlichen als eigenverantwortliche preiszugeben. 17 Zu diesem allgemeinen Problem Sozialer Arbeit, Unselbstständigkeit ungesehen und ungewollt zu verlängern, vgl. Schütze 2000. 46 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Wenn also die Jugendlichen dem Sozialarbeiter die Frage stellen sollten: „Warum arbeiten Sie denn nicht mit? “, dann sollte seine Antwort sinngemäß lauten: „Weil ich nicht muss. Sie sind hier, weil Sie eine Aufgabe zu erfüllen haben.“ Es geht also immer darum, die Jugendlichen an die unmittelbare Lebensrealität zu erinnern (juristische Sanktion), die in der besonderen Situation des „Arbeitsweges“ keineswegs bedeutungslos wird. Wenn wir hier eine sozialarbeiterische Sensibilität reklamieren, dann kann diese natürlich nicht in stur durchzuhaltenden Prinzipien ihren Ausdruck finden, denn das wäre schlicht unsensibel. Nicht mitzuarbeiten ist in erster Linie eine Empfehlung, die dazu dient, die Thematisierungslasten eines als möglicherweise widersprüchlich erlebten Verhaltens des Sozialarbeiters zu vermeiden. Es ist ihm natürlich keineswegs verboten, punktuell auch mitzuarbeiten, etwa wenn eine konkrete Situation eine Hilfestellung erforderlich macht, er muss jedoch in einer solchen Situation seine Mitarbeit zum Thema machen und für alle Teilnehmer die Aufrechterhaltung des Statusunterschiedes besonders hervorheben. Er muss deutlich machen, dass er mitarbeitet, weil er dies aus freier Entscheidung heraus kann, die Teilnehmer aber arbeiten müssen: „Ich tue dies, weil ich Lust dazu habe, Sie tun dies jedoch, weil es Ihre Pflicht ist.“ Die Frage „Warum arbeiten Sie nicht mit“ ist tatsächlich auch gestellt worden und sie zeigt u.E. in besonderer Weise eine Erfahrung an, die die Jugendlichen bereits mit Sozialarbeit gemacht zu haben scheinen: Wie sonst käme man auf die Idee, jemand würde sich freiwillig an der Ableistung von Strafarbeit beteiligen? All dies schließt natürlich nicht aus, die Jugendlichen bei ordnungsgemäßer Ableistung der Arbeit auch zu loben. Keinesfalls darf dies jedoch zu der Mentalität „Wir müssen da gemeinsam durch“ führen. Denn eine solche kann eine nachhaltige Verunsicherung des durch den Pädagogen zu etablierenden und zu stützenden Orientierungsrahmens haben. Dieser hat die Herstellung und Aufrechterhaltung einer für die Teilnehmer gedanklich offenen Situation zum Ziel. Diese Offenheit - verstanden v.a. als Zurückstellung von Vermeidungs- und Vereinnahmungsstrategien - ist oft sehr fragil und kann durch unkontrollierte „Verbrüderungsgesten“ empfindlich gestört werden. Eine wichtige Aufgabe des Sozialpädagogen besteht deshalb darin, deutlich zu machen, dass er mit den Teilnehmern eine lediglich kurzfristige Beziehung eingeht und er schließlich aus dem Leben der Jugendlichen verschwinden wird. Zwischen den Zeiten 47 Diese Offenheit wird im Weiteren auch nicht durch eine Erweiterung von Freiräumen, sondern vielmehr durch deren Einschränkung motiviert. Darin besteht ein ganz wesentlicher Unterschied etwa zu erlebnispädagogischen Konzepten. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die Vorgabe feststehender und die Schaffung eigener verbindlicher (Tages-) Abläufe und (Verhaltens-)Regeln, aber auch eine Reihe von Verboten. Ein Teil der Regeln und Verbote (aber auch die positiven Rechte der Teilnehmer) sind intuitiv verständlich (z.B. gegenseitige Rücksichtnahme, Ansprache von Konflikten) und werden nicht unbedingt als Einschränkung erlebt. Andere hingegen sind nicht unmittelbar einsichtig oder werden mitunter als drastische Beschneidung von Freiheiten erfahren. So gilt z.B. ein striktes Alkoholverbot. Der erzwungene Verzicht auf Alkohol führt nicht wenige Teilnehmer in angespannte Situationen, die dann entsprechend durchgehalten werden müssen. 18 Das Verbot ist somit ein Mittel, mit dem eine Verstärkung der Anforderung erreicht werden kann, ein Ziel vor Augen zu haben, welches man auch unter unangenehmen Bedingungen zu erreichen gewillt ist. Des Weiteren dürfen die Jugendlichen während des Arbeitsweges keinerlei Besuch von außen empfangen. Dies dient - neben der Vermeidung von Drogenbeschaffung - dazu, die Nachlieferung benötigter Alltagsgegenstände zu unterbinden. Auch hier geht es darum, die Bedeutung von Selbstständigkeit erfahrbar zu machen, zugleich aber auch alltagspraktische Nöte, um eines Zieles willen durchhalten zu müssen (siehe dazu auch den nächsten Abschnitt). Damit wird nicht zuletzt auch ein Teil des sonst bestimmenden Umfeldes „ausgesperrt“. Zudem unterliegt die Nutzung von Mobiltelefonen Restriktionen. Während der Arbeitszeiten und im Rahmen der Gesprächseinheiten ist die Nutzung verboten. 19 Ziel dieser Einschränkung ist es, die Präsenz der Jugendlichen sicherzustellen, nicht zuletzt deswegen, weil eine objektivierbare Arbeitsleistung erbracht werden muss. Der Zaun muss fertig gestrichen, die Äpfel fertig geerntet und der Schrott komplett beseitigt sein. Auch hier geht es wieder darum, Bezüge zur Lebenswirklichkeit herzustellen: „Auf dem Bau wird man nicht als Einarmiger eingestellt.“ Andere Regeln werden im Rahmen des „Arbeitsweges“ gemeinsam erarbeitet. Diese Ge- und Verbote haben dabei nicht nur den restriktiven Sinn, gruppeninterne Grenzen des Verhaltens zu ziehen, sie haben auch den generativen Sinn, kleinere Verstöße und Grenzübertretungen je 18 Sollte sich im Rahmen des Arbeitsweges herausstellen, dass ein Teilnehmer ernsthaft alkoholabhängig und gar nicht in der Lage ist, den Ansprüchen gerecht zu werden, muss ihm vermittelt werden, dass er ganz andere Hilfe benötigt. 19 In der Freizeit ist die Handynutzung nicht reglementiert. 48 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit nach Situation und Gelegenheit als Anknüpfungspunkte für die Diskussion gemeinsamer lebenspraktischer Themen benutzen zu können. Wichtig darauf hinzuweisen ist es, dass es hier keinen Thematisierungszwang gibt, v.a. dann nicht, wenn Teilnehmer persönliche Grenzen ziehen, die in die Bereiche sozialer Basisgarantien 20 fallen und die von allen respektiert werden müssen. Eigene Regeln, die benannt werden, müssen nicht erklärt oder begründet werden. So war beispielsweise für einen Teilnehmer körperliche Distanz ein Ausdruck seiner Integrität; ihm war es wichtig, dass er nicht von anderen berührt wird, und er benannte dies als Regel. 21 Die Jugendlichen sollen den „Arbeitsweg“ keinesfalls als zwangsförmige Sprechordnung 22 erleben. Das gilt auch für die Gruppengespräche, die zwar verbindlich sind, bei denen niemand zur „Selbstthematisierung“ etwa in Form einer Stellungnahme zu seinen Straftaten genötigt wird. 23 Es ist hier wichtig zu betonen, dass diese sozialen Basisgarantien - insbesondere in Form von Distanzregeln - auch und besonders für den Sozialpädagogen gelten. Angesichts der Gefahren der mit der unbemerkten Einebnung von Statusunterschieden riskierten Vereinnahmung empfiehlt sich unbedingt die Beibehaltung sprachlicher Höflichkeitsformen. Die in sozialarbeiterischen Kreisen weit verbreitete Duz-Kultur kann hier sehr schnell kontraproduktive Effekte haben. Das Duzen kann den Sozialarbeiter in die Situation bringen, Spannungen und Konflikte systematisch de-thematisieren und zugleich die Einführung von Konfliktstoffen durch die Teilnehmer unkontrolliert in Kauf nehmen zu müssen, weil er nicht den zusätzlichen Konflikt riskieren will, die Unglaubwürdigkeit der mit dem „Du“ als „persönlich“ bestimmten Beziehung sichtbar zu machen. Umgekehrt erfolgt die „Verduzung“ aus einer sozialen Asymmetrie heraus und kann von den Teilnehmern als zwangsförmig und damit als Verletzung sozialer Distanzregeln erlebt werden, was 20 Zu solchen Basisgarantien, die besonders im Zusammenhang totaler Institutionen wie Gefängnissen und Psychiatrien aufgebrochen werden, vgl. grundlegend Goffman 1967 und 1971. 21 Die Aufforderung „Fass mich nicht an! “ ist im Alltag außerhalb von Intimbeziehungen weder begründungspflichtig, noch wird man als dergestalt Aufgeforderter darin ein Zeichen gesonderten Analysebedarfs sehen („Warum will der sich nicht anfassen lassen? “). Das Nichtberührtwerden stellt vielmehr eine soziale Basisgarantie im öffentlichen Raum bzw. unter Fremden dar. 22 Dies ist nach Breidenstein/ Rademacher (2016) ein pädagogisches Mittel, welches in Schulen im Rahmen der individualisierenden Thematisierung eigener Lernleistungen (Entwicklungsgespräche, Portfolios) zunehmend Verbreitung findet. 23 Wie sich die Konzeption des Arbeitsweges zu Verfahrensweisen verhält, die unter dem Stichwort der sog. „konfrontativen Pädagogik“ diskutiert werden, können wir hier nicht abschätzen, denn unter „konfrontativ“ kann sicher sehr viel verstanden werden. Keinesfalls werden die Jugendlichen hier Degradierungsritualen unterworfen, die dann nachträglich als „pädagogische Methode“ gerechtfertigt werden. Zu einer differenzierteren Darstellung dieser Ansätze vgl. Kilb 2010, zur Kritik insbesondere von Anti-Aggressionstrainings siehe Plewig 2010. Zwischen den Zeiten 49 dann aber nicht mehr thematisiert werden kann. Unabhängig von diesen Überlegungen ist die Ansprache mit „Sie“ ein Ausdruck dafür, dass man als Erwachsener angesprochen wird. Die weiter oben schon angesprochene gedankliche Öffnung der Situation wird (durch die Explizierung von Regeln) somit durch die Erhöhung situativer Zwänge motiviert, in die die Teilnehmer durch die sozialen und personalen Dynamiken des gemeinsam zu bewältigenden Weges und der gemeinsam zu leistenden Arbeit „wie von selbst“ verstrickt sind. Die Konzeption als „Arbeitsweg“ bietet dabei den Vorteil, diese Zwänge teils als quasi „naturwüchsig“ und „der Sache geschuldet“, teils als selbstbestimmt (nicht jedoch als Bestrafung bzw. als willentliche Fremdbestimmung) erleben zu können. Am Arbeitsweg erfolgreich teilnehmen heißt deshalb nicht nur die physischen Belastungen des Laufens (60 bis 80 km) und des Arbeitens (max. 60 Arbeitsstunden) durchzuhalten, sondern v.a. Handlungen und deren Konsequenzen als Resultat eigener Entscheidungen zu erleben und zu verantworten. Das Programm zeichnet sich im Weiteren durch eine begleitende Verständigung über die ablaufenden personalen und sozialen Prozesse aus. Dies wird v.a. durch den Umstand ermöglicht, dass sich diese Prozesse auf verschiedene Weise „von selbst“ dokumentieren. Neben der persönlichen Ansprechbarkeit der sozialpädagogisch qualifizierten Begleiter seien hier v.a. zwei offene Befragungen mit anschließenden Gruppendiskussionen genannt, die im Verlaufe des „Arbeitsweges“ durchgeführt werden (→ Tab. 1). Diese Diskussionsrunden, die Aufforderungen zur Selbsteinschätzung und zur Bearbeitung von widersprüchlichen Handlungssituationen enthalten, liefern in situ Material für generative Themen zur Diskussion von Einstellungen, Lebenskonzepten und Handlungssituationen. Die Erfahrungen aus den bisherigen Durchläufen des Programms zeigen dabei eine durchweg angemessene Urteilsfähigkeit der Jugendlichen. Die „bildende“ Arbeit des Pädagogen besteht demnach darin zu motivieren, diese Fähigkeiten hinsichtlich der eigenen Lebenssituation nachhaltig zum Einsatz zu bringen. Diese Zusammenhänge und die Bedeutung dieser Befragungen und Diskussionen werden im → Abschnitt 2.3 genauer erörtert. Im nächsten Abschnitt wollen wir die Grundlagen der pädagogischen, personalen und gruppendynamischen Prozesse zusammenfassen und in eine orientierende Übersicht bringen. 50 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit 2.2 Pädagogische, personale und gruppendynamische Prozesse im Arbeitsweg Voraussetzungen und Rahmenbedingungen Für das Zustandekommen und für die Kontinuität der pädagogischen, personalen und gruppendynamischen Prozesse haben sich im Verlaufe der Entwicklung des Programms zwei Voraussetzungen als wesentlich erwiesen. Für deren Erfüllung sollte daher kontinuierliche Aufmerksamkeit durch die Begleiter aufgebracht werden. Diese Voraussetzungen sollten deshalb im Vorfeld der Durchführung eines „Arbeitsweges“ durch bereits erfahrenes Personal (z.B. im Rahmen einer Weiterbildung oder Schulung) als Arbeitsprämissen an die begleitenden Pädagogen vermittelt werden. Dabei hat sich besonders die Illustration mit konkreten Fallbeispielen (im Gegensatz zu bloß abstrakter Erörterung) als hilfreich erwiesen. [1] Die erste Voraussetzung bezieht sich auf das bereits angesprochene pädagogische Problem, dass die Jugendlichen deviante Orientierungen und Handlungsmuster in die sich konstituierende Gruppe hinein tragen. Diese können dort leicht gegenseitige Bestätigung und damit auch Verstärkung erfahren. Dafür ist es nicht notwendig, dass sich Teilnehmer im Vorfeld bereits kennen, was durch die organisierte Auswahl der Teilnehmer im Vorfeld ohnehin kaum der Fall ist. Vielmehr sind wechselseitige Bestätigung und Bestärkung nicht im Rahmen von Devianzkarrieren erst entwickelte, 24 sondern ganz allgemeine und notwendige Handlungsmittel, mit denen offene und möglicherweise verunsichernde Situationen kurzfristig und routiniert bewältigt werden können. Voraussetzung ist es demnach, diese Orientierungen zugunsten einer Auseinandersetzung mit alternativen Orientierungen und Handlungsweisen zurückzustellen. Die anspruchsvolle Aufgabe des Sozialpädagogen besteht dann darin, das Spannungsfeld von Negativsanktionen und Anerkennung zu moderieren. Man kann die pädagogische Haltung dementsprechend mit Du bist akzeptiert wie du bist, aber es wird nicht alles akzeptiert, was du tust umschreiben. Der Negativsanktionierung devianten Verhaltens (etwa physische und psychische Gewalt, Sachbeschädigung, Vermeidungsstrategien) entsprechen auf der anderen Seite hohe 24 Zum Konzept der Karriere vgl. Becker 1966. Eine weitere wichtige Quelle zur Beschreibung abweichenden Verhaltens (etwa für den Begriff der kriminellen (Jugend-)Subkultur) ist Cohen 1975. Zwischen den Zeiten 51 Erwartungen an Verhalten, das entsprechend positiv sanktioniert wird. Dies wird weiter unten genauer erläutert. [2] Die zweite Voraussetzung bildet die unbedingte Transparenz und Nachvollziehbarkeit der durch die Begleiter artikulierten Anforderungen und Erwartungen. Der Teilnehmer muss jederzeit die Möglichkeit haben, sich im Rahmen des „Arbeitsweges“ allgemeiner Orientierungs- und Handlungsgrundlagen zu vergewissern. Dies unterscheidet den „Arbeitsweg“ von vielen Alltagssituationen, in denen durch ihren Routinecharakter einerseits vieles als „vorverständigt“, als „Alltagsgewissheit“ und als unproblematisch behandelt wird, es andererseits deshalb häufig aber keinen entsprechenden Thematisierungsrahmen gibt. Die Inanspruchnahme solcher Selbstvergewisserung im „Arbeitsweg“ ist demnach häufig etwas, zu dem durch die Begleiter auch gezielt ermutigt werden muss. Die Vermittlung und im Handeln erfolgende Bestätigung eines klaren Deutungsrahmens sowie das Angebot einer entsprechenden auf Respekt beruhenden Form der Selbstvergewisserung (etwa im persönlichen Gespräch) ist dann eine weitere zentrale pädagogische Aufgabe. Das Erfordernis von Klarheit und Transparenz bezieht sich dabei nicht nur auf das, was explizit zum Thema gemacht wird, sondern auch auf Handlungen, über die nicht notwendigerweise gesprochen wird (eben weil sie als alltägliche und routinierte als nicht thematisierungsbedürftig angesehen werden). Wir haben schon weiter oben darauf hingewiesen, dass dies insbesondere die Rolle des/ der begleitenden Pädagogen selbst betrifft. Die durch die Parallelität von Anerkennung und Sanktionierung entstehende, vom Pädagogen kreativ zu bewältigende Spannung setzt ihn systematisch der Gefahr aus, die Distanz zu den Teilnehmern aufzugeben, sich in der pädagogischen Rolle zu dementieren und deviante Orientierungen wieder zuzulassen, Personen unbewusst oder unbemerkt bevorzugt zu behandeln und damit möglicherweise Spannungen und entsprechende Frustrationen in die Gruppe einzuführen. Hier hat es sich als enorm hilfreich erwiesen, als begleitender Pädagoge im Vorfeld auf Informationen über die Straftaten der Jugendlichen bewusst zu verzichten und dies auch explizit zu Beginn eines Arbeitsweges den Jugendlichen mitzuteilen: „Ich weiß nicht und ich muss auch nicht wissen, was Sie hierher geführt hat, Sie werden hier alle gleich behandelt. Jeder kann für sich entscheiden, was und wieviel er offenbaren möchte.“ Die für die Teilnehmer sichtbare und klare Aufrechterhaltung von Distanz hat dabei nicht nur den Sinn, aus der pädagogischen Rolle erwachsende performative Widersprüche zu vermeiden, sondern eine distanzierte Haltung entspricht auch oft- 52 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit mals dem Modell von Autorität, welches die Teilnehmer erwarten und das ihnen Orientierungssicherheit gibt. 25 Tab. 1: Exemplarischer Wochenablauf eines Arbeitsweges Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Übernahme einer Gruppe; Belehrungen und Verständigung über Regeln und Sanktionen; ca. 20 km Wegstrecke; abends: Befragungsrunde („Lebensmaxime“) tagsüber: Ableistung von Arbeitsstunden in Herberge; abends: Befragungsrunde („Heinz- Dilemma“) tagsüber: Wegstrecke zur nächsten Herberge; Denkaufgabe: „In welchem Dilemma stecke ich? “ tagsüber: Ableistung von Arbeitsstunden; abends: Befragungsrunde zur Ergebnissicherung tagsüber: Wegstrecke nach Hause; Übergabe der Gruppe an einen „Paten“ Mehrschichtige Konfrontation mit Erwartungen Die bisher erfolgte Darstellung sollte die Idee nachvollziehbar machen, dass die Spannungen und Handlungsprobleme, die durch die Zurückstellung devianter Orientierungen entstehen, in einen Erfahrungszusammenhang eingebettet werden sollen, der dann eine moderierte Auseinandersetzung mit ihnen ermöglicht. Die im Folgenden aufgeführten Punkte sollen zeigen, dass es dabei nicht um abstrakte Lern- und Bildungsziele geht, deren „Transfer“ in die Lebenswirklichkeit sichergestellt werden soll, sondern um Erwartungen an Handlungskompetenzen, die gesellschaftlich mit den Normen des „Erwachsenseins“ verknüpft sind, also Erwartungen an Selbstständigkeit, Mündigkeit, zwischenmenschliche Artikulationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit und schließlich Planungsfähigkeit. Dem „Arbeitsweg“ liegt gewissermaßen ein paradoxes Prinzip zugrunde: Das, was gelernt, vertieft, verstanden und erfahrbar gemacht werden soll, wird nicht isoliert als „Bildungsinhalt“ vermittelt, sondern (gewissermaßen kontrafaktisch) zu Beginn bei den Teilnehmern bereits vorausgesetzt. Auch damit wird an die Le- 25 In den Schulungen wird deshalb darauf hingewiesen, dass der Begleiter „nicht zur Gruppe gehört“, und zwar in einem ähnlichen Sinne, wie der Lehrer nicht zur Schulklasse gehört. Damit ist nicht gemeint, dass der Begleiter kommunikativ außerhalb der Gruppe stünde, was soziologisch unzutreffend wäre, sondern dass er nicht den Status der Teilnehmer als Teilnehmer teilt. Zwischen den Zeiten 53 benswirklichkeit erinnert: Der Status des Erwachsenen wird schließlich nicht durch schulische Qualifikation erworben. Einerseits handelt es sich dabei um Erwartungen, die den Jugendlichen nicht unbekannt sind und die von ihnen auch oft kompetent gehandhabt werden. Andererseits - und darauf zielt der „Arbeitsweg“ ab - ist den Heranwachsenden oft nicht klar, was es heißt, diesen Erwartungen gerecht zu werden und abzuschätzen, welche und v.a. wie mittel- und langfristige Konsequenzen in Betracht zu ziehen sind. 26 Das Thema des kriminellen Hintergrundes, der Sühnung einer Strafe bzw. der Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen wird hier transponiert in ein Thema eingeschränkter persönlicher Autonomie. So wird zu Beginn eines „Arbeitsweges“ den Teilnehmern mitgeteilt, dass sie zwar (fast) erwachsen seien, sie aber hier teilnähmen, „weil ihnen immer noch jemand sagt, was sie zu tun haben“. Ihnen wird damit vermittelt, dass sie die Freiheiten, die ihnen durch ihren Status als Erwachsene zustünden, nicht zu nutzen wüssten. Folgende Erwartungskomplexe haben sich im Verlauf der Entwicklung des „Arbeitsweges“ herauskristallisiert: [1] Erwartung an Selbstständigkeit. - Von den Teilnehmern wird erwartet, dass sie in den elementaren lebenspraktischen Belangen für sich selbst verantwortlich sind. Dies betrifft z.B. die Versorgung mit für lange Wanderschaft und Arbeitseinsätze geeigneter und ausreichender Bekleidung und Schuhwerk, 27 das Einkaufen von Lebensmitteln, die Zubereitung von Mahlzeiten, die Reinigung der benutzten Unterkunftsräume und der Küche in den Herbergen, aber auch rechtzeitiges Zubettgehen um fit für den kommenden Tag zu sein etc. Wie oben schon angedeutet, gibt es dann fallweise „böse Überraschungen“, etwa wenn man nach einer gewissen Wegstrecke bemerkt, dass die Schuhe drücken oder durchnässt sind, man einen praktischeren Rucksack hätte organisieren müssen, die Zigaretten 26 Hier ist es wichtig darauf zu achten, dass eine zu starke und frustrierende Überforderung vermieden wird. Der begleitende Pädagoge muss in der Lage sein, Erwartungen und Möglichkeiten ihrer Erfüllung situativ gut auszubalancieren. Dies geschieht z.B. in der Vorbereitung des Eintreffens in den Herbergen. Durch den Betreuer wird mitgeteilt: „Der erste Eindruck ist eine Chance, die nie wiederkommt. Machen Sie etwas daraus! “ Abends wird dann gemeinsam über den Tagesverlauf gesprochen. Die Stärke des „ersten Eindruckes“ wird einerseits dadurch abgemildert, dass er im „Arbeitsweg" als Chance mehrfach vorkommt. Zugleich wird dadurch ein pädagogischer Prozess befördert, denn die Heranwachsenden können auf diese Weise erleben, welche Konsequenzen Variationen im Verhalten in vergleichbaren Situationen haben. 27 Die Nichtverfügbarkeit aufgrund prekärer Lebensverhältnisse wird nicht als Grund anerkannt, denn die Unmöglichkeit oder Schwierigkeit der Beschaffung hätte im Vorfeld vorausschauend signalisiert werden müssen, damit durch die Einrichtung Abhilfe verschafft werden kann (siehe Punkt 3 der Liste). 54 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit zur Neige gehen oder man zu müde ist. Die damit gemachte Erfahrung verdeutlicht auf elementarer Ebene die praktische Bedeutung vorausschauenden Handelns. [2] Erwartung an Verantwortungsübernahme. - Dieser Erwartungskomplex hat zunächst eine unmittelbare strafrechtliche Bedeutung. Zu Beginn des Arbeitsweges wird auf die unbedingte Gültigkeit des Rechts hingewiesen und darauf, dass Diebstähle, Gewalttaten, Drogengebrauch u.a. kompromisslos zur Anzeige gebracht werden und dass im Falle eines Verstoßes die Chance, den „Arbeitsweg“ erfolgreich zu absolvieren, verwirkt ist. 28 Solche Fälle traten in der Vergangenheit selten auf, was ihre Bedeutung für den Orientierungsrahmen des „Arbeitsweges“ nicht mindert, schließlich geht es um die künftige Vermeidung von Straftaten. Aber auch über diesen rechtlichen Rahmen hinaus müssen Handlungskonsequenzen kompromisslos verantwortet werden. Jemand, der gegen „No-Go“- Regeln verstößt (siehe oben), wird vom Arbeitsweg ausgeschlossen und geht damit zugleich das Risiko ein, die geleisteten Arbeitsstunden zu verlieren oder sogar ins Gefängnis zu müssen. Der Ausschluss ist auch dann zwingend, wenn Verstöße „ohne Not“, d.h. ohne dass diese vom Begleiter bemerkt worden sind, mitgeteilt werden. Ein Teilnehmer, der seinen Verstoß gegen das Alkoholverbot reuig bekannte, wurde nicht trotz, sondern aufgrund seiner Mitteilung ausgeschlossen. Auch hier ging es wieder darum, den Regel- und Orientierungsrahmen aufrechtzuerhalten. Den verbleibenden Teilnehmern wurde der Ausschluss als eigenständige Entscheidung des Teilnehmers vermittelt: „Hier geht jemand, ohne den Leiter zu zwingen, ihn wegen eines Regelverstoßes zu entlassen.“ Diese Episode soll auch illustrieren, dass die Kompromisslosigkeit nicht dazu dienen soll, bei den Teilnehmern Einschüchterung zu bewirken, sondern auf die Unveränderlichkeit der Regeln hinzuweisen. Die Kompromisslosigkeit in den Handlungskonsequenzen betrifft auch die Entscheidung, einen Arbeitsweg freiwillig abzubrechen. Zum einen muss der (formal volljährige) Jugendliche seine Heimreise selbst organisieren, zum anderen muss ihm in diesem Zusammenhang 28 Eine Ausnahme bilden jedoch Diebstähle untereinander, die mitunter vorkommen. Diese werden nicht von den Begleitern sanktioniert, denn dies wäre ein Eingriff in ein Feld, wo die Heranwachsenden einerseits zur eigenverantwortlichen Klärung, andererseits zu solidarischem und kooperativem Verhalten untereinander aufgerufen sind. Selbstverständlich steht es jedem Teilnehmer frei, einen Diebstahl auch anzuzeigen. Es wäre jedoch pädagogisch fehlgeleitet, solches Verhalten lediglich aus der Vermeidung von Negativsanktionen durch den Pädagogen zu motivieren. Die Jugendlichen sollen mit den - aus Diebstahl und anderen Übergriffen - resultierenden Verunsicherungen und den so entstehenden Herausforderungen des Umgangs konfrontiert bleiben. Zwischen den Zeiten 55 deutlich sein, dass er sich damit wieder in eine Situation der Fremdbestimmung zurückbegibt, z.B. weil er nun eine Gefängnisstrafe antreten muss. [3] Erwartung an Kommunikations- und Thematisierungsbereitschaft. - Der „Arbeitsweg“ ist ganz wesentlich ein Gruppenprozess. Ein bloßes „Aushalten“ der Beschwerlichkeiten der Tagesmärsche und der Arbeiten oder eine nur minimale „diplomatische“ Beteiligung an den Gesprächen ist zwar denkbar, stellt aber einen besonderen Ausnahmefall dar, der aus der bisherigen Praxis nur selten berichtet wurde. Diese Erwartung an Thematisierungsbereitschaft wird plausibel v.a. vor dem Hintergrund des Prinzips von Transparenz und Nachvollziehbarkeit, wie es eben schon dargelegt wurde. Emotionen, Meinungen, Befürchtungen und Ängste, Fragen und Probleme, Erfahrungen etc. können nur Bedeutung gewinnen, wenn sie (sowohl gegenüber den Begleitern als auch untereinander) kommuniziert werden. Um z.B. Hilfe zu bekommen, muss der Hilfebedarf angezeigt werden, sonst riskiert man, überfordert zu werden, z.B. wenn man als Teilnehmer an körperliche Grenzen stößt. So wird den Teilnehmern zu Beginn mitgeteilt: „Wenn Sie eine Pause benötigen, dann müssen Sie das sagen, sonst laufen wir durch.“ [4] Erwartung an Solidarität und Kooperationsbereitschaft. - Dies ist eine Erwartung, die v.a. auf das Verhalten der Teilnehmer untereinander abzielt. Dies betrifft zunächst wiederum elementare lebenspraktische Notwendigkeiten (wie z.B. die Organisation von Einkäufen, die Zubereitung von Mahlzeiten, das selbstständige Moderieren von Spannungen und Konflikten in der Gruppe). Das solidarische und kooperative Verhalten untereinander betrifft aber v.a. auch die Ableistung der Arbeitsstunden: Die Arbeit soll nicht individuell, sondern kollektiv geleistet und dann auch verantwortet werden. Erwartungen an solidarisches und kooperatives Verhalten werden aber auch auf allgemeiner Ebene thematisiert, v.a. im Rahmen der Benennung von Regeln und persönlichen Grenzen (z.B. als respektvolles Verhalten untereinander). [5] Erwartung der Auseinandersetzung mit eigener Lebenssituation. - Von den Teilnehmern wird erwartet, dass sie sich aktiv auf eine Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Lebenssituation einlassen. Dies wird durch die Betreuer in regelmäßigen Rückfragen in die Gruppe und v.a. in den abendlichen Gruppengesprächen moderiert. So werden zu Beginn eines „Arbeitsweges“ die Teilnehmer mit der (gar nicht so einfachen) Frage konfrontiert: „Warum sind Sie hier? “ Mit dieser Frage soll die Aufmerksamkeit von der unmittelbaren Situation, in der sich die Jugendlichen mehr oder weniger un- 56 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit freiwillig wiederfinden, auf die allgemeine Lebenssituation gelenkt werden. Am Abend des zweiten Tages werden die Teilnehmer mit dem Konzept des Dilemmas vertraut gemacht, um sie schließlich am Abend des dritten Tages (→ Tab. 1) mit der Frage zu konfrontieren: „In welchem Dilemma stecken Sie? “ Die Hinführung zu und der methodische Umgang mit dieser Frage sind das Thema des folgenden Abschnitts. 2.3 Die Moral autonomer Entscheidungen Der letzte Punkt ist ein besonderes Kernstück des „Arbeitsweges“. Wir haben bisher versucht zu verdeutlichen, dass es ganz wesentlich darauf ankommt, eine Atmosphäre der Offenheit zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Diese Offenheit muss sich demnach auch in der Art und Weise widerspiegeln, wie die Lebenssituationen der Teilnehmer aufgegriffen werden. Die Zukunft, von der man annimmt, dass sie eine offene sei, kann nur dann als offene erscheinen, wenn sie nicht unmittelbar in Abhängigkeit der insbesondere negativen Aspekte der Vergangenheit gesehen wird. Die Auseinandersetzung erfolgt hier daher nicht in Form einer direkten und zwangsförmigen Konfrontation mit begangenen Straftaten, was sehr wahrscheinlich lediglich als Belehrung und als Aufforderung zu moralischen Bekenntnissen aufgefasst werden würde. Zudem hätte die herausgehobene Bedeutung der Straftaten die implizite Folge, die Lebenssituation primär unter dem Gesichtspunkt einer durch die Sozialorganisation des Jugendrechts bestimmten Vergangenheit zu betrachten. Die Jugendlichen sollen nicht lernen, sich als Kriminelle zu begreifen, denn das tun sie häufig ohnehin schon. Das Konzept des (konstruktiven) Dilemmas hat sich u.E. als ein geeignetes Mittel erwiesen, um eine solche Auseinandersetzung zugleich anzuregen und pädagogisch anzuleiten. Dafür ist jedoch ein Rahmen nötig, der es ermöglicht, über das bloße Konstatieren eines (ggf. schwer oder gar nicht entscheidbaren) Handlungsproblems hinauszugelangen. Zum einen muss sichtbar werden, wie man zur Einschätzung einer Situation als konfliktbehaftet gelangt, zum anderen muss schlicht deutlich werden, welcher persönliche Nutzen mit einer solchen Einschätzung ggf. verbunden ist. Es mag zunächst merkwürdig erscheinen, dass hier das Stufenmodell der Moralentwicklung von Kohlberg 29 diesen Rahmen liefert, ist der 29 Auf dessen Darstellung und Diskussion muss hier ebenfalls aus Platzgründen verzichtet werden. Zwischen den Zeiten 57 „Arbeitsweg“, wie ja schon eingangs betont wurde, keinesfalls als Maßnahme zur wohlmeinenden Hebung der individuellen moralischen Verfassung gedacht. Ein solcher Gedanke wird durch den Bezug auf ein klassisches Konzept der Entwicklungspsychologie, wie er v.a. in der Kriminologie erfolgt, vielleicht nahegelegt. 30 Wir gehen hier jedoch nicht von einem korrelativen Zusammenhang zwischen den epistemischen Strukturen des Denkens und einer Neigung zur Straffälligkeit aus, 31 denn die Unterstellung eines solchen Zusammenhanges (und damit auch die Rede von der „kriminellen Persönlichkeit“) wäre soziologisch höchst fragwürdig. Auf dieses Problem ist Kohlberg selbst schon früh gestoßen, als er u.a. feststellte, dass seine Testergebnisse unter einer Gruppe von Insassen einer Besserungsanstalt in Abhängigkeit des jeweiligen thematischen Rahmens deutlich variierten. Registriert wurde nicht die moralische Urteilskraft, sondern die von einer „moralischen Atmosphäre“ implizit nahegelegten Orientierungen (Kohlberg 1996: 292ff.). 32 Vor diesem Hintergrund kann man sich fragen, ob sich in der Alltagsmoralität der Jugendlichen möglicherweise auch eine frühe und anhaltende Erfahrung mit der Sozialorganisation des Jugendrechts spiegelt. Die moralische Atmosphäre des Gerichtssaals ist schließlich nicht durch die Prämissen eines freiwilligen philosophischen Gerechtigkeitsdiskurses, sondern vordergründig durch taktische Erwägungen der Selbstdarstellung charakterisiert. Man erscheint pünktlich zur Gerichtsverhandlung und demonstriert damit seine Bereitschaft, sich der richterlichen Entscheidung auszusetzen. Man gibt angesichts der Beweislage ohne Umschweife seine Tat zu, man zeigt sich reuig, weil dies den Richter in jedem Fall nötigt, Kooperation und Reue als mildernde Umstände in die Urteilsbegründung einzubeziehen. Der Zwang zum Taktieren findet auch darin seine Bestätigung, dass Anwälte und Richter von Berufs we- 30 Die Autoren halten solche Versuche ganz allgemein nicht nur für wenig aussichtsreich, sondern für den Ausdruck einer individualisierenden bzw. alltagsweltlichen Verengung des Moralproblems, welches „Moralität“ als von den sozialen Kontexten unabhängige individuelle Variable behandelt, eine Auffassung, in der „die Bahn des moralischen Urteils als von innen nach außen verlaufend gedacht und damit stillschweigend von einem Primat des Inneren ausgegangen wird.“ (Bergmann/ Luckmann 2013: 19) 31 Solche Prämissen sind bekanntlich durch Kohlberg selbst zurückgenommen worden, und auch in der Kriminologie scheint man diesbezüglich zumindest einige Zweifel zu hegen (vgl. Kaiser 1996: 120, Egg 2003: 53f., Weyers 2010: 417). 32 Die Lösung hypothetischer Konflikte erfolgte hier durchweg auf einer höheren Moralstufe als bei jenen, die die unmittelbare Lebenssituation der Insassen thematisierten. „Die Insassen neigten dazu, ihre Beziehungen zu Mitgefangenen unter den für Stufe 2 kennzeichnenden instrumentellen Gesichtspunkten zu sehen. An diesem Ort, so war die vorherrschende Sichtweise, zog man sich gegenseitig ‚das Fell über die Ohren‘, ‚verkaufte seine Freunde‘ und ‚stieß schwächere Mitgefangene herum‘.“ (Kohlberg 1996: 293) 58 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit gen dem Jugendlichen darin überlegen sind, denn schließlich wird man auch „in die Pfanne gehauen“, wenn vorhandene Beweise, die den Täter identifizieren, erst dann präsentiert werden, nachdem man schon die Unwahrheit gesagt hat. 33 Einige Jugendliche aus dem Arbeitsweg äußerten den Verdacht, dass der Jugendrichter sie „auf dem Kieker“ gehabt und unangemessen streng bestraft hätte. Das mag zwar eine unrealistische Einschätzung sein, aber die sich darin artikulierende Ohnmacht ist vielleicht weniger Ausdruck eines Verkennens der Schwere der eigenen Tat als der Unterschätzung eines Spiels, in dem man irgendwann und in jedem Fall den Kürzeren zieht. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lassen wir uns von der (freilich nicht belegbaren) Prämisse leiten, dass Jugendliche einer Altersgruppe alle „gleich gut denken“. Auf das Modell von Kohlberg wird hier also nicht als entwicklungspsychologisches oder gar diagnostisches Konzept zur Bestimmung von Entwicklungsdefiziten, sondern - wie gleich gezeigt wird - als eine didaktische Beschreibungsressource zurückgegriffen. 34 Zentral ist dabei der Gedanke, dass sich die exemplarischen Lösungen dilemmatischer Handlungssituationen im Hinblick auf ihre situationsübergreifende Komplexität ordnen und vergleichen lassen. Grundidee ist hierbei, den Jugendlichen zu vermitteln, dass komplexe Probleme der eigenen Lebenssituation nicht nur komplexe Problemlösungsstrategien erforderlich machen können (z.B. die Berücksichtigung der Perspektiven der an einer Situation Beteiligten, die Zerlegung und Strukturierung eines großen Problemzusammenhangs in Teilprobleme, die Frage, ob ein Problem tatsächlich durch mich gelöst werden muss), sondern v.a., dass die Komplexität der Probleme erst im Rahmen solcher Strategien erkannt und in Rechnung gestellt werden kann. Streng genommen geht es also gar nicht um Moral, sondern um das den Entscheidungen zugrunde gelegte Wissen. Dieses Modell eignet sich gut dazu, um einerseits vielschichtige und intransparente Lebenssituationen als entscheidungsbedürftige und als mit Konsequenzen behaftete Probleme herauszuarbeiten, andererseits unterschiedliche Lösungen eines Entscheidungsproblems in ihren Konsequenzen vergleichbar zu machen. Damit soll gewährleistet werden, dass Fragen auch als tatsächlich entscheidbare herausgestellt werden. Die Kriterien für die Bewertung einer Lösung werden somit nicht in der Persönlichkeit des Jugend- 33 Nicht spezifisch an der Praxis des Jugendrechts und auch nicht an der Gegenwart abgelesen, aber in jedem Fall als Studie zur „moralischen Atmosphäre“ des Gerichtssaals äußerst instruktiv: Scheuerle 1952/ 53. 34 Das Modell wird auch nicht im Vorfeld als „psychologische Theorie“ an die Jugendlichen vermittelt, sondern bildet ausschließlich für den Sozialpädagogen einen Orientierungsrahmen zur Erfassung und Beschreibung vielschichtiger und komplexer Handlungszusammenhänge. Zwischen den Zeiten 59 lichen, sondern in der zunächst hypothetischen, dann aber auch in der konkreten eigenen Lebenssituation bzw. der Art und Weise der persönlichen Verstrickung gesucht. 35 Ablauf der Befragungen und Gruppendiskussionen Umgesetzt wird dies in Form zweier schriftlicher Befragungen mit anschließend durchgeführten Gruppendiskussionen. In der ersten Befragung am Abend des ersten Tages (→ Tab. 1) geht es um die persönliche Wahl einer sog. „Lebensmaxime“ (→ Anhang A, → Abb. 2). Hierzu werden die Teilnehmer im Rahmen einer Gesprächsrunde aufgefordert, aus einer Liste von sechs Aussagen, welche die Form eines Leitspruches haben, diejenige auszuwählen, mit der sie sich am meisten identifizieren, die sie als ihre „Lebensmaxime“, als ihre oberste persönliche Lebensregel akzeptieren würden. Zugleich sollen sie ihre Wahl schriftlich begründen. Bei der Befragung erfolgt zunächst eine Erläuterung des Begriffes. Die Teilnehmer werden gefragt, ob sie wissen, was mit dem Begriff „Maxime“ gemeint ist und gebeten, den Begriff zu erklären. Falls Sie den Begriff nicht kennen oder falsch auffassen, wird der Begriff vom Begleiter erläutert. 36 Auch wird den Teilnehmern dabei vermittelt, dass es nicht darum gehe, eine „richtige“ Antwort zu geben; jeder bestimmt seine eigene Maxime ganz nach seiner „persönlichen Wahrheit“, dabei gibt es kein „richtig“ oder „falsch“. Die Teilnehmer erhalten dann ein Blatt, auf dem die entsprechenden Maximen notiert sind. Während sie die Aufgabe schriftlich bearbeiten, dürfen die Teilnehmer nicht miteinander sprechen, da Fragen und Probleme danach in der Gruppe besprochen werden sollen (dazu gleich mehr). Danach werden die Blätter mit den Namen versehen und eingesammelt. Direkt im Anschluss werden die Ergebnisse diskutiert. Die Teilnehmer besprechen - moderiert durch den Begleiter - untereinander ihre persönliche Wahl und erläutern ihre Begründungen. Hier zeigte sich fallweise, dass Teilnehmer aus dem „Arbeitsweg“ als Begründung für ihre Wahl angeben, andere Wahlmöglichkeiten nicht verstanden zu haben (z.B. den „kategorischen Imperativ“). 37 Es ist wichtig, dass in der Diskussion der Ergebnisse keinerlei 35 Damit wird auch von vornherein eingeräumt, dass einfache Problemlösungen adäquat sein können. 36 Dies geschieht z.B. unter Rückgriff auf die Maxime der Drei Musketiere „Einer für alle, alle für einen“. 37 Hier muss darauf hingewiesen werden, dass der argumentative Gehalt von den Jugendlichen durchaus verstanden wird - sofern er entsprechend erläutert wird. 60 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Bewertung durch den Pädagogen vorgenommen, sondern der durch die Teilnehmer artikulierte Standpunkt explizit anerkannt wird. Dies bildet die Voraussetzung dafür, dass die Teilnehmer untereinander mit ihren Standpunkten konfrontiert werden können: „Ich verstehe Ihren Standpunkt, aus Ihrer Sicht verhält es sich so … aus Sicht Ihres Kollegen verhält es sich anders, nämlich so ...“ Hier wird dann auf unterschiedliche Konsequenzen der verschiedenen Maximen eingegangen, etwa in der Frage, welchen Handlungsmöglichkeiten man sich verschließen würde, wenn man Lebenszusammenhänge ausschließlich nach dem Muster von „Ursache-Wirkung“ oder des unmittelbaren Austausches erfasst („Eine Hand wäscht die andere“). Auch wird hier diskutiert, dass unterschiedliche Probleme unterschiedliche Heransgehensweisen erfordern können. Damit soll den Teilnehmern deutlich werden, dass ein anderer Standpunkt, gerade weil er als von dem eigenen Standpunkt unabhängige Wahrheit anerkannt wird, für die Profilierung der eigenen Position bedeutsam werden kann. Darüber hinaus soll deutlich werden, dass die unterschiedslose und prinzipienhafte Orientierung an einer Regel zu Lasten der Möglichkeit geht, den vielschichtigen Problemgehalt einer Situation zu durchdringen. Damit wird auch ein in der Altersgruppe junger Heranwachsender häufig anzutreffender „Prinzipiendogmatismus“ hinterfragt. Am Abend des zweiten Tages bearbeiten die Teilnehmer ein fiktives Entscheidungsproblem, wobei auf das bekannte Heinz-Dilemma aus den Kohlberg-Studien zurückgegriffen wird. Im Gegensatz zur Benennung einer Lebensmaxime folgt der Rückgriff auf ein fiktives Dilemma der Idee, sich stellvertretend in eine fremde Situation hineinzuversetzen. Zugleich bietet das Heinz-Dilemma die Möglichkeit, kriminelle Handlungen thematisieren zu können, ohne dabei auf die eigenen Straftaten eingehen zu müssen. Auch hierzu erhalten sie ein Blatt, auf dem die Beschreibung des Dilemmas abgedruckt ist (→ Anhang A, → Abb. 3). Zunächst wird jedoch der Begriff des Dilemmas erläutert. Analog zum Begriff der Maxime wird gefragt, was mit dem Begriff gemeint ist, und es wird ggf. eine Erläuterung gegeben. Die Aufgabe besteht dann zum einen darin, das Dilemma durch eine Entscheidung aufzulösen, zum anderen, die Entscheidung wiederum schriftlich zu begründen. Auch hier dürfen die Teilnehmer nicht miteinander sprechen oder Rückfragen stellen. Die Blätter werden wieder eingesammelt und im Anschluss werden in der Gruppe die verschiedenen Lösungen diskutiert. Die Grundidee ist hierbei, den Jugendlichen die Prämisse zu verdeutlichen, dass, je komplexer die in Betracht gezogenen situativen Komponenten und Konsequenzen der getroffenen Entscheidung sind, Zwischen den Zeiten 61 sich desto eher Handlungsoptionen und „Auswege“ finden lassen, um den Zwickmühlencharakter einer Situation zu entschärfen. Dieser Umstand wird dann wiederum auf die Ergebnisse der Befragung vom Vortag („Lebensmaxime“) bezogen. In der Gruppendiskussion wird dann deutlich, dass sich die Wahl einer Lebensmaxime nicht zwangsläufig auf dem Niveau der Problemlösung einer fiktiven Konfliktsituation bewegt. 