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Tourismus neu denken

2020
978-3-7398-8053-2
UVK Verlag 
Hans-Peter Herrmann

Tourismus als Phänomen philosophisch erfassen! Ziel der Philosophie ist es, die Welt durch logisches Denken zu erfassen, Erkenntnisse über das Sein und die Struktur der Welt zu generieren und nicht zuletzt auch den Sinn des Lebens zu ergründen. Folglich ist es nur konsequent, auch den Tourismus in all seinen gegenwärtigen Ausprägungen, etwa dem Massen- oder Overtourismus, aus dem philosophischen Blickwinkel zu betrachten. Weitere wesentliche Themen sind die Stellung des Menschen im touristischen Gefüge, Besonderheiten touristischer Leistungen, Fragen des Zeiterlebens sowie des Reiseglücks. Das Buch schließt mit Überlegungen, wie Tourismus neu gedacht werden kann und wie sich die Zukunft des Tourismus gestalten wird.

Tourismus neu denken Tourismusphilosophie Hans-Peter Herrmann Hans-Peter Herrmann Tourismus neu denken Tourismusphilosophie Hans-Peter Herrmann hat Philosophie und Psychologie an der Universität Leipzig studiert. Er ist Lehrbeauftragter für Tourismusmanagement an Hochschulen und an Akademien für Psychologie und Kommunikation. Hans-Peter Herrmann Tourismus neu denken Tourismusphilosophie UVK Verlag · München Umschlagabbildung: © Mlenny · iStockphoto Illustration: Victor Metelskiy · iStockphoto Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 1. Auflage 2020 © UVK Verlag 2020 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7398-3053-7 (Print) ISBN 978-3-7398-8053-2 (ePDF) ISBN 978-3-7398-0538-2 (ePub) Prolog ls Thomas Cook im Juli 1841 erstmals Einzelleistungen zu einem Gesamtpaket schnürte, ahnte niemand, dass dieses Konzept die Grundlage der modernen Tourismusentwicklung werden würde. Mit der Insolvenz der Thomas Cook Group im September 2019 schließt sich die Geschichte des ältesten Reiseveranstalters der Welt. Thomas Cook war über Jahrzehnte der weltweit führende Reiseveranstalter und zuletzt der zweitgrößte Reisekonzern Europas. Nachdem in den letzten Jahren bereits namhafte touristische Unternehmen wie bspw. GTI Travel, JT Touristik, Unister, Air Berlin oder Germania insolvent gegangen sind, drängt sich mit der Pleite von Thomas Cook die Frage auf, ob die bisherigen Denk- und Handlungsansätze noch tragfähig sind. Vor diesem Hintergrund wurde die Idee zu diesem Buch geboren. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht zu erahnen, welche gravierenden Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Tourismusbranche haben würde. Die Krise, welche weltweit den Tourismus zum Erliegen gebracht hat, wird nun wahrscheinlich notwendige Veränderungsprozesse noch beschleunigen. Mit dem Buch wird der Versuch unternommen, die drängenden Fragen des Tourismusmanagements mit philosophischen und psychologischen Ansätzen zusammenzudenken. Neues oder Ungewohntes erzeugt oft Widerstände, weshalb hierzu mit Kritik zu rechnen ist. Das starke Bedürfnis nach Urlaub und Reisen wird es auch weiterhin geben. Die Frage ist deshalb nicht, ob Tourismus stattfindet, sondern wie sich Tourismus zukünftig im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie und unter Einbeziehung von ethischen, sozialen und psychologischen Fragen gestalten lässt. Leipzig im Mai 2020 Hans-Peter Herrmann A Inhalt Prolog .................................................................................................5 1 Philosophie und Tourismus.......................................11 2 Vom Sinn des Reisens .................................................21 3 Die ethische Verantwortung des Tourismus.........33 4 Ästhetik im Tourismus ...............................................47 5 Von der Philosophie zur Tourismuspsychologie..59 6 Der Mensch im Mittelpunkt einer Reise ................69 7 Die Besonderheiten touristischer Produkte...........79 8 Das Zeit- und Raumerleben bei Reisen...................87 9 Glück und andere philosophische Kategorien ......95 10 Tourismus neu denken .............................................105 11 Die Zukunft des Tourismus.....................................121 Epilog .............................................................................................131 Glossar ...........................................................................................141 Stichwörter und Personen .......................................................151 „Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt das Leben Reisen ist.“ Jean Paul 1763-1825 1 Philosophie und Tourismus u den grundlegenden Zielen der Philosophie gehört es, die Welt durch logisches Denken zu erfassen, Erkenntnisse über das Sein und Erkenntnisse über die Struktur der Welt zu generieren sowie den Sinn des Lebens zu begründen. Der Begriff Philosophie ist eine Zusammensetzung der griechischen Wörter philos (Liebe, Freund) und sophia (Weisheit), womit sie sich im übertragenen Sinn als „Liebe zur Weisheit“ beschreiben lässt. Der bedeutende griechische Philosoph Platon (427-347 v.u.Z.) „[...] hat das Wort philos so gedeutet, daß der Philosoph insofern mit der Weisheit befreundet ist, als er die Weisheit noch nicht hat, sondern nach ihr strebt [...].“ 1 Gegenüber der antiken Auffassung besitzt der Begriff Philosophie im heutigen Sprachgebrauch eine weitläufigere Bedeutung. So wird deren Anwendung auch im Sinne von Handlungsstrategien, grundsätzlichen Denkweisen oder Unternehmensphilosophien benutzt. Die Ursprünge unserer abendländischen Philosophie reichen bis in der Antike zurück, wo vor über 2500 Jahren zielgerichtet damit begonnen wurde, Erklärungen für die beständigen Naturveränderungen zu finden und Philosophen der Frage nachgingen, welcher „Urstoff“ hinter allen Veränderungen stecke. Die Beschäftigung mit weitergehenden Fragestellungen, insbesondere, die den Menschen als handelndes Subjekt betrafen, führte zu einer umfangreichen Wissensanhäufung und zur Gründung philosophischer Akademien. Die erste philosophische Schule, die den Namen Akademie trägt, geht wahrscheinlich auf Platon zu- 1 Rafael Ferber. Philosophische Grundbegriffe. Beck-Verlag, München 1995, S. 11 Z 12 Tourismus neu denken rück. Der Überlieferung nach wurde sie in einem Hain eröffnet, der den Namen des griechischen Sagenhelden Akademos trug. In den gegründeten Akademien wurden die Teilnehmer neben der Philosophie noch in Rhetorik, Mathematik und Gymnastik unterrichtet. Platons berühmter Schüler Aristoteles (384-322 v.u.Z), der später eine eigene Akademie gründete, systematisierte das Wissen seiner Zeit und legte die Grundlagen vieler neuer Wissenschaftsgebiete wie beispielsweise der Logik, Ästhetik, Politik, Ethik. Durch zahlreiche Schriften, die bis heute nur noch teilweise erhalten geblieben sind, trug er erheblich zur Wissensverbreitung seiner Zeit bei. Selbst zu Sachverhalten, wie zur Psychologie oder Botanik, welche sich erst später als eigene Wissensgebiete etablierten, sammelte er wesentlich Erkenntnisse. Zugleich war er Lehrer des jungen Alexander des Großen (356-323 v.u.Z.), dessen Herrschaftsgebiet sich über den gesamten Mittelmeerraum, Nordafrika und Teile Europas erstreckten. Dieser Umstand ermöglichte ihm zahlreiche Reiseerkundungen, welche für die Auseinandersetzung mit einer Vielzahl unterschiedlicher Wissenssachverhalte förderlich war. Die Philosophie stellte bis zum Mittelalter eine Einheitswissenschaft mit unterschiedlichen Bereichen wie Physik, Geometrie, Recht etc. dar. Erst mit der Entstehung von Universitäten im Hochmittelalter begann eine schrittweise Abspaltung und Verselbständigung der Einzelwissenschaften. Heute umfasst die Philosophie noch die Disziplinen: Logik, Ästhetik, Naturphilosophie, Ethik, Erkenntnistheorie, Geschichtsphilosophie, Ontologie und Anthropologie. Die heutige philosophische Aufgabe besteht darin, aus den verschiedenen Theorien der Einzelwissenschaften eine übergreifende Auffassung zu abstrahieren, die ein reales Abbild unserer Welt widerspiegelt. Eine äußerst schwierige Aufgabe, denn die Geschichte der Philosophie verläuft nicht geradlinig, sondern ist durch eine Vielzahl von Entwicklungsbrüchen und der Entstehung unterschiedlicher philosophi- Philosophie und Tourismus 13 scher Systeme und Standpunkte (Idealismus, Rationalismus, Empirismus etc.) geprägt, welche bis heute ihre Wirkung entfalten. Da sich Philosophie stets mit den aktuellen Fragen der Zeit auseinandersetzt, kann und wird es keinen Endpunkt in der Philosophie geben. Der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) hat es mit den Worten umschrieben „Philosophie heißt: auf dem Weg sein. Ihre Fragen sind wesentlicher als ihre Antworten, und jede Antwort wird zur neuen Frage.“ 2 Philosophie und Reisen schließen sich nicht aus, sondern bilden für die Wissensentwicklung eine wichtige Symbiose. Denn ohne Reiseaktivitäten hätte es vor der Erfindung des Buchdrucks keinen nennenswerten Wissensaustausch über die geografischen und kulturellen Grenzen hinaus geben können. Handelsreisende, die neben Waren auch Schriften und Bücher mitbrachten, sowie Erkenntnisse weitertrugen, waren hierfür wesentliche Grundpfeiler. Zudem gingen Gelehrte auf Wanderschaft, um ihr Wissen weiterzugeben. Die ersten philosophischen Wandergelehrten waren die Sophisten, eine philosophische Strömung in der griechischen Antike des 5. und 4. Jahrhunderts vor unserer Zeit. Sie sahen sich als „Weisheitslehrer“ und verkauften ihr Wissen gegen ein Honorar. Gleichzeitig sammelten die Gelehrten auf ihren Reisen neue Erkenntnisse, aus denen sie wissenschaftliche Schlussfolgerungen zogen und so neues Wissen begründeten. Reiseaktivitäten sind daher auch immer mit neuen Erkenntnissen verbunden und nehmen Einfluss auf die Gedanken, Haltungen und Verhaltensweisen der Reisenden. Betrachtet man die großen Philosophen und ihre Reisetätigkeiten, so zeigt sich, unabhängig von ihrer philosophischen Ausrichtung oder Wirkensepoche, ein durchwachsenes Bild. Schütze unterscheidet in einem Aufsatz hierbei vier Gruppen von Philosophen. „Nichtreisende 2 Karl Jaspers. Die Unabhängigkeit des philosophierenden Menschen. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1997, S. 10 14 Tourismus neu denken wie Sokrates oder Kant, maßvolle Reisende wie Platon oder Hegel, solche, die am liebsten unterwegs philosophieren wie Erasmus oder Montaigne, andere, wie Heidegger (die) das Philosophieren als Unterwegssein betrachten, und die ewig Umhergetrieben wie Rousseau selbst oder Nietzsche“ 3 . Auch wenn der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) bekanntlich seine Heimatstadt Königsberg nie verlassen hat, wird ihm bescheinigt, dass er die Reiseliteratur seiner Zeit so gut kannte, dass diese Beschreibungen von ihm hätten selbst stammen können. Gebhardt vermerkt hierzu: „Er pflegte Umgang vornehmlich mit Kaufleuten, Verwaltungsbeamten und Offizieren, kannte die Reiseliteratur so gut, daß seine Zuhörer glauben konnten, er sei selbst auf Java, in Amerika oder zumindest in London gewesen.“ 4 Ab dem Spätmittelalter war es üblich, dass Adlige und herausgehobene Persönlichkeiten sogenannte Bildungsreisen unternahmen. Für diesen Personenkreis entstand eigens eine spezifische Bildungs- und Reiseliteratur, die unter dem Begriff Apodemik geführt wurde. Der Begriff ist abgeleitet vom griechischem Apodemein, was übersetzt Reiselehre bedeutet. Die erste apodemische Schrift erschien im Jahr 1574. Apodemische Abhandlungen wurden besonders von jungen Adligen genutzt, die in Begleitung sach- und fachkundiger Reisemarschälle europäische Länder bereisten. Zu den bekanntesten Verfassern apodemischer Titel gehören die Philosophen Francis Bacon und John Locke und der Mitbegründer der Royal Society, Robert Boyle. Nach 1800 wurde der Begriff Apodemik jedoch nicht mehr verwendet, weil sich mit der Aufklärung eine neue bürgerliche Denkweise in fast allen gesellschaftlichen Bereichen etablierte 3 Jochen Kornelius Schütze. Das Ende vom Abschied - Utopie und Reiseverbot. In: Ulrich Johannes Schneider/ Jochen Kornelius Schütze (Hrsg.). Philosophie und Reisen. Leipziger Schriften zur Philosophie 6, Leipziger Universitätsverlag 1996, S. 115f. 4 Volker Gerhart. Kant, Immanuel. In: Metzler Philosophenlexikon. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 1995, S. 444 Philosophie und Tourismus 15 und damit eine Abkehr von den bisherigen Autoritäten vollzog. Das sichtbarste Zeichen hierfür war die Französische Revolution von 1789, als das französische Volk auf die Barrikaden ging, um sich gegen die alten herrschaftlichen Verhältnisse erfolgreich zu wehren. Die gesellschaftlichen Verhältnisse veränderten sich, aber das Reisen für größere Bevölkerungsgruppen wurde erst nach Erfindung der Dampfmaschine möglich. Vor der Dampfmaschine gab es keine geeigneten Transportmittel, um große Menschenmengen schnell und relativ preisgünstig von A nach B zu befördern. Diesen technischen Fortschritt machte sich bekanntlich der Baptistenprediger Thomas Cook (1808-1892) zunutze, als er am 5. Juli 1841 die weltweit erste Pauschalreise organisierte. Eine Zugfahrt mit Verpflegung und Blasmusik von der englischen Stadt Leicester in das rund 10 km entfernte Loughborough und zurück für 570 Teilnehmer. Die Entwicklung der Dampfmaschine, auf deren Grundlage moderne Verkehrsmittel entstanden, ermöglichte einen Quantensprung im Reiseverkehr und war die zwingend notwendige Voraussetzung für den heutigen Massentourismus. 5 Der heutige Begriff Tourismus ist im Vergleich zum früheren Begriff „Reisen“ erst in jüngerer Zeit entstanden. Die Weltorganisation für Tourismus der Vereinten Nationen (UNWTO) definierte 1993 den Begriff Tourismus wie folgt: „Tourismus umfasst die Aktivitäten von Personen, die an Orten außerhalb ihrer gewohnten Umgebung reisen und sich dort zur Freizeit-, Geschäfts- oder bestimmten anderen Zwecken nicht länger als ein Jahr ohne Unterbrechung aufhalten.“ 6 5 Vgl. H.-Peter Herrmann/ Pauline Wetzel. Fernweh und Reiselust, Springer- Verlag, Berlin 2018, S. 81f. 6 Definition der UNWTO, zitiert nach W. Freyer. In: Tourismus. Oldenbourg- Verlag, München 2011, S. 2 16 Tourismus neu denken Mit dieser Definition sind drei konstitutive Elemente beschrieben, die touristische Aktivitäten kennzeichnen. » Erstens ein Ortswechsel, der außerhalb des gewöhnlichen Aufenthaltsortes liegt. » Zweitens ein Aufenthaltsort, an dem sich der Reisende eine gewisse Zeit aufhält und » drittens das Vorhandensein mindestens eines Motives, also eines Grundes, warum eine Reise erfolgt. Die Intensität von Reiseaktivitäten hängt sowohl von individuellen wie auch gesellschaftlichen Faktoren, wie etwa Einkommen, Freizeit, Bildung, Reisefreiheiten, Motorisierungsgrad, Wertehaltung und anderen Faktoren ab. Die Deutschen sind besonders reisefreudig, was sich zum Beispiel in der gemessenen Reiseintensität widerspiegelt. Mit dem Kennwert Reiseintensität wird die Anzahl der Bundesbürger ab 14 Jahre erfasst, die jährlich mindestens eine fünftägige Urlaubsreise unternehmen. Seit rund 20 Jahren liegt die gemessene Reiseintensität hierzulande konstant bei weit über 70 Prozent. Das heißt, weit mehr als zwei Drittel der Bevölkerung unternehmen statistisch gesehen jährlich eine längere Urlaubsreise. Die Bundesbürger sind nicht nur sehr reisefreudig, sondern Deutschland zählt selbst zu den zehn beliebtesten Reiseländern weltweit. Die Zahl ausländischer Touristen, welche die Bundesrepublik Deutschland besuchen, hat sich innerhalb von etwas mehr als 15 Jahren nahezu verdoppelt. Wurden im Jahr 2005 noch 20,1 Millionen ausländische Besucher gezählt 7 , so waren es 2019 bereits 39,4 Millionen ausländische Besucher 8 . Damit lag Deutschland 2019 an neunter Stelle der weltweit beliebtesten Reiseziele aller Nationen. Die hohe Attraktivität als Reiseland 7 Vgl. DRV. Zahlen und Fakten zum deutschen Reisemarkt 2005, Herausgegeben vom Deutschen Reiseverband, Berlin 2006, S. 2 8 Vgl. DRV. Der Deutsche Reisemarkt. Zahlen und Fakten 2019. Herausgegeben vom Deutschen Reiseverband, Berlin 2020, S. 22 Philosophie und Tourismus 17 generiert sich aus einer gut ausgebauten touristischen Infrastruktur, einer hochwertigen Servicequalität sowie einer großen touristischen Angebotsbereite. Hinzu kommt die landschaftliche Vielfalt, eine große Anzahl historischer Bauten und Denkmäler sowie zahlreiche Stätten der Hochkultur, wie Museen, Theater oder Konzerthäuser, die weit über die Landesgrenzen bekannt sind. Es ist davon auszugehen, dass Deutschland auch zukünftig zu den weltweit beliebtesten Reisezielen gehören wird. Diese Prognose begründet sich u.a. auf den schnell steigenden Besucherzahlen aus dem asiatischen Raum, insbesondere von chinesischen Bürgern, welche ein hohes Interesse an Deutschland zeigen. Besucher aus China stellen von allen Nationen bereits die achtgrößte Besuchergruppe dar und ihr Anteil ist schon heute größer als der Besucheranteil aus Dänemark oder Belgien. Mit der weltweit rasant fortschreitenden Tourismusentwicklung rücken Probleme wie Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Verteilungsgerechtigkeit usw. in den Vordergrund, die auch philosophische Grundfragen tangieren. Bislang hat sich die Tourismuswissenschaft, die noch immer stark auf betriebswirtschaftliche Problemlösungen ausgerichtet ist, kaum mit entsprechenden philosophischen Themen beschäftigt. Aber es gab auch vonseiten der Philosophie bisher wenig Aktivitäten, touristische Probleme zu beleuchten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Von Außen wurde der Themenbereich Urlaub und Reisen bis in die jüngere Vergangenheit als ein relativ problemfreies Feld wahrgenommen. Das Aufwerfen philosophisch-ethischer Fragestellungen, die im Zusammenhang mit dem Themenbereich Tourismus standen, erfolgte höchst selten. Ein Blick in die Datenbank der Deutschen Nationalbibliothek, in der alle deutschsprachigen Veröffentlichungen seit mehr als 100 Jahren lückenlos erfasst sind, zeigt, dass es bei den Suchbegriffen „Tourismusphilosophie“, „Reisen und Philosophie“ usw. nur eine recht bescheidene Trefferquote gibt. Weil tourismusspezifische 18 Tourismus neu denken Probleme verstärkt in das Bewusstsein der Bürger gerückt sind und zunehmend kontrovers diskutiert werden, erlangen sie eine immer größere öffentliche Aufmerksamkeit. Daher kommen sowohl die Tourismusindustrie, die Tourismuswissenschaft wie auch die Politik nicht mehr umhin, sich diesen Problemen zu stellen. Sichtbar wird bereits, dass sich in den praktischen touristischen Anwendungsfeldern derzeit ein vorsichtiger Wandel vollzieht. Standen für Reiseveranstalter und touristische Leistungsträger bisher die Ausweitung ihrer Angebote im Vordergrund, so zwingen aufkommende Problemdiskussionen zum Overtourismus, Ressourcenverbrauch oder zu Forderungen eines besseren Umwelt- und Nachhaltigkeitsschutzes von touristischen Destinationen, über diese Problemfelder verstärkt nachzudenken. Will die Tourismusindustrie wie auch die Tourismuspolitik weiterhin glaubwürdig bleiben, so müssen deren Verantwortliche hierauf schnell hinreichende Antworten finden. Viele dieser aufkommenden Probleme sind nicht nur miteinander verknüpft, sondern stellen, ohne dass es vordergründig sichtbar wird, auch ein Gesamtkonstrukt philosophischer Sachverhalte dar, das man als Tourismusphilosophie umschreiben kann. Getrieben vom öffentlichen Druck ist die Tourismuswirtschaft wie auch die Tourismuswissenschaft und Tourismuspolitik unvermittelt in einen philosophisch-ethischen Diskurs eingetreten, aus denen sie ohne Lösungsalternativen nicht wieder aussteigen kann. Es gibt derzeit weder ein Lehrfach Tourismusphilosophie noch entsprechende Spezialisierungen, aber Tourismusphilosophie im weiten Sinne kann dabei helfen, gegenwärtige und zukünftige Probleme zu erkennen, zusammenzufassen und neue Sichtweisen aus philosophischer Sicht zu entwickeln, die bei der Problembewältigung hilfreich sein können. Ihr konkreter Beitrag könnte darin bestehen, die unterschiedlichen Problemstellungen, wie etwa Fragen einer zukünftigen Verteilungsgerechtigkeit von begrenzten touristischen Ressourcen, die Philosophie und Tourismus 19 Teilhabe der Produzenten am touristischen Gewinn, Fragen zum Overtourismus, Umwelt- und Tierschutz (Ethik), Gentrifizierung touristischer Orte, Menschenrechte (Anthropologie), Tourismusarchitektur (Ästhetik), richtiges Schlussfolgern bei zunehmend komplexen touristischen Entscheidungen (Logik) usw. zu ordnen und dort wo es sinnvoll erscheint, auf einer Metaebene zu verknüpfen und hieraus Handlungsempfehlungen sowohl für die Tourismuswirtschaft, Tourismuspolitik wie auch für die Tourismuswissenschaft bereitzustellen. 2 Vom Sinn des Reisens lle Reiseaktivitäten sind mit einem Aufwand an Zeit und finanziellen Kosten verbunden. Bis zur Herausbildung des Massentourismus war es daher nur einer kleinen Minderheit möglich, Reisen zu unternehmen. Diese Minderheit lässt sich in zwei grundverschiedene Lager mit völlig entgegengesetzten Motiven aufspalten. » Auf der einen Seite waren es Händler und teilweise Gelehrte, deren Tätigkeit unabdingbar mit Reisen verknüpft waren, um ihren und den Lebensunterhalt ihrer Familien zu sichern. » Die andere Gruppe stellten Adlige und hochrangige Gesellschaftsträger dar, die sowohl aus Macht- und Prestigegründen sowie aus Gründen der Vergnügung Reisen unternahmen. Neben der Vergnügung war die Präsentation der eigenen Person an anderen Höfen oft ein zentrales Anliegen ihrer Reisetätigkeit. Je höher der Rang, umso länger die Reisedauer und umso größer war ihr mitreisender Hofstaat. Der sie begleitende Hofstaat diente als besonders sichtbares Zeichen von Größe und Einfluss, was dazu führte, dass sich Reisen zu einem Instrument der Zelebrierung von Macht entwickelte. Das selbstbestimmte Reisen eines jeden Menschen stand daher über 2000 Jahre unter dem Vorbehalt von Reichtum und der freien Verfügung an Zeit. Erst mit der Entwicklung moderner Verkehrsmittel wurde es möglich, dass Menschen in kurzer Zeit über weite Entfernungen zu günstigen Preisen reisen konnten. Durch sinkende Reisekostenaufwendungen und regelmäßige Arbeitseinkommen wurden Urlaubsreisen für weitere Bevölkerungsschichten erschwinglich. Mit der Einführung einer tariflich geregelten Urlaubs- A 22 Tourismus neu denken zeit für Brauereiarbeiter im Jahr 1903 und dem in der Weimarer Republik eingeführten allgemeingesetzlichen Urlaubsanspruch verfügten nun alle Arbeitnehmer über frei gestaltbare Zeiteinheiten. Die gesetzlich garantierten Urlaubtage, deren Umfang später schrittweise erhöht wurde, bilden heute die Grundlage für längere Urlaubsaufenthalte. Durch die finanzielle Erschwinglichkeit und dem verbrieften Urlaubsanspruch konnte das Reiseprivileg, das bisher den hochrangigen gesellschaftlichen Schichten vorbehalten war, durchbrochen werden. Heute nutzt die Mehrheit der Bürger in den hochentwickelten Industriestaaten die gegebenen Möglichkeiten von garantiertem Urlaubsanspruch und relativ gesichertem Einkommen für regelmäßige Urlaubsreisen. Statistiken zeigen, dass zwischen Einkommen und Reiseintensität eine Korrelation besteht. Diese Verbindung wird besonders seit den 1950er-Jahren in Deutschland deutlich, wo parallel zur Einkommensentwicklung der Anteil der Reisenden im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung steigt 9 . Erst mit dem Erreichen einer Reiseintensität von mehr als 70 Prozent in den 1990er-Jahren findet eine Entkoppelung statt. Mit über 70 Prozent Reiseintensität ist ein Wert erreicht, der nicht mehr oder nur noch minimal steigerbar ist. Auch wenn das Reiseprivileg hierzulande weitgehend aufgehoben ist, so hat sich an der zweckorientierten Zweiteilung der Reiseausrichtung nichts Grundlegendes verändert. Reisen werden noch immer entweder aus geschäftlichen Gründen, in Form von Geschäftsreisen, oder aus privaten Gründen, also Urlaubsreisen im weiten Sinne, unternommen. Verändert hat sich jedoch die jeweilige gesellschaftliche Bedeutsamkeitszuschreibung beider Ausrichtungen. Dienst- und Geschäftsreisen werden in unserer heutigen globalisierten Welt, die durch spezialisierte Produktionen und gegenseitige Vernetzungen gekennzeichnet sind, als 9 Vgl. W. Freyer. Tourismus. Oldenbourg-Verlag, München, Wien 2006, S. 24 Vom Sinn des Reisens 23 unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Weltwirtschaft angesehen. Entsprechend erfahren Dienstreisen aus dem politischen Umfeld eine größere Bedeutungsgewichtung als private Urlaubsreisen. Die Folge hiervon ist, dass die Politik die gesellschaftliche Bedeutung privater Urlaubsreisen entweder unterschätzt oder nicht erkennt. Deren Bedeutung liegt weniger im persönlichen Vergnügen, sondern vielmehr in der hinreichenden Regeneration seiner Arbeitskraft. Erfolgt der Blickwinkel nicht aus gesellschaftlicher, sondern aus der Sicht des Einzelnen, so liegt die Bedeutung des Urlaubs vordergründig in der Befriedigung seiner individuellen Urlaubsbedürfnisse. Das Bedürfnis nach Urlaub lässt sich als motivationaler Zustand beschreiben, der das Erleben eines spezifischen Mangels anzeigt. Um diesen Mangel zu beseitigen, werden Handlungen angestrebt, die auf deren Befriedigung hin ausgerichtet sind. Motivationale Zustände entstehen gewöhnlich auf Grundlage von vorhandenen Motiven, deren Verwirklichung angestrebt werden. Weil Menschen in der Regel gleichzeitig mehrere Motive besitzen, werden diese gewichtet, woraus sich eine interne Motivhierarchie entwickelt. Diese multiple touristische Motivvielfalt einschließlich ihrer entsprechenden Präferenzstärken spiegelt sich unter anderem in den jährlich erhobenen Reiseanalysen der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR) wider. Wie die wichtigste touristische Studie ihrer Art hinsichtlich des Erhebungsgegenstandes Urlaubsmotive (auch Reisemotive genannt) zeigt, benennen die Befragten gleichzeitig mehrere Urlaubsmotive und gewichten diese nach ihrer Wertigkeit. Besonders auffällig ist, dass die wichtigsten Urlaubsmotive über die Zeitspanne relativ konstant bleiben. Die nachfolgende Gegenüberstellung von unterschiedlichen Erhebungszeiträumen zu dem von der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen erhobenen Un- 24 Tourismus neu denken tersuchungen zeigt, welche Urlaubsmotive besonders stark ausgeprägt sind. 10 Rang Reiseanalyse 1974 Reiseanalyse 2008 Reiseanalyse 2017 ➊ abschalten, ausspannen Entspannung, keinen Stress haben Sonne, Wärme, schönes Wetter ➋ aus dem Alltag herauskommen frische Kraft sammeln, auftanken Spaß, Freude, Vergnügen haben ➌ frische Kraft sammeln Abstand vom Alltag gewinnen frische Kraft sammeln, auftanken ➍ Zeit üreinander haben frei sein, Zeit haben Natur erleben ➎ Natur erleben Sonne, Wärme, schönes Wetter genießen sich verühren lassen, sich was gönnen, genießen Mit den Urlaubsmotiven werden innere Beweggründe benannt, die Menschen dazu veranlassen, eine bestimmte Reise oder ein bestimmtes Ziel anzustreben. Ob die vorhandenen Urlaubsmotive tatsächlich in Reiseaktivitäten umgesetzt werden, hängt von der jeweils vorhandenen Motivation des Einzelnen ab, insbesondere hinsichtlich ihrer Ausprägungsstärke, Ausrichtung und anhaltenden Dauer. Die touristischen Motive sind mit der fortschreitenden Tourismusentwicklung immer vielfältiger und komplexer geworden und zeigen teilweise bipolare Ausprägungen (z.B. 10 Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen. Reiseanalysen FUR, Kiel 1974, 2008, 2017 Vom Sinn des Reisens 25 sich ausruhen und gleichzeitig viel erleben zu wollen). Eine Spiegelung dieser Entwicklung findet sich in entsprechenden tourismustheoretischen Modellen. Gelang es Kaspar in den frühen 1990er-Jahren, die Vielzahl an Einzelmotiven noch in fünf Motivationsgruppen (Physiologische Motivation, Psychologische Motivation, Interpersonelle Motivation, Kulturelle Motivation sowie Status- und Prestigemotivation) zu subsumieren, 11 so nahm Mundt aufgrund der heutigen komplexeren Motivlage eine Aufspaltung in zwei grundlegende Typen von Motivansätzen (die übergreifenden und die speziellen Motivansätze) vor, denen er dann unterschiedliche Motivuntergruppen zuordnete. 12 Neben der zunehmenden Ausdifferenzierung und größeren Komplexität von Motiven zeigen sich bei den Reisenden weitere dispositionale Veränderungen. Diese betreffen Einstellungen, Interessen, Kenntnisse, Bedürfnisse, Wertehaltungen etc., was zur Folge hat, dass stetig mehr spezialisierte Reisen angeboten werden, um die differenzierten Ansprüche der Nachfrager zu befriedigen. Zu den ursprünglichen Grundspezialisierungsformen (Bade- und Erholungsreisen, Aktivreisen, Studien- und Erlebnisreisen sowie Städtereisen) haben sich bereits sehr differenzierte Unterformen herauskristallisiert. Von diesem Nachfragetrend profitierten besonders die kleineren und hierauf spezialisierten Reiseveranstalter, die seit Jahren ein überproportionales Marktwachstum aufweisen. Mit der fortschreitenden Spezialisierung zu immer individuelleren Angeboten verändert sich zugleich die allgemeine Anspruchshaltung zum Urlaub selbst. Der beigemessene Anspruch differenziert sich nicht mehr nur dahingehend, ob es sich um eine Badereise, Studienreise oder eine Aktivreise handelt, sondern welche spezifischen Ausprägungsmerkma- 11 Vgl. C. Kaspar. Die Tourismuslehre im Grundriss. Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart 1991, S. 42f. 12 Vgl. J. W. Mundt. Tourismus. Oldenbourg-Verlag, München 2013, S, 107ff. 26 Tourismus neu denken le und Inhalte diese Reise bietet. Ob es sich bei einer Fahrrad-Aktivreise beispielsweise um eine E-Bike-Reise oder eine Mountainbike-Tour handelt und wo diese durchgeführt (bspw. per Rad durch Patagonien, einer 4-Ländertour von den Victoria-Fällen nach Kapstadt oder entlang des Elbradweges) wird. Auch ihre Wertigkeit in Form ihrer qualitativen Umsetzung und Begleitung wird zunehmend bedeutsamer. Etwa, ob eine Aktivreise unter Anleitung eines normalen Trainers oder eines prominenten Sportlers (wie bspw. in einem Sportkurs mit Ex-Tennisprofi Nicolas Kiefer in einem Robinson Club oder mit dem 800-Meter-Lauf-Olympiasieger Niels Schumann in einem ITS-Sportresort) stattfindet. Mit diesem Trend kommt es zu einer schrittweisen Verschiebung in Richtung Premium- und Luxusurlaub, der nicht mehr für jedermann finanzierbar ist. Die stärkere Angebotsdifferenzierung führt gleichzeitig zu einem weiteren Auseinanderdriften von preiswerten und Luxusreisen. Während der Einzelne den Sinn des Reisens vordergründig in der Befriedigung seiner Bedürfnisse sieht, liegt der gesellschaftliche Sinn des Reisens in seiner wirtschaftlichen Bedeutung. Der wirtschaftliche Bedeutungsinhalt bezieht sich dabei auf zwei unterschiedliche Sachverhalte, die miteinander eng verflochten sind. Zum einen ist es die Bruttowertschöpfung, welche nach einer Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung zum „Wirtschaftsfaktor Tourismus“ bei jährlich über 105 Milliarden Euro liegt. Werden die indirekten und induzierten Effekte berücksichtigt, so ergibt sich für den Tourismus eine zurechenbare Bruttowertschöpfung von jährlich 213,5 Milliarden Euro. 13 Der zweite und weitaus wichtigere gesellschaftliche Bedeutungsinhalt des Urlaubs liegt in der körperlichen und geistigen Regeneration der Arbeitskraft und stellt damit die 13 Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. In: DRV. Der Deutsche Reisemarkt - Zahlen und Fakten 2018. Hrsg. vom Deutschen Reiseverband, Berlin 2019, S. 6 Vom Sinn des Reisens 27 grundlegende Voraussetzung zur Erhaltung dieser dar. Nur der Urlaub ermöglicht größere Auszeiten und bietet hierdurch die Möglichkeit, sich zeitweilig vom stressbeladenen Arbeits- und Alltagsleben zu befreien. Eine grundlegende Voraussetzung für eine effektive und damit nachhaltige Erholung ist der Ortswechsel, denn zu Hause, eingebunden ins Alltagsumfeld, ist ein Abschalten von den Problemen und damit eine psychische regenerative Erholung fast immer zum Scheitern verurteilt. Der Ortswechsel als eines der drei konstitutiven Elemente des Tourismus ist daher für die Regeneration unerlässlich. Die seit Jahren kontinuierlich steigenden Arbeitsausfalltage infolge psychischer Beschwerden unterstreichen die Wichtigkeit einer hinreichenden psychischen Regeneration. Urlaubsreisen sind daher nicht nur Selbstzweck, sondern erfüllen in industrialisierten Gesellschaften, die von hohen Arbeitsproduktivitätsanforderungen geprägt sind, eine zentrale Funktion. Diese Bedeutung, welche Urlaubsreisen für die Regeneration der Arbeitskraft haben, wird jedoch bis heute grundlegend unterschätzt. In der Reiseanalyse der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen 2015 gaben von den befragten Urlaubern 75 Prozent an, sich gut oder ausreichend im Haupturlaub erholt zu haben. 