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Teufelskinder

2020
978-3-7398-8095-2
UVK Verlag 
Sarah Masiak

>>Teufelskinder<< - so wurden in Fürstenberg, einer Kommune im Hochstift Paderborn, die Nachfahren aus einem Hexengeschlecht genannt. Mittels dieses Etiketts war eine ideologische und symbolische Grenze zwischen den >>normalen<<, unbescholtenen Dorfbewohnern und denjenigen Familien gezogen worden, die das Hexenstigma trugen. Ihre vermeintliche Abstammung von >>Hexenart<< führte dabei zu verschiedenen informellen sowie formellen Stigmatisierungen und Marginalisierungen, die nicht nur das sprichwörtliche Damoklesschwert über deren Häupter schweben ließen, sondern auch einen ganz eigenen sozialpsychologischen Teufelskreis schufen: Förmlich gezwungen, sich stets mit dem attribuierten Hexenimage auseinanderzusetzen, nahmen einige Teufelskinder ihr Label als >>Hexe<< an. Das Ergebnis von Zuschreibung und Verinnerlichung war fatal: Nicht weniger als neun Familien standen teilweise über fünf Generationen immer wieder vor Gericht, angeklagt, mit dem >>Hexenblut<< infiziert zu sein. In diesem Buch werden ihre Geschichten erzählt. Im Mittelpunkt der Analyse steht dabei die historische Rekonstruktion ihres >>Hexendaseins<<, das wesentlich durch ihren sozialen Lebensraum und zugleich von ihnen geformt wurde. Das Eintauchen in ihre Welt lässt dabei so manche Parallele zu heutigen Sozialphänomenen offenbar werden.

Sarah Masiak Hexenverfolgung und gesellschaftliche Stigmatisierung im Hochstift Paderborn (1601-1703) Teufelskinder Sarah Masiak Teufelskinder Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Carola Dietze · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulrike Ludwig · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 37 Wissenschaftlicher Beirat: Norbert Finzsch · Iris Gareis Silke Göttsch · Wilfried Nippel · Gabriela Signori · Reinhard Wendt Zur Autorin: Sarah Masiak promovierte im Sommersemester 2019 an der Historischen Fakultät der Universität Paderborn und ist zurzeit freiberuflich tätig. Die vorliegende Dissertationsschrift wurde mit dem Bremer AG Preis und dem Ignaz Theodor Liborius Meyer Preis des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Paderborn e. V. honoriert. Sarah Masiak Teufelskinder Hexenverfolgung und gesellschaftliche Stigmatisierung im Hochstift Paderborn (1601-1703) UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz Die vorliegende Publikation wurde am 18.06.2019 an der Universität Paderborn, Fakultät für Kulturwissenschaften / Historisches Institut als Dissertation angenommen. Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-7398-3095-7 (Print) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2020 Satz und Layout: Dr. Simon Boxnick, Warstein Lektorat: Daniel Rost, Neckargemünd Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandmotiv: © „Schandmaske, 17. Jhdt.; Märkisches Museum Berlin“, Kolorierung von Sarah Masiak. Foto: Anagoria (https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: 17XX_Schandmaske_anagoria.JPG; Lizenz: https: / / creativecommons.org/ licenses/ by/ 3.0/ legalcode) Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 www.uvk.de Für Simon und Ben Inhalt Vorwort 1 1 Einleitung: Die besondere Wirkmacht eines Stigmas 3 I Einführung: Quo vadit? 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung 11 2.1 Die Hexenverfolgungen in Fürstenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.2 Teufelskinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.2.1 Fremdzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2.2 Selbstzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten 43 3.1 Die Vorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.2 Die Vorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 4 Spurensicherung - Fürstenberg und seine Quellen 59 5 Methode und Aufbau der Arbeit 67 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) . . . . . . . . . . . . 67 5.2 Konzeptionelle Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 II Lebensraum Dorf 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive 93 6.1 Ortsobrigkeit und Untertanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 6.2 Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6.3 Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6.4 Der Dreißigjährige Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme 115 7.1 Topografische Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 7.2 Sozialstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 7.3 Kommunale und herrschaftliche Organisationsstrukturen . . . . . . . 127 7.4 Gemeindeleben und Geselligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 7.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 viii Inhalt 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten 145 8.1 Das westphälische Samtgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 8.2 Das tägliche Geschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 8.3 Vergehen und Normverstöße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 8.3.1 Quantitativer Gesamtüberblick gerichtlicher Tätigkeiten . . . 158 8.4 Verbalinjurien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 8.4.1 Abwehrstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 8.4.2 Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 8.4.3 Von Hexereibeleidigungen, -vorwürfen und -gerüchten . . . . 182 8.5 Gewaltdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 8.6 Eigentumsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 8.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 III In Sachen Hexerei 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg 221 9.1 Die personellen Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 9.1.1 Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 9.1.2 Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 9.1.3 Schöffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 9.1.4 Hexenkommissare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 9.1.5 Gerichtsschreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 9.1.6 Pastor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 9.1.7 Scharfrichter und Abdecker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 9.1.8 Schützen und Wächter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 9.2.1 Hexenverfolgungen in Fürstenberg - ein quantitativer Gesamtüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 9.2.2 Die Voruntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 9.2.3 Offizielle Anklageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 9.2.4 Verteidigungsmöglichkeiten der Delinquenten . . . . . . . . . 267 9.2.5 Die Hauptuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 9.2.6 Der „Endliche Rechtstag“ und das peinliche Halsgericht . . . 281 9.2.7 Gerichtskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 9.2.8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 10 Hexerei als Kriminaldelikt 291 10.1 Der lokale Hexenglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 10.1.1 Das Hexereiverbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 10.1.1.1 Der Gender- und Schichtenaspekt . . . . . . . . . . 297 10.1.2 Dem Teufel anhängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 10.1.2.1 Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft . . . . . . . . . . 299 10.1.2.2 Hexensabbat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Inhalt ix 10.1.2.3 Schadenszauber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 10.2 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 IV „Infecti“ 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze 329 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 11.1.1 Familie Grothen vulgo Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 11.1.2 Familie Vahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 11.1.3 Familie Brielohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 11.1.4 Familie Budden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 11.1.5 Familie Hinte vulgo Möller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 11.1.6 Familie Schweins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 11.2 Fallbeispiele - der „mittlere Ring“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 11.2.1 Familie Schlunß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 11.2.2 Familie Saurhagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 11.2.3 Familie Böddeker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 11.3 Fallbeispiele - die „Außenringe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 11.3.1 Einzeltäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 11.3.1.1 Goert Nüthen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 11.3.1.2 Trina Klingenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 11.3.1.3 Zenzing Buschmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 11.3.1.4 Peter Nottebaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 11.3.2 Einzelne Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 11.3.2.1 Familie Plumpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 11.3.2.2 Familie Weßel-Kröger . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 11.3.2.3 Familie Hammerschmitt . . . . . . . . . . . . . . . . 384 11.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 V „Hexen-Machen“ 12 Die historische Fabrikation 393 12.1 „Kontrollagenten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 12.2.1 Differenzierungslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 12.2.2 Bestätigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 12.2.2.1 Verbale Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 12.2.2.2 Nonverbale Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 12.3 „Soziale Reaktionen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 12.3.1 Informelle Etikettierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 12.3.1.1 Gemeinschaft und Geselligkeit . . . . . . . . . . . . 424 12.3.1.2 Schul- und Spielgesellschaften . . . . . . . . . . . . . 427 12.3.1.3 Heirat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 x Inhalt 12.3.1.4 Bestattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 12.3.2 Formelle Etikettierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 12.3.2.1 Hexenprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 12.3.2.2 Hexenweg und Zehnthaus . . . . . . . . . . . . . . . 436 12.3.2.3 Güterkonfiskation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 12.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ 443 13.1 „Hexenkarrieren“(? ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 13.1.1 Abwehrstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 13.1.2 Selbstzuschreibungen und Autogenese . . . . . . . . . . . . . 450 13.2 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 VI Schluss und Ausblick 14 Gesellschaftliche Kainsmale 461 VII Verzeichnisse 15 Quellen und Literatur 471 15.1 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 15.2 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 15.3 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 16 Abbildungsverzeichnis 507 17 Tabellenverzeichnis 509 VIII Anhang A Quellenauszüge 513 B Kataster 521 Vorwort Meine Arbeit wurde im Juni 2019 unter dem Titel Deüffelskinder. Die besondere Wirkmacht eines gesellschaftlichen Stigmas am Beispiel der fürstenbergischen Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn (1601-1702) vom Historischen Institut an der Universität Paderborn als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie leicht überarbeitet. Als ich im Zuge meiner Masterarbeit zufällig über die Prozessakte von Meineke Brielohn stolperte, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Brisanz des Falles. Für mich handelte es sich zunächst um einen ganz gewöhnlichen Hexenprozess, der sich kaum von anderen bekannten Strafverfahren gegen die „Unholden“ unterschied. Erst beim Durchblättern der übrigen Protokolle wurde mir nach und nach klar, auf welch spektakulären Fund ich gestoßen war: Der Aktenband enthielt nicht nur eine bloße Kumulation trauriger Einzelschicksale, sondern alle Angeklagten waren miteinander verbunden: Die über hundert Jahre andauernden Verfolgungen in Fürstenberg bildeten folglich nicht nur den Auftakt einer Hexengeschichte, sie offenbarten zugleich eine Familien- und Dorfgeschichte. Dieses Buch lädt in die Welt der Deüffelskinder ein, die sich in so mancherlei Hinsicht nicht von der unseren unterschied. Ihre Biographien gewähren einen Einblick in Seelenzustände, die so alt sind wie das Menschengeschlecht selbst: der innere Kampf zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung. In diesem Sinne lässt das vorliegende Werk den Leser in eine vergangene Epoche eintauchen und bietet gleichsam die Möglichkeit, sich menschheitsgeschichtlicher Konstanten bewusst zu werden. Der Weg von einer vagen Idee zur praktischen Umsetzung ist oft mühsam und vielschichtig, bei dem - gleich dem Totentuch der Penelope - einige Ideen verworfen, andere neu miteinander verknüpft werden. Während dieses Prozesses wirken viele Menschen an der Vollendung mit - sei es mit Worten oder Taten. Diese möchte ich an dieser Stelle würdigen. An erster Stelle spreche ich meinen herzlichsten Dank an meinen Doktorvater, Prof. Dr. Michael Ströhmer, aus. Während der gesamten Promotionszeit begleitete er mein Forschungsprojekt mit regem Interesse, verhalf mit konstruktiver Kritik zu manchem Perspektivwechsel und brachte mir stets sein Vertrauen entgegen. Vor allem - und diesen Punkt möchte ich hervorheben - danke ich ihm dafür, dass er immer ein offenes Ohr für mich hatte und alle Ängste und Sorgen, die mit einer Promotion verbunden sind, ernst nahm. Ohne die scharfsinnigen Anregungen meines Zweitgutachters, Prof. Dr. Frank Göttmann, würde die Arbeit nicht in der Form vorliegen, wie sie jetzt ist. Er war es, der mich dazu ermutigte, einen kriminalsoziologischen Ansatz zu verfolgen. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Gerd Schwerhoff für seine Offenheit und Diskussionsbereitschaft - er brachte mich zu 2 Vorwort manch neuen Ideen und ebnete den Weg, dass dieses Buch in die Schriftenreihe „Konflikte und Kultur“ aufgenommen wurde. Herrn Dr. Rainer Decker schulde ich meinen besonderen Dank - seine Bereitwilligkeit, mir zu helfen und sich mit meiner Arbeit minutiös auseinanderzusetzen, sah ich nie als Selbstverständlichkeit an. Erfolg oder Misserfolg einer Promotion sind auch von der finanziellen Frage abhängig. Hier möchte ich der Gerda Henkel Stiftung danken, die mir ein dreijähriges Stipendium gewährte und mir somit die Möglichkeit bot, mich gänzlich auf mein Forschungsprojekt zu konzentrieren. Darüber hinaus bewilligten mir Dr. Hanssler und Frau Dr. Kühnen eine Druckkostenförderung. Die Freundlichkeit und Unterstützung, die mir entgegengebracht wurden und über das Monetäre hinausgingen, lassen sich nicht mit Gold aufwiegen. Zu besonderem Dank bin ich auch den Freiherren von und zu Brenken sowie dem Adelsgeschlecht der Herren von Westphalen verpflichtet. Ohne Vorbehalt erlaubten sie mir private Quellenbestände einzusehen, die essenziell für diese Arbeit waren. In diesem Kontext sind auch die Mitarbeiter des Landesarchivs Münster zu nennen, die mir unzählige Male massive Aktenberge herbeitrugen und digitalisierten. Insbesondere Frau Dr. Annette Hennigs half mir als frischgebackene Doktorandin, mich in dem Archiv zurechtzufinden. Im Austausch mit Herrn Prof. Dr. Hubert Drüppel gelangten noch so manch verschollen geglaubte Quellen in meine Hände. Dass meine Arbeit mit zwei Preisen honoriert wurde, berührt mich zutiefst. Ich möchte der Jury der Bremer AG Paderborn und des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Paderborn e. V. für diese Ehrungen danken. Auch den Einwohnern zu Fürstenberg gilt mein Dank. Ich bin kaum einer Dorfgemeinschaft begegnet, die so offenherzig und hilfsbereit gegenüber einer Außenstehenden war. Besonders Herr Bernd Nolte brachte mir sprichwörtlich von der Pike auf in schier unzähligen Gesprächen und E-Mails die Gemeinde Fürstenberg näher. Meine Freunde und Verwandten trugen und ertrugen mich in so mancher Promotionsphase. Ihnen allen danke ich von Herzen für ihre Liebe und Geduld. Hier möchte ich besonders Franz-Heinrich Bunge, Karl Maßmann, Manfred Pohsin, Reinhard Kurek, Dr. Georg Römhild, Dr. Bernd Kirschbaum und seine Frau Roswitha, Verena und Helmuth Boxnick, Martina Schaffarra und Nicole Beleke erwähnen. Last but not least möchte ich meinen Eltern danken, die immer an mich geglaubt haben. Gewidmet ist dieses Buch meinem Mann Simon und meinem Sohn Ben. Mein Mann hörte mir mit viel Aufmerksamkeit bei jedweder „Neuentdeckung“ oder Problematik zu und ermutigte mich stets, meinen Weg zu gehen. Sein Rückhalt, sein Verständnis und seine Liebe sind meine Säulen. Ich danke auch meinem „Sohnemann“ Ben, der mir so häufig ein Sonnenschein war und mich immer wieder mit der Frage zum Schmunzeln brachte, ob seine Biene wieder fleißig sei. Belecke, im Sommer 2020 Sarah Masiak 1 Einleitung: Die besondere Wirkmacht eines Stigmas „Seit ich höre, hat man mir gesagt, ich sei anders, und ich habe geachtet drauf, ob es so ist, wie sie sagen. Und es ist so, Hochwürden: Ich bin anders. Man hat mir gesagt, wie meinesgleichen sich bewege, nämlich so und so, und ich bin vor den Spiegel getreten fast jeden Abend. Sie haben recht: Ich bewege mich so und so. Ich kann nicht anders. Und ich habe geachtet auch darauf, ob’s wahr ist, daß ich alleweil denke ans Geld, wenn die Andorraner mich beobachten und denken, jetzt denke ich ans Geld, und sie haben abermals recht: Ich denke alleweil ans Geld. Es ist so. Und ich habe kein Gemüt, ich hab’s versucht, aber vergeblich: Ich habe kein Gemüt, sondern Angst. Und man hat mir gesagt, meinesgleichen ist feig. Auch darauf habe ich geachtet. Viele sind feig, aber ich weiß es, wenn ich feig bin. Ich wollte es nicht wahrhaben, was sie mir sagten, aber es ist so. Sie haben mich mit Stiefeln getreten, und es ist so, wie sie sagen: Ich fühle nicht wie sie. Und ich habe keine Heimat. Hochwürden haben gesagt, man muß das annehmen, und ich hab’s angenommen. Jetzt ist es an Euch, Hochwürden, Euren Jud anzunehmen.“ 1 Dieses aus Max Frischs berühmtem Drama Andorra entnommene Zitat stellt den entscheidenden Wendepunkt dar, in dem der Protagonist Andri seine von der Gesellschaft jahrelang attribuierte „Andersartigkeit“ annimmt: Auferzogen in dem Glauben, er sei ein Jude, wächst er in dem fiktiven Staat Andorra auf. Seine Bemühungen, sich erfolgreich in die Gemeinde zu integrieren, scheitern jedoch an den sozialen Grenzen, die ihm die andorranische Bevölkerung setzt: Andris Verhalten und Handlungen werden von den Andorranern nicht mehr objektiv, sondern im Licht stereotyper Klischees bewertet mit dem Resultat, dass seine konformen Handlungsmöglichkeiten zunehmend eingeschränkt werden. Sich seiner ausweglosen Situation bewusst, erliegt der Antiheld schließlich dem sozialen Druck einer Mehrheitsgesellschaft: Er verinnerlicht die ihm zugewiesene Rolle, wird sich seiner selbst als „Jud“ 2 gewahr und entscheidet sich, künftig dem Stereotyp „Jud“ 3 entsprechend zu handeln. Die anfänglich „nur“ angelasteten Vorurteile werden infolgedessen zu einer realiter wahrgenommenen Verhaltensanomalie. Jene wechselseitige Abfolge von Aktion und Reaktion setzt dabei 1 Frisch, Max: Andorra. Stück in zwölf Bildern, komm. v. Peter Michalzik, Frankfurt a. M. 22 2017, S. 80. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 1 Einleitung: Die besondere Wirkmacht eines Stigmas eine Spirale sich verdichtender sozialer Stigmatisierungen und Marginalisierungen in Gang, die die Randposition des Protagonisten zementiert und schließlich in dessen Ermordung mündet. Auf den ersten Blick mag es für den Leser unkonventionell, ja geradezu anachronistisch erscheinen, dieses noch recht junge Bühnenstück aus dem Jahr 1961 als Einstieg in die Thematik der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung zu verwenden. 4 Die Skepsis über die gewählte Einleitung ist auch nicht unbegründet. Während Frischs Drama die jüngere Vergangenheit Deutschlands aufgreift und mithin dem Zuschauer potenzielle Identifikationsmöglichkeiten bietet, liegt der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit hingegen mehrere Jahrhunderte zurück und gilt gemeinhin als Inbegriff mentaler Rückständigkeit. Denn bekanntlich staunten bereits zeitgenössische, aber auch historische Beobachter über die scheinbare Irrationalität, die der frühneuzeitlichen Hexenthematik zugrunde liegt und selbst in der heutigen Zeit noch Anlass zu manch unverständlichem Kopfschütteln gibt. Schließlich sei es den geistigen Errungenschaften der Aufklärung zu verdanken, dass das Hexenphänomen als Relikt eines aberwitzigen Aberglaubens entlarvt werden konnte 5 und dieses dunkle Kapitel der alteuropäischen Geschichte aus moderner Sicht als überwunden gelten darf. Folglich erscheint eine Wiederholung dieser (Teil-)Historie schier undenkbar. 6 Überhaupt habe sich gerade in rationaler Hinsicht der Mensch des 21. Jahrhunderts weit von den Irrtü- 4 In vielen Teilen Lateinamerikas, Südostasiens und Afrikas ist der Hexenglaube auch heute noch ein fester Bestandteil der Alltagskultur. Gerade in Mexiko und Afrika kommt es gehäuft zu körperlichen Übergriffen auf angebliche Hexen, die teilweise sogar in einem Lynchmord enden. Siehe hierzu den Stern-Artikel vom 22.09.2015 (Tarvainen, Sinikka: Hunderte Tote bei Hexenjagd in Südafrika, 2015, url: https: / / www.stern.de/ panorama/ stern-crime/ hexenjagd-in-suedafrikafordert-zahlreiche-tote-6464716.html [Zugriff am 14. 04. 2017]). Ferner Behringer, Wolfgang: Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung, München 4 2005. 5 Eine summarische Überblicksdarstellung zur aufgeklärten Sichtweise über das Hexenthema liefert Behringer, Wolfgang: Geschichte der Hexenforschung, in: Lorenz, Sönke/ Schmidt, Jürgen Michael (Hrsg.): Wider alle Hexerei und Teufelswerk. Die europäische Hexenverfolgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland, Ostfildern 2004, S. 485-668, hier S. 496-515. An dieser Stelle muss betont werden, dass die Rezeption des Hexenphänomens durchaus nicht immer vor dem Deutungshintergrund „irrational“ erfasst wurde. Zum Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfuhren die Hexenverfolgungen eine Mystifizierung durch eine romantisch verklärte Volkstumsideologie. In der NS-Zeit sollte diese Beurteilung der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen eine neue Dimension der Dramatisierung und Parallelisierung erfahren. Diverse Volkskundler und Historiker griffen im Kern auf Vorstellungen vom romantischen Paradigma zurück, interpretierten sie jedoch ganz im Sinne einer nationalsozialistischen Ideologie um. Das aufkommende „Neuheidentum“ und der völkische Rassismus bildeten dabei die richtungsweisenden Interpretationsrahmen für das frühneuzeitliche Hexenphänomen. Siehe hierzu ebd., S. 559-565 sowie Schier, Barbara: Hexenwahn und Hexenverfolgung. Rezeption und politische Zurichtung eines kulturwissenschaftlichen Themas im Dritten Reich, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1990, S. 43-115. 6 Eine wesentlich kritischere Meinung vertritt der Historiker Behringer, wenn er schreibt: „Die Tendenz, Schuld zu personalisieren, ist auch in Industriestaaten nicht in ferne Vergangenheit entschwunden. Zur Debatte steht in keiner Weise die ‚primitive society‘, sondern unsere eigene Gesellschaft, die immer anfällig bleiben wird für das, was die liberalen Historiker des vorigen Jahrhunderts in der Nachfolge scholastischer Theologen als ‚Wahn‘ bezeichnet haben.“ Behringer: Geschichte der Hexenforschung, S. 623. 1 Einleitung: Die besondere Wirkmacht eines Stigmas 5 mern der früheren Generationen entfernt, und vor allem mental weiterentwickelt. So lautet der gängige Grundtenor in vielen populären, halbwissenschaftlichen, aber auch wissenschaftlichen Schriften, die sich mit dem Hexenphänomen auseinandersetzen. 7 Der Wunsch, sich von eben dieser Geschichte zu distanzieren und sie als Kontrastpunkt zu nutzen, um die eigene kulturelle und geistige Weiterentwicklung hervorzuheben, prägt und leitet das Gesellschaftsbild zumindest im deutschsprachigen Raum. Vor dem Hintergrund jener geistigen Verortung mag die Behauptung der Verfasserin umso absurder erscheinen, dass den Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit durchaus soziale Mechanismen zugrunde lagen, die damals wie heute in jeder Gesellschaft Gültigkeit besitzen - ja, in der Tat sogar systemimmanent sind und damit folglich eine anthropologische Konstante beinhalten: 8 Verbindendes Scharnier zwischen Vergangenheit und Gegenwart bildet hierbei die übergeordnete Frage: Wie „produziert“ eine Gesellschaft ihre eigenen Abweichler respektive Hexen? Gerade Frischs Drama vermittelt illustrativ, dass Dissidenten ein konstruiertes Produkt einer Mehrheitsgesellschaft sind. Sie werden als solche nicht geboren. Ein Phänomen, das auch in der Gegenwart noch Aktualität besitzt: Sowohl die Outgroups, die sich im Kollektiv zusammenschließen, als auch Außenseiter, die fallweise zu Delinquenten werden, sind in allen Bereichen sozialen Zusammenlebens anzutreffen und gehören zum vertrauten Alltagsbild. Zu der Gruppe der Stigmatisierten und Marginalisierten zählten bekanntermaßen auch die Opfer von Hexengerüchten, die bisweilen in strafrechtliche Verfolgungen mündeten. 9 Obwohl die Hexenthematik von der historischen Forschung theoretisch und methodisch weit abgesteckt wurde, sind die Deutungsansätze und Erklärungsmodelle für die Ursachen, Anlässe und Wirkungen noch nicht gänzlich ausgeschöpft. Bei der Vielschichtigkeit des Phänomens, seinen je lokalen und regionalen besonderen Ausprägungen, kann das Forschungsinteresse auch noch nicht beendet sein. Welche neue Erkenntnis, so lautet die berechtigte Frage, kann nun das vorliegende Forschungsprojekt zu den vormodernen Hexenverfolgungen leisten? Einen fruchtbaren Deutungsansatz bildet ein gezielter Dialog zwischen zwei bisher getrennt voneinander betrachteten Forschungsdisziplinen: der Devianzsoziologie und der Hexenforschung. Als richtungsweisend und den Stoff strukturierend gilt hierbei das aus der Neuen Devianzsoziologie bekannte Konzept des Labeling Approach. Die 7 Dass das frühneuzeitliche Hexenphänomen häufig als kontrastierendes Abgrenzungsinstrument zum eigenen gesellschaftlichen Entwicklungsstand dient, wird an den verschiedenen Substantiven, Verben und Attributen deutlich, die in diversen Abhandlungen häufig Verwendung finden: „Hexenwahn“, „Aberglaube“, „irrational“ und „unvorstellbar“, „nicht nachvollziehbar“ etc. Die Hexenforschung bezieht hierzu eine weitaus kritischere Stellung und nimmt auch von der Verwendung des Begriffs „Hexenwahn“ Abstand. Vgl. Behringer: Geschichte der Hexenforschung, S. 524. 8 Siehe hierzu die Stellungnahme des Professors für Sozialpsychologie und Politische Psychologie an der Kieler-Universität Simon, Bernd: „Standpunkt“, 2017, url: http: / / www.uni-kiel.de/ psychologie/ sozial/ downloads/ Standpunkte2.pdf (Zugriff am 12. 06. 2018). 9 Die offensichtliche Empathielosigkeit der zeitgenössischen Bevölkerung im Umgang mit den berüchtigten Personen gilt als ein charakteristisches Merkmal des Hexenphänomens. Siehe hierzu Walz, Rainer: Der Hexenwahn im Alltag. Der Umgang mit verdächtigen Frauen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43.3 (1992), S. 157-168. 6 1 Einleitung: Die besondere Wirkmacht eines Stigmas Labeling-Theoretiker haben es sich zum Ziel gesetzt, die Gründe für die Entstehung von Nonkonformität, Devianz und/ oder Delinquenz plausibel erklären zu wollen. Im Vordergrund des Erklärungsmodells steht dabei die Untersuchung endogener Faktoren, d. h. der systemimmanenten und dynamischen Prozesse einer Gemeinschaft auf sozialer Ebene sowie ihrer möglichen sozialpsychologischen Auswirkungen auf das einzelne Individuum. Entscheidende Stichworte bilden hierbei die stets im Zusammenhang und Wechselspiel stehenden bipolaren Kodierungen „Konformität“ und „Devianz“, „Inklusion“ und „Exklusion“, „Selbst-“ und „Fremdwahrnehmung“. Vor allem das Verhältnis zwischen „Alterität“ und „Identität“ 10 sowie die damit einhergehenden korrespondierenden Muster der Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit sollen erkenntnisleitend für die Aufschlüsselung sozialer Faktoren im Prozess von Hexereibeschuldigungen sein. 11 Den entscheidenden Impuls, sich dem Hexenphänomen, auf diese Weise methodisch und theoretisch „ausgerüstet“, vertiefend zu nähern, gab der Untersuchungsraum Fürstenberg: Der heute unscheinbar anmutende Ort ist eine kleine Gemeinde nahe Paderborn mit einer aktuellen Einwohnerzahl von ca. 3000 Seelen. Bei oberflächlicher Betrachtung spricht zunächst nichts dafür, dass diese Kommune in der Regionalgeschichte dafür bekannt ist, ein Sitz alberner Vorfälle aus dem Alterthum 12 gewesen zu sein. Neben seiner Nachbarherrschaft Büren-Ringelstein, die allein in den 1630er- Jahren eine Anzahl von 55 hingerichteten Personen zu verzeichnen hat, 13 war das Dorf eine Hochburg der Hexenverfolgungen im nordwestdeutschen Raum, sodass die Ortsobrigkeit später den Ruf als „Hexenverbrenner“ 14 bekommen sollte. Nicht zu Unrecht, denn zwischen 1601 und 1703 15 wurden in dem damaligen Patrimonialgerichtsbezirk unter der Schutz- und Schirmherrschaft der Herren von Westphalen über 100 Personen als Hexe bzw. Hexer verfolgt. Wäre nicht allein für diesen kleinen 10 Der in der Historie verbreitete, verwaschene Begriff „Identität“ wird im Verlauf der Arbeit noch kritisch reflektiert. Siehe hierzu Kapitel 13. 11 Inspirierend für die hier eingenommene Perspektive auf das Hexenphänomen war der Aufsatz von Göttmann, Frank: Räuber in der Spätzeit des Alten Reiches - soziales Umfeld, Fremdbild und Eigenbild, in: Paderborner Historische Mitteilungen 20 (2007), S. 62-89, hier S. 64. 12 So das Urteil eines anonymen Chronisten zu den in Fürstenberg geführten Hexenprozessen im Jahr 1818. Z. n. Nolte, Bernhard: Chronik der Commune Fürstenberg: 1800-1919. Herausgegeben im Auftrag des Förderkreises für Kultur, Geschichte und Natur im Sintfeld, Paderborn 1985, S. 17. 13 Vgl. Decker, Rainer: Art. „Paderborn - Hexenverfolgungen“, in: Gersmann, Gudrun/ Moeller, Katrin/ Schmidt, Jürgen-Michael (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ jd/ (Zugriff am 25. 04. 2017). 14 Vgl. Henkel, Gerhard: Geschichte und Geographie des Kreises Büren, Paderborn 1974, S. 154. Siehe auch Decker, Rainer: Die Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn, in: Westfälische Zeitschrift - Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 128 (1978), S. 315-356. 