38 Die Aufgabe des Begleiters besteht nun darin, systematisch auf die Pointe hinzuführen, dass eine Maxime wie z.B. „Eine Hand wäscht die andere“ der Komplexität des Problems, wie es sich für Heinz stellt, nicht unbedingt gerecht wird und bestimmte langfristige Handlungskonsequenzen unbemerkt bleiben, mit denen man dann zukünftig vermeintlich schicksalhaft konfrontiert ist. (Wenn Heinz etwa des Einbruchs und Diebstahls überführt wird, muss er nicht nur entsprechende Strafen gewärtigen; diese führen ggf. auch dazu, dass sich Heinz der Möglichkeit beraubt sieht, seiner Frau nicht nur das Medikament zu verschaffen, sondern ihr überhaupt Unterstützung zuteilwerden zu lassen.) Umgekehrt geht es bei einer Maxime wie „Eigentum verpflichtet“ nicht darum, ihre hohe Moralität zu beglaubigen und sie als zu erreichendes Ziel auszuflaggen, sondern darum zu zeigen, wie man aus einer Situation persönlicher (moralischer! ) Betroffenheit heraus versuchen kann, einen nüchternen Abstand einzunehmen. Wichtig ist auch hier, dass keinerlei Einschätzung der Teilnehmer nach „moralischer Leistung“ vorgenommen wird, etwa indem den Teilnehmern eine „moralische Stufe“ attestiert wird. 39 In der Diskussion der Ergebnisse wird dann versucht, den exemplarisch erschlossenen Begriff des Dilemmas wiederum auf die eigene Lebenssituation zu übertragen, d.h. Ambivalenzen der eigenen Lebenssituation zu entdecken („In welchem Dilemma stecke ich eigentlich? “). Ein Beispiel aus dem „Arbeitsweg“: Ein junger Mensch, der die klare Prämisse „ein Mann verteidigt sich“ formuliert, erlebt, wie seine Freundin von einem anderen in der Straßenbahn belästigt wird. Sein Ehrenkodex zwingt ihn dazu aufzustehen und diesen Mann zu verprügeln, was er auch sofort tut - mit der Folge schwerer Verletzungen des Mannes. Für 38 Die systematische Interpretation dieses Umstandes und seine produktive pädagogische Bedeutung erfolgt ausführlicher im nächsten Abschnitt. 39 In den Worten Kohlbergs: „Wenn wir ein bestimmtes Denken der Stufe 2 zuordnen, dann meinen wir damit nicht, dass Personen, die so denken, egoistisch oder manipulativ seien; sie sind ebenso aufrichtig an Rechtmäßigkeit oder Fairness interessiert wie Personen, deren Denken der Stufe 5 zugeordnet wird. Zu wissen, dass jemand auf Stufe 2 denkt, heißt nicht, zu behaupten, diese Person verhalte sich nicht fair oder moralisch. Es geht vielmehr darum, ihre Auffassung von Rechtmäßigkeit und Fairness zu erkennen, und die Stufenzuordnung hilft, ihren Standpunkt zu verstehen. Ein guter Interviewer oder Auswerter eines Interviews zum moralischen Urteilen [hier: der Sozialarbeiter in der Gruppendiskussion, Anm. d. A.] stellt sich wie ein guter Berater zu Beginn seiner Befragung darauf ein, die Welt mit den Augen des Befragten zu sehen.“ (Kohlberg 1996, S. 228f., Hervorhebung i.O.) 62 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit die schwere Körperverletzung wird er am Ende hart bestraft. Die Freundin ist stolz auf ihn. Seine Alltagsmoral findet im Stolz seiner Freundin also eine direkte Bestätigung. Im Rahmen eines Gespräches thematisiert er seine Straftat und formuliert für sich folgende Einsicht: „Ich bin ja nicht angefasst worden. Eigentlich hätte sie ihm eine Ohrfeige geben dürfen. Und was mich betrifft, hätte es auch gereicht, wenn ich den so festhalte, dass sie ihm eine ballern kann.“ Er bemerkt zunächst, dass ihn seine Prämisse vor ein Dilemma stellt und nicht der Umstand der Belästigung seiner Freundin selbst, nämlich entweder einen Anerkennungsverlust oder eine Straftat zu riskieren. Aber auch seinen hypothetischen Übergriff (der Hilfestellung zur Ohrfeige) schwächt er nochmals ab, als er bemerkt, dass auch das sein Problem nicht löst, da seine Prämisse „ein Mann verteidigt sich“ gar nicht zur Situation passt, schließlich verteidigt er nicht sich selbst, sondern seine Freundin: „Krass, ich habe viel zu schnell ihr Problem zu meinem gemacht.“ Vor diesem Hintergrund kommt er dann zu einer Differenziertheit in seinen Handlungsoptionen, und dies, ohne seine Haltung preisgeben zu müssen. Ging es beim Heinz-Dilemma darum, ein Dilemma aufzulösen, so geht es jetzt gewissermaßen darum, eines zu (re-)konstruieren. Die leitende Idee ist hierbei, dass die Teilnehmer im Durchdenken vielschichtiger Handlungsprobleme nicht nur mit handlungsmäßigen Konsequenzen, sondern v.a. mit der Art und Weise ihrer Entdeckung konfrontiert werden. Dies geschieht dann selbstredend nicht mit Mitteln moralischer Belehrung, sondern in der durch den Pädagogen angeleiteten Ausbuchstabierung der jeweiligen Handlungssituationen und darin unmittelbar vorgefundener, aber v.a. auch versteckter Probleme und Widersprüche. Das pädagogische Ziel dieser Verfahrensweise besteht nicht darin, dass die Jugendlichen eine gültige und verbindliche Beschreibung ihrer eigenen Lebenssituation und daraus abgeleitete Regeln generieren, an die sie sich dann im Sinne „guter Vorsätze“ oder einer „Lebensmaxime“ dogmatisch halten sollen. Das käme einem situativ generierten moralischen Bekenntnis gleich. Dies aber stünde im Widerspruch zu dem, was in den Gruppendiskussionen herausgearbeitet wurde und würde eher die den Jugendlichen bekannte Situation im Gerichtssaal reproduzieren, in der ein solches Bekenntnis strategisch nahegelegt bzw. abgefordert wird. Der mögliche Nutzen der Frage „In welchem Dilemma stecke ich eigentlich“, der für die Jugendlichen ersichtlich werden soll, liegt gewissermaßen in der Frage selbst, wenn es denn gelingt, Entscheidungs- und Handlungsoptionen sichtbar zu machen, die im Rahmen belasteter Le- Zwischen den Zeiten 63 benslagen womöglich systematisch ausgeblendet bleiben. Dass dies gelingt, bleibt eine Hoffnung. In diesem Sinne wäre es ein Erfolg, wenn sich die Jugendlichen dazu anregen ließen, sich die Frage „In welchem Dilemma stecke ich eigentlich? “ künftig häufiger und ohne pädagogische Anleitung zu stellen. Systematische Auswertung der Befragungen Im Verlauf des Projektes entstand die Idee, die in den Gruppendiskussionen entstandenen Verschriftlichungen nicht nur situativ, sondern etwas formaler, v.a. hinsichtlich der Häufigkeiten und Streuungen der artikulierten Problemlösungen auszuwerten. Die Befragungen im „Arbeitsweg“ sind zwar von der Entwicklungspsychologie Kohlbergs inspiriert, doch so wenig sie aber für uns hier eine entwicklungspsychologische Diagnostik darstellt, so wenig stellt die folgende Darstellung eine entwicklungspsychologische Untersuchung dar. Die im Folgenden erläuterten Materialien und Zusammenhänge erheben deshalb auch gar keinen Anspruch auf die Erfüllung der von Kohlberg und seinen Mitarbeitern formulierten, sehr komplexen Standards. Die Daten wurden pragmatisch in Kontexten produziert, die nur begrenzt einer diesen Standards üblichen methodischen Kontrolle unterlagen, und beziehen sich zudem nur auf wenige in diesen Forschungen üblicherweise betrachteten Dimensionen. 40 Tab. 2: Zusammensetzung nach Gruppe und Geschlecht Befragte JGH FSJ Gesamt Anzahl 22 24 46 m/ w 22/ 0 12/ 12 34/ 12 Dennoch wollen wir einen systematischen Blick auf unsere Materialien werfen. Uns interessiert dabei die Frage, ob die Lösungen der beiden Fragenkomplexe (Maxime und Heinz-Dilemma) als Ausdruck einer spezifischen Lebenssituation verstanden werden können. Um nicht einem 40 So kann hier auch der Frage, ob und wie die Jugendlichen ihre Straftaten in eine Lebensgeschichte integrieren, nicht nachgegangen werden, dazu liegt uns lediglich anekdotisches Material vor. Man kann jedoch dem überwiegenden Teil der Jugendlichen attestieren, dass sie sich im Vorfeld ihrer Straftaten darüber im Klaren waren, dass sie eine solche begehen. Für eine diesbezügliche Untersuchung moraltheoretischen und spezifisch biographieanalytischen Zuschnitts möchten wir an dieser Stelle auf die Arbeit von Stefan Weyers verweisen (vgl. Weyers 2004, 2005). 64 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit soziologistischen Fehlschluss zu erliegen, indem Vertreter einer Gruppe nur mit sich selbst verglichen werden, haben wir beschlossen, diese Befragungen auch unter anderen Jugendlichen durchzuführen, die sich ebenfalls in einer Situation der „Orientierungssuche“ befinden, aber deren Lebenssituationen nicht durch vielschichtige Belastungen gekennzeichnet sind. In den Arbeitszusammenhängen der Sächsischen Jugendstiftung war es möglich, Jugendliche zu befragen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) ableisten. Unter diesen wurde exakt dieselbe Befragung durchgeführt wie unter den Teilnehmern des „Arbeitsweges“. An der Befragung im FSJ nahmen auch Frauen teil. → Tab. 2 informiert über die Anzahl der Befragten und ihre Verteilung in organisations- und geschlechtsspezifische Untergruppen. Ohne dass dies eine Annahme im Vorfeld der Befragungen gewesen war, zeigte die Auswertung des Materials, dass es in der Lösung des gestellten theoretischen Dilemmas sowohl bezüglich der Mittelwerte als auch der Streuungen keine der Interpretation fähigen Unterschiede zwischen den beiden Gruppen gibt. 41 Die Heranwachsenden, die im Zusammenhang des „Arbeitsweges“ befragt wurden, argumentieren in Bezug auf die theoretische Lösung eines Handlungsdilemmas auf vergleichbarem Niveau wie ihre Altersgenossen aus dem FSJ. Unterschiede zeigten sich vielmehr zwischen beiden Gruppen in den Begründungen der gewählten Lebensmaximen. Unsere Überlegungen gehen dahin, einen Teil dieser Unterschiede als Ausdruck eines in beiden Gruppen gleichermaßen auftretenden Phänomens aufzufassen. Die Differenzen in den gewählten Lebensmaximen sowie ihren Begründungen beruhen auf der jeweils unterschiedlichen sozialen Rahmung, in der die Befragungen stattfinden. So ist der „Arbeitsweg“ als Maßnahme der Jugendgerichtshilfe, also als Zwangskontext, ein Symbol für den (drohenden) Verlust oder doch zumindest die Beschränkung von Lebenschancen und damit für die Teilnehmer eher negativ konnotiert. Das FSJ hingegen ist durch seine Freiwilligkeit und seinen Rahmen der aktiven Bewältigung des Lebens ein Symbol für die erfolgreiche Erschließung von Möglichkeitsräumen und Lebenschancen und damit positiv konnotiert. Während die Wahl der Lebensmaxime als Aufruf zur Symbolisierung der eigenen Lebenssituation und des eigenen sozialen Status' aufgefasst wird (hier also eine Selbstdarstellungsabsicht verwirklicht wird), so wird das Heinz-Dilemma als ein konkretes Handlungsproblem begriffen und als solches bearbeitet. 41 Siehe dazu auch den Anhang B. Zwischen den Zeiten 65 Kommen wir zur Auswertung der Befragungsergebnisse in Bezug auf die unterschiedlichen Gruppen. Die obere Reihe in → Abb. 1 repräsentiert die Ergebnisse der Teilnehmer des „Arbeitsweges“, die untere Reihe die Ergebnisse von jungen Erwachsenen, die ein FSJ absolvieren. Deutlich wird zunächst, dass das Problemlösungsniveau beim Heinz- Dilemma (Spalte III) bei den Teilnehmern des „Arbeitsweges“ im Vergleich zur Begründung der Wahl der Lebensmaxime (Spalte II) tendenziell höher ausfällt. Insbesondere gibt es eine deutliche Verschiebung von Stufe 2 in Richtung der Stufen 3 und 4, also vom präkonventionellen auf das konventionelle (nach Kohlberg das normengeleitete) Niveau. In der FSJ-Gruppe dagegen fällt nur eine minimale Tendenz einer Verschiebung von Stufe 3 zu Stufe 4, also innerhalb des konventionellen Niveaus ins Auge. Interessant ist aber auch ein Vergleich in der Vertikalen. Betrachten wir hierzu zunächst die Spalte I. Hier werden lediglich die Verteilungen in der Wahl der Lebensmaximen unabhängig von ihrer Begründung gezeigt. Diese Grafiken repräsentieren daher noch keine Abstufung, diese kann erst vorgenommen werden, wenn die Begründung der Wahl in Rechnung gestellt wird, denn entscheidend ist, wie die Teilnehmer die Implikationen ihrer gewählten Maximen rekonstruieren. Hier zeigt sich eine interessante Differenz zwischen beiden Gruppen. Bei den Teilnehmern des „Arbeitsweges“ fällt auf, dass sie die Maxime „Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu“ zumeist nicht unter dem Gesichtspunkt einer Perspektivübernahme interpretieren (nach dem Muster „Ich stelle mir vor, ich wäre X und mir würde dieses oder jenes passieren“). Vielmehr deuten sie diese Maxime im Schema des einfachen Austausches und des Zweck-Mittel-Denkens. Man könnte fast sagen, dass die Teilnehmer aus dem Arbeitsweg nahezu einstimmig ihre Maxime als „Eine Hand wäscht die andere“ bestimmen. Sinnfälligerweise gab es in der FSJ-Gruppe umgekehrte Fälle, wo ein Teilnehmer die Maxime „Eine Hand wäscht die andere“ im Schema einfacher Perspektivübernahme interpretierte, ein anderer Teilnehmer sie mit den Weihen einer philosophischen Vertragstheorie versah. Dass die Kurzformel für den „kategorischen Imperativ“ bei den Teilnehmern des Arbeitsweges keinen Anklang fand, hängt damit zusammen, dass er, wie die Teilnehmer in den Gruppendiskussionen zugaben, nicht verstanden wurde. Hingegen wurde er bei den Teilnehmern aus dem FSJ gleich am zweithäufigsten als Maxime gewählt. Die Auswertung zeigte jedoch, dass er sehr häufig einfach als Ausdruck einfacher Rücksichtnahme aufgefasst (und damit im Grunde auch nicht verstanden) wurde. Exemplarisch ist hierfür, dass die Begründung mit dem 66 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Hinweis eingeleitet wird, man hätte davon in der Schule gehört und könne damit etwas anfangen. In Spalte II wird dann deutlich, dass die Teilnehmer aus dem „Arbeitsweg“ bei der Begründung ihrer Wahl einer Lebensmaxime eher zu Stufe 2, während die FSJ’ler bei dieser Wahl eher zu Stufe 3 tendieren. Unserer Ansicht nach zeigen die starken Ausprägungen in der Stufe 2 („Eine Hand wäscht die andere“) bei den Teilnehmern des Arbeitsweges und der Stufe 3 („Was Du nicht willst, das man Dir tu … “) bei den Teilnehmerinnen aus dem FSJ die Reaktionen auf eine Aufforderung zur Selbstdarstellung, die auch Aspekte der eigenen Lebenssituation (z.B. Zukunftserwartungen, Statuskomponenten) artikulieren. Wir glauben, darin ein Echo der die Lebenssituationen kennzeichnenden „moralischen Atmosphären“ vernehmen zu können. Abb. 1: Maxime, Begründung und Heinz-Dilemma Der implizite Aufforderungscharakter, der die Frage nach der Lebensmaxime kennzeichnet, fällt in der 2. Frage zur Lösung des Heinz- Dilemmas weg. Betrachten wir Spalte III in → Abb. 1, so wird deutlich, Zwischen den Zeiten 67 dass die Teilnehmer aus dem „Arbeitsweg“ das Heinz-Dilemma auf einer deutlich komplexeren Ebene bearbeiten, als die Wahl ihrer Lebensmaxime. Bei den FSJ'lern ist eine leichte Verschiebung von Stufe 3 zu Stufe 4 zu beobachten, im Großen und Ganzen kann man jedoch sagen, dass sie gegenüber der Begründung der Lebensmaxime ähnliche Werte erzielen. → Tab. 3 verdeutlicht die in beiden Gruppen vorhandene Tendenz, sich in der Frage nach der Lebensmaxime unterhalb des Problemlösungsniveaus beim Heinz-Dilemma einzuordnen, wobei diese Tendenz bei den Teilnehmern des Arbeitsweges deutlich stärker ausgeprägt ist und hier v.a. den Übergang zum konventionellen Niveau betrifft. Tab. 3: Übereinstimmung und Abweichung zwischen Maxime und Heinz-Dilemma übereinstimmend oberhalb unterhalb JGH 17.65 % 5.88 % 76.47 % FSJ 44.4 % 16.67 % 38.89 % Insgesamt wird aus den Daten deutlich, dass die Teilnehmer aus dem „Arbeitsweg“ auf vergleichbarem Niveau moralischen Urteilens hinsichtlich der Einschätzung einer dilemmatischen Situation argumentieren wie ihre Altersgenossen aus dem FSJ. Die Befragungsmaterialien dokumentieren daher auf der Ebene des stellvertretenden Sich- Hineinversetzens in einen komplexen Erfahrungshorizont eine systematische Ansprechbarkeit der Heranwachsenden hinsichtlich der Analyse und Bewertung ihrer eigenen Lebenssituation. 42 2.4 Schluss Wenn beim Leser dieses Beitrages der Eindruck entstanden sein sollte, dass es sich beim „Arbeitsweg“ um eine durchdachte Sache handelt, so hoffen wir, dass das nicht nur ein rhetorischer Effekt unseres Textes, eines Jargons der Machbarkeit ist, von dem freizumachen wir uns be- 42 Mit diesen Befragungen soll, wie hier schon mehrfach betont wurde, auf keinen Fall etwas über die lebenspraktischen Kompetenzen oder die Altersadäquatheit der Urteile behauptet werden. Was uns vorliegt, sind verschriftlichte Argumente geringen Umfangs und wir behaupten lediglich, dass deren Niveau mit dem vergleichbar ist, welches Jugendliche der gleichen Altersgruppe in einem anderen Kontext der Orientierungssuche (FSJ) produziert haben. Für den institutionellen Kontext der Jugendgerichtshilfe haben diese Ergebnisse keinerlei (gar sozialprognostische) Bedeutung. 68 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit müht haben. 43 Ein Ziel unserer Darstellung war es deutlich zu machen, dass Soziale Arbeit immer auch eine gesellschaftliche Bühne ist, auf der sich ganz andere Dinge abspielen als das, was unter pädagogischen Gesichtspunkten vielleicht als wünschenswert erachtet wird oder in den Blick zu treten vermag. Die Eigensinnigkeiten gesellschaftlicher Bühnen können umfassend gar nicht in Rechnung gestellt werden, wenn man handlungsfähig bleiben will. Die Darstellung von Arbeits- und Forschungsergebnissen unterliegt - besonders wenn sie in politischen Rechtfertigungszusammenhängen erfolgt - fast schon zwangsläufig der Form einer Erfolgsstory. Jeder, der in diesen Bereichen tätig ist, weiß natürlich, dass es „eigentlich“ anders läuft und gar nicht anders laufen kann. Und so wenig werbewirksam ein Pannenbericht auch wäre, so sehr weiß man doch, dass es häufig gerade die Misserfolge sind, welche das Nachdenken anregen und damit helfen, Ideen in einen besseren Zustand zu versetzen. Wenn hier bislang kein Wort darüber verloren wurde, was in der Entwicklungsphase des „Arbeitsweges“ alles misslang, welche Ideen, die vielleicht zunächst für vielversprechend gehalten wurden, wieder fallen gelassen worden sind oder welche Ideen sich im einen Fall als funktionierend, dann aber wieder als unbrauchbar erwiesen haben, dann nicht, weil der Eindruck einer geradlinigen und zielgerichteten Entwicklung erweckt werden soll. Vieles entstand nach Gelegenheit und unsystematisch aus der Erfahrung, vieles spielte einfach der Zufall in die Hände und über allem stand nicht die Methode, sondern das Gespräch. Wir wollen deshalb unseren Bericht nicht abschließen, ohne zumindest an einem Beispiel angedeutet zu haben, dass die Entwicklung des Projektes ganz wesentlich ein Prozess des Lernens war. Dieser Band steht unter dem Thema des „Pilgerns“ als einer besonderen, auf „Außeralltäglichkeit“ beruhenden sozialen Form, die, so die Idee, von der Sozialarbeit für ihre Belange genutzt werden könnte. Als die Idee entstand, man könne die Jugendlichen ihre Arbeitsstunden auf den zu dieser Zeit gerade neu eingerichteten Pilgerwegen ableisten lassen, gab es keinerlei Erfahrungen aus erster Hand, auf die bei der Konzeption hätte zurückgegriffen werden können. Zugleich bestand aber die Notwendigkeit, ein solches Projekt in der behördlichen Struktur der Jugendgerichtshilfe zu verankern. Es musste Überzeugsarbeit geleistet werden, und dies ohne genau zu wissen, wovon man eigentlich überzeugt war. Hinzu kam, dass dies in einer Phase erfolgte, in der die Ju- 43 Wir haben versucht, zumindest auf einige der „marktgängigen Edelsubstantive“ (Adorno 1964: 69f.) zu verzichten, als da wären „Professionalisierung“, „Reflexion“, „Aktivierung“, u.a.m. Zwischen den Zeiten 69 gendarbeit einiges an Kürzungen hinzunehmen hatte, und dass angesichts dieser Lage ein Projekt, welches (ausgerechnet) „Pilgern“ im Titel führt, kaum Chancen auf Finanzierung erhoffen durfte. Überzeugt hat dann die noch unausgegorene Idee wohl eher vor dem Hintergrund des anhaltenden „Pilgerhypes“. Kerkelings „Ich bin dann mal weg“, welches inzwischen mehr als vier Millionen Mal verkauft wurde, schien bei vielen eine positive Assoziationskette aufzurufen, wobei die Vorstellung, das Pilgern könne in besonderer Weise der moralischen Ertüchtigung dienlich sein, eine gewisse Rolle gespielt haben mag. Diese und andere Idealisierungen des Pilgerns spielten am Anfang des Projektes natürlich auch eine gewisse Rolle, aber eben als Idealisierung, nicht als konkrete inhaltliche Füllung eines Konzeptes, so z.B. die Vorstellung, das Pilgern sei durch eine besondere zeitliche Qualität der Monotonie und des „Zurückgeworfenseins“ auf die eigenen körperlichen Rhythmen gekennzeichnet. Wir hätten uns schon zu Beginn fragen können, was dies eigentlich pädagogisch bedeuten könnte, haben wir aber nicht. Die inhaltliche Füllung unterlag stattdessen einem in sich widersprüchlichen Fehlverständnis. Auf der einen Seite erschien die Zeit von fünf Tagen als sehr kurz, die deshalb pädagogisch zweckdienlich gefüllt werden müsse („um etwas bewirken zu können“). Dieser Gedanke folgte implizit natürlich der sozialtechnischen Idee eines „sozialen Trainingskurses“. Auf der anderen Seite waren einige Überlegungen von der Befürchtung getragen, den Teilnehmern könnte auf dem Pilgerweg langweilig werden. Die Zeit sei demnach eigentlich zu lang und müsse deshalb mit pädagogisch zweckdienlichen Maßnahmen aufgefüllt werden. Beides erwies sich nach einer relativ kurzen Zeit der Durchführung als völlige Fehleinschätzung mit der Konsequenz, von „pädagogischen Gruppenveranstaltungen“ nur äußerst sparsamen Gebrauch zu machen, 44 und dies nicht nur, weil die Teilnehmer vor lauter Erschöpfung kaum in der Lage waren, sich auf „pädagogische Angebote“ einzulassen. Fünf Tage sind aus der Perspektive langfristiger und damit pädagogisch nicht verfügbarer Veränderungsprozesse natürlich sehr kurz. Die Kürze der Zeit wird aber keineswegs dadurch kompensiert, indem sie durch „erlebnisintensivierende“ Ereignisse angefüllt wird. Durch Ereignis- und Abwechslungsreichtum wird sie im Grunde noch viel mehr verkürzt, da der zeitliche Gesamtrahmen tendenziell in den Hintergrund tritt. Damit verliert man aber eine dem Pilgern eigene zeitliche Qualität, nämlich nicht andauernd von sich selbst und seinen Gedanken, die ja 44 Diese wurden dann auf die abendlichen Diskussionsrunden reduziert. 70 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit auch zu Ende gedacht werden sollen, abgelenkt zu werden. Und umgekehrt geht es beim Pilgern nicht darum, einer drohenden inneren Leere durch Geschäftigkeit entgegenzuwirken. Ständig abgelenkt zu sein ist wiederum eine Eigenschaft von Alltäglichkeit, was uns zur anderen Seite des Widerspruchs führt, denn die Zeit erscheint damit nicht aus der Perspektive des Pilgerns, sondern aus der Perspektive der „gefüllten Zeit“ andauernder Geschäftigkeit als zu lang. Der Hauptgrund für den hier beschriebenen Widerspruch lag in einer im Nachhinein interessanten Verwechslung. Im einen Fall betreiben wir eine pädagogische Veralltäglichung in Kategorien des Außeralltäglichen, im anderen Fall bemessen wir die Außeralltäglichkeit in Kategorien des Alltags. Was man eigentlich tut, wenn man nichts zu tun hat, sagte uns ein Teilnehmer, der sich darüber wunderte, dass er in dieser Umgebung so viel nachdenkt. Literatur Adorno, Theodor W. (1964): Jargon der Eigentlichkeit - Zur deutschen Ideologie. Frankfurt/ M Becker, Howard (1966): Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance. New York Bergmann, Jörg/ Luckmann, Thomas (2013): Moral und Kommunikation. In: dies. (Hg.): Kommunikative Konstruktion von Moral. Mannheim, Bd 1 Breidenstein, Georg/ Rademacher, Sandra (2016): Individualisierung und Kontrolle: Empirische Studien zum geöffneten Unterricht in der Grundschule. Wiesbaden Cohen, Albert (1975): Abweichung und Kontrolle. München Deichsel, Wolfgang (2004): Was Jugendrichterinnen beim Richten ausrichten und anrichten! „Schädliche Neigungen“, schädigende Neigungen und „schändliche Neigungen“ bei der Verhängung von Jugendstrafe zwischen Sozialstaat und Sicherheitsstaat. in: Ulf Liedke / Günther Robert: Neue Lust am Strafen? Umbrüche gesellschaftlicher und pädagogischer Konzepte im Umgang mit abweichendem Verhalten. Aachen Dießenbacher, Hartmut (1984): Nehmen - Verteilen - Geben. Die Geburt des modernen Sozialarbeiters aus dem Geist der Heuchelei. In: neue praxis 14, S. 374- 380 Dollinger, Bernd / Schmidt-Semisch, Henning (2010): Handbuch Jugendkriminalität: Kriminologie und Sozialpädagogik im Dialog. Wiesbaden Egg, Rudolf (2003): Psychologische Erklärungsmodelle dissozialen Verhaltens. In: Volker Dittmann, Jörg-Martin Jehle (Hg.): Kriminologie zwischen Grundlagenwissenschaften und Praxis, S. 37-58 Zwischen den Zeiten 71 Goffman, Erving (1971): Relations in Public. Microstudies of the Public Order. New York ders. (1967): Interaction Ritual. Essays on Face-to Face Behavior. New York Hein, Stephan/ Robert, Günther / Drößler, Thomas (2011): Sprachlose Pädagogik? - Zur Diskrepanz von Präventionsprogrammatik, pädagogischem Selbstverständnis und pädagogischer Arbeitspraxis. in: Robert, Günther/ Drößler, Thomas/ Pfeifer, Kristin (Hg.): Aufwachsen in Dialog und Sozialer Verantwortung. Wiesbaden, S. 95-118 Kaiser, Günther (1996): Kriminologie. Ein Lehrbuch. Heidelberg Kilb, Rainer (2010): Konfrontative Pädagogik - ein Rückfall in die Vormoderne oder vergessene Selbstverständlichkeit zeitgemäßer Pädagogik? In: Weidner/ Kilb, S. 37-60 Kohlberg, Lawrence (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt/ M. Makarenko, Anton, S. (1972): Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem. Frankfurt/ M. Michl, Werner (2011): Erlebnispädagogik. München Plewig, Hans-Joachim (2010): „Konfrontative Pädagogik“. In: Dollinger/ Schmidt- Semisch, S. 427-439 Scheuerle, Wilhelm A. (1952/ 53): Studien über die Prozesstaktik. In: Archiv für die civilistische Praxis 152, S. 351-372 Schreiner, Günter (1993): Die Entwicklung moralischer Handlungsfähigkeit. In: Bernd Fittkau (Hg.), Pädagogisch-psychologische Hilfen für Erziehung, Unterricht und Beratung. Aachen-Hahn, S.428-460 R Core Team (2013). R: A language and environment for statistical computing. R Foundation for Statistical Computing, Wien. URL http: / / www.R-project.org/ Schütze, Fritz (1981): Prozeßstrukturen des Lebensablaufs. In: Matthes, Joachim / Pfeifenberger, Arno / Stosberg, Manfred (Hg.) Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg, pp. 67-156 Schütze, Fritz (2000): Schwierigkeiten bei der Arbeit und Paradoxien des professionellen Handelns: ein grundlagentheoretischer Aufriß. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung, 1(1), 49-96 Trenczek, Thomas / Müller, Siegfried (2011): Jugendhilfe und Strafjustiz - Jugendgerichtshilfe. In: Hans-Uwe Otto / Hans Thiersch, Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. München Weidner, Jens / Kilb, Rainer (Hg.) (2010): Konfrontative Pädagogik. Konfliktbearbeitung in Sozialer Arbeit und Erziehung. Wiesbaden Weyers, Stefan (2004): Moral und Delinquenz. Moralische Entwicklung und Sozialisation straffälliger Jugendlicher. Weinheim 72 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Weyers, Stefan (2005): „Sünder“, „Dummer Junge“, „Opfer“, „Held“ … Biographische Selbstpräsentationen inhaftierter Jugendlicher. In: BIOS 18/ 2, S. 236-263 Weyers, Stefan (2010): Demokratische Partizipation durch „Just Communities“. In: Dollinger/ Schmidt-Semisch 2010, S. 415-426 Anhang Anhang A: Fragebögen Lebensmaxime und Heinz-Dilemma Die → Abb. 2 und → Abb. 3 zeigen die Fragebögen, wie sie an die Teilnehmer ausgegeben wurden. Auf dem ersten Fragebogen sind die Maximen aufgelistet. Diese wurden der Darstellung der Moralentwicklungstheorie Kohlbergs durch Günter Schreiner entnommen, der jeder Entwicklungsstufe diese Maximen als exemplarische zugeordnet hat (vgl. Schreiner 1993). Lebensmaxime Wählen Sie in der nachfolgenden Aufzählung bitte die Maxime, die am besten zu Ihnen passt und markieren Sie diese mit einem Kreuz. (Es darf nur eine Aussage angekreuzt werden.) „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! “ „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu! “ „Handle nur nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz wird! “ „Macht ist Recht! “ „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ „Eine Hand wäscht die andere! “ Begründen Sie Ihre Wahl auf der Rückseite des Blattes. Abb. 2: Arbeitsblatt „Lebensmaxime“ Zwischen den Zeiten 73 Das Heinz-Dilemma „Eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, lag im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 2000 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 20000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 10000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, dass seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: "Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen." Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft. Er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll. Sollte Heinz das Medikament stehlen oder nicht? “ …………………………………………………………………………… Antworten Sie mit Ja oder Nein. ………………………………………………………………………………………………….. Begründen Sie Ihre Entscheidung auf der Rückseite dieses Blattes. Abb. 3: Arbeitsblatt: Das Heinz-Dilemma Die sich ergebenden Zuordnungen nach dem Stufenmodell Kohlbergs sind in → Tab. 4 aufgelistet. Auf dem zweiten Blatt ist das sog. „Heinz- Dilemma“ beschrieben, wie es den Teilnehmern vorgelegt wurde (folgt in leichter Abwandlung dem Text von Kohlberg 1996, S. 495f.). Die Zuordnung der Antworten zu den einzelnen Stufen erfolgte ausschließlich durch die Autoren dieses Textes. Wir haben uns dabei an den Überlegungen Kohlbergs zum aspect-scoring bzw. dem story rating orientiert (vgl. Kohlberg 1996, S. 146ff.), um unsere Intuition ansatzweise einer Kontrolle zu unterwerfen, freilich ohne jedoch dabei den komplexen Überlegungen Kohlbergs hinsichtlich einer „Messung“ zu entsprechen (der von Kohlberg vorgesehene Nachfrageteil zur genaueren Differenzierung fällt hier bedingt durch die Gruppendiskussion weg). Bei den Verschriftlichungen der Teilnehmer ergibt sich ferner ein anderes methodisches Problem, dessen mögliche Tragweite hier nicht überschaut werden kann. Es muss zumindest in Rechnung gestellt werden, dass es eine Diskrepanz zwischen verbaler Artikulationsfähigkeit und schriftsprachlichen Kompetenzen gibt. 74 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Tab. 4: Exemplarische Maximen für die Stufen des moralischen Urteils (nach Kohlberg) Präkonventionelles Niveau 1. Stufe: Heteronomie „Macht ist Recht! “ 2. Stufe: Individualismus, Zweck- Mittel-Denken, Austausch „Eine Hand wäscht die andere! “ Konventionelles Niveau 3. Stufe: gegenseitige interpersonelle Erwartungen, Beziehungen und Konformität „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu! “ 4. Stufe: Stufe des sozialen Systems und des Gewissens „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! “ Postkonventionelles Niveau 5. Stufe: Sozialvertrag, Nutzen für alle, Rechte des Individuums „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ 6. Stufe: universelle ethische Prinzipien „Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne! “ Anhang B: Datensatz und Teststatistiken B.1. Variablen Der Datensatz enthält insgesamt 11 Variablen (→ Tab. 5). Die Variablen (5) und (9) sind nicht codiert, d.h. die manuelle Verschriftlichung der Entscheidungsbegründungen wird im Datensatz exakt wiedergegeben, wobei ggf. orthographische Fehler korrigiert worden sind. Die Variablen (5) und (9) werden zur Bestimmung eines „moralischen Niveaus“ in den Variablen (4) und (8) herangezogen. Zwischen den Zeiten 75 Tab. 5: Variablen Nr. Variable Beschreibung Code 1 nr lfd. Nr. integer 2 sex Geschlecht factor, 1=Mann, 2=Frau 3 group Gruppe factor, 1=JGH, 2=FSJ 4 max.lev gewählte Maxime 1-6 5 max.txt Begründung der Maxime Fließtext 6 arg.lev moralisches Niveau der Begründung 1-6 7 heinz.choice Entscheidung stehlen oder nicht stehlen 1=stehlen, 2=nicht stehlen 8 heinz.lev moralisches Niveau der Entscheidung 1-6 9 heinz.txt Begründung der Entscheidung Fließtext 10 comment Kommentar durch Auswerter Fließtext 11 steps Differenz zwischen 6 und 8 integer B.2. Signifikanztests Die in → Tab. 6 abgebildeten Wahrscheinlichkeitswerte (p) untermauern unsere Argumentation noch einmal unter rein statistischen Prämissen. Deutlich wird v.a., dass hinsichtlich der Wahl der Lebensmaxime in Bezug auf die Variablen „Gruppe“ (FSJ, JGH) und „Geschlecht“ sehr wohl Unterschiede 45 bestehen, hinsichtlich der Lösung des Heinz- Dilemmas jedoch nicht. 46 45 Hinsichtlich einer Deutung des geschlechtsspezifischen Unterschiedes in der Begründung der Wahl der Maxime wollen wir uns zurückhalten und Spekulationen vermeiden. 46 Für die Berechnungen der U-Tests wurde die Statistiksoftware R benutzt. 76 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Tab. 6: Teststatistiken Nr. Variablen MD1 MD2 (n1, n2)U p (.05) 1 arg.lev(group) 2 3 (20, 22) 60.5 .000* 2 arg.lev(sex) 2 3 (11, 30) 68.5 .006* 3 heinz.lev(group) 3 3 (19, 22) 155 .119 4 heinz.lev(sex) 3 3 (11, 30) 134 .317 Anmerkungen: MD: Median, n: Stichprobengrößen, U: Prüfgröße, p: Irrtumswahrscheinlichkeit 3 Pilgern aus religiösen Motiven - eine Abgrenzung zum sozialpädagogischen Pilgern von Ansgar Hoffmann Wenn es im Rahmen dieser Publikation um das Pilgern in der Sozialen Arbeit geht, so wäre der Blick auch darauf zu richten, was dem Begriff des Pilgerns in diesem Kontext eigentlich zu Grunde liegt. Weiter wäre zu fragen, inwiefern es Differenzen oder Berührungspunkte im Gemeinten möglicher verschiedener Verständnisse von ‚Pilgern‘ gibt. Schließlich ist ja davon auszugehen, dass der Begriff ‚Pilgern‘ in Bezug auf die hier beschriebene sozialpädagogische Maßnahme nicht einfach beliebig verwendet wird, so dass das Gemeinte auch gleichermaßen mit ‚Wandern‘ oder ‚Laufen‘ ausgedrückt werden könnte. Was also sind die Schnittmengen und Bezugspunkte, welche die Verwendung des Begriffs als angemessen erscheinen lassen - aber auch: Welche Dimensionen bleiben zwangsläufig offen, die der Verwendung des Begriffs im religiösen Kontext innewohnen? Eine zweite Bemerkung sei vorangestellt: Schon der Titel dieses Abschnitts „Pilgern aus religiösen Motiven“ mag zunächst fragwürdig erscheinen, da er impliziert, dass es andere als religiöse Motive gäbe, die jemanden zum Pilgern veranlassen würden. Tatsächlich steht dies mit der Geschichte und der Entgrenzung des Begriffs ‚Pilgern‘ in einem Zusammenhang. Auf die Frage, warum Menschen auf eine Pilgerreise gehen, werden eben heute genau nicht mehr rein religiöse Motive angeführt, 47 47 Als Hauptmotive werden bspw. angegeben: sich selbst zu finden, sich auszuklinken aus dem Alltag, die Stille zu genießen, sich in einer spirituellen Atmosphäre fühlen sowie etwas Außergewöhnliches zu erleben, die Natur zu erleben und anderen Pilgern zu begegnen. Lediglich 23 Prozent geben als Grund dezidiert religiöse Motive an. Vgl. Reinhard, S.: Pilgern ohne Glauben, 31-32 78 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit wobei hier außer Acht gelassen wird, was genau darunter zu verstehen ist und was nicht. Pilgern liegt im Trend und hat sich aus einem religiösen Kontext herausgelöst in einen Bereich der persönlichen Selbstfindung und -erfahrung, der Persönlichkeitsbildung oder auch als Bewältigungsstrategie in persönlichen Krisensituationen. Dass die Erweiterung im Begriffsverständnis allerdings noch nicht allzu lang her ist, zeigt der Blick in das „Lexikon für Theologie und Kirche“ in seiner dritten Auflage aus dem Jahr 1993: Wer hier die Begriffe ‚Pilger‘ oder ‚Pilgerfahrt‘ nachschlägt, erhält lediglich einen Verweis auf das ältere Wort ‚Wallfahrt‘, aber keinen dezidierten Eintrag mit einer entsprechenden Differenzierung und Erläuterung. 48 Es scheint also noch vor ein paar Jahrzehnten keine Frage gewesen zu sein, dass das Pilgern in anderen als in religiösen oder spirituellen Bezügen stehen könnte, so dass auch keine Notwendigkeit gesehen wurde, den Begriff entsprechend eigens zu erläutern. Umgekehrt lässt sich sagen, dass es bis vor einiger Zeit keiner Erklärung bedurfte, weil ‚Pilgern‘ eben unhinterfragt als ein religiöses Geschehen verstanden wurde. Für hier bedeutet dies nun, dass also auch zu fragen wäre, was denn Pilgern im (ursprünglich) religiösen Kontext eigentlich ist und worauf es zielt, um dann eine Annäherung und Abgrenzung zur Verwendung des Begriffs in diesem Buch zu suchen. 3.1 Pilgern als Weg zu einem heiligen Ort Etymologisch bestimmen lässt sich der Begriff ‚Pilgern‘ über das lateinische Wort ‚peregrinus‘, das soviel bedeutet wie ‚der Fremde‘. 49 So wurde etwa ab dem 13. Jh. der Begriff ‚peregriniari‘ für diejenigen Pilger verwendet, die nach Santiago des Compostela reisten, wohingegen die Pilger nach Rom als ‚romei‘ bezeichnet wurden. 50 Doch schon im 6. Jh. sind insbesondere im irischen Raum Bußwallfahrten belegt, in denen ebenso die heiligen Orte Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela das Ziel bildeten. Im Judentum zählen die Gräber der alten Patriarchen sowie ebenso der Tempel in Jerusalem als Ziele von Pilgerreisen. Für Muslime ist die Kaaba in Mekka der zentrale Ort der „großen Wallfahrt“, der sog. Haadsch, die einmal im Leben unternommen werden soll. Daneben sind auch Jerusalem und Medina bedeutende Wallfahrtsorte im Islam. Im Buddhismus und im Hinduismus sind verschiedene 48 Vgl. Art. ‚Pilger‘ in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8, Sp. 300 49 Vgl. Art. ‚Pilger‘ in: Kluge Etymologisches Wörterbuch, 702 50 Vgl. Art. ‚Wallfahrt‘, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10, Sp. 961 Pilgern aus religiösen Motiven 79 Pilgertraditionen bekannt, die überregionale oder auch nur lokale Bedeutung haben und Menschen so an einen heiligen Ort führen. 51 Über die verschiedenen Kulturen und Religionen hinweg ist all diesen Traditionen gemeinsam, dass sie außergewöhnliche, d.h. abseits des normalen Lebensalltags vollzogene Reisen sind, die denjenigen, der sich aufmacht, in die Fremde zu einem bestimmten religiösen Kultort führen. Gebete und Gesänge, Waschungen, symbolische Opferhandlungen und andere rituelle Vorgänge waren während der Pilgerreise übliche Elemente. Für den christlichen Bereich sind hier typischerweise entsprechende Gesänge, der Rosenkranz, Litaneien, Fürbittgebete und biblische Impulstexte sowie als Höhepunkt die Feier der Eucharistie zu nennen. 52 Es würde allerdings deutlich zu kurz greifen, das Phänomen des Pilgerns in seinen verschiedenen religiösen und kulturellen Ausprägungen lediglich über den äußeren Ritus, also einem Unterwegs-Sein auf ein heiliges oder kultisches Ziel hin, zu beschreiben. Viel wesentlicher für ein angemessenes Verständnis ist der innere und geistig-geistliche Vorgang, zu dem das äußere Ritual führen soll, und der dann wiederum im Ritus selbst zum Ausdruck kommt. Schon die Kirchenväter betonten diesen Zusammenhang durch die Kritik, die sie einem falschen Verständnis von Pilgern und bestimmten Wallfahrtspraktiken entgegengebrachten. Pilgern würde nämlich nur dann richtig verstanden werden, wenn „die entsprechend innere Einstellung vorhanden ist und die Wallfahrt so der geistl. Erneuerung und Glaubensstärkung dient“ 53 . Nicht allein die äußere Handlung also macht das Pilgern aus, sondern erst durch die ganzheitliche Dimension seines Vollzugs wird es zu dem, was es eigentlich ist: ein existenziell-deutender Ausdruck des Menschen vor Gott, da er sich selbst im Hinblick auf die Offenheit als auch auf das Ende seiner irdischen Existenz als Suchender, Fragender und in diesem Sinne ‚Pilgernder‘ erfährt. 3.2 Pilgern als Deutung menschlicher Existenz Dass der Mensch vom Beginn seines Lebens an bis zum Tod grundsätzlich vor die Freiheit seines Handelns gestellt ist und das Dasein als offen und unverfügbar, vielleicht auch als widersprüchlich erfährt: All dies 51 Vgl. ebd. - Vgl. Art. ‚Wallfahrt/ Wallfahrtsorte‘, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 8, Sp. 1291-1297 52 Vgl. Art. ‚Wallfahrt‘, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10, Sp. 963 53 Art. ‚Wallfahrt/ Wallfahrtsorte‘, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 8, Sp. 1284 80 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit lässt sich mit der Metapher des Wegs gut verdeutlichen, so dass sie auch im gebräuchlichen Begriff des ‚Lebenswegs‘ beinhaltet ist. Er ist ‚unterwegs‘, er fragt und forscht nach dem Beginn und Grund aller Existenz, er sucht nach Deutungen und Antworten, nach Sinn, er transzendiert sich selbst im Bewusstsein dessen, dass seine eigene irdische Existenz enden wird und fragt nach dem ‚Danach‘ - und bleibt so letztlich fremd in der eigenen Welt, in der er doch eigentlich zu Hause ist. 54 In der christlichen Tradition wurde diese Grunderfahrung immer wieder mit dem Begriff des ‚Pilgerstands‘ des Menschen beschrieben, und er findet sich in der Glaubenspraxis bis heute wieder in zahlreichen Gebeten und Liedern. 55 Pilgern nach christlichem Verständnis ist also selbst ‚lediglich‘ Abbild dieser Grundhaltung und -überzeugung christlichen Glaubens: Im Gehen des Pilgerwegs auf ein konkretes und bedeutsames Ziel hin vollzieht sich in ganzheitlicher Weise die Reflexion des eigenen Lebenswegs, der letztlich nur auf ein Ziel hin gerichtet ist: Gott. Dabei können die Beschwerlichkeiten und konkreten Gefahren des Wegs, die Erfahrung der Einsamkeit und des Fremdseins, aber auch die Momente des Glücks, der Begegnung, der Beherbergung und des Ankommens in Bezug gestellt werden mit ähnlichen Lebenserfahrungen, die der Pilger ‚innerlich‘ auf seinem Weg mit sich trägt. Im Pilgern werden all diese inneren Erfahrungen auf einer anderen und sehr konkreten Ebene noch einmal deutlich und spürbar, drücken sich selbst dadurch aus und geben so der Reflexion des Selbst mit seinem Leben vor Gott Raum. 56 Dieses wesentliche Charakteristikum von ‚Pilgern‘ nach christlichem Verständnis scheint insofern bedeutsam zu sein, da hier Berührungspunkte zum Vorschein kommen, die das ‚herkömmliche‘ Pilgern aus religiösen Motiven verbinden mit einer Sichtweise, die einem heute eher erweitertem Begriffsverständnis von ‚Pilgern‘ entspricht: Menschen gehen auf einen Pilgerweg, weil sie Lebensfragen reflektieren oder klären wollen, weil sie vor einer wichtigen Entscheidung stehen oder im Leben Neuorientierung suchen und weil sie diese inneren Vorgänge über die rein rationale Abwägung hinaus gestellt und gedeutet wissen wollen in einen spirituellen Rahmen und entsprechende persönliche Erfahrungen. 57 54 Nocke, F.