14 Vergenwärtigt man sich die Tatsache, dass mehr als 70 Prozent der Bundesbürger jedes Jahr mindestens eine fünftägige Urlaubsreise unternehmen, so erbringt die Tourismuswirtschaft de facto die „Hauptregenerationsleistung“ für die gesamte bundesdeutsche Volkswirtschaft. Damit dürfte der volkswirtschaftliche Beitrag, welcher entscheidend zur Sicherung der Arbeitsproduktivität beiträgt, um ein Vielfaches höher sein, als die ausgewiesene direkte Bruttowertschöpfung der Tourismusbranche von 14 Studie der Reiseanalyse 2015 In: Maria Lettel-Schröder. Tiefer Griff in die Urlaubskasse. Fvw Nr. 06/ 2015, Verlag FVW Medien GmbH, Hamburg, S. 46 28 Tourismus neu denken jährlich über 105 Milliarden Euro. 15 Berechnungen, wie hoch der Regenerationswert infolge der erbrachten touristischen Leistungen zu beziffern ist, existieren nicht. Soll die Regeneration von Arbeitskräften weiterhin aufrechterhalten werden, so ist dies nur in Verbindung mit Urlaubsreisen, die eine Ortsferne vom Alltagsleben beinhalten, denkbar. Auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene werden jedoch vordergründig nur die negativen Folgewirkungen des Tourismus in den Mittelpunkt gestellt, ohne den touristischen Wert, insbesondere den Regenerationswert für die Volkswirtschaft, zu bedenken. Weder die Tourismuswirtschaft noch die Tourismuswissenschaft haben bis heute diesen Aspekt aufgegriffen und zu ihrem Nutzen argumentativ verwendet. Möglicherweise wird die Dimension des Regenerationswertes hier ebenfalls nicht erkannt, weil bisherige Denkweisen den Blick darauf verstellen. Primär ist der Fokus von Tourismuswirtschaft und Tourismuswissenschaft noch immer auf die Effizienzsteigerung betriebswirtschaftlicher Erstellungs- und Absatzprozesse und weniger auf das Subjekt, den Reisenden ausgerichtet. So lange das Produkt Reise im Vordergrund steht und das Subjekt nur als Mittel zum Zweck gesehen wird, können neue Sichtweisen nur schwer Raum greifen. Öffentliche Äußerungen von führenden Tourismuswissenschaftlern, wie beispielsweise: „Wir verkaufen eine Dienstleistung, die kein Menschenrecht ist, sondern ein Luxus, der jederzeit wieder abgeschafft oder eingeschränkt werden kann“ 16 oder „[...] Verbote dürften kein Tabu sein“ 17 verunsichern hingegen zusätzlich. Mit der 15 Studie Wirtschaftsfaktor Tourismus des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung. Entnommen in: Der Deutsche Reisemarkt. Zahlen und Fakten 2018. Deutsche Reiseverband Berlin 2019, S. 6 16 Aussage von Prof. Dr. Harald Zeiss. Gastkommentar „Den Tatsachen ins Auge sehen“. In fvw. Nr. 11/ 2019 vom 24. Mai 2019, FVW Medien GmbH Hamburg 2019, S. 6f. 17 Vgl. Aussage von Torsten Kirstges, Professor auf der DRV-Tagung 2019. In: fvw Nr. 26/ 2019, Martin Jürs. Ringen um mehr Umweltschutz, FVW Medien GmbH, Hamburg 2019, S. 38f. Vom Sinn des Reisens 29 undifferenzierten Aussage, Urlaub sei kein Grundrecht, werden verfassungsmäßige Grenzsetzungen, wie beispielsweise Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz (freie Entfaltung der Persönlichkeit) oder Artikel 11 Abs. 1 Grundgesetz (Freizügigkeit im Reiseverkehr) deutlich infrage gestellt. Generelle Reiseverbote, wie sie am 16. März 2020 von der Bundesregierung aufgrund der sich weiter ausbreitenden Corona- Pandemie verfügt worden, sind nur durch eine außergewöhnliche und schwerwiegende gesamtgesellschaftliche Gefährdungssituation gerechtfertigt. Erhöhte Umfeldbelastungen aufgrund touristischer Aktivitäten stellen noch keine existenzbedrohende gesellschaftliche Gefährdungssituation dar, weshalb in der Abwägung zu möglichen Grundrechtseinschränkungen generalisierte Reiseverbote kritisch zu sehen sind. Eine Abschaffung oder Einschränkung unterhalb eines hinreichenden qualitativen Urlaubsumfanges, der zur Arbeitsregeneration notwendig ist, erscheint nicht nur verfassungsmäßig problematisch, sondern würde durch ein geringeres Leistungsniveau aufgrund nicht hinreichender Erholungsmöglichkeiten erhebliche gesellschaftliche Folgen haben. Urlaub und damit verbundene Reiseleistungen sind kein Luxus, sondern notwendige Voraussetzungen für die unabdingbare Regeneration der menschlichen Leistungsfähigkeit. Einschränkungen erscheinen jedoch dort möglich, wo Reiseleistungen weit über den Normalurlaub hinausreichen. Unbestreitbar ist in diesem Zusammenhang, dass sich in der jüngeren Vergangenheit eine immer stärkere Entwicklung hin zum Premium- und Luxusurlaub vollzieht, der viele Elemente enthält, die deutlich über das Ausmaß der Erholungs- und Regenerationsfähigkeit hinausgehen. Hier lassen sich durchaus Ansatzpunkte für Eingrenzungen oder Beschränkungen finden, ohne die notwendige Regenerationsfähigkeit infrage zu stellen. Eine echte Alternative zum bisherigen Tourismus, der mit einem Ortswechsel und damit einhergehenden Reisetätigkeiten verbunden ist, gibt es nicht. Selbst eine Teilumlenkung der 30 Tourismus neu denken derzeit rund 74 Prozent Auslandsreisenden auf Inlandsziele erscheint höchst unrealistisch. Denn es gibt weder die notwendige touristische Infrastruktur, welche längerfristige Ferienaufenthalte von mehreren Millionen Gästen zusätzlich aufnehmen könnten, noch hinreichend Arbeitskräfte, um diese erhöhte Gästeanzahl zu betreuen. Bereits in jüngerer Vergangenheit klagten Hoteliers darüber, in der Hochsaison nicht alle Kapazitäten ausschöpfen zu können, weil Arbeitskräfte im benötigten Umfang fehlen. Zudem wäre die Schaffung neuer künstlicher Urlaubswelten à la Tropic Island unter ökologischen Betriebsgesichtspunkten höchst kontraproduktiv. Unbedachte Beschränkungen von Urlaubs- und Reiseaktivitäten, welche die individuelle Regenerationsfähigkeit beeinträchtigen, könnten so zum Bumerang der volkswirtschaftlichen Produktivität werden. Die ursprünglichen individuell zentrierten Sinnfragen des Reisens werden heute von der gesellschaftlichen Betrachtungsdimension überlagert. Und weil Tourismus nicht an Ländergrenzen endet, sondern international stattfindet, müssen auch dessen Folgen global betrachtet werden. Für viele Länder, darunter mehrere EU-Staaten, hat der Tourismus eine herausragende wirtschaftliche Bedeutung. Erhebliche Einnahmeeinbrüche über einen längeren Zeitraum, also Einbrüche, die nach Überwindung der Corona-Krise anhalten, würden diese Länder mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine zusätzliche touristische Rezession stürzen und damit in eine zusätzlich schwere wirtschaftlichen Schieflage bringen. Ehrlicher wäre es, den echten volkswirtschaftlichen Wert einer Urlaubsreise den jeweiligen ökologischen Belastungswerten der jeweiligen Reise entgegenzustellen. Mit einer Wertebemessung bietet sich zudem die Gelegenheit, den Reisenden aus seiner derzeitigen „Zerrissenheit“, in die er unverschuldet hineingedrängt wurde, zu befreien. Diese Zerrissenheit lässt sich psychologisch als eine Art optimale Distinktion beschreiben. Menschen besitzen sowohl das Bedürfnis zu den Reisenden zu gehören als auch das Be- Vom Sinn des Reisens 31 dürfnis, dabei nicht umweltschädlich zu agieren. Beide Bedürfnisgegensätze, welche von Hornsey und Jetten als „optimale Distinktheit“ 18 bezeichnet werden, müssen ausbalanciert werden. Denn diese Zerrissenheit verunsichert zunehmend immer mehr Reisende und äußert sich in der sogenannten „Reise- oder Flugscham“. Deren Auswirkung verspüren bereits die Reisemittler, die einen immer größeren Spagat zwischen ihren Kunden und den Erwartungen der Reiseveranstalter erbringen müssen, um nicht selbst in ein Zerrissenheitsdilemma zu geraten. Will man in der gegenwärtigen Situation die Sinnhaftigkeit des Tourismus nicht infrage stellen und Betroffene aus ihrer touristischen Zerrissenheit befreien, so ist eine Überwindung herkömmlicher Denkmodelle wie das weitverbreite Lehrmodell vom Zielkonflikt zwischen Ökonomie, Ökologie, Tourismuspolitik und Individuum notwendig. Den Interessensgegensätzen muss ein faires Interessenausgleichmodell aller daran beteiligten Partner entgegenstehen. Ein solches Modell wird jedoch nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn es auf ein Gleichgewicht zwischen dem gesellschaftlichen Wert einer Reise und den persönlichen Reisebedürfnissen ausgerichtet ist. Dieses setzt voraus, dass der Wert jeder Reise über vorher festgelegte Parameter definiert wird. Zwei wesentliche Parameter hierbei sind der jeweilige Erholungswert einer Reise (Nutzenparameter) und der Umweltbelastungswert (Negativparameter). Beide Parameter ergeben einen Koeffizienten, der sich als Wertigkeit einer Reise beschreiben lässt. Mit diesem Koeffizienten kann der reale Wert einer Reise für den Einzelnen nachvollziehbar sichtbar gemacht werden. Wird ein geringer Wertigkeitsverbrauch belohnt und ein hoher Verbrauch sanktioniert, so entstehen hierüber gewünschte Reiseverhaltenseffekte. 18 Georg Felser. Konsumentenpsychologie. Verlag W. Kohlhammer. Stuttgart 2014, S. 113 3 Die ethische Verantwortung des Tourismus Wenn Menschen danach gefragt werden, womit sich Philosophie beschäftigt, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie hierauf antworten, sie beschäftigt sich mit ethischen Fragen oder setzt sich mit ethischem Handeln auseinander. Der starke Bezug zur Ethik gegenüber den anderen philosophischen Teilgebieten ist nicht verwunderlich, denn bereits in der Schule werden die Schüler im Rahmen ihres Ethik- oder Religionsunterrichts an ethische Fragestellungen herangeführt. Die assoziative ethische Verknüpfung zur Philosophie oder zur Theologie wird zudem durch den Verweis auf praktische Alltagsbezüge beständig gefestigt. Ein grundlegender Unterschied zwischen Philosophie und Religion besteht jedoch darin, dass die philosophische Ethik Handlungen auf Prinzipien der Vernunft zurückführt, wogegen die theologische Ethik die sittlichen Handlungsprinzipien als Willen Gottes interpretiert und begründet. Die Philosophie setzt sich mit ethischen Fragestellungen seit der Antike, also nicht weniger als zweieinhalbtausend Jahre auseinander. Der heutige Begriff Ethik wurde dem griechischen Wort ethos entlehnt, was in seiner ursprünglichen Herleitung Sitte oder Brauch bedeutet. Ethik ist somit die Lehre vom guten und sittlichen Handeln. Damit ist stets die Frage impliziert, was sollen wir tun und welche Folgen hat unser Handeln? „Die Ethik fragt, so könnte man auch sagen, nach der richtigen Entscheidung oder dem richtigen Handeln, und eine richtige Entscheidung oder dem richtigen Handeln, und eine richtige Entscheidung ist eine Entscheidung, die gerechtfertigt oder verantwortet werden kann.“ 19 Seit der Antike hat die Philosophie diese ethischen Grundfragen auf ihrer Tagesordnung und versucht, hinreichende Antworten zu finden. Mit der Nikomachischen Ethik von Aris- 19 Friedo Ricken. Allgemeine Ethik. Verlag W. Kohlhammer 2013, S. 13 34 Tourismus neu denken toteles (384-322 v.u.Z.) entsteht eine erste umfassende wissenschaftliche thematische Abhandlung zu wesentlichen ethischen Problemen. In seinen zehn Büchern thematisiert er das richtige Handeln, die sittliche Tüchtigkeit, Großzügigkeit, Gerechtigkeit, Glück, Freundschaft u.a. Ethische Fragen bleiben in der gesamten folgenden Philosophiegeschichte ein primäres Thema, immer auch als Reflexion der Bedingungen, Prinzipien und Ziele menschlich-gesellschaftlichen Handelns der jeweiligen Zeit. Ethik liefert keine fertigen Lösungen, sondern versteht sich als Ratgeber und Wegweiser des richtigen Handelns im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten. Beim methodischen Herangehen ist eine Unterscheidung zwischen deskriptiver, normativer, angewandt sowie Metaethik geboten. Während die deskriptive Ethik darauf ausgerichtet ist, ethische Sachverhalte zu beschreiben, geht es der normativen Ethik um Handlungsrichtlinien, d. h. um moralische Prinzipien und allgemein gültige Normen und Werte. Sie sind Richtschnur, welche Handlung in Bezug auf die jeweiligen Bedingungen als richtig oder gerechtfertigt erscheinen lassen. Die Metaethik hingegen untersucht die Methoden der Ethik als Wissenschaft, während die angewandte Ethik, entsprechend ihres jeweiligen Anwendungsfeldes (Medizinethik, Rechtsethik, Bildungsethik, Arbeitsethik, Pflegeethik usw.) spezifische Handlungsempfehlungen gibt. Die philosophische Ethik geht im Unterschied zur theologischen Ethik davon aus, dass Fragestellungen durch rationale, d. h., verstandesgemäße und nicht auf Glauben basierende Herangehensweisen beantwortet werden. Dabei ist nach Wildfeuer zu berücksichtigen, dass „[…] die Unterscheidung zwischen ‚Vernunft‘ und ‚Verstand‘, die gemeinsam das ‚Geistige‘ im Menschen oder das Vermögen des Denkens ausmachen [...] von der ‚Sinnlichkeit‘ unterschieden werden. Diese Dreiteilung der Vermögen des Menschen in Vernunft, Verstand und Sinnlichkeit findet sich der Sache nach, Die ethische Verantwortung des Tourismus 35 wenn auch in sehr unterschiedlicher Benennung, in den Philosophien aller Epochen […].“ 20 Die ethische Verantwortung des Tourismus liegt darin, ihr Handeln auf relevante Fragestellungen hin zu prüfen und Entscheidungen zu treffen, die auf nachvollziehbaren vernunftbasierten Entscheidungen beruhen. „Die Perspektive der Vernunft einzunehmen heißt mithin, Ordnungen und Zusammenhänge zu suchen, zu erkennen oder herzustellen, sich darin zu orientieren und nach diesen tatsächlich auch zu handeln - durch Bezug und Bindung des Erkennens und Handelns auf das Allgemeine, Universelle, Gesetzmäßige, Regelhafte.“ 21 Trotz vieler konkreter Einzelmaßnahmen agiert die Tourismuswirtschaft wie auch die Tourismuspolitik noch stark aus einer deskriptiven Ebene heraus, also der Beschreibung was ist. Dieses zeigt sich beispielsweise an der beständigen touristischen Zielkonfliktbeschreibung zwischen Ökonomie, Ökologie, Politik und Gesellschaft, ohne begründbare Lösungsansätze aufzuzeigen. Die Entwicklung einer praktikablen Handlungs- und Umsetzungsstrategie erweist sich für viele Tourismusmanager deshalb so schwierig, weil sich einerseits die Probleme, wie ethische Verantwortung, ökologische Gestaltung, Teilhabe usw. auf unterschiedliche philosophische Bereiche (Ethik, Ästhetik, Ontologie, Erkenntnistheorie usw.) beziehen und andererseits die Vermittlung eines soliden philosophisch-ethischen Grundwissens im Tourismusstudium an den meisten Hochschulen bisher keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Das sich hieraus ergebende Grundproblem für Tourismusmanager wie für die Verantwortlichen der Tourismuspolitik ist, dass ethische Handlungsentscheidungen nicht nur im- 20 Armin G. Wildfeuer. Vernunft. In Kolmer/ Windfeuer (Hrsg.) Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 3, S. 2337 21 Armin G. Wildfeuer. Vernunft. In Kolmer/ Windfeuer (Hrsg.) Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 3, S. 2334f. 36 Tourismus neu denken mer schneller zu treffen sind, sondern zunehmend komplexer und in ihren Auswirkungen verantwortbarer werden. Zwar können wir nach Ansicht von Ricken zwischen verschiedenen Alternativen wählen, „[...] aber wir können nicht wählen, ob wir überhaupt wählen sollen […].“ 22 Sein nachvollziehbares logisches Argument ist, auch wenn wir glauben, in einer bestimmten Angelegenheit keine Entscheidung zu fällen, haben wir eine Entscheidung gefällt. Ein aufschiebendes Nichthandeln ist in kritischen Situationen de facto die schlechteste aller Alternativen. Das Entscheidungsfeld an ethisch orientierten Maßnahmen im touristischen Bereich ist groß und erstreckt sich dabei über sehr unterschiedliche Themenbereiche, wie beispielsweise: » Umweltbelastungen durch verkehrsbedingte Emissionen, Abfällen etc. » Wasserknappheit und Wasserverschwendung in touristischen Hotspot-Gebieten » Umweltzerstörung (schonende Nutzung bisher naturbelassener Räume, Schutz der Korallenriffe und wichtiger biologischer Lebensräume u.ä.) » Tierwohl und Artenerhaltung (Verzicht auf Tiershows, touristische Erschließungsverbote zum Artenschutz in bestehenden Naturschutzgebieten u.ä.) » gerechte Verteilung der touristischen Wertschöpfung (Teilhabe der einheimischen Bevölkerung am Wohlstand) » Schutz des Natur- und Lebensraumes endogener Völker einschließlich ihrer Identität und kultureller Stätten vor touristischen Besucherströmen » Nahrungsmittelverschwendung im Hotel- und Gastronomiebereich, 22 Friedo Ricken. Allgemeine Ethik. Verlag W. Kohlhammer 2013, S. 13 Die ethische Verantwortung des Tourismus 37 » Rodungseinschränkungen von Naturflächen sowie die Vermeidung von unnötigen Zersiedelungen wie auch Versiegelungen von Flächen zur Schaffung neuer Verkehrswege usw. Unter allen ethischen Themenfeldern wird die Umweltbelastung mit Abstand als das gravierendste Problem angesehen. Was die von ihr ausgehenden Belastungen so allgemein und bedeutsam macht, ist die Tatsache, dass ein relativ hoher Weltbevölkerungsanteil diese sowohl durch ihre touristischen Aktivitäten mit verursacht wie auch gleichzeitig von deren Auswirkungen unmittelbar betroffen ist. Die Folgen der bisherigen klimatischen Veränderungen sind mittlerweile selbst in Regionen spürbar, welche seit langer Zeit unter einem besonderen Schutz stehen. So stellte 2016 der World Wide Fund For Nature (IWF) in einer Studie fest, dass von den 229 Weltnaturerbestätten 114 gefährdet oder stark bedroht sind. Darunter befinden sich viele bekannte touristische Destinationen, wie etwa das Wattenmeer, der Grand Canyon, die Rocky Mountains oder das Great Barrier Reef. So hat beispielsweise das Great Barrier Reef als größte und artenreichste Unterwasserwelt in den letzten Jahren rund die Hälfte seiner Korallenriffe verloren. 23 Der Tourismus gehört weltweit zu den bedeutenden Emittenten klimaschädlicher Gase, weshalb Umweltschutz und Nachhaltigkeit ein wichtiges und zugleich kontrovers diskutiertes Thema innerhalb der Tourismusbranche geworden ist. Nach Einschätzung des Bundesverbandes der Tourismuswirtschaft (BTW) verursacht der Tourismus einschließlich Hotellerie gegenwärtig einen jährlichen CO 2 -Ausstoß von 8 Prozent, wovon 2,7 Prozent auf die Airlines entfallen und 0,5 Prozent auf die Kreuzfahrtbranche. 24 Konsens be- 23 H.-P. Herrmann/ P. Wetzel. Fernweh und Reiselust. Springer-Verlag Berlin 2016, S. 195f. 24 Vgl. Marlis Kalthoff. Im Zeichen des Klimas. In fvw Nr. 23/ 2019 vom 8. November 2019, FVW Medien GmbH 2019, S. 13 38 Tourismus neu denken steht daher weitgehend darüber, dass der Tourismus einen bedeutenden Beitrag zur Erreichung der gesetzten Umwelt- und Klimaziele leisten muss. Zur Umsetzung dieser Ziele wurden von Reiseveranstaltern bereits eine Vielzahl von Umweltmaßnahmen initiiert. So hat der Reiseveranstalter TUI die gemeinnützige Stiftung TUI Care Foundation gegründet, die beispielsweise das Umweltbildungsprogramm Ecokidz in Südafrika fördert oder den Elephant Nature Park bei Chiang Mai im Norden Thailands unterstützt. Zusammen mit der Nachhaltigkeitsinitiative unterstützt die Reisemarke Gebeco Aktivitäten zur Verbesserung der Lebensbedingungen für das Volk der Khwe im namibischen Bwabwata National Park. DER Touristik lässt alle Calimera- Clubanlagen weltweit nach dem Internationalen Umweltstandard ISO 14001 zertifizieren, um einen nachhaltigen Beitrag zum Ressourcenschutz zu leisten. Der führende Studienreiseveranstalter Studiosus zertifiziert seine Reisen nach DIN EN ISO 9001, 14001 sowie nach EMAS III. Chamäleon, ein spezialisierter Reiseveranstalter für Erlebnisreisen, will zusammen mit seiner Reiseveranstaltermarke Yolo den klimatischen Fußabdruck kleinhalten, indem er für jeden Reiseteilnehmer 100 Quadratmeter Regenwald kauft und dadurch jährlich 5,3 Tonnen Kohlendioxid gebunden und gleichzeitig 5,9 Tonnen Sauerstoff produziert werden. Ende 2019 hat Chamäleon bereits 12,5 Millionen Quadratmeter Regenwald gekauft und unter Naturschutz stellen lassen. Der führende Kreuzfahrtanbieter AIDA Cruises hat mit der AIDAnova das erste flüssiggasbetriebe Kreuzfahrtschiffe (LNG) in Dienst gestellt und geht damit neue Wege in der Vermeidung von schädlichen Emissionen. TUI Cruises reduzierte auf seiner Schiffsflotte mit Hilfe eines digitalen Abfall-Analyse-Tools die Menge der Essensreste bereits um mehr als 1.000 Tonnen und erhielt dafür 2017 vom Deutschen Reiseverband (DRV) die ECO Trophea 2017 für dieses Projekt. Der Kreuzfahrtanbieter Costa Crociere S.p.A. (Costa Kreuzfahrten), ein Schwesternunternehmen von AIDA Die ethische Verantwortung des Tourismus 39 Cruises hingegen sammelt und verpackt Mahlzeiten und lässt sie für Bedürftige am Hafen von Savona und Civitavecchia abholen. 25 Auch der Reisevertrieb steht bei diesem Thema nicht abseits. So hat die größte Reisebürokooperations-Allianz QTA, der rund 9.000 Reisebüros angehören, in Zusammenarbeit mit Atmosfair konkrete Umweltprojekte angeschoben. Von den CO 2 -Kompensationen der Reisebürokunden und einem Teil der Service-Entgelte vom Verkauf von QualityPlus-Paketen werden energieeffiziente Öfen zum Kochen in Ruanda und solare Trinkwasseranlagen in Kenia und Indonesien finanziert. Neben diesen Aufzählungen gibt es unzählige weitere Maßnahmen von touristischen Leistungsträgern, darunter der Deutschen Bahn (DB), vieler Airlines, Flughäfen oder Autovermietern, die auf einen nachhaltigen Umweltschutz ausgerichtet sind. Auch wesentliche touristische Ausrüster wie Flugzeughersteller, Hersteller von Bus- und Schienenfahrzeugen arbeiten an Nachhaltigkeitskonzepten. So hat Airbus angekündigt, bis 2035 ein Passagierflugzeug mit hybridelektrischem Antrieb zu entwickeln. Neben den unternehmenseigenen Maßnahmen wird zunehmend der tourismusübergreifende Schulterschluss gesucht. So sind neben großen Tourismuskonzernen wie TUI und DER Touristik viele weitere Reiseveranstalter und Leistungsträger Mitglied der touristischen Nachhaltigkeitsinitiative Futouris. Zu den Zielen von Futouris gehören neben dem Umwelt- und Klimaschutz der Erhalt einer biologischen Vielfalt, die Verbesserung der Lebensverhältnisse indigener Völker und die Bewahrung ihrer kulturellen Identität. In seinem über zehnjährigen Bestehen wurden weltweit 50 Nachhaltigkeitsprojekte umgesetzt, wofür Futouris 2019 vom Deutschen Reiseverband (DRV) den Umweltpreis Eco Trophea erhielt. Ein weiterer Zusammenschluss ist der 25 Astrid M.öslinger. Verwendung, Verschwendung, Vermeidung. In: Travel one Nr. 1/ 2018 T&M Medien Darmstadt 2018, S. 29 ff. 40 Tourismus neu denken Nachhaltigkeitsverband „Forum anders Reisen“ (FAR), dem rund 130 Veranstalter angehören und der 2016 bereits 144.000 Gäste für ökologisches Reisen gewinnen konnte. Vor dem Hintergrund der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung beteiligen sich zudem auch immer mehr touristische Destinationen an Umweltprojekten. Die Vielzahl von touristischen Umweltschutz- und Nachhaltigkeitsmaßnahmen erscheinen derzeit wenig koordiniert und erreichen daher kein optimales Wirkungspotenzial in der öffentlichen Wahrnehmung. Der weltweit rasante Tourismusanstieg, der vor der Corona-Krise zu verzeichnen war, wird sich nach deren Überwindung wahrscheinlich weiter fortsetzen. Damit zeichnet sich ab, dass angestrebte technische Maßnahmen wie Effizienzsteigerungen, die Entwicklung und der Einsatz klimafreundlicherer Treibstoffe oder Ressourceneinsparungen bei touristischen Leistungen die entstehenden touristischen Mehrbelastungen mittelfristig nicht kompensieren können. Im Dezember 2019 hat die Europäische Union ihren Green Deal vorgestellt, der bis 2050 eine Klimaneutralität vorsieht, wobei bis 2030 bereits eine CO 2 -Reduktion von 50 bis 55 Prozent angestrebt wird. Ähnliche Ziele beinhalten die auf nationaler Ebene 2019 beschlossenen Maßnahmen in Form eines Klimaschutzpakets, welches als politisches Ziel bis zum Jahr 2030 eine CO 2 -Reduktion um 55 Prozent zum Vergleichsjahr 1990 anstrebt. Zur Zielerreichung sind im Verkehrs- und Tourismusbereich wird primär auf finanzielle Sanktionen und Anreize gesetzt. Sie reichen von einer CO 2 -Abgabe auf Kraftstoffe über eine nochmalige Anhebung der Luftverkehrssteuer auf 13 Euro für die Kurzstrecke und knapp 60 Euro auf Fernstrecken bis zu der Absenkung des Mehrwertsteuersatzes auf 7 Prozent für alle Bahnreisen. Nach übereinstimmender Expertenmeinung sind diese Maßnahmen wenig geeignet, um gewünschte Steuerungseffekte zu erreichen. Bereits ein kurzer Blick auf statistische Zahlen zeigt, dass die erhoffte Lenkungswirkung im tou- Die ethische Verantwortung des Tourismus 41 rismusrelevanten Bereich, der den Geschäftsreisebereich einschließt, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht funktionieren wird. Nach Angaben des Verbandes Deutsches Reisemanagement (VDR) gab es im Jahr 2018 von Deutschen Unternehmen ausgehend 187,5 Millionen Geschäftsreisen. 26 Dem standen im gleichen Jahr 69,6 Millionen Urlaubsreisen 27 gegenüber. Damit gibt es jährlich zweieinhalb Mal mehr Geschäftsreisen als Urlaubsreisen. Auch wenn die geschäftliche Reisedauer gegenüber Urlaubsreisen erheblich kürzer ist, verursachen sie besonders durch den jeweiligen Reiseanteil einen beträchtlichen Teil an klimaschädlichen Umweltbelastungen. In unserer heutigen globalisierten Welt, mit einer starken Produktspezialisierung, gegenseitigen Abhängigkeiten und sich daraus ergebenden Vernetzungen sind Dienstreisen jedoch ein unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Weltwirtschaft. Die Geschäftsreisesparte wird stark von ökonomischen Bedingungen und weniger von ökologischen Denkmustern getragen und reagiert auf weltwirtschaftliche Entwicklungen. Bei wirtschaftlichen Einbrüchen fahren Unternehmen ihre Geschäftsreiseausgaben zurück und in wirtschaftlichen Wachstumsphasen steigen diese dann wieder an. Im Reisejahr 2008/ 2009, welches durch eine weltweit schwere Finanzkrise gekennzeichnet war, gingen die Reiseausgaben um 15,6 Prozent zurück. 28 In der anschließenden Erholungsphase stiegen die Ausgaben wieder kräftig an. Ein ähnlicher Effekt wird sich nach vollständiger Überwindung der Corona-Krise zeigen. Da der persönliche Kontakt für den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Vertrauensver- 26 Verband Deutsches Reisemanagement (VDR). Geschäftsreiseanalyse 2018. In: Deutscher Reiseverband. Der deutsche Reisemarkt - Zahlen und Fakten 2018, DRV, Berlin 2019, S. 47 27 Forschung und Reisen. Reiseanalyse. In: Deutscher Reiseverband. Der deutsche Reisemarkt - Zahlen und Fakten 2017, DRV, Berlin 2018, S. 8 28 Oliver Graue, Martin Jürs. Reisen in Zeiten der Rezession. fvw Nr. 23/ 2019 vom 8. November 2019, FVW Medien GmbH Hamburg 2019, S. 39 42 Tourismus neu denken hältnissen unverzichtbar ist, lassen sich Dienstreisen nur bedingt durch moderne Kommunikationsmittel wie bspw. Videokonferenzen ersetzen. Unternehmen orientieren sich am ökonomischen Nutzen von Geschäftsreisen und sind daher bereit, auch erhöhte Kosten zu tragen. Wenn ein Geschäft Aussicht auf Erfolg verspricht, spielen Reiseeinschränkungen zum Schutz der Umwelt oft nur eine untergeordnete Rolle. Getroffene Anreize wie die Absenkung der Mehrwertsteuer für Bahnreisen ergeben für Unternehmen wenig Sinn, da die Mehrwertsteuer unabhängig von ihrer Höhe gegenüber dem Finanzamt geltend gemacht werden kann. Dienstlich finanzierte BahnCard 100 genießen bereits eine weitgehende Steuerfreiheit. Um Veränderungen im Geschäftsreisesektor zu erreichen, sind andere Instrumente notwendig. Unternehmen könnten beispielsweise stärker angehalten werden, ihre Reiserichtlinien so anzupassen, dass Geschäftsreisende, die ein ökologisch orientiertes Reiseverhalten zeigen, stärker honoriert werden. Unternehmen könnten ihre ethische Verantwortung in Bezug auf den Umweltschutz dadurch zeigen, dass sie beispielweise die Abschaffung hinnehmbarer Geschäftsreiseprivilegien prüfen oder auf die Einschränkung der im Geschäftsreisetrend liegenden Bleisure-Reisen (Verbindung von Geschäftsreise mit Freizeit- und Urlaubselementen) hinwirken, die zu zusätzlichen touristischen Aktivitäten wie zu verlängerten Aufenthalten bei Nutzung unterschiedlicher Angebote wie Mietwagen, Umroutungen für Zwischenstopps, Wellness etc. führen. Deren Abschaffung setzt den ernsthaften Willen der Unternehmensführung und ein Umdenken bei den für Business Travel verantwortlichen Entscheidern voraus. Bei jährlich knapp 190 Millionen Geschäftsreisen, die nach Überwindung der Corona-Krise wieder zu erwarten sind, würde mit diesen Maßnahmen bereits ein spürbarer Effekt entstehen. Längerfristige Verhaltensänderungen bei Geschäftswie bei Privatreisen lassen sich nicht durch einma- Die ethische Verantwortung des Tourismus 43 lige Maßnahmen bewirken, sondern lassen sich nur über Einstellungsänderungen erreichen. Wichtig für die Akzeptanz von Umweltschutzmaßnahmen auf Seiten der Privatreisenden ist, dass bei möglichen Einschränkungen von der Tourismuspolitik ein fairer Interessensausgleich zwischen Geschäftsreisen und Urlaubsreisen gefunden wird. Hier sind die touristischen Verbandsorgane gefordert, sinnvolle Maßnahmenvorschläge zu erarbeiten, die einen solchen Interessenausgleich befördern. Erfolgt dies nicht, so sind überproportionale Einschnitte bei den Privatreisen zu erwarten. Ein Verzicht auf Reiseluxus muss sich dabei nicht zwangsläufig negativ auf die Erlebnisqualität und Regeneration auswirken. Wesentlich entscheidender ist eine vernunftabwägende Einstellung des Einzelnen zu seinen jeweiligen individuellen Reiseaktivitäten. Menschen, die sehr bewusst etwas zum Umweltschutz beitragen, können hierfür sogar ein Gefühl von Stolz und Freude entwickeln. Etwa wenn Besucher auf Barbados in einem biodynamischen Agrar-Workshop Obstbäume und Pflanzen anbauen, Abfälle aufsammeln oder Schildkröteneier retten. Für diese Beteiligungen erhalten die Helfer im Gegenzug kostenfreie Kursstunden in Surf- und Tauchschulen. 