15 Es sei an dieser Stelle vermerkt, dass Fürstenberg gänzlich gegen den „Trend“ seiner Zeit Hexenprozesse zu einem noch sehr späten Zeitpunkt durchführte. Bereits ab 1660 wurden die Hexenverfolgungen sukzessiv im Alten Reich eingestellt. Die späten Hexenverbrennungen sind von der Historiografie bisher noch ungenügend erforscht. Vgl. Behringer: Vermarktung, S. 84. 1 Einleitung: Die besondere Wirkmacht eines Stigmas 7 Ort, der im 17. Jahrhundert knapp 1300 16 Einwohner umfasste, die extrem hohe Anzahl der Verfolgten Grund genug, die Fürstenberger Hexenprozesse zum Forschungsgegenstand zu erheben, so fällt bereits beim Sichten der Akten auf, dass über 90 % der Delinquenten angeblich von „Hexenart“ gewesen seien. Nicht weniger als neun Familien standen teilweise über fünf Generationen immer wieder vor Gericht, angeklagt, der Hexensekte zugehörig zu sein. Diese „Hexensippschaften“, die mit der zeitgenössischen Metapher Infecti (dt. „die Infizierten“) oder Deüffelskinder (hochd.: „Teufelskinder“) umfasst wurden, bildeten das ausschlaggebende Movens, sich intensiv mit ihrem genealogischen und biografischen Hintergrund sowie sozialen Milieu auseinanderzusetzen. Der empirische Befund förderte dabei Brisantes zutage: Die zeitgenössische Vorstellung von einer vererbbaren „Hexenqualität“ führte zu jahrelangen informellen wie formellen Etikettierungen, sogar vereinzelt zu radikalen Ausgrenzungen. Mithin wurde der Sozialstatus der Opfer als Infamierte bekräftigt und ihre interaktiven Handlungsmöglichkeiten teilweise erheblich eingeschränkt. Dabei ließen sie sich jedoch nicht in eine Randposition drängen, sondern entwickelten um das gesellschaftlich attribuierte „Hexenimage“ ihre ganz eigenen Überlebensstrategien. Obwohl sie mit ihren Abwehrpraktiken sowohl auf sozialer als auch auf rechtlicher Ebene durchaus einigen Erfolg verbuchen und das bestehende Hexengerücht von sich weisen, ja sogar teilweise eine strafrechtliche Verurteilung abwehren konnten, leugneten einige Deüffelskinder ihr Geburtsstigma nicht mehr: Offensiv schrien mehrere Infecti ihre Rolle als Hexe und Hexer heraus und vertraten ihr „Image“ sowohl in der Öffentlichkeit als auch vor dem Justizapparat. Damit bestätigten sie das bestehende Hexengerücht um ihre Person und evozierten geradezu weitere Hexenprozesse. Auf Basis der hier skizzierten Befunde soll die Tragfähigkeit des soziologischen Deutungsansatzes überprüft und eine neue Interpretationsvariante des Hexenphänomens eröffnet werden. Freilich kann es in dieser Arbeit hinsichtlich des methodischen Zugriffs um keine Ursachenforschung gehen. Die berühmte Frage nach dem „Warum? “ ist hier tatsächlich von marginaler Bedeutung. Vielmehr steht die Frage nach dem in der Hexenforschung bisher wenig beachteten „Wie? “ im Vordergrund, dem sich mittels eines interdisziplinären und daraus resultierend multiperspektivischen Blickwinkels angenähert werden soll. 17 Damit steht dieses Forschungsprojekt - metaphorisch gesprochen - auf den Schultern der Pionierarbeit von Rainer Walz, der in 16 Paul Schäfer berechnete nach einem Kataster von 1672, dass zu diesem Zeitpunkt ca. 1276 Einwohner in Fürstenberg lebten. Vgl. Schäfer, Paul: Bevölkerung und Landbesitz in den Orten der Stadt Wünnenberg nach dem Dreißigjährigen Krieg. Eine spezielle Analyse der Katasteraufnahme von 1672, in: Heimatbuch der Stadt Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Wünnenberg 1987, S. 387-396, hier S. 389. 17 Rainer Walz vermerkt kritisch: „Historiker, denen ja die Genese historischer Erscheinungen am Herzen liegt, betonen die Ursachenforschung als ihre eigentliche Aufgabe. Die Hexenforschung hat dabei oft unter monokausalen Erklärungen gelitten. Auch die ethnologische Forschung ist von Historikern [...] umso bereitwilliger rezipiert worden, je mehr sie ‚den einen‘ Schlüssel anbot.“ Walz, Rainer: Die Relevanz der Ethnologie für die Erforschung der europäischen Hexenverfolgungen, in: Ahrendt-Schulte, Ingrid/ Bauer, Dieter R./ Lorenz, Sönke/ Schmidt, Jürgen Michael (Hrsg.): 8 1 Einleitung: Die besondere Wirkmacht eines Stigmas seiner Habilitationsschrift überzeugend darlegt, dass man sich zuerst dem sozialen und mentalen Bedingungsgefüge einer Gemeinde widmen muss, wenn man sich dem Hexenphänomen nähern will. 18 So wird Fürstenberg zu einem probaten Experimentierfeld für die Entstehungsbedingungen, Verläufe und Auswirkungen von sozialen Stigmatisierungs- und Marginalisierungsprozessen sowie die daraus resultierenden Verhaltensdispositionen der Akteure. Der mikrohistorische Ansatz erlaubt, die komplexen Feinheiten dynamischer Sozialprozesse herauszuarbeiten, und liefert damit ein verkleinertes Abbild einer frühneuzeitlichen Gesellschaft. Jedoch weisen die räumlich und zeitlich begrenzten Struktur- und Ereignisfälle über den behandelten Untersuchungsraum hinaus und gewinnen somit einen exemplarischen sowie verallgemeinerungsfähigen Charakter. Geschlecht, Magie und Hexenverfolgung (Hexenforschung, Bd. 7), Bielefeld 2002, S. 57-80, hier S. 60. 18 Ders.: Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit. Die Verfolgungen in der Grafschaft Lippe (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 9), Paderborn 1993, S. 39-46. Teil I Einführung: Quo vadit? 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung Ohne Zweifel übte und übt das Phänomen Hexenverfolgung auf die Menschen eine Faszination aus - entführt doch allein der Gegenstand der Bekämpfung, das crimen maleficarum, den Geist in eine Welt ohne physikalische Grenzen und moralischchristliche Maßstäbe. 19 Nebenbei befriedigt es ein der menschlichen Natur innewohnendes Sensationsbedürfnis, da die Verfahrensprotokolle Einblicke in persönliche Einzelschicksale gewähren und ein Zeugnis menschlicher Grausamkeiten sein können. Es mag gerade an dem vielschichtigen Charakter der Hexenverfolgungen liegen, dass sie trotz ihrer sukzessiven Abschaffung ab den 1660er-Jahren 20 von der Frühen Neuzeit bis in die heutige Zeit Gegenstand des Interesses geblieben sind und ihren Niederschlag in zahlreichen historischen Darstellungen fanden. Dass das Hexenthema letztendlich auch von der Geschichtswissenschaft aufgegriffen worden ist, ist nicht als selbstverständlich anzunehmen. Es war für die Hexenforschung durchaus ein langer Weg, bis sie als eine seriöse Teildisziplin wahrgenommen wurde und ihren festen Platz 19 Hierbei sind wesentlich neben dem Schadenszauber die nächtlichen Treffen auf dem Hexensabbat, der Hexenflug, die Teufelsbuhlschaft und der Teufelspakt gemeint. Alle diese Topoi wurden in einem zeitgenössischen Kupferstich von Binsfeld, Peter: Tractat von Bekanntnuß der Zauberer vnd Hexen. Ob vnd wie viel denselben zu glauben [...], München 1592, url: https: / / reader.digitalesammlungen . de / de / fs1 / object/ display/ bsb10152963 _ 00005 . html (Zugriff am 08. 05. 2016) aufgegriffen und visuell verarbeitet. Für weitere Illustrationen der „Hexenwelt“ aus dem 17. und 18. Jahrhundert siehe den Aufsatz von Schild, Wolfgang: Hexen-Bilder, in: Franz, Gunther/ Irsigler, Franz (Hrsg.): Methoden und Konzepte der historischen Hexenforschung (Trierer Hexenprozesse. Quellen und Darstellungen, Bd. 4), Trier 1998, S. 329-413, hier S. 357. Weiteres Anschauungsmaterial bieten folgende Ausstellungskataloge: Hexen. Mythos und Wirklichkeit, hrsg. v. Historisches Museum der Pfalz Speyer, München 2009 und Beier-de Haan, Rosemarie/ Voltmer, Rita/ Irsigler, Franz (Hrsg.): Hexenwahn. Ängste der Neuzeit. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums. Berlin, Kronprinzenpalais 3. Mai bis 6. August 2002, Berlin 2002. 20 Einen Gesamtüberblick über die im Alten Reich noch spät durchgeführten Verfolgungen bietet der Band von Behringer, Wolfgang/ Lorenz, Sönke/ Bauer, Dieter R. (Hrsg.): Späte Hexenprozesse. Der Umgang der Aufklärung mit dem Irrationalen (Hexenforschung, Bd. 14), Bielefeld 2016. 12 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung in der Historiografie gefunden hat. 21 Es scheint an dieser Stelle lohnenswert, kurz den Werdegang dieses doch recht jungen etablierten Forschungsmetiers zu umreißen. 22 Die vorausgegangenen zeitgenössischen Debatten unter den Gelehrten vom 15. bis zum 19. Jahrhundert waren wesentlich von der Frage nach der Rechtmäßigkeit von Hexenprozessen und ihren Ursachen bestimmt. 23 Das Erkenntnisinteresse war dabei unverkennbar vom geistigen Import des Historikers und von den jeweiligen zeitlich kontextuellen geistigen Strömungen motiviert. 24 Nicht selten unterlagen dabei die 21 Dieser Umstand rührt nicht zuletzt daher, dass das Phänomen „Hexenverfolgung“ häufig für politische Zwecke genutzt und auch von dem sogenannten „Neopaganismus“ aufgegriffen wurde. Die Anhänger dieser esoterischen Strömung, die sich selbst als „neue Hexen“ bezeichnen, verfallen teilweise sogar in Trance und sehen sich „auf mittelalterlichen Marktplätzen im Rauch der Scheiterhaufen ersticken, sie winden sich unter der Folter und brechen in Tränen aus, wenn sie Verhörprotokolle lesen. [...] Die verständliche Folge ist, daß die Beschäftigung mit Hexen von weiten Kreisen auch weiterhin als unseriös betrachtet wird.“ Eichhorn, Jaana: Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, Göttingen 2006, S. 266. Vgl. auch Wiedemann, Felix: Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus, Würzburg 2007. 22 Für einen kurzen, aber fundierten Überblick der Geschichtsschreibung im Umgang mit dem Hexenthema siehe Riedl, Gerda: „Alles von Rechtswegen! “ Frühneuzeitliches Hexenprozess-(Un-) Wesen am Beispiel des Falles Sidonia von Borcke, in: George, Marion/ Rudolph, Andrea (Hrsg.): Hexen. Historische Faktizität und fiktive Bildlichkeit (Kulturwissenschaftliche Beiträge. Quellen und Forschungen, Bd. 3), Dettelbach 2004, S. 133-154, hier S. 133-138. 23 Hier soll nicht der Ort sein, um detailliert die Anfänge und Höhepunkte des zeitgenössischen Gelehrtendiskurses über das Hexenthema wiederzugeben, dessen Wurzeln bis in die Antike zurückreichen und im Frühmittelalter von Kirchengelehrten wieder aufgegriffen wurden. Die Anzahl der Schriften, die sich vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit thematisch mit dem Hexenwesen auseinandersetzten, ist sehr hoch. Vgl. hierzu den Aufsatz von Behringer: Geschichte der Hexenforschung, insb. die Seiten 485-519. Siehe auch eine kurze Überblicksdarstellung von Schnyder, André: Art. „Hexereiliteratur“, in: Jaeger, Friedrich (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit Online, url: http : / / dx . doi . org / 10 . 1163 / 2352 - 0248 _ edn _ a1686500 (Zugriff am 27. 03. 2017). Online im PDF-Format zu lesen, ohne Jahres-, Band- und Spaltenangabe. Zugriff nur für registrierte Personen. Mit besonderem Blick auf das Lager der Skeptizisten: Lehmann, Hartmut/ Ulbricht, Otto (Hrsg.): Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee, Wiesbaden 1992. Unzweifelhaft bildete jedoch die bahnbrechende Schrift Historische Untersuchung vom Ursprung des Fortgangs des Inquisitions Processes wieder die Hexen von Christian Thomasius einen Höhepunkt im zeitgenössischen Hexendiskurs. Einige Auszüge sind zu lesen bei Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, München 7 2010. Ein Druck von 1712 ist online einsehbar unter der url: http: / / ora-web.swkk. de/ digimo_online/ digimo.entry? source=digimo.Digitalisat_anzeigen&a_id=14280 (Zugriff am 21. 07. 2016). Noch weitere Schriften, die sich intensiv mit dem Hexenthema auseinandersetzen, sollten über achtzig Jahre nach Thomasius’ Abhandlung folgen. Allerdings ist sich die Forschung in dem Punkt einig, dass sie die Ausdruckskraft und Wirkung des „aufgeklärten“ Juristen nicht erreichten, der bereits zu Lebzeiten zu einer nationalen Bekanntheit aufgestiegen war. Behringer: Geschichte der Hexenforschung, S. 498. 24 Eine Beobachtung, die für jedes Interpretationsmodell gilt. So schreibt Karl Heinz Metz über die Geschichtsinterpretationen: „Das zu Erkennende besitzt sowohl Faktizität als auch Struktur, sonst wäre es nicht vorhanden. Da jedoch seine je erkannte Konkretheit stets vom geistigen ‚Import‘ des Erkenntnisinteresses abhängt, das selbst individuell wie epochal gebunden bleibt, ist auch eine Endgültigkeit des Erkennens unerreichbar.“ Metz, Karl Heinz: Von der Erinnerung zur Erkenntnis. Eine neue Theorie der Geschichte, Darmstadt 2012, S. 18. 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung 13 Erkenntnisgewinne dem Leitsatz, als ein historisches Argument zur Untermauerung einer bereits vorgefassten Meinung zu dienen. Derartige Instrumentalisierungsversuche der Hexenthematik werden dabei besonders in den Historiker-Debatten des 19. Jahrhunderts deutlich. 25 Neben diesen Abhandlungen war das Hexenthema im Großen und Ganzen innerhalb der klassischen Historiografie verpönt und lediglich marginal behandelt worden. 26 Man wollte sich von dem „Schandfleck“ der Hexenverfolgungen distanzieren, die seit der Aufklärung als ein Muster von Irrationalität schlechthin galten. Zudem passte die Erforschung des Hexenthemas nicht in das Konzept des Historismus, weswegen es sogar als eine „hässliche Warze“ bezeichnet wurde und heute unter dem Terminus technicus „rationalistisches Soldan-Paradigma“ subsumiert wird. 27 Ein grundlegender Wandel im Umgang mit dem Hexenthema ist ab den 1960er- Jahren zu beobachten: Eine neue Generation von Historikern blickte nicht auf die Zeit der Hexenverfolgungen herab: Sie erkannten den besonderen hermeneutischen Wert des Untersuchungsgegenstandes, nahmen ihn als solchen ernst und analysierten ihn mit reflektierten sowie interdisziplinären Methoden. Weitere Verdienste kommen der italienischen Microhistoria und der französischen Annales-Schule zu, die dank 25 So wurde „die Hexe“ einerseits als Relikt einer germanischen Mythologie als „weise Frau“ romantisiert oder „als Inkarnation jener Befreiungsgeschichte, die in der Französischen Revolution gipfeln sollte“, dargestellt. Behringer: Geschichte der Hexenforschung, S. 518. Diese Interpretation des Hexenphänomens findet sich z. B. bei dem französischen Historiker Jules Michelet, der in seiner Arbeit einen Klassen- und Geschlechterkampf zwischen Feudalherren und Leibeigenen eröffnet. Andererseits wurden die Hexenverfolgungen im „Kulturkampf“ von Theologen instrumentalisiert, um konfessionelle Streitigkeiten in puncto Schuldfrage zu „klären“. Als zentrale Figur kann Johannes Janssen genannt werden. Vgl. hierzu den Aufsatz von Freytag, Nils: Art. „Hexenverfolgungen in der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts“, in: Gersmann/ Moeller/ Schmidt (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ 44zqq/ (Zugriff am 25. 07. 2016). Bezeichnenderweise spricht sich Janssen offen gegen das romantisch-verklärte Bild der Hexe aus und nimmt eher eine rationale Sichtweise ein, die an das „Soldan-Paradigma“ erinnert. So schreibt er: „Da werden auch seit langen Jahren und noch unzähligen Zeitungen, Tractätlein und dergleichen gedruckt und verkauft über Hexen, Zauberer und allerlei Teufelsgewürm, auch über Wunder und Apparitionen, so sich ereignet haben sollen, dergleichen Aberwitzigkeiten ehedem kein vernünftiger Mensch geglaubt haben würde, jetzunder aber schier alle Welt, Jung und Alt, Hoch und Niedrig, gierig in sich schlingt, als wären es wahrhaftige Historien. [...] daß Gott erbarm, was daraus noch werden soll.“ Janssen, Johannes: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters. Achter Band: Volkswirtschaftliche, gesellschaftliche und religiös-sittliche Zustände. Hexenwesen und Hexenverfolgung bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges. Nachdruck des Originals von 1894, Paderborn 2015, S. 530. Vgl. auch hierzu die Schrift von Hansen, Joseph: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der Hexenverfolgung im Mittelalter. Mit einer Untersuchung der Geschichte des Wortes Hexe von Johannes Franck, Bonn 1901. 26 Es sei an dieser Stelle kritisch eingeräumt, dass im akademischen Betrieb das Hexenthema zwar weitestgehend ignoriert wurde, auf lokaler Ebene jedoch weiterhin ein reges Interesse an der Thematik bestand. Ab den 1830er-Jahren verdichten sich sogar die Abhandlungen über die alten Hexenprozessakten. Siehe hierzu Behringer: Geschichte der Hexenforschung, S. 521. 27 Z. n. ebd., S. 520; eine Sichtweise, die sich auch in der Lokalgeschichtsschreibung in Fürstenberg für das 19. Jahrhundert wiederfindet, wenn der örtliche Chronist schreibt, dass das mechanisch verirrte Hirngespinst [sc. die Hexenprozesse] keiner Erwähnung von Beispielen würdig sei. Z. n. Nolte: Chronik, S. 17. 14 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung ihrer minutiösen Feinarbeiten Details ans Tageslicht brachten, die, in einen kausalen Zusammenhang gesetzt, eindrucksvoll das komplexe Zusammenspiel und -wirken einzelner Faktoren verdeutlichen. 28 Nicht ohne Stolz kann die Hexenforschung für sich in Anspruch nehmen, die letzten Jahrzehnte „stürmisch“ 29 vorangeschritten zu sein: Von ihrer Außenseiterposition ist sie zu einem Schlüsselthema der Frühen Neuzeit geworden. 30 Dieser Umstand ist nicht zuletzt der Erkenntnis zu verdanken, dass die Quellengattung „Hexenprozessakten“ eine Schnittstelle von vielen sozialen, ökonomischen, rechtlichen, mentalen etc. Phänomenen bildet. Folglich erweisen sich diese Quellen für interdisziplinäre Analysen als besonders fruchtbar. So schreibt Eva Labouvie: „Wohl kaum ein Thema der frühneuzeitlichen Geschichte kann, wenn das Forschungsinteresse sich an sozial- und alltagsgeschichtlichen oder historisch-anthropologischen Fragestellungen orientiert, nicht mithilfe guter Hexenprozeßakten angegangen werden.“ 31 Zudem lehnte die jüngere Hexenforschung entschieden anachronistische Perspektiven 32 ab und räumte mit populistischen Mythen auf, die sowohl aus der Zeit des 19. Jahrhunderts stammen als auch von den feministisch geprägten Frauenbewegungen der 1970er-Jahre, die bekanntlich für sich das Hexenthema vereinnahmten, um politische Interessen durchzusetzen. 33 28 So sei beispielhaft das Werk von Carlo Ginzburg angeführt: Ginzburg, Carlo: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 7 2011 und Le Roy Ladurie, Emmanuel: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294-1324, Berlin 2000 sowie ders.: Karneval in Romans. Eine Revolte und ihr blutiges Ende 1579-1580, München 1989. Über die Anfänge der Mikrogeschichte und ihren terminologischen Begründer siehe Ginzburg, Carlo: Mikrogeschichte. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: ders. (Hrsg.): Faden und Fährten: wahr, falsch, fiktiv, Berlin 2013, S. 89-112. 29 Behringer, Wolfgang: Erträge und Perspektiven der Hexenforschung, in: Historische Zeitschrift 249.3 (1989), S. 619-640, hier S. 619. 30 „Die Hexenforschung ist vom Rand ins Zentrum der Historiographie über die frühe Neuzeit gerückt. Ihr Untersuchungsgegenstand wird heutzutage nicht mehr als exotische Ausnahmeerscheinung verstanden, sondern als eine Chance begriffen, die frühneuzeitliche Gesellschaft und ihre Konflikte besser zu verstehen.“ Schwerhoff, Gerd: Vom Alltagsverdacht zur Massenverfolgung. Neuere deutsche Forschungen zum frühneuzeitlichen Hexenwesen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 359-380, hier S. 359. 31 Labouvie, Eva: Hexenforschung als Regionalgeschichte. Probleme, Grenzen und neue Perspektiven, in: Wilbertz, Gisela/ Schwerhoff, Gerd/ Scheffler, Jürgen (Hrsg.): Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich (Studien zur Regionalgeschichte, Bd. 4; Beiträge zur Geschichte der Stadt Lemgo, Bd. 4), Bielefeld 1994, S. 45-60, hier S. 51 f. 32 Hierzu der Aufsatz von Neugebauer-Wölk, Monika: Art. „Wege aus dem Dschungel. Betrachtungen zur Hexenforschung“, in: Moeller, Katrin (Hrsg.): Hexenforschung/ Forschungsdebatten, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ 13jzxw/ (Zugriff am 25. 07. 2016). 33 Vgl. hierzu die Dokumentation der Frauen-Ringvorlesung von 1987 mit dem Titel: Hexen. Autonomes Frauen- und Lesbenreferat Uni Köln, hrsg. v. Autonomes Frauen- und Lesbenreferat des AStA’s der Universität zu Köln, Köln 1987. Unter anderem hielt Alice Schwarzer einen Vortrag mit dem Titel „Wir modernen Hexen“. Die Historikerin Ingrid Ahrendt-Schulte greift die Instrumentalisierung des Hexenthemas durch Feministinnen in ihrem Werk kurz auf. Siehe hierzu Ahrendt-Schulte, Ingrid: Weise Frauen - böse Weiber. Die Geschichte der Hexen in der Frühen Neuzeit, Freiburg i. Br. 1994, S. 7-10. Der Mythos von der Verfolgung der „weisen Frauen“, insbesondere von Hebammen, ist von Walter Rummel dezidiert widerlegt worden. Rummel, 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung 15 Insbesondere ethnologisch-sozialhistorische Modelle lieferten hier wesentliche Impulse für einen Paradigmenwechsel in der Hexenforschung; sie untersuchten die soziale Funktion von Hexereianklagen in primitiven Gesellschaften, fragten nach den Beziehungen zwischen „Angeklagten und Anklägern, ihrer Mentalität, ihrem Weltbild und den innerdörflichen Konflikten, die sich in der Verfolgung von Hexen entluden“ 34 . Walter: Art. „Weise Frauen als Opfer? “, in: Gersmann/ Moeller/ Schmidt (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ jdztl/ (Zugriff am 25. 07. 2016). Auch Gerd Schwerhoff setzt sich kritisch mit der „Gunnar/ Stegsohn-These“ auseinander. Schwerhoff, Gerd: Die Erdichtung der weisen Männer. Gegen falsche Übersetzung von Hexenglauben und Hexenverfolgung, in: Lorenz, Sönke/ Bauer, Dieter R. (Hrsg.): Hexenverfolgungen. Beiträge zur Forschung - unter besonderer Berücksichtigung des südwestdeutschen Raumes (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd. 15), Würzburg 1995, S. 391- 419. Schließlich wurde auch die unglaubliche Zahl von neun Millionen Opfern der Hexenverfolgung ad absurdum geführt. Behringer, Wolfgang: Neun Millionen Hexen. Entstehung, Tradition und Kritik eines populären Mythos, 2006, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ 7pzym/ (Zugriff am 25. 07. 2016). 34 Kriedte, Peter: Die Hexen und ihre Ankläger. Zu den lokalen Voraussetzungen der Hexenverfolgungen in der frühen Neuzeit - Ein Forschungsbericht, in: Zeitschrift für Historische Forschung 14.1 (1987), S. 47-71, hier S. 48. Hier sei die zentrale Arbeit von Evans-Pritchard, E. Edwards: Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, Oxford 1937 genannt. Einige kritische Anmerkungen hierzu von Behringer: Geschichte der Hexenforschung, S. 584. Vgl. auch hierzu den Artikel von Callow, John: Art. „Evans-Pritchard, Edward E. (1902-1973)“, in: Golden, Richard M. (Hrsg.): Encyclopedia of Witchcraft. The Western Tradition, 4 Bde., Santa Barbara 2006, Bd. 2, S. 328 f.; Lévi-Strauss, Claude: Le sorcier et sa magie, in: Le Temps modern 41 (Mars 1949), S. 3-24; Deutsche Ausgabe: Der Zauberer und seine Magie, in ders.: Strukturale Anthropologie I, aus dem Französischen übers. v. Hans Naumann, Frankfurt a. M. 1971, S. 183-203. Behringer merkt über Lévi-Strauss an, dass er die Feldforschung geradezu mythisiere und bestenfalls als „ambulanter Schreibtisch-Ethnologe“ bezeichnet werden könne. Behringer: Geschichte der Hexenforschung, S. 551; Thomas, Keith: Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth and Seventeenth Century England, Oxford 1971; Barry, Jonathan: Art. „Thomas, Keith (1933-)“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 4, S. 1115 f.; Macfarlane, Alan: Witchcraft in Tudor and Stuart England. A Regional and Comparative Study, London 1970. Vgl. Sharpe, James: Art. „MacFarlane, Alan (1941-)“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 687 f.; Grundsätzlich wird an Macfarlane und Thomas kritisiert, dass ihre Deutungsmuster zu funktionalistisch seien. Voltmer, Rita: Hexenjagden im Westen und Norden des Alten Reiches. Ein struktureller Vergleich, in: Interdisziplinäre Hexenforschung online 2 (2010), Sp. 1-31, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ 2h5zlt/ (Zugriff am 25. 07. 2016). Ebenso kritisch ist die Arbeit von Robert Muchembled zu betrachten. Muchembled, Robert: Culture populaire et culture des élites dans la France modern (XV e -XVIII e siècles), Paris 1978. Deutsche Ausgabe: ders.: Kultur des Volks - Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung, Stuttgart 1982. Ders.: Les derniers bûchers. Un village de Flandre et ses sorcières sous Louis XIV, Paris 1981. Kritik zu Muchembleds Akkulturationstheorie in Eiden, Herbert: Die Unterwerfung der Volkskultur? Muchembled und die Hexenverfolgungen, in: Voltmer, Rita (Hrsg.): Hexenverfolgung und Herrschaftspraxis (Trierer Hexenprozesse. Quellen und Darstellungen, Bd. 7), Trier 2005, S. 23-40. Muchembled relativiert selbst im Nachhinein einige seiner vorherigen Aussagen. Siehe auch Monter, William: Art. „Muchembled, Robert (1944-)“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 793 f.; Midelfort, H. C. Erik: Witch-Hunting in Southwestern Germany 1562-1684. The Social and Intellectual Foundations, Stanford 1972. Behringer, Wolfgang: Art. „Midelfort, H. C. Erik (1941-)“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 759 f. Neben den angelsächsischen sei zusätzlich auf die amerikanischen und russischen Verdienste hingewiesen, Behringer: Geschichte der Hexenforschung, S. 584 ff. 16 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung Diverse Studien plädierten in ersten Schritten dafür, einen multiperspektivischen Weg einzuschlagen, die eindimensionale Bahn zu verlassen und stattdessen ein Faktorenbündel („Faktorencluster“) 35 als Ursache für die Initiierung von Hexenprozessen zu berücksichtigen sowie die Hexenprozesse „from the native’s point of view“ 36 zu betrachten. Diese Arbeiten lieferten wichtige Anregungen für weitere Interpretationsansätze in der deutschsprachigen Hexenforschung, sodass sie sich heute zu Recht rühmen kann, zu einer „angemessenen historischen Deutung des Phänomens“ 37 gelangt zu sein und den internationalen Anschluss an die Diskussion gefunden zu haben. Gerade weil die Quellengattung „Hexenprozessakten“ mittlerweile als eine Chance wahrgenommen wird, die frühneuzeitliche Gesellschaft intensiv zu erforschen und zu verstehen, sie sogar regelrecht zu „decodieren“ 38 , ist die Anzahl der auf diesem Gebiet erschienenen Titel wortwörtlich Legion - von deskriptiven, populären und halbwissenschaftlichen Versuchen bis hin zu seriösen, wissenschaftlichen Abhandlungen. 39 35 Eine der ersten Arbeiten, die für ein Faktorenbündel plädiert, ist von Levack, Brian P.: The Witch Hunt in Early Modern Europe, Abingdon und New York 1987. Goodare, Julian: Art. „Levack, Brian (1943-)“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 650 f. In seinen vielen Essays spricht sich William Monter für eine multiperspektivische Methode aus, um das Phänomen Hexenverfolgung plausibel zu klären. So schreibt Behringer über die besonderen Verdienste von Monter, dass er „succeeded in destroying stereotypes about uniform patterns of persecutions or of patterns depending on the form of religion. [...] In contrast to anthropologically historians, Monter always emphasized the importance of ‚culture,‘ popular as well as religious or intellectual“. Behringer, Wolfgang: Art. „Monter, William (1936-)“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 780 f., hier S. 781. Jüngst plädiert auch Voltmer für die Berücksichtigung mehrerer Faktoren: „Methodisch keineswegs unlogisch, sondern modellimmanent bleibt die Feststellung, dass eben jeder Faktor für sich genommen keine ausreichende, weil nur monokausale Erklärung liefern kann, hingegen die Bündelung, die Kumulation, die Konstellation mehrerer (durchaus nicht aller) Faktoren zu einem wirkmächtigen Movens für Hexenverfolgungen werden konnte.“ Voltmer: Hexenjagden, Sp. 6. 36 „The final goal [...] is to grasp the native’s point of view, his relation to life, to realize his vision of his world.“ Malinowski, Bronislaw Kasper: Argonauts of the Western Pacific. An account of native enterprise and adventure in the Archipelagoes of Melanesian New Guinea, New York 1922, S. 25. In der Encyclopedia of Witchcraft heißt es zu Malinowski: „Although Malinowski’s functional explanations of human behavior have been criticized for their ‚thinness‘ and transparent teleology, it is important to note that his ethnographic descriptions are rich with details not explained by his theories.“ Greene, Jeremy: Art. „Malinowski, Bronislaw Kasper (1884-1942)“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 716 f., hier S. 716. 37 Schwerhoff, Gerd: Art. „Esoterik statt Ethnologie? Mit Monika Neugebauer-Wölk unterwegs im Dschungel der Hexenforschung“, in: Moeller (Hrsg.): Hexenforschung/ Forschungsdebatten, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ 13jzxv/ (Zugriff am 25. 07. 2016). 38 „Schließlich bildeten die Hexenprozeßakten einen Schlüssel zur Beschäftigung mit der Alltagswelt, zur Exploration von ‚Lebensverhältnissen‘ und zur Decodierung sozialer Beziehungen.“ Behringer: Erträge, S. 631. 39 So brachte Macha, Jürgen gemeinsam mit einer Forschungsgruppe eine kommentierte Auswahlbibliografie zur Hexenforschung heraus, wobei allerdings auch hier wegen der Fülle an Literatur selektiert werden musste und die Akzente auf Regionalität sowie Sprache gelegt wurden. Macha, Jürgen (Hrsg.): Deutsche Kanzleisprache in Hexenverhörprotokollen der Frühen Neuzeit. Band 2: Kommentierte Auswahlbibliographie zur regionalen Hexenforschung, unter Mitarb. v. Anna Balbach/ Tobias Gombert/ Endre Hagenthurn/ Alexandra Heimes/ Brigitte Heeke/ Iris Hille/ Pamela König/ Maren Lange/ Claudia Minuth/ Uta Nolting/ Elvira Topalović/ Anja Wilke, 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung 17 Mittlerweile liegt eine Vielzahl an Deutungsmustern vor, die viele Gründe für das „Warum“ nennen, sodass Robin Briggs nicht umhin kam zu schreiben: „[...] that the more we know about any subject, the harder it becomes to generalise about it.“ 40 Der Umstand wird dabei noch durch den Befund erschwert, dass es offenbar für jede scheinbar gefundene Antwort ein Gegenbeispiel gibt, also keine Pauschalbegründungen für Hexenverfolgungen gegeben werden können, sondern offenbar je nach Region und Zeit unterschieden werden muss 41 - ein Resultat, das die Notwendigkeit betont, sich den lokalen und kulturellen Feinheiten jedes Untersuchungsortes zuzuwenden. 42 Aufgrund der Vielschichtigkeit des Phänomens, seiner jeweils lokalen, regionalen und zeitlichen besonderen Ausprägungen scheint es auch nicht angemessen bzw. wünschenswert, ein eindeutiges Ergebnis zu liefern. Vielmehr hat es sich die Hexenforschung zum Ziel gesetzt, die Komplexität der europäischen Hexenverfolgungen herauszuarbeiten und multiperspektivisch zu betrachten. So wie es z. B. Levacks Deutungsmodell des Faktorenclusters besonders deutlich hervorhebt und mit den Jahren dank vieler richtungsweisender Arbeiten 43 immer feiner akzentuiert wurde. 