-J.: Eschatologie, 451 55 Entsprechende Liedtitel lauten bspw. „Pilger sind wir Menschen“ (GL 830, Regionalteil Ost) oder „Wir sind nur Gast auf Erden“ (GL 505/ EG 450), die bis heute gebräuchliche Gesänge in Gottesdiensten der katholischen und evangelischen Kirche sind. 56 Vgl. Reinhard, S.: Pilgern ohne Glauben, 32 57 Vgl. ebd. Pilgern aus religiösen Motiven 81 3.3 Pilgern als intensives Begegnungsgeschehen In ihrem 2013 erschienenen Buch „Der große Trip“ schildert die US- Amerikanerin Cheryl Strayed die Erlebnisse auf ihrem Weg entlang des „Pacific Cest Trails“ im Westen der USA. Dabei erzählt sie auch von ihren Eindrücken, als sie nach langer und entbehrungsreicher Strecke in einem Supermarkt ankommt: „Ich betrat den Laden. Die klimatisierte Luft fühlte sich komisch an meinen nackten Armen und Beinen an. Bei meinen Versorgungsstopps auf dem Trail hatte ich einige Gemischtwarenläden und auf Touristen ausgerichtete Mini-Märkte aufgesucht, aber in einem solchen Geschäft war ich noch nicht gewesen. Ich wanderte durch die Gänge und sah mir Sachen an, die ich mir nicht leisten konnte, wie betäubt von ihrer Fülle. Wie hatte ich ein solches Angebot jemals für selbstverständlich halten können? Essiggurken in Gläsern und knusprige Baguettes in Papiertüten, Orangensaft in Flaschen und Sorbets in Bechern, und vor allem das Obst und Gemüse, das so frisch und appetitlich in Kisten lag, dass ich fast davon geblendet wurde. Ich verweilte und sog die Gerüche ein - Tomaten, Kopfsalat, Nektarinen und Limetten.“ 58 Was die Autorin hier ausmalt und entsprechend beschreibt, berührt einen ganz wesentlichen Aspekt des Pilgerns: Dass es nämlich intensives Begegnungsgeschehen ist mit Dingen und Situationen, die erst im Licht der Pilgererfahrung deutlicher als je zuvor oder überhaupt erst ganz neu hervortreten. Scheinbar gewöhnliche Dinge werden plötzlich kostbar und spektakulär, Musik wird zu einem „Quell der Ekstase“ 59 , eine kurze Entfernung wird zu einer anstrengenden, monotonen und herausfordernden Strecke, die es zu bewältigen gilt. 60 Hier finden Begegnungen statt, die den Pilger zur Reflexion zu führen vermögen, wie sie im gewöhnlichen Alltag wohl kaum möglich gewesen wären. Auf einer wesentlich tieferen Ebene jedoch - und im Anschluss an das weiter oben beschriebene Charakteristikum des Pilgerns als einen rituellen Vorgang, der aus seinem inneren Anliegen heraus die eigene Existenz reflektiert - ist dieses Begegnungsgeschehen nicht nur eines, dass sich auf die äußere Umwelt, auf Dinge oder Situationen bezieht. Vielmehr wird der Pilger auf seinem Weg freiwillig oder unfreiwillig zusammengeführt mit anderen Menschen, die mit ihm - jeder für sich, aber doch gemeinsam - unterwegs sind. Diese Verbindung einer gemeinsamen Erfahrung bildet den Boden, aus der Beziehung erwachsen kann: Im Miteinander-Laufen, im gegenseitigen Zuhören, im Gespräch, 58 Strayed, Ch.: Der große Trip, 271 59 Ebd., 207 60 Vgl. ebd., 215 82 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit im verständnisvollen Blick … Sie ist insofern tiefere und echte Begegnung, als sie vom objekt- und zweckhaften Blick in das Unmittelbare übergeht und denjenigen, der sich auf sie einlässt, mit sich selbst dem anderen in seinem ‚Du‘ gegenüberstellt. 61 So aber wird Ich-Erfahrung und Reflexion ermöglicht, oder, um es mit den Worten des Religionsphilosophen Martin Buber zu sagen: Das „Ich [wird] am Du“ 62 . Die Frage nach der eigenen Existenz, nach Sinn und Deutung des Lebens, die Frage nach dem ‚Ich‘ bricht auf in der lebendigen Beziehung, im Modus des ‚Ich‘ und ‚Du‘: „Ein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke.“ 63 Mit Blick auf dieses Begegnungsgeschehen in seinen verschiedenen Facetten wird noch einmal der Zusammenhang deutlich, den das Pilgern zwischen äußerem und innerem Tun hat: Es geht dabei in der Form eines rituellen Rahmens immer um die Reflexion des eigenen Ich in seinem Verhältnis und seinen Beziehungen zur Umwelt, zu den anderen und - christlich verstanden - zu Gott. Auf den Punkt gebracht haben dürfte dies Hape Kerkeling in seinem Bestseller „Ich bin dann mal weg“, der seinem Buch noch vor dem Vorwort schreibt: „Der Weg stellt jedem nur eine Frage: ‚Wer bist du? ‘“ 64 3.4 Pilgern aus religiösen Motiven: Gemeinsamkeiten und Differenzen Wenn es in diesem Abschnitt um das Pilgern aus religiösen Motiven gehen soll sowie um eine etwaige Abgrenzung zum „sozialpädagogischen Pilgern“, so sei der Blick noch einmal genau auf die Ausgangsfrage gerichtet: Woraus bestünde denn nun diese Abgrenzung und welche Differenzen blieben offen? Aber auch: Welche Gemeinsamkeiten sind zu entdecken und zu benennen? Aus den bisherigen Überlegungen lässt sich ableiten, dass Pilgern, ausgehend von seiner Begriffsgeschichte, einen direkten Bezug hat zu Religionen und deren im Laufe der Zeit entwickelten reichen Schatz an rituellen Praktiken. Diese Bezüge lassen sich auch dann nicht einfach abkoppeln, wenn der Begriff in neue Kontexte gestellt eine andere Bedeutung erfährt. Ein expliziter Religionsbezug ist jedoch bei der Verwendung des Begriffs im hiesigen sozialpädagogischen Kontext nicht gegeben und möglicherweise auch nicht erwünscht. Offen und weiter 61 Vgl. Buber, M.: Ich und Du, 12 62 Ebd. 63 Ebd., 16 64 Kerkeling, H.: Ich bin dann mal weg, 5 Pilgern aus religiösen Motiven 83 zu diskutieren wäre aber die Frage, inwiefern das ‚sozialpädagogische Pilgern‘ als ein im weitesten Sinne religiöses Geschehen insofern bezeichnet werden kann, als dass es möglicherweise entsprechende Bezüge aufweist, die in diesem Vorgang eher implizit erscheinen: Die durch eine Methode (von griech. μέθοδος/ méthodos: „Weg zu etwas hin“) angeregte Reflexion des eigenen Ich stellt ja im besten Falle denjenigen, der sich darauf einlässt, zwangsläufig vor sich selbst und vor die Grund- und Sinnfragen seines Lebens. Hier wird noch einmal die Schwierigkeit der bereits am Beginn erwähnten Frage deutlich, was es denn überhaupt meine, aus ‚religiösen Motiven‘ heraus zu pilgern bzw., was ‚religiöse Motive‘ überhaupt sind. Rein auf der Ebene der konkreten Rahmenbedingungen sei noch eine weitere Differenz benannt, die sich allerdings bei genauerer Betrachtung dann zugleich als Verbindung beider Verständnisse erweist: Pilgern im ‚klassischen‘ Sinn ist immer auch ein Vorgang, der auf der Freiwilligkeit des Pilgernden beruht. Kaum jemand würde heute einen Menschen zum Pilgern zwingen können. Zwar mögen, wie der Blick ein paar Jahrhunderte zurück zeigt, Menschen zu einer Bußwallfahrt verurteilt und damit gezwungen worden sein, sich auf einen beschwerlichen Weg zu begeben - ob allerdings die Reflexionsprozesse, die untrennbar mit dem Ritus des Pilgerns schon seit jeher in Verbindung stehen, dadurch wirklich persönlich angestoßen wurden, blieb wohl letztlich nur dem ‚Verurteilten‘ und seiner Bereitschaft dazu selbst überlassen. Ähnlich verhält es sich beim sozialpädagogischen Pilgern. Die Teilnehmenden sind, um es in einem Wortspiel auszudrücken, ‚unfreiwillig freiwillig‘ unterwegs, und zwar insofern, als dass sie aus einem bestimmten Kontext und ‚Zwang‘ bzw. äußeren Anreizen heraus sich in diese Maßnahme begeben, dann allerdings mit sich alleine und letztlich auch frei bleiben, ob sie sich auf das, um was es eigentlich geht, nämlich eine inneren Reflexionsprozess, tatsächlich einlassen. Die Differenz wäre also allein der Anlass, aus dem heraus das Pilgern geschieht, die gleichzeitige Verbindung jedoch die Freiwilligkeit desjenigen, den ‚inneren Weg‘ auch tatsächlich zu gehen. Den deutlichsten und entscheidendsten Berührungspunkt bilden ‚sozialpädagogisches Pilgern‘ und ‚klassisches‘ Pilgern allerdings in dem, was ganz allgemein als ‚Begegnung‘ bezeichnet werden kann und bereits weiter oben näher ausgeführt wurde. Dieser Berührungspunkt ist es auch, der das Pilgern vom bloßen Wandern oder Laufen unterscheidet: Stehen bei ersterem eher die sportliche Betätigung oder das Naturerlebnis im Vordergrund, das freilich wiederum echte Begegnung werden kann, beschränkt sich der Begriff des Laufens vorwiegend auf 84 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit eine Fortbewegungsart, um von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel zu gelangen. Pilgern hingegen meint in erster Linie ein Begegnungsgeschehen innerer Art, einen Weg der existenziellen Suche, eine Begegnung mit sich selbst durch die Umwelt und durch ein ‚Du‘, die dann Beziehung wird. Sozialpädagogisches Pilgern kann daher so, wenn es wirklich Pilgern ist, nie lediglich reine Methode sein, sondern ist immer auch Weg- und Beziehungsgeschehen der Akteure miteinander. Literatur Buber, Martin: Ich und Du, Stuttgart 1995 Kerkeling, H.: Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg, 52. Auflage, München 2007 Kluge Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet von Elmar Seebold, 24., durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin - New York 2002 Lexikon für Theologie und Kirche, hg. von Walter Kasper, Band 1-11, 3., völlig neu bearbeitete Ausgabe, Freiburg - Basel - Rom - Wien 1993 Nocke, Franz-Josef: Eschatologie, in: Schneider, Theodor (Hg.): Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, 2. Auflage, Düsseldorf 2002, 377-478 Reinhard, Susie: Pilgern ohne Glauben: „Ich wollte einfach weit gehen“, in: Psychologie heute 41 (2014), Heft 2, 30-35 Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, vierte, völlig neu bearbeitete Auflage, herausgegeben von Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski, Eberhard Jüngel, ungekürzte Studienausgabe, Bd. 1-8, Tübingen 2005 4 Pilgern als eine Methode der Sozialen Arbeit - eine Annäherung an den Begriff „Sozialpädagogisches Pilgern“ in Abgrenzung zur klassischen Erlebnispädagogik 4.1 Sozialpädagogisches Pilgern von Angela Teichert Ein Forschungsauftrag zum Pilgern mit Jugendlichen, die straffällig geworden sind? Pilgern als richterliche Weisung? Ein innovatives Konzept im Kontext von sozialpädagogischer Arbeit? Pilgern kennt fast jeder Mensch und viele verbinden es sofort mit dem Buch „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling und mit einer langen Wegstrecke. Warum pilgern Menschen? Es gibt ganz unterschiedliche Gründe. Menschen sind gern in der Natur und laufen gern, sie haben ein ganz bestimmtes Ziel vor Augen, z.B. den Jakobsweg ein Stück zu gehen oder eine lange Pilgerreise nach Santiago de Compostela auf sich zu nehmen oder den heiligen Berg Mount Kailash in Tibet zu umrunden? Oder suchen Menschen beim Pilgern einen Weg ins Innere, einen neuen Lebenssinn? Oder beides - Laufen und Sinnsuche? Dabei bedarf es nicht zwingend einer religiösen Motivation. Was hat die Sächsische Jugendstiftung bewegt, ein Konzept zum Pilgern zu entwickeln für junge Menschen in schwierigen Lebenslagen und/ oder für junge Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind? Und warum gerade fünf Tage mit einer Wegstrecke von ungefähr 80 Kilometern? 86 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Lassen Sie uns deshalb gemeinsam fünf Tage pilgern im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Praxis. Die empirische Datenlage zum Pilgern kann als sehr gering betrachtet werden. 65 Für den speziellen Ansatz des sozialpädagogischen Pilgerns und seiner Wirksamkeit finden sich keine Studien, die repräsentativ sind. Dieses Buch ist der Versuch, eine wissenschaftliche und praktische Perspektive auf das spezielle Konzept „Sozialpädagogisches Pilgern mit Jugendlichen mit multiplen Problemlagen“ einzunehmen. Die Herangehensweise verbindet impressionistische Explorationen 66 mit erprobten qualitativen Forschungsmethoden. Gleichermaßen wird erfasst, welche Aspekte überhaupt untersucht werden könnten. Einige Forschungsgegenstände werden rudimentär betrachtet, nicht zuletzt mit dem Ziel, nachfolgende Wissenschaftler*innen zu inspirieren, sich mit diesem Themenfeld weiter zu beschäftigen. Es liegen Ergebnisse aus einer ersten empirischen Forschung des Programms »Zwischen den Zeiten« mit drei Interviewpartner*innen und 15 Erfahrungsberichten von professionellen Fachkräften vor. Es ist uns bewusst, dass hiermit weder die Wirksamkeit noch die Nachhaltigkeit des sozialpädagogischen Pilgerns empirisch geprüft werden konnte. Was wir annehmen und es spricht einiges dafür, dass der spezielle konzeptionelle Ansatz des sozialpädagogischen Pilgerns eine Wirkung mit Alleinstellungsmerkmalen hat. Die Dauer ist schwer zu erfassen: vielleicht für den Moment, vielleicht für länger. Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Sozialpädagogisches Pilgern“ ist dringend erforderlich. Es stellt sich die Frage: Kann der Begriff „Sozialpädagogisches Pilgern“ in den Kontext der Methoden in der Sozialen Arbeit verortet werden? Es erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Begriff Sozialpädagogik. Aus unterschiedlichen Definitionen 67 leitet Hamburger 68 „vier spezifische Ansätze der Sozialpädago- 65 Lienau (2018, S. 78) merkt an, dass es sich vielfach „um einfache Qualifikationsarbeiten und kleinere Studien und Zeitschriftenbeiträge, die teilweise mit methodischen und inhaltlichen Mängeln behaftet […] sind […]“ handelt. 66 „In den Entdeckungszusammenhang - der vielleicht kreativsten Phase der Untersuchung - gehören auch Ideen, Gespräche und Explorationen, die helfen sollen, das Problem zu strukturieren.“ (Friedrichs, 1990, S. 52) 67 Natorp (1998 zitiert nach Mennemann & Dummann, 2018, S. 35) geht von einer „Wechselbeziehung zwischen Erziehung und Gemeinschaft“ aus. Bäumer (1998 zitiert nach Mennemann & Dummann, 2018, S. 35) meint, dass Sozialpädagogik der „Inbegriff der gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungsfürsorge“ [ist], sofern sie außerhalb der Schule liegt“. Böhnisch (1979 zitiert nach Mennemann & Dummann, 2018, S. 35) legt in seiner Definition das Augenmerk auf Konflikte, die „im Verlauf der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen auftreten“. 68 2003 zitiert nach Mennemann & Dummann, 2018, S. 35 Sozialpädagogisches Pilgern 87 gik“ ab, die auf das Programm »Zwischen den Zeiten« angewendet wurden (→ Tab. 7): Tab. 7: Vier Ansätze der Sozialpädagogik nach Hamburger (2003) Vier Ansätze der Sozialpädagogik Anwendung auf das Programm »Zwischen den Zeiten« Sozialpädagogik bezieht sich „auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“. „Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist aufgrund einer Straftat und/ oder Verweigerung der Mitwirkung bei Verantwortungsübernahme (z.B. Verweigerung von Wiedergutmachung, Arbeitsaufnahme etc.) belastet. Das Programm »Zwischen den Zeiten« wird im Rahmen des § 10 Abs. 1 Nr. 6 Jugendgerichtsgesetz angewiesen. Diese richterliche Weisung soll § 10 Abs. 1 JGG [.] die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern.“ Ähnlich verhält es sich, wenn auch mit deutlich geringerem Zwangskontext, bei Aktivierungsmaßnahmen der Jobcenter. Beides soll das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und gesellschaftlicher Erwartung entlasten. „Dieses Verhältnis wird als Konflikt beziehungsweise im Hinblick auf die in ihm enthaltenen Konflikte betrachtet.“ Für diese jungen Menschen, die zum Programm »Zwischen den Zeiten« gesandt wurden, besteht ein konfliktträchtiges Spannungsverhältnis, vor allem zwischen ihren individuellen Bedürfnissen und Wertvorstellungen und den gesellschaftlichen Normen und den entwicklungspsychologischen Herausforderungen. Die Sozialpädagogik leistet eine Analyse der Konfliktkonstellationen. Im Programm »Zwischen den Zeiten« werden die Konfliktsituationen der jungen Menschen mit Hilfe von Selbstreflexionen und Konfrontationen so aufgegriffen, dass sie sich diesen nur schwer entziehen können. Sozialpädagogik „entwickelt Konzepte der Konfliktbearbeitung“. Die konzeptionelle Rahmensetzung im Programm »Zwischen den Zeiten« ist durch den mehrmaligen Wechsel der Anforderungsprofile (z.B. Laufen, Arbeiten, Bildung etc.) so vielschichtig, das diese der Bearbeitung diverser Konfliktformen gerecht werden könnte. Quelle: In Anlehnung an Hamburger 2003 zitiert nach Mennemann & Dummann, 2018, S. 35 88 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Eine nachfolgende Methodendiskussion über das Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit drängt sich auf. Es wird von der Definition von Galuske ausgegangen: „Methoden der Sozialen Arbeit thematisieren jene Aspekte im Rahmen sozialpädagogischer Konzepte, die auf eine planvolle, nachvollziehbare, systematisierte und damit kontrollierbare Gestaltung von Hilfeprozessen abzielen und die dahingehend zu reflektieren und zu überprüfen sind, inwieweit sie dem Gegenstand, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, den Interventionszielen, den Erfordernissen des Arbeitsfeldes und der Institutionen sowie den Personen gerecht werden.“ 69 Galuske leitet aus dieser Definition „sieben Perspektiven“ für „eine adäquate Methodenreflexion“ ab 70 . Mithilfe dieser Perspektiven wird der hier beschriebene Ansatz reflektiert: 71 [1] Sachorientierung Welche Probleme sollen mit der Methode bearbeitet werden? Wird die Methode den Problemen gerecht? Junge Menschen in multiplen Problemlagen befinden sich in einer schwierigen Lebenssituation. Soziale Arbeit hat den Auftrag, diese jungen Menschen in ihrer Problem- und Lebensbewältigung zu unterstützen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nicht fallen gelassen werden. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, Unterstützung anzunehmen. Welcher Kontext kann junge Menschen in schwierigen Lebenslagen befördern und aktivieren? Mit dem Programm »Zwischen den Zeiten« sollen Reflexionsprozesse angeregt und professionell begleitet werden. Junge Menschen in schwierigen Lebenslagen fürchten sich nicht selten davor, über sich selbst und ihr Handeln und Verhalten nachzudenken. Vielen ist bewusst, dass ihr Lebensstil von anderen Menschen in Frage gestellt wird. Das Zusammenspiel verschiedener Anforderungsprofile, wie monotones Laufen, welche Prozesse des intensiven Nachdenkens in Gang setzen kann; eine begleitende Reflexion, welche Probleme strukturiert, und die Ableistung gemeinnütziger Arbeitsstunden, welche als gesellschaftliche Wiedergutmachung empfunden werden kann, ermöglichen Selbstreflexionsprozesse. Sozialpädagogisches Pilgern fördert eine innere Reise („inner journey“) zu sich selbst und im Idealfall auch darüber hin- 69 Galuske, 2013, S. 35 70 Galuske, 2013, S. 35 71 Galuske, 2013, S. 35 Sozialpädagogisches Pilgern 89 aus, vor allem wenn diese jungen Menschen begreifen, wie ihr bisheriges Handeln die Reaktionen des Umfeldes mitbestimmt hat. [2] Zielorientierung Welche Ziele sollen mit der Methode erreicht werden? Lassen sich die Ziele mittels der Methode einlösen? In dem Programm »Zwischen den Zeiten« kommt eine Pädagogik zum Einsatz, die gewissermaßen vom Ende gedacht ist. Es geht weniger darum, gelingende Arbeitsbündnisse und Beziehungen aufzubauen, sondern darum, eine begonnene Maßnahme durchzuhalten, eine erhaltene Auflage abzuarbeiten, eigene Entscheidungen zu treffen und eigene Fehlentscheidungen bis zu ihrer Korrektur als selbst verschuldet zu erdulden. [3] Personenorientierung Wird die Methode den betroffenen Personen gerecht? Am Programm »Zwischen den Zeiten« können nur junge Menschen teilnehmen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Ein großer Teil der jungen Menschen hat Schwierigkeiten, den Alltag zu strukturieren und einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen. Das kann unterschiedliche Gründe haben, die in der familiären Sozialisation, in der schulischen Sozialisation, im Freizeitverhalten und mit Spannungszuständen zwischen den eigenen Werten und Normen und denen der Gesellschaft zu finden sind. Das Programm »Zwischen den Zeiten« bietet durch seinen strukturierten Ablauf und seine sehr klaren und transparenten Regeln einen geeigneten Gegenentwurf zu dem oben beschriebenen, eher ziellosen Alltagserleben der jungen Menschen. Dies wird als eingriffsintensiv, aber auch als stützend wahrgenommen. Auch hier findet sich ein auf den ersten Blick paradoxes Prinzip. Junge Menschen erleben eine Herausnahme aus dem gewohnten Umfeld, die sie zugleich in ein vollkommen anderes Umfeld mit Menschen mit anderen Lebensentwürfen (z.B. Begegnungen unterwegs und in den Pilgerherbergen) integriert. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zur Jugendhaft/ Jugendarrest. Eine Haftstrafe ist zwar auch eine ganz intensive Herausnahme, sie integriert aber vollständig in ein Problemsetting, das den jungen Menschen nicht nur von sich selbst schon bekannt ist, sondern das darüber hinaus auch von allen anderen positiven Lebenskonzepten abschottet und damit kaum veränderte Perspektiven bietet. 90 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit [4] Arbeitsfeld- und Institutionenorientierung Ist die Methode sinnvoll innerhalb der institutionellen Rahmenbedingungen anwendbar? Die Sächsische Jugendstiftung initiiert, erprobt, evaluiert und transferiert bei entsprechender Eignung neue Methoden in die Trägerlandschaft. Im Gegensatz zu vielen sozialpädagogischen Trägern ist sie hierbei nicht auf Teilnehmerzahlen basierend finanziert, wodurch es ihr erlaubt ist, Konzepte zuerst sozialpädagogisch und nicht wirtschaftlich auszurichten. Darüber hinaus unterstützt sie Projekte mit „Eigeninitiative und Verantwortungsbewusstsein“ sowie „Gemeinsinn“. 72 [5] Situationsorientierung Ist die Methode unter den gegebenen situativen Rahmenbedingungen anwendbar? Bis auf ganz wenige Ausnahmen (z.B. Waldbrandwarnstufe 5, Gewitter) ist das Programm »Zwischen den Zeiten« unter den gegebenen situativen Rahmenbedingungen anwendbar. Ein Grundsatz der Sächsischen Jugendstiftung ist es, persönliche Benachteiligungen auszugleichen, so dass auch fehlende persönliche Ressourcen (z.B. Kleidung, Rucksäcke etc.) der jungen Menschen kein Hinderungsgrund ist, an dem Programm teilzunehmen. [6] Planungsorientierung Erlaubt die Methode die gezielte Planbarkeit von Hilfeprozessen? Das Programm »Zwischen den Zeiten« ist systematisch aufgebaut und konzipiert. Der Ablauf der fünf Tage und die Dauer der jeweiligen Anforderungsprofile ist vollständig geplant und durch die regelmäßig kooperierenden Pilgerherbergen entlang der Strecke leicht zu reproduzieren. [7] Überprüfbarkeit Lassen sich am Ende Aussagen darüber treffen, ob und wie die Methode gewirkt hat? Zum jetzigen Stand lassen sich Aussagen zu folgenden Aspekten treffen: Teilnehmer*innenzahlen, Abbrecher*innenquote, Durchhaltevermögen, Auflagenerfüllung, Teilnahme an den Bildungseinheiten und 72 https: / / www.saechsische-jugendstiftung.de/ stiftung Sozialpädagogisches Pilgern 91 Output (z.B. Erarbeitung von Lebensmaximen und eigenen Dilemmas), Anzahl der geleisteten gemeinnützigen Arbeitsstunden. Außerhalb des Strafrechtskontextes kann die erneute freiwillige Teilnahme 73 - und damit einhergehend, das sich Einlassen auf deutlich höhere Anforderungen - und der Versuch, einen Milieusprung zu leisten 74 , beschrieben werden. Vergleichbar mit der Abbrecherquote aus herkömmlichen sozialen Trainingskursen 75 ist die Abbrecherquote im Programm »Zwischen den Zeiten« deutlich niedriger. In den letzten Jahren lag diese bei 1: 30. Werden die Definition von Sozialpädagogik, die vier Ansätze der Sozialpädagogik, die Definition der Methode und die sieben Perspektiven für eine Reflexion einer Methode zusammengefasst und bezüglich eines Begriffs „Sozialpädagogisches Pilgern“ und einer Methode geprüft, ist eine Annäherung an den Begriff „Sozialpädagogisches Pilgern“ und an eine sozialpädagogische Methode durchaus gerechtfertigt. Das sozialpädagogische Pilgern unterliegt einem strukturierten Planungsprozess und einer durchdachten Systematisierung. Eingebettet ist diese Methode des sozialpädagogischen Pilgerns in die theoretischen Konzepte der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch und der Lebensbewältigung von Lothar Böhnisch. Das Programm »Zwischen den Zeiten« bzw. das sozialpädagogische Pilgern ist als Methode für jungen Menschen in Bewältigungslagen angemessen und verfolgt ein zielgerichtetes Handeln mit dem Blick auf eine Sensibilisierung des Nachdenkens über das bisherige Verhalten. Sven Enger meinte dazu: „Bei dem in Deutschland verwendeten Ansatz des Pilgerns mit heranwachsenden Straffälligen wird der Versuch unternommen, eine Pilgerreise so methodisch zu verdichten, dass sie in kurzer Zeit einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen kann. Die von der Sächsischen Jugendstiftung angebotenen Pilgertouren haben in der Regel nur eine Dauer von maximal einer Woche. Um dieses kurze Zeitfenster intensiv zu nut- 73 Anmerkung der Verfasser: Die Ableistung von gemeinnützigen Arbeitsstunden kann in diesem Kontext nicht noch einmal wiederholt werden. Dies ist konzeptionell eindeutig ausgeschlossen. Eine zweite Teilnahme an dem Programm »Zwischen den Zeiten« aufgrund einer richterlichen Weisung ist nicht möglich, jedoch können junge Menschen freiwillig an nachfolgenden Pilgertouren (z.B. nach Norwegen, → Kap. 6) teilnehmen und werden dabei auch unterstützt. 74 Im → Kap. 6 wird auf die erneute freiwillige Teilnahme umfänglich eingegangen. 75 Teichert (2010, S. 235) erfasst in ihrer Untersuchung zur Wirksamkeit Sozialer Trainingskurse eine Abbrecherquote von 47 % (bei n=49). 92 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit zen, sind die allermeisten Zeiträume klar strukturiert und mit einer entsprechenden pädagogischen Methodik versehen.“ Literatur Galuske, Michael. (2013). Methoden der Sozialen Arbeit. (10. Aufl.). Weinheim & Basel: Beltz Juventa. Friedrichs, Jürgen. (1990). Methoden empirischer Sozialforschung. (14. Aufl.). Wiesbaden: Springer Fachmedien. Lienau, Detlef. (2018). Der erforschte Pilger: Was wissen wir über die Sinnsuche von gestern, heute und morgen. In: Antz, Christian & Bartsch, Sebastian & Hofmeister, Georg. (Hrsg.). „Ich bin dann mal auf dem Weg. Spirituelle, kirchliche und touristische Perspektiven des Pilgerns in Deutschland. München: UVK Verlagsgesellschaft. S. 77- 99. Mennemann, Hugo & Dummann, Jörn. (2018). Einführung in die Soziale Arbeit. (2. Aufl.). Baden Baden: Nomos 4.2 Abgrenzung zur Erlebnispädagogik - Erlebnis (pädagogisch)? von Till Winkler Von 2011 bis 2013 hat der Autor die ersten (Erprobungs-)Pilgerwege 76 des Urhebers der Konzeptidee, das Pilgern als sozialpädagogische Methode aufzugreifen und weiterzuentwickeln, begleiten dürfen. Die Erinnerungen an diese Wege reichen von glücklichen und unglücklichen Gesichtern der Teilnehmer, deren Kraftanstrengung und Leichtigkeit, sinnbildlichen Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen und daraus resultierenden Gesprächen bis hin zu konstruktiven Diskursen dieser Konzeptidee, folgenden Konzeptveränderungen sowie der Reduktion eingesetzter Methoden. Damit verbunden war auch ein Diskurs zur Einordnung in sowie Verwendung von Elementen bereits vorhandener Methodiken der Sozialen Arbeit, u.a. der Erlebnispädagogik. 76 Zu dieser Zeit durchgeführt unter dem Namen „Arbeitsweg“ als spezieller sozialer Trainingskurs gem. §10 Jugendgerichtsgesetz. Vgl. dazu Enger in „Pilgern“, Ausgabe 01/ 2017, S. 79. Sozialpädagogisches Pilgern 93 Pilgern. Natur. Milieuwechsel. Komfortzonenmodell. Persönlichkeitsentwicklung. Interaktion. Bewegung. Weitere Begriffe könnten exemplarisch aus der Dokumentation des Programms »Zwischen den Zeiten« der Sächsischen Jugendstiftung 77 entnommen und durchaus mit dem Begriff Erlebnispädagogik überschrieben werden. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit sich die Ausgestaltung des Programms »Zwischen den Zeiten« so treffend einordnen lässt. Begriffsdefinition Erlebnispädagogik Ein weiterer Überblick über die vielseitigen Definitionen und (auch kritischen) Beschreibungen zum Begriff Erlebnispädagogik in der Literatur findet sich u.a. in den Werken von R. Gilsdorf 78 oder B. Heckmair und W. Michl 79 . Im Lexikon Erlebnispädagogik trifft man auf folgende Definition: „Die Theorie und Praxis der Leitung und Begleitung von Lernprozessen mit handlungsorientierten Methoden.“ 80 Heckmair und Michel formulieren umfassender: „Erlebnispädagogik ist eine handlungsorientierte Methode und will durch exemplarische Lernprozesse, in denen junge Menschen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, diese jungen Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten.“ 81 Dazu zählt Gilsdorf zusammenfassend u.a. die Nutzung von Naturräumen, das Erfahren von Erlebnissen, das Miteinander in Gemeinschaft sowie im Hinblick auf Handlungsprinzipien die Orientierung am (Gruppen-)Prozess und dabei die dezente Präsenz der Lehrenden als zentrale Komponenten für den Begriff Erlebnispädagogik auf. 82 Die im Rahmen erlebnispädagogischer Angebote genutzten Natursportarten wie Klettern und Abseilen, Höhlenbefahrungen sowie das Bergwandern bleiben jedoch eine Freizeitbeschäftigung, so lange sie nicht durch Reflexion und Transfer in die Lebenswelt der Teilnehmer*innen pädagogisch nutzbar gemacht werden. 83 77 Sächsische Jugendstiftung; 2016; z.B. S. 18. 78 Gilsdorf, 2004, S. 14ff. 79 Heckmair/ Michl; 2008; S. 102ff. 80 Zuffellato/ Kreszmeier; 2012, S. 44. 81 Heckmair/ Michl; 2008; S. 115 (so bereits auch 1998, S.75). 82 Gilsdorf, 2004, S. 15ff. 83 Michl; 2009; S. 10. 94 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Geschichte der Erlebnispädagogik Zur Geschichte der Erlebnispädagogik ist eine Vielzahl an Fachliteratur vorhanden. Verwiesen sei auf T. Fischer und J. W. Ziegenspeck, die sich der Historie bereits von Erziehungsformen urgesellschaftlichen Zusammenlebens aus nähern. 84 In der Literatur werden als bedeutende Vordenker der Erlebnispädagogik u.a. Jean Jacques Rousseau 85 (1712-1778), Henry David Thoreau 86 (1817-1862) sowie John Dewey 87 (1856-1952) und als Begründer der Erlebnispädagogik der Reformpädagoge Kurt Hahn 88 (1856-1952) beschrieben. Diese Menschen eint, dass ihre Ansätze und Überzeugungen den geltenden tradierten, meist konservativen pädagogischen Konzepten eine handlungs- und erfahrungsorientierte Alternative des Lernens entgegenstellte. Ab 1933 wurden bestehende Elemente der Erlebnispädagogik gänzlich für die parteipolitischen Ziele der NSDAP vereinnahmt und den päda- 84 Fischer/ Ziegenspeck; 2000; S. 33ff. 85 In einem seiner Hauptwerke, dem Roman „Émile oder Über die Erziehung“ aus dem Jahr 1762, beschreibt er als Ideal eine Erziehung, welche ohne den eigentlichen Erzieher und von ihm vermittelter Belehrungen oder Sanktionen agiert. Vielmehr sind die (negativen) Folgen des eigenen Handelns im Lernen von der Natur oder den Dingen selbst die passende Bestätigung oder Strafe genug. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Mensch die Rahmenbedingungen dafür schaffen muss, um solche Lernfelder zu ermöglichen und Störungen zu minimieren. Vgl. Heckmair/ Michel, 2008, S. 16ff. 86 Thoreau beginnt aus unterschiedlichen Gründen einen Selbstversuch und lebte 2½ Jahre abgeschieden und überwiegend einsam in einer schlichten Hütte am Waldensee. Kritisch stand er der Entwicklung der Gesellschaft sowie deren Abhängigkeiten im Hinblick auf die Befriedigung materieller Grundbedürfnisse, ebenso technischen Errungenschaften und dem Leben in Luxus gegenüber. Vielmehr beschreibt er die Natur als den Erfahrungsraum zum Lernen und postuliert dies als Methode der Erziehung. Vgl. ebd., S. 26ff. 87 Heckmair und Michel beschreiben Dewey als den wohl wichtigsten amerikanischen Pädagogen des vorangegangenen Jahrhunderts. Seine tiefe Überzeugung war es, dass Lernen durch Handeln spürbar einschneidender und nachhaltiger wirkt als das Lernen durch Vorgaben, Theorien oder Restriktionen. Die Erfahrung (auch experimenteller Natur) aus dem Handeln ist der Lernraum Deweys Pädagogik. Dieses Verständnis hatte und hat bis in die heutige Zeit einen bedeutenden Einfluss auf die Ausrichtung beruflicher und betrieblicher Bildung. Vgl. ebd., S. 45ff. 88 Kurt Hahn, weder ausgebildeter Pädagoge noch Entscheidungsträger der Politik, konstatierte der vorherrschenden Gesellschaft Verfallserscheinungen (Mangel an menschlicher Anteilnahme, an Sorgsamkeit, an Initiative und Spontaneität sowie ein Verfall der körperlichen Tauglichkeit) und entwickelte das Konzept der Erlebnistherapie, um diesen entgegenzuwirken. Dieses Konzept enthielt im Wesentlichen vier Elemente: körperliches Training, auch in Form von Natursportarten; mehrtägige Touren mit Expeditionscharakter; dabei die Bewältigung von Projektanforderungen im handwerklich-technischen bzw. künstlerischen Bereich; sowie der integrierte Dienst am Nächsten, z.B. in der Berg- und Seenotrettung. Hahn setzte sein Konzept vorerst auf Schloss Salem am Bodensee um, bis er aufgrund seiner jüdischen Abstammung 1933 nach Großbritannien emigrierte. Dort gründete er u.a. die erste Outward Bound Schule nach seinem Konzept. Outward Bound ist seither weltweit ein Anbieter für Erlebnispädagogik. Vgl. ebd., S. 31ff. Zu Kurt Hahn, der Entwicklung von Outward Bound sowie der Bedeutung in Deutschland ab 1945 siehe auch Ziegenspeck; 2017; S. 11ff. Sozialpädagogisches Pilgern 95 gogischen Ansätzen und Konzepten der bis dahin entwickelte Sinn genommen. 89 Nach dem Ende des 2. Weltkrieges fand der Begriff Erlebnispädagogik in Westdeutschland lange keine Verwendung mehr. Einen eindeutigen Bezug zur Erlebnispädagogik beschrieb erst in den frühen 1970er-Jahren die Jugend des Deutschen Alpenvereins in ihrem Selbstverständnis zu Zielen des Bergsteigens. 90 An dieser Stelle sei auf die Historie der u.a. von Hahn gegründeten Schulen von Outward Bound sowie deren deutschen Kurzzeitschulen verwiesen, welche mehrtägige Programme im Sinne der Erlebnistherapie von Hahn anboten. 91 Seit den 1980er-Jahren und insbesondere den 1990er-Jahren hat die Erlebnispädagogik wieder deutlich an Bedeutung gewonnen. Sie spiegelt sich seither in vielfältigen (und im Hinblick auf deren Ausgestaltung recht unterschiedlichen) Angeboten z.B. in Schulen, in der ambulanten Jugendhilfe, in der Heimerziehung, in sozialen Trainingskursen sowie in der Betriebspädagogik wider. 92 Dabei ist die klassische Ausgestaltung von erlebnispädagogischen Angeboten in Form von Verknüpfung natursportlicher Aktivitäten, (komplexer) Problemlöseaufgaben, stetiger Reflexion und theoretischer Bildung wohl am häufigsten wiederzufinden. 93 Heckmair und Michl führten 2008 provozierend zum Blick auf die Geschichte aus: „Erlebnispädagogik war stets ohne klare Position, sozusagen zwischen den pädagogischen Welten pendelnd; […] Sie wird sich auch künftig nicht festmachen lassen, sondern frei oszillieren zwischen Polen, die ebenfalls ihre Form und Lage verändern.“ 94 Vielfalt erlebnispädagogischer Angebote Mittlerweile finden sich erlebnispädagogische Angebote z.B. in der Ausgestaltung von Jugendarbeit und Jugendhilfe sowie der Jugendstraffälligenhilfe und auch im Hinblick auf die Entwicklung von Führungspersönlichkeiten oder Teams in Betrieben bis hin zur Übergangsbegleitung beim Übertritt in das Jugendbzw. Erwachsenenalter wieder. Dabei reicht die Vielfalt der Durchführungsräume von denen schon an 89 Vgl. Ziegenspeck; 2017; S. 5. 90 Heckmair/ Michl; 2008; S. 52. 91 Dazu Ziegenspeck; 2017; S. 13ff. 92 Vgl. ausführlich Heckmair/ Michl; 2008; S. 135ff. 93 Ebd.; S. 177. 94 Ebd.; S. 319. 96 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit sich wirkmächtigen Seilgärten, welche sich mittlerweile fast flächendeckend in Deutschland wiederfinden, über feste Standorte in unterschiedlichen Naturräumen im In- und Ausland, der Nutzung vorhandener öffentlicher Naturräume bis hin zur Durchführung von Lernprojekten im urbanen Raum bzw. im Klassen- oder Seminarraum. Einen umfänglichen Überblick und Vergleich zu erlebnispädagogischen Aktivitäten haben z.B. Gilsdorf 95 sowie Heckmair und Michel zusammengetragen. 96 Ebenso vielschichtig sind die Angebote der Ausgestaltung. Bereits im heimatlichen Umfeld des Autors finden sich eine Vielzahl von Anbietern erlebnispädagogischer Programme. Die Bandbreite reicht hierbei von Bausteinangeboten des Kletterns und Abseilens bis hin zur interaktiven Schatzsuche mit einer Dauer von Stunden bis Tagen, der Begleitung von Übergängen, z.B. vom Kindheitsin das Jugendalter, der Ausgestaltung von Klassenfahrten und Erlebnistagen bis hin zu langfristiger Prozessbegleitung im Rahmen von Erziehungsbeistandschaften. Ebenso verhält es sich mit angebotenen Qualifizierungsmöglichkeiten. 97 Eine Ausbildungsbzw. Handlungsrichtlinie für die Erlebnispädagogik ist bisher nicht einheitlich gefasst wurden. Auch der Titel des Erlebnispädagogen/ der Erlebnispädagogin ist bisher nicht geschützt. Theorien des Lernens Im Hinblick auf die Effizienz erlebnispädagogischer Angebote ist es unabdingbar, sich mit einer Auswahl an Lernmodellen zu befassen. Ausgehend davon, dass jeder Mensch seine eigenen Bilder der (Lebens-) Wirklichkeit aufgrund eigener Erfahrungen und Wahrnehmungen konstruiert, muss auch jeder Lernprozess als persönliches Konstrukt betrachtet werden. 98 J. L. Luckner und R. S. Nadler haben 1997 ein Modell entwickelt, welches Lernprozesse verdeutlicht. Sie gehen davon aus, dass Lernprozesse immer dann stattfinden, wenn Situationen nicht mehr mit vorhandenen Strategien zu bewältigen und neue Strategien vonnöten sind. Bekannte Situationen, Herausforderungen oder Aufgaben, welche mit bewährten Strategien bewältigt werden können, wer- 95 Gilsdorf; 2004; S. 132ff. 96 Heckmair/ Michl; 2008; S. 191ff. 97 Beispielhaft sei auf die Angebote von Kontakt Natur, des Walden e.V. bzw. des Jugendhaus Leipzig e. V. sowie auf die Zusatzqualifikationen der AGJF Sachsen e. V., des snaketeam und der EOS Erlebnispädagogik Berlin verwiesen. Diese Aufzählungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und spiegeln keine Wertung der unterschiedlichen Angebote wider. 98 Vgl. Michl; 2009; S. 43ff. Sozialpädagogisches Pilgern 97 den in einen persönlichen Komfortbereich eingeordnet. Lernerfahrungen finden demnach immer dann statt, wenn Menschen diesen persönlichen Komfortbereich verlassen. 99 Wird in diesem Zusammenhang Angst und ggf. Panik erlebt, ist Lernen unmöglich: „Genauso wenig können neue Wahrnehmungen ins Bewusstsein eines Menschen gelangen, wenn sie für ihn zu fremd sind, zu plötzlich auftauchen, zu überwältigend oder einfach nur zu zahlreich sind − also immer dann, wenn sie Furcht auslösend sind und im Gehirn eine Notfallreaktion in Gang gesetzt wird, die zunächst nichts weiter als das nackte Überleben sichern hilft. In solchen Situationen ist bewusstes Reflektieren und langes Nachdenken nicht nur wenig hilfreich, sondern »hirntechnisch« gar nicht möglich.“ 100 Gelingt es also, sich fortwährend aus dem eigenen Komfortbereich herauszuwagen und dabei nicht in den Bereich der Panik zu gelangen, ist Lernen möglich, was die Erweiterung des Komfortbereichs zur Folge hat. Dabei kommt dem Lernen über herausfordernde Erlebnisse, wie es die Erlebnispädagogik befördert, eine besondere Bedeutung zu. 101 Der Begriff des metaphorischen Lernens im Hinblick auf die Wirkung der Erlebnispädagogik hat die Diskussionen nachhaltig beeinflusst. Vorab zur Definition. Unter Metaphern versteht man Übertragungen. „Beim metaphorischen Lernen sollen prägende Bilder, Symbole, Redewendungen, […] sprachliche Metaphern der Teilnehmer und Trainer, die vor oder während eines erlebnispädagogischen Trainings Bedeutung erlangen, Lernprozesse gestalten und ermöglichen. Dadurch können Tiefenschichten des Individuums erreicht und so nachhaltige Veränderungen bewirkt werden. […] Gibt es eine Strukturähnlichkeit zwischen dem erlebnispädagogischen Setting und dem Alltagserleben, spricht man von einer Isomorphie. Isomorphien […] können so gestaltet werden, dass Teilnehmern die Übertragung des Gelernten erleichtert wird.“ 102 Zunächst bestimmten ab etwa 1985 drei metaphorische Lernmodelle die Wirksamkeitsdiskussion. Bei dem Modell „Let the mountains speak for themselves“ wurde von einer alleinigen Deutungshoheit und -fähigkeit der durch die Wirkung der Natur gemachten Erfahrungen durch die Teilnehmer*innen ausgegangen, wobei auf jegliche Reflexion verzichtet wird. Outward Bound verknüpfte damit die Reflexion des Erlebten, angeleitet durch den Pädagogen („Outward Bound plus“). Dadurch sollte 99 Vgl. Gilsdorf; 2004; S. 61ff. 100 Hüther; 2008; S. 1326. 101 Vgl. Michl; 2009; 41ff. 102 Michl; 2009; S. 64ff. 98 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit erreicht werden, Lernerfolge festzuhalten und in die Lebenswelt der Teilnehmer*innen zu übertragen. Das isomorphe Lernmodell nach Steven Bacon 103 setzt isomorphe Metaphern gezielt ein, um strukturelle Ähnlichkeiten der gemachten Lernerfahrungen im Rahmen erlebnispädagogischer Angebote und Lebenswelten der Teilnehmer*innen zu verstärken. Dabei bezieht sich Bacon auf die Lehre der Archetypen von Carl Gustav Jung. Die dabei gesamte, fast minutengenau geplante erlebnispädagogische Aktivität rückt dabei für den Pädagogen deutlich in den organisatorischen Fokus. Denn sein konstruiertes Setting muss so ausgerichtet sein, dass bewährte Handlungsmuster nicht zum Erfolg führen, sondern durch Alternativen ersetzt werden muss. 104 Weiterentwickelt zum Modell der „unterstützenden Prozessbegleitung“ wurde dieser Ansatz durch S. Priest und M. Gass. Dabei sind erlebnispädagogische Angebote so ausgestaltet, „dass sie präzise [die] berufliche und/ oder private Situation der Teilnehmer abbildet und ein neues Verhalten zur Lösung des Problems notwendig wird.“ 105 Dafür werden Angebote nach eindeutiger Analyse der Entwicklungsziele explizit geplant. Es wird vorab einer der vier Programmtypen ausgewählt, wobei dem Pädagogen im Hinblick auf die Prozessbegleitung sechs grundlegende Methoden zur Verfügung stehen. 106 Michl stellt folgend die Frage nach der Orientierung an persönlichen Lernprozessen der Teilnehmer*innen in erlebnispädagogischen Angeboten, welche nach dem Modell von Priest und Gass in vom Pädagogen konstruierten Settings festgelegte Lernprozesse durchlaufen. In der Zeitschrift „e&l - erleben und lernen“ beschrieb J. Hovelynck 1999 Erfahrungslernen „[...] als einen Prozeß, bei dem die Teilnehmenden ihre eigene Handlungstheorie erkennen und, wenn sie das wollen, neue und zusätzliche Handlungsoptionen entwickeln können.