29 Reiseveranstalter, touristische Leistungsträger und Destinationen, die Menschen auf ihren Reisen mit solchen konkreten emotionalen Umwelterlebnisangeboten mit ins Boot holen oder diese in praktischer Weise überzeugen, entfalten damit wahrscheinlich einen größeren Bewusstseinsfortschritt als es Verbote und Einschränkungen je erreichen können. Studien zeigen, dass die Mehrheit der deutschen Touristen Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen befürwortet, aber zwischen ökologischer Reiseeinstellung und realem nachhaltigem Handeln eine sehr große Lücke besteht. So gaben bei der Reiseanalyse 2019 gerade einmal 4 Prozent der Be- 29 Vgl. Christine Pilar. Gutes Gefühl für Barbados. In: fvw Nr. 26/ 2019, FVW Medien GmbH Hamburg, S. 48 44 Tourismus neu denken fragten an, dass das Nachhaltigkeitskriterium bei gleichwertigen Angeboten den Reiseausschlag gegeben habe. Die derzeitige thematische Sensibilisierung durch reine Faktenvermittlung kann daher nur ein erster Schritt hin zu einer Verhaltensänderung sein. Das derzeitige Grundproblem ist, dass Bewusstseinsveränderungen oft erst einsetzen, wenn die Umweltschäden sichtbar oder spürbar werden. Da Bewusstseins- und Einstellungsänderungen den Verhaltensänderungen vorausgehen, sollte hier möglichst früh angesetzt werden. Neben dem Umwelt- und Klimaschutz besteht ein zweites gewichtiges Handlungsfeld, in dem der Tourismus aufgrund seiner Auswirkungen eine hohe ethische Mitverantwortung trägt. Touristen profitieren heute überproportional von den Leistungen, die am Aufenthaltsort durch die dort ansässigen Arbeitskräfte erbracht werden. Da der Tourismus als Dienstleistungsbereich besonders viele Arbeitskräfte bindet, lassen sich die derzeit niedrigen Reisepreise nur über sehr preiswerte Arbeitskräfte realisieren. Es existieren in der Branche zwar Empfehlungen, wie etwa die Initiative Roundtable Human Rights in Tourism, aber bisher keine entsprechend verbindlichen Vorgaben. Vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde nun der Entwurf für ein Nachhaltiges Wertschöpfungsgesetz (NaWKG) erarbeitet, das Regelungen menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten in globalen Wertschöpfungsketten vorsieht. Um deren Einhaltung zu gewährleisten, sind rechtsverbindliche Kontrollmaßnahmen festgeschrieben, die sicherstellen sollen, dass Menschenrechtsstandards in Verbindung mit umweltrelevanten Sorgfaltspflichten umgesetzt werden. Die im § 267 HGB festgelegten Kriterien zur Unternehmensgröße, welche für die Anwendung des Gesetzes ausschlaggebend sind, dürften mindestens die zehn größten deutschen Reiseveranstalter erfüllen, die zusammen etwa zwei Drittel aller pauschalisierten Reisen erstellen. Die ethische Verantwortung des Tourismus 45 Für eine Mehrheit der Bundesbürger dürften Reisepreiserhöhungen gut verkraftbar sein, wenn es den Anteil des frei verfügbaren Einkommens nicht übermäßig belastet. Der wesentlich größere Hinderungsgrund bei den Bürgern dürfte deren Einsicht in Hinblick auf notwendige Verhaltensänderungen und der Verzicht auf einen steigenden Tourismuskonsum sein. Einstellungen verändern sich nicht über Nacht, sondern vollziehen sich als Prozess. Die Frage, die sich daraus ergibt: Haben wir noch die Zeit, um selbstbestimmte Verhaltensänderungen zu bewirken? Nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht. Aber unbedachte rigorose Verbote und übermäßig harte Einschnitte bewirken Gegenreaktionen, die den Einstellungsänderungsprozessen entgegenstehen. Gefragt sind intelligente Gesetze, die Handlungsoptionen vorsehen und wünschenswerte Verhaltensanreize setzen. Gesetze und andere Maßnahmen von Einzelstaaten sind überaus wichtig, weil hierdurch Maßstäbe gesetzt werden und entsprechende Signale an andere Staaten ausgehen. Die gegenwärtigen Herausforderungen sind jedoch weder voneinander losgelöst noch durch einzelne Staaten zu bewältigen. Tourismusbezogene Maßnahmen zur Ressourcenschonung, Klima- und Umweltschutz oder zur Einhaltung arbeits- und menschenrechtlicher Standards werden nur global funktionieren, denn fast jedes Land der Welt ist vom Tourismus und deren Auswirkungen betroffen. Folglich werden nur gemeinsame Anstrengungen Aussicht auf Erfolg haben. 4 Ästhetik im Tourismus as Wort Ästhetik ist dem griechischen Begriff Aisthetike episteme entlehnt und bedeutet: Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis. „Ästhetik ist die philosophische Disziplin, die sich mit den auf reflektierter Sinneswahrnehmung und Gefühl beruhenden Erfahrungen, insbesondere mit den intensiven Eindrücken von Natur und Kunst wie dem Schönen und Erhabenen befaßt“. 30 Fragestellungen zur sinnlichen Wahrnehmung dürften seit Menschheitsbeginn eine Rolle gespielt haben. Die ersten bedeutenden philosophischen Aufzeichnungen hierzu stammen von Platon (428-348 v.u.Z.). In seinem Hauptwerkt „Der Staat“ unterscheidet er verschiedene Arten des Schönen. Im Sechsten Buch heißt es beispielsweise: „Wir behaupten, daß es eine Vielheit von schönen Dingen und von guten Dingen und so von jeder Art von Dingen gibt, wie wir sie denn auch in der Rede unterscheiden.“ Obwohl sich nach Platon viele namhafte Philosophen mit ästhetischen Fragestellungen auseinandersetzten, wird die Ästhetik erst im 18. Jahrhundert zum offiziellen Teilgebiet der Philosophie erhoben. Seubert bezeichnet daher die Ästhetik als „ein Kind der Neuzeit“. 31 Auslöser hierfür waren die ab 1742 gehaltenen Ästhetik-Vorlesungen von Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) in Frankfurt/ Oder, wo er für die Ästhetik eine eigenständige Wissensdisziplin einforderte. Mit seiner 1758 erschienenen „Aesthetica“ war der Grundstein für die philosophische Disziplin Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis des Vollkom- 30 Hans-Jörg Sandkühler (Hrsg.). Enzyklopädie Philosophie O-Z, Felix Meiner Verlag Hamburg 1999, S. 1031 31 Hans-Jörg Sandkühler (Hrsg.). Enzyklopädie Philosophie O-Z, Felix Meiner Verlag Hamburg 1999, S. 1031 D 48 Tourismus neu denken menen gelegt. 32 Wie diese zu begründen sei und wie sinnliche Erkenntnisse zu bewerten und einzuordnen sind, löste damals einen Streit aus, der bis heute in Form philosophischer Diskurse anhält. . Bei der Entstehung der Ästhetik als Teilgebiet der Philosophie ging es um die wissenschaftlichlogische Betrachtung der verschiedenen Arten von sinnlichen Erkenntnissen und wie Sinnlichkeiten als ästhetische Kategorien erfasst werden können. Die Notwendigkeit hierfür ergibt sich aus dem Umstand, aus der unendlichen Fülle an ästhetischen Begrifflichkeiten eine Vermittlung von Einheit und Mannigfaltigkeit durch die Beschränkung auf Grundkategorien herbeiführen zu können. „Das Problem, um das es bei den ä.K. geht, besteht darin, ob bestimmte Ausdrücke, die in ästhetischen (Geschmacks-)Urteilen verwendet werden wie schön, erhaben, interessant langweilig, romantisch, malerisch, kitschig usw. etwas Gemeinsames voraussetzen, durch das sich von sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten (wie rot, laut, sauer, warm usw.), von sittlichen (gut, böse), religiösen (heilig, profan) und anderen Klassen von Eigenschaften unterscheiden -, und wenn sie etwas Gemeinsames voraussetzen, worin es besteht und wodurch sich die ä.K. voneinander unterscheiden.“ 33 Nach Auffassung von Heckmann und Lotter liegt das Ziel bei der Bildung ästhetischer Kategorien darin, dass die gebildeten Kategorien ein gemeinsames Fundament erhalten, nicht weiter rückführbar sind und zugleich deutlich umrissene Erlebnisinhalte besitzen, welche zusätzlich darauf verweisen, dass es keine Einheitlichkeit der gebildeten Kategorien gibt. Es gibt bis heute keinen Konsens darüber, ob ästhetische Einzelkategorien oder Kategorienpaare gebildet werden sollen. So werden beispielsweise von Desoir fünf Kategorien und von Volkelt vier Kategorienpaare angeführt (das Schöne und 32 Wulff D. Rehfus (Hrsg.) Handwörterbuch der Philosophie, UTB Verlag Stuttgart 2003, S. 261 33 Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter. Lexikon der Ästhetik. Beck- Verlag München 1992, S. 114 f. Ästhetik im Tourismus 49 Charakteristische, Anmutige und Reizende, das Erhabene und Rührende, das Komische und Tragische) benannt. Eine weitere Schwierigkeit besteht in ihrer Selektion. „Diese Erlebnisinhalte sind wie eine Gestaltqualität ablösbar von der Situation, in der sie auftreten, und stellen sich als ähnliche Erlebnisgehalte in anderen Situationen wieder her. Sie lassen sich nicht allein auf psychologische Erlebnisbedingungen reduzieren, ebensowenig allein auf objektive (z.B. Form)Verhältnisse, sie beruhen vielmehr auf bestimmten Korrelationen von subjektiven und objektiven Faktoren“ 34 Neben der Fragestellung, wie sich die Arten unterschiedlicher Sinnlichkeiten in ästhetische Kategorien fassen lassen, befasst sich Ästhetik mit der erkenntnistheoretischen Frage nach dem Anteil der Sinnlichkeit an unseren Erfahrungen, also der ästhetischen Wahrnehmung sowie des ästhetischen Wertes, den Menschen in der schaffenden Kunst hervorbringen. Diese zwei Ausrichtungen ergänzen und verschränken sich in vielfältiger Weise, „[...] markieren sie doch zugleich die bis in die Gegenwart immer wieder ausgespielte systematische Alternative zwischen Ä(sthetik) als Theorie der ästhetischen Erfahrung und Ä(sthetik). Als Theorie der Kunst.“ 35 Besonders die Ausrichtung der Ästhetik im Sinne der Kunstbetrachtung hat im Tourismus eine Bedeutungssteigerung erfahren, ohne dass diese in besonderer Weise thematisiert wird. Der Bedeutungsinhalt und ihr praktischer Nutzen liegt dabei vordergründig auf der ästhetischen Gestaltung des touristischen Umfelds. Denn die Zufriedenheit der Gäste lässt sich heute nicht mehr allein durch hohe Servicestandards und diverse Zusatzangebote erreichen. Die Urlaubsatmosphäre und damit einhergehende Empfindungen sind heute zu einem zentralen Be- 34 Wolfhart Henckmann und Konrad Lotter. Lexikon der Ästhetik. Beck- Verlag München 1992, S. 114 f. 35 Hans-Jörg Sandkühler (Hrsg.). Enzyklopädie Philosophie O-Z, Felix Meiner Verlag Hamburg 1999, S. 1031 50 Tourismus neu denken deutungsaspekt der Gästebetreuung geworden. Ein harmonisches Umfeld trägt zur Entwicklung des Wohlbefindens bei und ist damit eine der zentralen Grundvoraussetzungen für die allseits angestrebte Kunden- und Gästezufriedenheit. Das zentrale Gestaltungselement jedes touristischen Umfeldes ist deren Außen- und Innenarchitektur. So fassen die auf Tourismusarchitektur spezialisierten Architekten Hammer und Pfau deren Bedeutung mit dem schlichten Satz zusammen: „Die schönsten Wochen des Jahres verdienen eine angemessene Behausung.“ 36 Die derzeitigen Gästeanforderungen an Urlaubsunterkünfte werden durch zwei zentrale Variablen bestimmt. Zum einem besteht der Wunsch nach mehr Individualität touristischer Angebote und zum anderen steigt beständig das Anspruchsniveau an die touristische Leistungserbringung. Beide Entwicklungen haben dazu geführt, dass in jüngerer Vergangenheit verstärkt Hotels im hochsternigen Bereich sowie auch Ferienappartments entstanden sind, welche die entsprechenden Wünsche der Gäste nach Komfort und Hochwertigkeit erfüllen. Um den gestiegenen Gästeanforderungen gerecht zu werden, haben sich ab Mitte der 1990er-Jahre die beiden Wissenschaftsdisziplinen Architektur und Tourismus angenähert. Diese hatten bis dahin kaum gemeinsame Berührungspunkte, aber nun hat „[...] man bemerkt […], dass das touristische Geschäft von guter Architektur profitieren kann.“ 37 Nach Haass wird die Tourismusarchitektur von zwei grundlegenden Notwendigkeiten geleitet. „Beim ersten Fall bildet die Architektur des Gebäudes unabhängig von den Funktionen eine touristische Attraktion, quasi als Overhead auf das Gebäude. Im zweiten Fall stehen die touristischen Funktionen im Vordergrund und geben eine eindeutige Formsprache vor. Als Beispiel kann ein gut gestalte- 36 Jan Hamer, Christiane Pfau. Urlaubsarchitektur. Verlag Georg D.W. Callwey GmbH, München 2013, S. 3 37 Heiner Haass. Grundwissen Tourismusarchitektur. UVK Verlagsgesellschaft. Konstanz, München 2017, S. 22 Ästhetik im Tourismus 51 tes Hotelgebäude genannt werden.“ 38 Kulturhistorisch betrachtet, setzt die Bedeutung der Architektur für den Tourismus jedoch weit früher ein. Exemplarisch hierfür sind die Kur- und Heilbäder anzuführen, die durch ihre mondänen Bauten mit angeschlossenen Parkanlagen eine unverwechselbare Architektur schufen. So sind die Seebäder, die nach englischem Vorbild auch hier in Deutschland entstanden, bis heute unter dem Begriff Bäderarchitektur prägend. Ausgangspunkt der Bäderarchitektur hierzulande war das 1793 gegründete Seebad Doberan-Heiligendamm, welches zugleich das älteste Seebad Deutschland ist. Als ehemaliges nobles Kurbad für den europäischen Adel und das gehobene Bürgertum besticht es noch heute durch seine imposanten Gebäude. 39 Das Seebad Doberan-Heiligendamm wie andere Ostseebäder in Mecklenburg-Vorpommern werden noch heute von repräsentativen Gebäudeensembles bestimmt, die neben ihrer Erhabenheit zugleich Schönheit und Anmut ausstrahlen. Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhundert entstanden dann zahlreiche Hotels in den Weltmetropolen, die sowohl aufgrund ihrer Architektur wie auch ihrer Ausstattung legendär wurden. Hierzu gehörten beispielsweise das Hotel Adlon in Berlin, das Waldorf Astoria in New York, das Savoy in London oder das Copacabana in Rio de Janeiro. Die sich zur gleichen Zeit rasch entwickelnde Liniendampfschifffahrt erkannte die Wirkung architektonischer Gestaltung und übernahm wesentliche Grundprinzipien für ihre luxuriösen Innengestaltungen. So wurde es wohlhabenden Gästen möglich, so angenehm wie möglich längere Schiffsreisen zu unternehmen. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges wurde die bisherige touristische Infrastruktur in weiten Teilen zerstört oder stark beschädigt. Nach einer zunächst langsamen Erholung setzte in den 1960er-Jahren, begünstigt 38 Heiner Haass. Grundwissen Tourismusarchitektur. UVK Verlagsgesellschaft Konstanz, München 2017, S. 23 39 Judith Groschang. Bäderarchitektur in Doberan-Heiligendamm. OpaionVerlag Kiel 1999, S. 15 52 Tourismus neu denken durch den wirtschaftlichen Aufschwung, ein Tourismusschub ein. Die schnelle touristische Entwicklung führte dazu, dass die traditionellen Beherbergungskapazitäten nicht mehr ausreichten. Ein massiver Neubau von Hotelanlagen, insbesondere im Mittelmeerraum, konnte zwar das entstandene Bettenproblem lösen, aber mit fortschreitender Zeit stieg die Unzufriedenheit der Urlauber über ihre Unterkünfte. Die aneinandergereihten Hotels wirkten wie einheitliche Bettenburgen und ließen wenig Raum für ein echtes Wohlbefinden. Gefragt waren nun völlig neue Tourismuskonzepte, die mehr Individualität, Freiraum und einen höheren qualitativen Standard zuließen. Die neuen touristischen Unterkünfte mussten dennoch struktur- und prozessbezogen ausgerichtet bleiben, um große Tourismusgruppen beherbergen zu können. Gleichzeitig mussten sie erkennbar positive Umfeldfaktoren bereithalten und deren Gäste durch ihre Architektur faszinieren. 40 Am Reißbrett entstanden große komplexe Hotel- und Ferienanlagen mit neuen Ferienwelten, die zum Teil für tausende Gäste ausgelegt sind. Hierzu gehörten beispielsweise die Megaferiendörfer Port Ghalib oder El Gouna in Ägypten oder die vor Dubai aufgeschütteten Inselwelten The Palm und The World. Letztere versuchen sich durch luxuriöse Hotelanlagen und ein überdurchschnittliches Serviceniveau abzuheben. Auch in Deutschland sind große Feriendörfer, wie beispielsweise das Land Fleesensee entstanden. Inmitten der Mecklenburgischen Seenlandschaft beherbergt das Hotel & Sportressort Fleesensee auf einer Gesamtfläche von 550 Hektar zahlreiche unterschiedliche touristische Hotel-, Sport- und Freizeiteinrichtungen. Die TUI-Anlage gehört damit zu den größten touristischen Ferienanlagen in Mitteleuropa. Die Grundidee aller heutigen großen Ferienclubanlagen geht auf den Belgier Gerald Blitz (1912-1990) zurück, der 1950 40 Vgl. H.-P. Herrmann/ P. Wetzel. Fernweh und Reiselust, Springer Verlag Berlin 2018, S. 164 Ästhetik im Tourismus 53 auf Mallorca ein Zeltdorf am Strand von Alcudia errichtete und damit als Erfinder des Cluburlaubs gilt. Die von Blitz entwickelte Philosophie von Landschaft, stimmigem Ambiente, touristischen Angeboten, Geselligkeit und sozialem Miteinander hat sich im Kern erhalten und findet noch heute Eingang in der Gestaltung moderner Ferienclubanlagen. Was heutige Hotel- und Clubanlagen gegenüber früheren Anlagen auszeichnet, ist eine bewusste zielgruppenorientierte Ausrichtung in jeglicher Hinsicht. Dieses zeigt sich auch in einer bereits ansprechenden zielgruppenorientierten Tourismusarchitektur. Besondere Schwerpunkte sind dabei individuelle Konzepte für die einzelnen touristischen Objekte mit entsprechend designten Zimmerausstattungen. Die großen Reiseveranstalter (TUI, DER-Touristik, FTI, Alltours) haben hierfür bewusst eigene Hotel- und Clubmarken kreiert oder hieran angepasst. Ziel ist es, nicht nur Zielgruppen damit besser anzusprechen und zu binden, sondern mit der Schaffung eines zielgruppenaffinen Umfeldes das Wohlbefinden zu steigern. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass das Erlebnisumfeld einen wesentlichen Beitrag für das Entstehen einer positiven Urlaubsstimmung leistet. Gelingt es, positive Stimmungen aufzubauen, so verursachen die erlebten Stimmungen einen Rückkoppelungseffekt auf das Wohlbefinden der Gäste. Touristische Einrichtungen werden in ihrer Gesamtheit wahrgenommen, woraus sich ein Gesamteindruck im Sinne einer ästhetischen Bewertung wie schön, erhaben, hässlich usw. entwickelt. Der Gesamteindruck ist in aller Regel prägender als Einzelsachverhalte. Bereits im 19. Jahrhundert erkannte der Philosoph Christian von Ehrenfels (1859- 1932), dass die Summe der Einzelteile mehr ist als es die Einzelteile additiv darstellen. Seine Erkenntnis fand später Eingang in die Gestaltpsychologie, welche von den Psychologen Max Wertheinmer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka u.a. in den 1920er-Jahren begründet wurde. Die Gestaltpsychologie geht davon aus, dass nicht Einzelelemente zuerst 54 Tourismus neu denken wahrgenommen werden, sondern stets ganze Gestalten oder Objekte. Damit widersprachen sie der bisherigen strukturalistischen Auffassung, wonach sich das Ganze aus einzelnen elementaren Empfindungen zusammensetzt. Sie setzten ihre Auffassung dagegen, wonach das Ganze stets mehr als die Summe seiner Teile darstellt und dazu führt, dass zuerst das Ganze statt seiner Einzelteile gesehen wird. Mit den sogenannten Gestaltgesetzen konnten sie Beispiele beschreiben und aufzeigen, dass Gestalten als Einheit oder Gruppierung wahrgenommen werden. Die Erkenntnis der Übersummativität gewinnt bei touristischen Architekturgestaltungen an Bedeutung. Immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch, dass eine Gesamtumfeldbetrachtung, die weit über die touristischen Einzelgebäude und Anlagen hinausgehen, notwendig ist. Besonders relevant ist dabei der Ersteindruck, den Gäste vom jeweiligen Ort gewinnen, da dieser besonders gewichtet wird. Heruntergekommene Bahnhöfe, schlechte Zufahrtswege oder unzureichende Orientierungsmöglichkeiten aufgrund schlechter oder fehlender Ausschilderungen dämpfen nicht nur aufgebaute Erwartungen, sondern sind gedächtnisprägend. Die Wirkung des Ersteindrucks ist in der Psychologie hinreichend belegt. Bei Neu- und Umgestaltungen gewinnt daher die interdisziplinäre Destinationsplanung an Gewicht. „Gute Architektur im Tourismus sind nicht nur gut gestaltete Bauwerke oder andere einzelne Objekte, vielmehr beginnt Tourismusarchitektur mit der Orts- oder Stadtplanung, besser noch mit der touristischen Entwicklung einer Region.“ 41 In touristisch relevanten Destinationen ist nicht nur die Sensibilität für den Erhalt historischer Gebäude gestiegen, sondern großer Wert wird zunehmend auf eine harmonische Wirkung des gesamten Stadtbildes als Einheit gelegt. Diesen Erkenntnissen folgend werden bei neu entstehenden Ferienanlagen, 41 Heiner Haass. Grundwissen Tourismusarchitektur. UVK Verlagsgesellschaft Konstanz, München 2017, S. 70 Ästhetik im Tourismus 55 dort wo es möglich ist, bestehende Strukturen integriert. So wurde das riesige Ferienresort Land Fleesensee um die Gemeinde Gören-Lebin herumgebaut und einzelne Gebäude, wie das 1842 errichtete Barockschloss, in die touristische Infrastruktur (heutige Nutzung als Luxushotel mit 178 Zimmern und Suiten) integriert. Die TUI hat zudem vor vielen Jahren das in der Toskana liegende Dorf Castelfalfi, welches entwohnt war, mit seinem Umland aufgekauft, um es als Feriendorf zu nutzen. Dabei wird das Dorf mit all seinen originalen Gebäuden belassen, um so den authentisch architektonischen Charakter eines toskanischen Dorfes zu wahren. Solche Projekte werden Einzelfälle bleiben, da die Anzahl an kulturhistorischen Gebäuden, die für größere touristische Gästezahlen nutzbar gemacht werden können, begrenzt ist. Um Aufmerksamkeit zu erzeugen, sind in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe touristischer Neubauten entstanden, die sich entweder durch eine atemberaubende Architektur, ein außergewöhnliches Design oder durch Superlative auszeichnen. Ganz nach dem Motto: Je größer, höher und spektakulärer, desto mehr Aufmerksamkeit und Hinwendung gibt es. Die Phase der spektakulären Hotelneubauten begann 1999 mit der Eröffnung des Nobelhotels Burj al Arab in Dubai. Mit seiner markanten 321 Meter hohen Segelform und einem Sieben-Sterne-Service wurden neue Maßstäbe gesetzt. Fortan entstanden weltweit touristische Bauten, die an die Grenzen des Machbaren reichten. Hierzu gehört der Einbau eines Hotels im Burj Khalifa - das mit 828 Meter derzeit höchste Gebäude der Welt. Um die Zimmer wie auch die Aussichtsplattform in einer angemessenen Zeit zu erreichen, wurden Highspeed-Aufzüge installiert. In Abu Dhabi entstand das Emirates Palace, welches mit 114 echtvergoldeten Kuppeln verziert ist und einem wahrhaften Märchenpalast aus Tausendundeiner Nacht gleicht. In Singapur wurde das futuristisch anmutende Marina Bay Sands- Hotel gebaut. Auf den drei Hoteltürmen wurde in rund 200 56 Tourismus neu denken m Höhe der Skypark errichtet, der länger als der Eiffelturm hoch ist. Hier befindet sich ein 150 Meter langer Infinity Pool mit Blick auf die Skyline, Restaurants und Gärten mit hunderten verschiede Baum- und Pflanzenarten. Einer der jüngsten unten den zahlreichen spektakulären Hotelbauten ist der 137 Meter hohe Anbau des Seminole Hard Rock Hotel & Casiono Hollywood in Fort Lauderdale, der in Form einer übergroßen Gitarre gestaltet wurde. Der 1,5 Milliarden US-Doller teure Neubau verfügt auf 34 Etagen über 638 Zimmern und Suiten. Neben dem obligatorischen Spielkasino, Spa-Einrichtungen sowie dem Kongresszentrum ist auch eine Konzertarena integriert. Hinzu kommen Überwasser- Bungalows mit künstlicher Lagune und Sandstrand. Da architektonische Bauten immer den jeweiligen Zeitgeist widerspiegeln, gehört das Hard Rock Hotel möglicherweise zu einer der letzten Beispiele der superspektakulären Hotelarchitekturphase. Denn das derzeitige gesellschaftliche Bewusstsein wird zunehmend durch Nachhaltigkeitsvorstellungen beeinflusst und daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir am Beginn einer neuen Architekturepoche stehen. Die neue Tourismusarchitektur dürfte vermutlich stark von Überlegungen einer ökologischen Bauweise und Energieeffizienz geprägt sein. Ein gegenwärtig anhaltender Trend in der modernen Tourismusarchitektur ist der Einsatz von zielgerichteten Lichtinstallationen. Durch farbliche Variationen und wechselnde Effekte lassen sich emotionale Wirkungen verstärken. Um Touristen anzuziehen, veranstalten viele Städte, insbesondere in nachfrageschwachen Zeiten, farbenfrohe Illuminationsfeste. Der erste Ort, der die Faszination des Lichtes auf Gäste erkannte, war 1879 der englische Badeort Blackpool. Heute wird das Seebad entlang der 10 km langen Seepromenade zum jährlichen Illuminationsfest mit mehr als einer Million Glühlampen, Girlanden und Lichtskulpturen beleuchtet. Auch andere Städte nutzen das Licht zur farbenfrohen Illumination. So gestaltet Berlin seit vielen Ästhetik im Tourismus 57 Jahren das „Festival of Lights“, Lyon das „Fête des Lumières“, Madeira die „Maideira Christmas Lights“. In Thailand wird jedes Jahr das Lichterfest „Loi Krathong“ begangen und in Syndey das „Vinid Sydney“, ebenfalls ein Farbspektakel mit spektakulären Lichtskulpturen. Das bekannteste Lichterfest in Deutschland ist das jährlich stattfindende Festival „Rhein in Flammen“. Es findet traditionell am ersten Sonntag im Mai zwischen Bonn und Linz entlang des Rheins statt und wird durch eine Schiffsparade und zahlreichen Höhenfeuerwerken begleitet. Ob sich die spektakulären Lichtinstallationen und Feuerwerke im Zuge klimapolitischer Diskussionen aufrechterhalten lassen, erscheint fraglich. Erste Reiseveranstalter beginnen damit, die ästhetische Gestaltung nicht mehr nur auf den unmittelbaren Aufenthaltsort zu beschränken, sondern im Sinne eines Corporate Design entlang der gesamten touristischen Kette zu verbreitern. Durch eine zusammenhängende ästhetische Gestaltung lässt sich eine größere positive Gesamtwirkung erzielen. So haben mehrere große Reiseveranstalter in jüngerer Vergangenheit ihr Logo verändert bzw. dem gegenwärtigen Zeitgeist angepasst. Angebotsdarstellungen in den Reisekatalogen werden nun zielgruppengerechter ausgerichtet oder emotionalisierter dargestellt. So hatte beispielsweise der auf Fern- und Erlebnisreisen spezialisierte Reiseveranstalter Chamäleon in seinem Reisekatalog 2017 eine hochwertige DVD beigelegt, die „Gänsehaut“ erzeugen soll. In Bezug auf die Reiseberatung wurden die Reisebüros grundlegend konzeptionell überarbeitet, indem die Abkehr vom typischen Bürostil hin zu einer behaglichen Wohnzimmeratmosphäre erfolgte. Kunden sollen sich nun bei der Reiseberatung nicht mehr an den Arbeitsalltag erinnert fühlen, sondern sich wohlfühlen. Auch neue Betreuungs- und Ansprechformen wie mobile Reisemittler ermöglichen, Reiseberatungen im gewohnten Umfeld stattfinden zu lassen. Ästhetische Brüche in der touristischen Gesamtkette sind überall 58 Tourismus neu denken dort möglich, wo keine vollständige vertikale Integration aller Reiseleistungen durch ein Unternehmen stattfindet. Nach der Insolvenz von Thomas Cook gibt es mit der TUI nur noch einen vollständig integrierten Reiseveranstalter in Deutschland, der in der Lage wäre, den gesamten Reiseprozess aus einer Hand zu designen. 5 Von der Philosophie zur Tourismuspsychologie er Psychologe Hermann Ebbinghaus (1850-1909), Pionier der kognitiv-psychologischen Forschung und Begründer der experimentellen Gedächtnisforschung fasste die Entwicklung der Psychologie in seinem Abriss zur Psychologie mit dem genialen Satz zusammen: „Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte.“ 42 Mit der langen Vergangenheit meint Ebbinghaus das Ringen um die Erfassung und das Verstehen der geistigen Seite des Menschen. Die Beschäftigung mit der Psyche beginnt in der Antike, also vor rund 2500 Jahren. Bis zur wissenschaftlichen Eigenständigkeit waren psychische Sachverhalte stets Teil der Philosophie. Um 335 v.u.Z. veröffentlichte der große Philosoph Aristoteles eine erste größere Abhandlung zu diesem Themenbereich, welche den Titel „Über die Seele“ trägt. Bereits zuvor wurden durch andere Philosophen Fragestellungen zur Dualität von Körper und Geist sowie zu den Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis erörtert. Besonders die Fragestellung, wie menschliche Erkenntnis möglich sei, hat in der Folgezeit fast alle namhaften Philosophen beschäftigt. Ihre Antworten hierauf stützen sich dabei auf unterschiedliche Annahmen, welche zu zwei entgegengesetzten philosophischen Grundauffassungen, dem Rationalismus und dem Empirismus geführt haben. Einen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung markierten die gegensätzlichen Standpunkte der Philosophen René Descartes (1596-1650) und John Locke (1632-1704). Während Descartes als Vorreiter des neuzeitlichen Rationalismus in die Geschichte eingegangen ist, 42 Hermann Ebbinghaus. Abriss der Psychologie. Reprintausgabe. Hrsg. von Esther von Krosigk (Hrsg.) im VDM Verlag Dr. Müller 2007, S. 1 D 60 Tourismus neu denken gilt Locke als wichtiger Wegbereiter des Empirismus. Bei beiden Auffassungen geht es um die Grundsatzfrage, ob geistige Eigenschaften wie Wissen, Denken und Intension im Geist selbst angelegt sind, oder ob diese über die menschliche Sinneswahrnehmung entstehen. Descartes fasste seine Erkenntnisse in seinem berühmten Satz „Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) zusammen. Damit wurden der Geist und die Vernunft für die Gewinnung von Erkenntnissen gegenüber der sinnlichen Erkenntnis betont. Locke vertrat hingegen die entgegengesetzte Position, indem er einen empirisch-sensualistischen Standpunkt entwickelte, wo die sinnliche Erfahrung zur entscheidenden Quelle jeder Erkenntnis erhoben wird. Nach dieser Auffassung ist der menschliche Verstand bei der Geburt leer, was mit dem Begriff Tabula rasa umschrieben wird. Angeborene Ideen gibt es folglich nicht, und Bewusstsein bildet sich demnach durch die sinnliche Wahrnehmung äußerer Gegebenheiten (sensation) oder durch die Selbstwahrnehmung (reflexion) heraus. Besonders über die Sinneswahrnehmung und Erfahrung, welche unter anderem zuvor auch von Frances Bacon und später von David Hume angenommen wird, erscheint es möglich, den richtigen Gebrauch der Vernunft und die richtigen Schlüsse aus sinnlichen Erfahrungen zu ziehen. In diesem Zusammenhang stammt von Francis Bacon (1561-1626) die berühmte Formulierung „Nam et ipsa scientia potestatas est“ (Denn auch die Wissenschaft selbst ist Macht), welche heute verkürzt unter dem geflügelten Satz „Wissen ist Macht“ bekannt ist. David Hume (1711-1776) erweiterte die empiristisch-sensualistische Auffassung zur menschlichen Erkenntnis, indem er hierbei Triebe, Gefühle und Erwartungen mit einbezog, weshalb er als Begründer der psychologischen Ethik gesehen wird. Die Beschäftigung mit Sinneserfahrungen hat nicht nur die allgemeine Wissenschaftsentwicklung nachhaltig beeinflusst, sondern war für die spätere Etablierung der Psychologie als eigenständige Wissensdisziplin von zentraler Bedeutung. Von der Philosophie zur Tourismuspsychologie 61 Mit Überwindung des Mittelalters kam es in der Epoche der Renaissance nicht nur zu einer „Wiedergeburt“ im Sinne antiker Werte und des Wissens, sondern auch zu einer starken Entfaltung von Wissenschaft und Kunst. Hierdurch erfolgte zugleich eine beständige Wissensanhäufung innerhalb der Philosophie, welche zum Umstand führte, dass sich neue Fragestellungen in Bezug auf die menschliche Psyche stellten, deren Antworten wiederum zu erweiterten spezifischen Wissenserkenntnissen führten. Erste fundierte wissenschaftlich-psychologische Untersuchungen fanden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert statt, wo grundlegende Erkenntnisse zur sensorischen Reizwahrnehmung und deren Verarbeitung gewonnen wurden. Im Jahr 1834 beschrieb der Anatom und Physiologe Ernst Heinrich Weber (1795-1878) nach umfangreichen Experimenten zum Tastsinn die Gesetzmäßigkeit, dass die Intensität eines Reizes um ein festes Verhältnis erhöht werden muss, damit ein merklicher Zuwachs an Empfindungsstärke ausgelöst wird. 43 Theodor Fechner (1801-1887) konkretisierte in seinem 1850 veröffentlichen Werk „Psychophysik“ die Erkenntnisse von Weber. In ihren Untersuchungen konnten beide nachweisen, dass eine gesetzmäßige Relation zwischen Reiz- und Empfindungsstärke besteht und es gelang ihnen, entsprechende Wahrnehmungs- und Unterschiedsschwellen zu beschreiben. Die damals gefundenen Gesetzmäßigkeiten sind heute als das Weber-Fechner-Gesetz bekannt. Alle Erkenntnisse zur Reizwahrnehmung wurden später unter der Bezeichnung Psychophysik subsummiert. Mit der Psychophysik gelang es erstmals Messungen durchzuführen, die sich an naturwissenschaftlichen Methoden orientierten. Etwa zeitgleich begannen erste systematische Forschungen zu spezifischen Gehirnaktivitäten, die im Zusammenhang mit dem Denken und der Sprache standen. 