44 So besteht ein Faktorenbündel, das acht wesentliche, oft ineinander verzahnte und in Wechselwirkung stehende Faktoren anführt sowie die Ursachen und Wirkungen von Hexenverfolgungen in einem Komplementärverhältnis betrachtet: 1. eine allgemein herrschende Krisensituation, 2. eine breite Rezeption der elaborierten Hexenlehre, Berlin 2005. Zusätzlich veröffentlicht der AKIH (Arbeitskreis Interdisziplinäre Hexenforschung) fortlaufend die neuesten Dissertationsprojekte. 40 Briggs, Robin: ‘Many reasons why’. Witchcraft and the problem of multiple explanations, in: Barry, Jonathan/ Hester, Marianne/ Roberts, Gareth (Hrsg.): Witchcraft in early modern Europe. Studies in culture and belief, Cambridge 1996, S. 49-63, hier S. 49. 41 Die Vielzahl an Erklärungsmodellen führte sogar vereinzelt zu einem regelrechten Wettstreit unter den Hexenforschern. Pointiert kommentiert Midelfort den Wettkampf mit den Worten: „[...] fast jeder Hexenhistoriker [hat] seine eigene Lieblingserklärung der Frage entwickelt, warum die europäische Gesellschaft versucht hat, die Zauberei (und die Zauberinnen) auszurotten.“ Midelfort, H. C. Erik: Alte Fragen und neue Methoden in der Geschichte des Hexenwahns, in: Lorenz/ Bauer (Hrsg.): Hexenverfolgung, S. 13-30, hier S. 13 Während sich die Hexenforschung uni sono bewusst gegen eine monokausale Betrachtung des Hexenphänomens ausspricht, kritisiert Monika Neugebauer-Wölk, dass es der Hexenforschung bisher noch nicht gelungen sei, „an die Stelle der älteren Paradigmen eine neue in sich geschlossene und allgemein akzeptierte Konzeption zu setzen. [...] vielmehr existieren zahlreiche, oft widersprüchliche Erklärungsmuster nebeneinander“. Neugebauer-Wölk: Dschungel, S. 317. 42 Vgl. hierzu Schwerhoff, Gerd: Hexerei, Geschlecht und Regionalgeschichte. Überlegungen zur Erklärung des scheinbar Selbstverständlichen, in: Wilbertz/ Schwerhoff/ Scheffler (Hrsg.): Regionalgeschichte, S. 325-353. 43 Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Wolfgang Behringer, Rita Voltmer, Eva Labouvie, Gudrun Gersmann, Walter Rummel, Ursula Bender-Wittmann und viele mehr. 44 Siehe hierzu die Forschungsüberblicke von Lehmann, Hartmut: Hexenglaube und Hexenprozesse in Europa um 1600, in: Degn, Christian/ Lehmann, Hartmut/ Unverhau, Dagmar (Hrsg.): Hexenprozesse. Deutsche und skandinavische Beiträge (Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 12), Neumünster 1983, S. 14-27; Midelfort, H. C. Erik: Recent Witch Hunting Research, or Where Do We Go from Here? , in: The Papers of the Bibliographical Society of America 62.3 (Third Quarter 1968), S. 373-420; Irsigler, Franz: Hexenverfolgungen vom 15. bis 17. Jahrhundert. Eine Einführung, in: Franz/ Irsigler (Hrsg.): Methoden und Konzepte, S. 3-22. 18 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung die die gängigen Vorstellungen über Hexerei beeinflusste und modifizierte, 3. die Ausarbeitung einer speziellen Verfahrensführung und Urteilsfindung zum crimen magiae, 4. ein Verfolgungswille „von unten“, 5. eine Verfolgungsbereitschaft mediater Herrschaftsträger „von oben“, 6. die Funktion der Landesherrschaften, 7. die Akteure auf der Ebene der lokalen Verfolgungsmilieus, 8. die Übertragung von Verfolgungswissen durch Medien, Publizistik, Bildkünste, Predigten sowie Vis-à-vis-Gespräche. 45 Der summarische Überblick vermittelt eindrucksvoll die bisherigen Leistungen der Hexenforschungen. Dabei könnte leicht der Anschein vermittelt werden, dass das Hexenthema bereits nahezu ausgeschöpft sei. Jedoch sind weder alle Regionen, in denen intensive Hexenverfolgungen stattfanden, erforscht noch alle Fragen geklärt 46 - geschweige denn jeder methodische Weg beschritten oder alle Ebenen des Faktorenclusters berücksichtigt worden. So fällt insbesondere bei den jüngeren Deutungsmodellen auf, dass es bis dato das Hauptanliegen der Hexenforschung gewesen ist, komplexe räumliche und zeitliche Ursachen-Wirkungsmodelle zu erstellen, in denen mehr exogene als endogene Faktoren beachtet wurden. 47 Dabei bietet das Feld der Hexenforschung zusätzlich die probate Möglichkeit, innergesellschaftliche Mechanismen für soziales Zusammenleben zu analysieren, wie es bereits Ethnologen und Anthropologen für segmentäre Gesellschaften der Gegenwart untersucht haben. 48 Diese Fäden sollen in dieser Arbeit aufgenommen und weitergesponnen werden. Im Fokus der Untersuchung steht dabei das Verhalten der Akteure im komplexen interaktionistischen Wechselspiel des „Hexen-Machens“, also sowohl das Ausgrenzen als auch die Abweichung. Diese Perspektivierung des Analysegegenstandes besagt zwangsläufig, mindestens zwei Seiten einer Medaille zu berücksichtigen und setzt voraus, sowohl jegliche Art von Sympathien für die Stigmatisierten als auch Abneigungen für die Stigmatisierenden abzulegen. Dieses Forschungsvorhaben anzugehen, heißt folglich, die Vorstellung eines starren Opfer-Täter-Modells zu überwinden. 49 Es gilt vielmehr sich auf die wechselseitigen Wahrnehmungen, die daraus resultieren- 45 Die neueste summarische Überblicksdarstellung liefert Voltmer: Hexenjagden. 46 So gilt es bisher noch als unzureichend geklärt, warum in einigen Regionen des Alten Reiches noch zu einem späten Zeitpunkt Hexenprozesse durchgeführt worden sind. Siehe hierzu Behringer/ Lorenz/ Bauer (Hrsg.): Späte Hexenprozesse. 47 Mit scharfer Kritik schreibt Walz: „Je komplexer ein Handlungssystem ist, umso mehr Ursachen tragen zu seinem Aufbau bei, umso schwieriger wird es auch, Ursachen zu gewichten. Der Historiker kann letztlich nur ein Bedingungsgefüge zusammenstellen. Ich neige deswegen zu der Ansicht, dass die Historik unsere Vorstellungen von historischen Prozessen anhand der Hexenprozesse und ähnlich komplexer Institutionen überdenken sollte. Besonders nachteilig hat gewirkt, dass die Ursachen zu einem guten Teil mit der Suche nach Schuldigen identifiziert worden sind. So hat man in einer entlarvenden, oft geradezu lächerlichen Reihung die Vertreter der Obrigkeit, der Kirche, die Männer allgemein als Schuldige ausgemacht, ohne zu sehen, wie oberflächlich eine solche Betrachtung ist.“ Walz: Relevanz der Ethnologie, S. 78 f. 48 Vgl. die Überblicksdarstellung des ethnologischen Forschungsstandes zum Hexenthema bei ders.: Magische Kommunikation, S. 16-38. 49 Vgl. hierzu Jerouschek, Günter: Art. „Hexenverfolgung und Psychoanalyse“, in: Gersmann/ Moeller/ Schmidt (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, url: https: / / www. historicum.net/ purl/ jdzt6/ (Zugriff am 31. 08. 2016). 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung 19 den Verhaltensdispositionen und Handlungsweisen sowie individuelle und kollektive Identitätsbildungen zu konzentrieren. Als theoretischer und methodischer Schlüssel dienten hierbei der aus der historischen Kriminalitätsforschung bekannte Ansatz des Labeling Approach (Etikettierungsansatz) und das sozialpsychologische Modell des Selbstkonzeptes aus der historischen Psychologie. 50 Diese analytische Herangehensweise an das Phänomen bedeutet nicht nur, die Grenzen eines „Schwarz-Weiß-Paradigmas“ aufzulösen, denn je nach Blickwinkel verlagert sich die Schuldzuschreibung. Sie gibt den Hexenverfolgungen auch eine sozialpsychologische Tiefendimension, die das Phänomen nicht mehr irrational erscheinen lässt, sondern einen plausiblen Zugang zur mentalen Verfassung der Zeitgenossen gewährt. Darüber hinaus wird dem bisher „Unfassbaren“ 51 bzw. nicht „Nachvollziehbaren“ eine soziale Wirklichkeit gegenübergestellt, die mit dem gängigen Mythos aufräumt, dass eine derartige Geschichtsepisode in unserer heutigen Zeit nicht wiederholbar sei. Durch diesen methodischen Zugang werden neue Perspektiven eröffnet, die die Abfolge von wechselseitiger Aktion und Reaktion interpretierbar und die soziale Logik dahinter erkennbar werden lassen. Die „Hexe“ wird somit nicht mehr nur zum bloßen passiven Opfer, das durch Fremdbestimmung, also durch Stigmatisierung seiner Umwelt, das Attribut „Hexe“ erhält. Sie nimmt auch aktiv das Hexenimage an, das zu einem Teil ihrer Selbstwahrnehmung wird. Folglich verhält sich die „Hexe“ entsprechend ihrem Ruf und provoziert somit auch die Hexenverfolgungen. Die berüchtigte Person wird damit fallweise zum Delinquenten, zu einem Täter, dessen Opfer nicht nur einzelne Individuen sind, sondern die Gesellschaft im Allgemeinen. 52 Gestützt wird dieser Zugriff auf das Hexenphänomen durch den quellenmäßigen Befund, dass mehr als hundert Jahre lang immer wieder die gleichen Familien vor Gericht standen und diese sogar untereinander ein enges verwandtschaftliches sowie soziales Netzwerk unterhielten. Der Eindruck einer realiter existierenden „Hexensekte“, einer konspirativen „Gegengesellschaft“, wie sie der Malleus Maleficarum formulierte, wird hier greifbar sowie die kollektive Vorstellung, dass magische Fähigkeiten vererbt werden würden. Damit sollen nicht die „klassischen Täter“, die Ankläger, die durchaus das „Superverbrechen“ nutzten, um eigene Interessen durchzusetzen und Unschuldige zu liquidieren, von ihrer Schuld entlastet werden. Vielmehr soll das Wechsel- und Komplementärverhältnis zwischen einer Mehrheitsgesellschaft und der von ihr „produzierten“ Hexe verdeutlicht werden. 50 Vgl. Jüttemann, Gerd: Persönlichkeit und Selbstgestaltung. Der Mensch in der Autogenese, Göttingen 2007. 51 „Und je tiefer man in den verfolgungsintensiven Regionen in die Quellen eindringt, desto schwerer wird es, die scheinbare Rationalität der Hexenprozesse zu verstehen.“ Irsigler: Hexenverfolgungen, S. 5. 52 In diesem Sinne greift dieses Forschungsprojekt auch den Gedanken von Robin Briggs auf, der schreibt: „[...] here can be no doubt that witchcraft persecutions [...] invite a mixture of social and psychological explanations.“ Briggs, Robin: Women as Victims? Witches, judges and the community, in: Levack, Brian P. (Hrsg.): New Perspectives on Witchcraft, Magic and Demonology. Volume 4, Gender and Witchcraft, London 2001, S. 40-53, hier S. 48. 20 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung Eine derartige Sicht auf die Hexenverfolgungen, verbunden mit dem bisher seltenen Befund einer detailliert nachweisbaren „Hexensippschaft“, ist methodisch und inhaltlich neu. Dennoch soll nicht übersehen werden, dass einige ältere und neuere Forschungsergebnisse entweder diesen hermeneutischen Zugang zum Hexenphänomen mit kurzen Randbemerkungen bereits andeuteten oder sogar in Teilaspekten zum Untersuchungsgegenstand machten. Daher wird im Folgenden detailliert auf diejenigen Arbeiten eingegangen, die den Weg für das vorliegende Forschungsprojekt bereiteten und inspirierten. Aufgrund der Komplexität der Fragestellung sollen dabei vier aufeinander bezogene, komplementäre Ebenen berücksichtigt werden, die sich einerseits aus dem Titel der Dissertation herleiten, andererseits aus dem untersuchten Quellenmaterial und der theoretischen Herangehensweise resultieren: 1. ein historischer Überblick über die Fürstenberger Hexenverfolgungen, 2. „Teufelskinder“ in der Hexenforschung, 3. Fremdzuweisungen und schließlich 4. Selbstzuweisungen von vermeintlichen Delinquenten. Obwohl insbesondere die Punkte drei und vier eng miteinander verwoben sind, scheint es zum einen für einen strukturierteren Lesefluss, zum anderen für einen besseren Überblick über die Forschungsinhalte sinnvoll, beide Aspekte in einzelnen und getrennten Abschnitten darzustellen. 2.1 Die Hexenverfolgungen in Fürstenberg Die Gemeinde Fürstenberg und ihre Umgebung 53 wurden in vielfacher Hinsicht zu einem reizvollen Untersuchungsgegenstand in zahlreichen historischen Darstellungen, deren Publikationen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichen. Die Themeninhalte fallen dabei recht unterschiedlich aus: Sie erstrecken sich von genealogischen Abhandlungen, 54 Untersuchungen zur Gründungsgeschichte der Gemeinde und de- 53 Vgl. Grüe, Leopold: Zur Geschichte des Sintfeldes. Ergänzungen und Berichtigungen, in: Westfälische Zeitschrift - Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 51 (1893), S. 1-36. 54 Cosmann, Friedrich Wilhelm: Historisch-genealogisches Magazin für den deutschen Adel vorzüglich in Niedersachsen und Westphalen. Ersten Jahrgangs erstes Quartal mit vieln Kupfern und Urkunden, Frankfurt und Leipzig 1798, url: https: / / books.google.de/ books? id=SOQSAAAAYAAJ& dq = Cosmann % 2C % 20Friedrich % 20Wilhelm & hl = de & pg = PP7 # v = onepage & q & f = false (Zugriff am 31. 08. 2016). 2.1 Die Hexenverfolgungen in Fürstenberg 21 ren Kohlestätten, 55 Wegenetzen und Straßen, 56 Geschichte von Burg und Schloss Fürstenberg, 57 Bevölkerung und Landbesitz, 58 Wasserversorgung, 59 geografischen Verhältnissen, 60 Kirchenleben, 61 Sagen und Legenden, 62 Bauernwirtschaft 63 bis hin zu einer genealogischen Darstellung der „alteingesessenen“ Familien 64 etc. 65 Anhand der reichen Themenwahl wird ersichtlich, dass Fürstenberg wegen seiner Jahrhunderte zurückreichenden Geschichte, seines bekannten Adelsgeschlechts und der facettenreichen Quellenlage sowohl für Historiker als auch Heimatforscher ein attraktives Forschungsfeld für historische Studien ist. Bezeichnenderweise sollte bis zum Ende der 1970er-Jahre das Kapitel der Hexenjagd in Fürstenberg weitestgehend unbeachtet bleiben, obwohl die Verfolgungen so exzessiv betrieben worden sein müssen, dass sie über Jahrhunderte im Paderborner Raum im kollektiven Gedächtnis haften geblieben sind. Eine recht kurze Bemerkung zu den hiesigen Hexenverfolgungen findet sich in Gerhard Henkels geografischer Studie über das Sintfeld. Fürstenberg gelte als eine Hochburg der Hexenverfolgungen im nordwestdeutschen Raum. Ja, die Herren von Westphalen hätten die Hexenprozesse mit derartig emsigem Eifer betrieben, dass sie deswegen bis in das 20. Jahrhundert hinein im Paderborner Raum verspottet worden seien. 66 55 Vgl. Brunnstein, C. A.: Denkschrift über die Berechtigungen der Gemeinde Fürstenberg und der alten Kohlstätten daselbst zu Brenn-, Bau- und Geschirrholz in den Gräflich von Westphalen’schen Fürstenberger Waldungen, ppter. 10530 Morgen enthaltend zugleich die Geschichte über die Entstehung des Dorfes Fürstenberg etc., Deutz 1873, url: https: / / nbn-resolving.org/ urn: nbn: de : bvb: 824 -dtl- 0000087537 (Zugriff am 31. 08. 2016). Siehe hierzu Nolte, Bernhard/ Nolte, Natalia: Vom Adelsdorf zur Gemeinde. Fürstenberg 1800-1918, Fürstenberg 1986 und Nolte, Bernhard: Chronik der Gemeinde Fürstenberg: 1920-1974. Vom Kaiserreich zur Kommunalreform, Fürstenberg 2015. 56 Vgl. Koch, Josef: Frühe Verkehrsstrassen in der östlichen westfälischen Bucht. Straßengeschichtliche Untersuchung zur Verkehrslage der Stadt Paderborn (Schriftenreihe des Heimatvereins Neuenbeken e. V., Bd. 3), Paderborn 1977. 57 Vgl. Graf von Westphalen zu Fürstenberg, Friedrich Carl: Geschichte von Burg und Schloß Fürstenberg, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 219-226. 58 Vgl. Schäfer: Bevölkerung und Landbesitz. 59 Vgl. Kaup, Hermann: Wasserversorgung und Hochwasserschutz auf dem Sintfeld im Raum Wünnenberg, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 419-426. 60 Vgl. Henkel: Geschichte und Geographie, S. 151-155. 61 Vgl. Nolte, Bernhard/ Nübold, Elmar: Die Pfarrkirche Sankt Marien zu Fürstenberg. 250 Jahre Kirchweihfest, Paderborn 2008. 62 Vgl. Dege, Wilhelm (Hrsg.): Sagen aus Westfalen, Dortmund 1964; Pöhler, Therese: Sagen und Legenden des Paderborner Landes, Salzkotten 1949; Haaren 1000 Jahre. Eine Dokumentation der Haarener Geschichte, hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft zur Tausendjahrfeier, Haaren 1975, S. 310-315. 63 Vgl. Henning, Friedrich-Wilhelm: Bauernwirtschaft und Bauerneinkommen im Fürstentum Paderborn im 18. Jahrhundert, Berlin 1970. 64 Vgl. Schulte, Erhard: Die Familien der Gemeinde Fürstenberg (1727-1876), Fürstenberg 1966. 65 Weitere aufschlussreiche Aufsätze über Fürstenberg und seine Umgebung sind im Band Heimatbuch Wünnenberg zu lesen. 66 Vgl. Henkel: Geschichte und Geographie, S. 154. Diese Behauptung lässt sich anhand einer Quelle von 1708 belegen. Der Pfarrer Meinolph Blinden, dessen Familie ihren Sitz nachweislich seit dem 16. Jahrhundert in Fürstenberg hatte, vermerkte in einer Randbemerkung, dass die 22 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung Gänzlich unerwähnt bleiben die Fürstenberger Hexenverfolgungen in Gerhard Schormanns Studie über die Hexenprozesse in Nordwestdeutschland, obwohl der Jurist Gerd Wessel in seiner 1957 veröffentlichten Dissertation eben auf diese aufmerksam macht. 67 Jedoch ist zu betonen, dass Schormanns quantitative Erhebungen für den Raum Paderborn insgesamt kursorisch ausfallen. So vermerkt er beispielsweise: „Da alle einschlägigen Prozeßakten fehlen, kann zu den Hexenprozessen im Stift Paderborn, soweit der Bereich der landesherrlichen Jurisdiktion in Frage kommt, nur auf ganz spärliche Nachrichten verwiesen werden.“ 68 Dabei stützt er sich auf das Werk von Wilhelm Richter, der sich wiederum auf den Paderborner Chronisten Martin Klöckner († ca. 1622) beruft. 69 Neben der Geschichte des Räubers Scribonius von Haaren 70 geht er auf die Hexenprozesse ein, die 1597 in den Paderborner Dörfern Atteln, Henglarn und Etteln stattgefunden haben. 71 Im Vergleich zum Stift Paderborn soll nach Schormann die Quellenlage für die Patrimonialgerichte Brenken 72 und Büren hingegen besser aussehen. 73 Erst mit dem 1978 in der Westfälischen Zeitschrift erschienenen Aufsatz von Rainer Decker wurden die Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn zum ersten Mal systematisch und quantitativ erfasst, wobei auch die Fürstenberger Hexenverfolgungen Beachtung fanden. 74 Decker konnte nachweisen, dass die ersten Hexenprozesse in der Stadt Paderborn bereits für ca. 1500 bis 1520 zu verzeichnen sind, in den Dörfern des Hochstifts hingegen ab den 1590er-Jahren. Neben vielen Quellen- und Literaturverweisen beinhaltet der Aufsatz auch einige Auszüge aus den Prozessakten des Fürstenberger Patrimonialgerichts. 75 Präzise Zahlen der wegen Hexerei angeklagten Ortsobrigkeit bzw. der lokale Gerichtsapparat die Hexen nur verfolgt hätte, um den eigenen Geldbeutel zu füllen. PfA Fü., A 114, unfol. 67 Siehe hierzu Wessel, Gerd: Das Strafrecht in der Herrschaft Brenken zwischen 1537 und 1802 unter Einschluß der in Fürstenberg im 17. Jahrhundert durchgeführten Hexenprozesse, Köln 1957. 68 Schormann, Gerhard: Hexenprozesse in Nordwestdeutschland (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 87), Hildesheim 1977, S. 92. 69 Vgl. Richter, Wilhelm: Geschichte der Stadt Paderborn. Zweiter Band (Bis zum Ende des Dreißigjähriges Krieges), Paderborn 1902, S. 161-169. 70 Auch der Schreiber von Haaren genannt. Er soll Ende des 16. Jahrhunderts auf dem gesamten Sintfeld und an dessen Grenzgebieten Menschen ausgeraubt und ermordet haben. Insbesondere das Kloster Dalheim litt unter seinen Raubzügen. Selbst vor Vergewaltigungen und Enthauptungen schreckte er nicht zurück. So soll er einem jungen Mädchen nach dem erzwungenen Beischlaf den Kopf abgeschnitten und denselben in der Erde seines Gartens in Atteln verscharrt haben, nachdem er in ihr linkes Auge eine Teufelsbohne eingepflanzt habe. Daraus sei eine neue Bohne erwachsenen, die der Räuber nahm, um sich unsichtbar zu machen. Ein Gürtel habe ihm zusätzlich dazu verholfen, sich in einen Wolf zu verwandeln, und seine Mutter, die als Hexe verschrien gewesen sei, habe ihm eine Feder gegeben, die ihn bei seinen Raubzügen beschützt habe. Richter: Dreißigjähriger Krieg, S. 158-160. 71 Ebd., S. 162. 72 Für Brenken beruft sich Schormann irrig auf das Werk von Wessel. Siehe hierzu Wessel: Strafrecht, S. 21 und 24. Ich danke Herrn Decker für diesen Hinweis. 73 Vgl. Schormann: Nordwestdeutschland, S. 93. 74 Decker: Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn. 75 Ebd., S. 315 f. und S. 325 mit besonderem Vermerk auf Fußnote 55. Siehe auch S. 335, die Fußnote 125 auf S. 337, S. 338 und die Seiten 342-347. 2.1 Die Hexenverfolgungen in Fürstenberg 23 Personen liefert Decker in einer späteren Recherche für das Heimatbuch Wünnenberg. So sollen in Fürstenberg 1601 zwölf Personen, 1631 elf, 1658/ 59 dreizehn, 1687 und 1694 jeweils eine sowie von 1700 bis 1702 mindestens zwölf Personen verfolgt worden sein. 76 Demnach wäre in Summa gegen 50 Menschen in 101 Jahren ein Hexenprozess eingeleitet worden, von denen vermeintlich 35 hingerichtet wurden. 77 In dieser Studie soll jedoch nicht nur die prozessuale Ebene näher untersucht werden, sondern die gesamte fürstenbergische Verfolgungspolitik. Denn dass die Gerichtsaktivitäten gegen die vermeintlichen Hexen und Hexer in Fürstenberg deutlich intensiver gewesen sein müssen, deutet einerseits der Spottname für die Herren von Westphalen als „Hexenverbrenner“ an, andererseits die bestehende Erinnerungskultur 78 - bis heute sind die Fürstenberger Hexenverfolgungen weit über die Gemarkung des Dorfes im kollektiven Gedächtnis haften geblieben. Darüber hinaus gilt es, die angegebenen Prozesszahlen erneut zu überdenken. Zumindest in dem Zeitraum von 1700 bis 1703 79 ist zu vermuten, dass die Anzahl der Opfer wesentlich höher war, wie die Annalen des früheren Kapuzinerordens zu Werl nahelegen. In den Aufzeichnungen wird die Einführung der neun Dienstage zu Ehren des hl. Antonius von Padua 1701 erwähnt, die der Orden dem früheren Hexenkommissar und späteren Bürgermeister zu Werl, Johann Poelmann († nach 1715), zu verdanken habe. 80 Dieser Johann Poelmann habe „ von dem Herrn von Westphalen zu Fürstenberg den Auftrag bekommen, die Untersuchung gegen die angeblichen Hexen im Dorfe und der Pfarrei Fürstenberg zu führen. Wegen seines unerschütterlichen Hexenglaubens wurden 26 angeblich mit dem Teufel in Verbindung stehende Personen beiderlei Geschlechts infolge seiner Untersuchung enthauptet und verbrannt. Nach Werl zurückgekehrt, berichtete er in vollbesetzter Ratsversammlung, wie durch die Novene zu Ehren des hl. Antonius, welche zu Fürstenberg alljährlich abwechselnd von den Kapuzinern zu Rüthen und den Minoriten zu Brilon gehalten wurde, das ganze Dorf vor Vernichtung durch Brand bewahrt worden sei. Die Hexen, so fährt er in seinem Bericht fort, hätten ihm bekannt, daß sie den festen Vorsatz gehabt, 76 Decker, Rainer: Hexenprozesse auf dem Sintfeld, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 149-157, hier S. 157. 77 Ebd. Decker fügte auch eine ausführliche Tabelle zur besseren Visualisierung hinzu. Siehe auch Hillebrand, Roswitha: Zauberer und Hexer im Hochstift Paderborn. Eine Untersuchung von Fürstenberger Prozessen des 17. Jahrhunderts, ungedruckte Arbeit zum 1. Staatsexamen für das Lehramt Sek. II, Paderborn: Universität Paderborn, 1995. Eine entsprechend niedrige Opferzahl im Vergleich zu dem Nachbarort Büren-Ringelstein. In dieser Adelsherrschaft sollen in den Jahren 1630/ 31 über fünfzig Personen der Hexerei halber hingerichtet worden sein. Decker: Paderborn - Hexenverfolgungen. 78 Henkel: Geschichte und Geographie, S. 154. 79 Die Akte des Albert Sanders belegt, dass in Fürstenbrg bis nachweislich 1703 Hexenprozesse durchgeführt worden sind. 80 Fidler, Rudolf: Quellen zur Hexenverfolgung in Werl/ Westfalen, in: ders. (Hrsg.): Rosenkranzaltar und Scheiterhaufen. Das Rosenkranzretabel zu Werl/ Westfalen (1631) im Wirkfeld von Konfessionspolitik, Marienfrömmigkeit und Hexenglaube, Köln 2002, S. 129-136, hier S. 133 f. 24 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung auf Geheiß des Satans das ganze Dorf in Brand zu stecken, durch die Novene aber seien sie davon abgehalten worden“ 81 . Decker merkt jedoch zu Recht kritisch an, dass nicht erkennbar sei, „ob Poelmann damit nur die von ihm zwischen 1700 und 1703 geleiteten Verfahren meinte - dies stünde im Widerspruch zu den erhaltenen Prozeßakten [...]“ 82 . Angesichts dieser Einräumung ist die Schlussfolgerung berechtigt, dass noch eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der genauen quantitativen Erhebung der Fürstenberger Verfolgungsopfer besteht. Es gilt also, die lokalen Opferzahlen und Gerichtsaktivitäten anhand des vorliegenden Quellenmaterials, das am Rande bemerkt von Decker als umfangreich 83 eingestuft wird, erneut zu überprüfen. 2.2 Teufelskinder Die Hexenforschung griff bereits in mehrfacher Hinsicht die frühneuzeitliche Verfolgung sogenannter „Teufels-“ bzw. „Hexenkinder“ analytisch auf. In erster Linie setzen sich viele Studien mit den Ursachen, Gründen und Verläufen derjenigen Hexenpolitik auseinander, 84 bei der minderjährige Personen entweder als „strafunmündige Täter 81 Falke, P. Didacus: Geschichte des früheren Kapuziner- und jetzigen Franziskanerklosters zu Werl. Nach meist ungedruckten Quellen zusammengestellt. Mit vier Abbildungen und vier Tafeln, Paderborn 1911, S. 36. 82 Decker: Hexenprozesse auf dem Sintfeld, S. 156. 83 Vgl. ders.: Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn, S. 319. 84 Das lebhafte Interesse der Hexenforschung an diesem Thema hat viele Beweggründe: Einerseits ist der Gegenstand immer noch aktuell, da in vielen Teilen Afrikas sogenannte Child Witches verfolgt werden. Diese Kinder stehen oft im Verdacht, magische Fähigkeiten zu besitzen, die sie anwenden, um ihren Mitmenschen zu schaden. Sie können aber auch aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit in den Ruf der Hexerei geraten, wenn ihre Eltern bereits mit dem Laster behaftet sind. Siehe Schulte, Rolf: Hexenverfolgungen im außereuropäischen Kontext: Afrika, in: Mythos und Wirklichkeit, hrsg. v. Historisches Museum der Pfalz Speyer, S. 242-249. Andererseits werfen die Kinderhexenprozesse, die gerade zum Ende des 17. Jahrhunderts hin die Mehrheit der geführten Rechtsverhandlungen ausmachten (Behringer, Wolfgang: Kinderhexenprozesse. Zur Rolle von Kindern in der Geschichte der Hexenverfolgung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 16.1 (1989), S. 31-47, hier S. 39) in der Hexenforschung noch viele Fragen auf, da sie gewisse Kuriosa beinhalten, die eine eindeutige Klärung des Phänomens erschweren: Häufig bezichtigten sich beispielsweise die Kinder selber der Hexerei und behaupteten, das Zauberlaster von einer anderen Person gelernt zu haben (Siehe hierzu Walz, Rainer: Kinder in Hexenprozessen. Die Grafschaft Lippe 1654-1663, in: Wilbertz/ Schwerhoff/ Scheffler (Hrsg.): Regionalgeschichte, S. 211-231, hier S. 212). Einige Mädchen traten sogar als „professionelle Hexenfinderinnen“ auf. Gareis, Iris: Kinder in Hexenverfolgungen des französischen und spanischen Baskenlandes, in: Behringer, Wolfgang/ Opitz-Belakhal, Claudia (Hrsg.): Hexenkinder - Kinderbanden - Straßenkinder (Hexenforschung, Bd. 15), Göttingen 2016, S. 87-110, hier S. 93. Rainer Beck untersuchte Kinderhexenprozesse im Freisinger Raum. So behauptete der Straßenjunge Antoni Kastner (11 Jahre) von sich, ein Trudenfänger zu sein. Beck, Rainer: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen, München 2 2012, S. 65. Diese Selbstbezichtigungen stellen die historische Forschung vor einige Rätsel. Manche Historiker greifen direkt oder indirekt auf psychologische Erklärungsmodelle zurück. Zum einen seien die Kinder innerhalb der prozessualen Befragung von den Erwachsenen manipuliert (siehe hierzu Roper, Lyndal: Ödipus und der Teufel, in: Blauert, 2.2 Teufelskinder 25 [oder] als [...] Zeugen“ in Hexenprozessen verwickelt waren oder gegen die gezielt in Kinderhexenprozessen rechtlich ermittelt wurde, weil sie nach zeitgenössischen Ansichten in irgendeiner Form mit dem Teufel in einem Bündnis standen. 85 In mehreren Forschungsarbeiten wird dabei immer wieder auf den Befund hingewiesen, dass der Ursprung vieler Kinderhexenprozesse offenbar auf die verwandtschaftliche Nähe zu bereits verschrienen Hexen oder Hexer zurückzuführen ist, die die Mädchen und Jungen schließlich im Sinne der Teufelssekte erzogen. So schreibt Iris Gareis: „Bei vielen Angeklagten [...] treten den Lesern die jüngsten Sprösslinge von Hexen-Genealogien entgegen. Da Hexer und Hexen häufig mit ihnen verwandte oder sogar ihre eigenen Kinder dem Teufel zuführten, blieb es nicht aus, dass Kinder von Hexen selbst wieder Hexen wurden.“ 86 In der Encyclopedia of Witchcraft heißt es weiter: „[...] there was a marked tendency for whole families to become suspect. [...] There appears to have been a notion of witchcraft as a craft that was learned, with parents corrupting their children, often under heavy pressure from the Devil.“ 87 Nicole J. Bettlé stellt für ihren Untersuchungsraum ebenfalls fest, dass die „meisten Kinder durch ihre Familienzugehörigkeit in Verdacht gerieten. Alleine die Hälfte gehörte einer Verwandtschaft an, die wegen Hexerei unter Verdacht stand und/ oder von der bereits zuvor Mitglieder wegen Hexerei angeklagt resp. hingerichtet worden waren.“ 88 Andreas/ Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1993, S. 32-53) oder ihre Aussagen missdeutet worden (Dillinger, Johannes: „Hexen-Eltern“. Kinder und Erwachsene in den Hexenprozessen Südwestdeutschlands, in: Behringer/ Opitz-Belakhal (Hrsg.): Hexenkinder, S. 233- 255, hier S. 237). Zusätzlich seien die Berichte der Kinder als eine Verschmelzung von Gehörtem und Imaginiertem zu deuten, mittels derer sich das Kind einen geistigen Zufluchtsort, eine positive Gegenwelt zur harten Realität schaffte (vgl. Sabean, David Warren: Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Berlin 1990, S. 113-134. Johannes Dillinger schreibt dazu: „Ihre Aussagen waren nicht reine Phantastereien und Äußerungen kindlich-egozentrischer Willkür, sondern vielmehr Wiedergaben bereits kursierender Gerüchte.“ Dillinger, Johannes: „Böse Leute“. Hexenverfolgungen in Schwäbisch-Österreich und Kurtrier im Vergleich (Trierer Hexenprozesse. Quellen und Darstellungen, Bd. 5), Trier 1999, S. 255). Zusätzlich hätten die Hexenkinder ihr Image gezielt genutzt, um vor anderen Spielgenossen oder Erwachsenen zu „prahlen“, weil ihnen der Hexenruf auch eine gewisse Machtposition und Gehör verlieh (Ebd., S. 243. Siehe auch hierzu Behringer/ Opitz-Belakhal (Hrsg.): Hexenkinder, S. 29). Weiterhin wird auf den Befund zurückgegriffen, dass viele der Hexenkinder aus ärmlichen und problematischen Familienverhältnissen stammten (vgl. Dillinger: „Hexen-Eltern“, S. 234) oder auf der Straße lebten und sich in organisierten Kinderbanden gruppierten. Dadurch hätten sie sich der Autorität der Erwachsenenwelt entzogen und seien somit eine Projektionsfläche von Aggressionen sowie Ängsten gewesen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, werden die Kinderhexenprozesse zu einem sozialdisziplinierenden Instrument, mit dem Kinder erzogen werden sollten (Dillinger: „Hexen-Eltern“, S. 234). 