“ 107 . Im Modell des „reflektierenden Handelns“ ist demnach die kleinschrittige Planung eines erlebnispädagogischen Angebots fast obsolet. Vielmehr wird die situationsbedingte Auswahl geeigneter erlebnispädagogischer Elemente durch den Pädagogen im Hinblick auf die von den 103 Autor des Buches: The Conscious Use of Metaphor in Outward Bound, 1983; Colorado; ins Deutsche übersetzt von Cornelia Schödelbauer: Die Macht der Metaphern; 2003; Augsburg. 104 Vgl. Michl; 2009; S. 64ff. Ebenso vgl. und in diesem Zusammenhang zu Modellen der Leitung und Begleitung ausführend: Gilsdorf; 2004; S 103ff. 105 Ebd.; S. 75. 106 Ebd.; S. 73ff unter Verweis auf Priest/ Gass (1999) sowie Heckmair/ Wagner (1995). Programmtypen: „Freizeit und Erholung“, „Erziehung und Bildung“, „Training und Weiterbildung“ sowie „Selbsterfahrung und Therapie“. Methoden der Prozessbegleitung: „Handlungslernen pur“, „Kommentiertes Handlungslernen“, „Outward Bound plus“, „Direktives Handlungslernen“, „Metaphorisches Handlungslernen“ und „Indirekt-metaphorisches Handlungslernen“. 107 Hovelynck; 1999; S. 42. Sozialpädagogisches Pilgern 99 Teilnehmer*innen verdeutlichten Wirklichkeitskonstrukte, Metaphern bzw. Bewältiungsstrategien zum Kern der erlebnispädagogischen Prozessbegleitung. 108 Ähnlichkeiten und Differenzierungen - das Programm » Zwischen den Zeiten « als eigenständige Methode Sozialer Arbeit Bezogen auf die Grundpfeiler des Konzeptes können im Sinne der Erlebnispädagogik u.a. die Bewegung und Körperlichkeit im Hinblick auf die Monotonie des herausfordernden (stundenlangen) Gehens 109 , die Herauslösung der Teilnehmer aus deren Milieu, verbunden mit der gezielten Konfrontation mit anderen Lebensentwürfen, 110 sowie die Interaktion eingeordnet werden. Das Programm definiert und nutzt über Jahre erprobte Wegstrecken in reizarmen Naturräumen, wobei die Wegstrecken an der Grenze der Leistungsfähigkeit liegen, die ein Ungeübter bewältigen kann. 111 In den ersten Erprobungswegen wurden zudem unterstützende Elemente erlebnispädagogischer Arbeit in das Programm integriert. 112 Die Ausgestaltung des Programms an sich stellt an die begleitenden Pädagogen die Anforderung, sich sicher einem breiten Methodenrepertoire bedienen zu können, um damit u.a. „einen individuellen Bezug zu den Handlungskompetenzen und Verhaltensweisen“ 113 der Teilnehmer herstellen zu können. Auch im Hinblick auf pädagogische Ziele lassen sich Parallelen zu Entwicklungsaufgaben zie- 108 Vgl. Michl; 2009, S. 77. Michel verweist auf die Umsetzung durch Outward Bound Belgien. Zur Arbeitsweise wird auf der Homepage von Outward Bound Belgien, https: / / www.outwardbound.be/ en/ work-method, aufgerufen am 28.04.2019, beschrieben: „We start with a clear knowledge as to where we want to get, without any ready-made programme in between.“ Zu einer solchen Arbeitsweise sei auch auf das überwiegend von Andrea Scholz (weiter)entwickelte Konzept der Zusatzqualifikation „Erlebnispädagogische Prozessbegleitung in der Natur“ der AGJF Sachsen e. V., welche der Autor absolviert hat, verwiesen. 109 U.a. beschreibt Gilsdorf das Wandern zuvorderst als wohl unattraktivste Outdoor-Aktivität, verweist jedoch auf dessen Ausgestaltungspotentiale bei der Bearbeitung von Gruppenprozessen sowie dessen ausgleichenden Charakter. Vgl. Gilsdorf; 2004; S. 138. Auch Heckmair/ Michl; 2008; S. 194ff. 110 Vgl. Sächsische Jugendstiftung; 2014; S. 5. Der Autor vertritt zur dort benannten Einschätzung eines wesentlichen Unterschieds „zu erlebnispädagogischen Konzeptionen, die die pädagogischen Handlungs- und Reflexionslasten einseitig dem (diffusen) Erleben von Außergewöhnlichem aufbürden“ die Auffassung, dass Begegnungen mit anderen Lebensentwürfen durchaus auch im Rahmen erlebnispädagogischer Angebote systematisch forciert und im Rahmen geeigneter Elemente aufgegriffen und bearbeitet werden können. 111 Vgl. Sächsische Jugendstiftung; 2016; S. 12. 112 Klassische Problemlöseaufgaben seien exemplarisch genannt. Dabei wurde beobachtet, dass deren Einsatz in der Methodik begründet werden konnte, jedoch eine Überfrachtung zum Ergebnis hatte. Folge war u.a., dass eine Monotonie im Gehen nicht immer erreicht wurde und die Zeiten des Nachdenkens, z.B. über mögliche Auslöser eigener Lebenssituationen, zu kurz oder zu lang bemessen wurden. Wiederkehrend wurden daher durchgeführte Methoden verändert und verworfen. 113 Ebd.; S. 19. Vgl. Modell des „reflektierenden Handelns“ in 1.4. 100 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit hen, für die auch, aber nicht ausschließlich, im Rahmen erlebnispädagogischer Angebote Lernziele definiert werden können: „Das Programm will Eigenverantwortlichkeit und die Fähigkeit der Jugendlichen zu klugen Entscheidungen hinsichtlich ihrer Lebenssituation stärken.“ 114 Wird jedoch in erlebnispädagogischen Angeboten überwiegend davon ausgegangen, vordefinierte Entwicklungsziele durch mehr oder weniger konstruierte Erlebnisse zu erreichen, beschreiben S. Enger und S. Hein ein paradoxes Grundprinzip für das Programm »Zwischen den Zeiten«: „Das, was durch den Arbeitsweg gelernt, vertieft, erfahrbar gemacht werden soll, wird kontrafaktisch bereits zu Beginn von den Teilnehmern erwartet. […] Dabei geht es nicht um abstrakte Lern- und Bildungsziele, deren „Transfer“ in die Lebenswirklichkeit sichergestellt werden soll, sondern um Erwartungen an Handlungskompetenzen, die gesellschaftlich mit den Normen des „Erwachsen seins“ verknüpft sind, also Erwartungen an Selbstständigkeit, Mündigkeit, zwischenmenschliche Artikulationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit und schließlich Planungsfähigkeit.“ 115 Dabei geht es „v.a. um die Herstellung einer für die Teilnehmer gedanklich offenen Situation, in der sie sich ihre Handlungen und die sie tragenden Orientierungen vergegenwärtigen und zum Thema gemeinsamer Auseinandersetzungen machen können. Diese Öffnung wird im Arbeitsweg nicht (wie etwa in erlebnispädagogischen Konzepten) durch eine Erweiterung von Freiräumen, sondern durch deren Einschränkung - etwa durch Vorgabe feststehender und Schaffung eigener verbindlicher (Tages-)Abläufe und (Verhaltens-)Regeln, ferner durch eine Reihe von Verboten - erreicht.“ Am Programm „erfolgreich teilnehmen heißt deshalb nicht nur die physischen Belastungen des Laufens (60 bis 80 km) und des Arbeitens (max. 60 Arbeitsstunden) durchzuhalten, sondern v.a. Handlungen und deren Konsequenzen als Resultat eigener Entscheidungen zu erleben und zu verantworten.“ 116 Betrachtet man dazu die stringente Ausgestaltung der Bildungseinheiten auf Grundlage der Theorien L. Kohlbergs und J. Piagets zur 114 Enger/ Hein; 2015; S. 1. 115 Ebd.; S. 4ff. Vgl. auch Sächsische Jugendstiftung; 2016; S. 12. Hierzu ist bereits die vom Autor erlebte Darstellung im Rahmen der Begrüßung der Teilnehmer beispielhaft zu nennen. Diese beinhaltet den Verweis auf das Erwachsensein (Alter) und folgend die Feststellung, dass die Teilnehmer aufgrund des eigenen Verhaltens nach wie vor in Teilen des Lebens, z.B. durch ein Gericht, fremdbestimmt sind. 116 Ebd.; S. 2. Dabei versteht Sven Enger sein Programm auch als Prüfinstanz von vorab geäußerten Veränderungsbereitschaften der Teilnehmer*innen: „bisher ist es noch niemandem gelungen, Tagesstrecken von bis zu 33 Kilometern durch Diskutieren zu verkürzen, die schaffen Teilnehmende nur mit dem Willen, sich durchzubeißen.“ (Enger; 2017; S. 83) Dies erhält auch im Hinblick auf die Möglichkeit der Ableistung von gemeinnütziger Arbeit bzw. der Möglichkeit der Verringerung von Leistungssanktionen des Sozialgesetzbuch II Bedeutung. Sozialpädagogisches Pilgern 101 Hinführung auf die Auseinandersetzung mit eigenen Dilemmata, welche ursächlich auf getroffene Entscheidungen der Teilnehmer zurückzuführen sind, sowie die im Programm ebenso integrierte Wiedergutmachungsleistung in Form gemeinnütziger Arbeit, welche jedoch auch die Sinnhaftigkeit eigener Arbeit widerspiegelt, formt sich im Gesamten daher eine Methode, welche auch aus Sicht des Autors die Vielfalt der Soziale Arbeit eigenständig erweitert. 117 Literatur Fischer, Torsten/ Ziegenspeck, Jörg W. (2000): Handbuch Erlebnispädagogik. Bad Heilbrunn/ Obb. Gilsdorf, Rüdiger (2004): Von der Erlebnispädagogik zur Erlebnistherapie. Bergisch Gladbach. Heckmair, Bernd/ Michl, Werner (1998): Erleben und Lernen - Einführung in die Erlebnispädagogik. 3. Auflage. München. Heckmair, Bernd/ Michl, Werner (2008): Erleben und Lernen - Einführung in die Erlebnispädagogik. 6. Auflage. München. Hovelynck, Johan (1999): Handlungstheorien erkennen und entwickeln. In: Fachzeitschrift e&l - erleben und lernen; Heft 3&4. Hüther, Gerald (2008): Gehirnforschung und Soziologie: die Strukturierung des menschlichen Gehirns durch soziale Erfahrungen. In K.-S. Rehberg (Hrsg.): Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2 (S. 1315-1328). Frankfurt am Main. https: / / nbn-resolving.org/ urn: nbn: de: 0168-ssoar-152764 (28.04.2019). Michl, Werner (2009): Erlebnispädagogik. München. Pilgern als pädagogische Methode, Im Interview: Sven Enger von der Sächsischen Jugendstiftung; in: PILGERN (2017), Ausgabe 1. Hannover. Sächsische Jugenstiftung (2014): Pädagogische und sozialwissenschaftliche Aspekte des Programms „Zwischen den Zeiten“ - Modul „Arbeitsweg“. Dresden. Sächsische Jugenstiftung (2016): Dokumentation des Programms „Zwischen den Zeiten“. Dresden. 117 Sächsische Jugendstiftung; 2016; S. 12: „Die gelungene Verbindung von Arbeitsauflagen, sozialem Trainingskurs und erlebnispädagogischer Maßnahme […] kann den Anspruch eines neuen Zugangs sowie einer neuartigen Kombination der Aspekte zu einer eigenständigen Methode erfüllen.“ Zu den Evaluationsergebnissen des Programms wird auf die Homepage https: / / www.saechsische-jugendstiftung.de/ programme-projekte/ zwischen-den-zeiten/ einladungfachtag verwiesen. 102 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Sven Enger, Stephan Hein: Erfolgskriterien und -aussichten moralischer Bildung am Beispiel eines sozialen Trainingskurses. In: Kerner, Hans-Jürgen u. Marks, Erich (Hrsg.): Internetdokumentation des Deutschen Präventionstages. Hannover 2015, www.praeventionstag.de/ dokumentation.cms/ 3126 (04.03.2019). Ziegenspeck, Jörg W. (2017): Turbulenzen um die Erlebnispädagogik - oder: Quo vadis „Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V.“? https: / / e-undl.de/ downloads/ gesamtdarstellung.pdf (27.04.2019). Zuffellato, Andrea/ Kreszmeier, Astrid Habiba (2012): Lexikon Erlebnispädagogik. Augsburg. 5 Erste Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« - Die Perspektive von professionellen Fachkräften von Angela Teichert 5.1 Forschungsmethodik - Interviews und Berichte mit und von professionellen Fachkräften Wissen ∣ Das Programm »Zwischen den Zeiten« „Das Programm ‚Zwischen den Zeiten‘ (im Folgenden Arbeitsweg genannt) stellte zu Anfang der Projektlaufphase 2013 einen speziellen Mobilen Sozialen Trainingskurs gem. § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 Jugendgerichtsgesetz für junge Menschen ab 18 Jahren dar. Diese wurden aufgrund einer Jugendstraftat zur Ableistung gemeinnütziger Arbeitsstunden verpflichtet. Das Programm wurde so aufgebaut, dass es die Ableistung der Arbeitsstunden im Sinne einer gesellschaftlichen Wiedergutmachungsleistung in Form von handwerklichen Tätigkeiten an den Stationen in den Pilgerherbergen integriert.“ 118 Die folgenden Ergebnisse entstanden aus einem Forschungsprojekt (2015) mit evaluierendem Forschungsinteresse und konkreten Fragestellungen zur Wirksamkeit des Programms »Zwischen den Zeiten« aus der Perspektive von professionellen Fachkräften. Die praxisbezogene Thematik sowie die Zielgruppe von jungen Menschen, die eine Straftat 118 Sächsische Jugendstiftung. (2016). 104 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit begangen haben, erforderte eine Betrachtungsweise aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Es wurden einerseits drei Interviews 119 mit verschiedenen Professionellen durchgeführt:  einem Jugendrichter,  einer Mitarbeiterin vom Jobcenter und  einem Jugendamtsleiter. 120 Wissen ∣ Leitfadengestützt Interviews Leitfadengestützte Interviews sind besonders geeignet für theoriegeleitete Forschungen, da ganz bestimmte Aspekte und Problemstellungen in den Fokus gerückt werden und eine thematische Eingrenzung erfolgt. 121 Mit dem Leitfaden wurde sichergestellt, dass in jedem Interview die gleichen bzw. ähnlichen Aspekte fokussiert werden. Die Fragen wurden in einer ganz bestimmten Reihenfolge vorformuliert, was eine intersubjektive Kontrastierung der Äußerungen ermöglicht. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der Interviewpartner*innen wurden bei jedem Interview zusätzlich spezielle Fragen hinzugefügt, z.B. (auszugsweise) Jugendrichter:  Beschreiben Sie bitte, wie Sie - in Ihrer Rolle als Pate und Jugendrichter - die Jugendlichen auf dem Pilgerweg wahrgenommen haben!  Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, ob ein Pilgerprojekt angewiesen wird?  Inwieweit erweitert dieses Projekt Ihre Handlungsmöglichkeiten als Jugendrichter? Mitarbeiterin vom Jobcenter:  Gab es von Seiten des Jobcenters ein organisiertes Pilgerprojekt für Heranwachsende? Wenn ja, weshalb haben Sie dieses angeboten? 119 Die aufgenommenen Interviews wurden wortwörtlich transkribiert. Dadurch wurde eine „vollständige Texterfassung verbal erhobenen Materials“ erschaffen, die die Grundlage für eine detaillierte interpretative Auswertung bietet (vgl. Mayring, 2002, S. 89). 120 Diese drei Interviewpartner haben aufgrund ihrer Teilnahme am Arbeitsweg eine Innensicht, weil sie als Paten die Teilnehmer ein Stück begleitet haben. 121 Mayring, 2002, S. 67, Steinert, 2000, S. 67-68 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 105  Ist es denkbar, das Pilgerprojekt als Motivation für eine mögliche nachfolgende Maßnahme beim Jobcenter anzubieten?  Könnten Sie sich vorstellen, dass Heranwachsende, die an solch einem Pilgerprojekt teilnehmen, ihre Chancen auf einen Job verbessern? Jugendamtsleiter:  Inwieweit erweitert dieses Projekt die Möglichkeiten eines Vorschlages für eine richterliche Weisung durch die Jugendgerichtshilfe?  Wie ist es Ihnen gelungen, in Zeiten der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, dass neue Projekte zugelassen und ausprobiert werden können?  Wie hoch schätzen Sie die Effektivität und Effizienz des Pilgerprojektes ein und welchen gesellschaftlichen Nutzen hat das Projekt? 122 Zudem wurden 14 bereits vorliegende Dokumente 123 von professionellen Fachkräften und Beteiligten am Jugendstrafverfahren analysiert. Diese Ergebnis -und Durchführungsberichte wurden geschrieben von:  einem Jugendrichter,  einer Mitarbeiterin vom Jobcenter,  einer Landesjugendamtsleiterin,  einem Jugendamtsleiter,  einem Jugendgerichtshilfeleiter,  zwei Mitarbeiter*innen von der Jugendgerichtshilfe,  fünf Mitarbeiter*innen von den Freien Trägern,  einer Leiterin eines Bildungsträgers,  einem Referenten der Pilgerherberge. Einige dieser Fachkräfte sind fallführende Mitarbeiter*innen, die ihre Klient*innen in den Arbeitsweg gesandt haben bzw. diese auch nach Abschluss weiter betreuten, einige von ihnen waren auch kurzzeitig als Pat*innen beim letzten Stück des Weges anwesend und ein Bericht stammt von einer kooperierenden Herberge, die über die gemeinsamen Arbeitsstage einen intensiven Einblick in das Programmkonzept »Zwischen den Zeiten« gewinnen konnte. 122 Teichert/ Schnute/ Witte/ Papke/ Zelder, 2015, S. 6-10 123 Die Dokumente (Ergebnis- und Durchführungsberichte) lagen in schriftlicher Form vor. 106 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Wissen ∣ Reflexionsaufzeichnungen Eine konversationsanalytisch ausgerichtete Dokumentenanalyse (Reflexionsaufzeichnungen) ist eine schriftlich vermittelte Interaktion, um Dokumente, die auf einen institutionellen Kommunikationszusammenhang hin verfasst werden (Wolff in Flick, 2007, S. 508). In solchen Dokumenten wird auf die soziale Lesbarkeit geachtet. Die besondere Leistung besteht darin, dass der Eindruck erweckt wird, dass es sich um eine objektive Wirklichkeit handelt. Die qualitative Dokumentenforschung analysiert die Auseinandersetzung der Rezipienten mit einem bestimmten Thema. (ebd.) Die Datenauswertung der Interviews und der Dokumente erfolgte mit der inhaltlichen Strukturierung. „Inhaltsanalyse will Kommunikation analysieren, fixierte Kommunikation analysieren, dabei systematisch vorgehen, das heißt regelgeleitet vorgehen, das heißt auch theoriegeleitet vorgehen, mit dem Ziel, Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Kommunikation zu ziehen.“ (Mayring, 2007, S. 13) Ziel ist es, „bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern, unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material aufgrund bestimmter Kriterien einzuschätzen.“ (Mayring, 2007, S. 58) Diese vorher festgelegten Ordnungskriterien wurden in ein Kategoriesystem zusammengetragen. 5.2 Heranwachsende als Zielgruppe beim Programm »Zwischen den Zeiten« - Volljährigkeit als wichtige Voraussetzung Beispiele │ „Wo komme ich her? “ „Ich komme aus einer bescheidenen Familie. Wir hatten nicht viel Geld. Es war trotzdem schön.“ „Mein Vater ist abgehauen, als ich 8 Jahre alt war.“ „Hin und wieder bin ich straffällig geworden. Das erste Mal mit 14.“ „Jetzt, mit der 4., bin ich mit 160 Sozialstunden davongekommen und in diesem Rahmen begab ich mich auf diese Reise.“ Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 107 Wer sind die jungen Menschen, die am kriminalpräventiven Modul des Programms »Zwischen den Zeiten« teilnehmen? Was bedeutet Straffälligkeit im Jugendalter und im Jugendstrafrecht? Im Jugendstrafrecht wird zwischen Jugendlichen (14 bis 17 Jahre) und Heranwachsenden (18 bis 21 Jahre) unterschieden. Diejenigen jungen Menschen, die am Programm »Zwischen den Zeiten« teilnehmen, sind die über 18-jährigen Heranwachsenden. Heranwachsende (über 18- Jährige) können nach dem Jugendstrafrecht in Anwendung des § 105 JGG 124 noch verurteilt werden und haben somit einen Anspruch auf Erziehungsmaßregeln. Was hat die Sächsische Jugendstiftung dazu veranlasst, volljährige junge Menschen als Zielgruppe ihres Programms zu betrachten? Die Entscheidung der Sächsischen Jugendstiftung, mit volljährigen jungen Menschen den Arbeitsweg zu konzipieren, liegt vor allem darin, dass das Ziel ist, selbstständig Entscheidungen treffen zu können und diese auch zu verantworten. Volljährige Personen sind laut Gesetz erwachsen und somit mündig (§ 2 BGB). Volljährige kann man mit diesem Recht auf eigene Entscheidung auch konfrontieren, sie sind gewissermaßen gezwungen, allein diese Entscheidung zu treffen und zu verantworten. Minderjährige sind hingegen Personen, die die Volljährigkeit - Mündigkeit - noch nicht erreicht haben. Minderjährige unterliegen der elterlichen Sorge. Minderjährige Personen müssen beaufsichtigt werden. Nach dem § 1 Abs. 1 Nr. 4 Jugendschutzgesetz (JuSchG) können die Eltern die Aufsicht ihres minderjährigen Jugendlichen zwar auf eine volljährige Person als „erziehungsbeauftragte Person“ übertragen, jedoch bringt das auch Konsequenzen mit sich. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Würde es bei einem minderjährigen Jugendlichen zu einem Abbruch des Pilgerweges kommen - aus welchen Gründen auch immer - so müssten die Trainer*innen umgehend die Eltern informieren und den Jugendlichen bei seinem Rückweg begleiten. 124 § 105 Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende: (1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, wenn 1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder 2. es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt. (2) § 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ist auch dann anzuwenden, wenn der Heranwachsende wegen eines Teils der Straftaten bereits rechtskräftig nach allgemeinem Strafrecht verurteilt worden ist. (3) Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre. Handelt es sich bei der Tat um Mord und reicht das Höchstmaß nach Satz 1 wegen der besonderen Schwere der Schuld nicht aus, so ist das Höchstmaß 15 Jahre. 108 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Folgende Erkenntnisse über Heranwachsende sollen hier betont werden (→ Abb. 4): Die Heranwachsenden … ➼ haben die Pubertät abgeschlossen. ➼ befinden sich in der Übergangsphase zum Erwachsenenalter und in einem Reifeprozess, der sich in den letzten Jahren erheblich verlagert hat. ➼ haben ein höheres Alter gegenüber den Jugendlichen und somit mehr Erfahrung. ➼ ziehen wieder mehr Vergleiche mit anderen, z.B. andere haben eine eigene Wohnung, haben eine Berufsausbildung, sind wirtschaftlich selbstständig. ➼ leben in der Zukunft (Jugendliche leben im Hier und Jetzt). ➼ befinden sich nicht mehr in der „Rebellionsphase“. ➼ sind in der Lage, Situationen realistischer einzuschätzen und Folgen für ihr Handeln zu überschauen. ➼ befinden sich in der Phase der „Spontanremission“ 125 . ➼ weisen höhere Erfolgsquoten in Trainingskursen auf. ➼ sind eher bereit, sich zu verändern. ➼ haben neue und klare Zielorientierungen. Abb. 4: Heranwachsende Quelle: aus Teichert, 2010, S. 265, Abb. 51 In der Dokumentation des Programms »Zwischen den Zeiten« wird mit folgendem Textabschnitt das Angebot der Übergangsbegleitung vom Jugendzum Erwachsenenalter zusammengefasst: „Mit Blick auf die Entwicklungsanforderungen geht es in der Adoleszenz v.a. um die Ausbildung einer eigenen Identität, das Erlangen von Selbstsicherheit, Autonomie und Handlungsfähigkeit, die Erweiterung des eigenen Wissens, die Ausgestaltung von Freundschaften und die Partizipation am gesellschaftlichen Leben sowie um den Aufbau von Wertvorstellungen und Zukunftsperspektiven; wohingegen das frühe Erwachsenenalter im Spannungsfeld von Intimität und Isolierung steht. Die Fähigkeit, Bindungen einzugehen und Nähe zuzulassen, kann im Falle emotionaler Überforderung ein Gefühl der Einsamkeit gegenüberstehen, welches in der Bemühung, diese Entwicklungsphase zu meistern, kompensatorisch gar als Verneinung des Bedürfnisses nach Nähe ausgelebt werden kann. Die Entwicklungsspanne der Heranwachsenden 125 Albrecht, 2000, S. 15 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 109 umfasst einen Altershorizont von etwa 14 bis 30 Jahren und die Anforderungen, sich von der Herkunftsfamilie abzulösen, aus dem elterlichen Haushalt auszuziehen und die Aufgabe der beruflichen Orientierung, bzw. des Berufseinstieges zu meistern. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche ist die Jugendphase auf Grund der Auflösung traditioneller Bindungen und Gewissheiten und einer wachsenden Vielzahl an Optionen der Lebensgestaltung und Ausgestaltung sozialer Kontakte, Lebensstile und beruflicher Perspektiven zu einem Abschnitt struktureller Unsicherheit und Zukunftsungewissheit wie auch individueller Handlungsspielräume, die gestaltet werden wollen, geworden.“ 126 Die jungen Menschen, die am Arbeitsweg teilnehmen, sind also mindestens 18 Jahre alt und wurden einerseits nach dem Jugendstrafrecht (§ 105 JGG) zu Arbeitsstunden und/ oder Bewährung verurteilt: „Die Mehrheit der Teilnehmer hatte durch ein jugendgerichtliches Urteil eine Arbeitsauflage abzuleisten, teilweise handelte es sich auch um Bewährungsauflagen.“ (Aussage Landesjugendamtsleiterin) 127 Andererseits gibt es auch die freiwillige Teilnahme (z.B. Personen aus dem Leistungsbezug des Jobcenters): „[…], für welche sich die Heranwachsenden freiwillig entscheiden konnten.“ (Aussage Landesjugendamtsleiterin) 128 Wissen ∣ Voraussetzungen Die Altersgruppe von 18 Jahren, eine körperliche Grundkondition und die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren, sind unabdingbare Voraussetzungen für die Teilnahme am Arbeitsweg. 129 Voraussetzung ist ebenso eine gewisse körperliche Grundkondition. Ausgeschlossen sind Teilnehmer*innen mit erheblicher Suchtabhängigkeit, weil die Reflexionsfähigkeit eingeschränkt ist, was vorausgesetzt wird. O-Ton ∣ „Dann begann die Wanderung, die insgesamt an diesem Tag ca. 20 Kilometer andauerte, für die meisten Heranwachsenden eine erhebliche körperliche Anstrengung, da sie solche Freizeitbeschäftigungen nach eigenem Bekunden nicht pflegten und auch ausrüstungs- und gepäckmäßig nicht perfekt ausgestattet waren.“ 130 126 Sächsische Jugendstiftung, 2016, S. 8 127 Teichert u.a., 2015, S. 10 128 Teichert u.a., 2015, S. 10 129 Die grau gerahmten Textabschnitte sind Thesen, die durch die Forschung belegt wurden. 130 Sächsische Jugendstiftung, 2015, S. 12 110 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit O-Ton ∣ „Aber ich denke, die nehmen keine Alkoholiker oder stark Drogenabhängige. […] Das ist auch ein Kriterium von [dem Projektleiter]. Er sagt, dass die Jugendlichen in der Lage sein müssen, sich selber zu reflektieren.“ 131 5.3 Pilgern im Zwangskontext - Zwang als Rahmen für Soziale Arbeit Zwangskontexte in der Sozialen Arbeit sind ein gern diskutiertes Thema. Es stellt sich immer wieder die Frage, ob Zwangskontexte dem Anspruch einer Sozialen Arbeit widersprechen oder ob Soziale Arbeit im Rahmen von Zwangskontexten professionell tätig sein kann. Es geht um die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme nach dem Jugendgerichtsgesetz, welche immer im Zusammenhang mit erzieherischen Zielen zu stellen ist. So unterscheidet der Arbeitskreis der Hochschullehrer*innen Kriminologie 132 zwischen engem und weitem Zwang. Die richterliche Weisung, an dem Programm »Zwischen den Zeiten« - dem Modul Arbeitsweg - teilzunehmen, ist dem engen Zwang zuzuordnen. Der Heranwachsende kann die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen, er hat keine Entscheidungs- und Wahlmöglichkeit. Der Richter weist im Kontext der Gerichtsverhandlung diese Maßnahme an. Dadurch erhält sie für den Heranwachsenden einen verpflichtenden Charakter. Es ist demnach festzuhalten, dass es sich im Rahmen des Arbeitswegs um eine „von außen oder fremdinitiierte Kontaktaufnahme“ 133 handelt. Der Begriff ‚Zwangskontext‘ verweist hier auf eine „bestimmte Form des Zwangs, die Dominanz des Willens einer Person bzw. Instanz, dem sich die Adressaten und Adressatinnen beugen und zu dessen Erfüllung sie mehr oder weniger konkrete Handlungsalternative haben.“ 134 Letzteres betrifft den weiten Zwang. Der Heranwachsende kann beim Arbeitsweg über gewisse Aspekte entscheiden, z.B. die Laufgeschwindigkeit oder die Intensität der Auseinandersetzung mit sich selbst oder auch, ob er den Arbeitsweg durchhält oder abbricht. Sollte der Heranwachsende (→ Kap. 5.2) den Arbeitsweg abbrechen 135 , so hat 131 Teichert u.a., 2015, S. 12 132 AK HochschullehrerInnen Kriminologie/ Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit, 2014, S. 116 133 Kähler, 2005, S. 7 zitiert nach AK HochschullehrerInnen Kriminologie/ Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit, 2014, S. 120 134 Kähler, 2005; Connen/ Cecchin, 2007 zitiert nach AK HochschullehrerInnen Kriminologie/ Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit, 2014, S. 121 135 Es ist zu prüfen, ob ein Heranwachsender aus gesundheitlichen Gründen den Arbeitsweg abbrechen muss. Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 111 er die richterliche Weisung nicht erfüllt und es erfolgen Konsequenzen wieder im Sinne des engen Zwangs, z.B. einen Bewährungswiderruf nach § 26 Abs. 1 Nr. 2 JGG. Kähler (2005) und Connen/ Cecchin (2007) beschäftigen sich mit der Frage, inwiefern in Zwangskontexten - und unter Berücksichtigung, dass Soziale Arbeit zwangsfrei handeln soll - „ein tragfähiges und produktives Arbeitsbündnis entstehen kann, damit auch unerwünschte Hilfe erfolgreich werden kann.“ 136 Es erfolgen nähere Ausführungen zur Beziehung zwischen Trainer*innen und Heranwachsenden im → Kap. 5.4.4. Wissen ∣ Legitimation Der Eingriff in das Leben - die Durchführung einer richterlichen Weisung - der Heranwachsenden ist gesetzlich legitimiert 137 Im Rahmen des Strafmaßes wird auch die Frage gestellt, wie eingriffsintensiv bzw. wie angemessen der richterlich angeordnete Arbeitsweg im Verhältnis zur Straftat ist. Ein Jugendamtsleiter meint dazu: O-Ton ∣ „Die Jugendlichen haben auch in das Leben anderer eingegriffen, sind mit dem Gesetzt in Konflikt gekommen und insoweit ist es rechtsstaatlich legitimiert, wenn Richter dort eine Entscheidung treffen und insoweit ein Stück, und zwar in Anführungszeichen, in das Leben junger Menschen eingreifen.“ 138 Die Auswahl allerdings, ob ein Heranwachsender am Arbeitsweg teilnehmen kann, ist auch abhängig davon, ob solch eine Maßnahme Entwicklungspotentiale freisetzen kann, ob eine kontrollierte Herausnahme aus der gewohnten Umgebung und der Lebenswelt sogar eine Entlastung für den jungen Menschen sein kann und ob dieser die Voraussetzungen (körperliche Grundkondition, Reflexionsfähigkeit, kein Suchtmittelmissbrauch) erfüllt. Soziale Arbeit im Rahmen von Zwangskontexten, vor allem unter Berücksichtigung des weiten Zwangs und systematisierter Angebote - ein humanistisches Menschenbild vorausgesetzt - sowie der Erfüllung der Kriterien entsprechend der Methodendefinition und der adäquaten Methodenreflexion nach den sieben Perspektiven (→ Kap. 4.1), kann somit legitimiert werden. 136 Kähler, 2005; Connen/ Cecchin, 2007 zitiert nach AK HochschullehrerInnen Kriminologie / Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit, 2014, S. 121 137 § 1 Strafgesetzbuch: Legitimation und Grundbegriffe des Strafrechts 138 Sächsische Jugendstiftung, 2015, S. 26 112 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit 5.4 In fünf Tagen hin und zurück - eine ungewöhnliche Pilgerreise Montag - Tag 1: Sich auf den Weg machen und die Komfortzone verlassen O-Ton ∣ „Hab mir nix dabei gedacht. Habe mir nicht richtig vorgestellt, dass es so anstrengend wird. Am Ende der Strecke habe ich mich bloß gefragt ‚Wann sind wir endlich da? ‘ War erschöpft und die Füße haben wehgetan, war anstrengend.“ 139 (Aussage eines Teilnehmers) Eigenverantwortung und Selbstorganisation Die Jugendlichen begeben sich fünf Tage (von Montag bis Freitag) auf eine bis 80 Kilometer lange Pilgerstrecke von Dresden nach Bautzen. Eine Mitarbeiterin vom Jobcenter erklärt es so: O-Ton ∣ „Also es waren ja fünf Tage und davon waren drei Tage zum Laufen geplant und zwei Tage, wo die Jugendlichen dann in den Stationen gemeinnützig gearbeitet haben.“ (Aussage Mitarbeiterin Jobcenter) Begleitet wird das Projekt von zwei Betreuer*innen: einer/ einem ausgebildeten Trainer*in und einer/ einem sogenannten „Paten/ Patin“ (→ Kap. 5.4.5). Wissen ∣ Lernchancen und Eigenverantwortung Das komplexe und konstante Pilgerprojekt bietet Eigenverantwortung und außergewöhnliche Lernchancen. 140 Das Pilgerprojekt ist ein komplexes Projekt, welches aus folgenden Teilen besteht:  aus der eigenverantwortlichen Vorbereitung,  aus der Monotonie des Gehens/ Laufens im Gruppensetting, 139 Die rechtsbündig gestellten O-Töne sind Teilnehmerzitate von männlichen Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren, die am Programm »Zwischen den Zeiten« teilgenommen haben. 140 Teichert u.a., 2015, S. 10-11 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 113  aus der Aufteilung der Wegstrecken,  aus sinnvoller gemeinnütziger Arbeit,  aus der Übernachtung in der „Fremde“,  aus Begegnungen mit anderen Menschen und deren Lebensentwürfen und  aus Bildungsangeboten. Zwei Sozialarbeiter von Freien Trägern heben insbesondere die klare Strukturierung und die Verknüpfung verschiedener Bausteine hervor: O-Ton ∣ „Der Arbeitsweg hat uns durch die klare Strukturierung und Einheitlichkeit überzeugt. […] Die Aufteilung in Wandern, Arbeiten und Bildung hinterließ bei uns einen in sich stimmigen und sinnvollen Eindruck.“ (Aussage Sozialarbeiter Freier Träger) O-Ton ∣ „…neue, eigenständige Maßnahme […], welche positive Grundideen einer Arbeitsauflage […], eines sozialen Trainingskurses […] und einer erlebnispädagogischen Maßnahme […] in sich vereint und zu einer neuen Einheit bringt.“ (Aussage Mitarbeiter Freier Träger) Dieses 5-tägige Gesamtkonzept verlangt von den Heranwachsenden, die eine oder mehrere Straftaten begangen haben, welche hinreichend auf biografische Problemstellungen hinweisen, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich auf die Lernbzw. Wachstumszone (→ Abb. 5) einzulassen. 141 Abb. 5: Lernzonenmodell Quelle: Frei nach Vygotzki 142 141 Lernzonenmodell nach Vygotzki 142 Es gibt keine eindeutigen Hinweise darauf, wer der Begründer des Lernzonenmodells ist. Es wird davon ausgegangen, dass der russische Psychologe Vygotski in Zusammenhang mit dem Begriff der Komfortzone gebracht wird. Panikzone Komfortzone Lern- und Wachstumszone 114 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Das Komfortzonenmodell und insbesondere auch die Neurowissenschaften gehen davon aus, dass die Komfortzone verlassen werden muss, um zu lernen und sich weiterentwickeln zu können. Eine Studie der Yale University fand heraus, dass auch unsichere Situationen gemeistert werden sollen und diesen nicht aus dem Weg gegangen wird: „We only learn when there is uncertainty, and that is a good thing […],“ 143 Die Lern- und Wachstumszone ist gerade gekennzeichnet von Unbekanntem und Unsicherheit, von Herausforderungen und Unerwartetem. Mit Mut, Handlungsalternativen und Überwindung findet hier Lernen statt. Zu berücksichtigen ist, dass der Eintritt in die Panikzone Lernen verhindert, Frustration und Angst auslösen kann. Der Arbeitsweg bietet Abwechslung in einem gleichbleibenden Setting. Zwei Sozialarbeiter eines Freien Trägers betonen einerseits den Gewinn der zusammenhängenden fünf Tage und andererseits die Vielfalt der Lernfelder: O-Ton ∣ „Die Teilnehmer pilgern via Heimat und bleiben im Setting, müssen sich also nicht jede Woche neu für das Angebot entscheiden.“ (Aussage Sozialarbeiter Freier Träger) O-Ton ∣ „Er [der Arbeitsweg] bietet vielfältige und intensive Lernfelder in den Bereichen der sozialen Kompetenzen, Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation - um die wichtigsten zu nennen.“ (Aussage Sozialarbeiter freier Träger) 143 Daeyeol Lee, Yale’s Dorys McConnell Duberg Professor of Neuroscience and professor of psychology and psychiatry (2018): https: / / news.yale.edu/ 2018/ 07/ 19/ arent-sure-brain-primedlearning Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 115 Vor dem Arbeitsweg Im Vorfeld erhalten die Heranwachsenden von der Jugendgerichtshilfe 144 ausführlich und schriftlich die notwendigen Informationen über die persönliche Ausrüstung und über die Finanzen. Wissen ∣ Merkblatt für Teilnehmer am Projekt „Arbeitsweg“ Wir treffen uns am: ____________________________________ Um: _________________________________________________ Zum gemeinsamen Start in: _____________________________ Mitzubringen in einem Rucksack sind:  Wechselkleidung  Kopfbedeckung  Regenkleidung  Kosmetikartikel, Handtuch  persönliche Medikamente  Trinkflasche  Krankenversicherungskarte  Personalausweis  Schreibzeug Wir gehen und arbeiten bei jedem Wetter, deshalb benötigen Sie Regenschutz und geeignetes Schuhwerk. Sollte Ihnen entsprechende Ausrüstung fehlen, kann diese über die Sächsische Jugendstiftung kostenfrei ausgeliehen werden. Für den ersten Tag (Montag) muss Verpflegung mitgebracht werden. Die Verpflegung für die restlichen Tage des „Arbeitsweges“ wird gemeinsam mit den Betreuern organisiert. Die Heranwachsenden sind in Vorbereitung auf die Reise für das Reisegepäck selbst verantwortlich und müssen einen kleinen Geldbetrag für Verpflegung mitbringen (10€). Sie können allerdings das Angebot einer kostenlosen Ausleihe von diversen Reiseutensilien bei der Sächsischen 144 In der gutachtlichen Stellungnahme der Jugendhilfe im Strafverfahren schlägt der/ die Jugendgerichtshelfer*in die richterlich angewiesene Maßnahme (Teilnahme am Arbeitsweg) vor und nimmt auch an der Gerichtsverhandlung teil. 116 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Jugendstiftung in Anspruch nehmen. Darum müssen sie sich eigenverantwortlich kümmern: O-Ton ∣ „Vorher hatte sich jeder Teilnehmer selbst um seine organisatorischen Angelegenheiten und die persönliche Ausrüstung zu kümmern.“ (Aussage Jugendgerichtshilfe) Sollten diese Vorbereitungsempfehlungen (→ Merkblatt für Teilnehmer am Projekt „Arbeitsweg“) nicht ernstgenommen werden, so Sven Enger, müssen die Heranwachsenden, die sich daraus ergebenen Konsequenzen natürlich ertragen. Eine fehlende Selbstorganisation in diesem Sinne wird als mangelnde Vorbereitung unmittelbar und deutlich erfahrbar. Um dies zu verdeutlichen, wird ein Beispiel illustriert: Praxis ∣ Reisetasche statt Rucksack Ein junger Mensch, der einen fast 80 Kilometer langen Fußmarsch nicht mit dem empfohlenen Rucksack, sondern mit einer Reisetasche antritt, bekommt diese nicht abgenommen. In den fünf Tagen kann er mit Unterstützung die Ursachen für sein selbstgeschaffenes Unbehagen reflektieren. Und das geschieht nicht selten. Ein Jugendrichter meint, dass der „[…] Projektleiter großen Wert auf Eigenverantwortlichkeit legt, so in Fragen des Proviants, der Ausrüstung, aber auch der vorgegebenen Streckenführung. Diese wurde vorab für jede Teilstrecke erläutert und festgelegt.“ Selbstaufmerksamkeit und Selbstreflexion als Ziel O-Ton ∣ „ Pilgern. Für mich war am besten, dass ich nachdenken konnte und zur Ruhe gekommen bin.“ (Aussage eines Teilnehmers) Es ist unumgänglich, sich mit den theoretischen Hintergründen des Konzeptes der Selbstaufmerksamkeit und der Selbsterkenntnis zu beschäftigen. Was geschieht, wenn wir über uns selbst nachdenken und unsere Aufmerksamkeit bewusst auf uns lenken? Das Konzept der Selbstaufmerksamkeit (self-awareness theory) geht davon aus, „dass bei einer Ausrichtung der Aufmerksamkeit des Menschen auf sich selbst eigenes Verhalten mit innerpersönlichen Maßstäben und Werten verglichen und anhand dieser beurteilt wird.“ Wenn eine Diskrepanz zwischen Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 117 dem eigenen Verhalten und der moralischen Werte sichtbar wird, ist man versucht, diese schnell aufzulösen. Wenn das Verhalten nicht verändert werden kann, so entsteht ein Gefühl der Unzufriedenheit. Strategien, um die Selbstaufmerksamkeit zu vermeiden, wären beispielsweise Alkoholmissbrauch, Drogen, Straffälligkeit. Die Effektivität liegt darin, dass „der innere Scheinwerfer auf das eigene Selbst“ abgeschaltet wird. Das gefährliche Verhalten ist ein Hinweis darauf, wie aversiv 145 die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst sein kann. 146 Der Verzicht auf Konsumgüter wird als sehr eingriffsintensiv wahrgenommen. Der Verzicht auf bestimmte Konsumgüter oder auf das Handy verstärken den Prozess der Selbstaufmerksamkeit und das Nachdenken über sich selbst, was für einen Reflexionsprozess die unabdingbare Voraussetzung ist. O-Ton ∣ „Die überschaubare Dauer von fünf Tagen erleichtert den Klienten die Entscheidung zur Teilnahme. Dieser Zeitraum ist gegenüber dem sozialen Trainingskurs wesentlich kürzer, dafür aber mit fünf aufeinanderfolgenden Tagen umso intensiver. Hinzu kommen noch die für die gesamte Zeit eingeschränkte Verfügbarkeit von Telekommunikationsmitteln sowie der Verzicht von Alkohol und Drogen.“ (Aussage Mitarbeiter Freier Träger) 147 Selbsterkenntnis ist eng verwandt mit dem Begriff Selbstreflexion, dem Nachdenken über sich selbst und dem kritischen Hinterfragen und Beurteilen der eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen. Selbstreflexion und Selbsterkenntnis setzen eine gewisse Objektivität der Selbstbeobachtung voraus. Auch wenn eine Person die Fähigkeit zu einer gewissen Selbsterkenntnis besitzt, kann diese durch innere Widerstände erschwert werden. Eine Folge zu geringer Selbsterkenntnis kann auch Selbstüberschätzung sein. In der folgenden → Tab. 8 werden Prinzipien der Selbstreflexion empfohlen. Diese können beim Arbeitsweg umgesetzt werden. 145 aversis: Widerwillen hervorrufend 146 Aronson & Wilson & Akert, 2004, S. 158-159. zitiert nach Sächsische Jugendstiftung, 2015, S. 5 147 Teichert u.a., 2015, S. 28 118 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Tab. 8: Prinzipien der Selbstreflexion Erzählen anregen und Methoden einsetzen mit sich selbst ins Gespräch kommen oder im Rahmen einer Schreibübung: Situationen, Gefühle und Gedanken niederschreiben Themen auswählen bestimmte Situationen oder Elemente herausgreifen und gesondert betrachten positiv verstärken sich selbst bestärken, sich mit mir auseinanderzusetzen → bestimmte Zeiten für Denksitzungen reservieren sich austauschen mit einem Gegenüber sich selbst unter Berücksichtigung von Achtung, Respekt und grundsätzlicher Wertschätzung reflektieren künftig lernen konkrete Absichten formulieren und seine Erfahrungen als „Lernmaterial“ nutzen („reflexive Spontaneität“ nach Wood) Quelle: In Anlehnung an: Wirtschaftspsychologie aktuell, 2013: http: / / www.wirtschaftspsychologie-aktuell.de/ strategie/ strategie-20131002selbstreflexion-fuer-bessere-fuehrung.html Wissen ∣ Selbstaufmerksamkeit Die Heranwachsenden werden durch die Möglichkeit der Selbstaufmerksamkeit 148 sensibilisiert, über ihr Handeln und ihre persönliche Situation, nachzudenken. Die Monotonie des stundenlangen Gehens und der einfachen körperlichen Arbeiten scheint gut geeignet, um über individuelle Dilemmata (→ Kap. 5.4) als Ausgangspunkt für straffälliges Verhalten nachzudenken: O-Ton ∣ „[…] diese „Pilgerreise“ soll aktivieren und zum Nachdenken über individuelle Dilemmata als Ausgangspunkt für bisherige Misserfolge anregen.“ (Aussage Landesjugendamt) 149 148 Selbstaufmerksamkeit: vgl. Aronson/ Wilson/ Akert, 2004, 150 f. 149 Teichert u.a., 2015, S. 13 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 119 O-Ton ∣ „[…] die Möglichkeit eröffnen, auf eine unkonventionelle Weise Jugendlichen die Möglichkeit geben, ihr Handeln zu reflektieren und gleichzeitig dabei nützlich zu werden.“ (Aussage Mitarbeiterin Jobcenter) 150 Die vorübergehende Herausnahme der Heranwachsenden aus ihren sonstigen Lebensumständen kann dieses Nachdenken befördern. Aus sozialpsychologischer Sicht wird die Monotonie des stundenlangen Gehens als förderlich für ein Nachdenken über sich selbst erachtet. Auch aus sportsoziologischer Sicht nehmen das monotone Laufen und Joggen eine besondere Rolle ein. Bartmann 151 zeigt die vielfältigen positiven Auswirkungen auf die psychische Stabilität auf: Laufen und Joggen verbessert das Selbstwertgefühl, Coping, Konzentrationsfähigkeit, geistige Leistungsfähigkeit und seelisches Wohlbefinden. Durch den bewussten Entschluss zum Laufen - so Bartmann - übernimmt derjenige Verantwortung für sich, gewinnt Handlungskompetenz 152 und akzeptiert, etwas für sich zu tun. 153 Wissen ∣ Lösungsorientierung Die Heranwachsenden lernen ein lösungsorientiertes Vorgehen und werden für einen Perspektivwechsel sensibilisiert. 