43 Vgl. Kurt Pawlik (Hrsg.) Handbuch Psychologie. Springer Verlag Berlin und Heidelberg 2006, S. 10 62 Tourismus neu denken Der Franzose Marc Dax (1770-1837) gelangte 1836 zur Ansicht, dass die Sprache eine linkshemisphärische Lokalisation besitzt. 44 Im Jahr 1878 beschrieb der französische Mediziner Paul Broca (1824-1880) im linken Frontallappen das nach ihm benannte „Broca-Zentrum“, welches für die Sprachproduktion verantwortlich ist. Diese Erkenntnis wird 1874 durch den deutschen Arzt Carl Wernicke (1848-1905) ergänzt, der das sensorische Sprachzentrum identifizieren konnte. Zudem konnten die Deutschen Forscher Gustav Fritsch (1838-1927) und Eduard Hitzig (1838-1907) im frontalen Cortex (der Hirnrinde) die Bereiche lokalisieren, welche für die Ausübung motorischer Funktionen verantwortlich sind. Die beständige Anhäufung von spezifischem Wissen sowie das stärkere Bestreben nach wissenschaftlicher Methodik führten zu einer schrittweisen Loslösung von der Philosophie. In diesem Umfeld gründete der Physiologe und Philosoph Wilhelm Wundt (1832-1920) im Jahr 1879 an der Leipziger Universität ein psychologisches Institut, dessen Errichtung als Geburtsstunde der Psychologie gilt. Diese Institutsgründung markiert den schrittweisen Einzug der Psychologie als Lehrgebiet in die Universitäten und unterstreicht zugleich deren Unabhängigkeit im Sinne einer eigenständigen Wissenschaft. Wie schnell sich die Psychologie als Wissenschaft etablierten konnte, zeigt sich am Umstand, dass bereits wenige Jahre nach Wundts Institutsgründung ein erster internationaler Psychologiekongress in Paris stattfand. Mit der Institutsgründung durch Wilhelm Wundt endete die von Ebbinghaus beschriebene lange Tradition und markiert den Beginn der Geschichte als eigenständige Wissenschaft. Spada schreibt rückblickend zu deren Voraussetzungen: „Wahrnehmungspsychologie war dasjenige Forschungsfeld, 44 Vgl. Rainer M. Bösel. Das Gehirn. Kohlhammer-Verlag Stuttgart 2006, S. 16 Von der Philosophie zur Tourismuspsychologie 63 auf dem um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts die ersten Schritte zur Etablierung einer eigenständigen wissenschaftlichen Psychologie erfolgte. Eine entscheidende Voraussetzung für diesen Prozess war die Entwicklung eigenständiger experimenteller Methoden. Die Bedeutung dieser Methoden bestand vor allem darin, dass sie es gestatteten, eine experimentelle Wahrnehmungslehre zu begründen, die neben (und unabhängig von) den metaphysischen und erkenntnistheoretischen Prinzipienfragen der philosophischen Wahrnehmungslehre Bestand hatte.“ 45 Die Psychophysik fungierte letztendlich als Schlüssel, um ein eigenes wissenschaftsfundiertes Gebiet, die heutige Psychologie zu etablieren. Ausgehend von den Erfahrungen der Psychophysik war die Psychologie in ihren Anfängen stark vom Streben geprägt, diese auf streng naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten aufzubauen. So ging es beispielsweise Wilhelm Wundt in seinen Forschungen weniger darum, nach Unterschieden zwischen den Personen zu suchen, sondern vielmehr darum, allgemeingültige Gesetze aufzuspüren. Dieses ursprüngliche Bestreben musste infolge der Etablierung von immer neuen und völlig unterschiedlichen psychologischen Erklärungsansätzen innerhalb der Psychologie, auch Paradigmen genannt, relativ schnell wieder verworfen werden. Unmittelbar nach der Leipziger Institutsgründung entstanden an vielen weiteren Universitäten Psychologische Fakultäten. Das bisher angehäufte Wissen ermöglichte, dass sich schnell unterschiedliche Fachgebiete innerhalb der Psychologie herausbilden konnten. Viele der damals etablierten Lehrgebiete bilden noch heute das Grundgerüst des universitären Psychologischen Studiums. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkten sich Forderungen, die stark theorieorientierte Lehre auf 45 Hans Spada (Hrsg.) Allgemeine Psychologie. Verlag Hans Huber Bern et al. 1992, S. 27 64 Tourismus neu denken praxisorientierte Anwendungsfelder auszuweiten und sich einer breiteren anwendungsorientierten Forschung zuzuwenden. In deren Folge entstanden die Wirtschaftspsychologie sowie die Arbeits- und Organisationspsychologie, welche sich ebenfalls als grundlegende Lehrgebiete etabliert haben. Hinzu kommen viele weitere spezifische Anwendungsbereiche wie beispielsweise die Sportpsychologie, Forensische Psychologie, Verkehrspsychologie, Kunstpsychologie, Militärpsychologie, Gesundheitspsychologie usw., die in der Regel als Spezialisierungsrichtungen angeboten werden. Die Tourismuspsychologie versteht sich gleichfalls als praxisorientiertes Anwendungsgebiet der Psychologie. Wesentliche Grundlagen zur Tourismuspsychologie wurden in den 1980er-Jahren von Kagelmann, Eggert, Hahn und anderen Psychologen geschaffen. Zu den Grundlagen gehört das von Heinz Hahn und Hans-Jürgen Kagelmann herausgegebene Standardwerk „Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie“, welches eine umfangreiche Aufsatzsammlung grundlegender Einzelsachverhalte enthält. Die Tourismuspsychologie als Wissenschaftsdisziplin wendet sich allen tourismusrelevanten Sachverhalten zu, die Erlebens- oder Verhaltensänderungen betreffen. Es geht ihr darum, diese aus psychologischer Sicht zu beschreiben, zu begründen, entsprechende Wirkungszusammenhänge zum Subjekt herzustellen und zu erklären sowie Handlungsempfehlungen für die Tourismusbranche zu geben. Beschäftigt sich die Tourismuswissenschaft vorrangig mit der Reiseerstellung und deren Umsetzung, so stehen bei der Tourismuspsychologie besonders Vorgänge im Mittelpunkt, welche das Verhalten und Erleben der Menschen betreffen. Die Tourismuspsychologie ist weniger auf das Objekt, sondern stärker auf das Subjekt, den Reisenden selbst ausgerichtet. Sie beschäftigt sich hierbei mit allen Verhaltens- und Erlebnisaspekten von Personen, welche im Zusammenhang mit Reise- und Urlaubsaktivitäten stehen. Entsprechende psychologisch relevante Aktivitäten erstrecken sich dabei ent- Von der Philosophie zur Tourismuspsychologie 65 lang der gesamten Reisekette und tangieren unzählige Einzelaspekte. Diese reichen von den typischen Sachverhalten, wie Reise- und Urlaubsängste (Flugangst, Angst vor Erkrankungen im Ausland usw.), dem Sozialverhalten von Reisenden über Kommunikationskonflikte bis hin zu traumatischen Belastungserfahrungen. Neben diesen allgemein bekannten Aspekten umfasst das Beschäftigungsfeld zudem eine Vielzahl von spezifischen Sachverhalten, die weniger bekannt sind. So beschäftigt sich Tourismuspsychologie etwa mit Fragen von Reiseentscheidungskonflikten, Präferenzen von Reiseveranstaltermarken, Wirkung von Reiseinformationen auf Kunden, Rollenverhalten in Urlaubssituationen, Entstehung von Urlaubsgefühlen, Empfinden von Urlaubsstress, Verarbeitung von Urlaubserlebnissen usw. 46 Unter diesem umfassenden Blickwinkel werden fast alle Reiseteilnehmer für die Tourismuspsychologie interessant und betreffen bei einer Reiseintensität von weit über 70 Prozent die große Mehrheit der Bevölkerung. Erstaunlich ist, dass trotz der überaus hohen Zahl diese tourismuspsychologischen Sachverhalte bisher nicht oder nur unzureichend wissenschaftlich untersucht wurden. Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte in der Sichtweise der Tourismuswirtschaft liegen, die stark auf das Produkt Reise und weniger auf den Reisenden ausgerichtet ist. Für die Tourismuswirtschaft wie auch Tourismuswissenschaft sind Produktgestaltung, effizientere Reiseerstellungsprozesse, Digitalisierung sowie geeignete Distributionsstrategien die zentral bestimmenden Themen. Das Subjekt, also der Reisende wird weitgehend nur als Produktabnehmer gesehen und spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die strategische Ausrichtung auf konkurrenzfähige Produkte und steigende Umsatzwie Teilnehmerzahlen erschweren offensichtlich den Umstand, sich stärker dem Subjekt zuzuwenden. Zudem 46 Vgl. H. P. Herrmann. Tourismuspsychologie. Springer-Verlag. Heidelberg 2016, S. 8 66 Tourismus neu denken fehlt in der akademischen Ausbildung eine entsprechende Wissensvermittlung, da Lehrangebote zur Tourismuspsychologie für Studenten an Hochschulen bisher nur temporär angeboten wurden. Nach der Abwicklung des Lehrbereiches Tourismus an der Universität Lüneburg und der Beendigung von Vorlesungen und Seminaren zur Tourismuspsychologie zugunsten betriebswirtschaftlicher Lehrangebote an der Hochschule Harz entsprechende Lehrveranstaltungen an deutschen Hochschulen derzeit nicht angeboten. Die Gründe, warum die Tourismuspsychologie sowohl in der akademischen Ausbildung wie auch im touristischen Forschungsbereich bisher kaum eine Rolle spielt, sind vielfältig. Diese reichen vom bisher fehlenden Handlungsdruck aufgrund bisheriger kontinuierlicher Zuwachsraten beim Umsatz über das Nichtvorhandensein spezifischer Einstiegs- und Anwendungsmöglichkeiten von Hochschulabsolventen mit entsprechenden Kenntnissen bis hin zum Umstand, dass vielen Unternehmensentscheidern tourismuspsychologische Aspekte nicht bekannt sind oder ihr Potenzial unterschätzen. Ferner gibt es von Seiten der touristischen Verbände keine Impulse, tourismuspsychologische Themenbereiche aufzugreifen und die Tourismuswissenschaft selbst hat an tourismuspsychologischen Forschungsgegenständen bisher nur ein geringes Interesse gezeigt. Dabei sind wesentliche Forschungsschwerpunkte bereits in den 1980er-Jahren eruiert und Überlegungen zur Rolle und Aufgabe der Tourismuspsychologie beschrieben worden. So definierte Kagelmann und Eggert in den 1980er-Jahren folgende Untersuchungsgegenstände der Tourismuspsychologie: 47 » Analyse der Entscheidungsprozesse, welche bei Reisevorhaben ablaufen, » Untersuchung von Urlaubsstereotypen (Was macht einen perfekten Urlaub für welche Stereotypen aus? ), 47 H.-Jürgen Kagelmann/ Gisela Eggert. Tourismus. In: Frey/ Hoyos/ Stahlberg (Hrsg.). Angewandte Psychologie. Psychologie-Verlags Union 1989, S. 508 Von der Philosophie zur Tourismuspsychologie 67 » Sozialverhalten von und gegenüber Reisenden, » Interaktion und Kommunikation von Touristen und Einheimischen, » Einstellungen von Reisenden und Bereisten, » Bedeutung von Persönlichkeitsfaktoren für das Reiseverhalten, » Rolle, welche Touristen einnehmen (Rollenverhalten), » Untersuchungen von Tourismusgruppen und der Leitungsrolle (Führung von Gruppen) Ausgehend von der vorherrschenden Ausrichtung auf das Produkt Reise, gaben bereits damals Kagelmann und Eggert selbst eine recht resignierende Einschätzung zur Umsetzung der von ihnen angeregten Untersuchungsgegenstände ab, indem sie einschätzten: „Die (sozial-)wissenschaftliche Untersuchung des weltweit bedeutenden sozialen und ökonomischen Faktors „Tourismus“ ist insgesamt - handele es sich um Psychologie, Soziologie, Pädagogik - verglichen mit anderen Bereichen (z.B. Arbeit, Organisation, Schule Krankheit/ Gesundheit usf.) als minimal zu bezeichnen.“ 48 Zu den damals nicht in Angriff genommenen Untersuchungssachverhalten sind kontinuierlich weitere tourismuspsychologische Fragestellungen hinzugekommen, so dass sich der mögliche Untersuchungsumfang bis heute nochmals beträchtlich erweitert hat. Hierzu gehören beispielsweise Fragestellungen, die das Feld der Werbewirkung von Reiseangeboten abbilden oder der Frage nachgehen, wie touristischen Aktivitäten hinsichtlich ihrer Verankerung im persönlichen, sozialen und situativen Kontext wirken. Besonders nach den massiven Buchungseinbrüchen und einer starken Reisezurückhaltung infolge unterschiedlicher Krisen treten verstärkt psychologisch orientierte Fragestellungen auf, welche sich mit Einstellungsänderungen, 48 H. Jürgen Kagelmann. Einleitung. In H. Jürgen Kagelmann (Hrsg.) Tourismusdwissenschaft. Quintessenz-Verlag München 1993, S. 1 68 Tourismus neu denken Reiseängsten oder der touristischen Werbewirkung beschäftigten. Auch die Anfang 2020 entstandene Corona-Krise, wird entsprechende Fragestellungen verstärken und neue tourismuspsychologische Fragen hervorbringen. Die Tourismuspsychologie ist eine noch sehr junge Teildisziplin, welche bisher auf relativ wenige eigenständige empirische Forschungsarbeiten zurückgreifen kann. In vielen Fällen ist sie auf die Übernahme von angrenzenden Untersuchungsergebnissen, theoretischen Ansätzen oder Herleitungen aus anderen Teilgebieten der Psychologie angewiesen. Übernahmen aus anderen psychologischen Teilgebieten sind aufgrund der Besonderheiten des touristischen Produktes jedoch nur begrenzt möglich. Weil es keine systematische Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Tourismuspsychologie gibt, werden touristische Potenziale nicht erkannt und gehoben. Durch gegenwärtige Veränderungen der touristischen Marktsituation scheint es zumindest einen Hoffnungsschimmer zu geben, dass tourismuspsychologische Aspekte an Bedeutung gewinnen. Erste sichtbare Zeichen sind beispielsweise die neuen Ausstattungskonzepte großer Reisebüroketten, eine teilweise stärkere Beachtung psychologischer Aspekte bei der Tourismuswerbung oder das Herantasten an tourismuspsychologische Fragestellungen innerhalb der touristischen Marktforschung. 6 Der Mensch im Mittelpunkt einer Reise mmanuel Kant (1724-1804) hat in seinen Logikvorlesungen die Bedeutung der Philosophie in vier Fragen zusammengefasst: [1] Was kann ich wissen? , [2] Was soll ich tun? , [3] Was darf ich hoffen? und [4] Was ist der Mensch? „Die wahre Bedeutung dieses Fragenkatalogs wird aber erst erkennbar, wenn K. hinzufügt, daß die letzte Frage alle anderen umfasst [...] so erscheint die Kritische Philosophie vor allem als eine umfassende Bestandsaufnahme der besten Kräfte des Menschen, und das sind die Kräfte der menschlichen Vernunft.“ 49 Kants Ziel war es, den Menschen als selbstdenkendes und selbsthandelndes Vernunftwesen zu begreifen. Damit bringt Kant die Bedeutung des Menschen und seiner Vernunft so prägnant auf den Punkt wie wenige Philosophen vor oder nach ihm. Suchten die Vorsokratiker wie Thales, Anaximander oder Phythagoras noch nach dem Ursprung aller Dinge, der nach ihren Auffassungen entweder im Stoff oder in der Zahl liegt, so treten mit den Sophisten um Heraklit und Protagoras die ersten antiken Philosophen auf den Plan, die das bisherige Objekt-Subjekt-Verhältnis umkehren und damit den Menschen in den Mittelpunkt ihrer philosophischen Überlegungen rücken. Während die Sophisten den Menschen überhöhen, was sich in der Forderung von Protagoras (481-411 v.u.Z) ausdrückt: „Der Mensch sei der Maßstab aller Dinge“, wendet sich Sokrates etwa zeitgleich der Frage zu, was das „richtige“ Handeln des Menschen sei. Nach seiner Auffassung ist eine Tätigkeit oder das Handeln des Einzelnen erst sinnvoll, wenn sie für die Gemeinschaft gut ist. Gegenstand seiner philosophischen Betrachtungen war das praktisch-moralische Verhalten der Menschen, was er zu ergründen suchte, indem er auf öffentli- 49 Volker Gerhart. Kant, Immanuel. In: Metzler Philosophenlexikon. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 1995, S. 444 I 70 Tourismus neu denken chen Plätzen die Bürger mit seinen bohrenden Fragen „in die Zange nahm“, um die bereits innewohnenden richtigen Erkenntnisse ans Licht zu holen. Eine Methode, die als Mäeutik (auch als Geburtshilfe oder Hebammenkunst) bezeichnet wird und Sokrates als Begründer zugeschrieben wird. Seine Verurteilung zum Tod durch den Schierlingsbecher wegen „Verführung der Jugend“ ändert jedoch nichts an der nun vollzogenen philosophischen Neuorientierung hin zum Subjekt. Bis auf das Mittelalter, in dem Gott als Schöpfer und Lenker angesehen wurde, steht der Mensch seither de facto als denkendes und handelndes Wesen im Zentrum philosophischer Betrachtungen. Mit der Renaissance und der damit verbundenen Überwindung des mittelalterlichen Weltbildes erfolgte nicht nur die Wiedergeburt antiker Wertevorstellungen, sondern zugleich die Etablierung eines neuen Menschenbildes. Das neue Selbstverständnis war darauf ausgerichtet, Naturgesetze nicht mehr nur zu verstehen, sondern diese jetzt zum Vorteil der Menschen zu nutzen. Das Entstehen von Universitäten und damit neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse stärkten dieses Selbstbewusstsein, was zu immer weiteren Erfindungen führte. Damit wird eine wesentliche Grundlage zur späteren industriellen Revolution gelegt, welche sich durch eine weitreichende Industrialisierung im 19. Jahrhundert bahnbricht. Mit der Industrialisierung entstanden neue Verkehrsinfrastrukturen sowie verbesserte Verkehrsmittel, um größere Menge an produzierter Ware zu transportieren. Die neuen Verkehrsinfrastrukturen und Verkehrsmittel, wie Züge und Dampfschiffe wurden bald auch touristisch genutzt. Waren die ersten pauschal organisierten Reiseangebote noch ganz auf die Bedürfnisse der Reisenden abgestellt, so veränderte sich mit den steigenden Tourismuszahlen das Subjekt- Objekt-Verhältnis. Die erste pauschalisierte Reise, die 1841 stattfand, wurde nicht des Reisens Willen durchgeführt, sondern sollte den Menschen dienlich sein. Thomas Cook (1808-1892) war ein papistischer Prediger und Verleger christlicher Schriften sowie Vorsitzender einer Abstinenzler-Vereinigung. Er wollte erreichen, dass die Leute für ein paar Stunden aus ihren verelenden Verhält- Der Mensch im Mittelpunkt einer Reise 71 nissen herauskommen und vom Alkohol ablassen. Mit dieser Reise, die ganz auf den Menschen abgestellt war, sah er die Möglichkeit den sozial Benachteiligten etwas zu bieten wie auch neue Mitglieder für seinen Verein zu gewinnen. Thomas Cook erkannte sehr schnell das kommerzielle Potenzial von pauschalisierten Reisen und gründete ein eigenes Reiseunternehmen, welches unter wechselnden Eigentümerverhältnissen bis zum Jahr 2019 als Thomas Cook Group fortbestand. Seit der ersten Pauschalreise hat es, abgesehen von Unterbrechungen durch die zwei Weltkriege, eine beständige Nachfragesteigerung gegeben, was zur schrittweisen Entwicklung des Massentourismus führte. Um die ständig wachsende Nachfrage zu bewältigen, standen nun optimierte Reiseerstellungsprozesse und effizientere Absatzformen im Mittelpunkt touristischer Überlegungen. Fortan wurden alle Prozesse primär vom Produkt Reise hergedacht, was dazu führte, dass dem Faktor Mensch weniger Gewicht beigemessen wurde. Der Mensch, für den ursprünglich die Pauschalreise erdacht wurde und anfangs ganz zentriert im Mittelpunkt stand, wird nun zunehmend aus den Augen verloren. Dieses Denken spiegelt das heutige Tourismusmanagement wider, indem zuerst die pauschalisierten Reisen oder touristischen Einzelleistungen erstellt und dann hierzu passende Nachfrager gesucht werden. Diese Strategie ist in ungesättigten Märkten durchaus sinnvoll, da hier die Nachfrage den Bedarf übersteigt. Seit spätestens Anfang der 1980er- Jahren hat sich am hiesigen Tourismusmarkt die Wandlung vom Verkäuferzum Käufermarkt vollzogen. Statt die Strategie hierauf konsequent anzupassen und eine Objekt-Subjekt-Umkehr zu vollziehen, liegt der Fokus weiterhin auf dem Produkt. Noch immer wird schwerpunktmäßig auf die Optimierung der Reiseerstellung und deren Distribution gesetzt und zu wenig hinterfragt, was sich Reisekunden wünschen. Dabei ist der Tourismusbranche diese Problematik seit Jahren bewusst, wie Äußerungen von führenden Tourismusmanagern zeigen. So gab Ralph Schiller, heute Managing Direktor der FTI Group, in einem Beitrag zur Jubiläumsausgabe der führenden touristischen Fachzeitschrift fvw im Jahr 72 Tourismus neu denken 2007 zu Protokoll: „Die Branche ist mit sich selbst beschäftigt und verliert das Wichtigste aus dem Auge: den Kunden. Wann haben wir unsere Kunden das letzte Mal wirklich begeistert? “ 50 Zu einer ähnlichen Position gelangte Karlheinz Kögel, welcher seinerseits erfolgreich den Last-Minute-Veranstalter l’tur aufbaute und noch heute einer der erfolgreichen Tourismus- und Medienmanager ist. Schon damals mahnte er, dass es um Menschen und nicht um Hardware geht, und warnte: „Der Spagat zwischen den Renditeansprüchen des Kapitals und dem Urlaub als emotionalem Produkt ist eine spannende Herausforderung. Wer die Sparschraube zu stark anzieht, könnte eine heftige Gegenbewegung auslösen. Wichtig ist, dass wir die Menschen im Auge behalten.“ 51 Eine echte Objekt-Subjekt-Umkehr würde bedeuten, die Reise von den Interessen und Bedürfnissen der Menschen her zu konzipieren. Dabei bleibt unstrittig, dass ein gewisser Technologiesierungsgrad im Massentourismus unabdingbar ist, um preislich günstige Reiseangebote erstellen zu können. Geht die Rationalisierung jedoch über den technischen Erstellungsprozess hinaus, wird die Reise entemotionalisiert und verliert an Attraktivität. Denn das Produkt Reise lebt von seinen unmittelbaren emotionalen Erlebnissen, die Menschen entlang der Prozessumsetzungskette erleben. Diese reichen von der sinnlichen Werbebegegnung über die persönliche Reiseberatung am Counter bis hin zu den unmittelbaren touristischen Leistungen am Urlaubsort. Der Mensch mit all seinen jeweiligen unterschiedlichen Bedürfnissen, Einstellungen, Interessen, Erwartungen usw. ist und bleibt Träger dieser Erlebnisse. Die individuellen Ausprägungen jeder Einzelpersönlichkeit lassen sich nicht durch Rationalisierungen vereinheitlichen, sondern wollen von den Reisenden gelebt und erfahren werden. Weil die angebotenen Reisen im Massenmarkt zunehmend austauschbarer gewor- 50 Autorenkollektiv. Standpunkte. In: fvw. Jubiläumsausgabe 40 Jahre FVW vom 1. Juni 2007, Verlag Dieter Niedecken GmbH Hamburg, S. 72 51 Karlheinz Kögel. Interview In: fvw. Jubiläumsausgabe 40 Jahre FVW vom 1. Juni 2007, Verlag Dieter Niedecken GmbH Hamburg, S. 27 Der Mensch im Mittelpunkt einer Reise 73 den sind, entsprechen sie immer weniger den Vorstellungen der Nachfrager. Eine sichtbare Folge ist, dass die Pauschalreise gegenüber den individual organisierten Reisen beständig Marktanteile verliert. Selbst die Einführung des Dynamic Packaging als Pauschalreise light, sofern diese überhaupt den Reisekunden bekannt ist, hat an diesem Trend wenig geändert. Da die Menschen in der Summe nicht weniger reisen, gehen die verlorenen Marktanteile vorrangig an Internetgiganten wie auch an spezialisierte Hotel-, Mietwagen oder Flugportale. Auch spezialisierte Reiseveranstalter, die zwar ihre technologischen Hintergrundprozesse optimiert haben, aber auch in die weitere unmittelbare qualitative Gästebetreuung investiert haben, konnten ihren Marktanteil verteidigen oder teilweise ausbauen. Ein wesentlicher Grund, weshalb besonders die branchenfremden Internetgiganten so erfolgreich am touristischen Markt agieren, ist deren Objekt-Subjekt- Verständnis. Für sie steht erstmal nicht das Produkt, sondern der Mensch mit seinen individuellen Persönlichkeitsdispositionen im Mittelpunkt des Interesses. Die dahinterstehende Erkenntnislogik ist, dass Produkte nur Mittel zum Zweck sind, um Bedürfnisse wie bspw. Erholung, Entspannung oder Erlebnisse zu befriedigen. Es kommt also zuerst auf die Kenntnis des Menschen an, um sein Entscheidungsverhalten einschätzen und beeinflussen zu können. Und Google & Co. kennen ‚ihre‘ Kunden mittlerweile sehr gut und spielen diesen Vorteil in personalisierten Kundenansprachen immer besser aus. Den Vorteil einer personalisierten Kundenansprache haben Reiseveranstalter wie auch der Reisevertrieb erkannt und in jüngerer Vergangenheit für diesen Zweck technologisch massiv aufgerüstet. Hierdurch verspricht man sich, den Kunden sowohl effektiver beraten wie ihn mit maßgeschneiderten Angeboten besser ansprechen zu können. Die Vorstellungswelt vieler Produkt- und Vertriebsmanager besteht nun gleichfalls darin, den Kunden geeignete personalisierte Urlaubsangebote möglichst per „Knopfdruck“ anzubieten. Was bei Google & Co. aufgrund vielfältiger Daten möglich ist, nämlich eine individuelle Persönlichkeitsstruktur mit spezifischen Merkmalsausprägungen 74 Tourismus neu denken zu erkennen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit bei Reiseveranstaltern und Reisemittlern nicht möglich sein. Hierfür spricht, dass in aller Regel die Menge an Persönlichkeitsdispositionsdaten, die von den eigenen Kunden abschöpfbar sind, zu gering ist, als dass sich auf dessen Grundlagen relativ gesicherte Aussagen zu geeigneten Urlaubspräferenzen ableiten lassen. Denn Kunden besuchen einmal, maximal dreimal im Jahr ein Reisebüro oder buchen ihre Reise direkt bei Reiseveranstaltern, so dass die verfügbare Datenmenge begrenzt bleibt. Um Aussagen über eine Persönlichkeit treffen zu können, sind nach allgemeiner Kenntnis mindestens 15 Persönlichkeitssachverhalte aus unterschiedlichen Lebensbereichen notwendig. Und ob Kunden bereit sind, über die Reisebuchungsdaten hinausgehende Auskünfte zu geben, ist fraglich. Zudem ist der Zeitraum zwischen zwei Reisebuchungen in der Regel so groß, dass viele wichtige zwischenzeitliche Einflussfaktoren nicht erfasst werden. Weiterhin besteht der Umstand, dass zwar die letzte Reisebuchung erfasst ist, aber die daraus gezogenen Urlaubserfahrungen in ihrer Gewichtung nicht einfließen. Besonders die zuletzt gesammelten Urlaubserfahrungen haben einen sehr erheblichen Einfluss auf unmittelbar nachfolgende Urlaubsplanungen. Während die großen Internetgiganten persönlichkeitsrelevante Daten aus unterschiedlichen Quellen fortlaufend abschöpfen, ist es bei den von Reisemittlern und/ oder Reiseveranstaltern erhobenen Daten anders. Die Kunden können in diesen Fällen meist leicht durchschauen, wer ihre reiserelevanten Daten abgegriffen und in personalisierte Angebote umgesetzt hat. Überall dort, wo eine hohe Vulnerabilität gegenüber abgegriffenen und verwendeten Persönlichkeitsdaten besteht, wird sich ein Gefühl von Misstrauen gegenüber dem Reiseveranstalter und/ oder den Reisemittlern aufbauen. Einen echten vertrauensvollen Kommunikationsdialog zwischen diesen Reisekunden und Reisemittlern wird es dann nicht mehr geben. Sollten zudem Reiseberatungsprozesse dahingehend rationalisiert werden, dass über Logarithmen ausgesuchte Angebote offeriert werden, so werden Reisemittler ihren eigenen Beratungsanspruch nicht mehr umset- Der Mensch im Mittelpunkt einer Reise 75 zen können. Sie werden dann zunehmend in die Rolle eines ausführenden Statisten gedrängt, der die im Voraus festgelegten Reiseangebote vermitteln soll, was mittelfristig zum Motivationsverlust führt. Wie weit bereits die Rationalisierungsgedanken im stationären Vertrieb gehen, hat sich zur Internationalen Tourismusbörse (ITB) 2017 angedeutet, als vom Reisekonzern TUI und dem CRS-Giganten Amadeus der weiterentwickelte Roboter Pepper für Reisebüros vorgestellt wurde. Dieser ist nach Betreiberangaben in der Lage, Kunden aktiv anzusprechen, mehrere Sprachen zu verstehen, Mimik und Gestik zu interpretieren und nach dem Kommunikationsaustausch Reiseempfehlungen zu geben. Ganz abgesehen von der Frage, ob Reisekunden eine technikbasierte Reiseberatung gut finden, liegt die unschlagbare Stärke des stationären Vertriebs im individuellen Beratungsprozess, der auf Empathie, Emotionalität, Eigenerfahrungen sowie in der Kreativität im Finden geeigneter Reiseangebote liegt. Denn menschliche Emotionen und Verhaltensweisen sind mehr als die angehäufte Summe von technikbasierten Informationen. Urlaub ist ein hochemotionales Produkt und hat viel mit Sinnlichkeit und Erleben zu tun. Psychologisch gesehen verändert nicht die Technik den Menschen, sondern die Emotionen und Gefühle, die wir hiermit verbinden. Technische Geräte oder technisierte Prozesse lösen kaum Emotionen aus, weshalb wir Technik im touristischen Bereich stets weniger akzeptieren werden als echt handelnde Personen. Die Gefahr der Endemotionalisierung und eines damit einhergehenden Attraktivitätsverlusts droht auch, wenn bei den zu erbringenden Reiseleistungen vor Ort weitere Rationalisierungsgedanken in den Vordergrund rücken. Ablauf- und Aufenthaltsoptimierungen sind bei solch emotionalisierten Produkten wie Reisen nur dann sinnvoll, wenn sie der Vermeidung von Reisemängeln dienen und nicht zu individuellen Erlebniseinschränkungen führen. Zur Sicherstellung der Servicequalität wurden in vielen touristischen Einrichtungen Zertifizierungssysteme wie die DIN ISO 9001 oder das Qualitätssystem SERVQUAL eingeführt. Das Vorhandensein eines Zertifizierungssystems garantiert nur ein vorher defi- 76 Tourismus neu denken niertes technisches Qualitätsniveau. Es ist weder ein Instrument noch eine Garantie dafür, dass die Gäste positive Emotionen und Stimmungen entwickeln und diese über die gesamte Aufenthaltszeit aufrechterhalten. Denn der Gast erwartet nicht nur die Erfüllung der vertraglich zugesicherten Reiseleistungen, sondern eine damit einhergehende persönliche Zuwendung, die durch echte Empathie, persönliche Achtung, soziale Gefühle, individuelles Kontaktverhalten, Authentizität usw. getragen wird. Diese Erwartungshaltung lässt sich nur durch personalisierte Handlungen umsetzen und kann nicht durch technische Maßnahmen kompensiert werden. Menschen sind soziale Wesen, welche die persönliche Betreuung und den sozialen Austausch benötigen, um tiefergehende emotionale Empfindungen zu aktivieren. Positive emotionale Empfindungen gehören nicht nur zu den wichtigsten Bestandteilen eines touristischen Wohlfühlerlebnisses, sondern üben eine hohe Gewichtung bei der Gesamtbeurteilung der Reiseleistung aus. Je stärker und umfangreicher Technologisierungsprozesse in die Reisedurchführung eingreifen, desto geringer ist das Emotionalisierungspotenzial. In zu stark standardisierten Betreuungsprozessen können dann die Gäste nicht mehr in ihrer spezifischen Individualität wahrgenommen werden. Es besteht letztendlich die Gefahr, dass der Gast als austauschbare Person oder gar als endpersonalisierte Nummer gesehen wird. Je stärker Gäste reflektieren, dass sie nicht im Mittelpunkt des touristischen Prozesses stehen, desto stärker schwächen sich emotionale Empfindungen ab und rationale Gedanken rücken in den Vordergrund. Statt sorglos in Richtung eines Flow-Erlebnisses zu steuern, entstehen Fragen, warum sie als Gast nicht in gewünschter Weise wahrgenommen werden. Wer touristische Produkte aufwerten und einen echten Mehrwert für die Gäste schaffen will, muss den Menschen in den Mittelpunkt seiner touristischen Prozesse stellen. Dieses setzt Verständnis dafür voraus, dass jeder Gast eine einmalige Persönlichkeit ist, welche die gebotenen Leistungssachverhalte individuell reflektiert und darauf unterschiedlich reagiert. Nicht das Produkt ist primär entscheidend, sondern ob man Der Mensch im Mittelpunkt einer Reise 77 der Individualität des Gastes gerecht wird. Will man den Reisenden als Subjekt verstehen, ist es notwendig, sich auf die psychologische und soziologische Ebene zu begeben und die Menschen wie ihre bewegenden Fragestellungen zu kennen. 