85 Vgl. Behringer, Wolfgang/ Opitz-Belakhal, Claudia: Hexenkinder - Kinderbanden - Straßenkinder. Eine Einführung in das Thema, in: dies. (Hrsg.): Hexenkinder, S. 1-44, hier S. 1 f. 86 Gareis: Kinder in Hexenverfolgungen, S. 102. 87 Briggs, Robin: Art. „Family“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 2, S. 349-351, hier S. 349. 88 Bettlé, Nicole J.: Kinderhexen und Kinderhexenprozesse in der Schweiz, in: Behringer/ Opitz- Belakhal (Hrsg.): Hexenkinder, S. 267-284, hier S. 279; siehe auch dies.: Wenn Saturn seine 26 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung Diese empirischen Befunde werden auch durch Aussagen diverser zeitgenössischer Gelehrter gestützt. So berichtete beispielsweise der Humanist Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (∗ 1486, † 1535) von einer verdächtigen Frau, deren Mutter zuvor als Hexe hingerichtet worden war. Agrippa verteidigte die Frau gegen den Inquisitor Nikolaus Savini, der die Grundauffassung vertrat, dass die Hexen nach der Geburt ihre Kinder dem Teufel weihen und daß diese Kinder ohnehin zumeist dem Umgang mit einem Inkubus entstammen, wodurch das Böse wie eine Erbkrankheit eingewurzelt ist. 89 Dabei berief sich der genannte Inquisitor auf den „Hexenhammer“, in dem es heißt, die Hexen würden meistens die eigenen Kinder den Dämonen darbringen oder sie unterweisen, und gewöhnlich [ist] die ganze Nachkommenschaft infiziert. 90 Und der berühmte Befürworter der Hexenverfolgungen Jean Bodin (∗ 1530, † 1596) schrieb in seiner Abhandlung De Magorum Daemonomania: Gleich wie auch die Hexen/ welche Ihre Kinder/ sobald sie geboren werden/ dem Teuffel beeygenen vnnd versprechen/ vnnd inn Ihrer Eltern scheußlichem leben fortfahren/ gleichfalls Teuffelischer Natur sein. 91 Und M. Johannes Praetorius (∗ 1630, † 1680) berichtet in seinem 1666 erschienenen Werk Anthropodemus Plutonicus. Das ist / Eine Neue Welt-beschreibung/ Von allerley Wunderbahren Menschen im IV. Kapitel von Drachen- Kindern/ oder Teuffels-Brut/ Hengers-Gezüchte/ Elven/ bösen Dingern/ Hexen- Geburt, bei denen es sich um aus einer Teufelsbuhlschaft gezeugte Nachkommen mit körperlichen Anomalien handelt. So habe er mehrfach von Kindern, Männern und Frauen gehört, die ohne Füße oder mit lauter Gefieder anstelle von Haut auf die Welt gekommen seien. 92 Obwohl der Verwandtschaftsaspekt vereinzelt für die Aufschlüsselung gewisser Verfolgungstraditionen gegen bestimmte Familien von zentraler Bedeutung ist, wurde in der Hexenforschung bisher nicht hinreichend in den Fokus genommen, dass es sich bei der Vorstellung einer „Hexen-Genealogie“ nicht um einzelne Fälle, sondern um ein kollektives Verständnisses von den Unholden handeln könnte. Wird dieser Gedanke in logischer Konsequenz fortgesetzt, so wäre auch die These in Betracht zu ziehen, ob dem vormodernen Hexenglauben die Imagination einer blutsmäßigen Vererbung gewisser „Hexenqualitäten“ innewohnte. Mit diesen Überlegungen wären nicht nur Kinderhexenprozesse vor dem Hintergrund eines Vererbungsgedankens zu betrachten, Kinder frisst. Kinderhexenprozesse und ihre Bedeutung als Krisenindikator (Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit, Bd. 15), Bern 2013, S. 81-83. 89 Z. n. Jerouschek, Günter/ Behringer, Wolfgang (Hrsg.): Heinrich Kramer (Institoris) Der Hexenhammer. Malleus Maleficarum. Neu aus dem Lateinischen übertragen von Wolfgang Behringer, Günter Jerouschek und Werner Tschacher. Herausgegeben und eingeleitet von Günter Jerouschek und Wolfgang Behringer, München 8 2010, S. 85. 90 Ebd., S. 645. 91 Bodin, Jean: De Magorum Daemonomania. Vom Außgelaßne[n] Wütigen Teuffelsheer Allerhand Zauberern Hexen [...], übers. v. Johan Fischart, Straßburg 1591, url: http: / / www.dbc.wroc. pl/ dlibra/ docmetadata? id=7809 (Zugriff am 04. 08. 2016), S. 4. Die Erstveröffentlichung seines Werkes erschien 1580 unter dem Titel: De la Demonomanie des Sorciers. 92 Praetorius, M. Johannes: Anthropodemus Plutonicus. Das ist / Eine Neue Welt-beschreibung/ Von allerley Wunderbahren Menschen, Magdeburg 1666, url: http: / / digital.bibliothek.unihalle.de/ hd/ content/ pageview/ 62983 (Zugriff am 24. 08. 2016), S. 207-228. 2.2 Teufelskinder 27 sondern auch alle Gerichtsaktivitäten gegen die erwachsenen Hexen und Hexer. 93 So erwähnt beispielsweise Behringer in seiner Dissertation für den Untersuchungsraum Bayern fast beiläufig, dass teilweise ganze Hexenfamilien verfolgt worden seien. 94 Und in seinem Fallbeispiel des wegen Hexerei hingerichteten Chonrad Stoecklins, gibt er an, dass „Stoecklins Teilhabe an der Hexengesellschaft unverblümt auf die Erblichkeit der Hexen-Eigenschaft zurückgeführt [wurde] [...]“ 95 . Zu demselben Befund kommt auch Decker hinsichtlich der Fürstenberger Hexenverfolgungen. So vermerkt er, dass das westphälische Samtgericht bei fast allen Angeklagten als belastendes Indiz die Abstammung von Hexengeschlechtern genannt habe und teilweise ganze Familien ausgelöscht worden seien. 96 Dass diese Deutung des Hexenphänomens durchaus tragfähig ist, belegt ferner ein Auszug aus einem Lexikon von 1790. Es handelt sich hierbei um die Deutsche Encyclopädie. Die aufgeklärten Verfasser waren bemüht, dem Leser ein umfangreiches Bild über die Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts zu liefern. Darunter wurde auch auf die gängige Vorstellung sogenannter „Erbhexen“ Bezug genommen. In einem eigens hierfür vorgesehenen Artikel heißt es: [...] Erbhexen hießen insbesondere diejenigen Hexen, welche schon in ihrer Jugend von ihren Eltern dem Teufels als solche zugeführt, und bey welchen also die Hexerey von Eltern auf Kinder oder noch weiters fortgepflanzt worden; [...] Sie wurden von andern dadurch unterschieden, daß ihnen der Teufel kein Zeichen zu machen pflegte. 97 Weil diese „Erbhexen“ dem Satan bedingungslos ergeben seien, bestehe für diesen kein Anlass, sie mit einem besonderen Mal an den Kontrakt zu erinnern. 98 Der dem Hexenglauben inhärente Vererbungsaspekt führt daher zu folgenden theoretischen Überlegungen, die das Verständnis und die Interpretation der fürstenbergischen Hexenpolitik wesentlich leiten: 1. Die lokale Bezeichnung Deüffelskind wird in dieser Arbeit im Sinne einer „Hexen-Genealogie“ genutzt, d. h. die lokale Vorstellung von der blutsmäßigen Vererbung gewisser „Hexenqualitäten“, wie z. B. der charakterliche Hang zum Bösen, findet in dieser Begriffsbestimmung Berück- 93 Bereits im Alten Testament ist die Vorstellung von einer generationsübergreifenden Verfluchung bei Verfehlungen der Eltern nachzulesen: „Denn ich bin der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der die Missetat der Väter heimsucht über die Kinder ins dritte und vierte Glied [...].“ Explizierter in einer anderen Übersetzungsversion: „[...] denn ich, Jahwe, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Verschuldung der Väter ahndet an den Kindern, sowie an den Enkeln und Urenkeln [...].“ 5. Mose 5: 9; verschiedene Übersetzungen dieser Bibelpassage sind unter folgendem Link zu finden: url: http: / / bibeltext.com/ deuteronomy/ 5-9.htm (Zugriff am 25. 08. 2016). 94 Behringer, Wolfgang: Hexenverfolgung in Bayern. Volksmagie, Glaubenseifer und Staatsräson in der Frühen Neuzeit, München 1987, S. 350-352. 95 Ders.: Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar, München 1994, S. 113. 96 Decker: Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn, S. 347. 97 Gmelin, Christian Gottlieb: Art. Erbhexen, in: Köster, Heinrich Martin Gottfried (Hrsg.): Deutsche Encyclopädie oder allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, 23 Bde., Frankfurt a. M. 1778-1804, Bd. 12 (1790), S. 406, hier S. 406. 98 Siehe hierzu Masiak, Sarah: Die Aufklärung und das „Hexengeschmeiß“. Die Deutsche Realenzyklopädie zur Hexenthematik (1790), in: SüdWestfalen Archiv. Landesgeschichte im ehemals kurkölnischen Herzogtum Westfalen und der Grafschaft Arnsberg 19 (2019), S. 66-85. 28 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung sichtigung. Folglich steht der Schimpfname Deüffelskind in diesem Analyserahmen für diejenigen Nachkommen, die aus einem berüchtigten Hexengeschlecht stammten. Dabei können sowohl Kinder als auch eben Erwachsene unter diesen Begriff fallen. 99 2. Darüber hinaus steht der Ausdruck Deüffelskind für ein Etikett bzw. Stigma mitsamt seinen sozialpsychologischen Folgen. Mit Blick auf das Phänomen der Hexen- Genealogie schreibt beispielsweise der Historiker Willem de Blécourt, dass „weder Hexenforscher noch Familienhistoriker sich diesem Thema gewidmet [haben], obwohl es sich für Familien in der Vergangenheit um ein weit verbreitetes und akutes Problem handelte, an dem viele litten und das sie über Generationen belastete“. 100 Mit dem Terminus wird folgich auch ein Kollektiv vorgestellt, das wegen seines vermeintlichen „Geburtsmakels“ ausgegrenzt wurde bzw. sich fallweise durch anomales Verhalten selbst ausgrenzte und sich zu einer identitätsstiftenden Peergroup 101 verdichtete, die „ihren Mitgliedern eigene Normen, Verhaltensregeln und einen Ehrenkodex bot sowie eine Infrastruktur für Sozialisation und den Erwerb von Wissen“ 102 . Damit soll nicht etwa impliziert werden, dass es sich bei der Gruppe von Deüffelskindern um eine von der Mehrheitsgesellschaft abgesonderte und isoliert lebende „Bande“ gehandelt habe. Vielmehr stellte sie eine Outgroup in einer Ingroup dar - eine Beobachtung, wie sie auch in der Historiografie für Räuber, Juden, Fremde etc. bereits mehrfach gemacht wurde. 103 Dabei soll der nicht unproblematische Begriff „Gegenkultur“ 104 hier eher als heuristisches Instrument dienen 105 und das zeitgenössische Verständnis von der „Hexensekte“ wiedergeben. Denn in der Tat wurden von den Zeitgenossen die Anhänger des Teufels als eine Gegengesellschaft zu der eigenen christlich-moralisch fundierten Lebenswelt empfunden, auch wenn die Beschuldigten selbst partout kein anti-gesellschaftliches Programm im Sinn hatten oder realiter an 99 Eine ähnliche Feststellung, die auch Nicole J. Bettlé machte, wenn sie schreibt: „Auch der Begriff Hexenkind ist in erster Linie ein Schimpfname. Ferner bezeichnet er eine minderjährige Person, die von einer Hexe infiziert/ verzaubert wurde und/ oder Nachkomme einer Person ist, die Hexerei ausübte.“ Bettlé: Saturn, S. 83. 100 Blécourt, Willem de: Hexenfamilien - Zauber(er)geschlechter. Das Beispiel Drenthe (17.-19. Jahrhundert), in: Labouvie, Eva/ Myrrhe, Ramona (Hrsg.): Familienbande - Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft, Köln, Weimar und Wien 2007, S. 121- 145, hier S. 121. 101 Eine kritische Stellung zum Begriff „Gegenkultur“ bezieht Seidenspinner, Wolfgang: Mythos Gegengesellschaft. Erkundungen in der Subkultur der Gauner (Internationale Hochschulschriften, Bd. 279), Münster 1998, S. 240-312. 102 Siehe hierzu Göttmann: Räuber, S. 65. 103 Vgl. Hering Torres, Max Sebastián: Art. „Ausgrenzung“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0294000 (Zugriff am 27. 03. 2017) und ders.: Art. „Fremdheit“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi. org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1182000 (Zugriff am 27. 03. 2017). Insbesondere für die religiöse Gruppe der Juden ist immer wieder die Begriffsformel „der fremde Nachbar“ oder „die nahen Fremden“ zu lesen. Vgl. Ries, Rotraud: „Die nahen Fremden“ - Juden in der Geschichte der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, 2006, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ ht/ (Zugriff am 24. 08. 2016). 104 Literaturhinweise zur Begriffsdiskussion bei Göttmann: Räuber, S. 80, Fußnote 79. Zu Begriffsdefinitionen siehe ebd., S. 81 inklusive Fußnote 80. 105 Ebd., S. 80. 2.2 Teufelskinder 29 den Tag legten. Mit diesem Befund soll keineswegs die tatsächliche Existenz einer konspirativen Gesellschaft angedeutet werden - es handelt sich hierbei lediglich um ein „Eintauchen“ in frühneuzeitliche Vorstellungs- und Wahrnehmungswelten. Freilich können sich beide Auffassungen von den Deüffelskindern in der Sozialpraxis überlagern. Jedoch bietet die strikte inhaltliche Trennung dieses doppelbödigen Begriffs die Chance, den Analysegegenstand greifbar machen zu können. Denn erst die semantische Distinktion offenbart, dass die Feststellung von einer „Hexen-Genealogie“ kein Explicans, sondern ein Explicandum ist. 2.2.1 Fremdzuweisung Ohne hier schon auf methodische oder begriffliche Vorüberlegungen des Labeling Approach im Detail einzugehen, 106 sei vorab angemerkt, dass im Mittelpunkt des kriminalsoziologischen Ansatzes nicht der Täter, sondern die Entstehungsbedingungen für seine devianten Tat(en) stehen. In diesem hoch komplexen und interaktionistischen Entwicklungsprozess spielen laut Labeling-Theoretikern die Fremdzuweisungen eine bedeutende Rolle. Denn erst die Vergabe von informellen und/ oder formellen Schuldsignaturen kennzeichnen das abweichende Verhalten als solches und markieren damit das Individuum als Abweichler. Die zentralen Stichworte des Labeling Approach sind daher die Begriffe „Gesellschaft“, „Abweichung“, „Stigmatisierung“ und „Marginalisierung“. Diese Anmerkungen seien deshalb vorangestellt, weil sie die inhaltliche Struktur in diesem Abschnitt bestimmen. Gerade Studien um das frühneuzeitliche Ordnungsprinzip „Ehre“ und die historische Randgruppenforschung greifen in Ansätzen diese zentralen Bausteine des Labeling-Ansatzes auf und stehen im engen Zusammenhang mit der Erforschung der frühneuzeitlichen Hexenthematik. Die Resultate dieser Arbeiten seien in diesem Abschnitt kurz zusammengefasst, der sich in folgende Punkte gliedert: 1. die gesellschaftliche „Produktion“ der Hexe und 2. Hexenprozesse als Pönalisierungsinstrument für abweichendes Verhalten. 1. Pauschal kann festgehalten werden, dass das vormoderne Ehrprinzip die Funktion eines sozialen Regulativs hatte. 107 In seinem Wesen stellt es ein „wandelbares, 106 Siehe hierzu Kapitel 5. 107 Einen Überblick über die Forschungsdiskurse bietet Nowosadtko, Jutta: Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier „unehrlicher Berufe“ in der Frühen Neuzeit, Paderborn, München, Wien und Zürich 1994, S. 20-36. Bis heute können Historiker den variablen Begriff „Ehre“ nur schwer semantisch erfassen. Zur Diskussion siehe hier von Wellmann, Hans: Der historische Begriff der ‚Ehre‘ - sprachwissenschaftlich untersucht, in: Backmann, Sibylle/ Künast, Hans-Jörg/ Ullmann, Sabine/ Tlusty, B. Ann (Hrsg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen (Colloquia Augustana, Bd. 8), Berlin 1998, S. 27-39. Schreiner und Schwerhoff verstehen „Ehre“ als „ein[en] verhaltensleitende[n] Code [...], als ein komplexes höchst wirkungsmächtiges kommunikatives Regelsystem, das im Kontext verschiedener Zeiten, Situationen und sozialer Gruppen verschiedene Ausprägungen annehmen konnte“. Schreiner, Klaus/ Schwerhoff, Gerd: Verletzte Ehre - Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: dies. (Hrsg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 30 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung komplexes Regelsystem wechselseitiger Wertzumessung“ 108 von und für Gesellschaften dar. Ergo beinhaltete das Ehrprinzip einen sozial-moralischen Code, der sowohl kollektive als auch individuelle Identitäten konzipierte und beeinflusste, 109 indem es affirmativ auf die Selbstdefinition und -wahrnehmung von Personen sowie auf Fremdzuschreibungen von Rollen einwirkte. 110 Mittels Erziehung, Sozialdisziplinierung und sozialer Kontrolle 111 wurde ständig neu ausgehandelt, wer in die Gesellschaft integriert oder von dieser ausgegrenzt wurde. Die frühneuzeitliche Vorstellung von „Ehre“ beinhaltet folglich auch immer die Vorstellung von „Unehre“, wobei beide Begriffspole je nach Bereich unterschiedliche Abstufungen erfuhren. Wird das frühneuzeitliche Ehrprinzip aus diesem Blickwinkel betrachtet, wird Ehre auch zu einem „symbolischen Kapital“ 112 , das ständig geschützt werden musste. Die Ehre und der Ruf einer Person leiteten sich von ihrer Herkunft, ihrem Beruf und ihrem Stand her 113 und waren daher ein öffentliches Signum. Sie konnten durch soziale oder institutionelle Kontrollmechanismen 114 direkt durch verbale und/ oder körperliche Attacken und Strafen, aber auch indirekt durch Sachbeschädigungen angegriffen und verletzt werden. Es bedurfte massiver Gegenreaktionen auf Ehrangriffe, (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 5), Köln, Weimar und Wien 1995, S. 1-28, hier S. 9. 108 Weber, Wolfgang E. J.: Art. „Ehre“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0846000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 109 Schreiner/ Schwerhoff: Forschungskonzept, S. 4. Unter dem schwammigen Begriff „Identität“ (lat. idem - derselbe) soll sowohl die individuelle als auch kollektive Identität verstanden werden. Zu den unterschiedlichen Komponenten, aus denen sich eine Identität zusammensetzt, siehe allgemein: Jarzebowski, Claudia/ Schmale, Wolfgang/ Leppin, Volker: Art. „Identität“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_ a1785000 (Zugriff am 27. 03. 2017) sowie Wagner, Peter: Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität, in: Assmann, Aleida/ Friese, Heidrun (Hrsg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a. M. 2 1999, S. 44-72. 110 Vgl. Dinges, Martin: Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptualisierung, in: Schreiner/ Schwerhoff (Hrsg.): Verletzte Ehre, S. 29-62, hier S. 30. 111 Hier soll nicht der Ort sein, an dem die Diskussion um Gerhard Oestreichs eingeführten Begriff „Sozialdisziplinierung“ oder der Dissens im Forschungsdiskurs zwischen „sozialer Kontrolle“ und „Sozialdisziplinierung“ weitergeführt wird. Hier wird eher von der generellen Annahme ausgegangen, dass erst das Zusammenspiel zwischen herrschaftlichen und gesellschaftlichen Reaktionsweisen auf unerwünschtes Verhalten den Sanktionen jedweder Art ihren legitimen Mantel gaben. Vgl. Schwerhoff, Gerd: Verordnete Schande? Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Ehrenstrafen zwischen Rechtsakt und sozialer Sanktion, in: Blauert/ Schwerhoff (Hrsg.): Mit den Waffen der Justiz, S. 158-188. Siehe auch Schulze, Winfried: Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“, in: Historische Zeitschrift 14.1 (1987), S. 265-302. 112 Den bourdieuschen Begriff brachte Martin Dinges in die Diskussion um das frühneuzeitliche Ehrkonzept hinein. Dinges, Martin: Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 105), Göttingen 1994, S. 29 f. 113 Vgl. Hering Torres: Ausgrenzung. 114 Hier seien nur als Beispiele der Pranger, Verstümmelung und Brandmarkung, Tragen von bestimmten Zeichen etc. genannt. Siehe hierzu Schwerhoff: Verordnete Schande? 2.2 Teufelskinder 31 wollte man seine soziale Stellung sichern oder wiederherstellen. Teilweise entstanden somit Situationen, die regelrecht in einer agonalen Kommunikation enden konnten. 115 Der vormoderne Diskurs um die Ehre spielte insbesondere bei Hexereibeschimpfungen und -beschuldigungen eine wichtige Rolle. 116 Im Falle einer Hexereiverdächtigung bestand die Gefahr, dass die beschuldigte Person rapide kriminalisiert, dämonisiert und marginalisiert wurde; auch wenn diese gemäß den Normen und gesellschaftlichen Erwartungen mit Retorsion, Beschickung oder dem Gang zum Gericht auf die Ehrverletzungen etc. 117 reagierte. Da eine Hexereibeschuldigung erst öffentlich gegenüber einer Person ausgesprochen wurde - so Walz -, wenn man sich ihrer Schuld bzw. ihres sozialen Abstieges sicher war, waren ihre rechtlichen Verteidigungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt. Dieser Umstand hat nach Walz häufig dazu geführt, dass die der Hexerei Beschuldigten in eine gesellschaftliche Außenseiterposition gedrängt wurden, 118 von deren Makel sie sich nur mit Mühe wieder „reinwaschen“ konnten. Eine weitere These knüpft an die Theorie von den gesellschaftlich produzierten Hexen und ihrer vermeintlichen Randposition an, setzt allerdings andere Akzente. Laut Keith Thomas seien mittellose Personen stärker in das Gerücht der Hexerei geraten 119 - ein Deutungsversuch, der sich offensichtlich an den Kategorien der Randgruppenforschung orientiert: Obwohl innerhalb dieses historischen Untersuchungsfeldes Uneinigkeit herrscht, 120 welche Schichten das Stigma der sozialen Ausgrenzung trugen, werden in diversen Abhandlungen immer wieder neben Scharfrichtern, Juden, Prostituierten etc. auch Arme 121 genannt. 122 Alan Macfarlane, Schüler von Keith Thomas, übernahm das Theorem von seinem Lehrer und flocht es in seine Studie über die Hexenverfolgungen in Essex im 16. Jahrhundert ein. 115 Vgl. Walz: Der Hexenwahn und Schwerhoff: Verordnete Schande? 116 Vergleiche auch hierzu Fuchs, Ralf-Peter: Der Vorwurf der Zauberei in der Rechtspraxis des Injurienverfahrens. Einige Reichskammergerichtsprozesse westfälischer Herkunft im Vergleich, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 17 (1995), S. 1-29. 117 Siehe hierzu Walz: Magische Kommunikation, S. 306-332 sowie seinen Aufsatz, in dem die Ergebnisse seiner Habilitationsschrift komprimiert zusammengefasst werden. Ders.: Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschungen 42 (1992), S. 215-251 sowie ders.: Die autopoietische Struktur der Hexenverfolgungen, in: Sociologia internationalis. Europäische Zeitschrift für Kulturforschung 27.1 (1989), S. 39-55. 118 Vgl. ders.: Der Hexenwahn, S. 162. 119 Thomas: Religion and the Decline of Magic. 120 Nowosadtko kritisiert, dass es bisher keine eindeutige Begriffsdefinition von „Unehre“ und „Randgruppe“ oder eine Eingrenzung der Schichten gebe, die unter diesen Kategorien subsumiert werden würden. Vielmehr liege ein Dissens in der Forschung vor und viele Gruppen, die gemeinhin als Randständige oder Unehrliche bezeichnet werden würden, unterlägen zumeist dem „Sammeleifer“ des Autors und würden ohne ausreichende Reflexion oder regionale und temporale Differenzierung aufgenommen. Nowosadtko: Scharfrichter, S. 38 f. 121 Dabei betont Wolfgang Reinhard, dass „nicht alle Armen marginalisiert wurden und nicht alle Marginalisierten arm waren“. Reinhard, Wolfgang: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2 2006, S. 322. 122 Zu den verschiedenen Randgruppen siehe Hergemöller, Bernd-Ulrich (Hrsg.): Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, neu bearbeitete Ausgabe, Warendorf 2001. 32 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung Obwohl Alan Macfarlane seine These von der Gabenverweigerung 123 zum Teil widerrief, die auch auf mehreren Ebenen von Historikern für ihre allzu starke Pauschalisierung und mangelnde Überprüfbarkeit kritisiert wurde, 124 fand sie besonders in älteren Arbeiten über Hexenverfolgungen und Randgruppen immer wieder Erwähnung. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass der frühneuzeitlichen Hexe offensichtlich ein charakteristisches Merkmal zugrunde gelegt wurde, das als Paradebeispiel für eine sozial randständige Personen galt: Armut. 125 Bernd Roeck äußert beispielsweise in lakonischer Kürze, dass es sich bei den typischen Hexen um Frauen gehandelt habe, die „in irgendeiner Hinsicht bereits Außenseiter[innen] waren - alte, alleinstehende Frauen, Menschen mit einem körperlichen oder psychischen Leiden etwa“ 126 . Neuere Forschungsergebnisse belegen jedoch, dass von einer Verfolgungskonzentration auf Randgruppenangehörige generell nicht die Rede sein kann. 127 Denn es liegt kein einheitliches Sozialprofil der Hexe vor. So vermerkt Ulrike Krampl in der Enzyklopädie der Neuzeit: Ein „Großteil [sc. der verfolgten Personen] war sozial und ökonomisch in die Gemeinschaft integriert. Als Hexe angeklagt wurden häufig Perso- 123 Kurzum: Macfarlane kam in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass die reicheren Bauern aufgrund eines Ressourcenmangels ein ambivalentes Verhältnis zu den Notleidenden gehabt und ihnen häufig die Armenfürsorge verweigert hätten. Wurde die bettelnde Frau an der Haustür abgewiesen, mag sie wohl aus Enttäuschung über die verweigerte Gabe einen Fluch gemurmelt haben. Sollte sich kurze Zeit später in dem Haus, über das die Verwünschung ausgesprochen wurde, ein Unglück ereignet haben, war nach zeitgenössischer Ansicht der Beweis erbracht, dass es sich bei der armen Frau um eine Hexe gehandelt hatte. Vgl. Macfarlane: Witchcraft in Tudor, S. 277. 124 Sharpe: MacFarlane, S. 687. 125 Vgl. Schindler, Norbert: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1992, S. 262-274. 126 Roeck, Bernd: Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit, Göttingen 1993, S. 8. Diesen Gedanken greift auch Evelyn Heinemann in ihrer sozialpsychologischen Arbeit auf: „[...] die Mehrheit der von den Hexenprozessen erfaßten Frauen waren alt. [...] Diese Frauen, meist alleinstehend und oft nur durch Bettelei in der Lage, sich das Existenzminimum zu beschaffen, stellten eine Randgruppe dar [...].“ Heinemann, Evelyn: Hexen und Hexenangst. Eine psychoanalytische Studie über den Hexenwahn der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1989, S. 27 f. 127 So Hippel, Wolfgang von: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 34), München 1995, S. 73. Bereits E. W. Monter lieferte mit seiner Studie das Gegenbeispiel - die als Hexen verdächtigten Frauen seien nicht arm und randständig gewesen, sondern „weit häufiger ‚starke‘ Frauen, die in Krisenzeiten um ihr leibliches und soziales Wohl kämpften [...]“. Opitz-Belakhal räumt ein, dass diese Deutung durchaus der feministischen These von der Domestizierung der Frau Auftrieb geben könnte. Opitz-Belakhal, Claudia: Art. „Frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektiven der Hexenforschung“, in: Gersmann/ Moeller/ Schmidt (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ 44zpt/ (Zugriff am 08. 07. 2016). Vgl. auch Monter, William: Witchcraft in France and Switzerland. The Borderlands during the Reformation, Ithaca und London 1976. Monters Verständnis von Hexenverfolgungen wurde allerdings in der Hexenforschung häufig kritisiert. Seine Veröffentlichungen würden auf „the rational, romantic, and social-scientific approaches to witchcraft“ beruhen. Behringer: Monter, William (1936-), S. 781. 2.2 Teufelskinder 33 nen in einer angreifbaren, aber nicht unbedingt schwachen sozialen Position, in der Alter, sozialer und ökonomischer Status sowie Familienstand ineinanderwirkten“. 128 2. Dieser kritische Einwand fordert heraus, die Analyse der eventuellen Verfolgungsmotive auf eine neue Untersuchungsebene zu verlagern. Wichtige Impulse liefert auch hier die Randgruppenforschung: Nicht den Sozialstatus der verfolgten Personen, sondern ihre Verhaltensformen gilt es näher in den Blick zu nehmen. So definiert beispielsweise Frantisek Graus den Begriff der Randgruppe wie folgt: „Es sind Personen oder Gruppen, die Normen der Gesellschaft, in der sie leben, nicht anerkennen bzw. nicht einhalten oder nicht einhalten können und aufgrund dieser Ablehnung bzw. Unfähigkeit von der Majorität nicht als gleichwertig akzeptiert werden.“ 129 Unmissverständlich wird hier der Akzent für eine Randgruppenzugehörigkeit auf das deviante Verhalten einer Person gelegt. Dieser Ansatz, der von Rainer Walz in seiner Habilitationsschrift (1993) und Johannes Dillinger in seiner Dissertation (1999) für das Hexenphänomen aufgegriffen wurde, bietet auch der Hexenforschung die Chance, die bisherigen Erklärungsansätze um eine weitere Interpretationsdimension zu erweitern. Beide Autoren untersuchten, ob der Auslöser für die Hexenverfolgung eventuell ein von der Norm abweichendes Verhalten war. Dieser Gedanke wurde bisher in der Hexenforschung kaum thematisiert, geschweige denn, dass sich eine geschlossene Studie mit der aufgeworfenen Fragestellung auseinandersetzte. Dabei ist in der historischen Forschung hinlänglich bekannt, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen sozialer Abweichung und Hexenjagden besteht, wenn Behringer die Definition von Hexerei „als Inbegriff des antisozialen Verhaltens“ 130 festlegt. Und Andreas Blauert schreibt hierzu: „Die Hexereibezichtigung dürfte [...] am ehesten als eine Bewertungskategorie des sozialen Handelns und des Sozialprestiges der Bezichtigten zu begreifen sein.“ 131 Der Grund für die bisherige Zurückhaltung mag wohl in dem Umstand begründet sein, dass dieser Interpretationsansatz an Robert Muchembleds Akkulturationstheorie erinnert, die auch populäre Vorstellungen von Hexenverfolgungen aufgreift. Muchembled verstand die Hexenverfolgungen als einen von einer Elitenkultur genutzten „Unterwerfungsfeldzug“ 132 , ein Sozialdisziplinierungsinstrument, um eine renitente Volkskultur zu unterdrücken. An mehreren Stellen wurde Kritik an seinem Ansatz laut - von seiner simplifizierten und verkürzten Annahme, die frühneuzeit- 128 Krampl, Ulrike/ Behringer, Wolfgang/ Schwerhoff, Gerd: Art. „Hexe“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1684000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 129 Graus, Frantisek: Randgruppen der städtischen Gesellschaft im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Historische Forschung 8.4 (1981), S. 385-437, hier S. 396. 130 Behringer: Vermarktung, S. 32. 131 Blauert, Andreas: Frühe Hexenverfolgungen. Ketzer-, Zauberei- und Hexenprozesse des 15. Jahrhunderts, Hamburg 1989, S. 130. 132 Muchembled: Culture populaire. Das Zitat stammt aus der deutschen Übersetzung mit dem Titel: ders.: Kultur des Volks, S. 277. Siehe auch sein Werk: ders.: Derniers bûchers. Muchembleds Werk entstammt einem sozial-romantischen und anti-institutionellen Milieu im Frankreich der siebziger Jahre. Zudem war er sehr stark von den Arbeiten von Norbert Elias und Michel Foucault geprägt. Vgl. Eiden: Unterwerfung, S. 32. 34 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung liche Gesellschaft dichotomisch in Volks- und Elitenkultur einzuteilen, 133 bis hin zu der Perspektive, wonach die Hexe als Repräsentantin einer Kultur „als Gegenstand gesellschaftlicher Unterdrückungsmaßnahmen in den Blick gerät“ 134 . Trotz der erheblichen methodischen Einwände 135 ist der Kerngedanke seiner Theorie nicht gänzlich von der Hand zu weisen: Dass Hexenprozesse durchaus (bewusst oder unbewusst) instrumentalisiert wurden, etwa vonseiten der Bauernschaft, um unliebsame Personen zu liquidieren 136 oder von der Obrigkeit, um ihre auctoritas sowohl nach „innen“ als auch „außen“ zu demonstrieren, 137 ist in der jüngeren Forschung mehrfach belegt worden. So setzt sich beispielsweise Walz in seiner Studie mit der Frage auseinander, inwieweit die als Hexen verfolgten Frauen eine besondere, kriminelle Karriere aufwiesen, die sie für Hexenprozesse prädestinierte. 