154 Ein ganz kurzer Exkurs in die Entwicklungspsychologie ist deshalb interessant, weil sich im Übergang vom Jugendalter zum jungen Erwachsenenalter die Denkstrukturen - vom hypothetischen zum pragmatischen Denken verändern. Labouvie-Vief (1980, 1985) legt in seiner Theorie dar, dass dieser Fortschritt dazu führt, dass junge Menschen besser in der Lage sind, Probleme konstruktiv zu lösen und Widersprüche zu erkennen. 155 Über Schwächen angstfrei reden zu können und gleichzeitig nach Lösungen zu suchen, stärkt ein selbstreflexives und strukturiertes Bewältigen von Problemen. Ein Jugendrichter beobachtet, dass 150 Teichert u.a., 2015, S. 13 151 2005, S. 72 152 „Der Begriff Handlungskompetenz bezeichnet Potenziale, über die eine Person verfügt und die notwendig sind, um komplexe und bedeutende Aufgaben zu bewältigen.“ (Heiner, 2010, S. 12) 153 Teichert u.a., 2015, S. 5 154 Teichert u.a., 2015, S. 13 155 Vgl. Berk, 2011, 612 120 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit O-Ton ∣ „…während des Arbeitsweges die Heranwachsenden nicht nur teilweise in Richtung der Grenzen ihrer körperlichen Belastungsfähigkeit geführt wurden, sondern zudem über den Tag verteilt in vielen Einzelaber auch Gruppengesprächen bzw. -sitzungen ihre eigene Situation reflektiert haben und ihnen für die Zukunft Lösungsansätze zur Problembewältigung aufgezeigt wurden. Sie lernten auch, ihre Schwächen zu kommunizieren und Lösungsansätze zu bearbeiten.“ 156 Die Herausnahme aus dem gewohnten Umfeld O-Ton ∣ „War zum Kotzen. Wollte es nach einer Stunde aufgeben.“ (Aussage eines Teilnehmers) Der Arbeitsweg beginnt Katharina von Siena sagte einmal: „Nicht der Beginn wird belohnt, sondern einzig und allein das Durchhalten.“ Es ist Montag. Werden alle Heranwachsenden zum richterlich angewiesenen Arbeitsweg kommen? Vorher gibt es keinen Kontakt zwischen dem/ der Trainer*in und den Heranwachsenden. Einzig und allein wird eine Liste mit Utensilien für Arbeitsweg weitergegeben. Sven Enger spricht von einer beabsichtigten Informationsarmut. Der/ die Trainer*in übernimmt die Heranwachsenden von der Jugendgerichtshilfe an einem zentralen Ort in der Dresdner Heide. Es erfolgen Belehrungen und eine klare Verständigung über die Regeln und Sanktionen. Sven Enger sagt: „Es gibt keine Verwarnung, es gibt keine gelbe Karte, es gibt immer nur eine rote Karte.“ Ein einziger Regelverstoß bedeutet also Umkehren, das Verlassen der Gruppe und das Nichterfüllen der richterlichen Weisung. Jeder muss selbst die Verantwortung für sein Verhalten und die daraus folgenden Konsequenzen übernehmen. Wissen ∣ Biografische Auszeit Die Heranwachsenden erfahren eine „biografische Auszeit“ durch eine episodische Herausnahme aus ihrem gewohnten Umfeld, was einen symbolischen Umbruch darstellen kann. 156 Teichert u.a., 2015, S. 13 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 121 Es geht los: 20 Kilometer Wegstrecke liegen vor den Heranwachsenden. Sven Enger meint: „Die Herauslösung der Heranwachsenden aus ihren gewohnten Milieus stellt eine grundlegende Idee des Projektes dar, mit der beabsichtigt ist, die jungen Menschen mit einer neuen Umgebung und einem anregenden und sicher auch irritierenden Umfeld zu konfrontieren und damit Raum für neue Impulsen, Reize und Perspektiven zu bieten. Die Herauslösung bezieht sich nicht nur auf das räumliche Umfeld, sondern ist auch im Kontext der Auseinandersetzung mit anderen Gruppenmitgliedern und klaren Regularien für die gemeinsame Zeit zu betrachten.“ 157 O-Ton ∣ „Mich wundert es, dass ich in dieser Umgebung so viel nachdenke. Dinge, die z.B. private Beziehungen angehen, oder auch Dinge, die mich angehen. Das zu viele Nachdenken bringt mir, ehrlich gesagt, nur begrenzt etwas, denn ich komme immer bei einem bestimmten Thema heraus, das ich nicht allein bewältigen kann, […].“ (Aussage eines Teilnehmers) Für einen Sozialarbeiter eines Freien Trägers sollen „die Teilnehmer (5 Tage) aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld und Rollenverständnis herausgehoben werden. Während dieser Zeit sollten sie sich in einer vollkommen neuen Umgebung und einem ungewohnten Alltag u.a. mit folgenden Fragen beschäftigen: Wo komme ich her? Wo stehe ich gerade? Wo will ich hin? “ 158 Die räumliche Entfernung ist ein großer Vorteil, so ein Sozialarbeiter eines Freien Trägers. Er erklärt: „Dies bietet zum einen die Möglichkeit für die Teilnehmer sich symbolisch von ihrem alten Leben zu entfernen, […]. Zum anderen erschwert es den Teilnehmern einen vorzeitigen Abbruch der Maßnahme.“ 159 Für einen Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe ist die fünftägige Herausnahme aus dem eigenen Umfeld eingriffsintensiv: „Die gewohnte Lebenswelt war für eine Woche ausgeblendet, andere Gedanken hatten Platz, Anstrengungen waren zu bewältigen, manche Schwächen zu überwinden.“ 160 Allerdings können sich neue Möglichkeiten und Lernchancen eröffnen. Ein Jugendamtsleiter stellte fest, dass einige Heranwachsende „zuvor nie aus dem Stadtgebiet Dresden herausgekommen sind. Und dass hat mich schon stark beeindruckt und da kann ich mir ungefähr vorstellen, was in Jugendlichen vorgeht, und 157 Sächsische Jugendstiftung, 2016, S. 13 158 Teichert u.a., 2015, S. 13 159 Teichert u.a., 2015, S. 11 160 Vgl. Lernzonenmodell nach Wygotski 122 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit wenn jetzt so ein Angebot kommt und vielleicht darüberhinausgehend noch andere Möglichkeiten eröffnet werden, und auf der anderen Seite, wie begrenzt dann doch der Horizont nur sein kann […].“ 161 Böhnisch 162 macht darauf aufmerksam, dass gerade die „Milieubindung und Milieustrukturen“ intensiv durch „intersubjektive biografische und räumliche Bezüge und Erfahrungen“ charakterisiert sind und gleichermaßen geprägt sind durch starke Emotionen. Böhnisch und Schröer 163 operationalisieren die Bewältigungslage und unterscheiden vier Dimensionen, die jeweils eine Seite der Chance als auch eine Seite der Verwehrung beinhaltet:  Abhängigkeit  Ausdruck  Anerkennung  Aneignung Es ist nicht nur interessant, sondern auch unumgänglich, diese vier Dimensionen anhand des Arbeitsweges und der Heranwachsenden, die daran teilnehmen, zu erläutern: Die Abhängigkeit wird beschrieben als Bewältigungslage, bei der die Heranwachsenden die Erfahrung machen, selbstbestimmt zu handeln, wie beispielsweise das Lauftempo selbst zu bestimmen; das Dilemma, über das sie sprechen wollen, festzulegen, oder auch, die richterliche Weisung zu erfüllen oder abzubrechen. Die andere Seite ist das eingeschränkte Handeln, d.h. sie dürfen keine Handys verwenden und auch keinen Alkohol trinken. Die Regeln stehen fest. Der Ausdruck ermöglicht das Mitteilen der Betroffenheit, d.h. die Heranwachsenden dürfen sich über persönliche Probleme äußern, ohne sich abspalten zu müssen. Die Anerkennung meint die soziale Einbindung und Integration der Heranwachsenden in den normalen Ablauf in den Pilgerherbergen. Aneignung heißt, dass sich die Heranwachsenden sozial beteiligen können in der Umwelt, z.B. durch das Ableisten der gemeinnützigen Arbeitsstunden. 164 O-Ton ∣ Die Heranwachsenden erwerben Selbstorganisationsvermögen bei lebensnahen und alltäglichen Aufgaben. 165 (Aussage Jugendamtsleiter) 161 Teichert u.a., 2015, S.27-28 162 2016, S. 13 zitiert nach Füssenhäuser, 2018, S. 158 163 2013, S. 48-55 zitiert nach Füssenhäuser, 2018, S. 158 164 Ebd. 165 Teichert u.a., 2015, S. 13 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 123 O-Ton ∣ „Gelernt habe ich etwas über das Pilgern im Allgemeinen, […] und dass ich für 100 Meter 110 Schritte benötige.“ (Aussage eines Teilnehmers) Der Alltag der Heranwachsenden ist durch ganz bestimmte Normen und Werte bestimmt. Das lebensweltorientierte (theoretische) Konzept nach Hans Thiersch 166 zeigt auf, dass „Jugendhilfe […] sich nicht hinreichend damit [konfrontiert], wie sich die Lebensverhältnisse und -schwierigkeiten in den heutigen gesellschaftlichen Strukturen und in der unmittelbaren Erfahrung derer, mit denen sie arbeitet, darstellen.“ 167 Thiersch 168 weist darauf hin, dass sich lebensweltorientierte Jugendhilfe auf die Strukturen der heutigen Lebenswelt bezieht und auf die Ungleichheiten und auch dass sie Menschen Unterstützung anbietet, „die in unserer Gesellschaft mit den gegebenen Ressourcen nicht zurechtkommen, die am Rand leben. Grundlage des Konzeptes „Arbeitsweg“, so ein Jugendrichter, „ist es nämlich, die Heranwachsenden unter Anleitung alle diese Aufgaben erfüllen zu lassen, die zum täglichen Leben gehören, wie Bettbauen, Essen zubereiten […].“ Ein Sozialarbeiter eines Freien Trägers fügt noch hinzu: „Zusammenfassend geht es darum, die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmer zu fördern und sie zu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten.“ Der Arbeitsweg begünstigt und fördert Verantwortungsbewusstsein und Selbstwirksamkeit. Ein Verweis auf Banduras Theorie der Selbstwirksamkeit (self-efficacy, 1977) zeigt auf, dass die Heranwachsenden selbst davon überzeugt sein müssen, eine gewünschte Handlung erfolgreich aufgrund eigener Kompetenzen auszuführen. Das problematische Verhalten der Heranwachsenden, welches zu dieser Situation geführt hat, bezeichnet Thiersch 169 „als Verhärtung, als Zuspitzung von allgemeinen Lebensproblemen“. „Lebensweltorientierte Jugendhilfe zielt auf Nichtabsonderung, Nichtisolation, also auf Integration.“ 170 Thiersch charakterisiert den Alltag „als sozialwissenschaftliches Konzept“ 171 . Alltag ist nur in „biografischen, sozialen und gesellschaftlichen Kontexten“ 172 zu verstehen. „Trotz aller Brüche und aller Vermittlungsarbeit bezieht Alltag sich aber immer auf das für die Be- 166 Das Konzept einer lebensweltorientierten Jugendhilfe fand seinen Niederschlag im 8. Kinder- und Jugendhilfebericht 1990. (vgl. Thiersch, 2014, S. 15) 167 Thiersch, 2014, S. 17 168 2014, S. 24 169 2014, S. 28 170 Thiersch, 2014, S. 30 171 Thiersch, 2014, S. 40 172 Füssenhäuser, 2018, S. 152 124 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit troffenen Eingespielte. Diese Selbstverständlichkeit aber gilt nur für die je Beteiligten und bleibt anderen verschlossen, unzugänglich; Selbstverständlichkeit und Zugänglichkeit sind nicht identisch, können sich ausschließen. Will ich den anderen in seiner Alltäglichkeit verstehen, muß ich aus meiner Alltäglichkeit ausbrechen. - Zur Rekonstruktion der Alltäglichkeit anderer werden deshalb Erfahrungen der kritischen Ethnographie beigezogen (B. Müller 1986). Der kritische Impuls einer alltagsorientierten Sozialpädagogik liegt gerade darin, die Unterschiedlichkeiten zwischen der professionellen Alltäglichkeit und der der Adressaten deutlich zu machen und zu dem schwierigen und mühsamen Respekt vor Anderem, Fremden zu nötigen.“ 173 Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass gerade solche Arbeitsfelder, wie z.B. Straßensozialarbeit oder auch (mobile) Jugendarbeit geringere finanzielle Ressourcen aufweisen. 174 Neue Begegnungen - ein neuer Umgang O-Ton ∣ „Man sollte Menschen nicht verurteilen, denn jeder Mensch ist gleich, nur hat jeder etwas anderes erlebt.“ (Aussage eines Teilnehmers) Das Projekt Arbeitsweg, so Sven Enger, sieht „in der Berührung und Begegnung unterschiedlicher Lebensentwürfe […] die Chance, inspirierender und impulsgebender Begegnungen. Die Interaktionen beziehen sich nicht nur auf die Beziehung in und zur Gruppe und den Pädagogen, sondern auch auf den Kontext von Begegnungen in den Herbergen sowie mit den Menschen und Lebensentwürfen, denen sie auf der Strecke begegnen.“ 175 Wissen ∣ Begegnungen und Wertschätzung Der vorurteilsfreie Umgang mit anderen Menschen und die dabei erfahrene Wertschätzung hilft den Heranwachsenden, ihr meist negatives Selbstkonzept zu bearbeiten. Pilgerreisende erleben vielfältige neue und unvorhergesehene Begegnungen. Diese Begegnungen tragen zu einem positiven Rollenbild bei. 173 Thiersch, 2014, S. 42-43 174 Vgl. Thiersch, S. 24 175 Sächsische Jugendstiftung, 2016, S. 13 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 125 Eine Auseinandersetzung mit der Etikettierungstheorie - Labeling Approach 176 - ist notwendig. Es geht in dieser Theorie um die „gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesse“ 177 gegenüber den straffällig gewordenen (jungen) Menschen, die vor allem „in Interaktionen konstituiert werden“. 178 Interaktionen erfolgen in der sozialen Umwelt beispielsweise mit den Eltern, mit Gleichaltrigen, mit Mitschüler*innen, mit Lehrer*innen, mit Nachbar*innen oder mit Personen aus Freizeitvereinen und auch mit Institutionen sozialer Kontrolle, wie beispielsweise die Schule, Behörden, die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Gerichte oder die Jugendhilfe (im Strafverfahren). Die soziale Umwelt und auch die Institutionen sozialer Kontrolle können derartige negative Zuschreibungsprozesse fördern (z.B. „Krimineller“, „Drogendealer“). Stigmatisierungen haben zur Folge, dass Heranwachsende, die von der Umwelt zugeschriebene negative Rolle mit in ihr Selbstkonzept aufnehmen, und dass sich dadurch eine kriminelle Karriere verstärken könnte. Albrecht 179 weist darauf hin, dass „gerade Jugendliche [.] sensibel [reagieren] auf entsprechende Zuschreibungsprozesse, da sie sich in einer Übergangsphase befinden, in der sie ihre Identität herausbilden und mitunter problematische Verhaltensstrategien erproben.“ Neue (auch unvorhergesehene) Begegnungen in neuen sozialen Umfeldern, die konkurrierende Sichtweisen vertreten, können zu einem neuen Rollenverständnis und zu einer Neubewertung des Selbstkonzeptes positiv beitragen. Die sich entwickelte negative zugeschriebene Rolle kann dadurch wieder in Frage gestellt werden und helfen, die eigenen Stärken zu erkennen und sich selbst neu zu definieren. O-Ton ∣ „Hier sind unvorhergesehene Begegnungen mit anderen Menschen möglich, die den Teilnehmern weitestgehend vorurteils- und wertfrei gegenüber auftreten. Dadurch haben die Teilnehmer die Möglichkeit, alternative Lebensansichten und Handlungsweisen kennenzulernen und die Gelegenheit, sich zudem mit ihrem eigenen Rollentypus auseinanderzusetzen.“ (Aussage Mitarbeiter Freier Träger) 180 O-Ton ∣ „[…] durch die Buntheit der Gäste, die zu uns kommen, bilden sich jeden Tag immer wieder neue 176 Vgl. Tannenbaum (1938, Lemert (1951)) 177 Ecarius & Eulenbach & Fuchs & Walgenbach, 2011, S. 180 178 Becker, 1973 zitiert nach Ecarius & Eulenbach & Fuchs & Walgenbach, 2011, S. 180 179 2010, S. 862 zitiert nach Ecarius & Eulenbach & Fuchs & Walgenbach, 2011, S. 181 180 Teichert u.a., 2015, S. 12 126 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Begegnungsmöglichkeiten und -situationen.“ (Aussage Mitarbeiter Pilgerherberge) 181 Meads Rollentheorie (1973) geht davon aus, dass sich die Persönlichkeit und das Selbst durch die Interaktionen mit anderen und durch entsprechende Rückmeldung bildet (Selbstbild und Fremdbild). Soziales Handeln findet über Interaktionen mit einem „gemeinsamen Symbolsystem“ 182 statt. Durch das gleiche Symbolsystem können wir uns in die Lage der anderen gut hineinversetzen und auch umgekehrt. Mead spricht hier von einer (wechselnden) Rollenübernahme verschiedener Personen. Dadurch „wird die Fähigkeit zur Verhaltensantizipation entwickelt“. 183 Verschiedene Einstellungen sowie das Werte- und Normensystem der Gesellschaft werden wahrgenommen und auch verinnerlicht. Goffman (1967) stellt die „Herausbildung von (nur vom Subjekt selbst erfahrbarer) Ich-Identität [.] als einen beständigen Prozess, als eine immer wieder in sozialen Interaktionen, neu zu erbringende Leistung“ heraus. 184 Menschen haben persönliche biografische Erfahrungen und soziale Erfahrungen. Goffman spricht von einer personalen und sozialen Identität. Im Alltag werden demnach die eigenen und die Erwartungen anderer aufeinander bezogen. 185 Das Aufeinandertreffen verschiedener Einstellungen und Lebenswelten fördert Akzeptanz Der intensive Kontakt beim Arbeitsweg zu den anderen Gruppenmitgliedern und gleichermaßen die unterschiedlichen Begegnungen, vor allem hierbei die Erfahrungen und das Feedback, helfen, dass eigene Konzept zu überprüfen und gegebenenfalls darüber nachzudenken, andere Einstellungen und Verhaltensweisen auszuprobieren. Beim Arbeitsweg lernen die Heranwachsenden ebenso, sich an die „Spielregeln“ in der Gruppe zu halten. Die unterschiedlichen Einstellungen und auch Lebenskonzepte der einzelnen Gruppenmitglieder und auch der Menschen, denen die Heranwachsenden auf dem Pilgerweg oder in den Herbergen begegnen, werden gebilligt. So schildert ein Jugendamtsleiter, dass die Gruppe aus Heranwachsenden mit z.B. Migrationshintergrund und auch aus Heranwachsenden mit unterschiedlichen politischen Denkweisen besteht. 181 Teichert u.a., 2015, S. 17 182 Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 49 183 Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 49 184 Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 50 185 Vgl. Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 50 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 127 O-Ton ∣ „Also ich habe hinterher erfahren, dass einer aus der Gruppe äh einen Migrantenhintergrund hat, und dass ein anderer einen rechtsradikalen Hintergrund hatte. Und das war in der Stunde, und dass hat mir auch die Kollegin der Jugendgerichtshilfe bestätigt, nicht zu spüren. Die sind dort also, in dieser Woche, gut miteinander ausgekommen, konnten gut miteinander arbeiten, und ich denke, alleine das ist schon bemerkenswert.“ (Aussage Jugendamtsleiter) Diese Stereotypen des Alltags rücken bei diesem Projekt zunächst in den Hintergrund, während das Schaffen der Wegstrecke und der Arbeitsstunden und somit die Erfüllung der richterlichen Weisung als gemeinsames Ziel vordergründig werden. Interessant dabei ist die Feststellung eines Sozialarbeiters von einem Freien Träger. Beim Arbeitsweg „[.] kann man [Konflikten] nicht aus dem Weg gehen, sondern ist gezwungen, entweder unangenehme Situationen auszuhalten oder nach geeigneten Lösungsmöglichkeiten zu suchen.“ 186 Es lässt sich gleichermaßen vermuten, dass auch bestimmte Bedingungen - wie der neue Umweltkontext - das Lernen und eine konstruktive Auseinandersetzung mit Problemen oder Konflikten begünstigen. Auch Verhaltens- und Handlungsweisen können „angepasst“ werden. So beobachtete der Jugendamtsleiter, dass er „vom ersten Moment an auch bis zum Ende des Weges […] nicht das Gefühl [hatte], dass es sich um straffällig gewordene Jugendliche handelt.“ 187 Moralische Bildung und Kompetenzerwerb - Schaffen geeigneter Lernfelder Es wird Abend und endlich kommen alle in der Pilgerherberge an. Die Nutzung traditioneller Pilgerwege und die kooperative Einbindung von Pilgerherbergen in das sozialpädagogische Konzept ist für die Arbeit mit Heranwachsenden, die straffällig geworden sind, sehr bedeutsam. Zum einen sind es die Orte, an denen Heranwachsende, die straffällig geworden sind, ganz konkret ihre vom Gericht verordneten gemeinnützigen Arbeitsstunden ableisten müssen, zum anderen sind es die Orte, an denen junge Menschen gänzlich anderen Lebensentwürfen intensiv begegnen und somit auch ihren eigenen Lebensentwurf reflektieren können. 186 Teichert u.a., 2015, S. 17 187 Teichert u.a., 2015, S. 17 128 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Am Montagabend findet eine Bildungseinheit zu den „Lebensmaximen“ statt. Dazu erhalten die Heranwachsenden ein Aufgabenblatt mit vorgegebenen Handlungsmaximen. Der/ die Trainer*in erläutert den Begriff Maxime 188 und legt dar, dass es Situationen sind, die einen unangenehm berührt haben oder auch bei denen man gegen etwas verstoßen hat. Es werden allerdings ganz bewusst keine Beispiele genannt, weil jeder andere Betrachtungsweisen hat. Es gibt drei Bearbeitungsregeln:  Die Maxime, die sie ganz persönlich vollkommen anspricht, wird wahrscheinlich nicht dabei sein.  In Ruhe lesen und entscheiden, welche man nehmen möchte.  Für sich allein entscheiden, sich nicht untereinander absprechen. Lebensmaxime Wählen Sie in der nachfolgenden Aufzählung bitte die Maxime, die am besten zu Ihnen passt und markieren Sie diese mit einem Kreuz. (Es darf nur eine Aussage angekreuzt werden.) „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! “ „Was du nicht willst, dass man dir tu, dass füg' auch keinem andern zu! “ „Handle nur nach der Maxime, von der du wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz wird! “ „Macht ist Recht! “ „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ „Eine Hand wäscht die andere! “ Begründen Sie Ihre Wahl auf der Rückseite des Blattes. Bei Bedarf dürfen Sie auch gern Ihre ganz persönliche Maxime in diesem Zusammenhang mit anführen. Abschließende Aufgabe: Bitte versuchen Sie bis zum morgigen Abend Ihre ganz persönliche Lebensmaxime aufzuschreiben. Danke! Abb. 6: Arbeitsblatt „Lebensmaxime“ 188 Maxime sind Lebensregeln bzw. ein subjektives praktisches Prinzip, welches ein Lebensmotto ausdrückt. Ein gutes Beispiel wären hier die drei Musketiere: Einer für alle, alle für einen. Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 129 Wissen ∣ Das Denken unterstützen Bildungseinheiten und ein ganzheitlicher Ansatz können das Denken jedes einzelnen Heranwachsenden unterstützen. Nach Piaget (1967) verändern sich die Denkstrukturen im Übergang zum jungen Erwachsenenalter. Laut Perrys Theorie der epistemischen Kognition 189 verändern junge Menschen ihr Denken nämlich vom dualistischen zum relativistischen Denken. Allerdings ist es notwendig, dass entsprechende Kontexte und Begegnungen geschaffen werden, um derartige Denkprozesse zu fördern. Durch die Bildungsangebote und durch das Auseinandersetzen mit ganz verschiedenen Themen, durch die Besuche in den Pilgerherbergen und durch die Begegnung mit unterschiedlichen Menschen werden Heranwachsende dazu angeregt und angeleitet, ihren Wissenshorizont zu erweitern und sie sind auch durch eine professionelle Anleitung durch den/ die Trainer*in in der Lage, konstruktiv zu diskutieren und zu reflektieren. O-Ton ∣ „[…] [Der Projektleiter] versucht dann zwischendurch soziale Kompetenzen zu fördern und ich sehe da einen Bildungsauftrag mit drin.“ (Aussage Jugendrichter) O-Ton ∣ „Darüber hinaus fanden Bildungseinheiten statt, welche sowohl auf dem Weg als auch an den Abenden durchgeführt wurden.“ (Aussage Mitarbeiter Freier Träger) O-Ton ∣ „Als Haus der Erwachsenenbildung bieten wir für eine Vielzahl verschiedener Teilnehmender zahlreiche Kurse und Weiterbildungsveranstaltungen an. Dabei sind die angebotenen Seminare offen ausgeschrieben und laden zu einer Teilnahme an Bildungsangeboten ein.“ (Aussage Mitarbeiter Pilgerherberge) 190 Obgleich der Arbeitsweg im Gruppenkontext stattfindet, so ist das Konzept auf eine individuelle Förderung jedes einzelnen Heranwachsenden ausgerichtet. Das heißt, der Arbeitsweg verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der jeden jungen Menschen im Kontext seiner persönlichen Lebenserfahrung und Lebenswelt begreifen soll. Ein Jugendrichter betrachtet diese Bildungseinheiten „[…] als einen wichtigen Beitrag für junge Menschen zur Persönlichkeitsbildung.“ Basierend auf dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise werden Heranwachsende „bei ihrer 189 Vgl. Berk, 2011, 610 190 Teichert u.a., 2015, S. 14 130 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Persönlichkeitsfindung und -bildung [unterstützt]. Der Arbeitsweg, so der Jugendrichter, leistet „dabei auch einen wichtigen Beitrag im Sinne der Kriminalprävention.“ „Die pädagogische Herausforderung“ - so ein Sozialarbeiter eines Freien Trägers 191 - besteht demnach darin, „für jeden Teilnehmer entsprechend seines Niveaus geeignete Lernfelder zu schaffen, in denen er „Charakter“ zeigen [kann]. Im Alltag des Arbeitsweges ergeben sich dazu immer wieder geeignete Situationen.“ Wissen ∣ Transfer in den Alltag Die sozialpädagogischen Bildungsangebote dienen auch einer möglichen Vorbereitung auf einen Transfer in den Alltag. Bereits gewonnene Erfahrungen werden durch gezielte Bildungsangebote verstärkt. Die Bildungseinheiten gestaltet der/ die Trainer*in so, dass sich die Heranwachsenden entsprechend gefordert fühlen. Durch gemeisterte persönliche Herausforderungen werden Selbstwirksamkeitsprozesse unterstützt und Erkenntnisse gewonnen. Im besten Fall werden diese Erkenntnisse durch einen Transfer zukünftig auch im alltäglichen Leben abrufbar sein. Eine Mitarbeiterin vom Freien Träger stellte fest, dass die Heranwachsenden „die Inhalte gut verstanden [haben]. Durch jede Einheit […] wurden sie gefordert, aber nie überfordert.“ Eine Mitarbeiterin vom Jobcenter weist auf den Transfer in den Alltag hin: „Diese Prozesse werden durch Bildungsangebote unterstützt, um die während des Arbeitsweges gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen in den individuellen Alltag der Teilnehmer zu übertragen […].“ Auch unterwegs erfolgten unterschiedliche Bildungssequenzen. „Alle paar Kilometer erfolgte eine Pause, in der mit den Heranwachsenden sozialpädagogische Arbeit erfolgte, wie Reflektion der eigenen Person und Situation, gruppentherapeutische Übungen und musikpädagogische Spiele.“ (Aussage Jugendrichter) 191 Teichert u.a., 2015, S. 15 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 131 Dienstag - Tag 2: Der Gesellschaft etwas wiedergeben - Soziale Arbeitsstunden und über Dilemmata diskutieren O-Ton ∣ „Der Morgen in der ersten Herberge war angenehm, nicht mal Schmerzen hatte ich. Das Arbeiten hat auch nicht wirklich gestört.“ „Habe ich dort Rasen gemäht und meine Laune war besser.“ (Aussage eines Teilnehmers) Ableistung von Arbeitsstunden in Form körperlicher Arbeit O-Ton ∣ „Es war cool gewesen. Die Leute in der Herberge waren voll nett zu uns, was ich eigentlich nicht gedacht hätte. Die Arbeit hat Spaß gemacht, aber am Ende war ich schon ein bisschen erschöpft und Sonnenbrand bekommen.“ (Aussage eines Teilnehmers) Am zweiten Tag verbleiben die Heranwachsenden in der Pilgerherberge. Dieser Tag steht unter dem Motto: Ableisten von Arbeitsstunden. Diese Arbeitsstunden werden in Form von körperlicher Arbeit (z.B. handwerkliche Tätigkeiten - Hausarbeit, Reparaturen, Sanierung, Garten-/ Waldarbeit) ausgeführt. Sven Enger meint: „Das wechselnde Anforderungsprofil zwischen Laufen, über Dilemmata nachdenken und Arbeitsstunden erlaubt zugleich kein Ausruhen. Es kann keine Komfortzone leicht eingenommen werden.“ Die gesetzlichen Rahmenbedingungen in Deutschland lassen es schwer zu, dass reines Pilgern ohne konkretes Ableisten gemeinnütziger Arbeit als richterliche Weisung anerkannt werden könnte. Pilgerherbergen bieten sich für die Ableistung dieser gemeinnützigen Arbeitsstunden regelrecht an. Sie sind in der Regel nicht kommerziell strukturiert und alle Arbeiten, die verrichtet werden, kommen der Allgemeinheit (und natürlich allen anderen Pilger*innen) zugute. Bei dem von der Sächsischen Jugendstiftung angebotenem fünftägigen Arbeitsweg sind zwei volle Arbeitstage vorgesehen. 132 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit An diesen beiden Tagen machen die Heranwachsenden verschiedene Erfahrungen: O-Ton ∣ „Heute war ein angenehmer Tag, arbeitsreich aber nicht zu anstrengend! Man konnte dabei sehr gut über alles nachdenken, was einem zu Hause gerade auf den Kopf fällt, teilweise auch über mögliche Lösungen […].“ (Aussage eines Teilnehmers) Heute verändert sich die Anforderung. In diesem Tag wird nicht gelaufen. Das bedeutet zum einen, dass junge Menschen, denen das Laufen schwerfällt, die Chance erhalten, durch eine entsprechend gute Arbeitsleistung ihr persönliches Erfolgserlebnis zu erreichen. Zum anderen bedeutet es für alle Heranwachsenden einen Erholungstag vom Laufen. Es gibt kaum Heranwachsende, die weite Strecken vorher gelaufen sind. Letztendlich wird an diesem Tag den jungen Menschen sehr erfahrbar vor Augen geführt, was die richterliche Weisung bedeutet. Denn anders als beim Pilgern arbeiten die begleitenden Sozialarbeiter*innen nicht mit. Was auf den ersten Blick von den meisten jungen Menschen als ungerecht wahrgenommen wird und nicht selten zu der Frage führt: „Warum dürfen Sie sich heute ausruhen? “ Was mit dem einfachen Satz zu beantworten ist: „Da wir keine richterlichen Stunden leisten müssen.“ Diese Antwort wirkt auf den ersten Blick ein wenig boshaft. Sie verdeutlicht allerdings auch unmissverständlich, was richterliche Weisungen letztendlich bedeuten. Ein anderer, hier der Jugendrichter, entscheidet fremdbestimmt, was zu tun ist. Auf diesem Weg kann ein leicht nachzuvollziehendes und fühlbares Abbild der momentanen Lebensrealität erzeugt werden. Der/ die Trainer*in hält sich an diesem Tag eher im Hintergrund und greift nur bei Folgendem ein:  bei Arbeitsverweigerung,  bei Notfällen und  bei absoluten Überforderungssituationen. Die jungen Menschen werden vollständig in die Arbeitsabläufe der Pilgerherberge eingebunden und von den Herbergseltern bzw. Angestellten an diesem Tag begleitet. Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 133 O-Ton ∣ „[…] die den jungen Menschen die Gelegenheit bieten, ihre Arbeitsstunden sinnvoll abzuleisten. Insbesondere aufgrund des weitläufigen Geländes mit dazugehörigem Park gibt es eine Fülle von zu erledigenden Aufgaben.“ (Aussage Mitarbeiter Pilgerherberge) 192 Durch diese Form der intensiven Kooperation mit Pilgerherbergen wird die bereits erwähnte Begegnung mit anderen Lebensentwürfen ermöglicht. Auch wenn es hier einige Missverständnisse und Unplanbarkeiten gibt, ist das der Ort, in denen intensive Begegnung stattfindet und in denen sich gänzlich unterschiedliche Lebensentwürfe berühren. Wenn die richterliche Weisung zum Arbeitsweg erfüllt ist, so können die 60 auferlegten Arbeitsstunden anerkannt werden. Dafür muss der Heranwachsende an zwei Tagen in den Pilgerherbergen arbeiten und gemeinnützige Arbeit leisten. Wissen ∣ Motivation schaffen Der Erlass von 60 Arbeitsstunden in nur einer Woche motiviert die Heranwachsenden, die richterliche Weisung zu schaffen. Die Heranwachsenden haben ein großes Interesse daran, die auferlegten Sozialstunden so schnell als möglich abzuleisten, so ein Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe: „Als ich ihn auf den Pilgerweg hin ansprach, ob er denn diese Möglichkeit für sich in Anspruch nehmen würde, sagte er sofort zu, sicherlich auch mit dem Hintergedanken, dass er für diese Woche 60 Stunden anerkannt bekommen würde.“ 193 Das ausgewogene Verhältnis von extrinsischer Motivation, welches die richterliche Weisung ist, und intrinsischer (eigener) Motivation stellt eine ganz wesentliche Voraussetzung für das erfolgreiche Absolvieren dar. Wissen ∣ Selbstwirksamkeit und Wertschätzung Durch die integrierten und sinnvollen Arbeitseinheiten werden die Heranwachsenden produktiv tätig und erfahren Wertschätzung und Selbstwirksamkeit. Die Heranwachsenden werden vor unterschiedliche Herausforderungen gestellt, welche die Selbstwirksamkeit fördern und bei erfolgreicher Bewältigung gewinnbringend für die Persönlichkeitsentwicklung sind. 192 Teichert u.a., 2015, S. 14 193 Teichert u.a., 2015, S. 16 134 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Ein Mitarbeiter vom Freien Träger betont insbesondere, dass die Heranwachsenden etwas selbst geschafft haben, was in Erinnerung bleibt. Auch die zuverlässige und aktive Mitarbeit beeindruckte. O-Ton ∣ „Zudem bietet dieser Wiederaufbau [eines Denkmals] eine ideale Möglichkeit für die jungen Erwachsenen, dass sie ihre Arbeitsstunden ableisten, indem sie an etwas mitschaffen und aufbauen, was auch später noch erhalten sein wird und so einen Identifikationspunkt mit der geleisteten Arbeit bietet.“ „Ihre Jungs haben dabei tatkräftig mit angepackt, und viele Arbeiten schnell und zuverlässig ausgeführt.“ (Aussage Mitarbeiter Freier Träger) Ganz sicher hängt diese Arbeitsmotivation mit dem Kontext der Pilgerherbergen und mit Tätigkeiten zusammen, die die Heranwachsenden so noch nicht gemacht haben: O-Ton ∣ „[…] da ging es um die Beräumung einer Bibliothek, eine Arbeit, die erst einmal vorderhand nicht so spannend ist, aber wo ich das Gefühl hatte, dass die Jugendlichen auch Respekt vor ihrer eigenen Leistung gekriegt haben.“ (Aussage eines Jugendamtsleiters) 194 O-Ton ∣ „Der menschliche Körper und Geist ist nicht aus Watte.“ (Aussage eines Teilnehmers) „Also die Menge der Arbeitsgänge, die dann notwendig waren zum Beräumen; das war glaube ich dann doch ziemlich heiß in der Woche, das hat sie schon beeindruckt und ähm da sind nicht nur die Arme ein Stück länger geworden, sondern auch gesteigerter Blutdurchfluss hat auch so manche Überlegung in Gang gesetzt. Das ist deutlich geworden indem, der Gesprächsphase, die ich da die letzte Stunde hatte.“ (Aussage eines Jugendamtsleiters) 195 194 Teichert u.a., 2015, S. 18 195 Teichert u.a., 2015, S. 18 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 135 Ein Leiter der Jugendgerichtshilfe betont insbesondere eben auch die Chance, die die Heranwachsenden durch den Arbeitsweg erhalten und durch die sie gleichermaßen an Selbsterfahrung gewinnen. Nicht zuletzt wirkt sich sinnvolle Arbeit, die schaffbar und auch sichtbar ist, positiv auf das Selbstwertgefühl der Heranwachsenden aus. O-Ton ∣ „[…] dass besonders junge Heranwachsende in schwierigen Lebenssituationen zum einen die Möglichkeit erhalten sollten, ihre gerichtliche Auflage an gemeinnütziger Arbeit zu bewältigen und zum anderen in Form eines speziellen mobilen sozialen Trainings an Selbsterfahrung und Selbstwert zu gewinnen.“ (Aussage Leiter Jugendgerichtshilfe) 196 Nicht zu unterschätzen ist hier die Erfahrung, dass die Heranwachsenden eine Erfüllung in der gemeinnützigen Arbeit finden und auch feststellen, welche Fähigkeiten man selbst besitzt. Der Jugendamtsleiter weist auch darauf hin, dass das Projekt eben auch eine gute Abwechslung an Arbeit bietet und sich die Heranwachsenden auch ausprobieren können: „[…] wir haben […] in Durchführung des Projekts natürlich die Möglichkeit in der Auswahl von äh Tätigkeiten im Bewältigen des täglichen Lebens, dieser sechs, sieben Tage, natürlich zu variieren, den Bedürfnissen, den Erfordernissen gerecht zu werden und das Projekt [...] abwechslungsreich äh zu gestalten.“ Haben die Heranwachsenden den Arbeitstag geschafft, findet am Abend die nächste Bildungseinheit statt. 196 Teichert u.a., 2015, S. 13-14 136 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Eine Auseinandersetzung mit eigenen Dilemmata Die Heranwachsenden diskutieren am Abend über das bekannte „Heinz-Dilemma“ 197 und über eigene Dilemmata. Das Heinz-Dilemma wird zur Beurteilung vorgelegt. Dabei wird Pro und Kontra diskutiert. Das Heinz-Dilemma „Eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, lag im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 2000 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 20000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 10000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, dass seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: "Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen." Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft. Er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll. Sollte Heinz das Medikament stehlen oder nicht? “ 198 …………………………………………………………………………… Antworten Sie mit Ja oder Nein. ………………………………………………………………………………………………….. Begründen Sie Ihre Entscheidung auf der Rückseite dieses Blattes. Abb. 6: Arbeitsblatt: Das Heinz-Dilemma Eine ausführliche Darstellung der moralischen Bildung und Befragungsergebnisse zu unterschiedlichen Gruppen werden im → Kap. 2 aufgezeigt. Nichtsdestotrotz soll an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass die Bildungsangebote einer professionellen Begleitung bedürfen. 197 Kohlberg entwickelte durch seine vielfältigen Untersuchungen in Dilemmata-Situationen ein „Beurteilungs- und Auswertungsschema, welches aus drei Ebenen mit jeweils zwei Stufen, insgesamt sechs Stufen besteht. (Ausführungen dazu in Kron, 2009, S. 204-205) 198 Stangl, W. (2019). Das Heinz-Dilemma. [werner stangl]s arbeitsblätter https: / / arbeitsblaetter.stangltaller.at/ MORALISCHEENTWICKLUNG/ KohlbergDilemmataHeinz.shtml (2019-04-30). Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 137 O-Ton ∣ „Die eingesetzten Methoden und Bildungsangebote, die sich an den theoretischen Grundlagen von Laurence Kohlberg und der von ihm erdachten „Plus1 Methode“ der moralischen Bildung orientieren, sowie der Einsatz einfacher pädagogischer Mittel als auch die erzielten Erfolge bei den Teilnehmern zeugen von einer professionellen Begleitung […].“ (Aussage Leiter Jugendgerichtshilfe) 199 Bei der Bearbeitung derartiger Aufgabenstellungen erhalten die Heranwachsenden die Möglichkeit, sich mit Normen und Werten auseinanderzusetzen, ohne das ihre eigene, zu einer gerichtlichen Verurteilung geführten Tat im Mittelpunkt einer Diskussion stehen muss. Die Bildungseinheit und die dazugehörige Mitarbeit sind für alle verpflichtend, denn moralische Bildung fördert eine Selbstreflexion auch bezüglich des eigenen moralischen Denkens, Urteilens und Verhaltens. Diese Auseinandersetzung dient dazu, dass junge Menschen lernen, mit Dilemmata umzugehen, beispielsweise, wenn es in Gruppen zu Aushandlungsprozessen kommt, was Regeln - denen Wertorientierungen zugrunde liegen - betrifft. Insbesondere legte auch Kohlberg immer wieder Wert auf Begründungen, weniger „auf die Wiedergabe des Inhalts.“ 200 Mittwoch - Tag 3: Sich wieder auf den Weg machen - 30 Kilometer Durchhalten O-Ton ∣ „Der längste und schwerste Tag. Die Aussicht war zweimal genial auf dem Hochstein, aber ab Kilometer 20 bis 25 tat mir alles weh und hatte ernsthaft vorgehabt, abzubrechen, doch meine Einzige gab mir Kraft und sprach mir gut zu. Das Einkaufen fand ich sinnlos, da sich die beiden Kasper Chips im Wert von 3 bis 4 Euro geholt haben und das Geld fehlt ihnen jetzt, logischerweise. Die Unterkunft fand ich toll.“ (Aussage eines Teilnehmers) 199 Teichert u.a., 2015, S. 19 200 Kron, 2009, S. 207 138 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit An diesem Tag sind 30 Kilometer Wegstrecke zur nächsten Pilgerherberge zu überwinden und der eigenverantwortliche Einkauf zu absolvieren. Die Heranwachsenden erhalten für unterwegs eine Denkaufgabe: Denkaufgabe ∣ „In welchem Dilemma stecke ich? “ Am Abend kochen die Heranwachsenden selbst gemeinsam in der Gruppe und es findet eine kurze Bildungseinheit statt, bei der die genannte Denkaufgabe besprochen wird. Extreme körperliche Anstrengung und physische Belastung überwinden O-Ton ∣ „Hab ich mir nix dabei gedacht. Habe mir nicht richtig vorgestellt, dass es so anstrengend wird. Am Ende der Strecke habe ich mich bloß gefragt „Wann sind mir endlich da? “ War erschöpft und die Füße haben wehgetan (war anstrengend).“ (Aussage eines Teilnehmers) Der Arbeitsweg lässt auch Freiräume für Fehler zu, so die Beobachtungen eines Jugendrichters: „[…] sollte […] jedoch in die falsche Richtung abbiegen, wurde dies nicht sofort berichtigt, sodass in einem Fall „aus erzieherischen Gründen“ auch ein Umweg heraussprang. Die Trainer meinten, dass die Jugendlichen wissen, wo sie hinmüssten. Da sind die Jugendlichen dann einen 2 Kilometer Umweg gegangen, weil sie das erst später bemerkten. Wir sind dann an der Kreuzung stehen geblieben und haben uns dort hingesetzt.“ 201 Wissen ∣ Nachhaltige Verhaltensänderung Der Lerneffekt für Einstellungs- und Verhaltensänderung ist umso effektiver und nachhaltiger, wenn emotionale, soziale und körperliche Komponenten möglichst gleichzeitig angesprochen werden. Der Arbeitsweg befördert, dass sich die Heranwachsenden „durchbeißen“ und die körperliche und soziale Herausforderung meistern: „[…] ich hatte schon das Gefühl, dass sie auch körperlich von der letzten Wegstrecke und der zurückliegenden Woche stark gefordert waren. 201 Teichert u.a., 2015, S. 17 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 139 Obwohl es keine schwächlichen jungen Menschen waren.“ (Aussage Jugendamtsleiter) Dieser Aspekt stärkt zudem die Körperselbstwahrnehmung und auch Selbstwirksamkeit. Ein Jugendamtsleiter nahm wahr, dass die Heranwachsenden auf das Geleistete sehr stolz waren: „Alle waren stolz darauf, die ungewohnten und erheblichen körperlichen und psychischen Anstrengungen des Weges bewältigt und das Projekt erfolgreich abgeschlossen zu haben. Ein Teilnehmer drückte seine Erfahrung so aus: „Man kann im Leben viel erreichen! ““ 202 Wissen ∣ Eingriffsintensiv Der Arbeitsweg wird subjektiv unterschiedlich als eingriffsintensiv wahrgenommen. Der für die Heranwachsenden lang andauernde Arbeitsweg mit den integrierten Arbeits- und Bildungseinheiten, ist körperlich und geistig sehr anstrengend. Die sozialpädagogische Arbeit zielt hier darauf ab, mit den Heranwachsenden andere als bisher angewandte Bewältigungsstrategien (Alkohol, Drogen, Straftaten) zu sensibilisieren. Aus derartigen Belastungen - wie sie im Arbeitsweg gemeistert werden - ergeben sich neue Lern- und Bewältigungsprozesse. Die Komplexität des gesamten Programms und die unterschiedlichen Anforderungen beinhalten belastende und herausfordernde Situationen. Ein Jugendrichter allerdings weist auf den eigentlichen Tagesablauf der Heranwachsenden hin, der solche Anstrengungen wahrscheinlich nicht beinhaltet: O-Ton ∣ „Das ist natürlich etwas Besonderes für sie. Aber was haben die meisten Jugendlichen für einen Tagesablauf? Normalerweise haben sie keinen Job und hängen durch bzw. hängen rum. Insofern ist es eingriffsintensiv, weil sie mal körperlich und vom Kopf her gefordert werden. Körperlich vielleicht sogar noch mehr.