7 Die Besonderheiten touristischer Produkte ür den Begriff Besonderheit gibt es keine einheitliche Definition, weshalb dessen Auslegung sehr unterschiedlich erfolgt. In der philosophischen Betrachtung wird die Besonderheit im Zusammenhang zum Allgemeinen gedacht. Beides sind ontologische Grundbegriffe, wonach das Allgemeine als Gegenteil des Einzelnen angesehen wird und das Besondere die Konkretisierung des Allgemeinen darstellt. Orientieren sich die philosophischen Begriffsinhalte des Allgemeinen und Besonderen stark am Kriterium ableitbarer Gesetzes- und Regelmäßigkeiten, so werden diese in der Alltagssprache weiter gefasst. Hier fließt die subjektive Sichtweise, etwa was das Besondere sei, stets mit ein. Aus der Sicht des Einzelnen werden unter Besonderheit gewöhnlich alle Sachverhalte verstanden, die sich aus der Masse abheben oder sich vom Alltäglichen unterscheiden. Denn würde jeder Tag ein Urlaubstag sein, so wäre es Alltag und nichts Besonderes. So stellen Urlaubsreisen für den Einzelnen etwas Besonderes dar, obwohl sie in der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung mit über 70 Prozent Reiseintensität einen allgemeingültigen Status besitzen. Im Tourismusmanagement versteht man unter Besonderheiten touristischer Produkte, oft auch als Besonderheit des Produktes Reise bezeichnet, dass hier spezifische Unterschiede zu gegenständlichen Alltagsprodukten bestehen. Wesentliche Besonderheiten sind: » Sie sind immateriell Pauschalreisen oder touristische Leistungen sind zum Entscheidungszeitpunkt nicht materiell fassbar. Sie existieren bei der Buchung nur als Vorstellung in den Köpfen der Reiseinteressenten. Beim Kauf von gegenständlichen Produkten wie beispielsweise Bekleidung, technische Geräte, Bücher usw. können diese direkt begutachtet, angefasst oder ausprobiert werden. Reisen bleiben bis zum Reiseantritt ein abstraktes F 80 Tourismus neu denken Gut. Die Immaterialität und der damit einhergehende Umstand, dass Reisekunden allein aufgrund ihrer Vorstellungen eine Reisewahlentscheidung treffen müssen, sind mit ein Grund dafür, warum entsprechende Entscheidungen schwerfallen. » Sie sind nicht lagerbar und unterliegen der Vergänglichkeit Reisen sind an konkrete Zeitbezüge gekoppelt. Der jeweilige Zeitbezug gibt an, von wann bis wann die Reiseleistung erbracht wird. Wird die angebotene Reiseleistung nicht genutzt, wie beispielsweise einige Plätze in einem Flugzeug, so geht diese Leistung unwiederbringlich verloren. Eng mit dem Aspekt der Vergänglichkeit ist der Aspekt der Nichtlagerbarkeit verknüpft. Gegenständliche Produkte sind hingegen nicht an ein vorbestimmtes Verfallsdatum gekoppelt und können daher beim Nichtkauf zurück ins Lager gestellt werden, um sie zu einem späteren Zeitpunkt erneut anzubieten oder um diese einer Zweitverwertung (z.B. Bücher ins Antiquariat überführen) zuzuführen. » Es besteht das umgekehrte Residenzprinzip Seit dem Wandel vom Verkäuferzum Käufermarkt werden die produzierten Waren so nah wie möglich an den Endverbraucher herangeführt. Überall wo größere Wohnansiedlungen bestehen, sind in deren Nähe Geschäfte und Einkaufszentren entstanden. Gleichfalls besteht die Möglichkeit, sich fast alle gegenständlichen Waren nach Hause liefern zu lassen. Will der Kunde hingegen eine Reise unternehmen und touristische Erlebnisinhalte verspüren, so muss er dorthin reisen, wo diese Leistungen angeboten werden. Denn das authentische karibische Flair kann man sich nicht ins Wohnzimmer holen. » Unmittelbare Integration des Reisenden Die Erbringung von Reiseleistungen ist nur im Verbund mit den Reisenden möglich. Verkehrsmittel wie Busse, Flugzeuge Die Besonderheiten touristischer Produkte 81 usw. ohne Passagiere auf die Reise zu schicken oder Hotels ohne Gäste zu betreiben, ergibt ökonomisch keinen Sinn. Bei der Erzeugung gegenständlicher Produkte wie etwa Schuhe wird der Kunde, der dieses Produkt später verwendet, hingegen nicht benötigt. » Das Uno-actu-Prinzip Uno-actu-Prinzip heißt übersetzt Ein-Akt-Prinzip und beschreibt, dass die Erbringung der Leistung (Produktion) und deren Nutzung (Konsumtion) in einem Akt zusammenfallen. Fliegt beispielsweise eine Person von Frankfurt nach Tokio, so produziert die Fluggesellschaft die Transportleistung, welche im gleichen Moment vom Passagier in Anspruch genommen, d. h. durch den Kunden konsumiert wird. Herkömmliche Produkte werden erst produziert und später konsumiert. » Bestehen eines touristischen Leistungsbündels Speziell bei Pauschalreisen kommt es zu einer Verknüpfung unterschiedlicher Einzelleistungen, die von unterschiedlichen Produzenten (Hotel, Airline, Incomingagentur etc.) erbracht werden. Das Produkt Reise entsteht daher in der Regel durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Produzenten, die in Wechselwirkung zueinander stehen. Ausnahmen bilden hier nur vollständig vertikal integrierte Reisekonzerne. Da sie über alle Produktionsstufen verfügen, sind sie in der Lage, komplette Pauschalreisen aus eigener Kraft zu erstellen. Gegenwärtig besitzt nur noch die TUI eine solche Struktur. Die Tourismuswissenschaft reflektiert bisher weitgehend nur die Produktbesonderheiten. Aber Urlaub als Produkt wird auch vom Einzelnen auch als etwas „Besonderes“ empfunden, weil sich diese Zeit vom normalen Alltagslebenszyklus abhebt. Dieses Besonderheitserleben entsteht durch die Aufhebung von Zeitzwängen, erlebter Alltagsferne und eine mit emotional positiven Erlebnissen angefüllte Zeiteinheit. Aus den Besonderheiten touristischer Produkte ergeben sich noch weitergehende Sachverhalte, die sowohl Auswirkungen auf Gäste wie auch auf die touristischen 82 Tourismus neu denken Leistungsträger haben. Diese Sachverhalte und deren Wechselwirkungen werden aus tourismuswissenschaftlicher Sicht bisher nicht hinreichend reflektiert, weil die gegenwärtigen Lehrmeinungen innerhalb des Tourismusmanagements sich fast ausschließlich auf die Betrachtung der Besonderheiten des touristischen Produktes beschränken. 52 Aus den Besonderheiten des Produktes Reise ergeben sich für den Reisenden bzw. Gast folgende Sachverhalte: » Durch die Integration des Reisenden entsteht eine Gast- Gastgeber-Beziehung, da eine Leistungserbringung ohne den Gast nicht möglich ist. Die Beziehung wird durch entsprechende Rollenzuweisungen und Rollenbeziehungen geprägt. Der Gast ist während des gesamten Aufenthaltes bzw. der Zeit der Leistungserbringung an sein Rollenbild gebunden und zeigt diese in seinem Verhalten. » Aufgrund der Vergänglichkeit wird jede Reise unweigerlich zu einem einmaligen „Erlebnis“ welches sich trotz des gleichen Reiseangebotes in identischer Weise nicht wiederholen lässt. Allein schon die bereits gesammelten Eindrücke, Erfahrungen usw. würden dazu führen, dass die gleiche Reise anders erlebt wird. Schon Heraklit wusste, dass man in einen Fluss nicht zweimal baden und demzufolge nicht zweimal die gleiche Reise erleben kann. » Durch das umgekehrte Residenzprinzip ist es unumgänglich dorthin zu reisen, wo die jeweiligen Leistungen angeboten werden. Damit begibt sich der Reisende in ein neues Umfeld, was zu neuen Erfahrungen führt, die am Alltagsort so nicht möglich sind. „Erst In-Bewegung-Sein schafft ein Bewusstsein für wahre Identität. Die Beziehung zu anderen gebietet ein eigenes Selbstverständnis und somit kulturellen Wandel. Reisen 52 Vgl. Walter Freyer. Tourismus. Oldenbourg-Verlag München Wien 2006, S. 134f. Die Besonderheiten touristischer Produkte 83 verändert das Selbst des Reisenden“ 53 Das umgekehrte Residenzprinzip zwingt zur Veränderung des Blickwinkels und ermöglicht damit Veränderungen der eigenen Persönlichkeit. » Eng mit dem umgekehrten Residenzprinzip ist die Erholungsfähigkeit gekoppelt. Der zeitweilige Ausstieg aus dem gewohnten Arbeits- und Alltagsstress ist nur durch eine Ortsferne, d. h. durch Reiseaktivitäten möglich. » Raum und Zeit bleiben bei der Überwindung von Zeitzonen immateriell. Beim Flug selbst können weder die überwundenen Räumlichkeiten noch die unmittelbare Zeitverschiebung erfasst werden. Deren Wahrnehmung erfolgt erst zeitverzögert und kann sich in Form von Anpassungsproblemen, etwa als Jetlag nach Ankunft äußeren. » Der Reisende ist stets Teil des Ganzen. „Komponenten sind Teilstücke eines Ganzen, können aber auch autonom für sich sein. Sie stehen für das Gesamte, wie für das Einzelne. Sie sind gleichsam Zelle wie Körper“ 54 » Die „Reise“ gibt es nicht. Jeder Reisende einer Reisegruppe erlebt die „gleiche“ Reise anders. Dieses ergibt sich aus den unterschiedlichen individuellen Sichtweisen aufgrund ihrer Einstellungen, Reiserfahrungen, Interessen usw. » Der persönliche Wert einer Reise entsteht durch deren zeitliche Begrenztheit und Vergänglichkeit. Je knapper eine Ressource, umso wertvoller erscheint diese. Urlaub als knappe Zeitressource will daher bestmöglich erlebt und genossen werden, denn nicht genutzte Urlaubszeit geht unwiederbringlich verloren. Auch für die touristischen Leistungsträger wie für die Einheimischen touristischer Destinationen ergeben sich aufgrund des Pro- 53 Paolo Bianchi. Sehn-Sucht-Trips: Versuch über das Reisen und Ruhen. In: Kunstform International, Bd. 136 Febr.-Mai 1997, Ruppichteroth, S. 68 54 Bastian Gehbauer. Begleittext zu seiner Diplomausstellung „Komponemte“, HGB Galerie Juli 2019 84 Tourismus neu denken duktes Reise mehrere Besonderheiten. Diese Besonderheiten sind ihnen oft nicht bewusst, weil diese als Teil ihrer Alltagshandlungen entstehen. Ihre entfaltende Wirkung hat jedoch Einfluss auf das touristische Grundgeschehen. Als Besonderheiten, die für die tourismuswissenschaftliche Betrachtung besonders relevant erscheinen, sind folgende Sachverhalte zu nennen: » Die Bewohner sind ungewollt ein unabdingbarer Teil der touristischen Destination und werden damit für die Gäste Teil des Produktes Reise. Ohne touristische Destination, deren Bewohner und auch ohne Leistungserbringer (Gastgeber) ist Tourismus nicht möglich. » Das Produkt Reise bewirkt bei Gastgebern und Bewohnern ein Zusammenfallen der eigenen Lebensoptimierung durch Teilhabe am touristischen Produkt bei gleichzeitig steigendem Anpassungs- und Leistungsdruck bzw. des Negativempfindens in Form von Crowding. Die entstandene Ambivalenz selbst ist zunächst immateriell und wird erst durch Einstellungshandlungen (Unterstützung, Protest, Vermittlungsbemühungen etc.) für Dritte sichtbar. Die ambivalente Empfindungsstärke der Bewohner korreliert mit dem Grad der touristischen Teilhabe. » Die Unmittelbarkeit der Leistungserbringung bewirkt die Ausübung der Gastgeberrolle, die durch Rollenerwartungen der Gäste wie Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft etc. geprägt sind. Nur durch eine weitgehende Übereinstimmung von Gastgeberrolle und der Rollenerwartung durch die Gäste kann die Unmittelbarkeit der Leistungserbringung gewährleistet werden. » Die Integration des Gastes führt zu einer schrittweisen Architekturveränderung, die auf die Bedürfnisse der Touristen angepasst wird und bis hin zu Gentrifizierungstendenzen reichten. Die Urlaubsumgebung als sozialer Raum beeinflusst das Verhalten und übt so Rückkoppelungseffekte sowohl auf die Bewohner wie auf die Gäste aus. Die Besonderheiten touristischer Produkte 85 » Zwischen Gast und Gastgeber entsteht eine Verschiebung der Einstellungen zum Produkt Reise in Korrelation zu deren Sichtbarwerden. Während sich für Gastgeber bei zunehmender Sichtbarwerdung tendenziell ein Crowding-Empfinden einstellt, verstärkt es bei Gästen das Urlaubsfeeling. Das Crowding-Empfinden auf Gastgeberseite ist individuell ausgeprägt und wird neben der vorhandenen Gästezahl an einem Ort durch subjektive Erwartungen, Einstellungen, bereits vorhandene Erfahrungen, Rückzugsmöglichkeiten, Raumgestaltung sowie die Interaktion mit den Personen in diesem Raum bestimmt. Will man die Besonderheiten touristischer Produkte umfassend verstehen, so erscheint eine Einbeziehung der Besonderheiten, welche sich für den Gast und für touristische Leistungsträger vor Ort ergeben, für die Gesamtbetrachtung des Produktes Reise notwendig. Eine umfänglichere Betrachtung der Besonderheiten auf allen drei Ebenen, welche deren Wechselwirkungen miteinschließt, ermöglicht nicht nur eine realistischere Sicht auf das Produkt, sondern vergrößert zugleich die Perspektive für neue Produktansätze. Will die Tourismuswissenschaft ihrer Aufgabe hinsichtlich der Produktbewertungen gerecht werden, so sollten die drei Dimensionen zusammengedacht werden. 8 Das Zeit- und Raumerleben bei Reisen as touristische Produkte explizit von anderen Dienstleistungen unterscheidet, ist das daran verknüpfte Zeit- und Raumerleben. Überlegungen zur Erfassung von Raum und Zeit reichen bis in die Antike zurück. Für Aristoteles war Zeit eine Relationsgröße, die das Nacheinander des Geschehens erfasst und nicht unabhängig von den Körpern, ihren Veränderungen und ihren Bewegungen im Raum existierte. 55 Aristoteles gilt nicht nur als größter Denker seiner Zeit, er dürfte auch der Erste gewesen sein, der das Thema Erholung in Zusammenhang mit Zeitüberlegungen diskutiert hat. Im Buch IV seiner Nikomachischen Ethik schreibt er: „Tätiges Leben wird durch Zeiten der Erholung unterbrochen, in denen Muse und Kurzweil ihren Platz haben [...].“ 56 Das Thema Freizeit ist heute aktueller denn je, da seine Nichtnutzung besonders als Verlust von unwiederbringlicher Lebenszeit empfunden wird. Ihr besonderer Wert entsteht, weil Zeit weder käuflich erworben, angespart noch vermehrt werden kann. Vorhandene Zeit kann nur sinnvoll genutzt werden. 57 Obwohl der Freizeitanteil noch nie so groß wie heute war und auf einer deutlichen räumlichen und zeitlichen Trennung von Arbeit basiert, haben viele Menschen das Gefühl, neben ihrer Arbeit nicht mehr genug Zeit für sich selbst, die Familie oder Freunde zu haben. Zeitökonomen sehen die Ursachen in einer von wirtschaftlichen und technologischen Zeitzwängen dominierten Beschleunigungsgesellschaft, welche von der Maxime „Time is money“ 55 Vgl. Herbert Hörz. In: Hans-Jörg Sandkühler (Hrsg.) Enzyklopädie Philosophie Band 0-Z, Felix Meiner Verlag Hamburg 1999, S. 1804 56 Aristoteles. Nikomachische Ethik. Akademie-Verlag Berlin 1983, S. 92 57 Vgl. H.-P. Herrmann/ P. Wetzel. Fernweh und Reiselust. Springer-Verlag Berlin 2018, S. 181 W 88 Tourismus neu denken stark geprägt ist, welche sich bis in den Freizeitbereich fortsetzt. 58 Sowohl das Bestreben nach der eigenen Freizeitoptimierung, einer zunehmenden Flut an „Freizeitinformationen“, die durch digitalen Medien konsumiert werden, wie auch die ständige persönliche Erreichbarkeit sind wesentliche Ursachen des massiven Freizeitstressempfindens. Situationen des steigenden Arbeitsdrucks wie auch des erlebten Alltagsstresses führen dazu, dass verstärkt Urlaubswünsche aufkommen. Denn nur im Urlaub erscheint ein zeitweiliger Ausstieg aus dem gewohnten Arbeits- und Alltagsstress möglich. Die Entbindung von Arbeits- und Alltagspflichten schafft ein größeres Zeitvolumen, wodurch die Chance gegeben ist, ein Stück selbstbestimmte Zeit zu erleben. Die selbstbestimmbare Urlaubszeit führt zu einer neuen Zeiteinteilung und verändert das persönliche Zeiterleben. Menschen bewegen sich im Urlaub in einem anderen Zeit- und Raumkontext, welcher den Rhythmus der herkömmlichen Zeitstrukturierung des Alltags unterbricht. Diese Veränderungen werden in aller Regel als positiv erlebt, weshalb Tourismusexperten wie Mundt hierin gleich zwei mögliche zeitpsychologische Motivationsansätze zum Reiseverhalten sehen. Zum einen das Motiv die Urlaubsreise zur Verlängerung von Zeit und zum anderen die Urlaubsreise zur Strukturierung von Zeit zu nutzen. 59 Weil Urlaub zeitlich begrenzt ist, gehört er zu den wichtigsten Tagen im Jahr und will innerhalb dieser Zeitbegrenzung bestmöglich erlebt und genossen werden. So hat die Tourismusbranche erkannt, dass Gäste ihre wertvolle Urlaubszeit möglichst nicht durch passive Warte- und Leerlaufzeiten (Warten an der Rezeption, vor Aufzügen, Eintritte vor Museen, bei Essensreichungen, Abfahrtverzögerungen etc.) verschwenden möchten, da diese Zeiten nicht nur als verlorene Urlaubszeit empfunden, sondern zusätzlich als besonders belastend wahrgenommen. Sowohl durch 58 Vgl. Christian Deysson. Mut zur Langsamkeit. In: Wirtschaftswoche Nr. 171997 vom 17.04.1997, S. 110f. 59 Vgl. J.W. Mundt. Tourismus. Oldenbourg-Verlag München 2013, S. 116ff. Das Zeit- und Raumerleben bei Reisen 89 bauliche und organisatorische Maßnahmen gelingt es Reiseveranstaltern und touristischen Leistungsträgern, diese Leerlaufzeiten teilweise zu minimieren. Das wesentlich größere Problem ist die mangelnde Selbststeuerungsfähigkeit des Gastes im Umgang mit der eigenen Zeit. Im Urlaub geht es den meisten Gästen darum, aus dem Alltagsstress herauszukommen und nicht schneller, sondern langsamer zu leben. Statt zu entschleunigen, sorgen Überangebote im touristischen Freizeitbereich, unzureichende Auswahlhilfen, zusätzliche Konsumangebote und fehlende Rückzugsmöglichkeiten für Freizeitstress statt für Entspannung. Der natürliche Drang, möglichst viele dieser Angebote wahrzunehmen und unter einen Hut zu bringen, ist letztlich die Fortsetzung der Freizeitoptimierung im Urlaub. Viele tappen in diese Falle, weil sie durch den arbeitstäglichen Druck soweit konditioniert sind, dass sie es als solches zum Teil nicht mehr wahrzunehmen. Entschleunigung funktioniert nur, wenn alte Verhaltensmuster im Urlaub über Bord geworfen werden. Bereits das Loslassen, um zur inneren Ruhe zu gelangen, gelingt oft nicht. Hier bedarf es eigentlich im Vorfeld Hilfestellungen, um ein reflektierendes Nachdenken über das eigene Verhalten im Urlaub zu ermöglichen. Diese könnten Reisemittler leisten, wenn sie über Grundlagenwissen zur Tourismuspsychologie verfügen würden. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die bewusste Auswahl, was für den Reisenden selbst wichtig ist, also die vorhandne Zeit für sich selbst im Sinne der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten zu nutzen. Sich intensiv dem Erlebnis Urlaubszeit zuzuwenden gelingt nur, wenn sich die Menschen hierauf einstellen und eine bewusste zeitliche Orientierung entwickeln, indem sie dies sinnvoll strukturieren und mittels eigenständiger Urteilsbildungen in ihrer Umsetzung beständig reflektierenden. Ansätze hierfür finden sich im aufkommenden Slowtourismus. Unter Slowtourismus werden alle Reiseaktivitäten verstanden, die zu einer Entschleunigung des Zeitempfindens führen. Es geht dabei nicht um das sogenannte Nichtstun, sondern um die zielgerichtete Einbindung und Strukturierung von geeigneten 90 Tourismus neu denken Aktivitäten, welche zu einem positiven Zeitempfinden beitragen. Es ist gegeben, wenn die Aktivitäten dazu führen, dass die Konzentration auf sich selbst gelenkt wird, um das Sinneserleben von Raum und Zeit spüren zu können. Das Geheimnis des Slowtourismus besteht in einer Bewusstseinsveränderung und einem Ablegen der weit verbreiteten Denkparadoxe, dass ein schnelles Abschalten bei gleichzeitiger Erlebensintensivierung in immer kürzeren Reisezeiten möglich sei. Eine Denkhaltung, welche durch die moderne Leistungsgesellschaft geprägt ist, aber gleichzeitig den jetzigen Gegentrend zur Entschleunigung hervorgerufen hat. Eine Reihe von Reiseveranstaltern haben den Trend zum Slowtourismus erkannt und entsprechende Angebote in ihr Programm aufgenommen. Das Erleben von Zeit findet immer in einem bestimmten Umfeld statt, weshalb sich das Zeiterleben vom Raumerleben nur theoretisch trennen lässt. Denn ein sichtliches Wohlbefinden in einem positiven Umfeld erzeugt Rückkopplungseffekte auf das Zeitempfinden. Das unmittelbare Erleben des Umfeldes führt zu Empfindungen, die als angenehm oder unangenehm reflektiert werden. In positiven Umfeldsituationen erfolgt die Zeitwahrnehmung tendenziell kurzweiliger als in einem negativen Umfeld. Gefühle und Stimmungen haben nicht nur eine Wirkung auf das Zeitgefühl im Urlaub, sondern beeinflussen weitere personelle Verhaltensweisen. Hierzu gehören die: 60 » Handlungsbereitschaft In positiven Stimmungen sind Personen tendenziell unternehmungsfreudiger und entwickeln eine größere Lust, etwas zu unternehmen oder zu erleben. In Gruppen steigt die Bereitschaft, sich in das gesellige Urlaubstreiben einzubringen. 60 Vgl. H.-P. Herrmann. Tourismuspsychologie. Springer-Verlag Heidelberg 2016, S. 137 Das Zeit- und Raumerleben bei Reisen 91 » Informationsverarbeitung Personen in positiven Stimmungen sind bereit, mehr Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Bei Führungen und Ausflügen wird in Gruppen, welche eine positive Stimmung aufweisen, tendenziell mehr gefragt. Eine positive Gruppenstimmung signalisiert den Einzelpersonen, dass keine Probleme oder Gefahren bestehen. » Denkstile In positiven Stimmungen sind Personen kreativer und bereit, Neues auszuprobieren. In negativen Stimmungen agieren Personen vorsichtiger und greifen eher auf Sachverhalte oder Angebote zurück, die ihnen bekannt und vertraut sind. Reisegruppen mit einer negativen Grundstimmung sind deshalb kaum bereit, Neues anzunehmen oder von vorgesehenen Routen und Programmpunkten abzuweichen. » Erinnerung Stimmungen wirken sich auf das Gedächtnis aus. In positiven Stimmungen werden Wahrnehmungen besser verarbeitet und abgespeichert. An Gefühlen, die zum Urlaubszeitpunkt positiv waren, erinnert man sich zu einem späteren Zeitpunkt quantitativ mehr und diese Erinnerungen fallen leichter, wenn der Abruf ebenfalls in einer positiven Stimmung erfolgt. » Interaktion mit anderen Personen Eine positive Stimmung erleichtert die Interaktion mit anderen Personen, da in dieser Stimmung eigene positive Gefühle vorherrschend sind, die einen sozialen Austausch anstreben. » Leistungsfähigkeit Menschen fühlen sich bei guter Stimmung aktiver, leistungsfähiger und reflektieren dieses später in ihren Urlaubserinnerungen. Die räumliche Gestaltung leistet einen entscheidenden Beitrag für das Zustandekommen eines positiven Zeit- und Raumerlebens. Sie ist jedoch nicht der wichtigste Aspekt für das gewünschte Ur- 92 Tourismus neu denken laubsergebnis. Denn „Erlebnisse sind psychophysische Konstrukte, die sich nicht durch die Gegenstände substituieren oder an Dienstleistungsunternehmen delegieren lassen. Der Dienstleistungsanbieter kann versuchen, eine besonders günstige äußere Situation herzustellen, aber das angestrebte innere Ergebnis muss nicht damit identisch sein. Dies kann auch auf den Tourismus bezogen werden: Ein Erlebnis ist personenbezogen und kann aus der Sicht der Emotionspsychologie betrachtet werden. Es ist jedoch auch situationsbezogen - da die Person ein Erlebnis in einem bestimmten Setting erlebt.“ 61 Mit dem angestrebten inneren Ergebnis meint Brunner-Sperdin, dass das Urlaubserleben stets individuell erlebt wird. Die Intensität des individuellen Erlebens wird aus tourismuspsychologischer Sicht dabei von vielen Faktoren beeinflusst, etwa von der Wahrnehmungssensibilität, der Erlebnisfähigkeit, der persönlichen Bedeutsamkeit des Erlebten, bisherigen Erfahrungen, Erwartungen, von wahrgenommenen Reizsituationen oder Erwartungshaltungen an den jeweiligen Urlaub. Positive Rahmenbedingungen, die geschaffen werden, sind für gewünschte Urlaubserlebnisse wichtig und hilfreich. Wesentlich bedeutsamer als die räumliche Hülle ist der Erlebnisinhalt touristischer Leistungen. Den Grundtypus hierfür hat 1950 Gèrard Blitz mit seinem auf Alcudia (Mallorca) errichteten Clubdorf gelegt, indem er der Hülle (idyllisches Feriengebiet mit ansprechender Clubatmosphäre) Erlebnisinhalte in Form gemeinsamer Aktivitäten beifügte. Das von Blitz konzipierte Ferienclubmodell verbreitete sich schnell verbreitet. Nach dem Erfolg des Ferienclubanbieters Club Mèditerranèe, welcher heute unter dem Namen Club Med bekannt ist, gründete 1971 die TUI als erster deutscher Reiseveranstalter die Robinson Clubs als Gemeinschaftsunternehmen mit der damaligen Steigenberger Hotelgesellschaft. Die TUI ist heute alleinige Eigentümerin der Robinson Clubs und verfügt über weitere Clubmarken. Alle großen 61 Alexandera Brunner-Sperdin. Erlebnisprodukte in Hotellerie und Tourismus. Erich- Schmidt-Verlag Berlin 2008, S. 14 Das Zeit- und Raumerleben bei Reisen 93 Reiseveranstalter besitzen zwischenzeitlich eigene Ferienclubanlagen mit bekannten Marken. Nach der erfolgreichen Indienststellung des ersten Clubschiffes im Jahr 1996, der AIDAcara, hat sich das Clubkonzept auch im Kreuzschifffahrtsbereich weltweit etabliert. Der bis heute anhaltende Erfolg liegt in seinen beständigen Modifizierungen und Weiterentwicklung des Clubkonzeptes. So erfolgt heute eine weitgehend zielgruppenorientierte Angebotsausrichtung der Ferienclubanlagen hinsichtlich „Familien“, „Single“ und „Paare einschließlich Adults-onlys“, um den Bedürfnissen der Gäste besser gerecht zu werden, was ein wesentliches Kriterium für deren Urlaubszufriedenheit darstellt. Da das Zeit- und Erlebnisempfinden kulturell geprägt ist, und der Tourismus global agiert, sollten auch kulturprägende Werte, die Einfluss auf das Zeit- und Raumerleben haben, stärker berücksichtigt werden. Eine zukunftsorientierte moderne Gästebetreuung bedeutet, die individuelle Erlebniswelt des Gastes zielgenauer zu erkennen, um ihn bei der Leistungserbringung genau dort abholen. Dieses setzt neben psychologischen Kenntnissen der Gästebetreuung auch eine Neujustierung der bisher stark geprägten nomothetischen Persönlichkeitsausrichtung, also der Ausrichtung auf Gästegruppen, hin zu einer ideografischen Sichtweise voraus. 9 Glück und andere philosophische Kategorien s gibt nur wenige Sachverhalte, die vom Menschen so beharrlich gewünscht und angestrebt werden, wie das „Glück“. Weil alle Menschen nach Glück streben, besitzt der Glücksbegriff eine universelle Bedeutung, er ist zugleich individualistisch geprägt, weil jeder Mensch seine eigene Auffassung von Glück hat. Was Glück sei, so hat die Philosophie in ihrer Geschichte unterschiedliche Sichtweisen hervorgebracht, ohne bis heute eine verlässliche Begriffsbestimmung aufzeigen zu können. Der Begriff Glück leitet sich aus dem Griechischen Euaimona (eudaimonia), ab, was so viel wie „glücklich sein“ bedeutet. Der Glücksbegriff wird noch von zwei weiteren Begriffen tangiert. Im Sinne von Glück haben oder glücklichen Umständen (griech. Eutychia) sowie im Sinne von Wohlfühlen oder Lust haben (griech. Hedone). Alle drei Bedeutungen von Glück sind miteinander verbunden. 62 Will man sich dem Glücksbegriff auf der psychologischen Ebene nähern, so ergeben sich ähnliche Schwierigkeiten, weil auch hier der Glücksbegriff sehr differenziert gesehen wird. Das Glück als messbare Einheit gibt es nicht, weil es eine innere emotionale Erregung darstellt, die in ihrer Ausprägungsstärke, Dauer und Situationsgebundenheit sehr individuell und verschieden empfunden wird. Weil eine einheitliche Begriffsauffassung schwer fassbar ist, erscheint es sinnvoll, sich dem Glück aus einer individuellen Betrachtungsperspektive zu nähern. Versuche, Antworten auf diese Frage zu finden, gibt es seit der Antike. Eine Antwort, die im Um- 62 Vgl. Friedo Ricken. Allgemeine Ethik, W. Kohlhammer/ Urban Stuttgart 2013, S. 218ff. E 96 Tourismus neu denken feld des Hellenismus entstanden ist und bis heute gültig erscheint, findet sich beim römischen Kaiser und stoischen Philosophen Mark Aurel (121-180 n.u.Z.). In seinem philosophischen Werk „Selbstbetrachtungen“ hat er die Antwort darin gesehen, dass das, was als Glück betrachtet wird, von der Beschaffenheit der eigenen Gedanken abhänge. Insofern kann das, was Urlaubsglück für den Einzelnen bedeutet, nur er selbst definieren. Die verbindende Klammer zwischen Menschen, welche ein persönliches Urlaubsglück verspüren, sind positiv erlebte Gefühle, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer Reiseaktivität stehen. Sie werden durch positive Reizgegebenheiten ausgelöst und über selbstwahrnehmbare Empfindungen erlebbar. Bei sehr starken emotionalen Ausprägungen lassen sich die Empfindungen als Glücksgefühl beschreiben. Zu den urlaubstypischen Sinnesreizen, die gewöhnlich zu positiven Empfindungen führen, gehören beispielsweise das Spüren des warmen Sandes unter den Füßen, der Anblick des Meeres, die Wärme der Sonne auf der Haut, faszinierende Landschaftsbilder, Berge und Schluchten, wahrnehmbare exotische Gerüche und vieles mehr. Bereits die sinnliche Vorstellung eines zukünftigen Urlaubs kann entsprechende Assoziationen hervorrufen und hierzu positive emotionale Empfindungen hervorbringen. Positive Einzelempfindungen reichen gewöhnlich noch nicht aus, um Stimmungen aufzubauen, die ein tiefes Glücksgefühl hervorrufen. Eine zeitlich andauernde Unbeschwertheit, die frei von Dissonanzreaktionen ist, bietet Voraussetzungen zum Aufbau positiver Stimmungen, die zu Glücksgefühlen führen können. Haben sich positive Stimmungen entwickelt, so stellen diese einen Abrufreiz dar und aktivieren bisherige positive Erinnerungen, welche mit einem ähnlichen Gefühl assoziiert werden. Die Gäste erinnern sich nun an andere glückliche Urlaubszeiten, die sie in ähnlichen Stimmungen oder Situationen erlebt haben. Dieser Rückkoppelungseffekt verstärkt das Wohlbefinden und der gegenwärtige Zustand wird als überaus positiv empfunden, was sich auch als „Urlaubsglück“ beschreiben lässt. Glück wird in dieser Situation nicht als etwas Fernes, sondern als Glück und andere philosophische Kategorien 97 unmittelbares Gefühl erlebt. Werden positive Empfindungen permanent verstärkt, so können sich diese bis hin zu einem Kohärenzgefühl aufbauen, welches auch als Flow-Zustand oder Flow- Erleben beschrieben wird. Der Ansatz des Flow-Erlebens wurde 1975 vom ungarisch-amerikanischen Psychologen Milhaly Csikszentmihalyi (geboren 1934) entwickelt, der zu den Mitbegründern der „Positiven Psychologie“ gehört, eine Richtung, welche sich besonders mit den Phänomenen positiver Empfindungen wie Freude, Glück und Optimismus auseinandersetzt. „Mit dem Begriff „Flow“ beschreibt Csikszentmihalyi einen Zustand der völligen inneren Harmonie. Hierbei stellt sich ein Gefühl der inneren Zufriedenheit ein, wo das Gefühl von Raum und Zeit verloren geht und ein Zustand des „Schwebens“ einsetzt. Personen, welche diesen Zustand beschreiben, charakterisieren ihn als „im Fluss“ sein, wo sich ein inneres Gleichgewicht hin zum eigenen Selbst entwickelt. 63 Das Erreichen eines Flow-Zustandes wurde zuerst bei sportlichen Tätigkeiten beschrieben und lässt sich auf weitere Sachverhalte erweitern. Es tritt gewöhnlich ein, wenn alle Inhalte des Bewusstseins mit dem selbstdefinierten Ziel übereinstimmen und hierdurch ein inneres ungetrübtes Harmoniegefühl entsteht, was sich im Falle des Urlaubserlebens als perfektes „Urlaubsglück“ beschreiben lässt. Menschen wollen dieses Glücksgefühl möglichst lange aufrechterhalten und immer wieder durchleben. Doch Urlaubsglück ist ein einmaliges Erlebnis und lässt sich in der erlebten Weise nicht erneut durchleben. Deshalb sind Touristen enttäuscht, wenn sie später an Orte zurückkehren, an denen sie glückliche Momente erfahren haben und sich diese Gefühle nicht genauso nacherleben lassen. Auch wenn die Ebene des Flow-Erlebens nicht erreicht wird, so führen bereits positive Gefühle und Stimmungen zu einer stärkeren Aktivierung des unmittelbaren Urlaubsverhaltens. Dieses zeigt sich beispielsweise in einer gesteigerten Unternehmungs- 63 Vgl. H.