138 Im Gegensatz zu Muchembled „verfolgte er jedoch nicht die These eines säkularen Wandlungsprozesses der Disziplinierung der Volkskultur, sondern untersuchte stattdessen die Mechanismen sozialer Kommunikation“ 139 . Dazu griff Walz Gedanken 133 Hierzu Schindler, Norbert: Spuren in der Geschichte der „anderen“ Zivilisation. Probleme und Perspektiven einer historischen Volkskulturforschung, in: Dülmen, Richard van/ Schindler, Norbert (Hrsg.): Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1984, S. 13-77, hier S. 65. 134 Blauert: Frühe Hexenverfolgung, S. 136. 135 „Insgesamt muß der Versuch, das Vorgehen gegen vermeintliche Hexen in das Prokustesbett eines gigantischen Ringes zweier antagonistischer Kulturformen - hier das Volk, dort die Elite - zu pressen, als gescheitert betrachet werden.“ Eiden: Unterwerfung, S. 40. 136 Vgl. Rummel, Walter: Bauern, Herren und Hexen. Studien zur Sozialgeschichte sponheimischer und kurtrierischer Hexenprozesse 1574-1664 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 94), Göttingen 1991; ders.: Die „Ausrottung des abscheulichen Hexerey Lasters“. Zur Bedeutung populärer Religiosität in einer dörflichen Hexenverfolgung des 17. Jahrhunderts, in: Schieder, Wolfgang (Hrsg.): Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte (Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft. Sonderheft 11), Göttingen 1986, S. 51- 72 und Voltmer, Rita/ Rummel, Walter: Die Verfolgung eigener Interessen durch Untertanen, Funktionäre und Herrschaften bei den Hexenjagden im Rhein-Maas-Mosel-Raum, in: Unrecht und Recht. Kriminalität und Gesellschaft im Wandel von 1500-2000. Gemeinsame Landesausstellung der rheinland-pfälzischen und saarländischen Archive. Wissenschaftlicher Begleitband, hrsg. v. Heinz-Günther Borck/ Beate Dorfey, Koblenz 2002, S. 297-339. 137 Vgl. Gersmann, Gudrun: Der Kampf um die Gerichtsbarkeit. Adlige Hexenpolitik im frühneuzeitlichen Fürstbistum Münster, in: Münch, Paul (Hrsg.): „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (Historische Zeitschrift, Beiheft 31), München 2001, S. 369-376. Dies.: Konflikte, Krisen, Provokationen im Fürstbistum Münster. Kriminalgerichtsbarkeit im Spannungsfeld zwischen adeliger und landesherrlicher Justiz, in: Blauert, Andreas/ Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven, Bd. 1), Konstanz 2000, S. 423-446; so auch Voltmer, Rita: Hexenprozesse und Hochgerichte. Zur herrschaftlich-politischen Nutzung und Instrumentalisierung von Hexenverfolgungen, in: Eiden, Herbert/ Voltmer, Rita (Hrsg.): Hexenprozesse und Gerichtspraxis (Trierer Hexenprozesse. Quellen und Darstellungen, Bd. 6), Trier 2002, S. 475-525. Dies.: Von der besonderen Alchimie, aus Menschenblut Gold zu machen, oder von der Möglichkeit, Hexereiverdacht und Hexenprozesse zu instrumentalisieren, in: Beier-de Haan/ Voltmer/ Irsigler (Hrsg.): Hexenwahn, S. 130-141. 138 Friedeburg, Robert von: Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 62), München 2002, S. 74. 139 Ebd. 2.2 Teufelskinder 35 auf, die seit einigen Jahrzehnten aus der Ethnologie bekannt sind. Denn die Arbeiten von Evans-Pritchard, Malinowski, Hunter Wilson und Gluckman wiesen darauf hin, dass der Hexenglaube in primitiven Gesellschaften durchaus die Funktion habe, abweichendes Verhalten zu sanktionieren, um die Normen sowie den Status quo zu stützen. 140 Walz knüpfte an die These von einer Kontrollfunktion des Hexenglaubens an und verglich das Verhalten der Hexen mit demjenigen der Frauen, die wegen Ehestreitigkeiten, Zänkereien, mangelnden Kirchgangs, Wahrsagens, Heilens etc. in den Gerichtsakten erwähnt werden. 141 Dabei konnte er nachweisen, dass die wegen Hexerei beschuldigten Frauen in der Regel kein stärker abweichendes Verhalten zeigten als die nicht verfolgten. 142 Letztere hätten sogar teilweise eine höhere Devianz an den Tag gelegt als die vermeintlichen Hexen. 143 Dieser historische Befund deutet Walz mit der Autokatalyse: „Nach einem kontingenten Anfangsverdacht erhöhte sich die Aufmerksamkeit der Umgebung einer Verdächtigten. Die erneute Zurechnung eines Unglücksfalls, nachdem diese wiederum eine Drohung ausgesprochen oder ähnliches Verhalten gezeigt hatte, wurde wahrscheinlich. Das Gerücht bezog sich dann auf sich selbst, es hatte selbstreferentielle Struktur.“ 144 Während Walz von der Prämisse ausgeht, dass sich die verdächtigten Frauen partiell tatsächlich deviant verhielten, kommt Dillinger für seinen Untersuchungsraum zu dem Schluss, dass ihnen lediglich ein nicht normgerechtes Verhalten attribuiert wurde. 145 Nach seiner Studie konnten banale Ereignisse, wie das plötzliche Auftreten der Hexe an einem Ort, an dem man sie nicht erwartete, als unangemessenes Verhalten empfunden werden und Hexereiverdächtigungen erregen, ohne dass vorher die Person in einem bösen Gerücht gestanden hätte. 146 Die Verdachtsgenese konnte weiterhin bestärkt werden, wenn ungewöhnliches Verhalten und ungewöhnliche Ereignisse korrelierten, so z. B. nächtlicher Lärm in einem Haus. Jedoch seien für gewöhnlich „die Aktivitäten, die Hexereiverdacht erregten, weit weniger auffällig“ gewesen und zeugten von der 140 Ausführliche Zitate von den oben genannten Autoren sind bei Walz: Magische Kommunikation, S. 23 und ders.: Relevanz der Ethnologie, S. 70 zu finden. 141 Ders.: Magische Kommunikation, S. 47. 142 So auch in der Encyclopedia of Witchcraft zu lesen: „Anthropological accounts of witchcraft in various cultures have suggested that in practice suspected witches did not necessarily display overt hostility or perversity, for some suspected people seemed friendly and conformed to social strictures, whereas others who were combative or deviant may not have been considered witches. However, these discrepancies did not mean that personality was unimportant, just that what was at issue was not so much a suspect’s overt behavior and attitudes as his or her inner convictions.“ Bever, Edward: Art. „Personality of witches“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 892-894, hier S. 893. 143 Walz: Magische Kommunikation, S. 284. 144 Ebd., S. 47. 145 Dillinger: Böse Leute, S. 186-191. 146 Ebd., S. 188. 36 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung „[...] Wachsamkeit, mit der [...] Hexereiverdächtige von ihren Dorfgenossen oder Mitbürgern beobachtet wurden. Es wird darüber hinaus deutlich, wie bereit die Bevölkerung war, per se unbedeutende Vorkommnisse in den Kategorien von Magie und Hexerei zu deuten. Mit Hexerei wurde offenbar schon gerechnet, wenn es nur zu kleinen Abweichungen vom Üblichen kam. Das Zusammenleben in Ackerbürgerstädten und Dörfern war schärfster sozialer Kontrolle unterworfen. Diese Kontrolle orientierte sich an detaillierten Vorstellungen von dem, was sowohl in moralischer als auch in zweckrationaler Hinsicht ‚richtiges‘ und ‚falsches‘ Verhalten war.“ 147 2.2.2 Selbstzuweisung Trotz erheblicher quellenkritischer und methodischer Einwände 148 gewähren die in Protokollen überlieferten Verhaltensweisen und Äußerungen über die vermeintlichen Hexen und Hexer Einblicke in bestimmte Weltauffassungen und -bilder. Zeugenaussagen, Kommentare des Gerichtspersonals, Einschätzungen von Rechtsgelehrten 149 und schließlich die Stellungnahmen der Delinquenten lassen wechselseitige Wahrnehmungen offenbar werden: Fremdzuschreibungen und Eigenbild, Selbstwahrnehmungen und Selbstverständnis, aber auch die eigene soziale Verortung in der Gesellschaft, in der man sich bewegte. Folglich sind Bekenntnisse und Geständnisse immer auch ein Zeugnis von Selbstthematisierung sowie Selbstbekenntnis 150 und erlauben Rückschlüsse auf innere Überzeugungen und mentale Dispositionen - eine für diese Arbeit überaus wichtige Erkenntnis - erhöht sie doch die Verwertbarkeit und interpretatorische Spannweite von Hexenprozessakten. Fälle von Selbstzuschreibungen und Selbstbeschuldigungen sind bei der Beschäftigung mit Hexenprotokollen durchaus keine Seltenheit. So entdeckte der Historiker Casimir Bumiller während seiner Nachforschungen zu den Hexenprozessen in Hohenzollern die Selbstbeschuldigung der Margaretha Richin, die in Gegenwart der Büttel ausrief: E, ich bin des Teuffels, ich weis, das ich sein bin, wan er nur kheme vnd holet mich. 151 Auch gegenüber dem Wächter und Vogt wiederholte sie diese Aussage, der sie ermahnte, solche Worte doch nicht zu reden. 152 Ähnliche Funde machte Johannes Dillinger in seinen Untersuchungsräumen Kurtrier und Schwäbisch-Österreich. Allerdings seien Selbstbezichtigungen unter Erwachsenen äußerst selten gewesen - im Gegensatz zu den Kinderhexen, die mehrfach von sich behauptet hätten, zaubern zu 147 Ebd., S. 189. 148 Zu den quellenkritischen Einwänden im Umgang mit Prozessakten und was sie leisten können, siehe Kapitel 3. 149 Siehe hierzu den Band von Jeruscheck, Günter/ Marssolek, Inge/ Röckelein, Hedwig (Hrsg.): Denunziation. Historische, juristische und psychologische Aspekte (Forum Psychohistorie, Bd. 7), Tübingen 1997. 150 Vgl. hierzu den Sammelband von Hahn, Alois/ Kapp, Volker (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a. M. 1987. 151 Z. n. Bumiller, Casimir: „Ich bin des Teufels, wann er nur käm und holte mich¡‘. Zur Geschichte der Hexenverfolgungen in Hohenzollern, in: Hohenzollerische Heimat 33 (1983), S. 2-7, hier S. 6. 152 Ebd. 2.2 Teufelskinder 37 können. 153 Verschiedene Formen der Selbstzuschreibungen außerhalb eines Hexenprozesses schildert ebenso Rainer Walz in seiner Arbeit über den lippischen Raum. Dieses Phänomen führt er einerseits auf die besondere Eigenart segmentärer Gesellschaften zurück, Anspielungen sich vorschnell selbst zuzurechnen, andererseits verweist er auf die reflexiven Erwartungszusammenhänge bei Verdächtigungsmechanismen. 154 Insbesondere Selbstbezichtigungen von vermeintlichen Hexen und Hexer stellen die Hexenforschung vor gewisse Herausforderungen. Das Kardinalproblem besteht in der kritischen Frage, wie diese Selbstbezichtigungen einzuordnen sind. Denn in den Geständnissen befinden sich vermeintlich zwei miteinander konkurrierende Wahrheiten: Entweder die frühneuzeitliche Hexenjustiz hatte Recht, und bei dem Delinquenten handelte es sich tatsächlich um einen Täter, oder er war unschuldig und ergo ein Opfer der Justiz. So schreibt der Historiker Günter Jerouschek: „In der modernen Hexenforschung lassen sich zwei unterschiedliche Sichtweisen ausmachen, von denen aus die Hexenverfolgungen in den Blick genommen werden. Einmal kann dies von der Verfolgerseite her unternommen werden, um deren Anteil an dem Verfolgungspanorama quasi ‚von oben‘ zu durchleuchten. Zum anderen kann die Klientel der Verfolgungsopfer ins Visier genommen werden, um den ‚viktimologischen‘ Anteil am Zustandekommen der Hexenverfolgung zu akzentuieren.“ 155 Diese Lesearten zwingen den Historiker förmlich, sich für einen Blickwinkel zu entscheiden. Wird die zweite Interpretationsmöglichkeit gewählt, müssen zwangsläufig die Selbstbezichtigungen der Inquisiten unter dem Attribut „unglaubwürdig“ subsumiert werden. Damit wird dieses Phänomen stark an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt. Mehrheitlich ist in der entsprechenden Literatur zu lesen, dass die Geständnisse gerade hinsichtlich des Hexensabbats Fantasiegebilde seien, weil hier die Grenzen des physikalisch machbaren überschritten werden; 156 zudem seien die Aussagen der Delinquenten häufig unter der Folter erzwungen worden und ergo erlogen; oder die Angeklagten hätten aus Angst vor der Folter alles gestanden, was das Gericht habe hören wollen und/ oder suggeriert habe. 157 Zusätzlich seien manche Hexen geistig 153 Dillinger: Böse Leute, S. 249. 154 Walz: Magische Kommunikation, S. 341-347. 155 Jerouschek: Psychoanalyse. 156 Siehe hierzu Dülmen, Richard van: Imagination des Teuflischen. Nächtliche Zusammenkünfte, Hexentänze, Teufelssabbate, in: ders. (Hrsg.): Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.-20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1987, S. 94-130; Ingrid Ahrendt-Schulte wendet zu Recht ein, dass für Gemeindemitglieder, Bürger und die Gerichtspersonen der Hexentanz durchaus real war. Es stellt sich hier die simple Frage: Warum nicht auch für den Delinquenten? Ahrendt-Schulte, Ingrid: Die Zauberschen und ihr Trommelschläger. Geschlechtsspezifische Zuschreibungsmuster in lippischen Hexenprozessen, in: Ahrendt-Schulte/ Bauer/ Lorenz/ Schmidt (Hrsg.): Geschlecht, S. 123-132, hier S. 125. 157 „Mit gezielten Fragen wurden Aussagen zur Verführung durch den Teufel, zur Teufelsbuhlschaft, der Teilnahme am Hexensabbat, zu Hexenflug und Schadenszauber mit Hilfe des Teufels sowie zu den Komplizen erpreßt.“ Biesel, Elisabeth: Hexenjustiz, Volksmagie und soziale Konflikte 38 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung oder psychisch krank gewesen, eventuell sogar besessen 158 oder hätten unter dem Zeitalter der Melancholie gelitten, das durch die Kleine Eiszeit hervorgerufen worden sein soll. 159 Unter diesen Gesichtspunkten verkommen die Geständnisse zu einem Hirngespinst und werden damit unbrauchbar. Pauschal ist jedoch beiden Lesearten vorzuwerfen, dass sie den Blickwinkel auf die Geständnisse einengen und damit ihre Qualität mindern. Mit diesem kritischen Einwand sollen die Täter nicht etwa exkulpiert, oder der psychische und physische Druck der Delinquenten im Verhörlokal relativiert werden. Die Verhörprotokolle sind und bleiben ein erdrückendes Abbild menschlicher Ängste und Nöte. Es ist auch nicht die Absicht der Verfasserin, die oben genannten Deutungsansätze in Frage zu stellen. Die Intention besteht vielmehr darin, auf die vorherrschende eindimensionale Herangehensweise an die Geständnisse aufmerksam zu machen, die die Chance auf neue Erkenntnisgewinne versperrt. Denn wie die jüngere Hexenforschung zu Recht betont, kann das vormoderne Hexenphänomen lediglich in seiner Komplexität erfasst werden, wenn de facto seine Vielschichtigkeit berücksichtigt wird. Dieses Postulat gilt auch für die Bekenntnisse der Angeklagten. Insbesondere die Außergewöhnlichkeit der Selbstdenunziation verlangt, die traditionellen Lesebahnen zu verlassen und neue Interpretationswege zu beschreiten. Um zu weiteren Deutungsmustern zu gelangen, darf die Frage nach einer eventuellen Mitverantwortung der vermeintlichen Hexen und Hexer a priori nicht ausgeschlossen werden, was auch eine kriminalitätsgeschichtliche Herangehens- und Betrachtungsim lothringischen Raum (Trierer Hexenprozesse. Quellen und Darstellungen, Bd. 3), Trier 1997, S. 206. 158 Simplicio, Oscar di: Art. „Mental Illness“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 751 f. Siehe auch Macfarlane: Witchcraft in Tudor, S. 183. Auch der Arzt Johann Weyer führte die Aussagen der als Hexen verurteilten Frauen auf ihren Gemütszustand zurück. So schrieb er in seinem Traktat: Daß sie aber an jhrem gemuet durch den Teufel/ so jre phantasey mit viel vnd mancherley gespoett vnnd verblendung verwirret hat/ seind betrogen/ vnd hinder das liecht gefuehrt worden/ als daß sie selbst vermeint haben/ es sey von jnen beschehen/ deß sie aber keinen gewalt nie gehabt/ gleich wie andere besessenen/ Melancholischen/ die das Schrettelich druckt/ die sich in Huend oder Woelff vermeinen verwandelt sey/ vnsinnige Narren vnd Kinder/ dessen trage ich keinen zweiffel [...]. Z. n. Behringer (Hrsg.): Hexen und Hexenprozesse, S. 144. Siehe auch Hermann Witekinds Christlich Bedencken von Zauberey (1585). Zu lesen in ebd., S. 339. 159 Einen Überblick über die mentalen Auswirkungen der „Kleinen Eiszeit“ auf die frühneuzeitliche Gesellschaft bietet Behringer, Wolfgang: „Kleine Eiszeit“ und Frühe Neuzeit, in: Behringer, Wolfgang/ Lehmann, Hartmut/ Pfister, Christian (Hrsg.): Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“. Cultural Consequences of the „Little Ice Age“ (Veröffentlichungen des Max-Planck- Instituts für Geschichte, Bd. 212), Göttingen 2005, S. 415-508. Eine kritische Stellungnahme bezieht H. C. Erik Midelfort. Er schreibt: „Wir können derzeit und voraussichtlich auch für die Zukunft nicht sagen, ob die sogenannte Kleine Eiszeit bestimmte geistige Auswirkungen hatte, ob unter dem Stress von schlechtem Wetter, knapper werdender Lebensmittel, erhöhten Preisen, steigender Anzahl von Bettlern, anschwellenden Berichten von Wunderzeichen am Himmel und auf der Erde, wachsenden Zahlen von Hexenprozessen und einer gesteigerten Endzeiterwartung die Menschen tatsächlich geisteskrank oder zumindest melancholisch wurden.“ Midelfort, H. C. Erik: Melancholische Eiszeit, in: Behringer/ Lehmann/ Pfister (Hrsg.): Kulturelle Konsequenzen, S. 239-254, hier S. 243. 2.2 Teufelskinder 39 weise fordert - ein Forschungsdesiderat, auf das Ingrid Ahrendt-Schulte mit ihrer Dissertation hinweist, wenn sie schreibt: „ Die Untersuchung von Zauberei als Praxis und ihrer Funktion als Handlungs- und Deutungsmuster erfordert einerseits eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Informationsgehalt von Hexenprozessakten und spezielle analytische Verfahren bei der Auswertung der Quellentexte; andererseits einen hermeneutischen Ansatz, der den Sinn menschlichen Handelns aus der historischen Zeit heraus zu erfassen versucht und nach dem Selbstverständnis der Akteure fragt. Voraussetzung dafür ist, die Vorstellung der historischen Subjekte von Zauberei und ihr daraus resultierendes Handeln ernst zu nehmen und eine Sensibilität für die Andersartigkeit der Kultur und der Lebensverhältnisse in der vormodernen Gesellschaft zu entwickeln.“ 160 In ihrer Studie über die Hexenverfolgungen der Kleinstadt Horn konnte sie eruieren, dass einige Frauen, die als Hexen verbrannt wurden, durchaus Schadenszauber angewandt hatten, um sich aus gewissen Notsituationen zu helfen. 161 Auch wenn die Autorin keine eindeutigen Aussagen darüber treffen möchte, ob die verurteilten Frauen tatsächlich der Hexerei schuldig waren oder nicht, 162 bleibt dies doch das logische Fazit ihrer Untersuchung. Unverblümt schildert Ahrendt-Schulte dabei ihre eigene Voreingenommenheit gegenüber den „Verhörprotokollen“ und den emotionalen Kampf gegen die mentalen Barrieren, die geschilderten Verbrechen nicht als fiktiv oder als einen Ausdruck von Rückständigkeit zu betrachten. 163 Den Geständnissen mehr Wahrheitsgehalt zuzubilligen, ist ein Ansatz, den auch Lyndal Roper verfolgt. Mittels psychoanalytischer Erkenntnisse aus der Schule Freuds versucht sie den Verhaltensweisen und Selbstbezichtigungen der Delinquenten eine versteckte symbolische Dimension zu geben. 164 Dass sie sich damit durchaus in 160 Ahrendt-Schulte, Ingrid: Zauberinnen in der Stadt Horn (1554-1603). Magische Kultur und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit (Geschichte und Geschlechter, Bd. 21), Frankfurt a. M. 1997, S. 17. 161 „Wenn die offiziellen bürokratischen Möglichkeiten nicht genutzt wurden, blieb nur noch die Selbsthilfe und das bedeutete für Frauen nach den gängigen Vorstellungen: Schadenszauber.“ Dies.: Hexenprozesse als Spiegel von Alltagskonflikten, in: Lorenz/ Bauer (Hrsg.): Hexenverfolgung, S. 347-358, hier S. 358. 162 „Es kann nicht darum gehen, beweisen zu wollen, daß die Angeklagten unschuldig oder schuldig im Sinne des damaligen Gesetzes waren, sondern es geht um die Ermittlung der Bedingungen, unter denen Frauen sich nach den gängigen Vorstellungen oder auch realiter mit Magie zur Wehr setzten.“ Dies.: Zauberinnen, S. 354. 163 „Meine eigenen kulturellen Vorurteile standen mir ebenso im Weg wie die immer noch wirksamen Vorgaben einer Forschung, die im Gefolge der Aufklärung von der Fiktionalität des Delikts ausgeht, es auf der Zuschreibungsebene ansiedelt und den Glauben an die Wirksamkeit von Magie als Ausdruck einer Rückständigkeit im Sinne mangelnder Rationalität sieht.“ Ebd., S. 236. 164 Roper: Ödipus. 40 2 Stand der Hexenforschung und Relevanz der Fragestellung Gefahr begibt, in „ahistorische psychologische Plattitüden“ 165 zu verfallen, wurde in der Historiografie bereits kritisch angemerkt. 166 Dennoch soll diese kühne Vorgehensweise zur Kenntnis genommen werden. Denn sie betont zu Recht, dass den Aussagen der Hexen und Hexer auch eine gewisse Subjektivität entnommen werden kann, d. h. persönliche Erfahrungen und Erlebnisse, aber auch die eigene Selbstwahrnehmung werden deutlich oder sogar der Drang, sich durch den Arm der Justiz selbst zu vernichten. 167 Während im deutschsprachigen Raum noch Berührungsängste mit psychoanalytischen Erklärungsangeboten herrschen, 168 sind solche Bedenken im anglo-amerikanischen trotz aller Zweifel und Vorurteile weit weniger vorhanden 169 - helfen diese Deutungsangebote doch bei aller Vorsicht, mittels verstehender Methoden annähernd das Phänomen der Hexenverfolgung zu enträtseln. Eine weitere plausible Erklärung für Selbstbezichtigungen in rechtlichen Verhörsituationen bietet Rainer Beck mit seinem Modell der „Paradoxen Verteidigung“. Beck ging der konkreten Frage nach, ob der Inquisit tatsächlich seine Exekution herbeiwünschte, wenn er sich selbst offen als Anhänger der Hexensekte beschuldigte. 170 Seine Exegese: Es handle sich bei den Selbstbezichtigungen um eine jeweils situationsabhängig gewählte Strategie der Angeklagten, in der sie Reue und Besserung 165 Rezension von Behringer, Wolfgang: Ödipus und der Teufel. Lyndal Ropers Recherchen im frühmodernen Deutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 237 (12. Okt. 1995), S. 39, url: https: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ buecher/ rezension-sachbuch-oedipus-und-der-teufel- 11311457.html (Zugriff am 31. 08. 2016). 166 Griesebner, Andrea: Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien, Köln und Weimar 2000, S. 28. Siehe auch die Rezension von Hochstrasser, Olivia: Lyndal Roper. Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, in: Traverse: Zeitschrift für Geschichte = Revue d’historie 5.1 (1998), S. 162-164. So schreibt auch Jerouschek: „Ihr zufolge kreisten die Hexereianschuldigungen wesentlich um den Bereich des Kindbettes mit unbewußten Ängsten um Brust, Milch und Ernährung und speisten sich damit aus den Phantasien aus der Mutter-Kind-Beziehung. Allerdings konzentrierte sich Roper auf ihren Augsburger Quellenfundus, der eine Stadt betraf, deren Obrigkeit keine absonderlichen Verfolgungsaktivitäten an den Tag legte. Die Befunde lassen sich deshalb nicht verallgemeinern.“ Jerouschek: Psychoanalyse. 167 An dieser Stelle muss auch auf die recht problematische psychoanalytische Studie von Evelyn Heinemann hingewiesen werden, die ihre „Abweisungs- und Ammenhypothese“ auf die äußerst „wacklige“ Interpretation zurückführt, dass eine Mutter häufig durch eine Amme ersetzt wurde. Dies habe in der frühen Kindheit zu einem aufgespaltenen Denkmuster geführt: die Hexe als böse Mutter-Imago und Maria als idealisiertes Mutterbild. 168 Zu Verlauf und Geschichte einer Symbiose zwischen Psychoanalyse und Geschichte der Hexenverfolgungen siehe ebd. sowie Midelfort, H. C. Erik: Charcot, Freud and the Demons, in: Edwards, Kathryn A. (Hrsg.): Werewolves, Witches and Wandering Spirits. Traditional Belief & Folklore in Early Modern Europe (Sixteenth Century Essays & Studies, Bd. 62), Kirksville 2002, S. 199-215. 169 Siehe hierzu Bumiller, Casimir: Hexenforschung und Psychoanalyse. Versuch einer Annäherung an des Pudels Kern, in: Frenken, Ralph/ Rheinheimer, Martin (Hrsg.): Die Psychohistorie des Erlebens, Kiel 2000, S. 325-343. 170 Beck, Rainer: ‚Umsessenheit‘? Der Teufel im Verhörlokal. Sakrale und profane Interaktionsmuster am Beispiel eines bayerischen Hexenprozesses 1721-23, in: Burkardt, Albrecht/ Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Tribunal der Barbaren? Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit 2.2 Teufelskinder 41 bekundeten, „die sich nur um den Preis des ‚Bekennens‘, also der Selbstbezichtigung in Form des Eingeständnisses fiktiver Straftaten, realisieren ließ“ 171 . Diese „habituelle Selbstinszenierung“, die auf einem pastoralen Code basiere, 172 verfolge einen multifunktionalen Zweck: Die Angeklagten zeigten auf diese Weise dem Gerichtspersonal, dass sie sich dem Teufel widersetzten, sich von dem Bösen abwendeten, und signalisierten gleichzeitig die Bereitschaft, mit den Inquisitoren zu kooperieren. Der Hintergrund ihres strategischen „Bekennens“ sei die Hoffnung auf eine nachsichtige Behandlung gewesen. 173 Besonderes Verdienst dieses Interpretationsmodells ist es, dass es die spezielle Eigenlogik von Selbstdenunziationen herausarbeitet, die in der Forschung sonst unter der Rubrik „verwirrt“ oder „ geisteskrank“ subsumiert werden. 174 Gleichzeitig verdeutlicht es eindrucksvoll die weitestgehende Zurückweisung des nicht ganz unproblematischen Themenfeldes der „Schuldfrage“ in der deutschen Hexenforschung. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit von Selbstbezichtigungen liefert die Studie von Esther Goody. Die Ethnologin befragte mehrere Gonja-Frauen und -Männer in Westafrika über ihren Hexenglauben. Einige Frauen gaben über sich an, tatsächlich Hexen zu sein und Böses mit Hilfe magischer Kräfte zu praktizieren. 175 Wird dieses Ergebnis auch auf das frühneuzeitliche Hexenphänomen übertragen, wird die Deutung legitim, dass vereinzelt die der Hexerei bezichtigten Personen sich ihres Rufes bewusst waren, sich sogar des ihnen zugeschriebenen „Images“ annahmen und es verinnerlichten, sich eventuell dessen bedienten, um sich neue Handlungsräume zu eröffnen. Auf dieses sprichwörtliche „Spiel mit dem Feuer“ macht auch ein Artikel aus der Encyclopedia of Witchcraft aufmerksam. Hier heißt es: „Reputation stretching back many years might therefore become far more dangerous once individuals had become both isolated and dependent on aid from community. Such people occasionally seem to have played on the fears they aroused to extract more support from their neighbors, following a very high-risk strategy.“ 176 Sicherlich ist zu überprüfen, ob diese Deutung nicht auch auf die Fürstenberger Deüffelskinder zutrifft, die seit mehreren Jahren oder seit Generationen mit dem Hexenruf behaftet waren. (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven, Bd. 25), Konstanz und München 2012, S. 359- 387, hier S. 380. 171 Ebd., S. 383. 172 Ihr Handeln beruhe auf der Vorstellung einer christlich begriffenen Strafgerichtsbarkeit, die neben einer Strafjustiz auch um das Seelenheil der Delinquenten bemüht war. Ebd. 173 Ebd., S. 385. 174 Dillinger: Böse Leute, S. 249 f. 175 Goody, Esther: Legitimate and Illegitimate Aggression in a West African State, in: Douglas, Mary (Hrsg.): Witchcraft Confessions and Accusations, London 1970, S. 207-244. 176 Briggs: Family, S. 350. 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten Der „literarische“ 177 Charakter von Gerichtsprotokollen erlaubt keinen bedenkenlosen hermeneutischen Umgang mit dieser Quellengattung. Vielmehr sind „ein hohes Maß an methodischer Sorgfalt und [...] das Instrumentarium der Quellenkritik“ 178 erforderlich, um zu verwertbaren Ergebnissen über die Menschen der Frühen Neuzeit und ihre Kultur zu gelangen. Dieser quellenkritische Einwand und die Mahnung, keine voreiligen Schlüsse (Interpretationen) zu ziehen, sind nicht selbstverständlich. Denn lange Zeit galten in der Historiografie frühneuzeitliche Gerichtsakten aufgrund ihrer Detailgenauigkeit und Ausführlichkeit als authentisch, 179 was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass sie streng genommen nach der klassischen Einteilung von Johann Gustav Droysen (∗ 1808, † 1884) zu der Kategorie der Überreste zu zählen sind. Diese Klassifizierung impliziert, dass Verhörprotokolle im Gegensatz zu den Traditionen, 180 also Quellen mit bewusster Überlieferungsabsicht an die Nachwelt, weniger Verzerrungen beinhalten würden. Trotz dieser vorbehaltlosen Einstellung zu den Gerichtsakten schenkten die Historiker ihnen bis in die 1960er-Jahre wenig Aufmerksamkeit. Vereinzelt wurden sie im 19. Jahrhundert als unterhaltsame Lektüre 181 veröffentlicht, was nicht zuletzt auf ihren inhaltlichen „Charme“ zurückzuführen ist - bieten sie doch Einblicke in Kuriositäten und befriedigen „voyeuristische Bedürfnisse“ 182 . 177 Zemon Davis betont in ihrer Arbeit den erzählerischen Charakter von Gerichtsprotokollen. Zemon Davis, Natalie: Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Frankfurt a. M. 1991. 178 Behringer, Wolfgang: Verhörprotokolle und andere administrative Quellen zur Mentalitätsgeschichte, in: Schulze, Winfried (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Zeit. Quellen und Darstellungen zur Sozial- und Alltagsgeschichte, Bd. 2), Berlin 1996, S. 275-293, hier S. 281. 179 Vgl. Gross, Barbara: Hexerei in Minden. Zur sozialen Logik von Hexereiverdächtigungen und Hexenprozessen (1584-1684) (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte, Bd. 2), Münster 2009, S. 36. 180 Vgl. Behringer: Verhörprotokolle, S. 276. 181 Stellvertretend für viele Werke seien hier erwähnt: Rautert, Friedrich: Etwas Näheres über die Hexen-Prozesse der Vorzeit, aus authentischer Quelle, Essen 1827; Becker, Johann Nikolaus: Actenmäßige Geschichte der Räuberbanden an den beyden Ufern des Rheins. Zweyter Teil. Enthaltend die Geschichte der Brabäntischen, Holländischen, Mersener, Crevelder, Neußer, Neuwieder und Westphälischen Räuberbande; aus Criminal-Protocollen und geheimen Notitzen des Br. Keil, ehemaligen öffentlichen Ankläger im Ruht-Departemente, zusammengetragen von einem Mitgliede des Bezirks-Gerichts in Cöln, Cöln 1804. 182 Blauert/ Schwerhoff (Hrsg.): Mit den Waffen der Justiz, S. 7. 44 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten Auch die offensichtlich vorhandene Quellenfülle vermochte den Stellenwert der Prozessunterlagen zunächst nicht wesentlich steigern. 183 Aus rechtshistorischer Sicht näherte man sich den Akten, um ausschnitthaft Erkenntnisse über das Rechts- und Strafsystem im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zu erlangen. 184 Häufig wurden die Akten, insbesondere Inquisitionsakten, verwendet, um konfessionelle (katholische und protestantische) Streitigkeiten hinsichtlich der prominenten Schuldfrage zu „klären“ 185 oder um den bäuerlichen Aberglauben herauszuarbeiten. 186 Erst ein Umdenken 187 in der Geschichtswissenschaft führte zu einer „Neuentdeckung“ und -bewertung der Gerichtsakten: die Abwendung von der Geschichte der bzw. des „Großen“ und hin zum „Kleinen“, dem „ gemeinen Mann“. 183 Schwerhoff, Gerd: Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen, Bd. 9), Frankfurt a. M. 2011, S. 45. Mögliche Gründe für die Zurückhaltung der Historiker sieht Ralf- Peter Fuchs in „den Eigenarten der Konzeptionen der Verhöre und der Protokollführung“, die sehr umfangreich und auch verwirrend ausfallen können. Fuchs, Ralf-Peter: Protokolle von Zeugenverhören als Quellen zur Wahrnehmung von Zeit und Lebensalter in der Frühen Neuzeit, in: Baumann, Anette/ Westphal, Siegrid/ Wendehorst, Stephan/ Ehrenpreis, Stefan (Hrsg.): Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 37), Köln 2001, S. 141-164, hier S. 142. 