“ 203 Im Kontext der Körper- und Leiblichkeit stellt auch Bewegung im Allgemeinen einen wesentlichen Eckpfeiler der sozialpädagogischen Konzeption des Arbeitsweges dar. Neben den Aspekten der Körperlichkeit und des monotonen Gehens liegt in der Bewegung ein Betätigungsfeld, auf welchem oftmals mit einfachen Mitteln individueller Erfolg und Leistung, Selbstbestätigung und positive Gruppenerlebnisse mit Aner- 202 Teichert u.a., 2015, S. 18 203 Teichert u.a., 2015, S. 26 140 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit kennung verknüpft werden können, wie in wenigen anderen Bereichen.“ 204 Die Bedeutung des Sports in diesem Programm ist für den Jugendamtsleiter nicht von der Hand zu weisen: O-Ton ∣ „ Aber [...] die Erfahrung gehört einfach dazu und […] letzten Endes, wenn man es als sportliche Betätigung sieht. Zumindestens die Laufstrecke. Dann kann das natürlich auch sehr persönlichkeitsbildend sein für diejenigen, die bisher noch keinen Sport gemacht haben.“ 205 Die Eingriffsintensität ist daher abhängig von der subjektiven Wahrnehmung und der Qualität der Selbstreflexion, d.h. ob der Arbeitsweg als eine Belastung oder als Chance mit neuen Erfahrungen und Herausforderungen empfunden wurde. Gruppe als Medien für Durchhalten Laut König und Schattenhofer 206 bildet sich eine Gruppe über die direkte Kommunikation (face to face), über eine gemeinsame Aufgabe, über ein gemeinsames Ziel sowie durch eine gewisse gemeinsame zeitliche Dauer. Lewin 207 verweist auf die wechselseitige Abhängigkeit der Gruppenmitglieder, die als eine dynamische Ganzheit das soziale Kraftfeld vertritt. Wenn sich die Gruppenmitglieder mit der Gruppe identifizieren können, so ist es wahrscheinlich, dass sich die Gruppe zu einem Lernort für soziale Kompetenzen entwickelt. Wissen ∣ Herausforderung schweißen zusammen Durch extreme Herausforderungen kann sich eine Gruppe schnell bilden und entwickeln und in ihr jeder Einzelne. Heranwachsende sind öfter in Gruppen unterwegs, gestalten ihre Freizeit in Gruppen und kennen das Gefühl der Gruppenzusammengehörigkeit. Dennoch ist die Gruppe beim Arbeitsweg für jeden einzelnen Heranwachsenden zunächst fremd und gleichzeitig müssen sich alle recht schnell gemeinsam neuen und zugleich extremen Herausforderungen stellen. Dies eröffnet Chancen einer zügigen Gruppenbildung und 204 Sächsische Jugendstiftung, 2016, S. 13 205 Teichert u.a., 2015, S. 13 206 2007, S. 15 207 1963 in Wellhöfer, 2001, S. 7 zitiert aus Sächsische Jugendstiftung, 2015, S. 20 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 141 Gruppenkohäsion und fördert gleichzeitig gruppendynamische Prozesse. Auch die eigene Rolle wird plötzlich auf eine harte Probe mit anderen gestellt, so ein Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe: O-Ton ∣ „Während der Anreise ergibt sich für die Teilnehmer zudem die Gelegenheit der Kontaktanbahnung und der Gruppenbildung. Eine Gruppe, welche sich zusammen auf einen langen und beschwerlichen Weg macht, um an einem Projekt in einer für sie unbekannten Umgebung teilzunehmen, bietet die Möglichkeit zur Herausbildung einer guten Basis von Vertrauen und Offenheit. Darüber hinaus mussten sich die Teilnehmer bereits auf der Anreise mit anderen, ihnen unbekannten Menschen auseinandersetzen […]. Hierdurch musste das eigene bisherige Rollenverständnis aufgebrochen werden, um sich dieser neuen Situation stellen zu können.“ Wissen ∣ Durchhaltevermögen Das intensive Zusammenleben in einer Gruppe motiviert die Heranwachsenden durchzuhalten. Die Heranwachsenden beeinflussten sich durch die Intensität des Zusammenlebens (24 Stunden - rund um die Uhr) gegenseitig und motivieren sich, gemeinsam durchzuhalten. 208 O-Ton ∣ „Insbesondere das Zusammenwirken in der Gruppe war für manchen eine große Motivation zum Durchhalten.“ (Aussage Mitarbeiter Jugendgerichtshilfe) O-Ton ∣ „Im Vergleich zu längerfristig angelegten Maßnahmen bildet beim „Arbeitsweg“ die durchgängige Betreuung, ohne zeitliche Unterbrechung, eine Besonderheit. Erst einmal begonnen, kann man am nächsten Tag nicht einfach wegbleiben […].“ (Aussage Jugendgerichtshilfe) Den Arbeitsweg abzubrechen, wäre im Wettbewerb untereinander als Schwäche ausgelegt wurden. „Nein. […] Nein ich glaube das [Abbrechen der Maßnahme] wäre wahrscheinlich auch in dem Team als Schwäche ausgelegt worden. Also so ein Stück Wettbewerb spürt man ja da auch. Ich glaube, das ist noch eine Randerscheinung, dass man innerhalb der Gruppe dann eben sich Mühe gibt in Anführungszeichen.“ (Aussage Mitarbeiter Jugendamtsleiter). Der Eindruck eines Ju- 208 Vgl. Teichert, 2010, S. 107 142 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit gendamtsleiters war es zudem, „dass keiner versagen wollte oder zurückbleiben wollte“. Wissen ∣ Handlungskompetenzen erweitern Gruppendynamische Interventionen und das gemeinsame Bewältigen von Aufgaben ermutigt und erweitert die Handlungskompetenzen der Heranwachsenden. O-Ton ∣ „Diese gruppendynamische Übung und das jeder mitmachen muss. […] Da war jeder gefordert und jeder konnte mitmachen.“ (Aussage Jugendrichter) Gruppendynamische Aufgaben fordern von den Heranwachsenden eine neue Qualität Erfahrungen zu machen, kommunikative Fähigkeiten zu trainieren und andere Fertigkeiten auszuprobieren. Insbesondere auch die Auseinandersetzung mit Vortragsthemen am Abend bei den Bildungseinheiten ermöglicht einen Erkenntnisgewinn für alle (Zuhörer und Vortragenden) und ermutigt und fördert die Auseinandersetzung mit eigenen und anderen Einstellungen und Lebenswelten: O-Ton ∣ „Jeden Abend erhielten die Heranwachsenden eine Aufgabe, die sie […] am nächsten Tag der Gruppe vortrugen, ähnlich einem Kurzreferat in der Schule. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass […] der Erkenntnisgewinn für die Zuhörenden nicht unerheblich war.“ (Aussage Jugendrichter) Ein Jugendrichter fand zudem noch sehr interessant, dass die Heranwachsenden auch mal andere Dinge ausprobiert haben: O-Ton ∣ „Da waren Jugendliche, die sonst nie Musik gemacht hatten. […] Dann hat einer eine Melodie gespielt und die anderen haben mitgemacht und es kam ein richtiges kleines Musikstück zustande.“ Nicht zu unterschätzen ist bei gemeinsamen Interaktionen der gemeinsame und auch der ganz eigene Erfolg, so ein Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe: „Das Erlebnis einer erfolgreich absolvierten gemeinsamen Leistung und auch eines persönlichen Erfolges war jedem Teilnehmer ins Gesicht geschrieben.“ 209 Diese gemeinsamen Erfolge werden als gemeinsame Erlebnisse abgespeichert. 209 Teichert u.a., 2015, S. 21 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 143 Wissen ∣ Gruppendynamik Die Trainer*innen greifen ganz bewusst in die Gruppendynamik ein, wenn diese gefährdet erscheint. Die Trainer*innen beeinflussen das Rollenverhalten mit in der Gruppe, was entscheidend die Gruppendynamik und den Verlauf des Arbeitsweges beeinflusst. So werden die Heranwachsenden ermutigt, durch entsprechende Methoden aus markanten Rollentypen herauszutreten und sich in anderen Rollen auszuprobieren. Ein Jugendrichter beobachtete schnell das Rollenverhalten einzelner: O-Ton ∣ „Das war ja auch das Spannende, das man schon an dem einen Tag gemerkt hat bzw. man merkte es unheimlich schnell, wer die Leitfigur ist und wer hinterherrennt. Also wer den Ton angibt und wer hinterherrennt. Oder wer sich ein bisschen weghält und wer sich in den Vordergrund schiebt. [Der Projektleiter] hatte da sehr schöne Gruppenspiele.“ 210 Die Trainer*innen achten darauf - und das ist Bestandteil dieses Programms - auf eine Gleichheit der Selbstdarstellungsmöglichkeiten. O-Ton ∣ „[…] darauf geachtet, dass keiner der Heranwachsenden sich zu sehr in den Vordergrund schiebt bzw. sich nicht zu sehr zurückhielt.“ (Aussage Jugendrichter) Die gruppendynamischen Interventionen führen situativ zu einer selbstregulierenden Neuverteilung der Rollen. Dieses Rollenhandeln führt zu einem wechselseitigen Prozess. Hierbei kann es entweder zu einer einvernehmlichen Aushandlung der wechselseitigen Rollen kommen oder zum Abbruch der Kommunikation. 211 Dieser Interaktionsprozess trägt in jedem Fall zur Entwicklung der Persönlichkeit bei: O-Ton ∣ „Bis sie irgendwann gemerkt haben, dass derjenige, der sonst ein bisschen aktiver ist und den Ton angibt, sich zurückhalten muss. Während derjenige, der gar nichts macht, […], dann auch mitmachen muss, weil es ansonsten nicht weitergeht.“ (Aussage Jugendrichter). 210 Teichert u.a., 2015, S. 21 211 Vgl. Gudjons, 2012, S. 168 144 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Donnerstag - Tag 4: Nähe und Distanz - Die (Nicht-)Zugehörigkeit der Trainer*innen beim sozialpädagogischen Pilgern Nähe und Distanz in der Beziehungsgestaltung - eine theoretische Perspektive O-Ton ∣ „Ich habe gelernt, nicht nur an mich zu denken, sondern auch die anderen einzubeziehen.“ (Aussage eines Teilnehmers) Die Heranwachsenden haben nun schon über die Hälfte des Arbeitswegs und somit ihre richterliche Weisung absolviert. Die letzten beiden Tage stehen bevor. Die Beziehung zu den Trainer*innen hat sich intensiviert. Am vierten Tag wird die zweite Einheit zum Ableisten von Arbeitsstunden durchgeführt. Am Abend findet wieder eine Bildungseinheit statt und zwar dieses Mal zu den drei folgenden Fragen: [1] Was habe ich von dem/ der Trainer*n gelernt? [2] Was habe ich von einer/ einem Teilnehmer*in gelernt? [3] Was habe ich nicht verstanden? Die Trainer*innen nehmen eine zentrale Rolle beim Arbeitsweg ein. Ein theoretischer Exkurs zur Rolle der Trainer*innen ist unabdingbar. Eine Zusatzausbildung, um professionell zu handeln, ist unausweichlich. Zunächst geht es um folgende zwei Fragen: Fragen 1 ∣ Was müssen Trainer*innen beim Arbeitsweg wissen und können, um professionell zu handeln? Welche Rolle nehmen Trainer*innen beim Arbeitsweg ein? Wird der Begriff Trainer*in definiert, so kann Folgendes zusammengefasst werden: Trainer*innen sind speziell ausgebildete Personen, die jemanden anleiten oder ausbilden. Nach dem modernen Rollenverständnis sind Trainer*innen, Begleiter*innen und Unterstützer*innen, welche Hilfestellung geben, wo sie gefragt ist, und den Gruppenmitgliedern nötige Entfaltungsräume bieten und adressatenbezogen arbei- Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 145 ten. Laut Schmidt Grunert 212 besitzen Gruppenpädagog*innen eine begleitende Funktion, die sich permanent in den Aktivitäten zurücknehmen sollen, um nicht viel Verantwortung auf sich zu ziehen. Allerdings sollen sich die Trainer*innen nicht auf eine neutrale Position zurückziehen, denn der „Rückzug auf eine Position des Gewährenlassens“ trägt nicht zur Entwicklung bei. Ein immer wieder und kritisch diskutiertes Thema ist die Zugehörigkeit der Trainer*innen zur Gruppe. So leitet sich die Frage ab: Frage 2 ∣ Ist der/ die Trainer*in Teil der Gruppe? Es erfolgt ein Beantwortungsversuch. Erst mit der Anwesenheit von Trainer*innen kommt die Gruppe beim Arbeitsweg zusammen. Die Trainer*innen befinden sich auf der Grenze zwischen drinnen und draußen. Sie besitzen eine feste Rolle, die sich im Verlauf des Arbeitsweges nicht ändert. Doch: Gibt es möglicherweise zwei Mitgliedschaften/ Zugehörigkeiten?  eine Mitgliedschaft (eine Zugehörigkeit) und  eine Nichtmitgliedschaft (eine Nichtzugehörigkeit). Die Nichtmitgliedschaft grenzt die Trainer*innen ab. Eine Auseinandersetzung mit den Begriffen „Nähe“ und „Distanz“ in der Sozialen Arbeit ist im Umgang mit Klient*innen und Kolleg*innen allgegenwärtig 213 und ganz wesentlich in professionellen Beziehungen. Das Gelingen von einer professionellen Beziehungsgestaltung ist die Basis für eine konstruktive, lösungsorientierte und an der Autonomie der Klient*innen orientierten Sozialen Arbeit. Sozialpädagog*innen sollten in der Lage sein, das Nähe-Distanz-Verhältnis in den vielseitigen, zum Teil unvorhersehbaren Situationen, die der sozialpädagogische Alltag mit sich bringt, in einer professionellen Balance zu halten, so Dörr und Müller. 214 Einerseits braucht es ein richtig empfundenes, bedürfnisangepasstes Maß an Nähe, um mit den Klient*innen entwicklungsfördernde Arbeitsbündnisse eingehen zu können, andererseits braucht es eine Distanz. 215 Sozialpädagog*innen stützen Klient*innen in „ihren Lern-, Bildungs- und Bewältigungsaufgaben“, dass sie den An- 212 2002, S. 100-101 213 Vgl. Thiersch., 2009, 121 214 2012 215 Vgl. Dörr/ Müller, 2012, 9 In: Abeld, 2017, 191 146 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit forderungen ihrer Lebensverhältnisse gewachsen sind und sich gleichzeitig als Subjekte erfahren. 216 Klient*innen - Menschen in Bewältigungsaufgaben - „brauchen Erfahrungen der Bindung ebenso wie der Zumutung von Selbsttätigkeit“. 217 „Menschen, die sich im Werden und auch in Bewältigungsprozessen befinden, brauchen Akzeptanz und Angenommen sein, Freiräume für die Gestaltung ihres Lebens, Ermutigung und auch Offenheit für Versuche, für Wege und Abwege.“ 218 Sozialpädagog*innen vermitteln zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen im Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz. Beides bedingt einander und bezieht sich auf Prozesse der Annäherung bzw. der Distanzierung: „Nähe gelingt, wo auch Distanz gegeben ist, und Distanz, wo sie sich auf Nähe beziehen kann.“ 219 Wird die institutionelle Soziale Arbeit in den Blickwinkel genommen, so ist der Rahmen ausschlaggebend. Professionelle sind nicht Mitglied der Lebenswelt ihrer Klient*innen, „sie haben Arbeitszeiten und werden bezahlt“ 220 . Eine professionelle Distanz lässt zu, den Alltag von Klient*innen mit einem Abstand zu betrachten. Dies wiederum gestattet es, sich für eine Beziehung in einem bestimmten Möglichkeitsraum zur Verfügung zu stellen. 221 Erforderlich ist allerdings eine Reflexivität, die „mit methodischer Verlässlichkeit und vertraglicher, rechtlicher Transparenz“ einhergeht“. 222 Nähe und Distanz verweisen zwar metaphorisch auf Lagebeziehungen im Raum. Hier geht es allerdings um soziale Beziehungen und um das Empfinden von Nähe und Distanz. Die Begriffe Nähe und Distanz sind nur schwer definierbar, da ihre Strukturen schnell durchschaubar und widersprüchlich erscheinen. 223 Das Begriffspaar beinhaltet auch paradoxe Strukturen und lässt sich am besten mit den Synonymen Intimität und Abgrenzung oder Abhängigkeit und Autonomie beschreiben. 224 Thiersch 225 beschreibt Nähe mit den Begriffen Geborgenheit und Verlässlichkeit und Distanz als Abstand als Freiraum und Chance zur Erweiterung von Nähe. Beim professionellen Handeln geht es darum, die 216 Vgl. Thiersch, 2009, 127-129 217 Thiersch, 2009, S. 128-129 218 Thiersch, 2009, 129 219 Thiersch, 2007, 32 220 Thiersch, 2007, 38 221 Ebd., 37 222 Ebd., 42 223 Vgl. Dörr & Müller, 2012, S. 8 224 Dörr & Burkhard, 2012, S. 7-8 225 Thiersch, 2012, S. 34 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 147 Vermittlung von Nähe und Distanz als Kern der Professionalisierung zu sehen. In professionellen Beziehungen braucht es Nähe, um mit Klient*innen entwicklungsförderliche „Arbeitsbündnisse“ 226 eingehen zu können, und es braucht Distanz, denn „pädagogische Handlungsoptionen werden unverantwortlich oder doch laienhaft, wenn sie nicht, ohne die eigene Beteiligung auszublenden, aus der Distanz von ‚exzentrischen Standpunkten‘ aus beobachtbar, selbstreflexiv kontrollierbar und damit revidierbar gemacht werden“. 227 Jugendliche Klient*innen sind zeitgleich auf Sozialpädagogen angewiesen, aber auch durch sie gefährdet. Thiersch warnt vor zu viel Nähe, dies führe zu einer klammernden Beziehung. Aber auch zu viel Distanz ist nicht förderlich, denn dadurch entsteht eine Gleichgültigkeit. Gerade eine lebensweltorientierte Arbeitsweise fordert deshalb ein Einmischen, Beteiligen und Verhandeln. Angemessenes pädagogisches Handeln kann verstanden werden als ein Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, gesichert durch Reflexivität verbunden mit methodischer Transparenz. 228 Das Arbeitsbündnis entwickelt sich durch ein Zusammenwirken vom Expert*innenwissen und den Ressourcen der Klient*innen, welche sie selbst bei der stellvertretenden Krisenbewältigung einbringen müssen. Sozialpädagog*innen unterstützen Klient*innen dabei, eigene „Kräfte“ zu mobilisieren und die eigene Autonomie zu entwickeln bzw. wiederherzustellen. Dieses Arbeitsbündnis besitzt fundamentale Merkmale, die handlungsführend sind: 229 die freiwillige Entscheidung der Klient*innen, sich, aufgrund einer Krise/ Problemlage, Hilfe bei den Professionellen zu holen. Diese Freiwilligkeit muss ganz oft gemeinsam mit den Klient*innen erarbeitet werden. „Die Professionellen haben darauf zu achten bzw. darauf hinzuwirken, dass eine freie Entscheidung über die Annahme ihres Hilfeangebots seitens der Klient*innen für oder gegen die Annahme getroffen werden kann.“ 230 Professionelle und Klient*innen treten als „ganze Person“ in das Arbeitsbündnis sowie gehören einer Rolle zu. Die Rolle von Klient*innen ist der Klient*innen- Status. Dies beinhaltet die Pflicht an der Lösung seiner eigenen Krise mitzuwirken und sich nicht allein auf den Professionellen zu verlassen. Der Professionelle muss „persönliches“ Interesse an Klient*innen als ganze Person und dessen Krise zeigen und Empathie und Verständnis 226 Oevermann 227 Dörr/ Müller, 2012, 14 In: Abeld, 2017, 191 228 Vgl. Thiersch, 2012, S. 47 229 Becker-Lenz/ Müller, 2013, S. 222 230 Becker-Lenz/ Müller, 2013, S. 222 148 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit aufbringen. 231 Die professionelle Beziehungsgestaltung zeichnet sich aber nicht nur durch Empathie aus, sondern eben auch durch eine distanzierte Begegnung mit der Lebenswelt der Klient*innen. Der Professionelle muss sich auf seinen Auftrag konzentrieren, er darf nicht den Anspruch haben, alles „retten/ lösen“ zu wollen. In der Arbeit mit Schutzbefohlenen ist dieser Anspruch nicht haltbar. 232 Achtsamkeit ist besonders erforderlich bei Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen. Erfahrungen der Klient*innen aus vergangenen Sozialbeziehungen können auf Sozialpädagog*innen übertragen werden, z.B. negative oder feindliche Rollenbilder. Die Gegenübertragung geht von Sozialpädagog*innen aus, indem ein feinfühliges, vorsichtiges Reagieren auf Klient*innen die negativen Gefühle nicht bestärken darf. Das Bewusstmachen solcher Übertragungsprozesse ist in professionellen Beziehungen grundlegend. 233 Heiner weist darauf hin, dass „ein wichtiges Kriterium professionellen Handelns […] eben gerade ist, die kontrollierenden Anteile der Berufsrolle nicht zu verleugnen.“ 234 Die Aufgabe von Sozialpädagog*innen in ihrer täglichen Praxis ist es, Bedingungen für gute Arbeitsbeziehungen zu schaffen. Dies gelingt durch reflektiertes Einsetzen von Methoden, Ansätzen und Theorien, wobei die Betonung auf reflektiert liegt. Der professionelle Umgang mit Nähe und Distanz ist durch Objektivität von Seiten der Sozialpädagog*innen geprägt, nicht wie die Nähe und Distanz im Alltag durch die Subjektivität der Beteiligten. Das Spannungsfeld wird in der Arbeit mit Menschen, die straffällig geworden und verurteilt worden sind, besonders deutlich. Sozialpädagog*innen versuchen über empathisches Verhalten und Vertrauen einen Zugang zu Klient*innen zu finden und gleichzeitig einen Abstand zu wahren. Von Klient*innen wird „Nähe“ verlangt, sich zu öffnen und sich auch auf das Fremde einzulassen. Damit geht Angst einher, das eigene Ich zu verlieren und von sich etwas preiszugeben. 231 Vgl. Becker-Lenz/ Müller, 2013, S. 222 232 Vgl. Becker-Lenz/ Müller, 2013, S. 222 233 Vgl. Wigger, 2013, S. 163 234 Heiner, 2004, 131 ff In: Abeld, 2017, S. 193 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 149 Die Beziehung zwischen Trainer*innen und Heranwachsenden beim Arbeitsweg O-Ton ∣ „ Und hiermit nochmal Danke … Danke, dass sie mich begleitet haben und mich zum Nachdenken angeregt haben. Sie sind ein guter Mensch.“ (Aussage eines Teilnehmers) König 235 verlangt von Trainer*innen eine geduldige Grundhaltung. Trainer*innen beim Arbeitsweg müssen in der Lage sein, bei diesem Lernprozess andere Wege gehen zu können, dabei sind Rückschritte und Blockaden normal, wobei die Trainer*innen angehalten sind, unterschiedliche Arten und Geschwindigkeiten des Lernens zu akzeptieren. Zurückhaltung der Trainer*innen gibt Raum für Denk- und Lernprozesse, übertriebene Aktivität hingegen hemmt die Gruppe(nmitglieder). Wissen ∣ Kommunikationsgrundlage Die gleichwürdige Begegnung von Trainer*innen und Heranwachsenden schafft eine optimale Kommunikationsgrundlage. Die Trainer*innen, so schätzt ein Jugendrichter ein begegneten den Heranwachsenden wertschätzend und gleichberechtigt. Sie hatten einen respektvollen und konsequenten Umgang. „Sie haben sie als Menschen respektiert. Als Menschen, die sicherlich Probleme haben oder auch Probleme gemacht haben. Aber es war kein Über-/ Unterordnungsverhältnis.“ Das intensive Zusammensein (24 Stunden - rund um die Uhr) ermöglicht den Trainer*innen Beobachtungen, soziale Kontrolle und schnelles professionelles Reagieren: „Durch das Zusammenleben der Teilnehmer und der Leitung über 24 Stunden am Tag für sechs (fünf) Tage besteht die Möglichkeit eines intensiven Einblicks in das Sozialverhalten der Teilnehmer. (Aussage Jugendgerichtshilfe) 236 Nach Böhnisch 237 ist die Kontrolle ein Teil des „doppelten Mandats“, bei dem die Hilfe den anderen Teil einnimmt. Die professionellen Helfer*innen sind einerseits „Anwälte der Hilfebedürftigen“, andererseits „Kontrolleure im Auftrag des Staates“. 238 Das doppelte Mandat ist ein 235 1998, S. 156 236 Teichert u.a., 2015, S. 27 237 1973 238 Vgl. Gängler, 2005, S. 772 150 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit zentrales Strukturelement in der Sozialen Arbeit, nach dem die Fachkräfte angehalten sind, „ein stets gefährdetes Gleichgewicht zwischen den Rechtsansprüchen, Bedürfnissen und Interessen einerseits und die jeweils verfolgten sozialen Kontrollinstanzen seitens öffentlicher Steuerungsagenturen andererseits aufrechtzuerhalten. Dieses Berufsschicksal trifft die Jugendgerichtshilfe und die „Freien Träger“, die richterliche Weisungen ausführen, ganz besonders. 239 Sozialpädagog*innen müssen sich in professionellen Handlungen, die oft von erheblichen Belastungen geprägt sind, vor Überforderung schützen und diese professionell bewältigen. Spezifische Kompetenzen sind notwendig, um in der Arbeit mit Heranwachsenden, die straffällig geworden und verurteilt sind, langfristig zu bestehen. Ganz besonders erfordert der Umgang mit Nähe und Distanz 240 ein hohes Maß an reflexiven Kompetenzen. Um die professionelle Beziehung beim Arbeitsweg zu den Heranwachsenden produktiv zu gestalten, muss diese nicht zwangsläufig konfliktfrei sein. 241 Es ist demnach auch die Aufgabe der Organisationen und Träger der Sozialen Arbeit durch eine institutionelle Reflexionskultur die gewollte Alltagsnähe verbunden mit einem Nähe-Distanz-Konflikt bewältigbar zu gestalten, beispielsweise mit Angeboten von Supervision, kollegialer Beratung und Teamsitzungen. 242 Diese institutionelle Reflexionskultur gilt als unabdingbar für den offenen Umgang auch mit noch zu verändernden (negativen) Eigenschaften der im Team tätigen Mitarbeiter*innen. 243 Exkurs: Eine Befragung von zwei Trainern von Stefanie Neupert Die folgenden Ergebnisse stammen aus zwei Interviews mit Trainern 244 , die selbst das Pilgerprogramm in Sachsen durchführen. Diese Ergebnisse sind als erste kleine Datenlage zu betrachten, bei denen Trainer di- 239 Vgl. von Spiegel, 2004, S. 37 240 Vgl. Kap. 1.1.2. 241 Vgl. auch Heiner, 2004, S. 146 242 Vgl. Heiner, 2010, S. 57 f. 243 Vgl. Heiner, 2004, S. 146 244 Durchgeführt wurden diese zwei Interviews im Rahmen einer Bachelorarbeit von Stephanie Neupert (betreut von Prof. Dr. Angela Teichert). Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 151 rekt interviewt wurden. Neupert 245 kam in ihrer Befragung zu folgenden drei Thesen: These 1 ∣ Es muss eine klare Abgrenzung zwischen der Rolle des Trainers und der Rolle der Teilnehmer herrschen. Der Trainer ist nicht Teil der Gruppe, er übernimmt eine Beobachterposition: O-Ton ∣ „Ich laufe hinter der Gruppe her. Ich kann von hinten sehen, wer führt, wer geht mit wem, wer läuft ständig allein, wer bleibt zurück. Ich bin ständig in einer teilnehmenden Beobachtung.“ (Aussage Trainer 1) Die Heranwachsenden sollen zur Selbstverantwortung erzogen werden. Es ist deren Entscheidung, ob sie Arbeitsstunden ableisten oder nicht. Die Konsequenz beim Nichtabsolvieren der gemeinnützigen Arbeitsstunden ist der Abbruch des Arbeitsweges. Eine Abgrenzung des Trainers wird dadurch deutlich, dass die Trainer*innen auch nicht mitarbeiten, um eine Distanz zu wahren und um auch die richterliche Weisung spürbar zu machen: O-Ton ∣ „Wenn jemand nicht mitarbeitet, entlasse ich ihn, wenn er seine Aufgaben nicht erfüllt.“ (Aussage Trainer 1) These 2 ∣ Das Pilgern mit straffälligen Jugendlichen stellt die Trainer vor eine besonders physische Herausforderung. Die Aufgaben beim Pilgern mit straffälligen Jugendlichen stellen den Trainer vor eine psychische Belastung. Dem Trainer muss es gelingen durch eine gute Psychohygiene und geeignete Reflexionsmethoden eine entsprechende Distanz aufzubauen. Der Trainer muss sich selbst auf eine Pilgerreise gut vorbereiten (nicht nur die Wegstrecke gut gehen können, auch die Organisation der Unterkünfte, Absprachen mit Kollegen treffen). Die Geeignetheit sollte vorher selbstreflexiv geprüft werden: O-Ton ∣ „Jeder muss herausfinden, ob er als Trainer geeignet erscheint.“ 245 2017, S. 41-48 152 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit These 3 ∣ Die Arbeit des Trainers beruht auf Freiwilligkeit und nicht auf Zwang unter Berücksichtigung strenger Regeln. Es ist interessant, dass die Heranwachsenden „in den ersten Gesprächen [...] dann […] darauf kommen, dass sie freiwillig da sind“ und jederzeit abbrechen können. Dieses Bewusstsein entwickelt sich erst nach einer Weile des intensiven Zusammenseins und nach Gesprächen. Konsequenz und klare Regeln sind Grundpfeiler beim Pilgern. Der Trainer muss klare Grenzen setzen, damit die Jugendlichen Orientierung haben. Ein Trainer sagt: „Es gibt keinen Diskussionsrahmen, Regeln werden klar und drastisch erklärt. Konsequent zu sein, das ist ganz wichtig.“ Es ist Abend, die Bildungseinheit steht an … Nun zurück zu den eingangs gestellten Fragen: [1] Was habe ich von dem/ der Trainer*n gelernt? [2] Was habe ich von einer/ einem Teilnehmer*in gelernt? [3] Was habe ich nicht verstanden? Am Abend nach den Arbeitsstunden und nach dem gemeinsamen Kochen werden diese drei Fragen diskutiert und beantwortet. [1] Was habe ich von einem der Trainer gelernt?  Nette Umgangsart = also vernünftig reden  Durchhalten, auch wenn’s schwerfällt.  Durchhaltevermögen. Dass man bis zu seiner Grenze gehen kann.  Durchhaltevermögen. Lässt sich nicht jeder was gefallen. (Anschiss muss man einstecken können)  Durchhalten, auch wenn es schwer ist. Der Weg ist da Ziel.  Durchhaltevermögen. Eine andere Lebenssituation.  Durchhaltevermögen. Ausdauer.  Wie man besser läuft.  Ausdauer  Ich habe gelernt, nicht nur immer Ausreden zu finden, denn jeder Mensch ist selbst für sich verantwortlich! Kameradschaft.  Wozu Pilgerwege genutzt werden. Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 153  Man sollte in Ruhe überlegen und nichts überstürzen. Dass man nicht versuchen sollte, immer allein eine Lösung zu finden, man sollte versuchen, alle Sichtweisen aufzudecken. Dass ich kann, wenn ich möchte.  Dass ich gar nicht so viel Alkohol brauch als sonst.  Dass man im Leben noch viel erreichen kann. Man sich an Regeln und bestimmte Grenzen halten muss.  Vor jeder Handlung und Entscheidung nachzudenken und Vor- und Nachteile abzuwiegen.  Meine Schwächen zu überwinden. Mich in der Ruhe zu bewahren.  Man kann mehr schaffen, wie man denkt.  Durch erbrachte Leistungen erhält man Genugtuung.  Dass man nicht aufgeben sollte, wenn man denkt, es geht nicht weiter.  Mich aufs Wesentliche und Wichtige zu konzentrieren. Mir Gedanken zu machen, wo ich wirklich hin möchte.  Dass ich neue Sachen angehe und das Zuhören.  Dass ich mehr nachdenken soll bei gewissen Dingen.  Bei Problemen immer alle Betroffenen zu Rate ziehen. Gründlich Pros und Contras abwägen. Zusammenfassend kann eingeschätzt werden, dass die Heranwachsenden vom Trainer Folgendes gelernt haben. Hier wird die Vorbildwirkung, die professionelle Haltung und das professionelle Handeln ganz deutlich sichtbar. Es kann bestätigt werden, dass die Trainer*innen Lernmodelle sind, an denen sich die Heranwachsenden orientieren und dass klare Regeln, Wertschätzung und Respekt helfen, neue Erkenntnisse zu vermitteln und spürbar zu erleben:  sachlich und freundlich kommunizieren,  durchhalten lohnt sich,  erst in Ruhe überlegen, dann handeln,  auf Alkohol verzichten,  zukunftsgerichtet denken,  für eine Leistung Anerkennung erhalten,  sich auch andere Meinungen anhören,  selbst Verantwortung übernehmen. 154 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit [2] Was habe ich von einem der Teilnehmer gelernt?  Dass man sich auch die Arbeit teilen kann. Seine passende Geschwindigkeit finden.  Blöde quatschen.  Dünne Quatschen macht lange Wege erträglicher. Ich bin nicht der Einzigste, der ankommen wollte.  Dass zu sehr vorbereitet nicht immer gut ist.  Teamarbeit, Teamgeist. Zusammenhalt. Unterstützung.  Teamgeist. Unterschiedliche Charakter.  Ich habe gelernt, nicht nur an mich zu denken, sondern auch die anderen einzubeziehen!  Zusammenhalt. Dass man in der Gruppe stärker ist. Dass man mit neuen Leuten auch Spaß haben kann.  Dass im Team arbeiten Spaß macht.  Gerade bei weiten Strecken, durchzuhalten und zu zeigen, was man kann bzw. durchhält.  Es ist nie zu spät, seine eigenen Fehler einzugestehen und sich positiv zu ändern.  Klüger zu sein. Sport vor dem Schlafen (< bleibt weiter so). Freundlichkeit.  Wenn man zusammenhält, kommt man weiter.  Dass man Ziele erreichen kann, wo man dachte, dass man sie nicht schaffen kann, und das nur mit Willensstärke.  Dass es noch viel schwierigere Dinge im Leben gibt, wenn man Erwachsen werden will und Verantwortung übernehmen muss für das, was man tut.  Dass es der falsche Weg ist, den ich eingeschlagen habe. Dass ich mich ändern sollte, bevor ich ebenfalls in den Bau gehe.  Geben und Nehmen. Zusammenhalt. Zusammenleben.  Dass wir uns helfen, auch ohne uns richtig zu kennen. Und es uns dadurch allen besser geht. Auch die Lernprozesse innerhalb der Gruppe und voneinander sind als sehr wertvoll einzuschätzen. Es kann geschlussfolgert werden, dass insbesondere vier Aspekte gelernt wurden:  der Zusammenhalt und gemeinsam Dinge zu bewältigen und Spaß zu haben, Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 155  ich muss auch an andere denken,  sich durchbeißen und nicht aufgeben (Wille versetzt Berge) und,  dass es für Veränderungen nie zu spät ist. [3] Was habe ich nicht verstanden?  Dass wir 30 Kilometer laufen sollten.  Dass wir kein Bier trinken konnten.  Ich habe nicht richtig verstanden, warum ich erst so weit weg musste von zu Hause, um das alles zu merken, zu verstehen bzw. zu lernen!  Warum ich am Anfang so komisch drauf war.  Warum beim Arbeiten genau ich (war aber nicht schlimm) - war am Anfang nervös und aggressiv, aber konnte mich innerlich überwinden.  Warum so weite Strecken?  Warum sollte ich über mein Dilemma nachdenken?  Einstellung zum Leben und teilweise Verhalten gegenüber sich und seinen Kindern.  Weshalb es eigentlich dazu kommen musste, dass ich jetzt hier bin.  Ich habe alles verstanden. Wenn ich was ni verstanden habe ich ein Trainer gefragt oder ein Teilnehmer.  Mir fällt nix ein. … Ich habe alles verstanden. Bei der dritten Frage ging es darum, zu erkennen, ob es Aspekte gibt, die die Heranwachsenden nicht begriffen haben, oder die noch offengeblieben sind. Durchaus gibt es noch einige Unklarheiten, die dann am Abend diskutiert werden. Ganz sicher bleiben auch Fragen offen, weil hierzu eine intensive und möglicherweise auch eine Einzeldiskussion notwendig ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Heranwachsenden erkannt haben, dass es Aspekte gibt, mit denen sie sich noch weiter auseinandersetzen werden:  Länge der Strecke,  Nichtkonsum von Alkohol,  Notwendigkeit des Umfeldwechsels,  das eigene Verhalten beim Arbeiten,  Gründe für ein Nachdenken über eigene Dilemmata, 156 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit  weshalb man hier ist,  Einstellungen von Eltern. Freitag - Tag 5: Das letzte Stück gemeinsam laufen: Die Rolle der Paten, Abschied und durchgehalten O-Ton ∣ „Man sollte Menschen nicht verurteilen, denn jeder Mensch ist gleich, nur hat jeder etwas anderes erlebet.“ (Aussage eines Teilnehmers) Es ist Freitag und der letzte Tag mit den letzten 20 bis 25 Kilometern beginnt. Es ist die Rückkehr zum Ausgangspunkt der Pilgerreise. Bald ist der Arbeitsweg geschafft. Das Durchhalten hat sich gelohnt, denn die richterliche Weisung ist erfüllt. Der/ die Trainer*in verabschiedet sich von den Heranwachsenden und übergibt die Zertifikate. Die letzten 2 Kilometer gehen die Heranwachsenden allein und treffen unterwegs einen „Paten“. O-Ton ∣ „Heute war es nicht so anstrengend. Es ging eigentlich gut zu laufen. Besser als die anderen Tage.“ (Aussage eines Teilnehmers) Hat sich das Durchhalten nur für die Erfüllung der richterlichen Weisung gelohnt oder welche Beobachtungen haben die Paten gemacht? Ein Jugendamtsleiter empfand die Stimmung am Ende des Weges sehr entspannt und „gelöst“: O-Ton ∣ „Also es war eher eine lockere, ähm, na ja lustig wäre übertrieben, aber eine sehr lockere Atmosphäre, also diese Anspannung, sich gegenseitig unter Druck zu setzten, habe ich zu mindestens nicht gespürt in der letzten Stunde. Also die letzten eineinhalb Stunden.“ Zwei Fragen begleiten die Heranwachsenden am Freitag: Frage ∣ „Wo stehe ich jetzt? Wo will ich hin? “ Ein professionelles Netzwerk Zunächst und abschließend ist die Netzwerkarbeit in solchen Projekten der Schlüssel zum Erfolg. Die Netzwerkpartner*innen, die so genannten Pat*innen - so das Konzept des Arbeitsweges - sollen am Ende des Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 157 Weges mit ihren Klient*innen ins Gespräch kommen und sie begleiten. Pat*innen sind Menschen, die im Netzwerk des Pilgerprogramms mitwirken, in der Regel diejenigen, die die Heranwachsenden zum Arbeitsweg schicken. Gleichermaßen ist dieser Teil für die Heranwachsenden bedeutsam, denn sie werden von demjenigen würdevoll empfangen, der sie übermittelt hat. Diese zwei oben genannten Fragen stehen im Mittelpunkt des Gespräches zwischen den Heranwachsenden und dem Paten/ der Patin. Ob die Pat*innen eine Antwort erhalten? Paten sind z.B.  Jugendrichter,  Jobcenter,  Jugendamtsleiter,  Mitarbeiter Landesjugendamt,  Leiter der Jugendgerichtshilfe,  Mitarbeiter*innen der Jugendgerichtshilfe,  Mitarbeiter*innen Freier Träger,  Mitarbeiter*innen vom Bildungsträger,  Mitarbeiter*innen der Pilgerherbergen. Am Ende des Weges gibt es eine gemeinsame Verabschiedung. O-Ton ∣ „Durch diese Reise wurde mir klar, dass es mehr im Leben gibt als stupides „Rumgammeln“. Ich habe eine Vorstellung davon, was ich mal machen will, dass ich Menschen helfen will. Eine Ausbildung machen, arbeiten.“ (Aussage eines Teilnehmers) Während des Laufens erleben die Heranwachsenden eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der Gruppe und ihrer Lebenssituation. Durch dieses Erleben wird die Teilnahme retrospektiv als sehr emotional beschrieben. Dieses Gefühl wird durch die Gesamtheit der verschiedenen Lernkomponenten gefördert und erzeugt somit einen nachhaltigen Lerneffekt. Einerseits sind die Heranwachsenden auch froh, den Arbeitsweg geschafft zu haben und anderseits ist auch Wehmut zu spüren: „Dies zeigt, dass die Teilnehmer bei dieser intensiven Maßnahme emotional berührt werden, was für einen nachhaltigen Lerneffekt spricht.“ (Aussage Freier Träger) 246 Ein Mitarbeiter eines Freien Trägers bestätigte gleichermaßen, dass „die Heranwachsenden [.] die Inhalte gut verstanden [haben]. Bei der Verabschiedung gaben 246 Teichert u.a., 2015, S. 18 158 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit uns die Jugendlichen die Rückmeldung, dass sie nun einerseits froh waren, es erledigt zu haben, aber irgendwie auch traurig seien.“ Wissen ∣ Erfolg des Projekts Ein professionelles Netzwerk, eine abgestimmte Zusammenarbeit und gegenseitiges Feedback tragen erheblich zum Erfolg des Projektverlaufes bei. Unabdingbar für die Durchführung des Pilgerprojektes ist eine professionelle Netzwerkarbeit und damit einhergehend eine sichere Abstimmung mit allen am Arbeitsweg Beteiligten. Alle Interviewpartner*innen sowie die Autor*innen der Erlebnisberichte begleiteten als Pat*innen die Jugendlichen ein Stück bzw. den letzten Teil des Pilgerweges. Dass diese Patenarbeit erheblichen Einfluss auf die eigene Arbeit und Haltung hat, zeigen die folgenden Ergebnisse. Ein Mitarbeiter des Jobcenters betont insbesondere die Wichtigkeit des persönlichen Abholens und des gemeinsamen Laufens auf dem letzten Stück des Arbeitsweges: O-Ton ∣ „[…] die Zusammenarbeit mit dem Bildungsträger hat gut geklappt. Der Mitarbeiter des Bildungsträgers hat den Jugendlichen dann abgeholt und ist die letzten Kilometer mit den Jugendlichen zurück nach Bautzen gelaufen. Da haben wir eine gute Rückmeldung bekommen.“ Die folgende Aussage des Jugendamtsleiters und auch die Analyse der Dokumente weisen auf eine sehr gute fachliche Kooperation hin: O-Ton ∣ „Das Projekt „Arbeitsweg“ wird durch das Jugendamt Dresden/ Sachgebiet Jugendgerichtshilfe konzeptionell begleitet und unterliegt deren Fachaufsicht. Die Konzeption und konsequente Umsetzung spiegelt eine hohe fachliche Sachkompetenz aller Projektverantwortlichen wider. Sie lebt und wird ständig aktualisiert durch die Erlebnisse, Ergebnisse und Erfahrungen aus den jährlich stattfindenden Projektwochen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt/ Jugendgerichtshilfe Dresden im Arbeitsfeld der Jugendhilfe im Strafverfahren organisiert werden.“ Es besteht eine äußerst positive Haltung gegenüber dem Arbeitsweg. Die Beteiligten haben einen engen Kontakt zum Projektleiter und wünschen sich eine dauerhafte Zusammenarbeit. Die Mitarbeiter der Freien Träger haben „guten Erfahrungen mit dem Projekt“ und sind an einer Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 159 „stetigen Zusammenarbeit/ Kooperation“ interessiert. Bezüglich der Umsetzung wird der Arbeitsweg besonders gewürdigt: O-Ton ∣ „Die Durchführung des Weges, die Kooperationspartner, die Übernachtungen und die Arbeitseinsätze waren ideal ausgewählt und hervorragend organisiert.“ 247 Der Arbeitsweg ist effizient Effektivität kennzeichnet sich dadurch, dass die ausgewählten Methoden zum gewünschten Ergebnis bzw. Ziel führen. Ein ganz wesentliches Kriterium für einen erfolgreichen Arbeitsweg ist das Durchalten der Wegstrecken und die Teilnahme an den Arbeitsstunden und den Bildungseinheiten. Ergebnisse zur Nachhaltigkeit des Projektes liegen noch nicht vor. Effizienz wird dadurch erreicht, dass das gewünschte Ergebnis bzw. das angestrebte Ziel mit geringem (Zeit-)Aufwand erzielt wird. Es kann festgehalten werden, dass die Übernachtungskosten durch die Arbeitsleistungen der Heranwachsenden geringgehalten werden können. Ein Jugendrichter weist zudem auch explizit auf die Aufgaben des täglichen Lebens hin und verbindet in seiner folgenden Aussage beides: O-Ton ∣ „Grundlage des Konzepts ist es nämlich, […] alle diese Aufgaben erfüllen zu lassen, die zum täglichen Leben gehören, […] auch um die Kosten der Übernachtung gering zu halten.“ Auch die Personal- und Sachkosten sind in einem angemessenen Verhältnis und werden durch den Jugendamtsleiter als effizient dargelegt: O-Ton ∣ „Na ja, selbst wenn man jetzt den Aufwand, der an Personalbegleitung, an Personalkosten sag ich mal nicht das aufwiegt, was jetzt an gegenständlicher Arbeit erbracht werden kann, so denke ich doch, ist es ein sehr effizientes Projekt.“ Beim Jobcenter gibt es ein Prüfverfahren, welches die Effizienz des Projektes einschätzt: O-Ton ∣ „Wenn ein Bildungsträger uns das Projekt nach der Förderphase anbietet, stehen da natürlich Kosten dahinter, daraufhin müssen wir schauen, ob wir das finanzieren können und ob das machbar ist. Dann geht das normale Prüfverfahren im 247 Teichert u.a., 2015, S. 15-16 160 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Projektmanagement los, dass man schaut, ob es einen Bedarf dafür und ob die Fallmanager sagen, dass sie das Projekt wollen und Jugendliche dafür finden. Dann stellt sich die Frage, ob das Budget dafür da ist und dann kann man anfangen Termine zu machen und alles, was darum herum notwendig ist, zu organisieren.“ (Aussage Mitarbeiter Jobcenter) 248 Der Jugendrichter als Pate Wissen ∣ Ins Gespräch kommen Ein Stück gemeinsam gehen hilft, mit den Heranwachsenden ins Gespräch zu kommen. O-Ton ∣ „Das hat sich erst nach und nach ergeben, dass ich mich da auch mal in die Gespräche einbezogen habe.“ Der Arbeitsweg bereichert und erweitert den Handlungsspielraum eines Jugendrichters: „Insgesamt stellt das Projekt „Arbeitsweg“ eine erhebliche Bereicherung der jugendrichterlichen Reaktionsmöglichkeiten des JGG dar.“ 249 Da die richterlichen Weisungen im § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG (Sozialer Trainingskurs) nicht abschließend aufgeführt sind, können neue Konzepte immer wieder in den Katalog der richterlichen Weisungen aufgenommen werden. Die Aussage des Jugendrichters wird durch den Jugendamtsleiter bestätigt. Der Arbeitsweg stößt in der Fachöffentlichkeit auf großes Interesse und erweitert das Portfolio der Ambulanten Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz: 248 Teichert u.a., 2015, S. 16 249 Teichert u.a., 2015, S. 22 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 161 O-Ton ∣ „Mit dem Projekt wurden durch die Beteiligten neue Wege im Kontext der Arbeit der Jugendhilfe im Strafverfahren beschritten, welche auch über die Landesgrenze hinaus bei der Fachöffentlichkeit großes Interesse geweckt hat. Das Projekt bietet nach bisherigen Einschätzungen etliche Möglichkeiten, auch als „Baustein“ in anderen Maßnahmen […] eingefügt zu werden.