-P. Herrman/ P. Wetzel. Fernweh und Reiselust. Springer-Verlag Berlin 2018, S. 192 98 Tourismus neu denken freude, einer verbesserten Aufnahme der sie umgebenden Urlaubswelt, einer erhöhten Kontaktbereitschaft, neuen Denkweisen oder der höheren Bereitschaft Neues auszuprobieren. Sachverhalte also, die emotionale Handlungserlebnisse begünstigen und damit einen entscheidenden Einfluss auf die Speicherung und spätere Erinnerungsfähigkeit des Erlebten ausüben. Je stärker die emotionale Aktivierung, umso besser werden die zugehörigen Informationen verarbeitet und später reproduziert. Alle Handlungsaktivitäten, die überaus emotional stark erlebt werden und eine hohe persönliche Wertigkeit besitzen, gelangen ins episodische Gedächtnis. Mit den hier gespeicherten Informationen ist es möglich, sich auch nach längerer Zeit noch an Urlaubsdetails zu erinnern. Die besondere Leistung des episodischen Gedächtnisses liegt darin, dass mit der Informationserinnerung verbundene emotionale Gefühlsempfindungen abgerufen werden können. Werden beispielsweise Urlaubserinnerungen abgerufen, so können damit verbundene Sinnesreize wie etwa das Spüren der Wärme auf der Haut oder das Schmecken der salzhaltigen Luft mitreproduziert und nacherlebt werden. Diese Erinnerungsinhalte und deren Stärke haben wiederum einen wesentlichen Einfluss auf zukünftige Buchungsentscheidungen, da abrufbare Informationen bei zukünftigen Reisewahlentscheidungen miteinfließen. Auch wenn eine hohe Gästezufriedenheit primär auf eine ansprechende Urlaubsatmosphäre, eine hohe Servicequalität, ansprechende Erlebnisinhalte sowie das Gefühl der sozialen Eingebundenheit zurückzuführen ist, so wird oft übersehen, dass noch weitere Faktoren einen Einfluss auf das Entstehen positiver Urlaubsgefühle haben. Neben der Aufenthaltslänge, der Werbebegegnung, dem Reisepreis und anderen Sachverhalten sind hier die persönliche Reiseberatung und der Zeitpunkt der Reisebuchung hervorzuheben. Der persönlichen Reiseberatung, in der Reisemittler viel Zeit investieren, um für ihre Kunden die für sie bestmögliche Reise zu finden, sind zwei positive Aspekte zuzuschreiben. Glück und andere philosophische Kategorien 99 » Zum einen helfen sie ein individuell passgenaues Reiseangebot zu finden, welches die wesentlichen Bedürfnisse und Interessen des Kunden berücksichtigt und somit eine wesentliche Grundlage für die spätere Urlaubszufriedenheit bildet. Denn eine qualitativ hochwertige Reiseumsetzung nützt nichts, wenn Einstellungen, Wünsche und Interessen des Kunden nicht mit dem späteren realen Urlaubserleben zusammenpassen. » Zum anderen erzeugen Reisemittler durch die persönliche Beratung einen höheren Emotionalisierungsgrad, was sich positiv auf das spätere Reiseerlebnis auswirken kann. Nicht ganz auszuschließen ist, dass auch der zeitliche Abstand zwischen der Reisebuchung und dem Reisebeginn Einfluss auf die spätere Urlaubsbewertung haben kann. Bei längerfristigen Buchungen, die tendenziell im Reisebüro oder über mobile Reisemittler durchgeführt werden, entwickelt sich vielfach eine Urlaubsvorfreude, die Urlaubsgefühle weckt. Die hierdurch länger anhaltende affektive Stimmung kann sowohl während der Reisedurchführung wie in der Nachbetrachtung zu einer stärkeren positiven Gewichtung führen. 64 Im Tourismusmarketing werden Begrifflichkeiten wie Urlaubsglück, Lebensfreude, Gänsehautmomente usw. von Reiseveranstaltern und Reisemittlern mit konkreten Reisezielen oder Reiseaktivitäten in Verbindung gebracht, um Kunden über Emotionen anzusprechen. Übersehen wird hierbei, dass emotionale Reaktionen erst am Reiseziel oder bei einer bestimmten Aktivität entstehen. Kunden können sich Reiseverläufe vorstellen, jedoch nicht, wie sie sich im Moment des tatsächlichen Reiseerlebnisses fühlen werden. Eng mit dem Urlaubsglück sind die philosophischen Kategorien Freiheit und Gerechtigkeit verbunden. Denn ohne Freiheit, insbe- 64 Vgl. H.-Peter Herrmann. Psychologisches Tourismusmarketing. Springer-Verlag Wiesbaden 2018, S. 38 100 Tourismus neu denken sondere die Reise- und Handlungsfreiheit, erscheint Urlaubsglück nicht oder nur sehr bedingt möglich zu sein. Entsprechende Freiheiten sind durch das Grundgesetz geschützt und können nur zum Schutz übergeordneter oder gleichwertiger Rechtsgüter zeitweise eingeschränkt werden. Obwohl die Grundrechte garantiert sind, empfinden immer mehr Bundesbürger, dass Reise- und Handlungsfreiheiten zurückgefahren werden. Besonders spürbar war diese Entwicklung nach dem 11. September 2001, als die Sicherheitsmaßnahmen im Reiseverkehr deutlich erhöht und weltweit verschärfte Reisebedingungen erlassen wurden. Diese Ausweitung an Restriktionen setzt sich bis heute fort. So müssen beispielsweise immer mehr persönliche Daten preisgegeben werden, um ein Visum oder eine Einreiseerlaubnis zu erhalten. Neben diesen hoheitlichen Maßnahmen der Datenabfrage, die durch Gesetze und Verordnungen legitimiert sind, steigt auch in der Tourismusbranche das Interesse, von ihren Kunden immer mehr persönliche Daten abzugreifen. So werden Reisende bei touristischen Buchungen vielfach angehalten, zusätzliche persönliche Daten anzugeben, deren einziger Sinn darin liegt, diese möglicherweise später für personalisierte Angebote nutzen zu können. Die touristischen Unternehmen begeben sich damit auf einen gefährlichen Weg, denn Kunden können sehr wohl abschätzen, ob die erhobenen Daten für die jeweilige Reisedurchführung tatsächlich unabdingbar sind. Zwischen der Datenerhebungsmenge und dem entgegengebrachten Vertrauen der Reisekunden besteht eine scheinbare Korrelation. Und diese ist recht einfach. Je mehr persönliche Daten zukünftig gesammelt werden, desto größer wird das allgemeine Misstrauen gegenüber der gesamten Tourismusbranche werden. Der Grat zwischen Reiselust und Reisefrust wird bereits zusehends schmaler. Noch wird Tourismus weitgehend mit den Attributen Weite, Freiheit oder Ferne assoziiert. Deshalb sollte über die weitere Ausweitung selbst eingeführter tourismusbezogener Handlungsrechte, welche beim Reisekunden das Gefühl von weiteren Restriktionen hervorrufen - wozu auch die Erhebung persönlichkeitsrelevanter Daten gehört - nachgedacht werden. Glück und andere philosophische Kategorien 101 Nur so kann langfristig eine Selbstschädigung der Tourismusbranche vermieden werden. Ein weiterer Aspekt, der mit dem Urlaubsglück eng in Verbindung steht, ist die Gerechtigkeit. Ohne ein hinreichend empfundenes Gerechtigkeitsgefühl kann sich kein positives Urlaubsgefühl entfalten. Bereits wahrgenommene Ungerechtigkeiten gegenüber Dritten erzeugen Dissonanzgefühle. Unmittelbar erlebte Ungerechtigkeiten, welche die eigene Person betreffen, werden teilweise als besonders schmerzlich empfunden und zeigen sich in negative Emotionen wie Ärger, Traurigkeit, Empörung oder Enttäuschung. Im Tourismusbereich sind zwei Gerechtigkeitsformen von zentraler Bedeutung: die der Prozeduralen Gerechtigkeit, bei der es um die Wahrnehmung einer gerechten Behandlung, der Informationsteilhabe oder Einbeziehung in Entscheidungen geht, sowie der Interaktionalen Gerechtigkeit, welche die Art und Weise tangiert, wie Personen während einer Konfliktsituation behandelt werden. Obwohl das Gerechtigkeitsgefühl des Einzelnen stark subjektiv geprägt ist, gibt es immer mehr objektive Kriterien, die auf zunehmende Gerechtigkeitsdefizite im Tourismus hinweisen. Dieses betrifft etwa die Ungleichbehandlung der haftungsrechtlichen Reiseabsicherung zwischen Pauschal- und Individualreise. Seit über einem Jahrzehnt streitet die Politik in Deutschland über eine entsprechende Lösung. Die Pleite von Air Berlin im Jahr 2017 hatte deren Notwendigkeit nochmals sichtbar gemacht, doch Kunden sind bis heute bei Insolvenzen touristischer Leistungsträger noch immer nicht besser geschützt. Als zunehmend ungerecht werden auch die immer weiter auseinanderdriftenden Reisepreise von Neben- und Hauptsaison gesehen. Dieses wird besonders von Familien mit Kindern als ungerecht empfunden, die aufgrund von Schulferien nur zur Hauptsaison reisen können und zu diesen Zeiten besonders hohe Preisaufschläge zahlen zu müssen. Für identische Leistungen den doppelten oder mehrfachen Preis gegenüber der Nebensaisonpreise zahlen zu müssen, lässt sich mit dem Argument Hauptsaison nicht hinreichend begründen. Solche 102 Tourismus neu denken massiven „Quersubventionen“ zugunsten der Nebensaisonpreise werden auf Dauer am Image der Pauschalreiseanbieter kratzen. Auch aus psychologischer Sicht ist diese Strategie wenig sinnvoll, denn nimmt der Kunde einen ungerechten Preis wahr, so verliert diese Leistung für ihn an Wert. Erhebliche Preisunterschiede für identische Leistungen finden sich gleichfalls bei vielen touristischen Leistungsanbietern. So kostete im Jahr 2020 die BahnCard 50 in der 2. Klasse für Senioren 112 Euro, alle anderen Nutzer mussten für die gleiche BahnCard hingegen 229 Euro, also mehr als das Doppelte zahlen. Viele weitere touristische Leistungsträger experimentieren derzeit mit verschiedenen Preissystemen, die in ihrer Ausrichtung als unterschiedlich gerecht empfunden werden. Dieses zeigt sich beispielhaft bei den Reiseversicherern Europäische Reiseversicherung (ERV) und Union Reiseversicherung (URV). So hat die Europäische Reiseversicherung 2017 damit begonnen, altersabhängige Versicherungstarife bei Einmal-Policen einzuführen. 65 Die Union Reiseversicherung hingegen führte 2018 ein neues Tarifsystem ein, bei denen einheitliche Tarife unabhängig von der Reiseart, Art des Verkehrsmittels, Alter oder familiärer Status (Einzelperson, Paare, Familien) gelten. 66 Während die URV das Prinzip der Einfachheit unter Beibehaltung des Solidarsystems beibehält, entscheidet bei der ERV das Alter über die Höhe der Policen. Aus Unternehmenssicht ist das nachvollziehbar, da mit steigendem Alter das Eintreten eines Versicherungsfalls wahrscheinlicher wird. Dennoch ist es der Anfang einer gefährlichen Strategie, weil aus Sicht älterer Reisender nicht nur ein Gefühl der Ungleichbehandlung entsteht, sondern das Solidarsystem, das ein tragendes Element aller Versicherungen darstellt, ein Stück weit infrage gestellt wird. 65 Vgl. J. Eversmeier. Wenn das Lebensalter miteintscheidet. In: fvw Nr. 6/ 2017, FVW Medien GmbH Hamburg 2017, S. 47 66 Vgl. fvw-Redaktion. URV erneuert Tarifsystem. In: fvw Nr. 6/ 2018, FVW Medien GmbH Hamburg, S.13 Glück und andere philosophische Kategorien 103 Gleichfalls wird das weitere Auseinanderdriften zwischen Massentourismus und Luxusurlaub zunehmend kritisch betrachtet. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass schon in absehbarer Zeit dieses Thema unter dem Aspekt der Ungleichheit stärker ins öffentliche Rampenlicht gerät und kontrovers diskutiert wird. Die hiermit verknüpfte Problemfrage nach der zukünftig gerechten Verteilung von sich verknappenden touristischen Ressourcen bedarf Antworten wie auch danach, wer darüber befinden darf und nach welchen Regeln dieses erfolgen soll. Bereits heute gibt es erste Reisebeschränkungen in Form von limitierten Besucherzahlen zum Schutz kultureller Güter oder zum Schutz der Umwelt, deren Umfang beträchtlich zunehmen dürfte. An vielen Punkten im touristischen System verstärken sich gegenwärtig Ungerechtigkeitstendenzen. Werden keine geeigneten Strategien für einen Interessenausgleich gefunden, so wird sich bei größeren Bevölkerungsgruppen ein Gefühl der Ungleichbehandlung entwickeln. Da Reisen für die Bundesbürger ein lieb gewordenes Gut ist, auf das sie nicht verzichten möchten, werden vermutlich Diskussionen über einen Zwei-Klassentourismus entstehen, wenn sich die Ungerechtigkeitstendenzen verstärken sollten. Solche langanhaltenden Diskussionen dürften für die gesamte touristische Branche mit einem erheblichen Reputationsverlust verbunden sein. 10 Tourismus neu denken chon der Philosoph Heraklit (um 544-483 v.u.Z.) erkannte, dass man in einem Fluss nicht zweimal baden kann, weil sein Wesen eben das „Fließen“ ist. „So, wie er war, ist er nicht mehr, und wie er ist, bleibt er nicht.“ 67 Die stetige Bewegung und Veränderung, das ständige Werden und Vergehen waren für ihn Ausdruck der Gesetzmäßigkeit, deren stete Veränderungen nicht nur den Fluss, sondern den gesamten Weltprozess charakterisieren. Gleichsam unterliegt auch der Tourismus unausweichlichen Veränderungen. Wer diese nicht erkennt oder keine Antworten auf neue Fragestellungen findet, wird zukünftig am touristischen Markt nicht mehr bestehen können. Im Zuge der Corona-Pandemie 2020 ist der Tourismus in eine weltweite Krise gestürzt, die eine Zäsur darstellt und grundlegende Veränderungen nach sich ziehen wird. Doch bereits vor der Covid-19-Krise war erkennbar, dass mit den bisherigen ökonomischen Denk- und Handlungsmustern kaum noch Antworten auf die gegenwärtigen touristischen Umfeldveränderungen gefunden werden konnten. Einen überaus deutlichen Hinweis, dass die traditionelle Tourismusindustrie an ihre Grenzen stößt, war die am 22.09.2019 verkündete Insolvenz der Thomas Cook Group. Drei Tage später folgte dann Thomas Cook Deutschland mit seinen vielen hierzulande bekannten Reisemarken wie Neckermann, Bucher, Thomas Cook, Öger Tours etc. und einem im Tourismusjahr 2018/ 19 erzielten Umsatz von rund 3,4 Milliarden Euro. Thomas Cook war der älteste Reiseveranstalter der Welt und bis zur Insolvenz der zweitgrößte Reisekonzern Europas. Bereits zuvor gab es größere Insolvenzen, worunter sich auch mehrere namhafte deutsche Tourismusunternehmen befanden. Erinnert sei beispielsweise an die Pleite von Air Berlin, dem Ferienflieger Germania, dem Reise- 67 H. Seidel. Von Thales bis Platon. Dietz Verlag Berlin 1989, S. 76 S 106 Tourismus neu denken portal Unister (Ab in den Urlaub, Fluege.de u.a.) oder der Reiseveranstalter GTI Travel und JT-Touristik (letztere wurde durch Lidl holidays übernommen). Auch die TUI, Europas größter Reisekonzern, musste in seinem Geschäftsbericht für 2019, also weit vor der Corona-Krise einräumen, dass ein Ergebniswachstum wie in den vorangegangenen Jahren nicht mehr möglich war. 68 Darüber hinaus gibt es viele weitere Alarmzeichen (Overtourismus, Ressourcenprobleme, Spannungen aufgrund ungleicher Teilhabe am Wertschöpfungsprozess, unzureichende Arbeitsbedingungen, Gentrifizierungstendenzen in touristischen Destinationen etc.) die erkennen lassen, dass die bisherige Strategie des stetigen Wachstums bei zunehmend begrenzten touristischen Ressourcen auf Dauer so nicht aufrechterhalten werden kann. Der Tourismus steht defacto an einem Scheidepunkt. Die zuständigen Akteure aus Tourismuswirtschaft, Tourismuspolitik und Tourismuswissenschaft müssen sich entscheiden, ob die bisherigen Produktions-, Denk- und Handlungsweisen beibehalten werden sollen, oder ob für den Tourismus strategisch neue Denkansätze notwendig erscheinen. Hierauf aufbauende Zukunftsprognosen sind vage, aber notwendig, um sich auf künftige Entwicklungen einzustellen und um in geeigneter Weise hierauf Einfluss nehmen zu können. Neue touristische Denkmodelle erscheinen Aussicht auf Erfolg zu haben, wenn sie den veränderten touristischen Umfeld- und Handlungskontexten in ökonomischer, ethischer, sozialer und psychologischer Hinsicht gerecht werden. Neue Denkansätze für den Tourismus werden insbesondere für die sechs nachfolgend aufgeführten strategischen Bereiche vorgeschlagen. 68 Vgl. TUI AG. Bericht Hauptversammlung 2020, S. 3 Tourismus neu denken 107 ➊ Schaffung eines neuen Werteverständnisses für das Produkt Reise Ziel dieses strategischen Ansatzes ist es, die Wertigkeit touristischer Produkte im gesamtgesellschaftlichen Kontext neu zu definieren. Die heutige Wertedefinition erfolgt fast ausschließlich über den Reisepreis, der sich aus der Preiskumulation benötigter Einzelleistungen plus Gewinnmarge ergibt. Diese Wertedefinition ist nicht mehr real, weil in diesem Wertschöpfungsprozess weder die touristischen Umweltbelastungen, der Verbrauch allgemeingesellschaftlicher touristischer Ressourcen noch auszugleichende Defizite in sozialen Standards (niedriger Entlohnung und hohe Arbeitsbelastung der Arbeitnehmer in den touristischen Destinationen) berücksichtigt sind. Notwendig erscheint eine Loslösung von der reinen ökonomischen Kosten-Nutzen-Betrachtung, die primär über den Reisepreis erfolgt. Zudem wird die über den Reisepreis dargestellte Produktwertigkeit seit Jahren durch vielfältige Sonderpreisaktionen untergraben, was zur Folge hat, dass ein reales Preisempfinden für den Wert eines touristischen Produktes bei den Bürgern weitgehend verlorengegangen ist. Um dem jeweiligen touristischen Produkt seine reale Wertigkeit wiederzugeben, muss die touristische Wertschöpfung neu definiert werden, indem sie weitere Kosten wie den touristischen Ressourcenverbrauch, Emissionsausgleichskosten oder Sozialkosten mit einbezieht und diese ins Verhältnis zum Nutzen des Reisenden setzt. Wie bereits im Kapitel 2 dargelegt, sind Urlaubsreisen nicht nur ein individueller Selbstzweck, sondern erfüllen eine zentrale gesellschaftliche Funktion. Denn die Sicherung einer hohen volkswirtschaftlichen Produktivitätsleistung von Arbeitnehmern ist nur durch Regenerationsphasen in Form von Urlaubsreisen, die dem Aspekt der Alltagsferne gerecht werden, möglich. Für die Ermittlung der realen Reisewertigkeit ist es daher notwendig, den jeweiligen Erholungswert einer Reise (Nutzenparameter) mit zu berücksichtigen und den Umwelt- und Ressourcenbelastungswerten wie auch Sozialkosten (Negativparame- 108 Tourismus neu denken ter) entgegenzustellen. Hieraus lässt sich für jede Reise auf relativ einfache Weise ein Reisekoeffizient ermitteln, der sich je nach Höhe der unterschiedlichen Nutzen- und Negativparameter ergibt. Entsprechende Nutzen- und Negativparameter könnten durch die Tourismuswissenschaft in Form von evaluierten Indexwerten ermittelt werden. So ließe sich der Erholungsindexwert beispielsweise über die Reiseart (Badereise, Aktivreise, Städtereise, Gesundheitsreise etc.), die Reiselänge (als Regenerationsfaktor) und ggf. weitere Faktoren festlegen. Dem Erholungswert als Nutzenparameter werden die Umwelt- und Ressourcenbelastungswerte der jeweiligen Reise entgegengestellt. Diese lassen sich gleichfalls durch Indexwerte beziffern, etwa die Verkehrsbelastung des benutzten Reisemittels (CO 2 -Rechner) sowie die jeweilige Ermittlung der Ressourcenbelastung über spezifische allgemeine Aufenthaltskriterien (wie Art der Unterkunft, Beherbergungskategorie, Verpflegungsart, Programmumfang etc.). Für besonders belastete Destinationen (insbesondere vom Overtourismus betroffene Städte und Regionen) erfolgt ein zusätzlicher Ressourcenbelastungsaufschlag. Zudem sollten alle Werte zur Klimakompensation, welche von Reiseveranstaltern oder touristischen Leistungsträgern für die jeweilige Reise erbracht werden, bei den Berechnungen berücksichtigt werden. Beide Parameter (Nutzen- und Negativverbrauchsparameter) ergeben dann einen Koeffizienten, der sich als Wertigkeitsverbrauch beschreiben lässt. Die Grundformel könnte wie folgt aussehen: Tourismus neu denken 109 Erholungswert (ergibt sich aus der Reiseart und Länge des Aufenthaltes) + Wert zur Klimakompensation durch Reiseveranstalter/ Leistungsträger* - Schadstoffverbrauch durch die An- und Abreise (laut Klimarechner) - Ressourcenverbrauch am Aufenthaltsort (für Wasser, Energie, Lebensmittel etc.) mal Aufenthaltstage - Sonderbelastungskoeffizienten für Overtourismus-Orte bzw. -Regionen = individueller touristischer Verbrauchskoeffizient (Wertigkeitsverbrauch) * z.B. Abführung eines Klimakompensationsbetrages, Aufwendungen/ Werte für Klimakompensationsmaßnahmen (Bäume pflanzen etc.) u.ä. Für wesentliche Einzelkriterien könnten Durchschnittswerte festgelegt werden, die ggf. auch den altersspezifischen Verbrauch (z.B. Kinder) mit berücksichtigen. Der so ermittelte touristische Verbrauchskoeffizient wäre mittels eines erweiterten Klimarechners leicht feststellbar. Wird der jeweilige Verbrauchskoeffizient auf den touristischen Kalkulationspreis aufgeschlagen, so entsteht ein realistischer Reisepreis, der die Reise- und Umweltbelastungen einschließt. Die Wertigkeit einer Reise mit den Umweltbelastungen zu verknüpfen, könnte den Widerspruch zwischen Ökonomie und Ökologie minimieren oder möglicherweise überwinden. Diese Umsetzung erscheint nur möglich, wenn sich die Tourismusbranche zu einer flächendeckenden Umsetzung entschließt oder gesetzliche Regelungen dieses vorsehen. Über Angaben in den Reiseprospekten und Hinweisen bei den Beratungsgesprächen würden die Kosten transparent werden und jeder Reisende kann so seinen eigenen Kosten-Nutzen-Verbrauch selbst berechnen, woraufhin sich persönliche Abwägungsentscheidungen treffen lassen. Denn mit dem individuellen touristischen Wertigkeitsverbrauch erhält jeder Reisende eine fassbare Vorstellung, mit welchem Belastungswert seine geplante touristische Aktivität gekoppelt ist. Hieraus ergibt sich eine Lenkungs- 110 Tourismus neu denken wirkung, wenn ein jährlich wissenschaftlich fundierter Koeffizienzwert als Reiserichtwert empfohlen wird. Gleichzeitig könnten hierdurch viele Reisende von ihrer inneren Zerrissenheit befreit werden, welche sich im Konflikt zwischen Umweltschutz und persönlichem Reisewunsch befinden. Um Fernreisen weder anzugreifen noch umweltpolitisch zu verdammen, könnte an die moralische Vernunft appelliert werden, diesen erhöhten Verbrauch in anderen Reisejahren wieder auszugleichen. Ein solches Modell wird gesellschaftlich nur akzeptiert werden, wenn es für den Einzelnen nachvollziehbar ist und als gesellschaftlich nützliches Steuerungselement angesehen wird. Die Aussicht auf Erfolg scheint dann gegeben, wenn die Menschen als selbstbestimmte Wesen ihre Wünsche und Bedürfnisse mit vernunftgeleiteten Entscheidungen zum Kosten-Nutzen-Verbrauch in Einklang bringen können. Gelingt es nicht, geeignete Instrumente zum umweltbewussten Reiseverhalten zu finden, so wird es politisch aufgesetzte Maßnahmen geben. Mit Einsetzen der Diskussion über diese Maßnahmen wird die Reisebranche dann zur getriebenen Institution. ➋ Das touristische Bildungssystem den Zukunftserfordernissen anpassen Die Ausbildungsqualität von Fachkräften und Hochschulabsolventen hat einen entscheidenden Einfluss auf die zukünftige Leistungsfähigkeit der Tourismusbranche. Das gegenwärtige Niveau ist noch ausreichend, wird aber ohne grundlegende Anpassungen den zukünftigen Anforderungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr gerecht werden. Sowohl eine Wissenserweiterung wie auch die qualitative Anhebung des Bildungsniveaus, insbesondere im Hochschulbereich, erscheint unausweichlich, da die Komplexität der touristischen Prozesse zunimmt und die fortschreitende Globalisierung neue Herausforderung mit sich bringt. Hierzu erscheint es in der touristischen Hochschulausbildung notwendig, Tourismus neu denken 111 nach dem Vorbild anderer Wissenschaften, eine klare Systematik zu schaffen, welche sich in Grundlagenfächer (die hochschulübergreifend ähnliche Inhalte besitzen, sich möglichst nicht überschneiden und von allen Studenten durchlaufen werden müssen) und Spezialisierungs- und Vertiefungsangebote aufspaltet. Derzeit stellen die meisten Studienangebote eine Aneinanderreihung unterschiedlicher Module dar, die je nach Hochschule unterschiedlich gewichtet werden. Da die theoretisch vermittelten Wissensinhalte immer weniger mit den praxisorientierten Anforderungen zusammenpassen, erscheint es zudem notwendig, die touristische Hochschulausbildung inhaltlich neu zu justieren. Dabei geht es um die Aufnahme und Verbreiterung von Wissensgrundlagen, die Hochschulabsolventen befähigen, als zukünftige Führungskräfte im Praxisalltag bestehen zu können. Hierzu notwendige Wissensinhalte könnten sein: » Tourismusethik/ Tourismussoziologie Probleme wie etwa Overtourismus, Umweltschutz oder Ressourcenschonung und ökologische Nachhaltigkeit drängen stärker in das Bewusstsein der Menschen und beeinflussen ihre Reisentscheidungen. Die Problemdiskussionen werden in den kommenden Jahren anhalten und sich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch verstärken. Daher benötigen Hochschulabsolventen nicht nur ethisch fundiertes Wissen, um sich der öffentlichen Diskussion glaubhaft stellen zu können, sondern auch ethische Handlungskompetenz, um relevante Entscheidungen treffen zu können, die auf nachvollziehbaren vernunftbasierten Überlegungen beruhen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ethische Handlungsentscheidungen nicht nur immer schneller zu treffen sind, sondern zunehmend komplexer und in ihren Auswirkungen verantwortbarer werden. Eng verbunden mit der Tourismusethik sind tourismussoziologische Problemstellungen. Soziale Umfeldbeziehungen haben Einfluss auf das Reiseverhalten. Zum Untersuchungsgegen- 112 Tourismus neu denken stand der Tourismussoziologie gehört die Beschreibung und Erklärung gesellschaftlicher und kultureller Erscheinungen, Ursachen und Folgen des Tourismus sowie der Wechselwirkungen des Tourismus auf Gesellschaft und Kultur. Wichtiger werden auch Zusammenhänge von Arbeit, Freizeit und Reisen sowie Veränderungen von Sozialstrukturen in touristischen Zielgebieten. » Logik (logisches Denken) Je komplexer ein touristischer Sachverhalt und je weniger operationalisierte Informationen zur Verfügung stehen, umso schwieriger werden Entscheidungen und Situationen, den sich zukünftige Hochschulabsolventen verstärkt stellen müssen. Die derzeitige Tendenz ist, dass Studienanfänger zunehmend weniger in der Lage sind, logische Zusammenhänge zu erfassen und diese zu bewerten. Um diese Schwachstelle auszugleichen, erscheint es sinnvoll, mit geeigneten Handlungsinstrumenten gegenzusteuern. Eine Möglichkeit bietet das Fach Logik. „Die Logik befasst sich mit der Analyse von Aussagen und Beweisen, sie vermittelt klare und prägnante Vorstellungen über das Wesen des deduktiven Schließens, entwickelt das funktionale Denken und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung eines wissenschaftlichen und schöpferischen Denkverhaltens.“ 69 Bereits die Vermittlung von Grundlagen der zweiwertigen Logik schult nicht nur die Analysefähigkeiten, sondern gibt zugleich einfache Entscheidungsinstrumente an die Hand, die besonders für Evaluierungen hilfreich erscheinen. » Tourismuspsychologie Tourismuspsychologie beschäftigt sich mit allen verhaltens- und erlebnisorientierten Aspekten, welche im Zusammenhang mit Reise- und Urlaubsaktivitäten stehen. Sie reichen vom in- 69 Autorenkollektiv. Mathematische Logik, Mengenlehre, Zahlenbereiche. Verlag Volk und Wissen Berlin 1979, S. 13 Tourismus neu denken 113 dividuellen Reisemotiv, über Wirkungsaspekte der Werbebegegnung, der Reiseberatung, Reiseentscheidungsprozesse, dem unmittelbaren Reise- und Urlaubserleben bis hin zur Urlaubserinnerung nach Beendigung einer Reise. Tourismuspsychologische Grundkenntnisse werden besonders für die Beratung und die Betreuung der Gäste vor Ort immer bedeutsamer, weil Handlungskompetenzen zu Reiseentscheidungskonflikten, Flugangst, traumatischen Belastungsstörungen, Wirkung von Reiseinformationen auf potentielle Kunden, Rollenverhalten in Urlaubssituationen, Entstehung von Urlaubsgefühlen, Empfinden von Urlaubsstress, Verarbeitung von Urlaubserlebnissen usw. zwingend notwendig sind. Im Studium wird hierüber de facto kein Wissen vermittelt. » Interkulturelle Kompetenz und interdisziplinäre Zusammenarbeit Tourismus agiert global, weshalb interkulturelles Wissen und dessen Handlungskompetenz für den Unternehmenserfolg mitentscheidend sind. Dort, wo noch keine entsprechenden Lehrangebote bestehen, sollten diese eingeführt werden. Vielfach schwach ausgeprägt ist noch der Gedanke in Bezug auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die Vermittlung interkultureller Kompetenzen sollte mit Inhalten der interdisziplinären Zusammenarbeit verknüpft werden. Bedingt durch die Globalisierung und eine zunehmende Komplexität schließt die Stärkung des beruflichen Selbstverständnisses vom Interkulturellen Handeln oft die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen und Branchen ein. In der Tourismuswissenschaft setzt sich erst langsam eine integrative Auffassung durch, welche verschiedene Wissensgebiete nicht mehr voneinander losgelöst betrachtet. In der Satzung der Deutsche Gesellschaft für Tourismuswirtschaft (DGT) ist bereits das 114 Tourismus neu denken Ziel formuliert: „[...] zur Etablierung einer sich interdisziplinär verstehenden Tourismuswissenschaft beizutragen.“ 70 Zu überlegen ist, welche weiteren Sachverhalte geeignet erscheinen, damit Hochschulabsolventen in die Lage versetzt werden, zukünftige Anforderungen bewältigen zu können. Denkbar wären hier Aspekte wie Kreativität oder Selbstorganisation. ➌ Die Tourismuswissenschaft effektivieren Mit der Schließung zahlreicher touristischer Fakultäten und Lehrbereiche an Universitäten geht ein gravierender wissenschaftlicher Bedeutungsverlust einher, der von den Fachhochschulen nicht vollumfänglich kompensiert werden kann. Nur durch gemeinsame wissenschaftliche Kraftanstrengungen der bestehenden Hochschulen kann es gelingen, die wissenschaftliche Bedeutsamkeit des Tourismus zu steigern. Um dieses zu erreichen, sind mehrere Veränderungen angezeigt: » Die Tourismusforschung ist noch sehr deskriptiv ausgerichtet, welche sich stark auf Daten und sonstige statistische Erhebungen konzentriert, um abgelaufene Sachverhalte zu beschreiben. Wichtiger erscheint ein stärkeres Aufgreifen von anwendungsorientierten Problemsachverhalten und eine Erarbeitung längerfristiger Entwicklungsprognosen, welche auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen basieren. » Die Etablierung einer echten Fachzeitschrift, über die wissenschaftliche Ergebnisse publiziert werden, Innovationsanregungen geschaffen werden und interdisziplinäre Gastbeiträge Einblicke in andere Wissenschaftsbereiche vermitteln. 