184 Mit dieser Feststellung soll nicht etwa suggeriert werden, dass diese Ergebnisse ohne Belang für die Geschichtswissenschaft sind. Im Gegenteil: Die gelieferten Erkenntnisse sind unverzichtbar für viele Forschungszweige in der Geschichtswissenschaft und bereiteten den Boden für neue Ansätze. Allerdings kritisiert Schwerhoff, dass „der Forschungsstand der Strafrechtsgeschichte, die im Kanon der Rechtsgeschichte ohnehin an Boden verloren hat [...], den sozialhistorisch Interessierten kaum befriedigt“. Schwerhoff, Gerd: Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999, S. 16. 185 Hierzu noch eine jüngere Arbeit von Schormann, Gerhard: Der Krieg gegen die Hexen. Das Ausrottungsprogramm des Kurfürsten von Köln, Göttingen 1991. Scharfe Kritik zu Schormanns „Ausrottungsthese“ üben Becker, Thomas P.: Hexenverfolgung in Kurköln. Kritische Anmerkungen zu Gerhard Schormanns „Krieg gegen die Hexen“, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 195 (1992), S. 204-214 und Rummel, Walter: „Der Krieg gegen die Hexen“. Ein Krieg fanatischer Kirchenfürsten oder ein Angebot zur Realisierung sozialer Chancen? Sozialgeschichtliche Anmerkungen zu zwei neuen Büchern, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 56 (1992), S. 311-324. Noch schärfer äußert sich Behringer: Vermarktung, S. 100. 186 Vgl. Ginzburg, Carlo: Der Inquisitor als Anthropologe, in: Habermas, Rebekka/ Minkmar, Nils (Hrsg.): Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur Historischen Anthropologie, Berlin 1992, S. 42-55, hier S. 43. 187 Die möglichen Ursachen für den Bruch mit dem Historismus und die Skepsis gegenüber sozialtheoretischen Makroanalysen in der Historiografie in den späten 1960er-Jahren formuliert Medick wie folgt: „Ob es die Zweifel an der Identifikation mit der Annahme des Fortschritts waren, die Ablehnung eines evolutionistischen Geschichtsverständnisses oder die Kritik einer globalhistorischen eurozentrischen Perspektive, diese, aus dem zeitgenössischen Erfahrungswandel resultierenden Infragestellungen bisheriger geschichtsphilosophischer und sozialtheoretischer Annahmen wurden und werden mit der Entstehung der Mikro-Historie in Verbindung gebracht.“ Medick, Hans: Mikro-Historie, in: Schulze, Winfried (Hrsg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, Göttingen 1994, S. 40-53, hier S. 43. 3.1 Die Vorbehalte 45 Dies war die Geburt vieler Forschungs- und Erkenntnisrichtungen, 188 die es sich zum Ziel setzten, „den konkreten Menschen mit seinem Handeln und Denken, Fühlen und Leiden“ 189 in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten zu stellen. 190 Für diese Forschungsperspektiven erweist sich die Auswertung von Gerichtsakten als fruchtbar und lohnenswert, 191 insbesondere da es sich bei der Kultur der „kleinen Leute“ im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zumeist um eine mündliche Kultur handelte, also kaum schriftliche Selbstzeugnisse vorhanden sind. 192 Somit bilden Gerichtsakten häufig den einzigen Zugriff auf eine bisher „stimmlos“ gedachte Gesellschaft. Dieser Umstand entfachte eine neue quellenkritische Diskussion über die Aussage- und Beweiskraft von Gerichtsprotokollen. Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung ist die Frage: Wie viel Wahrheitsgehalt und wie viele „Verzerrungen“ liegen in dieser Quellengattung vor 193 und für welche methodischen Zugänge sind sie geeignet? 3.1 Die Vorbehalte Gleich in mehrerer Hinsicht liegen Bedenken im Umgang mit Gerichtsakten vor, die Einblicke in einen Inquisitionsprozess gewähren, in dem bekanntlich die Folter angewandt wurde. Gemeinhin wurde vor allem in Hexenprozessen die Tortur häufig und massiv 194 eingesetzt, 195 was einerseits an der üblichen Rechtsauffassung lag, dass 188 Die Forschungszweige sind Legionen. Um nur einige zu nennen: Alltags- und Mentalitätsgeschichte, Historische Kulturanthropologie und Anthropologie, Historische Kriminalitätsforschung, Genderstudies, Mikrogeschichte, Ethnologie etc. 189 Dülmen, Richard van: Historische Anthropologie. Entwicklung - Probleme - Aufgaben, Köln, Weimar und Wien 2 2001, S. 5. 190 In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von Le Roy Ladurie: Montaillou und Ginzburg: Der Käse und die Würmer prägende Wegbereiter. Zum Wandel in der Geschichtswissenschaft siehe Braudel, Fernand/ Zemon Davis, Natalie/ Febvre, Lucien/ Ginzburg, Carlo/ LeGoff, Jacques/ Koselleck, Reinhart/ Momigliano, Arnaldo: Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, Berlin 1990 und Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001 sowie Dülmen: Anthropologie, S. 10-17 sowie Eichhorn: Geschichtswissenschaft, S. 142-192, hier insb. S. 184 f. 191 So schreibt Rummel: „Wer sich mit den Quellen zur Alltagsgeschichte der Frühen Neuzeit befaßt, der weiß um die Faszination solcher Lektüre. Die Anschaulichkeit der Geschichten von Händeln und Gebärden, von Behauptungen und Streitereien, Sitten und Unsitten läßt die großen Themen der Geschichtsschreibung in den Hintergrund treten.“ Rummel, Walter: Verletzung von Körper, Ehre und Eigentum. Varianten im Umgang mit Gewalt in Dörfern des 17. Jahrhunderts, in: Blauert/ Schwerhoff (Hrsg.): Mit den Waffen der Justiz, S. 86-114, hier S. 86. 192 Vgl. Peters, Jan: Mit Pflug und Gänsekiel. Selbstzeugnisse schreibender Bauern. Eine Anthologie (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 12), Köln 2003. 193 Schwerhoff warnt vor der Gefahr „einer bestimmten, vielleicht sogar bewusst lancierten Version auf den Leim zu gehen“. Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 69. 194 Vgl. Zagolla, Robert: Im Namen der Wahrheit. Folter in Deutschland vom Mittelalter bis heute, Berlin 2006. 195 So konstatiert Jutta Nowosadtko für den Raum München im 16. Jahrhundert. Nowosadtko: Scharfrichter, S. 58 ff. Obwohl die Anwendung der Folter von der Halsgerichtsordnung Karls V. eingegrenzt wurde, lag für den Prozessleiter ein gewisser Ermessensspielraum vor: Item die peinlich frag soll nach gelegenheyt des argkwons der person, vil, offt oder wenig, hart 46 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten ein Geständnis, welches sowohl inner- und außerhalb der Tortur vom Delinquenten bestätigt werden musste, 196 als „Königin des Beweises“ galt. Andererseits beinhaltete der zeitgenössische purgatio-Gedanke die Vorstellung, dass ein Delinquent sich über das Aushalten von Schmerzen von seinem üblen Leumund reinigen könne. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt, der wesentlich den rechtlichen Strafprozess gegen die „Unholde“ bestimmte und den Verfahren eine gewisse Eigendynamik verlieh, war die berühmte Befragung der vermeintlichen Verbrecher nach ihren Tanzgenossen. Erwies sich der Delinquent als wenig redselig, schwankend in seiner Aussage oder hatte das Gericht den Eindruck, dass noch kein vollständiges Geständnis über die möglichen complices vorlag, war nach römischem Recht eine schärfere und wiederholte Anwendung der Tortur berechtigt. Für diese Verfahrenspraxis lassen sich auch Beispiele aus dem fürstenbergischen Archivmaterial anführen. So heißt es im Prozess gegen Margaretha Stroeth am 10. November 1700, dass sie vom Scharfrichter erneut mit der tortura instrumentalis bedroht werden solle, wenn sie nicht endlich ihre Lehrmeisterin nenne. Zeige sie sich weiterhin verstockt, solle man so balt [wie] müglich ad 2., 3., 4. gradum torturae 197 schreiten. Die Tortur, die, wie im Zitat ersichtlich, in verschiedene Kategorien eingeteilt war, beinhaltete gestaffelte Methoden der Schmerzzufügung: Im Allgemeinen waren im Alten Reich Daumen- und Beinschrauben, Aufziehen mit nach hinten verrenkten Armen, Auspeitschen und Abbrennen von Schwefel auf der Haut, Sitzen auf dem „Bock“ etc. weit verbreitet. 198 Neben den wiederholten körperlichen Schmerzen zermürbten zusätzlich die (Suggestiv-)Fragen der Richter, von denen unbekannt ist, in welchem Ton sie gestellt wurden, oder linder nach ermessung eyns guten vernünfftigen Richters, fürgenommen werden [...]. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reiches von 1532 (Carolina), hrsg. und erläut. v. Friedrich-Christian Schroeder, Stuttgart 2000 (im Folgenden zit. als CCC), Art. 58. Einen kritischen Standpunkt gegenüber der allgemeinen Auffassung des interpretatorischen Freiraums des Artikels siehe bei Ströhmer, Michael: Von Hexen, Ratsherren und Juristen. Die Rezeption der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. in den frühen Hexenprozessen der Hansestadt Lemgo 1583-1621 (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte, Bd. 43), Paderborn 2002, S. 69. 196 Das zweifache Geständnis bekräftigte nach juristischer Auffassung den Wahrheitsgehalt der Aussage, sodass ein Gerichtsurteil gefällt werden konnte. So vermerkte der bestellte Hexenkommissar in einem undatierten Brief von 1659 an den fürstenbergischen Richter Johann Sauren, dass die Bezichtigungen von Meineke Brielohn gegen Margareth Brielon, Agathen Brielon, Mentzen Grethen und Zenzing Buschmann desto weiniger [an] zu zweiffeln [wären], wan [...] er [sc. Meineke Brielohn] seine bekändtnuß nach gethaner erhertziger beicht vndt empfehlung deß Heiligen sacraments mitt dem todt besthettigen würde. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 197 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 108 r . 198 Vgl. Rummel, Walter/ Voltmer, Rita: Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit. (Geschichte kompakt), Darmstadt 2008, S. 49. Es muss jedoch betont werden, dass die Anwendung und der Grad der Tortur regional unterschiedlich ausfielen. In Fürstenberg sind lediglich die ersten vier der oben genannten Foltermethoden überliefert. Für nähere Details über die lokale Verfahrenspraxis im Inquisitionsprozess siehe Kapitel 9.2. 3.1 Die Vorbehalte 47 die Widerstandskraft der Delinquenten. 199 Die sich oft wochenlang hinziehende Prozessdauer, isolierte Gefängnisaufenthalte, die Gegenüberstellung mit anderen Delinquenten sowie das Bewusstsein des „Ausgeliefert-Seins“ setzten die Angeklagten einem enormen psychischen und physischen Druck 200 aus, der den Aussagen in Rechnung gestellt werden muss. Ferner betont die Hexenforschung, dass das einseitige „Machtgefälle“ zwischen Delinquenten und Richter zusätzlich die Spannungssituation verstärkte. Denn während der Gerichtsapparat Zeugenvernehmungen und Indizien gegen den inhaftierten Angeklagten sammelte, wusste dieser nichts von den gegen ihn vorliegenden Indizien. 201 Es ist folgerichtig kaum zu ermitteln, in welchem Grad die Geständnisse „zurechtgefoltert“ 202 wurden, und so stellt sich die berechtigte Frage, welche Angaben als Fakten oder Fiktionen 203 eingestuft werden können. Weitere Vorbehalte liegen gegenüber den Verhör- und Anklageprotokollen der Zeugen vor. Der hermeneutische Umgang mit dieser Quellengattung wird erheblich durch den Vorgang des Memorierens und durch die Subjektivität der Verhörten erschwert, da beide Faktoren einen hohen Grad an Verzerrungen beinhalten können. Denn die Befragungen der Zeugen zu einem bestimmten Sachverhalt, z. B. beim Zustandekommen des Hexereiverdachts, erfolgten immer aus der Retrospektive. Das heißt, dass die Memoriervorgänge wesentlich durch „[...] mentale Bedürfnisse und Dispositionen, die zum aktuellen Zeitpunkt des Erinnerns wirksam werden, geprägt sind“. 204 Folglich 199 Nach mehrmaligen Foltern der Delinquentin Angela Vahlen ging der Kommissar zu ihr und sagte, dass kein frommer Mensch die Tortur aushalten könne. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 126 r . Die Angst vor den Schmerzen in der Tortur verleitete sogar einige Personen vor dem Prozessbeginn zu fliehen. 1631 versteckte sich beispielsweise die Mutter von Engel Möller hinter einer Wanne, damit die Gerichtsschöffen sie nicht zum Prozess führen konnten. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Prozess gegen Engel Möller vulgo Hinte am 24.04.1658. Von der Delinquentin Elsche Wessel wird berichtet, dass sie sich 1601, als gegen die Hexen inquiriert wurde, auff den balken verborgen habe. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog gegen Elsche Wessel vulgo Kröger am 28.06.1631. 200 Die rechtliche Verfahrensweise in Hexenprozessen wurde bereits von Zeitgenossen heftig kritisiert. Als einer der bedeutendsten Gegner der Hexenprozesse gilt der zeitgenössische Jesuitenpater Friedrich Spee mit seiner Cautio Criminalis. Siehe hierzu Gunther, Franz: Friedrich Spee zum 400. Geburtstag. Kolloquium der Friedrich-Spee-Gesellschaft Trier, Paderborn 1995, insb. S. 103-150; siehe auch Lehmann/ Ulbricht (Hrsg.): Vom Unfug. 201 Vgl. Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 66. 202 Schormann: Nordwestdeutschland, S. 117. 203 Vgl. Evans, Richard J.: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnisse, aus dem Englischen übers. v. Ulrich Speck, Frankfurt a. M. und New York 1998. 204 Fuchs, Ralf-Peter/ Schulze, Winfried: Zeugenverhöre als historische Quellen - einige Vorüberlegungen, in: dies. (Hrsg.): Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neuzeit (Wirklichkeit und Wahrnehmung, Bd. 1), Münster 2002, S. 7-40, insb. S. 28. Siehe hierzu auch den Aufsatz von Welzer, Harald: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 13.1 (2000), S. 51-63. Markowitsch, Hans-Joachim: Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns. Befunde aus der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung, in: Welzer, Harald (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 219-239. 48 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten lässt sich anhand der Aussagen nicht rekonstruieren, „welche Ereignisse, Verhaltensweisen oder Handlungen der Zeuge ursprünglich, also zum Zeitpunkt des Ereignisses, über das er berichtet, als verdächtig wahrgenommen hat“. 205 Es lässt sich lediglich dokumentieren, an was der Zeuge im Augenblick des Verhörs, in dem die Erinnerung abgerufen wurde, sich zu erinnern glaubte oder vorgab. Dabei konnte sich der Faktor der zeitlichen Distanz zwischen erfragtem Ereignis bzw. Verdachtsmoment und gerichtlicher Befragung entscheidend auf den Erinnerungsvorgang auswirken: Je mehr Zeit zwischen Begebenheit und Verhör lag, desto eher können Verzerrungen durch Uminterpretationen, Vergessen, Schweigen 206 und Gerüchte vorliegen - insbesondere dann, wenn im Kontext der gerichtlichen Befragung gezielt nach Hexereiverdächtigungen gefragt wurde. 207 Zudem müssen persönliche Motive und taktisches Kalkül bei der Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen in Rechnung gestellt werden, was Schwerhoff als „Imperativ des strategischen Anliegens“ 208 bezeichnet: Häufig versuchten Zeugen, sich gegenüber Vertretern der Obrigkeit in einem „ guten Licht“ darzustellen, ihre eigene Rolle bei eventuellen Straftaten zu minimieren oder gar zu negieren, sich und andere zu schützen sowie mögliche Feinde in Verruf zu bringen. 209 Wenn auch die zeitgenössischen Gerichte darauf achteten, dass zwischen Zeuge und Tatverdächtigem keine Feindschaft oder Verwandtschaft vorlag, so konnten doch Aversionen oder Vorprägungen durch die „allgemeine Meinung“ über den Delinquenten Aussagen beeinflussen und weitreichende, dem Historiker meist nicht offensichtlich erkennbare Beziehungsgeflechte das Verhalten und den Redefluss bestimmen. 210 Weitere Bedenken liegen gegenüber dem Verfasser von Gerichtsakten sowie deren schriftlichem Aufbau vor. Der erste Vorbehalt setzt direkt beim Gerichtsschreiber an. Da Verhörprotokolle „aus einer Schnittstelle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ entstanden sind, 211 agierte der Schreiber in mehrfacher Weise als „Filter“: Einerseits 205 Gross: Hexerei in Minden, S. 36. 206 Vgl. Burke, Peter: Randbemerkungen zu einer Sozialgeschichte des Schweigens, in: ders.: Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 46), Berlin 1994, S. 65-81. 207 „Wir haben inzwischen erkannt, daß in beiden Verfahren [sc. Geschichte und Gedächtnis] bewußte und unbewußte Auswahlmechanismen, aber auch Deutung und Einstellung zu bedenken sind.“ Burke, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Assmann, Aleida/ Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 289- 304, hier S. 289. Sowie Ahrendt-Schulte: Zauberinnen, S. 114-125. 208 Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 67. 209 Ders.: Aktenkundig. 210 Vgl. Simon-Muscheid, Katharina: Reden und Schweigen vor Gericht. Klientelverhältnisse und Beziehungsgeflechte im Prozessverlauf, in: Häberlein, Mark (Hrsg.): Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert) (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven, Bd. 2), Konstanz 1999, S. 35-52. 211 Vgl. Nolting, Uta: Nah an der Realität - Sprache und Kommunikation in Mindener Hexenverhörprotokollen von 1614/ 15, in: Moeller, Kathrin/ Schmidt, Burghart (Hrsg.): Realität und Mythos. Hexenverfolgung und Rezeptionsgeschichte (Veröffentlichungen des Arbeitskreises für historische Hexen- und Kriminalitätsforschung in Norddeutschland, Bd. 1), Hamburg 2003, S. 33-55, hier S. 33. 3.1 Die Vorbehalte 49 wurde die Dialektsprache der Zeugen in die frühneuhochdeutsche Kanzleisprache und indirekte Rede übertragen, was den Originalton der Aussagen stark verzerrt und sie zu keinem Abbild der stattgefundenen Kommunikation macht. 212 Andererseits muss der Historiker beachten, welche Art von Protokoll ihm vorliegt. Denn wie die Sprachhistorikerin Topalovic berechtigterweise aufzeigt, muss zwischen „Mitschriften“, also Protokollen, die parallel zur Gesprächssituation entstanden sind, und „Abschriften“ unterschieden werden. 213 Die Protokollabschriften wurden mit einer zeitlichen Distanz erstellt, wobei ein zuvor angefertigtes Protokoll als Vorlage dienen konnte. Im Gegensatz zu den Mitschriften beinhalten Abschriften häufiger ein gleichmäßigeres Schriftbild, selten Korrekturen oder Marginalien sowie eine typisierende und standardisierende Zusammenfassung von Aussagen, 214 deren Inhalt unter Umständen durch Auslassungen, Abwandlungen und/ oder Hinzufügungen von Wörtern so verändert sein konnten, dass sich eine andere, für den Delinquenten fatale Sachlage ergab. Die „ geglättete Kanzleisprache“ 215 stellt ein Kardinalproblem bei der Quellenbewertung dar. Der Grund für diese Textverfälschung liegt in dem Umstand, dass Protokollabschriften für den externen Gebrauch bestimmt waren, so z. B. an Juristenfakultäten, Rechtsgelehrte oder Hexenkommissare gesandt wurden. Ziel der „juristischen Bearbeitung“ 216 war es, eine Lesbarkeit der Sachverhalte durch Berufsjuristen und Richter zu garantieren oder von der Dringlichkeit eines Prozessfalles zu überzeugen. 217 Jedoch sollte dem Gerichtsschreiber nicht unbedingt eine bewusst böswillige Absicht der Textmanipulation unterstellt werden: Da der Protokollant selbst in den juristischen, obrigkeitlichen und gemeindlichen Diskurs über Hexerei eingebunden war, führte er nur das schriftlich auf, was „im Kontext der Rede über Hexerei ‚Sinn machte‘“ 218 und als relevant eingestuft wurde. Dadurch wird der Gerichtsschreiber zum Knotenpunkt von drei Ebenen, die ihn einerseits beeinflussten, andererseits aber auch „zwangen“, eine Erwartungshaltung zu erfüllen: nämlich die Bestätigung der Verdächtigungen vonseiten der Obrigkeit und Gemeinde sowie die Bekräftigung eines typisierten Hexenbildes im Gelehrtendiskurs. 212 Vgl. Gross: Hexerei in Minden, S. 37. 213 Elvira Topalovic führt noch die Kategorie der Reinschrift auf. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt jedoch in einer Vergleichsanalyse zwischen Protokollmitschriften und -abschriften. Topalovic, Elvira: Konstruierte Wirklichkeit. Ein quellenkritischer Diskurs zur Textsorte Verhörprotokoll im 17. Jahrhundert, in: Moeller/ Schmidt (Hrsg.): Realität und Mythos, S. 56-76. 214 Eine ausführliche Auflistung der Unterschiede zwischen beiden Protokolltypen ist bei ebd., S. 64 f. zu finden. 215 Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 67. 216 Topalovic: Konstruierte Wirklichkeit, S. 62. 217 Vgl. Seibert, Thomas-Michael: Aktenanalyse. Zur Schriftform juristischer Deutungen, Tübingen 1981. 218 Bender-Wittmann, Ursula: There and Back Again. Zum Verhältnis von Ergebnis, Fragestellung und diskursivem Rahmen am Beispiel der Lemgoer Hexenjagden, in: Wilbertz/ Schwerhoff/ Scheffler (Hrsg.): Regionalgeschichte, S. 71-82. 50 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten In systemtheoretischer Perspektivierung lässt sich die Überformung einer Hexenprozessakte durch den „Filter“ Gerichtsschreiber mit folgenden Worten darstellen: Die Sichtweise des Protokollanten auf die Delinquenten ist durch drei wesentliche Determinanten beeinflusst: ein kulturelles (Obrigkeit, Gelehrte) und ein personales System (Gemeinde, Delinquenten) sowie die persönliche Motivation. 219 Folglich kann der Gerichtsschreiber nicht als objektive Größe gewertet werden. Im Gegenteil: Ihm muss eine höchst subjektive Haltung zugerechnet werden, die die Darstellungsweise von Aussagen beeinflussen konnte. Ein weiterer Vorbehalt besteht gegenüber der formalen Gestaltung von Gerichtsprotokollen. Der häufig vorkommende monologartige Aufbau der Quellen gibt nur ein einseitiges Bild vom prozessualen Hergang und Verlauf wieder, sodass vorgerichtliche Abläufe und Diskussionen über Sachverhalt und Person in den Hintergrund treten. Je nach Region und Zeit konnte bei steigender Anzahl der Hexenprozesse die Ausführlichkeit der schriftlichen Darstellung in den Protokollen abnehmen, so werden viele Antworten lediglich mit nescit oder affirmiter wiedergegeben. Die Bamberger Hexenverfolgungen sind hierfür ein Extrembeispiel: Die Delinquenten „verkamen“ zu Nummern, und die Aussagen wurden standardisiert wiedergegeben. 220 Als weiterer gewichtiger Verzerrungsfaktor muss drittens das Verschweigen bzw. Nicht-Aufführen von Detailangaben in Rechnung gestellt werden. Bei den Gerichtsprotokollen in Fürstenberg werden beispielsweise einzelne Aspekte vom Gerichtsschreiber, der gleichzeitig ein Einwohner in Fürstenberg war, d. h. mit der Lebensweise, den Umständen und teilweise mit verhörten Personen in enger Beziehung stand, ausgelassen, weil er diese als bekannt voraussetzte; insbesondere da die Ortsobrigkeit - an die die Gerichtsprotokolle in erster Linie gerichtet waren - mit den einzelnen Gemeindemitgliedern selbst vertraut war. So führten sie beispielsweise Mitsprache, wer als Dorfvorsteher erwählt wurde, begutachteten persönlich die Zehntabgaben, stellten Mägde und Knechte aus dem Dorf in ihren Dienst ein und führten sogar teilweise geschlechtliche Beziehungen zu einigen Frauen aus der Gemeinde. 221 3.2 Die Vorteile Trotz aller erhobenen Einwände gibt es auch Vorteile, die die Vorbehalte relativieren, den besonderen Eigenwert der Quellengattung hervorheben und sie somit zu einer brauchbaren Interpretationsgrundlage machen, sodass ganz lapidar gesagt werden kann: „[...] die Gerichtsakten [schneiden] gar nicht so schlecht ab [...].“ 222 219 Vgl. Lamnek, Siegfried: Theorien abweichenden Verhaltens I. „Klassische“ Ansätze. Eine Einführung für Soziologen, Psychologen, Juristen, Journalisten und Sozialarbeiter, Paderborn 9 2013, S. 16. 220 Vgl. Behringer: Verhörprotokolle, S. 277. 221 Auf die Struktur des Dorfes Fürstenberg sowie das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Gemeinde wird in den Kapiteln 6.1 und 7.3 näher eingegangen. 222 Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 68. 3.2 Die Vorteile 51 Die Kritik hinsichtlich des manipulativen Charakters der frühneuzeitlichen Rechtspraxis in Hexenprozessen sowie dem schriftlichen Aufbau von Gerichtsprotokollen scheint nur bei oberflächlicher Betrachtung ausreichende Vorbehalte zu liefern. Ein tieferer Blick in die frühneuzeitliche Rechtsauffassung sowie Gerichtspraxis genügt, um zu einem differenzierteren Bild zu gelangen, das zusätzlich in seine regionalen sowie zeitlichen Unterschiede eingebettet werden muss. Greift man zunächst den kritischen Einwand „Folter“ auf, so ist ganz allgemein festzuhalten, dass weder die Folterpraxis in Hexenprozessen einer Befriedigung von sadistischen Neigungen diente noch eine Person zu Tode gequält werden sollte. Sie galt als ein legales Rechtsmittel, das idealiter zur Erforschung der Wahrheit gebraucht wurde und nicht zur Erpressung falscher Aussagen. 223 Freilich wichen viele zeitgenössische Vertreter der Gerichtsapparate in der Verfahrenspraxis von diesem Ideal ab und pressten die Geständnisse regelrecht aus den Delinquenten, die nur widerwillig die gewünschten Antworten lieferten. Um jedoch zu einer fundierten Einschätzung und Einordnung der Quellengattung „Gerichtsakte“ speziell für das hier untersuchte Hexenphänomen zu gelangen, bedarf es eines gezielten Rückgriffs auf den lokalen Gerichtshabitus in Fürstenberg, der hier kurz skizziert werden soll. Offenbar war die lokale Hexenjustiz bemüht, die „Wahrheit“ aus den Mündern der Inquisiten zu erfahren. Diese Einschätzung wird an mehreren Stellen greifbar. So ermahnten und drohten beispielsweise die Inquisitoren wiederholt dem Delinquenten, dass eine Falschaussage den endgültigen Verlust des Seelenheils bedeuten würde. 224 Dieser Konsequenz waren sich offensichtlich auch die Angeklagten bewusst, wie sich für den Untersuchungsraum nachweisen lässt: Wurden sie mit einer Denunziation konfrontiert, die ihres Erachtens falsch war, sprachen sie offen aus, dass der Denunziant seiner seele deßwegen [auf] einen bösen stuel [sc. das Höllenfeuer] gesetzt 225 habe. Die fürstenbergischen Richter waren auch bemüht, den Angeklagten dahin zu bewegen, dass er gütlich bekenne, also ohne Anwendung der Folter. So heißt es im Aktenmaterial immer wieder, dass der Delinquent sich als halsstarrig erwiesen und alle Ermahnungen verwindtschlaget 226 habe, weswegen das Gericht sich schließlich gezwungen sah, die Folter anzuwenden. Auch Art und Schweregrad der Folter unterlagen den lokalen Gepflogenheiten. So sind für Fürstenberg keine exzessiven Folteranwendungen bekannt, die einen „mörderischen Erfindungsgeist“ belegen würden. „Lediglich“ die „landläufigen“ 227 Torturpraktiken wurden über ein Jahrhundert lang angewendet: Bein- und Daumenschrauben, Aufzug und/ oder Rutenstriche. 223 Vgl. Behringer: Verhörprotokolle, S. 283. 224 So appellierten die externen Hexenkommissare eindringlich an die Angeklagten, Ihrer seelen nicht zu kurtz [zu] thuen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Hauptverfahren gegen Engel Möller am 05.07.1658. 225 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Responsiones der Enneke Grothen am 23.07.1658. 226 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Verfahrenseinleitung gegen Enneke Grothen am 17.08.1658. 227 Behringer (Hrsg.): Hexen und Hexenprozesse, S. 3. 52 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten Die Angeklagten wurden sogar üblicherweise nach zweimalig überstandener Tortur freigelassen. 228 Ferner muss in Rechnung gestellt werden, wie die Angeklagten auf die angewendete Tortur reagierten. 229 Für den untersuchten Raum ist mehrfach belegt, dass einige Delinquenten sich die Schmerzen nach außen hin nicht anmerken ließen, weswegen der Richter im Einvernehmen mit den Kommissaren die Folter abbrach. 230 Zudem konnte die Reaktion auf die Folter entscheidend durch die Einstellung des Straftäters zu dieser beeinflusst werden. Teilte er die zeitgenössische Ansicht, dass die Tortur ihn von dem bösen Leumund reinigte, 231 so konnte diese Meinung durchaus die Angst und den psychischen Druck vor und in der Foltersituation mindern; insbesondere wenn der Delinquent glaubte, dass Gott ihm - wie den Märtyrern - beistehe 232 und ihm seinen besonderen Schutz zuteilwerden lasse, die Tortur ohne Falschaussage durchzustehen. Diese Gründe könnten auch erklären, warum viele fürstenbergische Inquisiten sich willig in die Folter begaben. So sagte Elsche Budden beispielsweise immer wieder zum Kommissar und Scharfrichter: Man mögte mit ihr anfangen, waß man wollte, Sie wollte Ihre Haut zum Besten geben. 233 228 So im Falle der Trina Kesperbaum vulgo Klingenberg, die von 1657 bis 1662 wegen des Verdachts der Hexerei bezichtigt wurde. Weil sie bei keinem der drei Prozesse gestanden hatte, wurde sie des Gerichtszwangs verwiesen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 229 Neuere medizinische Studien belegen, dass das Schmerzempfinden beim Menschen von den Genen, dem Geschlecht und der Kultur abhängig ist. Insbesondere in ärmeren Kulturen, in denen aus monetären Gründen kaum ein Zugriff auf medizinische Versorgung stattfindet, scheint eine höhere Toleranzgrenze gegenüber Schmerzen vorzuliegen. Die frühneuzeitliche Kindererziehung mag ebenso zu einer höheren Schmerzunempfindlichkeit beigetragen haben, wie sich an einem Beispiel aus dem gesichteten Archivmaterial verdeutlichen lässt. So ist über den 13-jährigen Henrich Wilhelm Maeß berichtet worden, dass er die Tortur ohne Anmerkung von Schmerzen ertragen habe. Diesen Umstand erklärten Zeugen damit, dass der Junge des Öfteren von seinem Stiefvater so harte Schläge erhalten habe, dass ihm das Blut die Beine entlang geflossen sei. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 97 v . 230 So beschloss am 21.08.1658 das Gericht Trina Kesperbaum wegen ihrer Halsstarrigkeit und Unempfindlichkeit die Tortur und das Verfahren zu beenden. Ebenso im Fall der Anna Grothen und des Peter Nottebaum. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 231 Die fürstenbergischen Gerichtsakten greifen immer wieder den purgatio-Gedanken auf, so z. B. bei Meineke Brielohn: Der aus Rüthen konsultierte Hexenkommissar bemängelte, dass der Delinquent sich aufgrund seiner getanen Aussagen nicht von dem bösen Verdacht gereinigt habe. Deswegen solle er wegen dieses Verhaltens vndt anderer midt vnterlauffenden vrsach halber gefoltert werden. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Beschluss der Kommissare Anton Berg und Wilhelm Steinfurt am 11.06.1659. Ein Holzschnitt neben dem Art. 124 der Bambergensis ermahnt den Delinquenten: Wo du gedult hast in der peyn/ So wirt sie dir gar nutzlich sein/ Darumb gib dich willig darein. Z. n. Ströhmer: Rezeption, S. 70, Fußnote 223. Selbstverständlich konnte auch der umgekehrte Einfall eintreten: Trotz einer „Reinigung“ durch die Tortur auf rechtlicher Ebene konnte das Hexengerücht hingegen auf sozialer Ebene bestehen bleiben. 232 Siehe hierzu die zahlreichen Farbdrucke zeitgenössischer Heiligenbilder bei Schild, Wolfgang: Die Geschichte der Gerichtsbarkeit - 1000 Jahre Grausamkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung - Hintergründe, Urteile, Aberglaube, Hexen, Folter, Tod, Hamburg 2002. 233 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 26. 