“ (Aussage Jugendamtsleiter) 250 Es wird zudem die Komplexität und die Intensität des Arbeitsweges vom Jugendrichter hervorgehoben, d.h. die Teilnahme an einer Maßnahme an einem Stück über fünf Tage (24 Stunden - rund um die Uhr): O-Ton ∣ „Letztendlich ist das auch ein mobiler sozialer Trainingskurs. Das ist schon eine starke Erweiterung. […] Das ist schon etwas anderes als wenn sie einen sozialen Trainingskurs für zwei Stunden am Abend bekommen, wo sie sowieso erledigt sind, oder zu einem Zeitpunkt, wo nicht ihr Tag ist oder wo sie Drogen genommen haben oder schon anderes gemacht haben.“ Das Jobcenter als Pate Wissen ∣ Eigene Motivation Die freiwillige Durchführung des Arbeitsweges bedarf einer beträchtlichen Motivationsarbeit. Erfolgversprechender ist, wenn „Druck“ durch Weisung dahintersteht. Der Arbeitsweg ist beim Jobcenter ein freiwilliges Angebot. Das Fehlen der extrinsischen Motivation allerdings kann dazu führen, dass die Heranwachsenden nicht am Arbeitsweg teilnehmen, weil der äußere Druck oder eine Belohnung fehlt. 251 Das Jobcenter berichtet von Schwierigkeiten, da die Teilnahme an dem Arbeitsweg nicht angewiesen werden kann wie im Jugendgericht. 250 Teichert u.a., 2015, S. 23-24 251 Vgl. Aronson/ Wilson/ Akert, 2004, S. 166 162 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit O-Ton ∣ „Die Umsetzung ist für uns sehr schwer. Das ist im Kontext der Jugendgerichtshilfe anders. Wo man die Jugendlichen mehr oder weniger dazu „verdonnert“, weil die halt die Stunden leisten müssen. Aber bei uns kriegen sie nichts dafür, sollen einfach mitgehen und dann auch noch arbeiten. Also es ist für die Fallmanager eine große Herausforderung, die Jugendlichen dazu zu motivieren.“ Die Mitarbeiter vom Jobcenter schätzen aber ein, dass der Arbeitsweg für eine persönliche Weiterentwicklung, insbesondere für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben, viel nachhaltiger ist als ein Bewerbertraining oder eine kurze Qualifizierungsmaßnahme: O-Ton ∣ „Das ist sicherlich etwas, als wenn man in einem Bewerbungstraining mitmacht oder eine Qualifizierung, nach der man innerhalb von drei Monaten wieder alles vergessen hat. Gerade die persönliche Wirkung des Pilgerns bleibt langfristig.“ Zudem haben Heranwachsende die Möglichkeit, so die Mitarbeiter des Jobcenters, außerhalb von schulischen Angeboten, Erfahrungen in einer neuen Umgebung zu machen: O-Ton ∣ „Das Angebot des Arbeitsweges ist ein gutes Instrument, um Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden Orientierung und Verantwortung zu übergeben, sie an alterstypischen Übergängen zu begleiteten und zu stärken und sie aus dem gewohnten Rahmen von Maßnahmen und schulischen Angeboten zu lösen.“ 252 Das Landesjugendamt und das Jugendamt als Pate Wissen ∣ Innovativer Arbeitsweg Der Arbeitsweg ist innovativ, attraktiv und wirksam und kann von allen Heranwachsenden, auch aus dem ländlichen Raum, genutzt werden. Das Landesjugendamt „unterstützt die Bewerbung, da es sich um ein innovatives und erfolgversprechendes Angebot u.a. für die Jugendgerichtshilfe handelt.“ Der Jugendamtsleiter ist von dem Projekt Arbeitsweg sehr überzeugt und möchte „genau solche Projekte für die Zukunft nicht missen, weil 252 Teichert u.a., 2015, S. 22-23 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 163 ich mir sicher bin, dass diese Projekte, so wie sie durchgeführt werden, tatsächlich wirksam sind.“ Der Jugendamtsleiter hatte „[…] vom ersten Moment an auch bis zum Ende des Weges […] nicht das Gefühl, dass es sich um straffällig gewordene Jugendliche handelt. Denn dort, wo man unvoreingenommen die Jugendlichen annimmt, auf der Arbeit oder äh wo auch immer, […] da ist es auch möglich, ganz normale Kontakte zu haben und damit auch den Jugendlichen zu helfen.“ Der Jugendamtsleiter weist jedoch auf ein Problem hin und zeigt gleichzeitig die Bedeutung des Arbeitsweges auf. Problematisch in der Praxis zeigt sich die Durchführung von ambulanten Maßnahmen nach dem JGG im ländlichen Raum. Beispielsweise können Heranwachsende aus Ortschaften, die an das öffentliche Verkehrsnetz schlecht angebunden sind, nicht an Trainingskursen, die in den Abendstunden stattfinden, teilnehmen. Der Arbeitsweg eröffnet hiermit eine Möglichkeit der Teilnahme: O-Ton ∣ „ Sozialarbeiter halten das Projekt für besonders geeignet, weil am „Arbeitsweg“ Heranwachsende aus allen Teilen des Landkreises teilnehmen können. In den traditionellen sozialen Trainingskursen gibt es bezüglich der Erreichbarkeit immer wieder auftretende Probleme, wenn Heranwachsende in abgelegenen Orten wohnen.“ Der Jugendgerichtshelfer, der seinen Heranwachsenden ein Stück begleitet hat, war sehr erstaunt, dass sein Klient durchgehalten hat: „Ich habe eigentlich nicht hundertprozentig dran geglaubt, aber er hat wirklich durchgehalten.“ Auch bei dem Jugendgerichtshelfer ist Erleichterung zu spüren, denn „es war für mich als Jugendgerichtshilfe die erste Maßnahme dieser Art, über deren Teilnahme eines Heranwachsenden ich entscheiden sollte.“ Der Arbeitsweg fördert auch bei den professionellen Fachkräften eine bewusstere Wahrnehmung von eigenen Erwartungshaltungen. Eine professionelle Haltung einzunehmen bedeutet, dass der Pate mit dem Heranwachsenden gleichwürdig arbeitet. Der Heranwachsende ist der Experte für sein Leben, sein Umfeld und seine Probleme und trägt dafür auch die volle Verantwortung. Der Pate ist Experte für alternative Sicht- und Verhaltensweisen und trägt die Verantwortung für die Gestaltung der Zusammenarbeit. 253 Die Stimmung in der Gruppe schien am letzten Tag, besonders beim letzten Stück, „gelöst“, es wird kein Druck ausgeübt. Zwischen den 253 Vgl. Draht, 2014, S. 20 f. 164 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Heranwachsenden und auch den Paten entstehen offene Gespräche. Aber auch ein solches Gespräch muss sich erst entwickeln: O-Ton ∣ „Also die waren sehr intensiv im Gespräch und der eine, mit dem ich dann gesprochen habe, der war da eher nicht so kommunikativ am Anfang, als die anderen zwei oder drei, da hatte ich das Gefühl, die hatten überhaupt kein Problem und haben locker und unaufhaltsam geplauscht.“ (Aussage Jugendamtsleiter) Die Sozialpädagogen von Freien Trägern als Paten Wissen ∣ Ergänzung zu bestehenden Angeboten Der Arbeitsweg ist eine Ergänzung zu bereits bestehenden Angeboten und beinhaltet den Empowerment-Ansatz. Der Arbeitsweg ist eine „gute Ergänzung zu den bereits bestehenden Angeboten des Freien Trägers. Da der [Freie Träger] keinen klassischen sozialen Trainingskurs anbietet, sondern sich mit ihrem Angebot bisher verstärkt auf den Aggressions- und Gewaltbereich fokussiert hat, bietet das Projekt „Arbeitsweg“ eine interessante Möglichkeit, diese Lücke zu füllen.“ (Aussage Mitarbeiter Freier Träger) Die Freien Träger erleben den Arbeitsweg „als eine neue, eigenständige Maßnahme, welche positive Grundideen einer Arbeitsauflage […], eines sozialen Trainingskurses […] und einer erlebnispädagogischen Maßnahme […] in sich vereint und zu einer neuen Einheit bringt.“ Der Arbeitsweg, insbesondere der beinhaltete Empowerment-Ansatz, ergänzt die Arbeit mit den Heranwachsenden. Das Empowerment ist ein Konzept für alle Arbeitsansätze in der psychosozialen Praxis, die die Menschen zur Entdeckung der eigenen Stärken ermutigen und ihnen Hilfestellungen bei der Aneignung von Selbstbestimmung und Lebensautonomie vermitteln. 254 Es wird von einer modernen Hilfe zur Selbsthilfe gesprochen. Diesem Ansatz wird der Arbeitsweg uneingeschränkt gerecht. Ein Mitarbeiter von einem Bildungsträger verweist auf die Ressourcenarbeit: 254 Vgl. Staub-Bernasconi, 2007, S. 247 Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 165 O-Ton ∣ „Im Speziellen bietet das Projekt ideale Voraussetzungen, um unsere Arbeit mit den jungen Menschen zu ergänzen. Neben Unterstützung bei der Selbstfindung und der Entwicklung […] können bereits vorhandene Ressourcen herausgearbeitet und verstärkt werden. Dies deckt sich mit dem Empowerment-Ansatz, welcher im Bildungsinstitut von höchster Bedeutung ist.“ (Aussage Mitarbeiter Bildungsträger). 255 Wissen ∣ Rolle Projektleiter Durch die professionelle Arbeit des Projektleiters profitieren die Kooperationspartner*innen. Die Mitarbeiter*innen der Freien Träger lernten vom Projektleiter, warum er sich in bestimmten Situationen so zur Gruppe verhält und auch „bestimmte Situationen zu erkennen. Durch seinen professionellen Umgang mit den Jugendlichen konnten wir von seiner Erfahrung profitieren. Er nahm sich immer wieder Zeit, uns zur Seite zu nehmen, um sein Handeln zu erklären und einzelne pädagogische Schritte vor dem Hintergrund der Zielsetzung der Maßnahme zu erläutern.“ Der Trainer muss in jeglicher Hinsicht Vorbild sein und Gruppenprozesse erfassen sowie jeden einzelnen Teilnehmer im Gruppenkontext beobachten. Gut begründen lässt sich das Lernen aus sozialer und kollektiver Sicht (Burow, 2011) damit, dass ein entscheidender Faktor im Vorhandensein von Personen besteht, die wie Magnete im Feld wirken können, indem sie mit ihrer Aktivität ein Beispiel geben, das Nachahmer anzieht. Diese Aktivität muss nicht immer positiv sein. Die Pilgerherbergen als Begegnungsstätten und als Paten O-Ton ∣ „Gut war zu sehen, dass es doch noch Menschen gibt, die einen nicht verurteilen, weil man mal Fehler gemacht hat im Leben, und einen nicht wie nen Schwerverbrecher behandeln.“ (Aussage eines Teilnehmers) Die Pilgerherbergen müssen sich auf die Besonderheiten der Heranwachsenden und des Projektes einlassen. Auch die sorgfältige Auswahl des Weges ist eine große Herausforderung und unabdingbare Voraus- 255 Teichert u.a., 2015, S. 24-25 166 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit setzung. Ein Mitarbeiter vom Jobcenter betont auch, dass es gar nicht so einfach ist, das gleiche Projekt zu übertragen: O-Ton ∣ „Die Unterkünfte müssen sich schon auf die Besonderheiten der Jugendlichen einlassen. Das hat der [Projektleiter] an verschiedenen Stellen eine Weile probiert und hat jetzt eine feste Route, wo er weiß, dass er geeignete Anlaufstellen hat. Ich denke, dass es nicht einfach ist, so etwas aufzubauen, und ist deshalb schwer übertragbar.“ Wissen ∣ Begegnungen in Pilgerherbergen Der Arbeitsweg fördert in den Pilgerherbergen Begegnungen unterschiedlicher Lebenswelten. Alle profitieren davon. Die Pilgerherbergen tragen einen großen Nutzen davon, wenn liegen gebliebene Arbeiten erledigt werden. Im Rahmen des Arbeitsweges findet nicht nur pädagogische Arbeit statt, sondern es wird auch gemeinnützig gearbeitet. Gemeinnützige Arbeit fördert das Gefühl, etwas für die Gesellschaft getan zu haben und zugleich prosoziales Verhalten. Ein Mitarbeiter der Pilgerherberge sieht in dieser Kooperation eine wichtige Reziprozität: O-Ton ∣ „Durch den Wegfall von geförderten Arbeitskräften ist es für uns nicht nur eine Aufgabe, straffällig gewordenen Jugendlichen eine Perspektive zu geben, sondern im Umkehrschluss für uns eine große Chance, „liegen gebliebene“ Arbeiten und Tätigkeiten in unserem fast 10000 m2 großen Gelände mit mehreren Gebäuden und Außenanlagen zu erledigen.“ Die Pilgerherbergen sind „dankbar für die tatkräftige Unterstützung und Mithilfe, die wir durch die jungen Erwachsenen im Rahmen der Ableistung ihrer Arbeitsstunden erfahren.“ Auch die anderen Gäste der Pilgerherberge profitieren von den Begegnungen mit den Heranwachsenden und umgekehrt. Zudem erreichen die Pilgerherbergen durch das Pilgerprojekt auch junge Menschen, die sonst schwer für Bildungsangebote zugänglich wären: „Gerade hierüber erreicht Erwachsenenbildung plötzlich eine Zielgruppe, die ansonsten unter den Teilnehmenden in Erwachsenenbildungsveranstaltungen - insbesondere im Bereich der allgemeinbildenden Erwachsenenbildung - gänzlich fehlen dürfte. So sind wir als Bischof-Benno-Haus dankbar, dass über das Projekt ‚Arbeitsweg‘ auch Menschen erreicht werden, bei Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« 167 denen es für gewöhnlich nur schwer gelingt, sie für Weiterbildungsangebote zu bewegen.“ (Aussage Mitarbeiter Pilgerherberge) 256 Pilgerherbergen bringen Menschen, die keine Straftat begangen haben, und Menschen, die eine Straftat begangen haben, zusammen. Das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Lebenskontexten (zwei „Welten“) erweitert den Blick für andere Lebenswelten. So ist jeder gezwungen, sich mit der Lebenswelt des anderen auseinanderzusetzen. Pilgerherbergen sehen diese Begegnung als sehr bereichernd an und sind dankbar. O-Ton ∣ „Es sind aber nicht nur die Teilnehmenden des „Arbeitsweges“, die von Begegnungen profitieren können, sondern auch die vielen anderen Gäste im Bischof-Benno-Haus. So ist die Behauptung sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen, dass mit den jugendlichen Straftätern und ihren jeweiligen Lebenskontexten sowie mit den sonst ‚üblichen‘ Gästen eines kirchlichen Hauses der Erwachsenenbildung - und auch mit seinen Mitarbeitenden - nicht selten zwei ‚Welten‘ aufeinanderprallen: Doch ist genau diese Begegnung der verschiedenen Lebens- ,Welten‘ Bildungs- und Lernort par excellence. Gerade als kirchliches Bildungshaus - einbezogen und integriert in den Kontext ‚Kirche‘ - tut diese Art der ‚Verweltlichung‘ gut und bewahrt vor einem allzu isolierten Blick auf nur bestimmte Lebensformen und -situationen von Menschen. Für diese Begegnungsmöglichkeiten, die sich uns als Haus auch über die jungen Erwachsenen des ‚Arbeitsweges‘ für unsere Gäste und Mitarbeiter bieten, sind wir dankbar.“ (Aussage Mitarbeiter Pilgerherberge) Literatur Albrecht, Günter. (2010). Jugend: Recht und Kriminalität. In: Krüger Heinz- Hermann & Grunert, Cathleen. (Hrsg.). Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. (2. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 831-906. Arbeitskreis der HochschullehrerInnen Kriminologie / Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit. (2014). Kriminologie und Soziale Arbeit. Beltz Juventa. Abeld, Regina. (2017). Professionelle Beziehungen in der Sozialen Arbeit. Eine integrale Exploration im Spiegel der Perspektiven von Klienten und Klientinnen. Springer VS. 256 Teichert u.a., 2015, S. 25-26 168 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Birgmeier, Bernd. (2014). Handlungswissenschaft Sozialer Arbeit. Eine Begriffsanalyse. Wiesbaden: Springer Verlag. 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Der Aufbau eines Arbeitsbündnisses in Zwangskontexten-professionstheoretische Überlegungen im Licht verschiedener Fallstudien. In: In: Becker-Lenz, Roland & Busse, Stefan & Ehlert, Gudrun & Müller- Hermann, Silke. (Hrsg.). Professionalität in der Sozialen Arbeit. Standpunkte, Kontroversen, Perspektiven. (3. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Springer Fachmedien. S. 163. Voigt, Dieter. (1992). Sportsoziologie. Soziologie des Sports. Frankfurt am Main: Verlag Moritz Diesterweg GmbH & Co. 6 Pilgern im freiwilligen Kontext - Ergebnisse einer Pilgerreise nach Norwegen von Kati Masuhr O-Ton ∣ „ Es war ein miteinander. Jeder hat jedem geholfen.“ (Betreuerin) Wissen ∣ Über die Evaluation Die nachfolgende Evaluation von Frau Dr. Kati Masuhr stellt das gegenwärtige Maximum dar, was im Programm »Zwischen den Zeiten« mit jungen Pilgern erreicht werden kann. Obwohl eingangs erwähnt wurde, dass eine erneute Teilnahme mit dem Zweck der Ableistung von gemeinnützigen Arbeitsstunden ausgeschlossen ist, wird allen jungen Menschen eine fortschreitende Teilnahme unter freiwilligen Aspekten ermöglicht. Dies geschieht jedoch unter dem Vorzeichen, sich aus eigenem Antrieb deutlich höheren Zugangsbedingungen zu stellen, sowohl physisch als auch psychisch. Physisch bedeutet es vor allem, dass die Pilgerstrecken deutlich länger und anspruchsvoller sind, und psychisch manifestiert sich die neue Herausforderung an gänzlich unbekannten Umgebungen und einer vollkommen neuen Gruppenzusammensetzung. Das pädagogische Ziel, das hiermit verfolgt wird, lässt sich am einfachsten mit dem Begriff eines „Milieusprungs“ illustrieren. 174 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Sie werden also auf den nächsten Seiten drei jungen Menschen, aus dem Bereich Jobcenter, begegnen, die nach entsprechender Vorbereitung bereit waren, sich auf eine zum Teil eigenfinanzierte Pilgersreise durch Norwegen zu begeben und dabei Menschen verschiedenster sozioökonomischer Herkunft, Altersklassen und religiös/ spirituellen Hintergründen intensiv zu begegnen. Hintergrund Das Pilgern als eine sozialpädagogische Maßnahme wurde bereits in verschiedenen Kontexten angewendet. Dabei wurde die Methode unter anderem mit straffällig gewordenen Jugendlichen als Alternative zur Ableistung von Arbeitsstunden und mit benachteiligten Jugendlichen sowohl in gleichgeschlechtlichen als auch gemischt geschlechtlichen Gruppen durchgeführt. Im hier vorgestellten Fallbeispiel wird das Pilgern als eine Methode regelmäßig von einer Ausbildungsstätte für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten durchgeführt. Die Ausbildungsstätte bietet den Jugendlichen die Möglichkeit, im Rahmen einer intensiveren und länger andauernden Ausbildung einen Facharbeiterabschluss zu erlangen. Hierzu werden verschiedene Berufsausbildungen angeboten. In Kooperation mit der Sächsischen Jugendstiftung wurden bereits mehrere Pilgertouren mit Jugendlichen der Ausbildungsstätte durchgeführt. Einer Gruppe von Jugendlichen wurde die Möglichkeit gegeben, weiterführend an einer längeren Pilgertour teilzunehmen, welche erfolgreich durchgeführt wurde. Darüber hinaus wurde über die Stiftung der Kontakt zu einem Organisator einer, hinsichtlich des Alters, des Geschlechts und des Bildungshintergrundes, sehr heterogen zusammengesetzten Pilgergruppe initiiert. Dadurch entstand die Möglichkeit für drei Jugendliche, an einer Pilgerreise im Ausland in dieser Gruppe teilzunehmen. Während die Jugendlichen vorab mit Jugendlichen aus der gleichen Ausbildungsstätte und dementsprechend ähnlichen Problemlagen gemeinsam gepilgert sind, setzte sich die neue Gruppe aus sehr unterschiedlichen Personen zusammen. Die Pilgergruppe bestand aus 16 Personen. Die Jugendlichen bildeten die jüngste Altersgruppe, die restlichen Teilnehmenden waren zwischen 35 und 75 Jahren. Auch vom sozialen Status bzw. dem Bildungshintergrund war die Pilgergruppe sehr heterogen aufgestellt. Neben einem Pfarrer mit seinem Stellvertreter Pilgern im freiwilligen Kontext 175 und dem Fahrer, welcher nicht an den Wanderungen teilnahm, waren unter anderem ein ehemaliger Professor, ehemalige oder noch tätige Erzieher*innen bzw. Lehrer*innen, ein Arzt, eine Krankenschwester und eine Studentin mit dabei, des Weiteren ein Ehepaar mit einer schwerkranken Ehefrau. Die Erfahrungen und Erkenntnisse, die die Jugendlichen innerhalb der Pilgerreise gemacht haben, werden im Folgenden aus der Sicht einer Mitarbeiterin der Ausbildungsstätte berichtet, die die Jugendlichen sowohl in der Ausbildung als auch auf den jeweiligen Pilgerreisen begleitet hat. Ausgangslage und Rahmenbedingungen Auswahl der jugendlichen Teilnehmenden Drei Plätze konnten innerhalb der Ausbildungsstätte an die Jugendlichen vergeben werden. Dazu wurde vorab von den Mitarbeiter*innen der Ausbildungsstätte geprüft, welche Jugendlichen für die internationale Pilgerreise in Frage kommen. Dabei spielten bei der Auswahl von zwei Personen aus einem Ausbildungsgang die Fragen nach dem Durchhaltevermögen („Wer hält das durch? “ (Z. 66)) und dem vermuteten persönlichen Mehrwert („Wem bringt das was? (Z. 67)) eine wesentliche Rolle. Aufgrund des hohen Interesses der Jugendlichen aus einem weiteren Ausbildungsgang an dem verbliebenen Platz wurde per Los darüber entschieden, welche Person an der Reise teilnehmen darf. Die Jugendlichen wurden vorab als begeistert und realistisch beschrieben: „Die wussten schon wirklich, was auf sie zukommt“ (Z. 115). Zur Vorbereitung gab es monatliche Treffen mit der Betreuerin. Hierbei haben sich die Mitarbeiterin und die Jugendlichen bereits näher kennengelernt. Strecke und Kostenübernahme der Reise Die Pilgerreise dauerte insgesamt drei Wochen. Davon waren die Jugendlichen mit der Gruppe 14 Tage zu Fuß unterwegs. Als Strecke wurde der St. Olavsweg in Norwegen gelaufen. Für die Pilgerreise musste vorab die Übernahme der Kosten geklärt werden. In Bezug auf die Gesamtsumme, die gedeckt werden musste, wurden die Jugendlichen befragt, welchen Anteil sie selbst übernehmen können bzw. was für sie möglich sei. Der Eigenanteil, den die Jugendlichen leisteten, fiel dabei unterschiedlich hoch aus. Die Höhe der Anteile 176 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit betrugen 100, 150 und 300 Euro. Dieser Beitrag wurde von den Jugendlichen freiwillig entrichtet. Der restliche Betrag wurde von den anderen institutionellen Beteiligten, der Ausbildungsstätte und der Jugendstiftung getragen. Bezüglich des Eigenbeitrags haben die Jugendlichen zunächst „gestutzt“ (Z. 104), da bei den früheren Pilgerreisen die Kosten übernommen wurden. Bei dieser Reise musste jedoch aktiv ein finanzieller Beitrag der Jugendlichen geleistet werden. Es wird jedoch auch berichtet: „Die wollten das unbedingt.“ (Z. 109) Daher gab es von Seiten der Jugendlichen die Einsicht, dass etwas aktiv zur Teilnahme an der Pilgerreise geleistet werden muss. Wahrnehmung der Jugendlichen Die Betreuerin schätzte die Jugendlichen vor der Reise als sehr unterschiedlich ein. Eine Person wurde als eher ruhig und verschlossen beschrieben, mit Problemen in der Ausbildung und der Schule. Bei dieser Person wurde jedoch schon auf der ersten Pilgertour festgestellt, dass sie ein gewisses Durchhaltevermögen hat. Bereits durch die ersten Pilgertouren wurden bei der Person positive Veränderungen festgestellt bis zum guten Abschluss der Lehre: „[D]er hat sich schon nach den ersten Pilgertouren irgendwie gesteigert, so sein Ganzes, der Zusammenhalt.“ (Z: 138) Eine andere Jugendliche wurde eher als energiegeladen, sehr interessiert und willensstark mit eigenen Schwierigkeiten beschrieben. Die dritte Person wurde als guter Auszubildender beschrieben, welcher bei anderen anerkannt ist und bereits einiges an Verantwortung in seinem Ausbildungsbetrieb übernimmt. Die Betreuerin und die Jugendlichen haben sich gemeinsam über die Strecke und das Gelände informiert. Dabei gab es bei der Vorbereitung Bedenken von Seiten der Betreuerin, ob die Jugendlichen weiterhin für die Pilgertour bereit sind. Weitere Bedenken der Betreuerin bezogen sich darauf, dass die Jugendlichen eine solch lange Zeit weit weg von zu Hause sind. Zweifel von Seiten der Jugendlichen bezüglich der Wegstrecke und der Anstrengungen konnte sie dabei nicht erkennen: „Ich glaube, das war denen gar nicht so bewusst.“ (Z. 160) Bedenken gab es zuvor eher von einer anderen verantwortlichen Person aus der Pilgergruppe. Hierzu wurde vorab besprochen, welche Besonderheiten die Jugendlichen mitbringen: Drogen, Alkoholprobleme, rechtes Denken. Pilgern im freiwilligen Kontext 177 Ergebnisse und Wirkungen der Pilgerreise Auf der insgesamt dreiwöchigen Pilgerreise haben die Jugendlichen verschiedene Begegnungen sowohl mit Personen als auch Situationen und Themen erlebt. Zudem haben sie während der Hin- und Rückreise, aber auch während des Laufens verschiedene Erfahrungen gemacht. Diese Aspekte werden im Folgenden zusammenfassend dargestellt. Begegnungen Erstes Kennenlernen / Kontaktaufnahme Während die Mitpilgernden sich bereits bei einem Vorabtreffen untereinander kennenlernen konnten, trafen die Jugendlichen als auch die Betreuerin diese zu Beginn der Pilgerreise zum ersten Mal. Bei Ankunft am Treffpunkt wurden die Jugendlichen als sehr angespannt wahrgenommen. Die Betreuerin gab an, dass die Jugendlichen „große Ängste [hatten], was da für Leute sind“ (Z. 266) und sich mit: „Und können wir uns an Sie dann halten? “ (Z. 274) versichern wollten, dass die Betreuerin für sie da ist. Diese Ängste ergaben sich vor allem daraus, dass die Jugendlichen darüber informiert waren, dass es sich bei den Mitpilgernden um Personen handelte, die überwiegend wesentlich älter waren als sie und einen anderen Bildungshintergrund hatten. Insbesondere der von den Jugendlichen wahrgenommene Bildungsunterschied zwischen ihnen und dem Arzt sowie dem Lehrer wurde von den Jugendlichen scheinbar als beängstigend erlebt. Die Jugendlichen nahmen sich demgegenüber als „kleine Lehrlinge“ (Z. 270) wahr. Diese Begegnung war für die Jugendlichen völlig neu. Von der Betreuerin wurde als Reaktion darauf verwiesen, dass sie hier „ein Team [seien], dann müssen wir schon alle zusammenhalten“ (Z. 274). Von der herzlichen Begrüßung durch die Mitpilgernden waren die Jugendlichen sehr überrascht. Von der Betreuerin wurde dementsprechend geäußert: „Alle waren schon da. Und wir kamen dazu. Und da habe ich schon gemerkt: die Lehrlinge. Wir sind hin, aber es war so was Herzliches. Ach hallo, ihr seid die aus Sachsen.“ (Z. 311) Beim ersten Kennenlernen wurden die Jugendlichen als interessiert und neugierig wahrgenommen. Die Betreuerin berichtete jedoch auch, dass die Jugendlichen sich sehr stark an sie „geklammert“ (Z. 322) hätten. Insgesamt zeigten die Jugendlichen zu Beginn große Ängste Personen zu begegnen, die einen anderen Lebens- und Bildungshintergrund als sie selbst haben. Womöglich wurden diese Personen als bedrohlich, 178 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit fremd wahrgenommen, weil sie vermeintlich anders sind als die Jugendlichen und auch anders als Personen aus dem gewohnten Umfeld der Jugendlichen. Zusammenfinden in der Gruppe Im weiteren Verlauf der Reise zeigte sich, dass die anfängliche Scheu der Jugendlichen langsam abnahm. Dabei agierten die drei Jugendlichen sehr unterschiedlich in Bezug auf die aktive Kontaktaufnahme zu den Mitpilgernden. Einer der drei Jugendlichen fiel es eher leicht Kontakte zu knüpfen. So wurde berichtet: „[Sie] hat sich gleich das Ehepaar gekrallt. […] Und da habe ich das so beobachtet […]. Ach die reden und schnattern schon. Und es war ganz nett.“ (Z. 381) Im Gegensatz dazu waren die anderen beiden eher zurückhaltender und zeigten großen Respekt vor allem bei Gruppenmitgliedern mit einem höheren Ansehen bzw. Status. So wird geäußert: „Die hatten wirklich noch Respekt vor den Ärzten und Lehrern (Z. 392) […] Obwohl sie auch geantwortet haben, wenn sie gefragt worden. Das haben sie dann schon gemacht.“ (Z. 395) Diese beiden Jugendlichen wurden daraufhin von einem anderen Gruppenmitglied intensiv mit einbezogen. So wurde von der Betreuerin geäußert: „Und der hat sich sehr unseren Jungs angenommen. Das fand ich ganz toll. Die ganze Zeit. Hat die wirklich so bisschen so, dass die aus sich raus gehen […] Das war richtig super (Z. 387) […] auf der Fahrt ist so das Eis gebrochen.“ (Z. 391) Durch ein gemeinsames Thema wurde es den Jugendlichen leichter gemacht, sich zu öffnen und andere kennenzulernen: „Nun hatten sie das gleiche Thema Fußball. Und […] ich dachte: den Jungen hast du noch nie so viel reden hören. Also es war echt toll.“ (Z. 402) Das Kontakteknüpfen wurde den Jugendlichen weiterhin u.a. durch die geschlechtergetrennten Übernachtungen mit teilweise variierenden Zimmerbelegungen erleichtert. Im Allgemeinen wurde wahrgenommen, dass sich die Kontakte zu den Mitpilgernden bereits während der Hinreise intensivierten: „Und auf der Fähre waren wirklich sehr intensive Kontakte.“ (Z. 380) Zwei Ereignisse führten insbesondere dazu, dass sich die Ängste und Vorbehalte der Jugendlichen in Bezug auf Personen mit einem vermeintlich höheren Status veränderten. Zum einen handelt es sich dabei um einen Vorfall, bei dem eine fremde Pilgerin einen Herzanfall hatte und der mitpilgernde Arzt und die Krankenschwester hier Erste Hilfe geleistet haben. Dieses Erlebnis war für die Jugendlichen sehr aufregend und machte den Arzt für sie als Menschen greifbarer. Dement- Pilgern im freiwilligen Kontext 179 sprechend berichtet die Betreuerin „Und da haben sie dann gemerkt: ach, ist ja ein ganz normaler Mensch dieser Doktor.“ (Z. 516) Auch aus den späteren Erzählungen von einem mitpilgernden Professor über seine ehemalige Tätigkeit als Gerichtsmediziner offenbarten sich für die Jugendlichen neue Erkenntnisse. So wurde geäußert: „Und […] unser Professor. Das war nun wieder interessant, wenn er so mal ein paar Sachen erzählt hat. Und der ist ja ganz normal, haben die zu mir gesagt. Mit dem kann man ja richtig normal reden. Ich sag: na, das ist ein Mensch.“ (Z. 519) Aus diesen Erfahrungen heraus veränderte sich bei den Jugendlichen die Perspektive auf die Gruppenmitglieder. Diese wurden für die Jugendlichen als Menschen, wie sie, greifbarer und die Scheu vor dem Kontakt ließ nach: „Und dann haben die auch mit dem geredet. Also es war schon lustig.“ (Z. 524) Für einen Teilnehmer war es scheinbar ein weiteres wichtiges Erlebnis, dass er, gemeinsam mit dem Pfarrer und der Betreuerin in einem Restaurant zu Abend gegessen hat. Dies wurde für den Jugendlichen als besonderer Moment beschrieben und dazu angemerkt: „Das war, glaube ich, für den […] noch mal so ein Highlight: der Herr Pastor geht mit ihm, und ich noch dazu. Wir gehen zusammen, nur wir drei, Abendessen. Das hat er richtig genossen.“ (Z. 829) Zudem wurde der Teilnehmer gegenüber früher in diesem Moment als sehr redefreudig beschrieben. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Jugendliche das Abendessen als besonders erlebt, weil es in kleinerer Runde stattfand und er dadurch festgestellt hat, dass er ein gleichwertiger Bestandteil der Gruppe ist. Zusammenhalt in der Gruppe Insgesamt wurde die Gruppe als eine gute Gruppe beschrieben: „Also die Gruppe an sich, muss ich sagen, war toll.“ (Z. 488) Die Durchmischung beim Laufen und bei den Übernachtungen von Beginn an förderte den Zusammenhalt und bestärkte das Gruppenzugehörigkeitsgefühl. Dementsprechend wurde von der Betreuerin festgestellt: „[W]ir waren schön in die Gruppe integriert. […] Das war wirklich super. Man hat das nicht gemerkt: Hier sind wir und hier sind die. Gar nicht.“ (Z. 757) Auch die Arbeitsteilung verhalf den Jugendlichen sich zu integrieren, ihren Anteil am Zusammenleben zu leisten und Verantwortung zu übernehmen, ihr Können unter Beweis zu stellen und darüber hinaus Wertschätzung zu erfahren. „Man hat ja auch ein bisschen Verantwortung. [TN1] hat sich dann so reingehängt. Die hat zum Beispiel die Tische gedeckt. Die hat draußen irgendwelche Pflanzen geholt. […] Dann 180 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit hat die dort die Tische dekoriert. […] Die Leute: Wow. Also toll.“ (Z. 1127) Auch ein anderer Jugendlicher hat als gelernter Beikoch eine Aufgabe übernommen, indem er für die Pilgergruppe gekocht hat: „Er hat es ja sehr gerne gemacht. […] Es hat auch phantastisch geschmeckt. Die haben ja alle nur geschwärmt.“ (Z. 723) Es wurde berichtet, dass der erlebte Zusammenhalt für die Jugendlichen jedoch auch ungewohnt und erstaunlich war: „[TN1] hat dann manchmal zu mir gesagt: Frau [IP], das gibt es überhaupt nicht. Dass das so zusammenhält. Dass die so zusammenhalten. Ich habe dann immer gesagt: Nun überlegt mal, wo wir hier sind. Wir sind mitten im Nichts. Im Niemandsland. Wir müssen uns aufeinander verlassen können.“ (Z. 495) Im Rahmen der Gruppe erlebten die Jugendlichen Akzeptanz, Gleichberechtigung, gegenseitigen Respekt und Unterstützung bei Tiefpunkten und Problemlagen. Die Betreuerin äußerte dazu: „Es war ein Miteinander. Jeder hat jedem geholfen.“ (Z. 494) Umgang miteinander Insgesamt wurde die Atmosphäre als durchgängig entspannt beschrieben: „Es ist nie Hektik aufgekommen.“ (Z. 494) Die Jugendlichen bemerkten vor allem das freundliche und höfliche Miteinander: „Was die Jugendlichen immer wieder gesagt haben: Mensch […] die bedanken sich wegen jedem bisschen. […] So was kennen die nicht. Oder früh, das Begrüßen: Guten Morgen [TN1], Guten Morgen [IP] oder Guten Morgen [TN2].“ (Z. 488) Die Höflichkeit untereinander, die entgegengebrachte Geduld wurden von den Jugendlichen selbst in ihr Verhalten übernommen: „Das waren so Sachen, in dieser Ruhe. Ich glaube das haben die auch genossen. […] Das kannten die einfach gar nicht. Und das ist bei denen dann richtig in Fleisch und Blut übergegangen.“ (Z. 491). Es kann vermutet werden, dass die Höflichkeit von den Jugendlichen als anerkennend und wertschätzend empfunden wurde und sie durch gleiches Verhalten dieses zurückgeben wollten und daher diese Verhaltensweisen aktiv übernommen haben. Des Weiteren bildeten die Gespräche und der Austausch in der Gruppe einen wichtigen Rahmen, der regelmäßig gepflegt wurde: „[W]enn irgendwas aufkam, hat immer jeder mit jedem geredet. Also das fand ich gut. Egal was es jetzt für eine Situation war. Ob es jetzt einem schlecht ging. Oder sonst etwas.“ (Z. 555) Zudem wurde beobachtet, dass die Qualität der Gespräche eine besondere Wirkung auf die Jugendlichen hatte. So wurde berichtet: „[E]s waren nie oberflächliche Gespräche. Es waren lustige Gespräche. Aber es war auch, so gerade wenn sie so von den Familien erzählt haben. Jeder hat auch erzählt[.] […] Das war so Pilgern im freiwilligen Kontext 181 vom Niveau her. Ich denke mal, das hat denen so gutgetan. Auch mal was anderes zu sehen und zu hören.“ (Z. 684) Der Effekt der ernsthaften und ehrlichen Gespräche führte zu Offenheit, Vertrauen untereinander, so dass die Jugendlichen auch von sich berichteten: „Je länger wir auch zusammen waren, desto mehr haben die sich ja geöffnet und von sich erzählt“ (Z. 691). Umgang mit schwierigen Situationen innerhalb der Gruppe Mit einem Gruppenmitglied gab es insofern Schwierigkeiten, als das die Person mit ihrer Selbstbezogenheit, persönlichen Aufarbeitung und mit ihren emotionalen Ausbrüchen für die Jugendlichen schwer in den Rahmen des Pilgerns mit der Gruppe passte. Es wurde berichtet, dass es den Jugendlichen schwerfiel, mit solch einem Verhalten umzugehen. Dazu wurde geäußert: „[immer] wieder ist die so in Tränen ausgebrochen. Und damit konnten unsere Jugendlichen überhaupt nicht umgehen. […] [D]ie […] haben das überhaupt nicht verstanden, dass da solche privaten Probleme aufgearbeitet werden. […] [W]o sie dann manchmal zu mir gekommen sind und gesagt haben: Ich verstehe das alles nicht. Mir geht das auf den Zeiger, hat dann der [TN3] gesagt. Die soll mich in Ruhe lassen.“ (Z. 460) Die Betreuerin hat daraufhin Gespräche mit den Jugendlichen gesucht, um die Situation mit ihnen zu besprechen: „Und dann musste man dann auch wieder reden.“ (Z. 471) Bei der Arbeitsteilung gab es mit einem Jugendlichen Schwierigkeiten insofern, dass er als gelernter Beikoch seine Aufgabe sehr wichtig nahm. Die gleichzeitige Wertschätzung seiner Kochkünste führte jedoch letztendlich zu einem überambitionierten Verhalten. Es wurde berichtet, dass er den „Hut auf[hatte]“ (Z. 722), jedoch von einigen Gruppenmitgliedern gebremst werden musste, damit die Balance von Miteinander und Arbeitsteilung wiederhergestellt werden konnte. Themen der Gruppe Auch innerhalb der Pilgergruppe sammelten die Jugendlichen Erfahrungen beim Austausch zu Themen, die sie beschäftigten. Dabei stellten sie auch ihre derzeitigen Einstellungen und Denkweisen dar und konnten in den Gesprächen andere Sichtweisen erfahren. Eine Diskussion gab es bereits am ersten Pilgertag zum Thema Todesstrafe. Während zwei Jugendliche sich zurückzogen, diskutierte ein Jugendlicher mit dem Pfarrer und anderen Mitpilgernden. Es wird berichtet, dass es dem Jugendlichen schwerfiel, die ablehnende Haltung gegenüber der Todesstrafe nachzuvollziehen. Durch Erläuterungen und 182 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Nachfrage des Pfarrers wurde im Gespräch gemeinsam geklärt, warum eine Haftstrafe eine größere Bestrafung als die Todesstrafe darstellt. Aus dem Interview geht jedoch nicht hervor, welche Wirkung dieser Austausch auf den Jugendlichen hatte. Durch eine latent ablehnende Aussage eines Jugendlichen in Bezug auf das Thema Flüchtlingspolitik wurde ein weiterer Austausch provoziert: „[…] [mehr so rausgeplatzt: ach die. Oder so. Wo dann schon die Formulierung: wer die? Die [Mitpilgernden] waren dann etwas feinfühliger und das fand ich toll.“ (Z. 952) Positiv kann festgestellt werden, dass bei einer anderweitigen bzw. ablehnenden Haltungen und rechtspolitischen Ansichten, die Jugendlichen nicht von den Mitpilgernden abgelehnt wurden, sondern diese Äußerungen zu Nachfragen und Diskussionen geführt haben: „Aber da haben sie alle so, sich dann mit den dreien beschäftigt.“ (Z. 933) Hierzu stellt die Betreuerin fest, dass es im Alltag mit den Jugendlichen häufig nicht möglich sei, so ausführlich derlei Äußerungen auszudiskutieren. So wurde angegeben, dass es Äußerungen gebe, die „wir hier schon überhören, was wir hier jeden Tag haben. Da kann man gar nicht mehr so darauf eingehen.“ (Z. 953) Die Betreuerin stellt für sich fest: „Und das habe ich mir auch viel angenommen, muss ich sagen. […] [V]ielleicht noch genauer hinzuhören.“ (Z. 955) Von Seiten der Betreuerin wurden als Reaktion in diesen Gesprächen Fehlinformationen mit politischen, geschichtlichen Fakten aufgeklärt und Erfahrungen aus der praktischen Ausbildung eingebunden, um den Jugendlichen Gegenbeispiele aus dem eigenen Umfeld aufzuzeigen (Wahrnehmung von Migranten und Migrantinnen als Einkäufer im Lehrgeschäft). Bemerkbar wurden vor allem Zweifel, Unsicherheiten und Sorgen der Jugendlichen in Bezug auf die Flüchtlingspolitik: „Was soll denn das alles werden, wenn das wird.“ (Z. 933) Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Jugendlichen sich in den Gesprächen bzw. Auseinandersetzungen ernst genommen gefühlt haben und Vertrauen hatten, sich zu öffnen, ohne dabei abgelehnt zu werden: „Es wurde immer gesprochen. Und immer so: Pass mal auf, Mensch. Ich hatte das auch mal. Oder als Jugendlicher haben wir das gemacht. Oder so. Das war immer so ein Nehmen und Geben. […] Jeder durfte da seine Sachen sagen.“ (Z. 946) Für die Jugendlichen ergab sich dadurch die Möglichkeit, andere Sichtweisen und Perspektiven zu erfahren, mit den eigenen zu vergleichen und ggfs. daraus Erkenntnisse abzuleiten. Pilgern im freiwilligen Kontext 183 Begegnungen mit Gastgebern und Einheimischen Die Gastgeber und Einheimischen wurden als sehr zuvorkommen beschrieben. Die Herzlichkeit und Freundlichkeit überraschte die Jugendlichen während der gesamten Pilgerreise immer wieder. So berichtete die Betreuerin: „Also das, was sie [die Jugendlichen] immer gesagt haben und wo die immer baff waren, war diese Freundlichkeit. Da haben die gesagt, […] [wir] sind ja mit offenen Armen empfangen worden. Und jeder ist freundlich. Auch auf der Straße. Und lustig. Und alles ging in Ruhe zu. Die [TN1] ist manchmal aus dem Staunen überhaupt nicht mehr herausgekommen. […] [Sie] hat dann immer gesagt: Meine Güte, die sind ja schon wieder so freundlich.“ (Z. 697) Auch die Jugendlichen wurden während der Begegnungen mit anderen Menschen in den Pilgerunterkünften als zugewandt wahrgenommen. Sie zeigten sich sehr neugierig und interessiert. Es gab regelmäßig an den Abendstunden eine Vielzahl an Themen, die der Pilgergruppe entweder vorgetragen oder durch die Begegnungen erlebt wurden: „Das waren auch so Momente, wo die nur so dagesessen. Mal wieder was anderes. Ein anderes Thema.“ (Z. 666) Dabei sammelten sie Erfahrungen zu den unterschiedlichen und vielfältigen Lebenswegen und Lebensweisen der Menschen, die ihnen begegneten. Die Jugendlichen waren unter anderem erstaunt über eine junge deutsche Frau, die nach dem Pilgern in Norwegen blieb und für sie an einem Abend sang, und auch über die Frau mittleren Alters, die ohne Familie, allein einen Bauernhof und eine Pilgerunterkunft bewirtschaftet. Besonders überrascht waren die Jugendlichen über die Erkenntnis, dass auch die Königsfamilie Norwegens pilgert und zur selben Zeit sogar der Prinz in der Unterkunft verweilte. So berichtete die Betreuerin: „Und dieser Prinz […] läuft wohl mit seiner Frau dort immer diesen Weg. Und nun sind die auch in diesem Haus. […] Und das war für die Jugendlichen so: Ob die das gleiche Essen kriegen? […] Das war so sehr wichtig für sie. […] Das war für die schon: wirklich? Machen die das wirklich? “ (Z. 798) Begegnungen mit Religiösität Vor Beginn der Pilgerreise informierte die Betreuerin die Jugendlichen darüber, dass die Religiosität auf der Pilgerreise eine wichtige Rolle spielen wird, dass es ein Frühgespräch, eine Mittags- und eine Abendandacht geben wird. Da alle drei Jugendlichen selbst konfessionslos waren, bereitete die Betreuerin die Jugendlichen darauf vor: „das muss euch klar sein“ (Z. 256) und „entweder ihr lasst euch da ein mit Haut 184 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit und Haaren und guckt mal, lasst es auf euch draufzukommen. Oder es ist nicht für euch.“ (Z. 258) Die Jugendlichen gaben an, dass sie sich darauf einlassen wollten: „Nee, das machen wir und das wollen wir auch.“ (Z. 260) Während der Reise und nach den ersten Kontakten mit Religiosität schienen die Jugendlichen überrascht und begeistert und äußerten dementsprechend: „Mensch, das ist ja richtig cool.“ (Z. 324) Bei der gemeinschaftlichen Abendandacht wurde gesungen, was für die Jugendlichen eine weitere Erfahrung war und sie begeisterte. „[U]nsere erste Begegnung mit Singen. Und die Lehrlinge […] waren total begeistert.“ (Z. 350) Bereits bei den ersten Andachten bemerkte die Betreuerin, dass die Ausgestaltung des religiösen Rahmens auf die Jugendlichen eine erstaunliche Wirkung hatte. Die Jugendlichen waren ebenso emotional ergriffen und überwältigt wie die anderen Mitpilgernden. So wurde von „Gänsehautmoment[en]“ (Z. 574) bzw. „ergreifenden“ (Z. 582) Situationen berichtet. Die vorangegangenen Zweifel der Betreuerin an der Anteilnahme der Jugendlichen bei den Andachten und beim gemeinsamen Singen wurden durch das Sich-darauf-einlassen, Teilnehmen und dem tatsächlichen Mitsingen der Jugendlichen ausgeräumt. So wurde von ihr geäußert: „Es war so symbolisch. Und da haben die Jugendlichen, die konnten es gar nicht fassen. Also, wo ich so manchmal so am Anfang gedacht habe: Wenn sie es nicht ernst nehmen, lassen sie es sich vielleicht nicht anmerken. Aber dann, man hat richtig gemerkt, wie die dabei waren. Und es war für alle ergreifend. [S]ogar für meine drei war ich richtig stolz, dass sie auch dann mitgesungen haben und so richtig bei der Sache waren.