70 Deutsche Gesellschaft für Tourismuswissenschaft (DGT). Satzung § 2 Nr. 4. (Stand: 30.11.2003, laut Internetrecherche vom 27.06.2020) Tourismus neu denken 115 » Sicherung der Wissensqualität durch gegenseitigen Wissenstransfer sowie Hebung des Wissens durch praxisorientierte Weiterbildungsangebote für Touristiker durch die Hochschulen. » Identifizierung und Aufbau zukunftsträchtiger Tourismuscluster einschließlich der Entwicklung von Zukunftsvisionen. Während in fast alle Wissenschaften eine beständig fortschreibende Reflexion ihrer eigenen Wissenschaft (Geschichte der Medizin, Physik, Philosophie usw.) stattfindet, gibt es innerhalb der Tourismuswissenschaft keine systematische Tourismusgeschichte. Ohne eine fundierte historische Entwicklungsreflexion ist es schwierig, eine Standortbestimmung und eine hierauf aufbauende Strategie zu entwerfen. Wie wenig touristische Produkte und die damit verbundene Geschichte reflektiert werden, zeigt sich u.a. daran, dass es in Deutschland, abgesehen von einem kleinen privaten Museum, kein Tourismusmuseum einschließlich eines zugehörigen wissenschaftlichen Dokumentationsarchives gibt. ➍ Die tourismuspolitische Struktursystematik verbessern und stärken Für Außenstehende stellt die tourismuspolitische Systematik des Deutschland-Tourismus ein Wirrwarr dar. Auf gleicher Ebene gibt es unterschiedliche Rechtsformen oder unterschiedliche Ansprechpartner. Zudem bestehen unterschiedliche Hierarchiestufen, Zuständigkeiten und Strategieansätze. Um die tourismuspolitische Struktur zu stärken, erscheinen folgende Zielausrichtungen angebracht: » Effizientere Strukturen schaffen und sich auf neue Aufgabenfelder konzentrieren Unabhängig von den länderhoheitlichen Gegebenheiten würden klarerer Strukturen für mehr Effizienz und Informationsdurchlässigkeit, insbesondere für interessierte Bürger sorgen. Die Strukturgestaltung hinkt der tatsächlichen Lebenswirk- 116 Tourismus neu denken lichkeit oft hinterher, insbesondere weil sich mit der Digitalisierung das Informations- und Nachfrageverhalten grundlegend geändert hat. Nachfrager informieren sich verstärkt online, buchen direkt über die Homepage der Anbieter und suchen sich Informationen zu Sehenswürdigkeiten oder Wanderwegen im Internet, was zu Veränderungen der klassischen Aufgaben im regionalen Fremdenverkehr führt. Will man die bestehenden regionalen touristischen Kompetenzen weiterhin nutzen und erhalten, so sind neue Strategiekonzepte notwendig, um diese in der Regel mit öffentlichen Geldern finanzierten Einrichtungen rechtfertigen zu können. Daher erscheint es sinnvoll, sich auf gemeinförderliche Dienstleistungsfelder zu konzentrieren, die das Internet nicht leisten kann. Hierzu gehören etwa das Coaching der Beherbergungsbetriebe und touristischer Leistungsträger, die Erschließung neuer Wertschöpfungspotenziale, Netzwerkbildung, Überwindung der Cultural lag-Erscheinungen und anderes. Die Erstellung pauschalisierter Angebote erscheint nur sinnvoll, wenn das Reiseangebot ein Gesamtprodukt darstellt, dass weder durch Einzelanbieter erstellt werden kann noch die Nachfragen sich selbst im Internet zusammenstellen können. » Die politische Gewichtung entsprechend seiner wirtschaftlichen Bedeutung anpassen Will man die Tourismusentwicklung in Deutschland nachhaltig begleiten und fördern, so bedarf es einer neuen politischen Gewichtung des Tourismus entsprechend seiner wirtschaftlichen Größe. Zwar gibt es in der Bundesregierung mittlerweile einen Staatssekretär für Tourismus und viele der zuständigen Landesministerien tragen jetzt im Ministeriumsnamen den Begriff Tourismus. Entscheidender für die Tourismusentwicklung wird ihr zukünftiger politischer Einfluss sein. Bei einer finanziellen und ressourcenbezogenen Verknappung an Zuwendungen, womit längerfristig zu rechnen ist, hängt es vom politischen Gewicht ab, wie groß die förderfähigen Handlungsspielräume zukünftig sein werden. Nur durch günstige Tourismus neu denken 117 Rahmenbedingungen wird es möglich sein, nicht nur den hohen Anteil an der Bruttowertschöpfung und der Anzahl Beschäftigter im Tourismusbereich zu stützen, sondern auf zukünftig wichtige Entscheidungsfragen hinsichtlich Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Reiseverhalten etc. mit Einfluss nehmen zu können. » Multioptionale Angebote schaffen Der Deutschland-Tourismus wird sich qualitativ nur fortentwickeln können, wenn flächendeckend multioptionale Angebote geschaffen werden, die den Interessen und Bedürfnissen der Nachfrager entsprechen. Ein Zusammenfügen von Einzelleistungen zu einem strukturierten Angebot reicht bereits heute vielfach nicht mehr aus, um die gestiegenen Kundenerwartungen zu befriedigen. Das Gesamtpaket muss mehr sein als die Summe seiner Einzelteile. Das Grundprinzip der Übersummativität verkörpert heute das neue Reise- und Gästeerlebnis. 71 Diese Umsetzung setzt neue Denkansätze voraus. ➎ Die Grenzen des Machbaren realistisch einschätzen Die Tourismusentwicklung kann nicht losgelöst von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen betrachtet werden. Digitalisierung und künstliche Intelligenz spielen hier eine zentrale Rolle. Auch wenn der technologische Fortschritt für den Tourismus eine Vielzahl von Vorteilen bringt, etwa im technologischen Erstellungsprozess von Reiseleistungen, sollten die Grenzen des Machbaren kritisch hinterfragt werden. Hierzu gehören: » Das Bewusstsein für fehlerhafte Konsequenzen stärken Die Reisebranche hat seit der START-Einführung im Jahr 1971 beständig auf den technischen Fortschritt gesetzt, ohne mögliche Konsequenzen und deren längerfristige Folgen ernsthaft 71 H.-Peter Herrmann. Psychologisches Tourismusmarketing. Springer-Verlag Wiesbaden 2018, S. 41 118 Tourismus neu denken zu hinterfragen. Dieses wird wichtiger, denn strategische Fehleinschätzungen haben heute wesentlich gravierendere Konsequenzen als noch vor 10 oder 15 Jahren, weil [1] Touristische Entscheidungen immer komplexer und damit deren Folgen schwerwiegender werden, [2] Touristische Prozesse nicht nur immer schneller ablaufen, sondern auch eine kürzere Wirkungsdauer haben, was zur Schwierigkeit führt, diese Fehler in diesen Wirkungszeiträumen korrigieren zu können, und [3] Entscheidungen, die strategische Fehlentwicklungen in sich tragen, von den nichtklassischen Unternehmen am Tourismusmarkt konsequent genutzt werden, um Konkurrenten aus dem Markt zu drängen. » Die Technikfolgeabschätzung für den Tourismus kritisch hinterfragen Eine umfassende Technikfolgeabwägung für den Tourismusbereich erscheint sinnvoll, weil sich immer mehr ungelöste Fragen zur künstlichen Intelligenz herauskristallisieren, welche für den Tourismus existenziell erscheinen. So kann etwa künstliche Intelligenz gegenwärtige Handlungssituationen analysieren und bewerten und hierzu optimale Lösungsvorschläge anbieten. Sie kann nicht nachgeordnete Reisesachverhalte in das Bewertungssystem einbeziehen. Ein anderer Sachverhalt betrifft die Empathie, welche die Grundlage unserer menschlichen Beziehungen darstellt. Da künstliche Intelligenz auf Logarithmen beruht, die widerspruchsfreie Lösungen erarbeiten, können menschenähnliche Wesen mit künstlicher Intelligenz keine echte Empathie zu anderen Menschen aufbauen. Nur wer eigene Erfahrungen von Freude und Schmerz durchlebt hat, ist in der Lage, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und sie sinnlich zu verstehen. Wesen mit künstlicher Intelligenz fehlen diese Erfahrungen, weshalb sie etwa bei der Reiseberatung oder bei der Gästebetreuung an ihre Grenzen stoßen werden. Tourismus neu denken 119 » Trends hinreichend berücksichtigen Die permanente Technologisierung in vielen Bereichen, insbesondere die damit verbundene Informationsflut, wird zunehmend als Belastung empfunden. Daher sollte bedacht werden, dass ein stärkeres Streben nach Auszeiten vom technikgetriebenen Alltag in Form eines Gegentrend entsteht. Der Tourismus wird von diesem Trend nur partizipieren können, wenn der Urlaub eine Auszeit vom technikbasierten Alltag bietet. ➏ Aufbau intermodaler Strukturen Vieles deutet darauf hin, dass sich aufgrund zunehmender Interessens- und Bedürfnisdifferenzierungen in den Industriestaaten eine multioptionale Freizeitgesellschaft entwickelt. Wesentliche Bedingungen hierzu, wie vielfältige Freizeitangebote, ein größeres Freizeitbudget oder eine zunehmende Lebensspanne, in der Menschen nach ihrem Berufsleben sinnhaften Freizeitbetätigungen nachgehen, sind bereits gegeben. Auch wenn die Bundesbürger nicht auf Reisen verzichten wollen, steht die klassische Tourismuswirtschaft in zunehmender Konkurrenz zu anderen Freizeitanbietern. Die Tourismusbranche wird sich der Notwendigkeit eines „intermodalen Denkens“ nicht verschließen können, um den immer stärkeren Wunsch der Kunden nach übergreifenden Erlebnisinhalten gerecht zu werden. Das Zusammenfügen von Einzelleistungen zu einem strukturierten Pauschalangebot reicht bereits heute nicht mehr aus, um Kundenerwartungen vollumfänglich zu befriedigen. Das erlebbare Gesamtreisepaket muss mehr sein als die Summe seiner Einzelteile. Aus diesem Grund steht die Tourismusbranche vor der strategischen Herausforderung, die eigenen Angebote zunehmend zu multioptionalen Angeboten zu vernetzen. Gelingt dieses nicht, so läuft sie Gefahr, ihre Eigenständigkeit zu verlieren und Teil einer größeren Freizeitindustrie zu werden. Im Tourismus vollziehen sich gegenwärtig rasante Veränderungen, die zugleich grundlegend neue Probleme aufwerfen. Da sich 120 Tourismus neu denken die neuen Probleme immer schwerer mit den bisherigen Denk- und Handlungsmustern bewältigen lassen, sind neue Ansätze unausweichlich. Den Tourismus in dieser Situation neu zu denken, ist ein wesentlicher Schritt, um sich den rasanten Umfeldveränderungen stellen zu können. Auch im Tourismus gilt der Hegelsche Satz: „Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so tritt sie in die Existenz.“ Veränderungen werden sich ihren Weg bahnen und nichts zu tun wäre die schlechteste aller Optionen. 11 Die Zukunft des Tourismus ukunftsprognosen sind schwierig, aber notwendig, um sich auf künftige Entwicklungen einzustellen und im Idealfall diese mit zu beeinflussen. Prognosen stützen sich besonders auf vergangene und gegenwärtige Ereignisse, um hieraus Tendenzen abzulesen, die Hinweise auf Zukünftiges geben. Heinrich Heine hat hierzu einmal trefflich vermerkt: „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.“ 72 Als relativ sicher kann angenommen werden, dass das Bedürfnis nach Urlaub und Reisen auch weiterhin stark ausgeprägt sein wird. Motive wie Erholung, Erkundungsfreude, familiäre Zeit- und Bindungserlebnisse wie auch der generalisierte Wunsch nach Alltagsferne weisen über die Lebensspanne bei fast allen Bürgern relativ stabile Dispositionen auf. Diese überdauern auch Krisen und werden zukünftig die Grundtriebfedern des Reisens bleiben. Die bisher ausgelösten Krisen, wie beispielsweise nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York, nach dem Ausbruch der Vogelgrippe (H5N1) im Jahr 2003 oder die weltweite Finanz- und Bankenkrise 2008/ 09 haben gezeigt, dass sich der Tourismus hiervon nach etwa zwei bis drei Jahren wieder vollumfänglich erholt hat. Daher besteht die Hoffnung, dass nach Überwindung der Anfang 2020 aufgetretenden Corona-Pandemie eine ähnliche Normalisierung stattfindet. Wie schnell die Überwindung dieser Krise gelingt, wird stark von deren Folgewirkungen abhängen, die alle Lebensbereiche betroffen haben. Das grundlegende touristische Geschäftsmodell, bestehend aus Nachfragern (Reisekunden), Anbietern (Reiseveranstalter und touristische Leistungsträger) sowie den Vermittlern 72 H. Heine. Französische Zustände. In: H.Heine: Werke und Briefe, Bd. 4, Berlin 1961, S. 448 Z 122 Tourismus neu denken (Reisemittler) wird auch weiterhin Bestand haben. Was sich verändern wird, sind die Umfeldbedingungen, in denen der Tourismus agiert wie auch die sich stärker verändernden Interessen und Bedürfnisse der Nachfrager. Sichtbare Zeichen werden beispielsweise Neuregelungen von Geschäftsbeziehungen im Tourismusbereich, sich verändernde Zahlungsströme zwischen den touristischen Unternehmen, kürzere Vorausbuchungs- und Zahlungsfristen der Reisekunden, neue Vergütungssysteme der Reisevermittlung, veränderte Reiseproduktpräferenzen sein. Die touristische Welt bleibt zwar erhalten, wird aber nach der Krise eine andere sein. Unternehmen, die sich auf diese Veränderungen einstellen, haben Chancen weiter am Markt bestehen zu können. Der Tourismus ist wegen seines hohen Globalisierungsgrades bei auftretenden Krisen besonders anfällig. Das von US-Präsident Donald Trump am 12.03.2020 per Dekret beschlossene Einreiseverbot für alle EU-Bürger aus dem Schengener Raum sowie Grenzschließungen in vielen Ländern führte von diesem Tag an nicht nur zu weltweit gravierenden Kursverlusten, sondern defacto zum Beginn des weltweiten touristischen Stillstands. Die bisherige Reiseentwicklung wird von der Tourismuswissenschaft in vier große Epochen unterteilt. Der Vorphase, welche bis ca. 1850 terminiert ist, schließt sich die Anfangsphase an, welche 1914 durch den Ersten Weltkrieg zum Erliegen kam. Die darauffolgende Entwicklungsphase endete mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Nach diesem Modell befanden wir uns bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie in der Hochphase, welche nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. 73 In der bisherigen Tourismusgeschichte folgte nach jedem weltweiten Einbruch ein massives Wachstum, welches die vorherige Epoche um ein Weites übertraf. Da die bisherigen Phasen jeweils durch einen weltweiten touristischen Stillstand gekennzeichnet waren, ist es nach dem Einschnitt durch die Corona-Pandemie nicht unwahrscheinlich, dass wir an 73 Vgl. W. Freyer. Tourismus. Oldenbourg-Verlag München 2006, S. 10 Die Zukunft des Tourismus 123 der Schwelle einer neuen touristischen Entwicklungsphase stehen. Diese neue Entwicklungsphase könnte durch eine neue touristische Qualität gekennzeichnet sein, welche sich durch individuelle Anpassungen und ein bewussteres Reiseverhalten auszeichnet. Die durch das Corona-Virus ausgelöste Krise unterscheidet sich vom Terroranschlag 2001 oder der Finanzkrise 2008/ 09 dadurch, dass diese von den Menschen als wesentlich unmittelbarer, emotionaler und teilweise als gefährlicher erlebt wurde. Dieses Empfinden hinterlässt tiefergehende Gedächtnisspuren, welche bei einem Teil der Bevölkerung zu längerfristigen Verhaltensänderungen führen könnte. Viele Menschen werden nach dieser Krise ihr bisheriges Leben stärker reflektieren und verhaltenssensibilisierter agieren. Das nun bewusstere Leben wird auch zukünftige Reiseaktivitäten miteinschließen. Diese Verhaltensänderungen korrelieren mit notwendigen Einstellungsänderungen in Bezug auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit, welche unabdingbar sind, um die Zukunft des globalen Tourismus zu erhalten. Die durchlebte Corona-Pandemie könnte daher dazu beitragen, dass notwendige positive Einstellungsänderungen nun schneller vollzogen werden. Eine Notwendigkeit, denn die durch den Klimawandel hervorgerufenen Veränderungen treten immer sichtbarer zutage und sind bereits heute teilweise irreparabel. Als bereits wissenschaftlich gesichert gilt, dass als Folge des Klimawandels eine Reihe von touristischen Trauminseln ganz oder teilweise verschwinden werden. Hierzu zählt die beliebte Inselgruppe der Malediven, welche durch ihre geringen Erhebungen von maximal 2,4 Meter mit steigendem Meeresspiegel langsam überspült wird. Karibische Inseln werden von zunehmend stärkeren Hurrikans heimgesucht und andere Gebiete von starken Monsunregen überschwemmt, so dass sich die regelmäßige Reparatur touristischer Infrastrukturen in verschiedenen Regionen nicht mehr rechnen wird. Andere Zielgebiete werden durch das Verschwinden ihrer Naturparadiese oder dem Ausbleiben von Schnee uninteressant. Hinzu kommen zunehmende Ressourcen- und Kapazitätsprobleme in vielen touristischen Hotspots, welche sich mit 124 Tourismus neu denken dem Begriff Overtourismus beschreiben lassen. Nationale Anstrengungen zum Umwelt- und Klimaschutz sind wichtig, aber die touristischen Probleme lassen sich nur global lösen. Zu den vordringlichen Aufgaben gehören: » das Erreichen einer schnellen Klimaneutralität im gesamten Tourismusbereich, » der konsequente Schutz bestehender natursensibler Gebiete vor touristischen Eingriffen, » die Schaffung intelligenter Lenkungsmechanismen, um Städte und Regionen vor dem Overtourismus zu schützen bzw. diese zu entlasten, » eine effektivere Nutzung vorhandener Ressourcen durch höhere Auslastungsquoten und die Entzerrung saisonaler Nutzungen, » touristische Förderprogramme und -mechanismen so einsetzen, dass sie eine ökologische wie soziale nachhaltige Wirkung entfalten, » die touristische Attraktivität von benachteiligten Gebieten durch weitergehende differenzierte Angebote fördern, » das Schaffen von Einstellungsänderungen hin zum bewussteren Reisen und » die Gewährleistung der Teilhabe im Tourismus beschäftigter Menschen am Wertschöpfungsprozess sowie die Durchsetzung der Einhaltung von Sozialstandards. Weil für viele Staaten die Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft existenziell wichtig sind, kann davon ausgegangen werden, dass nach der Corona-Krise sehr viel unternommen wird, um den Tourismus wieder zu seiner alten Stärke zurückzuführen. Daher ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die bisherige atemberaubende Tourismusentwicklung, die sich seit der ersten organisierten Pauschalreise im Jahr 1841 vollzogen hat, zunächst fortsetzt. Der weltgrößte private Branchenverband World Travel & Tou- Die Zukunft des Tourismus 125 rism Council (WTTC) geht davon aus, dass das von Tourismus geschaffene globale Bruttoinlandsprodukt (Bruttowertschöpfung), welches vor der Krise bei 10,4 Prozent lag, innerhalb von 10 Jahren auf 11,4 Prozent steigt und zugleich weltweit 100 Millionen neue Jobs entstehen. 74 Die hohe Zahl an neuen Jobs erscheint nicht unrealistisch, da der Tourismus im Vergleich zu anderen Branchen ein weitaus geringeres Rationalisierungspotenzial besitzt und arbeitskräfteintensiv bleiben wird. Dennoch handelt es sich um sehr ambitionierte Prognosen, weil sowohl klimapolitische Forderungen wie auch die stetig knapper werdenden Ressourcen diese Wachstumsambitionen überlagern. Auf lange Sicht wird touristisches Wachstum nur möglich sein, wenn es gelingt, eine Balance zwischen Reisenachfrage und Verträglichkeit herzustellen. Unter der Annahme, dass sich nach Überwindung der Corona- Krise das bisherige regional differenzierte Wachstum fortsetzt, werden sich die touristischen Gewichte weltweit verschieben. Denn seit Jahren fallen die touristischen Wachstumsraten in China und Indien deutlich höher aus als in den bisher traditionellen Reisenationen USA, Deutschland oder Japan. Nach WTTC-Berechnungen wird China, gemessen an der touristischen Wertschöpfung die USA spätestens in 10 Jahren überholt haben und auf Platz 1 liegen. Indien wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die derzeit vor ihm liegenden Nationen Frankreich, Italien, Großbritannien, Deutschland überholen und dann hinter den USA und vor Japan auf Platz 3 liegen. Bereits rund die Hälfte der weltweit reisenden Touristen (gezählte internationale touristische Ankünfte) sind Nichteuropäer. Mit der Verschiebung von Reiseströmen wird sich zugleich die Gewichtung von Quellenmärkten verändern. Reisende sind weltweit gern gesehene Gäste, weil sie Einnahmen generieren. Wie dynamisch sich diese Outgoing- Entwicklung derzeit in China vollzieht, zeigt sich eindrucksvoll an 74 Vgl. Klaus Hildebrabd. Yes, we can: Touristik, die treibende Kraft. In fvw Nr. 8/ 2019, FVW Medien GmbH Hamburg S. 19 126 Tourismus neu denken den Reiseentwicklungszahlen. Waren im Jahr 2001 erst 12 Millionen chinesische Bürger im Ausland unterwegs, so wurden 2016 bereits 136,8 Millionen Touristen gezählt. WTTC-Prognosen gehen bis zum Jahr 2030 von 300 bis 400 Millionen Auslandsreisen chinesischer Bürger aus. Zugleich folgen bereits chinesische Tourismusunternehmen und Kapitalgeber ihren reisefreudigen Landsleuten und investieren kräftig in das internationale Reisegeschäft. Größere Übernahmen, wie der Kauf der französischen Louvre Hotels, der Golden Tulip-Hotels, der Beteiligung am Club Med, an den NH-Hotels oder am Geschäftsreisespezialisten Carlson/ Rezidor sorgten bereits für entsprechende Aufmerksamkeit. Zudem sind chinesische Unternehmen an diversen ausländischen Airlines und anderen touristischen Leistungsträgern beteiligt. Da war es fast schon symbolhaft, dass der chinesische Mischkonzern Fosun sich nach der Insolvenz die Namensrechte an Thomas Cook, dem weltältesten Reiseveranstalter, sicherte. China hat sich selbst zu einem der weltweit beliebtesten Reiseländer entwickelt. Im Jahr 2019 besuchten nach Berechnungen des Deutschen Reiseverbandes (DRV) 67,6 Millionen Touristen aus aller Welt China. Damit lag China im Besucherranking hinter Frankreich, Spanien und den USA weltweit auf Rang vier. 75 Um den Incoming-Tourismus weiter zu forcieren hat Chinas größter Reisemittler Ctrip die weltweit agierenden Buchungsportale Skyscanner und Trip.com gekauft. Die touristische Infrastruktur des Landes in Form von Hotels, Flughäfen, Zugverbindungen u.ä. hat einen hohen Qualitätsstandard erreicht und wird beständig ausgebaut. Diese Entwicklungseinschätzung wird sowohl von den Touristen wie auch durch Experten und internationale Vergleichsstudien gestützt. So befinden sich beispielsweise von den 60 weltweit größten Airlines, die jährlich im weltweiten Airline Safety Ranking vom Jet Airliner Crash Data Evaluation Centre (JACDEC) ermittelt werden, regelmäßig sieben bis acht chinesi- 75 Vgl. DRV. Der deutsche Reisemarkt. Zahlen und Fakten 2019. Deutscher Reiseverband Berlin 2020, S. 23 Die Zukunft des Tourismus 127 sche Airlines unter den sichersten Airlines der Welt. Namentlich sind es die Cathy Pacific Airways (CX), Hainan Airlines (HU), Sichuan Airline (3U), Shenzhen Airlines (ZH), China Eastern Airlines (MU), Air China (CA), China Southern Airlines (CZ) und Xiamen Airlines (MF). Dass man sich mit der erreichten Stellung im internationalen Flugverkehr nicht zufriedengibt, zeigt sich in der Entwicklung eigener Passagierflugzeuge. Ein erster eigenentwickelter Flugzeugtyp mit der Bezeichnung C 919 startete am 5. Mai 2017 zu Testflügen. Damit hat der chinesische Flugzeugbauer Comac nach nur acht Jahren Entwicklungszeit eine zweistrahlige Passagiermaschine mit einer Reichweite von 4.075 km und der Größe eines Mittelstreckenjets entwickelt, die in Konkurrenz zu den von Airbus und Boeing gebauten Erfolgsmodellen A 320 und B 737 tritt. Es dürfte damit zu rechnen sein, dass die Bestellungen dieses Typs von chinesischen Airlines in den kommenden Jahren allein schon in die Tausende gehen dürften. In Planung befindet sich bei Comac bereits die C 929, ein Langstreckenjet für 300 Passagiere und mit 9.000 km Reichweite. Mit den Grundmustern eines Mittel- und Langstreckenflugzeugs, die sich weiter ausdifferenzieren lassen und in hohen Stückzahlen produziert werden, betritt mit Comac gegenwärtig ein Konkurrent auf die Weltbühne, der die bipolare Marktbeherrschung von Airbus und Boeing durchbrechen könnte. China ist nach den USA und vor Deutschland an Teilnehmern gemessen bereits der zweitgrößte Kreuzfahrtmarkt in der Welt. Die Ankündigung, aufgrund rasant steigender Nachfrage eine eigene Kreuzfahrtindustrie aufzubauen, zeigt, wohin die Reise gehen soll. Aufgrund der Entwicklungsdynamik im asiatischen Raum werden sich die globalen touristischen Entscheidungen wie auch Reisetrends von Europa/ Nordamerika nach Asien verlagern. Damit vergrößert sich nicht nur die touristische Vielfalt, sondern die Verschiebung des Welttourismus wird Auswirkungen auf kulturelle touristische Werteprägungen haben. Sie wird touristische Denkweisen wie auch strategische Entscheidungen nachhaltig beeinflussen. 128 Tourismus neu denken Auf Deutschland bezogen wird der Tourismus auch weiterhin einen bedeutenden Platz einnehmen, sowohl beim Outgoingwie auch beim Incoming-Tourismus. Als Reiseland, welches für ausländische Besucher besonders wegen seiner guten touristischen Infrastruktur, der abwechslungsreichen Landschaft, einem hohen touristischen Service wie auch hinreichender Sicherheit geschätzt wird, dürfte sich weiterhin unter den Top Ten der weltweit beliebtesten Länder halten. Veränderungen wird es hinsichtlich der bisherigen Quellenmärkte geben, die sich wahrscheinlich weiter in Richtung Asien verschieben werden. Die Freude der Bundesbürger am Reisen wird ebenfalls erhalten bleiben. In Folge der Krisenauswirkungen ist damit zu rechnen, dass die Reiseintensität abflachen wird. Der Urlaub ist für die Mehrheit der Bundesbürger ein wichtiges Gut. Wie frühere Untersuchungen zeigen, sind die Menschen tendenziell eher bereit, auf andere Güter als auf den Urlaub zu verzichten. Daher ist davon auszugehen, dass die Anzahl von Zweit- und Drittreisen abnehmen wird und die Haupturlaubsreise sich möglicherweise verkürzen wird, aber die Reiseintensität auf einem hohen Niveau verbleiben wird. Ob allerding der im Jahr 2019 überaus hohe Wert von 78,2 Prozent Reiseintensität nach Überwindung der Corona-Krise wieder erreicht werden kann, wird dann sehr von der Arbeitsmarktsituation und der finanziellen Belastung der Bürger abhängen. Die überwiegende Mehrheit der Reisenden wird weiterhin eine Auslandsreise unternehmen. Im Jahr 2019 waren 74 Prozent aller Reisen eine Auslandsreise. Dennoch dürfte sich der Anteil an Bundesbürgern, die ihren Urlaub im eigenen Land verbringen (Binnentourismus), langfristig erhöhen. Hierfür sprechen die Corona-Nacheffekte wie auch die demografische Entwicklung. Für viele Orte und Regionen ist Tourismus der wichtigste Wirtschaftsfaktor und damit existenziell bedeutend. Derzeit befindet sich Deutschland mit seiner touristischen Wertschöpfung im weltweiten Ranking auf Platz 4 und ist damit zugleich die größte europäische touristische Nation. Nach gegenwärtigen Einschätzungen wird der Tourismus in Deutschland mittelfristig weiterwachsen. Trotz dieses Wachstums Die Zukunft des Tourismus 129 wird Deutschland nach Berechnungen der WTTC seinen jetzigen Rankingplatz nicht halten können und in den kommenden 10 Jahren auf Platz 5 abrutschen. Mit den sich verändernden Umfeldbedingungen aufgrund des weiteren technischen Fortschritts wird es touristische Marktanpassungen geben. Das Bedürfnis nach Erholung, Alltagsferne und neuen Erlebnissen ist universell und wird unabhängig von Marktsituationen ein beständig starkes Reisemotiv bleiben. Schon J.W. Goethe wusste um die Erlebnisvielfalt, welche sich auf Reisen bietet. So schrieb er in einem Brief an den Philosophen und Schriftsteller Friedrich Heinrich Jacobi: „[...] denn man reist doch wahrlich nicht, um auf jeder Station einerlei zu sehen und zu hören.“ 76 Die Klammer zwischen Tradition und Moderne ist die Faszination und das Erleben von Neuem auf Reisen. Solange der Tourismus seine Faszination bewahrt, wird das private Reisen für Menschen ein erstrebenswertes Ziel bleiben. 76 J.W. v. Goethe. Zitat aus einem Brief an F.H. Jacobi im Jahr 1792. Goethes Band 2/ 179. Reise nach Frankfurt a.M., 151 Epilog eisetätigkeiten im Sinne von zeitweiligen Ortsveränderungen gibt es seit Bestehen der Menschheit. Erst mit der Erfindung der Dampfmaschine waren die entscheidenden Voraussetzungen zur Entwicklung des Massentourismus gegeben. Moderne Verkehrsmittel ermöglichten es nun, größere Menschenmassen schnell und preisgünstig über weite Distanzen von A nach B zu befördern. Die Epochen des modernen Reiseverkehrs wurden durch zwei Weltkriege unterbrochen, welche zum Stillstand des Tourismus geführt hatten. Mit der Corona-Pandemie 2020 ist der weltweite Tourismus erneut zum Erliegen gekommen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Tourismus an der Schwelle einer neuen Entwicklungsepoche steht, die wahrscheinlich sowohl durch individuellere Bedürfnisanpassungen wie durch ein umweltbewussteres Reiseverhalten gekennzeichnet sein dürfte. In der bisherigen Tourismusgeschichte folgte nach jedem weltweiten Einbruch ein massives Wachstum, welches die vorherige Epoche um ein Weites übertroffen hat. Da sowohl das individuelle Bedürfnis nach Reisen weiterhin stark ausgeprägt sein wird, sowie viele Staaten große Anstrengungen unternehmen werden, um touristische Einnahmen zu generieren, ist mit einem wiederbelebten touristischen Wachstum nach der jetzigen Krise zu rechnen. Wie schnell die Überwindung dieser Krise gelingt, wird stark von deren Folgewirkungen abhängen. Das grundlegende touristische Geschäftsmodell, bestehend aus Nachfragern, Anbietern sowie Reisemittlern, wird auch weiterhin Bestand haben. Was sich verändern wird, sind die Umfeldbedingungen, in denen der Tourismus agiert. Die Frage ist deshalb nicht, ob Tourismus stattfindet, sondern wie sich Tourismus zukünftig im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie und unter Einbeziehung von ethi- R 132 Tourismus neu denken schen, sozialen und psychologischen Fragen sinnvoll gestalten lässt. Bereits vor der Krise war erkennbar, dass mit den bisherigen ökonomischen Denk- und Haltungsmustern kaum noch Antworten auf die gegenwärtigen touristischen Umfeldveränderungen gefunden werden konnten. Ein überaus deutlicher Hinweis war nach den Insolvenzen namhafter touristischer Unternehmen wie Air Berlin, Germania, Unister, JT-Touristik die Insolvenz der Thomas Cook Group im September 2019, dem bis dahin zweitgrößten Reisekonzern Europas. Mit der weltweiten rasanten Tourismusentwicklung sind nicht nur die Probleme von Umweltschutz und Nachhaltigkeit in den Fokus gerückt. Darüber hinaus sind viele weitere Problemfelder entstanden, die einer Lösung bedürfen. Hierzu zählen Ressourcenprobleme, Spannungen aufgrund ungleicher Teilhabe am Wertschöpfungsprozess, unzureichende Arbeitsbedingungen, Gentrifizierungstendenzen in touristischen Destinationen und vieles mehr. Die bisherige Strategie des stetigen Wachstums bei zunehmend begrenzten Umweltressourcen wird auf Dauer so nicht aufrechtzuerhalten sein. Der Tourismus steht defacto an einem Scheidepunkt und die zuständigen Akteure aus Tourismuswirtschaft, Tourismuspolitik und Tourismuswissenschaft müssen sich entscheiden, ob die bisherigen Produktions-, Denk- und Handlungsweisen beibehalten werden sollen, oder ob für den Tourismus strategisch neue Denkansätze gesucht werden sollten. Will man den bisherigen Grundkonflikt im Tourismus von Ökonomie und Ökologie entschärfen oder überwinden, so braucht es hierfür eine grundlegend neue Sichtweise der touristischen Wertschöpfung. Derzeit wird die touristische Bruttowertschöpfung nur an den erbrachten Leistungen festgemacht, die dem Tourismus zugerechnet werden. Der weitaus wichtigere gesellschaftliche Bedeu- Epilog 133 tungsinhalt des Tourismus liegt in der physischen und psychischen Regeneration der Arbeitskraft. Nur der Urlaub verbunden mit einem Ortswechsel (Reisetätigkeit) ermöglicht eine effektive und damit nachhaltige Erholung. Wenn knapp 80 Prozent der Bundesbürger jedes Jahr mindestens eine fünftägige Urlaubsreise unternehmen, so erbringt die Tourismuswirtschaft de facto die Hauptregenerationsleistung für die gesamte bundesdeutsche Volkswirtschaft. Ihr volkswirtschaftlicher Beitrag, welcher entscheidend zur Sicherung der Arbeitsproduktivität beiträgt, dürfte daher um ein Vielfaches höher sein als die ausgewiesene Bruttowertschöpfung einschließlich zurechenbarer Effekte von jährlich 213,5 Milliarden Euro. Urlaubsreisen sind daher nicht nur Selbstzweck, sondern erfüllen in industrialisierten Gesellschaften, die von hohen Arbeitsproduktivitätsanforderungen geprägt sind, eine zentrale Funktion. Einschränkungen oder Verbote von Urlaubsreisen, wie sie derzeit gefordert werden, wären in ihrer Wirkung wahrscheinlich kontraproduktiv, weil sie die notwendige Regeneration der Arbeitskräfte unterlaufen. Längerfristige Folgen dürften dann Produktivitätsverluste und steigende Krankheitskosten sein. Auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene werden vordergründig nur die negativen Folgewirkungen des Tourismus in den Mittelpunkt gestellt, ohne den touristischen Wert, insbesondere den Regenerationswert für die Volkswirtschaft, zu bedenken. Statt Reiseverbote und Reisebeschränkungen einzuführen, sollten intelligentere Lenkungsmöglichkeiten gefunden werden, die auf das Bewusstsein der Bürger abzielen. Hierzu gehört eine neue Wertedefinition, die den Nutzen touristischer Produkte den damit verbundenen Belastungswerten gegenüberstellt. Bisher ergibt sich die Produktwertigkeit weitgehend aus der Addition touristischer Einzelkosten plus Gewinn, welche über den Reisepreis ausgezeichnet wird. Um zu einer realen Produktwertigkeit zu gelangen, muss die touristische Wertschöpfung