3.2 Die Vorteile 53 Wird der Blick zusätzlich vom Angeklagten hin auf den Gerichtsapparat gelenkt, kristallisieren sich einige Aspekte heraus, die gegen einen willkürlichen Handlungsraum des Justizpersonals sprechen. Neben der Erwartungshaltung, dass sich die Vertreter der Justiz nach den lokalen Rechtsgebräuchen richten sowie nach Artikel 58 CCC vernünftig handeln sollen, hatten sie zudem die rechtliche und auch religiöse Verpflichtung, eine gewissenhafte Verhandlung durchzuführen. Führte der Richter den Prozess auf einer „wackeligen“ Indizienlage, konnte der Angeklagte - je nach Verfahrenspraxis und vorausgesetzt, er hatte die monetären Mittel dazu - eine Abschrift der Anklagepunkte fordern und an einen Anwalt (Defensor) weiterleiten. Stellte sich heraus, dass das Gericht unsachgemäß gearbeitet hatte, konnte der Angeklagte auch zivilrechtlich Schadensersatz verlangen. 234 Zudem hatten die Richter und die dazugehörigen Gerichtsdiener um ihr Seelenheil zu fürchten, sollte in einem Prozess „unprofessionell“ gearbeitet worden sein. So musste der Delinquent am Tag der Urteilsverkündigung schwören, dass ihm kein Unrecht geschehen sei und er Richter und Schöffen am strengen Gerichtstage Gottes verteidigen 235 wolle. Auch wenn Begriffe, wie „ gewissenhaft“ und „vernünftig“ zum Teil einer subjektiven Definition unterliegen, so sollte doch der Ermessensspielraum des Richters zumindest der Gesetzeslage nach durch den rechtlichen, sozialen und religiösen Rahmen eingeschränkt werden. Die Vorwürfe, Gerichtsakten seien aufgrund der Filterfunktion der Gerichtsschreiber verzerrt, durch Standardisierungen lückenhaft und ihren monologartigen Aufbau einseitig, sind teilweise zu entkräften. Der vermeintlichen Willkür des Gerichtsschreibers war allein schon dadurch Grenzen gesetzt, dass die Gerichtsprotokolle nicht für das lokale Justizpersonal bestimmt waren, sondern an höhere, externe Gerichtsinstanzen weitergeleitet wurden, oder - wie im Falle von Fürstenberg - an die Ortsobrigkeit, die die Blutgerichtsbarkeit innehatte. Folglich war der Protokollant bei den Aufzeichnungen zur Gewissenhaftigkeit verpflichtet, um ein genaues Bild über den Delinquenten und Tathergang für die „Außenstehenden“ zu liefern, damit sie auf Grundlage der Berichterstattung ein gerechtes Urteil fällen konnten. Das Bemühen um Präzision in der schriftlichen Wiedergabe der Prozessuntersuchung spiegelt sich in vielfacher Weise wider: die Protokolle beinhalten häufig „abscheuliche, skurrile, unflätige, blasphemische oder auch nur unfeine Ausdrücke“, 236 die von den Aussagen der Zeugen oder Delinquenten stammten und teilweise wörtlich festgehalten wurden. Dabei distanzierte sich der Gerichtsschreiber von den lasterhaften Worten, indem er Formeln des Entschuldigens oder Beschwörens vor, mittig oder nach der wörtlichen Rede stellte. So verzeichnete der fürstenbergische 234 Im Jahr 1631 verurteilte der Anwalt von Elsche Vogel die „unordentliche“ Vorgehensweise des Gerichts auf das Schärfste. Er schrieb, dass er die Unschuld seiner Mandantin ans Tageslicht bringen werde, indem er - im Gegensatz zum Richter - „ordentlich“ verfahre. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 235 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht der Mentzen Grethen am 09.07.1659. 236 Sabean, David Warren: Soziale Distanzierung. Ritualisierte Gestik in deutscher bürokratischer Prosa der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 4.2 (1996), S. 216-233, hier S. 216. 54 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten Gerichtsschreiber für die Herren von Westphalen am 31. Juli 1669 im Klagefall des Levin Thelen, dass Meineke Dröppels Frau seine Oberthür, salva venia, midt koet [...] vmbher beschmiert, daß die Eingeladen Gäßte auff seiner kindtauff adelich vndt vnadeliche wegen solchen vnflahts nicht auß oder Eingehen können [...] 237 . Und auch die Klage des Fronen gegen Meineke Meyers Frau, der sie wegen der noch offenstehenden vnkosten von fünf Groschen angesprochen hatte, wird mit den Worten festgehalten: [...] hete sie ihme[,] salva venia[,] geantworttet, siehe das habe ich im arse, daß will ich dir so fort dahin scheißen, das kanst du auffnehmen. 238 Die wörtliche Rede findet sich aber auch in den Hexenprozessakten wieder. Als Hermann Plattvoet wegen der inhaftierten Elsche Budden befragt wurde, berichtete er, dass sie vor 15 Jahren dem Schäfer der Herren von Westphalen in ihrem Hause zu trinken gegeben habe. Nach dem Trunk sei diesem übel geworden, woraufhin man ihm Medikamente verabreicht habe, sodass eine derartig zähe Materia von Ihme gangen, daß man selbige[,] wie man pflegt zu sagen[,] über ein hauß hette ziehen können [...] 239 . Neben der direkten Rede wurde auch gelegentlich die Gestik und Mimik der Angeklagten schriftlich fixiert: ob der Delinquent weint, zittert, sich den Arm wiederholt streichelt, die Augen hin und her bewegt, seine Gesichtsfarbe plötzlich blass wurde etc. 240 Vor allem die Behauptung, dass Prozessakten generell eine juristische und theologische Standardisierung beinhalten würden, darf als überholt gelten. 241 Die interrogatoria generalia, interrogatoria specialia, interrogatoria praeliminaria und die spezifischen interrogatoria ad articuli, die sowohl bei Zeugen als auch Delinquenten angewendet worden sind, fallen teilweise sehr umfangreich aus 242 und liefern ein differenziertes Bild, das gefüllt ist mit individuellen Aussagen. Somit entstand nicht nur ein Monolog, sondern ein Dialog, der von Ginzburg mit einem Interview verglichen worden ist. 243 Mit Vorsicht ist auch die Annahme zu genießen, dass die Angeklagten dem Gericht hilflos ausgeliefert waren bzw. alle Machtvorteile ausschließlich auf der Seite der juristischen Beamten lagen. 244 Neuere Studien belegen, dass Delinquenten durchaus auf ein Repertoire von juristischen Alltagserfahrungen zurückgreifen konnten, das „zu einem selbstsicheren sprachlichen und argumentativen Umgang mit den Behör- 237 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 105 r . 238 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 231 r . 239 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 70 r . 240 So beispielsweise bei Johann Caspar Saurhagen Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 117 v . Henrich Hammerschmitt am 16.08.1658 und Meineke Brielohn am 10.06.1659. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 241 Vgl. Schulze, Hagen: Mentalitätsgeschichte - Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36 (1985), S. 247-270, hier S. 263. 242 Vgl. Fuchs/ Schulze: Zeugenverhöre, S. 141. 243 Ginzburg: Der Inquisitor. Wobei Behringer an dieser Stelle kritisch einwendet, dass aufgrund des unterschiedlichen Machtgefälles zwischen Richter und Zeuge bzw. Delinquent der Begriff Interview unpassend sei, weil sich die beiden Parteien nicht auf Augenhöhe treffen würden. Behringer: Verhörprotokolle, S. 282. 244 Vgl. Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 66. 3.2 Die Vorteile 55 den [führte] und damit zu aktiven Strategien der Selbstbehauptung [...]“ 245 . Der „ gemeine Mann“ nutzte sehr wohl seine Rechts- und Prozesskenntnisse, um eigene oder gemeinschaftliche Interessen durchzusetzen und soziale Kontrolle auszuüben. 246 Dieses Wissen ermöglichte es Delinquenten, nicht in „Passivität und Resignation“ 247 zu verfallen, sondern sich neue Handlungsräume zu eröffnen, die sie nicht zum bloßen Spielball einer obrigkeitlichen Sozialdisziplinierung degradierten, sondern sie an der jeweiligen Gerichtspraxis partizipieren ließen: 248 War der Angeklagte gut situiert, verlangte er Einsicht in die Prozessakten und leistete sich einen Anwalt. Er konnte auch mit Bekannten Justizerfahrungen austauschen, wie es beispielsweise Johann Menken tat, als er den Herren von Westphalen mitteilte, dass er verschiedene Personen aufgesucht habe, vmb bey anderen sowohl Rechte mich zu erhohlen 249 . Frauen simulierten teilweise eine Schwangerschaft, um aus der Haft entlassen zu werden und/ oder der Tortur zu entgehen. So berichtete Elsche Budden 1687 kurz vor Verfahrensbeginn, dass sie so rein wie das Kind sei, das sie unter dem Herzen trage. Als die Inquisitoren fragten, seit wann sie schwanger sei, antwortete die Beschuldigte: Sie sei ahn Lichtmessen Tage, wie sie umb den Kirchhof gangen, schwanger worden 250 . Delinquenten beiderlei Geschlechts wiesen auf ihre Minderjährigkeit hin, wenn es um die Frage ging, wann sie das Zauberlaster erlernt hätten - wahrscheinlich um zu demonstrieren, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht schuldfähig waren. 251 Gelegentlich stellten sich die Inquisiten unwissend, wenn sie aufgefordert wurden, vermeintliche Tanzgenossen zu denunzieren. 252 Gerade dieses juristische Wissen mag auch der Grund gewesen sein, warum einige Angeklagte keine Scheu vor den Justizbeamten hatten und ihnen gegenüber ein äußerst ruppiges Benehmen an den Tag 245 Vgl. Kienitz, Sabine: Sexualität, Macht und Moral. Prostitution und Geschlechterbeziehungen Anfang des 19. Jahrhunderts in Württemberg. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte (Zeithorizonte. Studien zu Theorien und Perspektiven Europäischer Ethnologie, Bd. 2), Berlin 1995, S. 65. 246 An dieser Stelle sei auf den Aufsatz von Dinges, Martin: Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Blauert/ Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte, S. 503-544 und die Habilitationsschrift von Ströhmer, Michael: Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn. Institutionen - Ressourcen - Transaktionen (1650-1800) (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte, Bd. 17), Münster 2013 verwiesen. 247 Ulbricht, Otto: Kindsmörderinnen vor Gericht. Verteidigungsstrategien von Frauen in Norddeutschland 1680-1810, in: Blauert/ Schwerhoff (Hrsg.): Mit den Waffen der Justiz, S. 54-85, hier S. 84. 248 Kienitz: Sexualität, S. 65. 249 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 133 r . 250 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 19. 251 Bezeichnenderweise geben nahezu alle fürstenbergischen Inquisiten an, das Hexenlaster in der Kindheit oder Jugend erlernt zu haben. 252 Als am 05.07.1659 Gretha Mentzen nach ihren Komplizen befragt wurde, antwortete sie, dass, wenn sie in der Höhe tanzen, wer es Eben[,] alß wan Ihr Etwaß in die augen gestrewet würde, daß sie die nicht kennen Oder sehen könnte[,] wehr die wehren. Dan keme Ihr auch bißweilen In solchen herumb wischen Eine düßternüße[,] alß wan sie eine wolcke für die augen vndt würde dadurch also verblendet, daß sie nicht sehen Oder die Midtdäntzerß [...] kennen können, baet dahero sie hiermit weiter nicht zu beschwehren. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 56 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten legten. Als die Gerichtsschöffen an Magdalena Mengeringhaußen herantraten und sie fragten, ob nicht endlich die Gnade Gottes bei ihr wirke, antworte sie nur grob: die würckte genug bey ihre [...] 253 . Das wohl aber entscheidendste und wichtigste Korrektiv, das den Weg aus dem Dilemma der (re)konstruierten Wirklichkeit weist, ist ein Perspektivwechsel, der nicht unwesentlich von der Debatte um die „linguistische Wende“ 254 ausgelöst wurde: Es geht um die Frage, inwieweit überhaupt von einer „absoluten“ und „objektiven“ historischen Realität gesprochen werden kann, wenn Sprache und Texte immer eine diskursiv kommunizierte Wahrheit 255 repräsentieren, d. h. kein Tor zu einer unverfälschten Wirklichkeit bilden. Sie sind gefiltert durch subjektive Erfahrungen, die Rahmenbedingungen einer Gesellschaft und den Kommunikationsaustausch. Eine Gesprächssituation ist folglich immer ein „Artefakt“ 256 , in dem selbst Schweigen ein Ausdruck von Verständigung wird. 257 Vor diesem Hintergrund stellt die Suche nach „der Wahrheit“ bzw. „der Realität“ eine bloße Illusion und ein erfolgloses Unterfangen dar, weil die „eine Tatsache“ nicht existiert, sondern immer aus den beiden Komponenten „Gesellschaft“ und „Subjekt“ konstruiert ist. 258 Unter diesem Einwand wird kaum eine Quellengattung der Anforderung gerecht, Authentizität zu beinhalten, insbesondere da die Frage nach der „Wahrheit“ immer an „Glaubwürdigkeit“ gekoppelt ist. Steht allerdings nicht die Frage nach einer allgemeinen, sich im ständigen Fluss befindenden sozialen Wahrheit im Vordergrund, erweisen sich Gerichtsakten als ein „unerschöpflicher Quell“ vieler methodischer und analytischer Zugänge. „Eine konkrete Aussage muss nicht wahr sein, sondern ihre Wahrheit muss im zeitgenössischen Interpretationshorizont als plausibel angenommen werden können.“ 259 Erst unter dieser Prämisse ist es möglich, vielschichtige Einblicke in ein Kollektiv und seine Kultur zu gewinnen; denn Kriminalität spielt 253 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 124 v . 254 Unter dem Begriff „linguistische Wende“ (Linguistic turn) wird ein „Sammelbegriff für unterschiedliche Entwicklungen im Denken des 20. Jahrhunderts, die sich durch eine grundlegende Skepsis gegenüber der Sprache als einem transparenten Medium zur Erfassung und Vermittlung von Wirklichkeit“ verstanden. Landwehr, Joachim: Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2 2009, S. 51. 255 Ebd., S. 52. 256 Gerade der Forschungszweig der Oral-History setzt sich mit dem Verzerrungsaspekt der „Subjektivität“ dezidiert auseinander. Aufgrund der Erkenntnis, dass „Wahrheit“ immer ein künstliches Produkt zwischen zwei oder mehreren Personen ist, postuliert Harald Welzer eine Gesprächssituation, wie zum Beispiel bei einem Interview, als „Artefakt“ zu bezeichnen. Denn es sei „eine einmalige, nicht replizierbare Situation der gemeinsamen Verfertigung eines Textes, eine Kette aufeinander bezogener Sprechhandlungen“. Welzer: Das Interview als Artefakt, S. 53. 257 Vgl. Burke: Sprachliche Identität. 258 Vgl. Kienitz: Sexualität, S. 63. Siehe auch Simon-Muscheid, Katharina/ Simon, Christian: Zur Lektüre von Gerichtsquellen. Fiktionale Realität oder Alltag in Gerichtsquellen, in: Rippmann, Dorothea/ Simon-Muscheid, Katharina/ Simon, Christian (Hrsg.): Arbeit, Liebe, Streit. Texte zur Geschichte des Geschlechterverhältnisses und des Alltags, 15.-18. Jahrhundert, Liestal 1996, S. 17-39 und Simon-Muscheid, Katharina: Gerichtsquellen und Alltagsgeschichte, in: Medium Aevum Quotidianum 30 (1994), S. 28-43. 259 Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 69. 3.2 Die Vorteile 57 sich immer vor dem Hintergrund eines Werte- und Normensystems einer Mehrheitsgesellschaft ab, die bestimmt, was als abweichendes Verhalten oder als kriminell gilt, und mit entsprechenden Kontrollmechanismen reagiert. So können, gegen den Strich und zwischen den Zeilen gelesen, 260 mit Hilfe von Prozessakten abstrahierte Begriffe wie „Kultur“, „Normen“, „Werte“, „Mentalität“, „Alltag“ und „Lebensformen“, aber auch konkrete Ausprägungen von Geschlechterrollen und -verhältnissen, Kommunikationsformen und -verläufe, Handlungsmöglichkeiten und -räume, Standesverhalten, Essensgewohnheiten, Kindererziehung, Sexualität, Religiosität, Ackerbau etc. einer Region und ihrer Zeit rekonstruiert werden. Selbst das Subjekt, das zuvor als höchster Verzerrungsfaktor in puncto „objektive Wahrheit“ galt, wird zum reizvollen Untersuchungsgegenstand. Denn wenn Aussagen von Zeugen und Delinquenten auch Mitteilungen von sich selbst sind 261 - wie die Historiker Fuchs/ Schulze es postulieren -, stellen sie neben einer Dokumentation über „soziales Wissen“ 262 zusätzlich ein Zeugnis der Selbstthematisierung dar: 263 über Fremd- und Selbstwahrnehmung, individuelle Erfahrungen und die eigene Verortung in der Gesellschaft. 264 Diese Feststellung inspirierte Winfried Schulze, den Begriff der „Ego-Dokumente“ nicht allein begrenzt für autobiografisches Material zu verwenden, sondern auszuweiten. Darunter fallen all diejenigen Quellen, „die uns über die Art und Weise informieren, in der ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig [...] oder durch andere Umstände bedingt geschieht“ 265 . Somit werden auch Geständnisse in Strafprozessen durchaus zu einem Ausdruck einer „Lebensbeichte“ und lassen ein Sozialprofil der Delinquenten durchscheinen. So berichtete beispielsweise der wegen Hexerei angeklagte Henrich Hammerschmitt am 17. August 1658 im fürstenbergischen Gerichtslokal ohne Anwendung der Folter, keinesfalls in Hexereipraktiken verwickelt, sondern der Blutschande und Sodomie schuldig zu sein - ein Verbrechen, dass ihm das Gericht nicht zur Last gelegt hatte. Er schilderte detailliert, wie er diese bestialische Unzucht mit einem Pferd und zwei Schafen getrieben sowie Inzest mit den zwei kleinen Töchtern seines Sohnes begangen 260 Vgl. Mohrmann, Ruth: Zwischen den Zeilen und gegen den Strich - Alltagskultur im Spiegel archivalischer Quellen, in: Der Archivar 44.2 (1991), Sp. 233-246. 261 Fuchs/ Schulze (Hrsg.): Zeugenverhörprotokolle, S. 33. 262 Der Begriff geht ursprünglich auf Forschungsarbeiten über die Breitenwirkung der französischen Aufklärung zurück, ist aber an den Terminus „sozialer Wissensvorrat“ angelehnt, der von Schütz geprägt wurde. Siehe auch Schütz, Alfred/ Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, hier insb. die Seiten 147-328. 263 Siegfried J. Schmidt weist in seinem Aufsatz daraufhin, dass das Gedächtnis und Erzählen für den Aufbau und die Erhaltung der Identität essenziell sind. Gerichtsakten sind demnach einerseits ein Zeugnis von der Selbstwahrnehmung und -einschätzung der eigenen Identität, die andererseits durch das Reden, sei es auch in einer gerichtlichen Situation, wieder bestätigt wird. Schmidt, Siegfried J.: Gedächtnis - Erzählen - Identität, in: Assmann/ Harth (Hrsg.): Mnemosyne, S. 378-396, hier S. 391. 264 So betont Schwerhoff, dass die Geständnisse bisweilen den Charakter einer Lebensbeichte annehmen. Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 66 f. Siehe auch das Vorgänger-Werk von dems.: Aktenkundig, S. 63. 265 Schulze (Hrsg.): Ego-Dokumente, Vorbemerkung. 58 3 Quellenkritik: Hexenprozesakten habe. 266 Der Richter ließ daraufhin den Anklagepunkt der Zauberei fallen und richtete ihn wegen erwiesener Sodomie und Blutschande hin. 267 Gerade die Erkenntnis, dass Prozessakten eine Schnittstelle von kollektivem Weltbild und individueller Wahrnehmung sind, also ein Spiel mit den Perspektiven ermöglichen, die sich je nach Annäherung und Fragestellung an die Quelle ändern, ist in dieser Arbeit von wesentlicher Bedeutung, in deren Mittelpunkt ein interaktionistisches Modell von Fremd- und Selbstwahrnehmung, Agieren und Reagieren steht. Das heißt, eine einseitige Leserart der Hexenprozessakten wird in dieser Untersuchung bewusst abgelehnt. Denn bereits Carlo Ginzburg formulierte zugespitzt, dass man sich trotz des Widerwillens gegen die Hexenprozesse und aller Empathie für die Angeklagten der „Kehrseite der Medaille“ - in seinem Postulat dem Inquisitor, hier breiter angesetzt, den Anklägern - zuwenden müsse, um der sozialen Wirklichkeit und Logik der Zeitgenossen gerecht zu werden. Sobald nämlich ein Forschungsgebiet nur hinter dem Anspruch eines moralischen Maßstabes untersucht wird, werden einem Untersuchungsgegenstand Grenzen gesetzt, „[...] Erfahrungen anderer in den Rahmen unserer [eigenen, S. M.] Vorstellungen eingeordnet“ 268 und dem Gebot des forschenden Verstehens nicht genügend Beachtung geschenkt. So soll in diesem Forschungsprojekt die in den Gerichtsakten innewohnende Multiperspektivität genutzt werden, um die wechselseitigen Reaktionsmechanismen und ihre Dependenzen zwischen kriminellem Individuum, hier der Hexe, und sanktionierender Gesellschaft sowie sozialdisziplinierender Obrigkeit aufzuzeigen. Dieser Ansatz erlaubt es, tiefer gehende Erkenntnisse über eine Gesellschaft und ihren Umgang mit Kriminalität, zu der auch das Delikt der Hexerei zählte, zu gewinnen sowie die Handlungsstrategien und Abwehrmechanismen der vermeintlichen Deüffelskinder zu untersuchen. Folglich ist es eine Untersuchung, die dem sozialen Handeln Sinn und den Deutungsmustern sowie handlungsleitenden Intentionen der Zeitgenossen vor dem Hintergrund der sich manifestierenden abstrakten geschichtlichen Strukturen und Prozesse Verständnis geben soll. 269 Somit erweisen sich Gerichtsakten durchaus als ein fruchtbarer Boden für sozialhistorisch orientierte Forschungen, in denen die Frage nach den „harten Fakten“ irrelevant ist. Vielmehr beinhalten Verhörprotokolle die Chance, die Bedeutungswelten von sozialen Praktiken zu dekodieren sowie eine Innen- und Außenperspektive der Akteure hinter den sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen zu gewinnen. 270 266 Bei dem Pferd hette [er] einen baum vff zweilln [sc. zwei] beume gelegt darauff gestiegen vndt solche bestialitet vollenführt. Die Schafe habe er auff den Rücken gelegt daß er deßen abkommen können. 267 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Prozessakte des Henrich Hammerschmitt vom 17.08.1658 und der Libellus vom 22.08.1658. 268 Habermas/ Minkmar (Hrsg.): Das Schwein des Häuptlings, S. 7-19, hier insb. S. 14. 269 Vgl. Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 54. 270 Vgl. Habermas/ Minkmar (Hrsg.): Das Schwein des Häuptlings, S. 14. 4 Spurensicherung - Fürstenberg und seine Quellen Gemäß dem Vorsatz, den Blick nicht nur ausschließlich auf das Verfolgungsgeschehen zu werfen, werden die Deüffelskinder zusätzlich in ihrer Umwelt sozial verortet. Um diesem Vorhaben nachzukommen, muss zuerst deren Lebenswelt anhand einer breiten Quellenbasis rekonstruiert werden. Allerdings zeigte sich bereits beim ersten Sichten der Quellen, die verstreut in Landes-, Privat- und Pfarrarchiven liegen, dass sie überwiegend fragmentarischen Inhalts sind. Nur für wenige Jahre ist bei einigen Aktenbeständen eine dichte Überlieferung zu verzeichnen, die Quellen anderer Jahrzehnte oder sogar ganze Konvolute sind teilweise völlig verloren gegangen. 271 Insbesondere die Jahrzehnte des Dreißigjährigen Krieges erwiesen sich als extrem quellenarm. Als besonders tragisch gilt der Verlust eines Großteils der Schatzregister. Lediglich für die Jahre von 1595 bis 1602 sind Abgabenverzeichnisse erhalten geblieben, die zumindest eine Momentaufnahme über das Sozialprofil der „Alteingesessenen“ liefern. Ergänzendes Material bieten hierzu noch die Katasteraufnahmen von 1672 und 1684. Aus ihnen gehen annäherungsweise die Besitzverhältnisse der einzelnen Gemeindemitglieder hervor, wodurch gleichzeitig auch ein allgemeines Bild über die soziale Schichtung in der Gemeinde sichtbar wird. Dass zwei Kataster mit einer zeitlichen Differenz von zwölf Jahren vorliegen, ermöglicht es zudem, über die Momentaufnahme hinauszublicken und einen zeitlichen Vergleich vorzunehmen, mit dessen Hilfe soziale Fluktuationen herausgearbeitet werden können - so z. B., welche Familien an der ökonomischen Spitze standen, ihr Vermögen steigerten oder gar „die soziale Leiter abstiegen“. Bedauerlicherweise fehlt es an einem Einwohner- und Häuserverzeichnis, das laut Befehl des Fürstbischofs von 1670 jeder Ortspastor hätte anfertigen sollen. 272 Als besonders schwerwiegend ist der Verlust der Tauf-, Heirats- und Sterberegister 271 Die desolate Quellenlage ist auf ein lokales Ereignis von 1848 zurückzuführen. Einige Rädelsführer aus der fürstenbergischen Gemeinde stürmten in diesem Jahr das adelsherrliche Archiv und die dazugehörige Bibliothek und zerstörten dabei einen erheblichen Teil des umfangreichen Quellenbestandes. Die Rede ist von einem Quellenbestand, der teilweise bis in das Jahr 1011 zurückreichte. Die Ursachen und Gründe der Revolution sind nachzulesen bei Graf von Westphalen zu Fürstenberg: Schloß Fürstenberg, S. 224. 272 Hochfürstlich-Paderbornische Landes-Verordnungen mit gnädigster Erlaubniß Er. Hochfürstlichen Gnaden Friederich Wilhelm, Bischofen zu Paderborn und Hildesheim, des Heil. Röm. Reichs Fürsten, Grafen zu Pyrmont. Erster Teil, Paderborn 1785, url: http : / / resolver . sub . uni goettingen.de/ purl? PPN715943162 (Zugriff am 23. 05. 2016), S. 195. 60 4 Spurensicherung - Fürstenberg und seine Quellen anzusehen, die in dem großen Dorfbrand von 1727 vernichtet worden sind. 273 Auch die „Herzstücke“ dieser Arbeit, die Hexenprozessakten, überstanden die Jahrhunderte nicht unbeschadet: Der Samtrichter und Verwalter der Herren von Westphalen, Henrich Anton Cosmann, berichtet, dass sich viele gerichtliche Nachrichten vor 1766 noch im Hause der Samtrichter befunden hätten und aufgrund verschiedener unglücklicher brandtbeschädigungen [der] hießigen dorffschafft fürstenberg [...] mit eingeäschert undt kein anderes hauß oder verwahr [...] vorhanden gewesen 274 sei. Trotz ihres teilweise fragmentarischen Zustandes können die erhalten gebliebenen Bestände einen Eindruck von der Verfolgungsintensität in Fürstenberg und seiner Umgebung vermitteln: Das in der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek zu Paderborn befindliche Konvolut Acta 102 umfasst 142 Blätter, während der unpaginierte Sammelband 275 HS 117 im Adelsarchiv der Freiherren von und zu Brenken 276 schätzungsweise an die 600 Blätter aufweist. Die Acta 102 beinhaltet einige Fragmente von 1630/ 31 bis 1703, wobei nur einzelne Protokolle annähernd vollständig sind. 277 Hingegen inkludiert der Sammelband HS 117 die Aktenbestände von 1601 bis 1663. Von den im Jahr 1601 geführten Prozessen wurden offenbar lediglich die Urgichten der Delinquenten schriftlich fixiert bzw. als aufbewahrungswürdig eingestuft. Damit fehlen sicherlich viele Informationen, die Auskünfte über den rechtlichen Rahmen, den verfahrenstechnischen Prozessverlauf, die personelle Besetzung des Gerichts, Zeugen und Delinquenten, aber auch über mögliche Prozessursachen geben könnten. Der Historiker ist somit gezwungen, auf versteckte oder gar unscheinbare Hinweise zu achten sowie jüngere Protokolle aus den Jahren 1630/ 31 sowie 1658/ 59 als ergänzendes Material hinzuzuziehen, in denen die Prozessbeteiligten sich rückblickend auf die Vorfälle von 1601 bezogen. 278 Dieses Erinnerungsvermögen, das teilweise auf Ereignisse von vor dreißig oder mehr Jahren zurückgreift, ist ein untrügliches Indiz dafür, wie stark die Hexenverfolgungen mündlich überliefert wurden und im kollektiven Gedächtnis haften geblieben sind. Offenbar stellten die Hexenprozesse 273 Vgl. Schulte: Die Familien, S. II. 274 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 1 r . 275 Die Angabe bezieht sich auf den Zeitraum meiner Recherchen. Der Aktenband liegt dem Leser mittlerweile paginiert vor. Aus arbeits- und zeitökonomischen Gründen musste jedoch auf eine nachträgliche Einfügung der konkreten Blattverweise verzichtet werden. 276 Es handelt sich hierbei um ein Privatarchiv, das für die Öffentlichkeit über das LWL-Archivamt für Westfalen zugänglich ist. Gerd Wessel untersuchte das Konvolut allein unter rechtshistorischen Aspekten. Wessel: Strafrecht. Siehe hierzu auch Decker: Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn, S. 319, insbesondere Fußnote 25. 277 Unter eine vollständige Prozessakte wird die Beinhaltung der Interrogatoria, eventuell die Zeugenbefragung, die Responsiones des Delinquenten, die Hauptuntersuchung und der Libellus gezählt. 278 So im Fall der Engel Möller, deren Mutter am 03.09.1601 von Meineke Stuffers Frau Frya besagt worden ist, wie der Rechtsgelehrte und Hexenkommissar Antonius Bergh in einem Brief vom 27.06.1658 an den Samtrichter Johann Sauren vermerkte. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. Mit demselben Vorwurf der fast dreißig Jahre zurückliegenden Bezichtigung wurden auch Johann Vahlen am 12.07.1631, Grete Hinten am 07.05.1631, Elsche, die Vogelsche am 25.06.1631, Meineke Brielohns Witwe am 16.07.1631, Gölcke Schweins und Ursula, Gotten Geerdes Frau am 26.06.1631 sowie Elsche, die Buddesche, am 26.07.1631 konfrontiert. 4 Spurensicherung - Fürstenberg und seine Quellen 61 für die Gemeindemitglieder ein außergewöhnliches Ereignis dar, über das selbst nach Jahrzehnten geredet wurde. Die Prozessakten der Jahre 1630/ 31 befinden sich in einem großen Durcheinander. Augenscheinlich sind die Akten ohne erkennbare Ordnung abgeheftet worden. Teilweise befinden sich sogar mehrere Prozesse auf ein und demselben Blatt, ohne dass der Name des Delinquenten aufgeführt wurde. Lediglich einige versteckte Hinweise und spezifische Charakteristika erlauben es, die Prozessfragmente einer Person zuzuordnen. 279 So nannte beispielsweise der Delinquent Goert Nüthen seinen Buhlen stets in einem fast liebevollen Ton Saphirken 280 . Dieser persönliche „Anstrich“ erlaubte es, einige namenlose Dokumente ihm zuzuordnen. Erfreulicherweise ist ein Großteil der Protokolle, die die Jahre 1646 bis 1659 umfassen, in akribischer Ausführlichkeit vorhanden. Korrespondenzen der Herren von Westphalen, Briefe des Ortsrichters und der Hexenkommissare, Zeugenverhöre, Rechnungen über die Prozesskosten und Suppliken der Delinquenten erlauben eine detaillierte und fundierte Rekonstruktion der Hexenverfolgungen und des lokalen sowie rechtlichen Hintergrundgeschehens. Ein am Einband laienhaft erstelltes „Inhaltsverzeichnis“ zeugt jedoch von der Vielzahl an verloren gegangenen Prozessakten: 281 Die notierten Protokolle von 1667 bis 1694 sind in diesem Konvolut nicht enthalten, lassen sich jedoch teilweise in der Acta 102 auffinden. 282 In beiden Aktenbeständen scheinen einige Prozessakten bewusst entfernt worden zu sein oder verschwanden vermutlich als persönliche Souvenirs in die Hände von frühen „Hexenforschern“. So zitiert noch Friedrich Rautert 1827 aus „authentischen Quellen“ 283 , sprich Hexenprozessakten aus Fürstenberg, die heute nicht mehr auffindbar sind. 279 Um der Unordnung Herr zu werden, mussten die scheinbaren Fragmente in eine Excel-Tabelle übertragen werden. Erst beim Zuordnen der einzelnen Fragmente wurden vollständige Prozessakten sichtbar. 280 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht des Goert Nüthen, der Wassermeister am 04.07.1631. 281 Das Konvolut hielt für den Leser eine kleine Überraschung bereit: Beim Öffnen des Folianten fiel ein gefalteter Zettel aus dem Einband, in dem ein kleines goldenes Kreuz eingewickelt war. Öffnete man den Zettel, war eine Schrift aus dem 18. Jahrhundert erkennbar, die einige lateinische Sätze zur Lobpreisung Gottes beinhaltete. Vermutlich waren das Kreuz und die Zitate als apotropäischer Schutz beigelegt worden. 282 Es handelt sich hierbei insgesamt um 21 Protokolle, von denen drei Fälle (Elsche Budden (1687) und Hermann Möller vulgo Hinten Schwarte (1687) sowie Henrich Wilm Manß (1694)) noch in der Acta 102 auffindbar waren. Für die restlichen Fälle liegt die berechtigte Annahme vor, dass zumindest eine Voruntersuchung eingeleitet worden ist. Diesen Rückschluss erlauben die erhalten gebliebenen Akten von Elsche Budden und Hermann Möller. Dass es sich hierbei lediglich um eine Denunziationsliste handeln könnte, ist auszuschließen, da alle Angaben sich auf Prozesse, Freilassungen und Hinrichtungen beziehen. Injurien wurden vom Schreiber als solche gekennzeichnet. 