“ (Z. 571) Die enorme Wirkung, die der religiöse Rahmen dabei auf die Jugendlichen hatte, wurde mit dem Gefühl der Zugehörigkeit und dem gemeinsamen Erleben beschrieben. So äußerte die Betreuerin: „Wahnsinn. Das war wahrscheinlich auch durch die Gruppe. Weil alle. Die waren alle so geflasht. […] Die [Jugendlichen] konnten sich gar nicht entziehen. Keiner konnte sich dort entziehen. Also das war einfach nur toll.“ (Z. 586) Insgesamt wurden die Jugendlichen von der Betreuerin in Bezug auf die religiösen Momente während der Pilgerreise als sehr offen beschrieben. Die Betreuerin betont und wiederholt den Begriff „richtig“, woraus sich schließen lässt, dass die Jugendlichen echt, authentisch und vollkommen dabei waren. Es wurde beobachtet, dass sie an diesen Bestandteilen der Pilgerreise nicht nur passiv, sondern aktiv teilgenommen und als einen wesentlichen Bestandteil für sich wertgeschätzt haben. Diese Pilgern im freiwilligen Kontext 185 Wertschätzung zeigte sich vor allem durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Jugendlichen sowie an einer aktiven Teilnahme, welche darin mündete, dass die Jugendlichen „zum Schluss sogar das Vaterunser“ (Z. 262) konnten. Kulturelle und geschichtliche Begegnungen Die norwegische Kultur wurde von den Jugendlichen sehr interessiert aufgenommen. Auffällig und erstaunlich waren für die Jugendlichen das gesellschaftlich selbstverständliche Umweltbewusstsein, die Sauberkeit und der Umweltschutz der Norweger, sowie die teilweise geringe Auswahl und Qualität regionaler Produkte und der Umgang mit dem Verkauf von Alkohol. Ebenso positiv nahmen die Jugendlichen die Sportbegeisterung der Norweger wahr. Zudem wurde die Gepflogenheit, abends Kaffee zu trinken und etwas Süßes bzw. Gebäck dazu zu essen, als interessant empfunden. Aufgrund der vielen Begegnungen mit Gastgebern und Einheimischen wurde sehr viel Englisch gesprochen. Die Jugendlichen stellten jedoch fest, dass ihr Schulenglisch für Unterhaltungen und das Verständnis nicht ausreichend war. Da in den Pilgerunterkünften jedoch auch einige Menschen deutsch gesprochen haben und ansonsten übersetzt wurde, konnten die sprachlichen Barrieren aufgehoben werden. Zwei kulturelle Begegnungen, der Gesang einer jungen Frau und das Orgelkonzert von zwei Studierenden, die extra eine Vorstellung für die Pilgergruppe gaben, wirkten auf die Jugendlichen als besondere Erlebnisse. Dabei stellen die Jugendlichen erstaunt fest: „[D]ie sind extra wegen uns? Und wir haben eine Extra-Einladung. Und was ziehen wir da an? “ (Z. 890) Obwohl die Betreuerin einschätzte, dass klassische Musik für die Jugendlichen sonst eher ungewöhnlich sei, stellt sie fest: „Die waren ganz aufmerksam. Das war auch so ein Moment: Oh, das machen die für uns“ (Z. 893) … „Und die haben gesessen wie die Einsen.“ (Z. 897) Die Jugendlichen scheinen sich auch für die, für sie eher unbekannte, klassische Musik zu öffnen, diese aufmerksam und respektvoll zu verfolgen. Auch mit geschichtlichen Ereignissen sind die Jugendlichen in Berührung gekommen. So haben sie erfahren, wie die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg von den Einwohnern wahrgenommen und noch heute öffentlich verarbeitet wird. So wurde berichtet: „Aber die [Zeitzeugin] hat dann eben so aus Erfahrung gesprochen. Und das waren Sachen, wo ich so, wenn ich die beobachtet habe, wo wirklich dann der Mund offensteht. Und wo sie auch zugehört haben.“ (Z. 656) Auch hier wurden die Jugendlichen als sehr aufmerksam und interessiert erlebt. 186 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Erkenntnisse und Erfahrungen während des Laufens Verhalten und Erfahrungen der Jugendlichen auf der Reise Die Anreise nach Hamburg zum Treffpunkt der Pilgergruppe wurde gemeinsam von den drei teilnehmenden Jugendlichen und der Betreuerin durchgeführt. Trotz Hektik aufgrund äußerer Umstände (Zugausfall) und obwohl die Jugendlichen als „total aufgeregt“ (Z. 296) beschrieben wurden, agierten sie selbstständig und klärten mit dem Zugbegleiter eine mögliche Weiterfahrt. Auch die Eindrücke der unbekannten Umgebung (Großstadt) bei Abfahrtsbeginn überwältigte die Jugendlichen, so dass sie einer Stadtführung während der Autofahrt gar nicht folgten: „Ich glaube, die haben gar nicht zugehört. Die haben nur gesessen und geguckt, wie groß die Stadt ist.“ (Z. 331) Für die Jugendlichen war auf der Reise vieles neuartig, was sie noch nie gesehen oder erlebt haben. So wurde beschrieben, dass sie bereits auf der Fähre „alles dort mitgemacht“ (Z. 372) hätten. Auch ein Palmenstrand in einer Stadt wurde von den Jugendlichen mit großem Interesse bestaunt. Insgesamt wurden die Jugendlichen bei der Anreise nach Norwegen als sehr aufgeregt, beeindruckt und neugierig beschrieben. Trotz der vorherigen Besprechung der Reiseroute waren die Jugendlichen häufig von den Erlebnissen und Erfahrungen überrascht: „Was durch Dänemark fahren wir auch? Wir wollen doch nach Norwegen. Ich glaube, das war denen alles nicht so bewusst. […] [A]ls die Fähre abgelegt hat, die haben nur auf das Wasser gestarrt. Jetzt ist das weg. Wo fahren wir jetzt hin? […] Das war alles so spannend. […] Aber immer wieder: Mensch ist ja alles so nah. […] Was Schweden ist dort auch noch? Es war schon verrückt. Und die ganze Einfahrt nach Oslo […] [,d]as war für die irre.“ (Z. 408) Sensibilisierung der Wahrnehmung Die Betreuerin gab an, dass die Jugendlichen zu Beginn der Pilgerreise noch zugleich Musik gehört hätten: „Am Anfang haben sie immer noch so ihre Ohrstöpsel drinne.“ (Z. 768) Weiterhin stellte sie jedoch fest, dass diese Art der Ablenkung bald weniger wurde und die Jugendlichen ins Nachdenken geraten sind: „Man hat gesehen: auch das wurde weniger. Die haben schon nachgedacht. […] Es geht ja jedem so. Die Gedanken kommen. […] Man hat Zeit. Und die Gedanken kommen. […] [S]o soll es ja auch sein. Das man ein paar Sachen aufarbeitet. Oder mal dar- Pilgern im freiwilligen Kontext 187 über nachdenkt. Und das ist denen auch passiert. Also das hat man gesehen. Die Veränderung hat man schon gesehen.“ (Z. 768) Des Weiteren gab die Betreuerin an, dass die Jugendlichen während des Pilgerns eine höhere Sensibilität für ihre Umgebung entwickelten. Sie stellte fest, dass der Blick der Jugendlichen für die Natur und die Umwelt, die sie umgibt, vorhanden war. Sie verglichen Bekanntes mit Unbekannten, waren sehr aufmerksam und interessiert. Beispielhafte Erkenntnisse und Fragen der Jugendlichen waren: „[W]as denn schon wieder über Holzbohlen? Und das ist das Moor. Ach, und das sind die Blaubeeren. Wieso sind die Blaubeeren größer als bei uns? “ (Z. 673) Die Betreuerin gab an, dass sie selbst erstaunt über die Jugendlichen war: „Da habe ich dann wirklich gestaunt. Weil ich hier manchmal denke, ja wie gesagt: Serien und McDonald. Mehr kennen die nicht.“ (Z. 681) Beim Laufen wurde sich den individuellen Bedürfnissen angepasst und Ziele abgesprochen. Dadurch wurde Eigenständigkeit gefördert und Rücksicht auf die Bedürfnisse (Tagesform, Wünsche) eines jeden genommen. Zudem wurde beobachtet, dass die Jugendlichen teilweise alleine gegangen sind: „sind auch oft mal alleine gegangen“ (Z. 767) und es auch Zeiten des Schweigens gab, „was jeder als ganz toll empfand.“ (Z. 763) Während der gesamten Zeit des Laufens zeigten alle drei Jugendlichen Durchhaltevermögen, waren geübt und physisch belastbar. Bis auf wenige Ausnahmen der Unterbrechung durch Verletzungen hielten sie durch und waren motiviert. Grenzerfahrungen beim Pilgern Die Betreuerin gab an, dass es während des Pilgerns bei allen Beteiligten auch Grenzerfahrungen gab. So wurde berichtet: „[Es] hatten viele mal so einen Moment […] [w]o der eine dem anderen geholfen hat. Und die Azubis hatten das auch mal. Es hat auch jeder mal ein Tief, wo […] wahrscheinlich alles so übereinander zusammengebrochen ist.“ (Z. 562) Beispielsweise wurde angegeben, dass eine Jugendliche „auch geheult [hat]. Die war auch mal so richtig am Ende“ (Z. 567), obwohl sie als „Frohnatur“ (Z. 741) bekannt war. Ein Jugendlicher, welcher eher als zurückhaltend beschrieben worden ist, „[…] hat mal richtig böse reagiert. Mal so richtig gemotzt […].“ (Z. 565) In dieser Situation intervenierte die Betreuerin, kritisierte unsachliches Verhalten, ist mal „ein bisschen lauter geworden“ (Z. 729) und ging unterstützend auf ihn ein. In der Selbstreflexion entspannte sich das Verhalten wieder. Auch der dritte Jugendliche, welcher als eher aufgeschlossene Person beschrieben 188 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit wurde, zeigte ein anderes Verhalten. So wurde berichtet, dass er „[…]ganz in sich gekehrt [war] und gar nicht geredet [hat]. Was eigentlich für ihn ungewöhnlich war.“ (Z. 566) Dennoch ist es den Jugendlichen gelungen, diese Krisen bzw. Grenzerfahrungen zu überwinden. Rolle der Betreuerin Durch die gelungene Integration der Jugendlichen in die Gruppe konnte die Betreuerin stärker die Rolle einer Teilnehmerin an der Pilgerreise einnehmen und so die Jugendlichen aus der Distanz beobachten. Die Betreuerin gab an, dass sie sich „weitestgehend zurückgehalten“ (Z. 754) und auf Selbstständigkeit und Eigenständigkeit der Jugendlichen geachtet habe. Während der gesamten Pilgerreise fungierte sie als Stütze, sodass sie „die [Jugendlichen] nicht ganz aus den Augen verliere.“ (Z. 474) Ihre Begleitung bestand vielmehr aus regelmäßigen, aber nicht täglichen Nachfragen bzgl. der Verfasstheit der Jugendlichen. Abschluss der Pilgerreise Die Pilgerreise wurde feierlich mit dem Olavsfest abgeschlossen, wodurch auch die gewohnten Tagesabläufe endeten. Nach dem singenden und schweigenden Ritual und der Taufe am Becken gab es danach keine Andachten mehr. Die Jugendlichen wirkten darüber etwas betroffen: „Die waren vollkommen, die dreie. Die [TN1] sagt immer: Wieso sitzen wir jetzt nicht zusammen? Ich muss doch mein Tages-, ich muss doch sagen was ich so erlebt habe.“ (Z. 839) Am letzten Tag endete mit dem Pilgerbrief die Pilgerreise endgültig, was für die Jugendlichen ebenfalls unwirklich erschien: „Was, jetzt ist Schluss? Ja, da haben sie ganz schön zu tun gehabt. Was, wir sitzen jetzt nicht mehr morgens zusammen und lesen? Ja, da waren sie ganz aufgeregt gewesen.“ (Z. 843) Die Stimmung und Wahrnehmung der Jugendlichen war einerseits gekennzeichnet durch: „Ach, schön ist auch, wieder nach Hause zu fahren.“ (Z. 970), was während der Pilgerreise gar kein Thema für die Jugendlichen war. Andererseits bemerkten die Jugendlichen, dass mit dem Abschluss der Pilgerreise ein Teil der Struktur verlorengeht, die für sie offenbar wichtig geworden ist: „[W]as, das ist schon vorbei? (Z. 971) Der Abschied der Gruppe schloss nach der Überfahrt nach Dänemark mit einem gemeinsamen ausgiebigen Frühstück ab. Dabei konnte „[j]eder [...] noch mal loswerden, was er loswerden wollte.“ (Z. 981) Zudem gab es noch eine letzte Andacht, was „noch einmal [als] ein schöner Abschluss“ wahrgenommen wurde. (Z. 986) Pilgern im freiwilligen Kontext 189 Während der langen Heimreise haben die Jugendlichen und die Betreuerin das Erlebte noch einmal Revue passieren lassen. „Wir haben dann gelacht und alles nochmal erzählt: Und wisst ihr noch? Und habt ihr noch? “ (Z. 1018) Nachbereitung und Nachwirkung der Pilgerreise Die Betreuerin berichtete, dass alle zunächst erst einmal Ruhe benötigten, um die Erfahrungen und Erlebnisse zu verarbeiten. „Am Anfang ist das auch so: man konnte gar nicht so reden. […] Und das ging wahrscheinlich den Jugendlichen auch so. Und dann losreden. Das geht gar nicht. Das kommt so nach und nach.“ (Z. 1061) […] Die Eindrücke jeden Tag. Die hatten ja selber zu tun, das zu verarbeiten.“ (Z. 1087) Denn „man ist dort mit Haut und Haaren dabei.“ (Z. 1091) Es wird berichtet, dass erst nach und nach ein Austausch mit anderen über die gemachten Erfahrungen erfolgte. Erst nach einiger Zeit: „dann kam auch mal ab und zu was. Aber so gleich. Ich glaube, es muss jeder erst verarbeiten. Ich habe immer noch Probleme. Ich denke manchmal, es ist überhaupt nicht wahr gewesen.“ (Z. 1069) Die Betreuerin gab an, dass in den ersten Wochen nach der Reise zwei der Jugendlichen keine Möglichkeit hatten, ihre Erfahrungen für sich selbst und die Mitmenschen aufzuarbeiten, da sie direkt in eine intensive Prüfungsvorbereitung gegangen sind. Lediglich ein Jugendlicher konnte die Zeit nutzen, da ihm keine Prüfung bevorstand. Über ihn wird berichtet, dass er „viel aufgearbeitet“ (Z. 1037) und eine Bilderpräsentation für seine Lehrgruppe erstellt hatte. Die Betreuerin bewertet die Pilgerreise für die Jugendlichen als eine insgesamt wirksame und starke positive Erfahrung. Sie stellt selbst unterschiedliche Wirkungen bei den Jugendlichen, je nach ihrer individuellen Ausgangssituation, fest. Für zwei der Jugendlichen wurde die Reise als wichtig wahrgenommen, jedoch über keine sichtbaren Veränderungen berichtet. Den größten sichtbaren Erfolg aus der Pilgerreise habe sich für einen der drei Jugendlichen ergeben: „Das ist so der, wo man sagen kann, der am meisten für sich profitiert hat und der den größten Schritt gemacht hat.“ (Z. 1169) Dieser Jugendliche hatte eine hohe Anstrengung aufgebracht, damit er an der Pilgerreise teilnehmen kann. Während dieser Jugendliche zuvor als sehr zurückhaltend und wenig redefreudig wahrgenommen wurde, nahm seine Kontaktfreudigkeit mit der Pilgerreise stark zu. Zudem absolvierte er die mündliche Prüfung, was für ihn sowie für die Betreuerin vorher undenkbar schien, „weil er eben so viel dort gelernt hat zu reden. Mit so vielen verschiedenen Menschen, die er nicht kennt, zu kommunizieren, was hier nie passiert 190 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit wäre.“ (Z. 1163) Dementsprechend gab die Betreuerin an: „Also das war für mich Erfolg.“ (Z. 782) Zudem berichtete die Betreuerin, dass der Jugendliche auch nach der Reise ab und zu Kontakt zu ihr aufnehme. Fazit Auf der Pilgerreise konnten für die teilnehmenden Jugendlichen auf verschiedenen Ebenen Erfahrungen und Erkenntnisse sowie auch Veränderungen festgestellt werden. Die Jugendlichen zeigen Gemeinschaftssinn Eine erste Veränderung zu den vorangegangenen Pilgerreisen bestand darin, dass die Jugendlichen einen eigenen finanziellen Beitrag leisten mussten, der ihnen in der Höhe freigestellt war. Es wurde zwar berichtet, dass die Jugendlichen zunächst darüber verwundert, jedoch so stark an der Reise interessiert und motiviert waren, mitzufahren, dass sie hier aktiv einen Beitrag geleistet haben. Es wurde von keinen Diskussionen oder erlebter bzw. offen gezeigter Ungerechtigkeit aufgrund der unterschiedlichen Beiträge berichtet. Dies weist darauf hin, dass die Motivation, an der Pilgerreise teilzunehmen, höher war als das Bedürfnis nach gerechten Beiträgen bzw. dem Erhalt von entsprechenden Gegenleistungen für unterschiedliche Beiträge. Dies zeugt von einem hohen Maß an Gemeinschaftsdenken, dem Denken nicht nur an die eigene Person, sondern auch für andere. Im Verlauf der Pilgerreise zeigte sich dieses Denken für andere weiterhin darin, dass die Jugendlichen aktiv zum Teil verantwortungsvolle Aufgaben in der Gruppe übernahmen. Dadurch erhielten sie wiederum Lob und Anerkennung, was womöglich das eigene aktive Verhalten verstärkte. Die Jugendlichen bauen Ängste gegenüber anderen ab Neben diesen ersten Schritten zur Ermöglichung der Pilgerreise gab es für die Jugendlichen weitere Hürden, die sie zunächst nehmen mussten. Insbesondere stellte die Kontaktaufnahme für einen Teil der Jugendlichen eine Schwierigkeit dar. Selbstunsicherheiten, Ängste und Vorbehalte in Bezug auf die anderen Mitpilgernden wurden jedoch im Laufe der Pilgerreise vollständig abgebaut. Wesentlich war dabei sicherlich für die Jugendlichen die Erkenntnis, dass die Pilgergruppe ein Team ist, sich alle auf Augenhöhe begegnen und jeder seinen Teil zum Funktionieren der Gruppe beitragen musste. Die Feststellung, dass Ärzte, Pfar- Pilgern im freiwilligen Kontext 191 rer und Lehrer „auch nur Menschen“ sind, scheint eine wesentliche Erkenntnis für die Jugendlichen gewesen zu sein. Die Jugendlichen erleben sich als ein gleichberechtigter und gleichwertiger Teil der Gruppe Wesentlich zu dieser Erkenntnis hat jedoch offenbar auch das Verhalten der Mitpilgernden beigetragen. Diese sind offen und interessiert auf die Jugendlichen zugekommen und haben mit ihnen auf Augenhöhe gesprochen und diskutiert. Dadurch konnten die Jugendlichen erleben, dass sie als Person Anerkennung erhalten und ihre Meinungen ernst genommen werden, auch wenn diese nicht von den anderen geteilt werden. Die Jugendlichen erfahren anderes Verhalten bzw. andere Lebensentwürfe Durch die heterogen zusammengesetzte Gruppe, die vermeintlich für die Jugendlichen eine Gruppe darstellte, wie sie sie ansonsten in ihrem Lebensumfeld eher nicht antreffen, sowie durch die Diskussionen und Gespräche mit ihnen, hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, andere Sichtweisen, den Umgang miteinander und auch andere Lebensentwürfe kennenzulernen. Das heißt die Jugendlichen konnten über ihren eigenen „Tellerrand“ hinausblicken und Impulse bzw. Anregungen in Bezug auf die Gestaltung des eigenen Lebens bekommen. Die Wahrnehmung ihrer eigenen Person als gleichberechtigte und gleichwertige Pilger führte möglicherweise auch dazu, dass die Erfahrungen, Lebensentwürfe und Verhaltensweisen der anderen von den Jugendlichen als echte Alternativen wahrgenommen werden konnten. Wesentlich scheint hierbei ebenfalls der Umgang miteinander in der Gruppe, aber auch die Erlebnisse mit den Gastgebern und Einheimischen scheinen dazu beigetragen zu haben, dass die Jugendlichen den freundlichen und höflichen Umgang miteinander als wertschätzend empfunden haben. Als Wirkung daraus zeigte sich, dass die Jugendlichen diese Verhaltensweisen, die sie als positiv empfunden haben, selbst ebenfalls umsetzten. Damit leisteten sie durch ihr Verhalten selbst einen wichtigen Beitrag zum Funktionieren der Gruppe. Die Jugendlichen öffnen sich und berichten eigene Erfahrungen Es wurde angegeben, dass die Jugendlichen im Verlauf der Pilgerreise auch über eigene Erfahrungen berichteten. Weiterhin scheuten sie sich nicht davor, ihre Meinungen in Diskussionen offen darzulegen. Diese 192 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Offenheit basiert vermutlich auf dem Vertrauen, welches die Jugendlichen im Rahmen der Reise in Bezug auf die Mitpilgernden gewonnen haben. Die Jugendlichen erleben die Struktur der religiösen Momente als wichtig Obwohl die Jugendlichen konfessionslos sind, begegnen sie den religiösen Bestandteilen und Ritualen von Anfang offen und interessiert. Sie wirken bei den Andachten aktiv mit und erkennen die Rituale als eine positive Struktur und die dabei gelebte Gemeinschaft als eine wertschätzende Umgebung für sich. Die Jugendlichen sensibilisieren ihre Wahrnehmung Während die Jugendlichen zunächst beim Laufen Musik hören, nimmt dies nach und nach ab. Es kann davon ausgegangen werden, dass die medial reizarme Umgebung bei den Jugendlichen zu einer Anpassung der Wahrnehmung geführt hat. Dementsprechend wird berichtet, dass die Jugendlichen ihre Umgebung intensiver wahrgenommen und beobachtet haben. Gleichfalls wurde vermutet, dass die Jugendlichen sich auch innerlich stärker mit ihren Gedanken beschäftigt haben. Die Jugendlichen erleben eigene Grenzen Auch das Erleben eigener Grenzen und vor allem der Umgang damit war womöglich für die Jugendlichen eine wichtige Erfahrung. Interessant ist es jedoch, dass die Jugendlichen, die selbst mit Problemen in ihrem eigenen Leben konfrontiert sind, schlecht damit umgehen können, wenn eine andere Person eigene Probleme offen austrägt. Sie empfanden diese Art und Weise der Auseinandersetzung im Rahmen der Pilgerreise eher als unpassend, wollten keine Problemorientierung, sondern selbst aktiv Neues erfahren, ausprobieren und waren eher lösungsorientiert. Möglicherweise liegt dies auch daran, dass die Jugendlichen selbst genug „auf dem Rücken tragen“ und das Verhalten der anderen Person als „Störung“ der Gruppe empfanden. Diese Veränderungen und Wirkungen durch die Pilgerreise waren auf Seiten der Jugendlichen vor allem möglich, da diese von Beginn an offen, aufmerksam und interessiert an der Reise teilgenommen haben und den Mitpilgernden gegenüber ebenfalls so aufgetreten sind. Die Jugendlichen haben sich auf alle Begegnungen innerhalb der Reise ohne Vorbehalte eingelassen. Pilgern im freiwilligen Kontext 193 Andere Qualität der Pilgerreise Insgesamt kann vermutet werden, dass die Pilgerreise einen großen Nutzen für die Jugendlichen hatte. Im Vergleich zu den vorherigen Pilgerreisen gab es Situationen, die die Eigenaktivität der Jugendlichen mehr herausgefordert haben. Während die Pilgergruppen zuvor aus Jugendlichen mit ähnlichen Problemlagen und einem ähnlichen Hintergrund bestand, haben sie mit der andersartigen Gruppe eine andere Wertegemeinschaft kennengelernt, haben diese akzeptiert und haben diese Werte für sich in ihr Verhalten übernommen. Für die Jugendlichen bietet solch eine Art der Pilgerreise die Chance, vollkommen neue Erfahrungen mit anderen Personen aber auch Erkenntnisse über sich selbst zu sammeln. Zudem ermöglichen sie, durch Erinnerungen, das eigene Leben, den Lebensentwurf daran zu orientieren, was ihnen gutgetan hat, was sie als positiv erlebt haben und sich aktiv diese Momente in ihrem eigenen Leben zu schaffen. Potenziale der Pilgerreise Die Pilgerreise in diesem Rahmen beinhaltete für die Jugendlichen bzw. auch für die anderen Teilnehmenden eine Reihe von Potenzialen. So bekamen die Jugendlichen die Möglichkeiten, sich selbst, ihren Körper und die Wirkung ihres Handelns zu spüren, z.B. in Form erlebter Selbstwirksamkeit bzw. des Durchhaltevermögens. Zudem hatten sie Zeit und Ruhe zum Zuhören, Nachfragen und Nachdenken. Die Jugendlichen konnten dabei durch die Gruppe verschiedene Aspekte erleben, wie z.B.:  Geduld  Akzeptanz, einander anzunehmen  Gleichwertigkeit  gleichberechtigte Begegnung  gegenseitiger Respekt, Höflichkeit, Freundlichkeit  Unterstützung  Vertrauen  Offenheit  Interesse an anderen  Verlässlichkeit Die Begegnungen mit für sie unbekannten Menschen und Umgebungen förderte zudem den Perspektivwechsel, Denkweisen zu hinterfragen und zu verändern, sensibilisierte für vielfältige Lebensentwürfe/ -wege, 194 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit sensibilisierte für Themen, wie Gesellschaft und Umweltschutz, Konsumverhalten, politisch/ historische Aspekte, wie NS-Geschichte und Migration sowie für die Selbstwahrnehmung als Teil der Gesellschaft. Offene Fragen Fragen, die anhand des Interviews noch offenbleiben, sind z.B. Fragen nach der nachhaltigen Wirkung der Pilgereise bei den Jugendlichen. So stellt sich die Frage, welche Aspekte die Jugendlichen nachhaltig prägen und möglicherweise Entscheidungen oder Verhaltensweisen im weiteren Leben der Jugendlichen beeinflussen. Zudem bleibt offen, welche Wirkungen sich bei den anderen Beteiligten durch den Kontakt und das Reisen mit den Jugendlichen ergeben haben. Wirkungschancen und Wirkungsfiktionen: Eine kurze Nachbetrachtung zum Programm »Zwischen den Zeiten« von Stephan Hein und Sven Enger Resümee und Ausblick In diesem Buch ging es um die Frage, wie das Pilgern als eine spezifische soziale Form einen methodischen Zugang für die Soziale Arbeit mit jungen Menschen in belasteten Lebenslagen bieten kann. Das Buch bündelt bisher gemachte Erfahrungen und macht fachliche Grundlagen zugänglich. Zugleich steckt es damit einen möglichen Rahmen ab, in dem über die Weiterentwicklung des Programms nachgedacht werden kann. Dabei begeben sich die Beiträge bewusst auch in Distanz zu den populären alltagsweltlichen Idealisierungen des Pilgerns (Alltagsferne, Selbstfindung, Läuterung, moralische Erbauung etc.). Angesichts der Menge an populärer Literatur und massenmedialer Beiträge zum Thema war es den Autorinnen und Autoren besonders wichtig, solche idealisierenden Annahmen mit einer nüchternen sozialwissenschaftlichen Perspektive zu kontrastieren. Ziel dieser Kontrastierung war es jedoch weniger, diese Idealisierungen einfach nur als naiv zu entlarven, um sie dann zu verwerfen, sondern zu prüfen, inwiefern ihnen ein für die Problemlagen der Jugendlichen sinnvoller und praktikabler pädagogischer Gehalt abgewonnen werden kann. Für das Programm »Zwischen den Zeiten« war dabei allgemein kennzeichnend, dass es die (seltene) Chance und Freiheit hatte, ein offenes Experimentierfeld zu sein. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist deshalb auch, dass die in diesem Band versammelten Beiträge alle unabhängig voneinander entstanden sind. Sie spiegeln somit die jeweils lokalen und persönlich gemachten Erfahrungen ihrer Autorinnen und 196 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Autoren wider. Darüber hinaus hoffen wir aber, dass trotz der voneinander unabhängigen Entstehungskontexte eine gewisse Gemeinsamkeit in den gewonnenen Perspektiven und Einschätzungen sichtbar wird. Dabei sollen Unterschiede, Abweichungen und Widersprüche im Einzelnen nicht in Abrede gestellt werden, sie stellen u.E. jedoch keinen Mangel dar, sondern dokumentieren eine notwendigerweise offene und unabgeschlossene Entwicklung, deren Ziel nicht in einem sich in allen Hinsichten einstellenden Konsens, sondern, viel naheliegender, in der Versprachlichung sozialpädagogischer Erfahrungen bestehen soll. In den Einzelbeiträgen wurde aus verschiedenen Perspektiven eine Vielzahl von Aspekten des Programms betrachtet. So ging es insbesondere um die körperlichen und psychischen Herausforderungen, die auf langen Wegstrecken in einer besonderen Gruppensituation auftreten, sowie um ihre geeignete pädagogische Rahmung. Weiterhin standen gruppendynamische Prozesse sowie solche kurz- und mittelfristigen biografischen Perspektivgewinns im Vordergrund. In diesem Zusammenhang rückte insbesondere das die Lebenspraxis der Jugendlichen häufig bestimmende soziale und institutionelle Umfeld in den Fokus. Auch war eine sich aus dem spezifischen Zuschnitt der pädagogischen Aufgaben ergebende pädagogische Bestimmung von Volljährigkeit ein wichtiges und deshalb wiederkehrendes Thema. Wichtige Impulse ergaben sich aus der Abgrenzung des Konzeptes vom religiös motivierten Pilgern sowie von der Erlebnispädagogik. Ein Thema, welches mehrere Beiträge durchzieht, sind die konkreten praktischen Herausforderungen für die Rolle des begleitenden Sozialpädagogen. Auch oder gerade weil das Programm ein spezielles Angebot für eine sehr kleine Zielgruppe 257 ist, ergaben sich schließlich Folgerungen für das Selbstverständnis Sozialer Arbeit - insbesondere hinsichtlich ihrer Grenzen. Das daran geknüpfte Thema sinnvoller Leistungs- und Wirkungserwartungen soll deshalb nicht zufällig noch einmal abschließend aufgegriffen werden. Unabhängig davon, ob die hier als neu vorgestellten Ideen tatsächlich so neu sind - angesichts der Konjunkturförmigkeit pädagogischer und sozialpädagogischer Ideen könnten da Zweifel angebracht sein -, suggeriert die Betonung von Neuheit stärker als beabsichtigt einen Bruch mit oder gar die Abwertung von Gewohntem. Das Programm ist aber nicht aus den Defiziten einer bestimmten sozialpädagogischen Praxis 257 Die Spezifität des Programms mag von außen und nur flüchtig betrachtet einen exotischen Eindruck machen. Wir hoffen, dass sich das Programm nicht schon deshalb dem Verdacht eines Pädagogismus (Kob) aussetzen muss. Wirkungschancen und Wirkungsfiktionen 197 heraus entwickelt, sondern durch das Fehlen eines sozialpädagogischen Rahmens motiviert worden. Einer u.E. sehr wichtigen Frage sind wir hier aufgrund des Zuschnittes des Buches, welches die Eigenständigkeit des Konzeptes betont, nicht nachgegangen, nämlich was das Programm von anderen Formen Sozialer Arbeit lernen und welche Verbindungen es mit ihnen eingehen könnte. Wir haben diese Frage jedoch auch deswegen bewusst vermieden, weil sie sich genau genommen erst dann richtig stellen lässt, wenn die Konturen der neuen Idee klarer hervorgetreten sind. Ausgehend von den in diesem Buch versammelten Überlegungen fällt es nicht schwer zu sehen, dass das Programm »Zwischen den Zeiten« spezifische Aspekte sowohl von sozialpädagogischer Einzelfallhilfe, von Gruppenarbeit wie von Gemeinwesenarbeit enthält. Eine fachliche Auseinandersetzung im Rahmen der Sozialpädagogik könnte hier entsprechende Anknüpfungspunkte und Schnittmengen zu anderen Konzepten bestimmen und das Programm mit Erfahrungen und Ideen aus anderen Bereichen entsprechend anreichern. Auch könnte der Frage nachgegangen werden, in welcher Form der „Arbeitsweg“ systematischer in der Arbeit der Jugendgerichtshilfe verankert werden könnte. Diese Frage betrifft aus unserer Sicht insbesondere das Thema sinnvoller Leistungs- und Wirkungserwartungen. Wir wollen dieses Buch deshalb nicht abschließen, ohne die Frage, ob und wie die im „Arbeitsweg“ gewonnenen Perspektiven von den Jugendlichen in ihren Alltag integriert werden können, noch einmal aufzuwerfen. Sozialpolitische und erzieherische Wirkungsvorstellungen Ob es den Jugendlichen gelingt, eine mittel- und langfristige Orientierung auf ihr Leben zu gewinnen, ist eine Frage, über die von Sozialarbeitern im Rahmen des Programms (jedenfalls bisher) keine seriösen Aussagen getroffen werden können. Das liegt jedoch nicht nur an dem praktischen Problem, dass man über den Verbleib der Jugendlichen außerhalb pädagogischer Betreuungsverhältnisse kaum und dann häufig nur vermittelt etwas wissen kann. Wir wollen dieser Verlegenheit auch gar nicht mit den schwachen Mitteln des Konjunktivs begegnen, sondern auf einen ganz anders gelagerten Problemzusammenhang zu sprechen kommen. Dass man so wenig Aussagen treffen kann, liegt u.E. ganz wesentlich auch an der Wirkungsvorstellung, die man sich im Allgemeinen von erzieherischen Maßnahmen macht. Bereits durch das Wort „Wirkung“ wird der Eindruck trivialer Kausalzusammenhänge evoziert. Belastete Lebenslagen werden häufig als Wirkungen bestimmter Ursachen betrachtet und pädagogische Maßnahmen dementspre- 198 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit chend als (entgegengesetzte) Ursachen, um diese Wirkungen abzuschwächen oder gar aufzuheben. 258 So wenig aber Erziehung ein direkter Eingriff in Lebenswirklichkeiten ist, so wenig ist sie als absichtsvoll organisierte Formung von Personen 259 (durch die Vermittlung von Wissen, durch die Ermöglichung spezifischer, v.a. sozialer Erfahrungen) schon ein unmittelbarer Eingriff in Verhaltensdispositionen. Wäre beides der Fall, hieße das zu behaupten, dass der junge Mensch - mit ein paar neuen Gedanken ausgestattet - hoffen könne, dass diese ihn aufgrund ihrer Überzeugungskraft schon fast von allein in ein neues und besseres Leben führen würden. Dass solche simplifizierenden Wirkungsvorstellungen häufig dennoch orientierungswirksam oder vielmehr „hoffnungswirksam“ sind und dass deren Unangemessenheit (um nicht zu sagen: Absurdität) häufig nicht sichtbar wird, hat einen bestimmten Grund. Dieser hat mit der pädagogischen Arbeit wenig und dafür viel mehr mit ihren organisatorischen (z.B. verwaltungstechnischen) Rahmenbedingungen zu tun. Er besteht darin, dass auf eine wesentlich negative Bestimmung dessen zurückgegriffen wird, was als „Wirkung“ letztlich in Erscheinung treten kann. Diese wird zumeist nicht am Eintreten bestimmter Zustände (etwa die Lösung eines Konfliktes, die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten, ganz zu schweigen vom „besseren Leben“), sondern am (statistisch nachweisbaren) Ausbleiben ganz bestimmter Ereignisse (nämlich Straftaten) bemessen. Wirkungen werden damit aus dem Sicherheitsabstand der gesellschaftspolitischen Thematisierung von „sozialen Problemen“ betrachtet. Das ist eine für die Belange politischer Planung völlig legitime Perspektive, denn diese bezieht sich nun mal nicht auf konkrete Fälle, sondern auf Populationen. Auch ist die zeitliche Perspektive politischer Planung nicht durch die Eigenzeitlichkeit individueller Lebensverläufe bestimmt, sondern durch die Zeithorizonte politischen Han- 258 In dieser Frage nach der Effektivität von Erziehung „drückt sich das permanent empfundene Konkurrenzverhältnis zwischen institutionalisiertem Erziehungssystem und anderen, von ihm nicht kontrollierbaren Einflußfaktoren aus, den ‚geheimen Miterziehern‘, den ‚gesellschaftlichen Verhältnissen‘.“ (Kob 1976, S. 48) Die Gesellschaft in diesem Sinne als „Feind“ der Erziehung anzusehen, diese somit als eine der Gesellschaft äußerliche Veranstaltung aufzufassen, verstellt jedoch bereits im Ansatz den Blick darauf, dass sich hinter den als negativ bestimmten Ursachen zugleich oft auch latente Prozesse und Sachverhalte verbergen können, an die in der Sozialen Arbeit unter dem Stichwort der Ressourcenorientierung oder auch der Resilienz geradewegs angeschlossen wird. 259 Diese allgemeine Bestimmung von Erziehung (oder auch schon die Bestimmung Sozialer Arbeit als Erziehung) mag im gegenwärtigen Klima, welches ganz allgemein durch eine rhetorische Rücknahme erzieherischer Ansprüche gekennzeichnet zu sein scheint (Stichwort „Lernbegleiter“ statt „Lehrer“), spontan auf Widerspruch stoßen. Wir ziehen einer empathischen Bestimmung eine solche vor, die nach der gesellschaftlichen Funktion von Erziehung fragt (vgl. Luhmann 2002, S. 28ff.). Wirkungschancen und Wirkungsfiktionen 199 delns (z.B. durch Legislaturperioden). Ob das Ausbleiben von Straftaten im Einzelfall dann tatsächlich die Folge einer pädagogisch angeleiteten Erfahrung war und was diese im Weiteren kurz-, mittel- und langfristig noch alles bewirkt oder eben nicht bewirkt haben mag, dies sind in diesem Zusammenhang völlig unerhebliche Überlegungen. Entscheidend ist lediglich der statistisch einigermaßen abgesicherte Zusammenhang zwischen pädagogischem Programm und (gesunkener) Kriminalitätsrate. Es mag einerseits an der prinzipiellen Unsichtbarkeit pädagogischer Wirkungen liegen, andererseits an den Organisationszwängen und den hoheitsstaatlichen Rahmenbedingungen des Sozialwesens (vgl. Schütze 1996), dass die Perspektive politischer Planung in der pädagogischen Arbeit solch starken Widerhall findet. Diese gesellschaftspolitische Perspektive in der pädagogischen Praxis beizubehalten 260 hieße jedoch nicht nur, den Blick auf den jeweils konkreten Fall aufzugeben, sondern v.a., an die pädagogische Arbeit sachfremde Kriterien anzulegen. Beides hätte zur Folge, auf die für sozialpädagogische Erfahrungsbildung wertvolle Ressource des Fallvergleiches zu verzichten. 261 Eine abschließende Anregung Eine wichtige Erfahrung aus vielen Bereichen der Sozialen Arbeit besagt, dass sich bei dem für seine Verstrickung in eine belastete Lebenssituation sensibilisierten Menschen angesichts ihrer praktischen Unveränderlichkeit eine große Ratlosigkeit oder gar Resignation einstellt. So ist es wichtig und realistisch, in Rechnung zu stellen, dass der Versuch, eine Krise zu bewältigen, in eine Überforderung hineinführen und eine zusätzliche Krise nach sich ziehen kann. Diese Überforderung kann derart kontraproduktiv sein, dass die neue Perspektive als unbrauchbar und lebensfremd verworfen wird. Damit führt die gute pädagogische Absicht aber nicht schon zwangsläufig in das Gegenteil dessen, was sie zu erreichen hoffte, denn das hieße, an Sinn und Möglichkeit erzieherischer Einflussnahme überhaupt zu zweifeln. In einer solchen Situation jetzt aber einen verlängerten Hilfebedarf erkennen zu wollen, hieße wiederum, eine zentrale Intention des Programms (Stärkung von Selbstständigkeit) zu unterlaufen. In diesem Buch wurde mehrfach auf die Probleme der Verlängerung sozialpäda- 260 Etwa im Rahmen von „Qualitätsmanagement“. 261 Für eine ausführlichere Erörterung zu diesem Problemkreis, speziell mit dem Fokus auf an Erziehung vermittelte Präventionsaufträge vgl. Hein/ Robert/ Drößler 2012. 200 Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit gogischer Betreuungsverhältnisse als ungewollter Verlängerung von Unselbstständigkeit hingewiesen. Dass ein langfristiger Sinn sozialpädagogischer Hilfe in der Auflösung auch und v.a. pädagogischer Betreuungsverhältnisse besteht, daran wollen wir hier unbedingt festhalten. Zu schnell (ver-)führt die Identifikation von Problemen umstandslos zur Bestimmung eines sozialpädagogischen Hilfebedarfs. Auch diese Tendenz hat ihren Grund weniger in der pädagogischen Arbeit selbst als in ihren organisatorischen Rahmenbedingungen, denn sie wird nicht zuletzt dadurch begünstigt, dass viele Einrichtungen teilnehmerfinanziert arbeiten müssen. Dadurch entsteht unterschwellig die pädagogisch kontraproduktive Not, Teilnehmer „akquirieren“ oder „halten“ zu müssen, eine Not, von der uns auch in vielen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, die einen Arbeitsweg durchgeführt haben, berichtet wurde. 262 Dies vorausgeschickt wollen wir hier - auch im Sinne des oben angesprochenen Lernens - anregen, über ein dem „Arbeitsweg“ nachgeordnetes Gesprächsangebot nachzudenken. Dessen Sinn wäre nicht der einer unspezifischen Hilfe und Weiterbetreuung. Eine solche ist nicht zuletzt schon deshalb ausgeschlossen, weil man sich für dieses Angebot durch die Absolvierung eines „Arbeitsweges“ qualifiziert haben muss. Im Unterschied zum „Arbeitsweg“ bzw. zur Ableistung von Arbeitsstunden beruht die Annahme dieses Angebotes (wie bei jedem Angebot) auf Freiwilligkeit, was von nicht unwesentlicher pädagogischer Bedeutung ist. Dieses Gesprächsangebot dann tatsächlich in Anspruch zu nehmen, heißt nämlich, sich als erwachsener Mensch um Rat zu bemühen. Damit wäre das Angebot von vornherein als eine Form der aktiven und autonomen Bewältigung gerahmt, deren Inanspruchnahme der mit diesem Angebot betraute Sozialarbeiter auch als Bestätigung der im Programm erarbeiteten Perspektive markieren kann. Auch im weiteren sollte dieses Angebot auf das Programm abgestimmt sein, etwa durch den Rückgriff auf die in den Beiträgen des Buches herausgearbeiteten Prinzipien sowie auf die Denkfigur des lebenspraktischen Dilemmas. Vor dem Hintergrund der Zeit- und Wiederholungsbedürftigkeit auch krisenhafter Lern- und Erfahrungsprozesse erscheint es uns denkbar, dass ein solches Gesprächsangebot dazu dienen kann, Enttäuschungen 262 Um einem möglichen Missverständnis zuvorzukommen: Wir wollen hier nicht in das allgemeine Lamento einstimmen, welches häufig angesichts von (immer wieder zu erwartenden) Mittelkürzungen einsetzt und in dem der Eindruck erweckt wird, die Qualität sozialpädagogischer Arbeit sei einzig von ihrer finanziellen Grundlage abhängig. Unser Argument bzw. unsere Kritik bezieht sich nicht auf den Umfang der Finanzierung, sondern auf ihre verwaltungsmäßige Umsetzung. Wirkungschancen und Wirkungsfiktionen 201 und Entmutigungen aufzufangen, um diese gemeinsam mit den Jugendlichen als Bestandteile eines Lern- und Erfahrungsprozesses und nicht als dessen Scheitern zu deuten. Zugleich können mögliche Problemlösungen, die angesichts der Übermacht der die Lebenssituation bestimmenden Bedingungen gar nicht als solche beachtet worden sind, zur Bestätigung und Ermutigung herangezogen werden. Ein solches Gesprächsformat böte zudem die Möglichkeit, fallweise Erfahrungen darüber zu sammeln, was die Jugendlichen aus dem Programm tatsächlich mitgenommen und wie sie dies auf ihre Lebenssituation bezogen haben. Hier darf man dann die Erwartung hegen, dass dies mitunter Dinge sind, die der pädagogischen Verfügung entgangen sind. Literatur Hein, Stephan/ Robert, Günther/ Drößler, Thomas (2010): Sprachlose Pädagogik? - Zur Diskrepanz von Präventionsprogrammatik, pädagogischem Selbstverständnis und pädagogischer Arbeitspraxis. In: Robert, Günther/ Drößler, Thomas/ Pfeifer, Kristin (Hg.): Aufwachsen in Dialog und Sozialer Verantwortung. Wiesbaden, S. 95-118 Kob, Janpeter (1976): Soziologische Theorie der Erziehung. Stuttgart Luhmann, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt/ M. Schütze, Fritz (1996): Organisationszwänge und hoheitsstaatliche Rahmenbedingungen im Sozialwesen. Ihre Auswirkungen auf die Paradoxien professionellen Handelns. In: Arno Combe, Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/ M., S. 183-275 Das Programm „Zwischen den Zeiten“ der Sächsischen Jugendstiftung wird gefördert vom Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushaltes. ISBN 978-3-7398-3017-9 Junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen auf ihren Weg zu führen, dies hat sich die Sächsische Jugendstiftung mit ihrem Programm „Zwischen den Zeiten“ zum Ziel gesetzt. Kern des Programms sind maximal einwöchige Pilgerreisen - klar strukturiert und pädagogisch begleitet. Das Pilgern hilft jungen Menschen dabei, das Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen, welche zuvor durch prekäre Lebenssituationen oder Straftaten gekennzeichnet war. Die bisherige Bilanz kann sich sehen lassen: Nach mehr als 5000 km zu Fuß, über 8000 abgeleisteten gemeinnützigen Arbeitsstunden in 68 Pilgertouren mit über 700 jungen Menschen konnte sich der methodische Ansatz bewähren. In diesem Buch beleuchten und diskutieren ExpertInnen aus der Soziologie, Psychologie, Theologie und Pädagogik diesen Ansatz und ziehen schließlich sozialpädagogische Schlüsse daraus. Ein spannendes und zugleich aufschlussreiches Fachbuch für SozialpädagogInnen, TheologInnen und SoziologInnen sowie für Interessierte aus den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe. Sächsische Jugendstiftung (Hg.) Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit Sächsische Jugendstiftung (Hg.) Sven Enger, Stephan Hein, Angela Teichert für junge Menschen in multiplen Problemlagen Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit www.uvk.de 53017_Umschlag_03.indd Alle Seiten 53017_Umschlag_03.indd Alle Seiten 03.12.2019 16: 34: 12 03.12.2019 16: 34: 12