dahingehend neu definiert werden, indem sie weitere Kosten, wie den 134 Tourismus neu denken touristischen Ressourcenverbrauch, Emissionsausgleichskosten oder Sozialkosten mit einbezieht, und diese ins Verhältnis zum Nutzen des Reisenden setzt. Durch die Gegenüberstellung des jeweiligen Erholungswertes einer Reise (Nutzenparameter) und des Umwelt- und Ressourcenbelastungswertes wie auch der Sozialkosten der jeweiligen Reise (Negativverbrauchsparameter) entsteht ein auf jede Reise bezogener Indexwert bzw. Reisekoeffizient, der die jeweilige Produktwertigkeit ausweist. Über die Ausweisung solcher Indexwerte, die jeder Reisende auf einfache Weise auch für sich selbst errechnen kann, entstehen Lenkungseffekte, die ein selbstbestimmbares Reiseverhalten unterstützen. Mit einem selbstbestimmbaren Reisebelastungswert, der die gesellschaftliche Wertigkeit der Reise miteinschließt, ist es möglich, Betroffene aus ihrer Zerrissenheit zu befreien, die sich als Flug- oder Reisescham äußert. Der bislang bestehende Bedürfnisgegensatz, Reisen zu wollen, aber gleichzeitig die Umwelt nicht belasten zu wollen, lässt sich hierdurch ein Stück weit auflösen. Will man die Leistungsfähigkeit der Tourismusbranche erhalten, erscheint eine Anpassung der Ausbildung von Fachkräften und Hochschulabsolventen notwendig, um zukünftige Anforderungen bewältigen zu können. Dieses erscheint unausweichlich, da die Komplexität touristischer Prozesse zunimmt wie auch die fortschreitende Globalisierung neue Herausforderungen mit sich bringt. Bei der Ausbildung geht es um eine höhere Wissensqualität bei gleichzeitiger Verbreiterung von Wissensgrundlagen, die besonders Hochschulabsolventen befähigen sollen, als zukünftige Führungskräfte im Praxisalltag bestehen zu können. Erweiterte Wissenskenntnisse sind auf den Gebieten der Tourismusethik, Tourismussoziologie, Logik, Tourismuspsychologie, Interkulturellen Kompetenz und interdisziplinären Zusammenarbeit geboten. Die Tourismusforschung ist noch sehr deskriptiv ausgerichtet. Sie konzentriert sich stark auf Daten und sonstige statistische Erhebungen, um abgelaufene Sachverhalte zu beschreiben. Wichtiger erscheint ein stärkeres Aufgreifen von anwendungsorientierten Epilog 135 Problemsachverhalten und eine Erarbeitung längerfristiger Entwicklungsprognosen, welche auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen basieren. Hierzu gehört auch die Identifizierung und der Aufbau zukunftsträchtiger Tourismuscluster einschließlich der Entwicklung von Zukunftsvisionen. Um als Tourismuswissenschaft selbstbewusst agieren zu können, ist die Reflexion ihrer eigenen Leistungen wie deren Wissenschaftsentwicklung notwendig. Eine systematische Tourismusgeschichte gibt es bisher nicht. Und ohne eine fundierte historische Entwicklungsreflexion ist es schwierig, eine Standortbestimmung vorzunehmen und hierauf aufbauende Strategien zu entwerfen. Die tourismuspolitische Gewichtung sollte der wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus angepasst werden. Nur so besteht Aussicht auf Erfolg, im Zuge knapper werdender finanzieller Zuwendungen die Tourismusentwicklung in Deutschland nachhaltig begleiten und fördern zu können. Zudem sollten neben effizienteren Strukturen neue Strategiekonzepte geschaffen werden, die sich besonders auf gemeinförderliche Dienstleistungsaufgaben konzentrieren, die das Internet nicht bieten kann. Die Entwicklung hin zu einer multioptionalen Freizeitgesellschaft bedingt zugleich, dass die klassische Tourismuswirtschaft in zunehmend stärkere Konkurrenz zu anderen Freizeitanbietern gerät. Sie wird sich daher der Notwendigkeit eines intermodalen Denkens nicht verschließen können, um den immer stärkeren Wunsch der Kunden nach übergreifenden Erlebnisinhalten gerecht zu werden. Das Zusammenfügen von Einzelleistungen zu einem strukturierten Pauschalangebot reicht bereits heute oft nicht mehr aus, um Kundenerwartungen vollumfänglich zu befriedigen. Das erlebbare Gesamtreisepaket muss mehr sein als die Summe seiner Einzelteile. Das Grundprinzip der Übersummativität verkörpert heute das neue Reise- und Gästeerlebnis. Aus diesem Grund steht die Tourismusbranche vor der strategischen Herausforderung, die eigenen Angebote zunehmend zu multioptionalen Angeboten zu 136 Tourismus neu denken vernetzen, oder sie läuft Gefahr, ihre Eigenständigkeit zu verlieren und Teil einer größeren Freizeitindustrie zu werden. Auch wenn der technologische Fortschritt für den Tourismus eine Vielzahl von Vorteilen bringt, sollten die Grenzen des Machbaren kritisch hinterfragt werden. So ist künstliche Intelligenz z.B. nicht in der Lage, nachgeordnete Reisesachverhalte in das Bewertungssystem miteinzubeziehen oder echte Empathie zu anderen Menschen aufzubauen. Zudem wird die permanente Technologisierung in vielen Bereichen als Belastung empfunden, weshalb der Wunsch nach technologiefreien Zeiten wächst. Der Tourismus wird von diesem Trend nur partizipieren können, wenn der Urlaub eine Auszeit vom technikbasierten Alltag darstellt. Je umfangreicher Technologisierungsprozesse in die unmittelbare Reisedurchführung und Gästebetreuung eingreifen, desto geringer ist deren Emotionalisierungspotenzial. Menschen sind soziale Wesen, welche eine personalisierte Betreuung und den sozialen Austausch benötigen, um tiefergehende emotionale Empfindungen zu aktivieren. Positive emotionale Empfindungen gehören zu den wichtigsten Bestandteilen eines touristischen Wohlfühlerlebnisses. Das Vorhandensein eines Zertifizierungssystems garantiert nur ein vorher definiertes technisches Qualitätsniveau. Es ist weder ein Instrument noch eine Garantie dafür, dass die Gäste positive Emotionen und Stimmungen entwickeln, und diese über die gesamte Aufenthaltszeit aufrechterhalten. Denn der Gast erwartet nicht nur die Erfüllung der vertraglich zugesicherten Reiseleistungen, sondern eine damit einhergehende persönliche Zuwendung, die durch echte Empathie, persönliche Achtung, soziale Gefühle, individuelles Kontaktverhalten, Authentizität usw. getragen wird. Diese Erwartungshaltung lässt sich nicht durch technische Maßnahmen kompensieren. Mit der Entwicklung des Massentourismus wurden die touristischen Prozesse zunehmend vom Produkt Reise her gedacht, was dazu führte, dass dem Faktor Mensch weniger Gewicht beigemes- Epilog 137 sen wurde. Der Mensch, für den ursprünglich die Pauschalreise erdacht wurde und der anfangs ganz zentriert im Mittelpunkt stand, tritt nun zunehmend in den Hintergrund. Dieses Denken spiegelt das heutige Tourismusmanagement wider, indem zuerst die pauschalisierten Reisen oder touristischen Einzelleistungen erstellt und dann hierzu passende Nachfrager gesucht werden. Will man die Kunden wieder stärker erreichen, ist eine Objekt- Subjekt-Umkehr notwendig, die die Reise von den Interessen und Bedürfnissen der Menschen her denkt. Das Lebensgefühl einer Epoche spiegelt sich auf vielfältige Weise in Kunst, Mode oder Architektur wider. In der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg, die als Hochphase des Tourismus gilt, wird die touristische Architektur stark von Größe, Spektakel und Vollkommenheit geprägt. Es gibt Anzeichen, dass die zukünftige Tourismusarchitektur sich stärker den Themen Authentizität, Wohlbefinden, Individualität und Nachhaltigkeit zuwenden wird. Eine gute architektonische Gestaltung schafft positive Rahmenbedingungen für das Wohlbefinden. Wesentlich bedeutsamer als die räumliche Hülle ist der Erlebnisinhalt touristischer Leistungen und deren Erlebnisintensität. Diese ist stets individuell ausgeprägt und wird von vielen Faktoren beeinflusst, etwa der Wahrnehmungssensibilität, Erlebnisfähigkeit, der persönlichen Bedeutsamkeit des Erlebten, bisherigen Erfahrungen, Erwartungen, der Reizsituation oder Erwartungshaltungen an den jeweiligen Urlaub. Sie ergeben als Summe den individuellen Erlebniswert einer Reise. Wer einen echten Mehrwert für die Gäste schaffen will, muss den Menschen in den Mittelpunkt seiner touristischen Prozesse stellen. Dieses setzt das Verständnis voraus, dass jeder Gast eine einmalige Persönlichkeit ist, dass er die gebotenen Leistungssachverhalte individuell reflektiert und unterschiedlich hierauf reagiert. Nicht das Produkt ist primär entscheidend, sondern ob man der Individualität des Gastes gerecht wird. Will man den Reisenden als Subjekt verstehen, ist es notwendig, sich auf die psychologi- 138 Tourismus neu denken sche und soziologische Ebene zu begeben und die Menschen, und die sie bewegenden Fragestellungen zu kennen. Unabhängig von Krisenzeiten bleibt der Urlaub für den Einzelnen überaus wichtig, denn nur im Urlaub erscheint ein zeitweiliger Ausstieg aus dem gewohnten Stressumfeld möglich. Die Entbindung von Arbeits- und Alltagspflichten schafft ein größeres Zeitvolumen, wodurch die Chance gegeben ist, ein Stück selbstbestimmte Zeit zu erleben. Aber weil diese Zeit begrenzt ist, gehört die Urlaubszeit zu den wichtigsten Tagen im Jahr und will innerhalb dieser Zeitbegrenzung bestmöglich erlebt und genossen werden. Die bisherigen Möglichkeiten des Reisens werden nur fortbestehen können, wenn es zu angepassten Verhaltensänderungen kommt und auf einen weiter steigenden Tourismuskonsum verzichtet wird. Grundvoraussetzungen hierfür sind Einstellungsänderungen der Reisenden wie auch intelligente Maßnahmen, die eine Handlungsbalance zwischen Reisefreiheit, Gerechtigkeit und handlungsrechtlichen Beschränkungen darstellen sollten. Der weltweit rasante Tourismusanstieg in den letzten zwei Jahrzehnten hat zu erheblichen Problemen geführt, die in unterschiedlichen Formen sichtbar werden. Unter allen Problemfeldern wird die Umweltbelastung als das größte Problem angesehen. Die gegenwärtigen Herausforderungen des Umweltschutzes können jedoch nicht losgelöst von anderen Problemfeldern betrachtet werden. Tourismusbezogene Maßnahmen zur Ressourcenschonung, zum Klima- und Umweltschutz oder zur Einhaltung arbeits- und menschenrechtlicher Standards werden nur global funktionieren. Die derzeitige Verschiebung der internationalen Touristenströme wird sich weiter verfestigen. Der asiatische Raum, insbesondere getrieben durch China und Indien, wird sich touristisch schneller als andere geografische Räume entwickeln. Das wird mittelfristig zu einer Verschiebung der weltweiten touristischen Einflusssphäre führen. Deutschland wird sowohl im Outgoingals auch im Epilog 139 Incoming-Tourismus seinen Platz unter den zehn wichtigsten touristischen Nationen verteidigen können. Glossar Bleisure-Reisen Der Begriff Bleisure ist eine englische Wortschöpfung, die sich aus den Begriffen Business (Geschäft) und Leisure (Freizeit) zusammensetzt. Mit diesem Begriff wird die Verknüpfung von einer geschäftlichen und einer privaten Reise ausgedrückt. Die Verlängerung von Geschäftsreisen, um Destinationen touristisch zu erkunden, hat mehrere Vorteile, beispielsweise die Zeitersparnis für die Hin- und Rückreise, wegfallende Beförderungskosten, Akklimatisierung- und Zeitumstellungsanpassung, bereits erfolgte Visa- und Einreiseformalitäten sowie ggf. sich noch im Status als wertvoller Geschäftsreisender zu befinden. Ob entsprechende Bleisure-Reisen möglich sind, ist von den unternehmensgebundenen Reiserichtlinien und deren Abrechnungsmodalitäten abhängig. Die Genehmigungen von Bleisure-Trips werden zunehmend als Mitarbeiterbindungsinstrument eingesetzt. Bruttowertschöpfung Die Bruttowertschöpfung verkörpert den Gesamtwert aller produzierten Waren und Dienstleistungen abzüglich der Vorleistungen und beschreibt hierdurch die Wirtschaftsleistung eines Landes oder einer Branche. Prozentuale Veränderungen gegenüber dem Vorjahr verkörpern das Wirtschaftswachstum bzw. deren Einbruch. Der Beitrag des Tourismus an der direkten Bruttowertschöpfung wird mit 105 Milliarden Euro beziffert. Unter Hinzurechnung der indirekten und induzierten Effekte ergibt sich ein Wertschöpfungsbetrag von 213,5 Milliarden Euro. 142 Glossar Crowding Crowding beschreibt ein negatives Empfinden, welches aufgrund einer zu großen sozialen Dichte entsteht. Das Crowding- Empfinden ist individuell ausgeprägt und wird neben der vorhandenen Personenzahl an einem Ort durch subjektive Erwartungen, Einstellungen, bereits vorhandene Erfahrungen, Raumgestaltungen sowie die Interaktion mit den Personen in diesem Raum bestimmt. Die Gefahr des Erlebens von Crowding ist in Ferienorten, Freizeitparks, an Verkehrsinfrastruktureinrichtungen (Bahnhöfe, Flughäfen) sowie in überfüllten Verkehrsmitteln besonders hoch, weil hier nicht nur eine hohe soziale Dichte auftritt, sondern diese an Stressbelastungen und Reizüberflutung gekoppelt sind. Crowding spielt daher bei der Planung und Entwicklung touristischer Gebiete eine wichtige Rolle. Cultural lag Mit dem Begriff wird die Zustandssituation einer Destination beschrieben, in der Entwicklungsanforderungen nicht oder zu spät vollzogen wurden. Im weiten Sinn werden hierbei auch Verhaltensweisen und Denkmuster angesehen, die nicht den gegenwärtigen Anforderungen entsprechen. Gründe hierfür sind häufig Vorbehalte und eine Veränderungsunwilligkeit unter der Bevölkerung, woran vielfach moderne Tourismuskonzepte scheitern. Der Zustand des cultural lag ist von Widerspruch und Unsicherheit hinsichtlich der weiteren Entwicklung geprägt. Destination Die Welttourismusorganisation (UNWTO) sieht in einer Destination einen Ort und die damit verbundenen Tourismuseinrichtungen und Dienstleistungen, den ein Tourist oder eine Gruppe für einen Besuch auswählt, und den die Leistungsersteller vermarkten. Der Begriff Destination ist unscharf, weil hierdurch der Gast bestimmt, was er als Destination ansieht. So ist es möglich, dass Glossar 143 Golfspieler ihr Hotel mit Golfplatz als Destination betrachten, für andere Touristen hingegen kann ein Land eine Destination sein, andere wiederum sehen möglicherweise eine Inselgruppe wie die Balearen als Destination. Dissonanzgefühl (Dissonanzreaktion) Dissonanz beschreibt ein inneres Spannungsgefühl, welches durch Sachverhalte hervorgerufen wird, die im Widerspruch zu den eigenen Einstellungen, Überzeugungen, Gefühlen oder Werten stehen. Personen versuchen, das unangenehme Spannungsgefühl durch Handlungsoptionen zu überwinden. Dynamic Packaging Mit dynamic packaging wird die Bündelung von Einzelleistungen zu einem Leistungsbündel in Echtzeit verstanden. Die Erstellung erfolgt auf Kundenwunsch als sogenannte personalisierte Pauschalreise. Voraussetzung hierfür war die Entwicklung moderner Informations- und Buchungstechnologien, die einen weltweiten Zugriff auf touristische Leistungsangebote ermöglichen. Sowohl Einzelleistungen wie auch Preise lassen sich hierbei variabel gestalten. Gentrifizierung Gentrifizierung ist ein durch die Soziologie in den 1960er-Jahren geprägter Begriff. Er kennzeichnet die Aufwertung von Stadtteilen durch Sanierung und Umbau, in deren Folge die dort ansässige Bevölkerung durch wohlhabende Bevölkerungsschichten verdrängt wird. In beliebten Tourismusorten steigen die Wohnmieten durch das Entstehen von Ferien- und Eigentumswohnungen. Läden für die einheimische Bevölkerung werden durch Souvenirshops und tourismusaffine Läden verdrängt. 144 Glossar Incoming (Incoming-Tourismus) Hierunter wird die Einreise ausländischer Gäste in ein Gastland verstanden. Die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) wirbt im Auftrag der Bundesregierung um ausländische touristische Gäste. Incoming-Agenturen sind Unternehmen, die sich auf die Betreuung ausländischer Gäste im Besucherland spezialisiert haben. Indirekte und induzierte Effekte Hierbei handelt es sich um die Berechnung von Multiplikationseffekten, die vom direkten Einnahmeeffekt ausgehen und diesem zugerechnet werden. Die alleinige Erfassung der unmittelbaren touristischen Einnahmen als direkte Effekte sagen wenig über die gesamtökonomische Wirkung des Tourismus aus. Unmittelbare touristische Ausgaben, z.B. für einen Hotelaufenthalt, führen zu einem wirtschaftlichen Impuls, der weitere Nachfrage generiert, da Hotels zur Leistungserbringung von anderen Gütern oder Dienstleistungen (Lebensmittel, Getränke, Post, Telekommunikation, Einrichtungsgegenstände usw.) abhängig sind. Diese generierten Leistungen werden als indirekte Effekte bezeichnet. Mitarbeiter, die diese Leistungen erbracht haben, erhalten hierdurch ein Einkommen, was sie wiederum für Güter und Dienstleistungen ausgeben und so zu indizierten Effekten führt. Die weiterführenden indizierten Effekte, welche immer schwächer werden, sind bis zur 10. Stufe nachweisbar. Durch die touristische Nachfrage entsteht also eine Nachfrage nach anderen Gütern und Dienstleistungen, was zu einem wirtschaftlichen Multiplikationseffekt führt. Die durch den Tourismus ausgelöste Nachfragekette bekommt einen Wert, der weit größer ist als die ursprünglichen Ausgaben der Reisenden. Die Multiplikatorenwirkung wird über den GNK-Koeffizienten (Grenzneigung zum Konsum) berechnet. Glossar 145 Interaktionale Gerechtigkeit Sie umschreibt das Gerechtigkeitsempfinden, wie sich Personen in Konfliktsituationen behandelt fühlen. Dieses betrifft die Art und Weise der Behandlung, die Darlegung von Begründungen, Möglichkeiten von Einwänden wie damit verbundene Konsequenzen. Die hiermit erlebte Fairness im Sinne eines gerechten Umgangs hat Einfluss auf die Stärke des subjektiven Gerechtigkeitsempfindens. Jetlag Der Jetlag ist eine physiologische Stressreaktion, welche Auftritt, wenn es in Folge einer Zeitverschiebung zu einer erheblichen Störung des bisherigen biologischen Rhythmus kommt. Durch die erfolgte Desynchronisation der inneren Uhr stehen notwendige Hormone und Bodenstoffe, welche für die mentale oder physische Leistung verantwortlich sind, nicht mehr zur Verfügung. Häufigste Folgen des Jetlag sind Abgeschlagenheit, erhöhte Reizbarkeit, Konzentrationsschwäche, Appetitlosigkeit, Verdauungsstörungen und verminderte Leistungsfähigkeit. Die Intensität des Jetlags hängt entscheidend von der Anzahl der überflogenen Zeitzonen, der Flugrichtung wie auch von den Persönlichkeitsfaktoren des Fluggastes ab. Konstitutive Elemente Die konstitutiven Elemente ergeben sich aus der Tourismus- Definition der Welttourismusorganisation (UNWTO). Tourismus zeichnet sich durch folgende drei Elemente aus: [1] Ortswechsel, der über den normalen Aufenthaltsort hinausgeht, [2] Aufenthalt an einem „fremden Ort“, [3] Motive des Ortswechsels, d. h. warum gereist wird. Diese drei Sachverhalte werden als konstitutive Elemente des Tourismus bezeichnet. 146 Glossar Mobile Reisemittler Reisemittler, auch Expedienten oder Reiseverkäufer genannt, sind Händler, die entweder im Auftrag (als Handelsvertreter) oder auf eigene Rechnung (als Handelsmakler) die Kunden zu Pauschalreisen oder touristischen Leistungen beraten und diese vermitteln. Unterschieden wird zwischen stationären Reisemittlern, welche die touristischen Angebote im Reisebüro anbieten, und mobilen Reisemittlern, welche auf Wunsch die Kunden zu Hause aufsuchen. Die Etablierung der mobilen Reisevermittlung ist erst mit der schnellen, mobilen Datenübertragung möglich geworden, die Vakanzprüfungen und Reisebuchungen in Echtzeit ermöglichen. Optimale Distinktheit Hiermit wird eine Ambivalenz menschlicher Bedürfnisse oder des menschlichen Handelns bezeichnet. Etwa das Bedürfnis, zu einer sozialen Gemeinschaft zu gehören, aber auch gleichzeitig das Bedürfnis, sich davon abzuheben und einzigartig zu sein. Distiktheit findet sich in allen Lebensbereichen. Beide Bedürfnisse müssen ausbalanciert werden. Die Balance bezeichnen Hornsey und Jetten als optimale Distinktheit. Outgoing-Tourismus Mit Outgoing-Tourismus werden alle Reiseaktivitäten bezeichnet, die in ein Reiseland führen, das nicht Heimatgebiet des Reisenden ist. Klassischerweise wird hierzu der Begriff Auslandsreise benutzt. Eine synonyme Bezeichnung hierfür ist auch der Begriff Outbound-Tourismus. Overtourismus Der Begriff Overtourismus (bzw. Overtourism) bezieht sich auf Orte und Regionen, die unter einem starken touristischen Besucherandrang leiden. Neben einer überlasteten Infrastruktur ver- Glossar 147 schlechtert sich die Lebensqualität der Einheimischen und er hat negative Auswirkungen auf das kulturelle Leben wie auf Natur und Umwelt. Viele touristische Städte ergreifen daher Maßnahmen, um dem Overtourismus entgegenzuwirken. Pauschalreise Eine Pauschalreise ist ein im Voraus gebündeltes Leistungspaket mit mindestens zwei Reisehauptleistungen, welche zu einem Gesamtpreis verkauft oder zum Verkauf angeboten wird. Ersteller von Pauschalreisen sind typischerweise Reiseveranstalter. Prozedurale Gerechtigkeit Die prozedurale Gerechtigkeit, auch als Verfahrensgerechtigkeit bezeichnet, bezieht sich auf die wahrgenomme Behandlung im Sinne von Gleichheit und Fairness gegenüber anderen Personen. Art und Umfang der respektvollen Behandlung sowie Rollenzuweisungen nehmen Einfluss auf die subjektiv geprägte Gerechtigkeitsbeurteilung. Quellenmarkt Als touristischer Quellenmarkt werden jene Länder oder Regionen bezeichnet, aus denen Touristen oder Geschäftsreisende herkommen, weshalb diese umgangssprachlich auch als Herkunftsmärkte oder Herkunftsländer bezeichnet werden. Die wichtigsten touristischen Quellenmärkte für Deutschland sind die Niederlande, Schweiz, USA, Großbritannien, Österreich, Frankreich, Dänemark, China und Belgien. Reiseintensität Die Reiseintensität misst den statistischen Anteil der Bevölkerung ab 14 Jahre, die jährlich eine mindestens fünftägige Urlaubsreise unternehmen. Diese ist nicht mit dem Begriff der Tourismusin- 148 Glossar tensität zu verwechseln. Die Tourismusintensität erfasst das Verhältnis von touristischen Übernachtungen zur Bevölkerungszahl in einer Destination. Reiseveranstalter Reiseveranstalter sind eigenständige touristische Unternehmen, welche vorwiegend touristische Einzelleistungen zu pauschalisierten Angeboten bündeln und zu einem Gesamtpreis verkaufen. Als Ersteller sind sie Träger dieser Reisen und haften für deren ordnungsgemäße Durchführung. Reisevertrieb Unter dem Begriff Reisevertrieb werden alle Formen der Reisevertriebsorganisation subsumiert. Etwa die Unterscheidung hinsichtlich des Direktvertriebes oder des Vertriebs über Reisemittler und anderer Vertriebsstellen. Die Mehrheit der Reisemittler gehört einer Vertriebsorganisation an, welche sich nach Ketten, Kooperationen oder Franchise unterscheiden lassen. START-Technologie Um die Buchung von Reisen effektiver zu gestalten, wurde im Jahr 1971 die Studiengesellschaft zur Automatisierung für Reise und Touristik (START) als Gemeinschaftsprojekt von Lufthansa, Deutsche Bahn, TUI, ABR, DER und Hapag-Lloyd gegründet. Das erste Start-Terminal zur elektronischen Reisebuchung nahm Dertour 1979 in Betrieb. Die entwickelte START-Technologie für Buchungen von Reisen und anderer touristischer Leistungen wurde 1992 an das weltweit agierende Globale Distributionssystem (GDS) Amadeus angeschlossen und später integriert. Glossar 149 Tourismusjahr Bilanzierungen beziehen sich üblicherweise auf das jeweilige Kalenderjahr, welches am 1. Januar beginnt und am 31. Dezember endet. Abweichend hiervon orientieren sich Reiseveranstalter und viele touristische Leistungsträger in ihrer Bilanzierung am saisonalen Tourismusverlauf, der dann als Tourismusjahr ausgewiesen wird. Das Tourismusjahr beginnt mit der Wintersaison am 1. November und endet mit der Sommersaison am 31. Oktober. Die daraus folgenden doppelten Jahresangaben (z.B. 2019/ 2020) verleiten fälschlicherweise zur Annahme, dass es sich um zwei Bilanzierungsjahre handelt. Neben Unternehmensbilanzen beziehen sich auch touristische Statistikzahlen vielfach auf das Tourismusjahr. Touristische Leistungsträger Unscharf gebrauchter Oberbegriff für alle Unternehmen, die touristische Leistungen anbieten, welche keine Pauschalreisen sind. In der Regel sind es spezialisierte Einzelleistungen, etwa des Transports, der Beherbergung, der Betreuung usw. Als Synonym wird vielfach auch der Begriff touristische Leistungsanbieter gebraucht. Vertikal integrierte Unternehmen Unternehmen, welche in der Lage sind, alle Produktionsstufen aus eigener Kraft umzusetzen. Im Tourismusbereich bedeutet dieses, alle Einzelleistungen entlang der gesamten Reisekette selbst zu erbringen (durch eigene Reiseveranstalter, eigene Reisebüros, eigene elektronische Buchungs- und Informationssysteme, eigene Airlines, eigene Incoming-Agenturen usw.). Nach der Insolvenz von Thomas Cook ist die TUI der einzige Reiseveranstalter in Deutschland, der noch eine vertikal integrierte Unternehmensstruktur besitzt. 150 Glossar Vulnerabilität Mit Vulnerabilität wird eine besondere Empfindsamkeit beschrieben, die schnell zu persönlichen Verletzungen führen kann. Stichwörter und Personen A Apodemik 14 Arbeitsregeneration 29 Aristoteles 12, 34 Ästhetik 47, 49 B Bacon, Francis 60 Baumgarten, Alexander Gottlieb 47 Bleisure-Reisen 42 (Glossar) 141 Blitz, Gerald 53 Broca, Paul 62 Bruttowertschöpfung 26, 27 (Glossar) 141 C CO 2 108 Cook, Thomas 15, 70 Crowding 84 (Glossar) 141 Csikszentmihalyi, Milhaly 97 Cultural lag 116 (Glossar) 142 D Dax, Marc 61 Denkstile 91 Descartes, René 59 Destination 40 (Glossar) 142 Dissonanzgefühl (Glossar) 143 Distinktheit 30 (Glossar) 146 dynamic packaging (Glossar) 143 E Ebbinghaus, Hermann 59 Effekte indirekte (Glossar) 144 induzierte (Glossar) 144 Elemente, konstitutive 27 (Glossar) 145 Endemotionalisierung 75 Erholungswert 31 Erinnerung 91 Ethik 33 F Fechner, Theodor 61 Ferienclubanlage 52, 93 Flow-Erleben 97 Freiheit 99 Freizeitoptimierung 88, 89 Fritsch, Gustav 62 152 Stichwörter und Personen G Gast 76, 82 Gästebetreuung 50 Gentrifizierung (Glossar) 143 Gerechtigkeit 101 Geschäftsreisen 22, 41, 42 Gestaltpsychologie 54 Glück 95 H Handlungsbereitschaft 90 Haupturlaub 27 Heraklit 105 Hitzig, Eduard 62 Hume, David 60 I Illuminationsfeste 56 Incoming-Tourismus (Glossar) 144 Industrialisierung 70 Informationsverarbeitung 90 Interaktion mit anderen Personen 91 interaktionale Gerechtigkeit 145 interdisziplinäre Zusammenarbeit 113 interkulturelle Kompetenz 113 J Jaspers, Karl 13 Jetlag 145 K Kant, Immanuel 14, 69 Klimaschutz 123 konstitutive Elemente 16, 27 (Glossar) 145 L Leistungsfähigkeit 91 Locke, John 59 Logik 69, 112 M Mark Aurel 96 Massentourismus 71, 103 multioptionale Angebote 117 N Nachhaltigkeit 37, 123 O Ortswechsel 27, 29 Outgoing-Tourismus 146 Overtourismus 124 (Glossar) 146 Stichwörter und Personen 153 P Pauschalreise 15, 73, 81 (Glossar) 147 Persönlichkeitsdispositionen 73 Philosophie 33, 47, 59, 62, 69 Platon 11, 47 Protagoras 69 prozedurale Gerechtigkeit 147 Psychologie 62 Psychophysik 61, 63 Q Quellenmarkt (Glossar) 147 R Reise als Produkt 84, 107 Reiseanalyse 23, 24, 27 Reisebüro 57, 74, 99 Reiseentwicklung 122 Reiseintensität 16, 22, 79, 128 (Glossar) 147 Reisemittler 74, 98 mobile (Glossar) 146 Reiseveranstalter 38, 53, 73, 92 (Glossar) 148 spezialisierte 25, 57 Reiseverbote 29 Reiseverhaltenseffekte 31 Reisevertrieb 39, 73 (Glossar) 148 Residenzprinzip, umgekehrtes 80 S Slow-Tourismus 89 Sophisten 13 START-Technologie (Glossar) 148 Strukturen, intermodale 119 T Technikfolgeabschätzung 118 Theologie 33 Tourismus 15, 44, 66, 100, 105, 114, 119 -architektur 50, 53, 54, 56 -entwicklung 116 -ethik 111 -jahr (Glossar) 149 -management 71 -philosophie 18 -politik 35, 43, 116 -psychologie 64, 66, 68, 89, 112 -soziologie 111 -studium 35 -wirtschaft 27, 28, 35, 65 -wissenschaft 17, 28, 65, 81, 108, 114, 122 154 Stichwörter und Personen touristische Leistungsträger 82, 83 (Glossar) 149 touristische Produkte, Besonderheiten 79, 81, 85 Trends 119 U Übersummativität 54 Umweltbelastung 37, 41 Umweltbelastungswert 31 Umweltschutz 37, 43, 110 Uno-actu-Prinzip 81 Urlaub(s) -atmosphäre 49 -bedürfnisse 23 -glück 96, 97, 99 Bedeutungsintensität 26 -motive 23 -reise 21, 27, 30, 41 -stimmung 53 -zeit 88 V vertikal integrierte Unternehmen (Glossar) 149 von Ehrenfels, Christian 53 Vulnerabilität (Glossar) 150 W Weber, Ernst Heinrich 61 Wernicke, Carl 62 Werteverständnis 107 Wundt, Wilhelm 62 Z Zeitempfinden 90 TOURISMUS Albrecht Steinecke Tourismus und Luxus Tourism NOW 2019, 136 Seiten €[D] 24,00 ISBN 978-3-7398-3006-3 eISBN 978-3-7398-8006-8 Luxusreisen haben sich in jüngerer Zeit zu einem ökonomisch bedeutsamen und wachstumsstarken Nischensegment des internationalen Tourismus entwickelt. Doch was sind die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ursachen dieses Trends zum exzessiven Konsum im Urlaub? Welche Erwartungen haben die anspruchsvollen Gäste? Wie gelingt es den Anbietern, eine exklusive Atmosphäre zu schaffen, einen exzellenten Service zu bieten und ihre Kunden mit Once-in-a-lifetime-Erlebnissen zu begeistern? Albrecht Steinecke gibt in diesem Tourism-NOW-Band fundierte und anschauliche Antworten auf diese Fragen. Außerdem geht er auf die Rolle des Luxustourismus als Wirtschaftsfaktor ein und lässt auch dessen problematische ökologische und soziale Folgen nicht außer Acht. UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (07071) 9797-0 Fax +49 (07071) 97 97-11 \ shop@narr.de \ www.narr.de Jürg Häusermann Konstruktive Rhetorik Der Dialog als Schlüssel zum erfolgreichen Vortrag 2019, 300 Seiten €[D] 29,99 ISBN 978-3-7398-3007-0 eISBN 978-3-7398-8007-5 Wenn Menschen sich angeregt unterhalten, leidenschaftlich diskutieren und sich Antworten auf brennende Fragen geben, ist Kommunikation erfolgreich. Beim Halten einer Rede oder eines Vortrags dominiert aber oft der Monolog. Jürg Häusermann zeigt, dass es auch anders geht: Er ermutigt die LeserInnen seines neuen Buches dazu, auch in Vortragssituationen stets den Dialog zu suchen. Im ersten Teil zeigt er auf, wie sich öffentliches Reden vom alltäglichen Dialog unterscheidet. Im praktischen zweiten Teil geht er auf die konkreten Mittel des Dialogs in Vortragssituationen ein. Zahlreiche Illustrationen und abwechslungsreiche Beispiele machen dies begreifbar. Häusermann verrät, wie Sie mit Ihrer Körpersprache den Raum nutzen können und das Zeitproblem in den Griff bekommen. Er zeigt, wie Sie durch Ihre Stimme eine Rede gestalten und die ZuhörerInnen durch eine lebendige Sprache miteinbeziehen. Auch wie Ihr Publikum beim Einsatz von Präsentationsmedien aufmerksam bleibt, erklärt er praxisnah. RATGEBER UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany \ Tel. +49 (07071) 9797-0 Fax +49 (07071) 97 97-11 \ willkommen@uvk.de \ www.narr.de ISBN 978-3-7398-3034-6 www.uvk.de ISBN 978-3-7398-3053-7 Tourismus als Phänomen philosophisch erfassen! Ziel der Philosophie ist es, die Welt durch logisches Denken zu erfassen, Erkenntnisse über das Sein und die Struktur der Welt zu generieren und nicht zuletzt auch den Sinn des Lebens zu ergründen. Folglich ist es nur konsequent, auch den Tourismus in all seinen gegenwärtigen Ausprägungen, etwa dem Massen- und Overtourismus, aus dem philosophischen Blickwinkel zu betrachten. Weitere wesentliche Themen sind die Stellung des Menschen im touristischen Gefüge, Besonderheiten touristischer Leistungen, Fragen des Zeiterlebens sowie des Reiseglücks. Das Buch schließt mit Überlegungen, wie Tourismus neu gedacht werden kann und wie sich die Zukunft des Tourismus gestalten wird. Hans-Peter Herrmann hat Philosophie und Psychologie an der Universität Leipzig studiert. Er ist Lehrbeauftragter für Tourismusmanagement an Hochschulen und an Akademien für Psychologie und Kommunikation.