283 Obwohl Friedrich Rautert sämtliche Namen aus den zitierten Hexenprozessakten geändert oder anonymisiert hatte, z. B. durch die Bezeichnung N.N., ist durch einen systematischen Vergleich mit dem Bestand in der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek Paderborn zu erkennen, dass es sich um eine Wiedergabe des Falles von Elsche Budden, in der Paraphrase lediglich Elisabeth genannt, von 1686/ 87 handelt. Rautert: Aus authentischer Quelle. Siehe hierzu auch Decker: Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn, 319, Fußnote 25. 62 4 Spurensicherung - Fürstenberg und seine Quellen Insbesondere die Protokolle von 1700 bis 1703 litten unter dem Zahn der Zeit und weisen große Textlücken auf. Von nachweislich 19 geführten Prozessen sind lediglich zwölf Akten in einem äußerst desolaten Zustand erhalten geblieben: Sie sind zum Teil durch Wasserflecke und Mäusefraß zerstört. Teilweise sind die Gerichtsakten nur schwer zu entziffern, weil ganze Textpassagen durch den Gerichtsschreiber getilgt wurden. Zudem liegen entweder nur die Interrogatoria, vereinzelte Ausschnitte aus der Hauptuntersuchung oder der Libellus vor - keine Prozessakte ist in dieser Zeitspanne in ihrer Gesamtausführung erhalten geblieben. Unterm Strich scheint das Unterfangen, ein Sozialprofil der Deüffelskinder mitsamt ihrer Genealogie und Prosopografie zu erstellen sowie eine Rekonstruktion ihrer Lebenswelt, wenig aussichtsreich zu sein. Insbesondere wenn die vorliegenden Quellengattungen einzeln und isoliert voneinander betrachtet werden. Allerdings konnten diese Überlieferungslücken zwar nicht gänzlich geschlossen, aber zumindest relativiert werden, indem alle verfügbaren Quellen - sei es in gedruckter oder ungedruckter Form - über Fürstenberg im 17. Jahrhundert gesammelt, gesichtet und miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Auch diejenigen Schriftstücke fanden Beachtung, die auf den ersten Blick irrelevant für den Analyseschwerpunkt schienen. Zusätzlich wurden alle Namen, die in den über 2000 gesichteten Blättern in Erscheinung traten, in eine Excel-Tabelle eingefügt. Auf diese Weise konnten personelle Verbindungen zwischen den Hexenkindern herausgearbeitet werden. Diese Vorgehensweise erlaubte auch, den Inhalt der zerstörten Geburts-, Heirats-, und Taufregister zumindest fragmentarisch zu rekonstruieren und Verwandtschaftsverhältnisse sowie mögliche Heiratsstrategien herauszuarbeiten. Darüber hinaus bot die systematische Verknüpfung verschiedener Quellengattungen die Möglichkeit, annähernd die Lebensbzw. Familiengeschichte der Deüffelskinder, ihren Beruf, ihre soziale Verortung in der Gemeinschaft, ihre Beziehungen zu einzelnen Personen und zur Gemeinde zu erschließen. Zudem wurden all diejenigen Quellen vom 15. bis zum 17. Jahrhundert berücksichtigt, die Rückschlüsse auf den Untersuchungszeitraum erlauben: Karten, Kataster, Korrespondenzen, Rechnungen, Schuldscheine, Zeugenverhöre, Verkaufsbelege, Geburtsscheine, Gesellen- und Pfarrbriefe, Heiratsurkunden, obrigkeitliche und gemeindliche Beschlüsse, Urkunden, Testamente, Denunziationen, Verbalinjurien, Streitigkeitsfälle, Chroniken, Visitationsakten, Anwaltsschreiben, Urgichte, Mahnungen, Notizen, juristische Gutachten, Festschriften etc. 284 Die Quellensuche beschränkte sich darüber hinaus nicht nur auf Schriften, die auf den ersten Blick in Verbindung mit Fürstenberg gebracht werden können: Policeyordnungen des Fürstbischofs von Paderborn, 285 verschiedene Quelleneditionen über den Dreißigjährigen Krieg, 286 284 Ein Großteil dieses Quellenkorpus’ befindet sich in den Aktenbeständen LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4 und LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22. 285 Hochfürstlich-Paderbornische Landes-Verordnungen. 286 Zu den Herren von Westphalen, Fürstenberg und seine Umgebung zu Zeiten des Krieges siehe Neuwöhner, Andreas (Hrsg.): Im Zeichen des Mars. Quellen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens in den Stiften Paderborn und Corvey (Quellen und Studien zur westfälischen Geschichte, Bd. 35), Paderborn 1998; Richter: Dreißigjähriger Krieg; 4 Spurensicherung - Fürstenberg und seine Quellen 63 wissenschaftliche Internetportale 287 und eine Chronik über den Kapuzinerorden in Arnsberg 288 wurden zusätzlich als aufschlussreiche Überlieferungen hinzugezogen. Ein Blick in die im Paderborner Diözesanarchiv gelagerten landesherrlichen Sendgerichtsakten enthielten bedauerlicherweise keine verwertbaren Informationen über das frühneuzeitliche Fürstenberg. 289 Ebenso erfolglos war die Suche nach den Brüchteregistern des Lokalgerichts, die offenbar verloren gegangen sind. Besonders hervorzuheben ist, dass der Quellenreichtum sich nicht bloß in erhalten gebliebenen Dokumenten erschöpft. Eine Fülle von immateriellen und materiellen Sachquellen ergänzt die Archivalien und bietet damit für den Historiker die Gelegenheit, eine wortwörtliche Feldforschung zu betreiben. 290 Mittels dieses Quellenreichtums ist es möglich, dem Ideal der „dichten Beschreibung“ am nächsten zu kommen und ein komplexes sowie tiefgehendes Bild über die Lebenswelt der Deüffelskinder in möglichst vielen Facetten und im Wandel ihrer Zeit zu gewinnen: 291 Das Begehen des Ortes gibt wesentliche Auskünfte über die topografische Lage des Dorfes, seine kultur- und naturräumliche Struktur sowie sozialräumlichen Verhältnisse. Weideflächen, Wiesen, Feld- und Waldwege, Ackerflächen, Straßen- und Verkehrsnetze sind bis heute, obwohl vielfach nicht mehr genutzt, sichtbar und veranschaulichen die Alltagswelt sowie interne als auch externe Kommunikationsräume. 292 Dass ein Ort neben Schriftquellen auch andere Zugänge zu seiner Vergangenheit hat, ist nicht als selbstverständlich anzusehen. So beklagt beispielsweise Apel, dass „die Erforschung der Hexenprozesse [...] ihr Wissen nahezu ausschließlich auf archivalische Quellen zurückführen [muss]“ 293 . Folglich bietet dieser außerordentliche „Glücksfall“ einer nahezu zeitgenössischen Ortstopografie die seltene Gelegenheit, einen „intensiven Conrad, Horst/ Teske, Gunnar (Hrsg.): „Sterbzeiten“. Der Dreißigjährige Krieg im Herzogtum Westfalen. Eine Dokumentation (Westfälische Quellen und Archivpublikationen, Bd. 23), Münster 2000. 287 Das Projekt Der Dreißigjährige Krieg versteht sich als „Materialsammlung zum Dreißigjährigen Krieg und als ‚lebendes Register‘, das jeweils mit Hilfe Interessierter auf den neuesten Stand gebracht werden soll“. Die Internetseite wurde von Dr. Bernd Warlich erstellt. Warlich, Bernd: Der Dreißigjährige Krieg in Selbstzeugnissen, Chroniken und Berichten, url: http : / / www.30jaehrigerkrieg.de/ (Zugriff am 30. 06. 2016). 288 Vgl. Falke: Kapuzinerkloster. 289 Siehe hierzu Diözes. A Pb., Allgemeines DII, Geistliche Regierung, Archidiakonats-, Send-, Gerichtsweisen I-VI. 290 So vergleicht Clifford Geertz die Tätigkeit eines Feldforschers im Dschungel seiner Feldarbeit mit dem Versuch, ein Manuskript zu lesen, das „fremdartig, verblaßt, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist [...]“. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987, S. 15. 291 Siehe hierzu Lienau, Cay: Die Siedlungen des ländlichen Raumes (Das geographische Seminar), Braunschweig 4 2000, S. 12-29. 292 Vgl. Koch: Frühe Verkehrsstrassen. 293 Apel, Gefion: Über das nicht greifbare Phänomen ‚Aberglauben‘. Eine Einführung, in: Carstensen, Jan/ Apel, Gefion (Hrsg.): „Verflixt! “ - Geister, Hexen und Dämonen, Münster 2013, S. 11-23, hier S. 14. 64 4 Spurensicherung - Fürstenberg und seine Quellen analytischen Blick auf die Detailebene von Phänomenen“ 294 zu werfen und in enge Beziehung zu ihren ehemaligen Akteuren zu setzen. Wie sehr sich die verschiedenen Quellengattungen komplementär zueinander verhalten, soll an einem Beispiel kurz illustriert werden: Neben der alten Gerichtslinde 295 sind einige Repräsentationsbauten aus dem 18. Jahrhundert erhalten geblieben, mit denen die Ortsobrigkeit der Siedlung „ihren Stempel“ 296 aufdrückte - so z. B. das Ensemble aus dem Schloss der Herren von Westphalen, 297 dem Patrimonialgericht und der Zehntscheune. Anbei liefern zahlreiche Häuser, die nach dem großen Brand von 1727 erbaut worden sind, eine Vorstellung von der dörflichen Siedlungsstruktur im 17. Jahrhundert und ihrem regionaltypischen Aussehen. 298 Gerade diese „einfachen“ Häuser stellen einen besonderen Wert für die Erforschung der Deüffelskinder dar. Zahlreiche Hausinschriften über den Torbögen geben Auskunft, wer vor oder während des Neuaufbaus ihre Bewohner waren und teilweise sogar welchen Tätigkeiten sie nachgingen, sodass in einigen Fällen die Wohnstätten für die Nachfahren der „Hexenbrut“ nachgewiesen werden können. 299 Aber auch diejenigen Personen lassen sich örtlich bestimmen, die das dörfliche Leben aktiv mitgestalteten und/ oder im Geschehen der Hexenprozesse mitwirkten. Der Hausplatz gibt darüber hinaus Informationen, in welchem innerdörflichen Sozialgefüge sich der Bewohner befand, sich selbst verortete und auch verortet wurde, wer seine Nachbarn waren und ob er zu den „Alteingesessenen“ zählte. 300 Unter Hinzuziehung von Gerichtsakten der Nieder- und Kriminalgerichtsbarkeit aus dem Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen in Münster 301 sind nicht nur Konfliktsituationen aus dem Zeitraum von 1663 bis 1709 erfasst, sondern auch Alltagsszenen rekonstruierbar. Kurzum: Der Lebensraum mit seinem Alltag, seinen Besonderheiten und Interaktionsmustern sowie gemeinschaftliche Organisationen, das 294 Ginzburg, Carlo: Zwischen den Zeilen, gegen den Strich. Interview mit Carlo Ginzburg (Gudrun Gersmann), in: Zeitenblicke 1.1 (2002), url: http: / / www.zeitenblicke.de/ 2002/ 01/ ginzburg/ ginzburg.html (Zugriff am 30. 06. 2016). 295 Der Galgen ist heute nicht mehr zu sehen, weil er 1807 umgehauen wurde und die Westphalen ihr Jurisdiktionsrecht über die Gemeinde Fürstenberg verloren. Vgl. Nolte: Chronik, S. 20. Dennoch wäre es lohnenswert, an diesem Ort eine Richtstättenarchäologie, wie sie bereits für Detmold betrieben wurden, durchzuführen. Siehe hierzu den aufschlussreichen Band von Auler, Jost (Hrsg.): Richtstättenarchäologie, Dormagen 2008. 296 Troßbach, Werner/ Zimmermann, Clemens: Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankenreich zur bundesdeutschen Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 26. 297 Das Schloss der Herren von Westphalen wurde ca. achtzig Jahre nach den letzten Hexenprozessen in Fürstenberg errichtet. 298 Selbstverständlich ist der Gedanke zu berücksichtigen, dass beim Wiederaufbau eventuell eine Neuordnung der Häuser, Wege und Straßen stattfand. 299 Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 241-257. 300 Gerade die letztgenannten Punkte bedürfen einer näheren Erläuterung. In Hinblick auf die Vermeidung von Redundanzen wird auf die untersuchte Siedlungsstruktur in Kapitel 7.1 hingewiesen. 301 Es wurden hierzu über 280 Blätter durchgesehen. Frühere Dokumente sind leider nicht erhalten geblieben. Die Akten sind unter der Signatur Fürstbistum Paderborn, Patrimonialgericht Nr. 4 und Nr. 22 aufzufinden. 4 Spurensicherung - Fürstenberg und seine Quellen 65 Verhältnis der Gemeinde zur Obrigkeit und umgekehrt können abgeleitet werden. Die Kombination beider Quellengattungen erlaubt es, annähernd ein lokales Werte- und Normensystem zu erstellen, das im Zuge der Erforschung des lokalen Hexenverbrechens und der Hexenverfolgungen unverzichtbar ist. Noch tiefere kulturgeschichtliche Dimensionen werden erschlossen, wenn man sich mit den heutigen „Alteingesessenen“ des Dorfes auseinandersetzt, d. h. einen Rückgriff auf den Forschungszweig der sogenannten Oral History vornimmt. Die Interviews wurden mit verschiedenen Personen 302 , weiblichen und männlichen Geschlechts, durchgeführt, die zum Zeitpunkt des Gespräches (08.07.2014, 10.07.2014 und 26.05.2015) zwischen 76 und 90 Jahre alt waren. 303 Dabei wurde gezielt nach alten lokalen Traditionen, Festen, Umgangsformen, Feldarbeit, Viehhaltung, Religionsausübungen etc. gefragt. Viele Einzelheiten stammten nicht nur aus ihren persönlichen Erfahrungen, sondern von ihren Großeltern. Damit war ein Zugriff auf eine offensichtlich ältere Zeitebene und auf das kollektive Gedächtnis möglich. Insbesondere zum Hexenthema, zu Märchen- und Sagengestalten kamen viele mündliche Überlieferungen zum Vorschein, die bisher noch nicht schriftlich festgehalten worden sind und eventuell verloren gegangen wären. So berichten die Zeitzeugen von einer „Hexentreppe“, die heute noch zu sehen ist und zu einer sogenannten „Tanzlinde“ führt; einem „Hexenweg“, dessen namentliche Erwähnung bei Nachforschungen in einem Dokument von 1830 gefunden worden ist, 304 und dem gesonderten Verbrennungsplatz der Hexen und Hexer. Mag diese Quellenvielfalt schon eine ausreichende Rechtfertigung für eine nähere Untersuchung von Fürstenberg sein, so wird die Attraktivität an der Geschichte des Ortes noch durch den Befund erhöht, dass die Quellen nicht nur Offensichtliches und Erwartetes preisgeben. Die Hexenprozessakten enthalten einige Kuriosa, die nach einer plausiblen Klärung verlangen. Der Bedarf nach Aufklärung scheint umso dringlicher, als einerseits die Quellen offenbar ein Begehen anderer Interpretationswege und somit eine neue Leseart der Hexenverfolgungen möglich machen. Andererseits fehlt es bisher an einschlägigen empirischen und analytischen Studien zu Fürstenberg im 17. Jahrhundert und seinen Hexenprozessen. Das verschiedenartige und komplementäre Quellenkorpus erweist sich als äußerst fruchtbarer Boden für eine Arbeit, die das Hexenphänomen multiperspektivisch untersucht. Dabei ergibt die Zusammenschau der einzelnen Quellen ein detailliertes Gesamtbild des Ortes Fürstenberg als historischem Handlungsrahmen, seiner Gemeinde und seiner einzelnen Akteure. Vor allem ist damit eine Tiefendimension 302 Für ihre Offenheit und Freundlichkeit gegenüber einer außenstehenden Sauerländerin möchte ich mich besonders bei Frau Monkos und Frau Wittgen, Herrn Nolte, Herrn Henkel und Herrn Ebers bedanken. 303 „Durch das erfahrungsgeschichtliche Erkenntnisinteresse können im retrospektiven Interview neben der aktuellen Selbstdeutung eines Zeitzeugen auch Wertewandlungen sowie Stereotypen in seinen Deutungsmustern aufgezeigt werden.“ Murken, Jens: Was ist Oral History? , url: http: / / www.uni-konstanz.de/ FuF/ Philo/ Geschichte/ Tutorium/ Themenkomplexe/ Quellen/ Quellenarten/ Oral_history/ oral_history.html (Zugriff am 15. 06. 2016). 304 Hier habe ich insbesondere Herrn Bernd Nolte für seine vielen Hinweise zu danken. StA Wü. A 779, Urkunden der Gemeinde Fürstenberg, unfol. 66 4 Spurensicherung - Fürstenberg und seine Quellen erreicht, die eine historische und sozialanthropologische Studie ermöglicht, in der das personengeschichtliche Phänomen der Deüffelskinder im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht. 5 Methode und Aufbau der Arbeit 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) In der Historischen Kriminalitätsforschung feiert der devianzsolziologische Ansatz seit geraumer Zeit seinen Einzug. Gerd Schwerhoff postuliert beispielsweise: „ Zweifellos bildet der labeling-approach die wichtigste theoretische Errungenschaft der neueren Kriminalsoziologie zur Analyse sozialer Kontrollmechanismen. Wie keine andere kriminalsoziologische Theorie besitzt der interaktions- oder etikettierungstheoretische Ansatz eine Attraktivität für die historische Forschung.“ 305 Welches Theorem verbirgt sich genau hinter dem Labeling-Ansatz? Die Essenz, die allen Labeling-Theorien zugrunde liegt, lässt sich - ohne Berücksichtigung seiner einzelnen Schattierungen - nach Lamnek wie folgt skizzieren: Abweichung und soziale Kontrolle sind immer Prozesse sozialer Definition. „Es sind die auf bestimmte Verhaltensweisen erfolgenden Reaktionen der sozialen Umwelt, die einerseits Normen setzen (können) und andererseits Normen applizieren. Beides erfolgt gruppen-, situations- und personenspezifisch, woraus sich der Selektionseffekt ergibt, wonach gleiche Verhaltensweisen als abweichend oder konform definiert werden können. Solche Definitionen werden informell oder formell vorgenommen, wobei Letzteren im Hinblick auf deren Auswirkungen größeres Gewicht beizumessen ist. Erfolgen diese Definitionen nicht mehr verhaltensspezifisch, so werden durch die Etikettierung einer Person als abweichend ihre konformen Handlungsmöglichkeiten so sehr eingegrenzt, dass ihr nur mehr der Zugriff auf illegitime Mittel bleibt, sie also in eine abweichende Karriere gedrängt wird. Im Verlaufe dieser Karriere entwickelt sich eine neue, abweichende Identität, der die abweichenden Handlungen als ihrer Identität und ihren Möglichkeiten konform erscheinen müssen, sodass sich die abweichenden Verhaltensweisen verfestigen. Der Kreis schließt sich.“ 306 Im Mittelpunkt des Labeling-Ansatzes steht folglich die Betonung des Prozesscharakters von Devianz. „Abweichung wird nicht als eine statische Größe gesehen, sondern mehr als ein sich fortlaufend bildendes Ergebnis dynamischer Prozesse der sozialen Interaktion.“ 307 305 Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 36. 306 Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 244. 307 Schur, Edwin M.: Abweichendes Verhalten und Soziale Kontrolle. Etikettierung und gesellschaftliche Reaktionen, Frankfurt a. M. 1974, S. 16. 68 5 Methode und Aufbau der Arbeit Die Pioniere des Labeling-Ansatzes waren bestrebt, die traditionellen Bahnen der Ätiologie zu verlassen und von einer unilateralen, ontologisch geprägten Perspektive aus zu einem bilateralen, dynamisch-interaktiven und prozessartigen Verständnis von der Entstehung abweichenden Verhaltens zu gelangen. Unter Berufung auf Meads Pragmatismus und den daraus hervorgehenden Symbolischen Interaktionismus wurde die statische Normfixierung der älteren Soziologie strikt abgelehnt. 308 Angesichts der vorgestellten historiografischen Ergebnisse und Überlegungen - das Ehrprinzip als Schlüssel zur Schichtung der frühneuzeitlichen Gesellschaft, die Konzipierung von Randgruppen durch eine ideologische, symbolische und rechtliche Grenzziehung und die Funktion der Hexenverfolgung als Sanktion für normabweichendes Verhalten - scheint es nur ein kleiner Schritt, die konzeptionelle Perspektive des kriminalsoziologischen Labeling Approach als einen weiteren Interpretationszugang zum frühneuzeitlichen Hexenphänomen zu betrachten. Dennoch ist dieser Erklärungsansatz in der Hexenforschung bisher noch nicht als Interpretationsalternative etabliert. Bisher existieren zwei Arbeiten, die den Etikettierungsansatz in einem direkten Zusammenhang mit den vormodernen Hexenverfolgungen bringen. Die erste Arbeit stammt aus der Feder von Kai T. Erikson, Sohn des Psychologen und Soziologen Erik Erikson. In seiner Mitte der 1960er-Jahre erschienenen Arbeit geht er von der Prämisse aus, dass eine Gesellschaft sich ihre eigenen Abweichler konstruiere. Sie würden zunächst auf mikrosozialer Ebene „ geschaffen“ und anschließend im makrosozialen Bereich von Institutionen wie Gefängnissen, Anstalten und Krankenhäusern gefestigt werden: In diesen Institutionen würden sie sich zu einer fest abgesonderten Gruppen formieren, da die vermeintlichen Dissidenten in den Einrichtungen alle nötigen Fertigkeiten und Einstellungen für eine abweichende Karriere gelehrt bekämen, „ja, sie provozieren sie sogar dazu, von ihren Fertigkeiten Gebrauch zu machen, indem sie ihr Gefühl der Entfremdung von der übrigen Gesellschaft bestärken“ 309 . Zusätzlich sei - so seine Kernthese - prinzipiell von der Annahme auszugehen, dass abweichendes 308 Vgl. Opp, K.-D.: Die „alte“ und die „neue“ Kriminalsoziologie. Eine kritische Analyse einiger Thesen des labeling approach, in: Kriminologisches Journal 4.1 (1972), S. 32-52. Zwar lehnten Labeling-Theoretiker die ältere Devianzforschung ab, waren aber zugleich in ihrer Forderung inkonsequent, indem sie weiterhin an „objektivistischen Resten“ festhielten. Es besteht also die Frage, inwieweit sich die Lehre vom Kontrollparadigma überhaupt von seinem „ großen Bruder“ loslösen konnte, die somit in den Theorienstreit zweier Paradigmen geriet: dem positivistischen und dem interpretativen. Einen Querschnitt über die Forschungsdiskussion bietet Dellwing, Michael: Reste. Die Befreiung des Labeling Approach von der Befreiung, in: Kriminologisches Journal 40.3 (2008), S. 162-178. Vgl. hierzu die positivistisch geprägte Kritik von Trotha, Trutz von: Ethnomethodologie und abweichendes Verhalten. Anmerkungen zum Konzept des „Reaktionsdeppen“, in: Kriminologisches Journal 9.2 (1977), S. 98-115. 309 Erikson, Kai T.: Wayward Puritans. A Study in the Sociology of Deviance, New York 1966. Auf Deutsch unter dem Titel: ders.: Die widerspenstigen Puritaner. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, Stuttgart 1978, S. 23 f. Alle angeführten Zitate sind der deutschen Fassung entnommen worden. 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) 69 Verhalten 310 nicht als eine Art von „Panne“ anzusehen sei, „die eintritt, wenn die Maschinerie der Gesellschaft in schlechtem Betriebszustand ist, sondern es kann in bestimmten Mengen eine wichtige Voraussetzung für die Wahrung gesellschaftlicher Stabilität sein“ 311 . Von dieser Funktion abweichenden Verhaltens ausgehend, versucht Erikson, seine These am Beispiel der puritanischen Kolonie im Neuengland des 17. Jahrhunderts zu verifizieren. Dabei greift er auf verschiedene Krisensituationen zurück, denen die vormodernen Puritaner zu diversen Zeitpunkten ausgesetzt gewesen seien, unter anderem auch auf die „Salemer Hexen-Hysterie“ von 1692. Mag hier der Versuch soziologische Konzepte auf historische Phänomene zu übertragen, durchaus löblich sein, so ist doch aus der Sicht des Historikers anzumerken, dass es an einer nötigen Quellenkritik und einigen methodischen Reflexionen mangelt. Die gewählten „Krisensituationen“ der Puritaner werden als Faktum dargestellt, ohne diese per se in Frage zu stellen oder einer näheren kritischen Untersuchung zu würdigen. 312 Die Behandlung des Phänomens der Hexenverfolgung erfolgt in dieser Arbeit lediglich am Rande. Diese Kritikpunkte sind auch der zweiten vorzustellenden Arbeit vorgeworfen worden. 313 1981 veröffentlichte die Soziologin Christina Larner ihr Werk Enemies of God: The Witch-hunt in Scotland. Larner wollte der Frage nachgehen, warum ein Großteil der Hexenverfolgungen sich auf Frauen bezog. Sie widerlegt dabei die Gültigkeit der Thomas-Macfarlane-Theorie für ihren Untersuchungsraum, obwohl ein Hauptteil der verfolgten Frauen „at the bottom of the formal feudal structure itself“ 314 und „predominantly poor, middel-aged or elderly“ 315 waren. Jedoch stellte Larner fest, dass einige der verfolgten Frauen sich tatsächlich deviant verhalten hätten, indem sie von sich selbst behaupteten, böse zu sein: Sie hatten eine „böse Zunge“, drohten mit Verfluchung und Schadenszauber, waren aggressiv und von übler Laune. Damit sei ihnen Devianz nicht nur attribuiert worden, sondern sie hätten sich tatsächlich nicht normgerecht verhalten. Allerdings hätte dieses Verhalten auch - wie Walz für seinen Untersuchungsraum ebenfalls feststellte - ein Großteil anderer Frauen an den Tag gelegt, ohne dass sie mit dem Hexenlaster behaftet, geschweige denn verurteilt worden seien. Um sich dem Phänomen nähern zu können, zog Larner den soziologischen Interpretationsansatz des Labeling Approach als Erklärungsrahmen hinzu. Allerdings 310 In seiner vorherigen Studie: ders.: Notes on the Sociology of Deviance, in: Social Problems 9.4 (Spring 1962), S. 307-314 spitzt Erikson den Begriff „Devianz“ zu: „According to current theory, deviant behavior is most likely to occur when the sanctions governing conduct in any giving setting seem to be contraditionary.“ Ebd., S. 308. 311 Erikson: Puritaner, S. 22 f. 312 Erikson räumt selbst ein, dass „die folgende Arbeit als eine soziologische und nicht so sehr historische verstanden werden“ will. Ebd., S. 9. 313 „What most distinguished Larner’s book was its methodological sophistication. She was far more familiar with social theory than most empiristicist historians.“ Goodare, Julian: Art. „Larner, Christina (1934-1983)“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 627-628, hier S. 628. Weitere Kritik bei Briggs: Victims? , S. 46. 314 Larner, Christina: Enemies of God. The Witch-hunt in Scotland, Oxford 1981, S. 91. 315 Ebd., S. 90. 70 5 Methode und Aufbau der Arbeit ging sie nicht genauer auf dessen theoretische und konzeptionelle Grundlagen ein. Lediglich auf drei Seiten widmet sie sich flüchtig diesem komplexen Ansatz. Warum sie sich für den Labeling Approach als Deutungsmodell entschied, rechtfertigt sie mit einem sozialpsychologischen Argument. Sie nutze den Etikettierungsansatz als Deutungskonzept, um „the dynamic elements in the process of identifying and thereby creating a socially deviant person [...]“ 316 zu beschreiben, weil eine kontinuierliche Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft bestehe. Allerdings stieß sie bald in praktischer Hinsicht an die Grenzen des Methodentransfers. Nicht nur weil es schwierig sei, festzustellen, was im Kontext der jeweiligen Zeit in einer Gesellschaft als deviant bezeichnet werde, sondern weil es auch viele Variationen von Devianz gebe und nicht alle stigmatisierten Personen der Hexerei bezichtigt worden seien. So schloss sie mit dem doch unbefriedigenden Fazit: „ Labeling theory takes us only so far in suggesting why particular individuals who shared the classic characteristics with many others were selected from them for accusation. It explains the build-up of social reinforcement, but, apart from the selection of daughters of witches, not the beginning of the process. In the last resort it can only be said that these individuals were in the wrong place at the wrong time.“ 317 Trotz der oberflächlichen Herangehensweise und methodisch unzureichender Reflexionen kommt auch Larner wie Walz zu dem Schluss, dass Hexenprozesse zumindest fallweise die Funktion erfüllt hätten, nicht normgerechtes Verhalten zu sanktionieren, insbesondere bei Frauen - eine Ansicht, die auch die Historikerin Carol F. Karlsen mit Larner teilt. Allerdings legt Karlsen den Akzent stärker auf den Status der Frauen, nicht auf deren Handeln. Denn ihrer Ansicht nach stellten die verfolgten Frauen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit für Männer im puritanischen Neuengland eine Bedrohung und Provokation dar 318 - eine These, die gerne Feministinnen für politische Debatten als historisches Beispiel nutzen, um die Unterdrückung der Frau durch den Mann zu veranschaulichen. 319 Nun stellt sich die berechtigte Frage, warum der Labeling Approach bisher in der Hexenforschung nicht breiter rezipiert worden ist. Die Gründe für die Zurückhaltung liegen eventuell in der Sache selbst: So sehr die verschiedenen Schwerpunkte und 316 Ebd., S. 98. 317 Ebd., S. 100. 318 So hätten Zeitgenossen sich über die Unabhängigkeit, Frechheit, Männerkleidung und das Männergehabe der Frauen aufgeregt. Karlsen, Carol F.: The Devil in the Shape of a Woman. Witchcraft in Colonial New England, New York 1998, S. 70. Siehe auch Monter: Witchcraft, S. 124. 319 Kuhn, Annette: Die Situation der Frauen im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Ringvorlesung, hrsg. v. Autonomes Frauen- und Lesbenreferat des AStA’s der Universität zu Köln, S. 17-29. Hierzu äußerst Schwerhoff kritisch Schwerhoff: Hexerei, insb. S. 334-336. 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) 71 Akzente des Labeling Approach einem „bunten Strauß“ 320 gleichen, so vielfältig sind die Kritikpunkte, die hier lediglich holzschnittartig wiedergegeben werden sollen. Während auf der historiografischen Seite der Ansatz als Siegeszug gefeiert wird, besteht in seinem ureigensten Feld die nun fast fünfzig Jahre andauernde Diskussion, ob der Etikettierungsansatz nicht erschöpft sei oder gar totgeschrieben werden könnte. 321 Pointiert formuliert, schreibt der deutsche Soziologe Reinhard Kreissl, der den Labeling Approach mit Hilfe einer ironistischen Perspektive der kritischen Kriminologie zu „retten“ versucht: Der Ansatz habe in seiner gesellschaftlichen Wirkung „eher die Form eines plausiblen literarischen Bildes, denn als logisch aufgebautes und empirisch nach allen Regeln der Kunst unterfüttertes wissenschaftliches Argument entfaltet“ 322 . Nach der Blütephase des Labeling Approach in den 1960er-Jahren geriet er in den 1970ern zusehends ins Fadenkreuz der Kritik: Er zeichne ein romantisiertes Bild von Außenseitern 323 , die teilweise in eine regelrechte Partisanenschaft ausufere und unter Fritz Sacks radikal emanzipatorischem Ansatz zu einer „links“ geprägten Befreiungswissenschaft der Unterdrückten werde. 324 Ein weiterer Vorwurf betrifft die unzureichende Ausdifferenzierung hinsichtlich des theoretischen und methodischen Rahmens: 325 Etiketten würden willkürlich vergeben und die Entwicklung von Devianz simplifizierend dargestellt. 326 Überhaupt sei zu diskutieren, ob die Stigmatisierungen 320 Art. „Labeling Approach“, in: Krimpedia, hrsg. v. Universität Hamburg/ Institut für kriminologische Sozialforschung, 2012, url: http: / / www.kriminologie.uni-hamburg.de/ wiki/ index.php/ Labeling_Approach (Zugriff am 14. 03. 2018). 321 Vgl. hierzu die kritische Stellung von Gove, Walter R.: Societal reaction as an explanation of mental illness: An evaluation, in: American Sociological Review 35.5 (1970), S. 873-884; ders.: The Labeling of Deviance: Evaluating a Perspective, New York 1975. Ebenso Manning, Peter K.: Survey essay: on deviance, in: Contemporary Sociology 2.2 (1973), S. 123-128. 322 Kreissl, Reinhard/ Bussmann, Kai-D. (Hrsg.): Kritische Kriminologie in der Diskussion. Theorien, Analysen, Positionen, Opladen 1996, S. 36. 323 Eine Anspielung auf Howard S. Becker Sympathisieren mit den „underdogs“, wie z. B. dem Marihuana-Raucher. 324 Vgl. Sack, Fritz: Zu einem Forschungsprogramm für die Kriminologie, in: Kriminologisches Journal 5.4 (1973), S. 251-254. Zusätzlich Dellwing, Michael: Das Label und die Macht. Der Labeling Approach vom Pragmatismus zur Gesellschaftskritik und zurück, in: Kriminologisches Journal 41.3 (2009), S. 162-177. Einige Theoretiker gingen sogar soweit, dass sie davon sprachen, es sei die Pflicht der Soziologie für die Unterlegenen Partei zu ergreifen. „[...] its responsibility to the dynamics of partisanship or its attention to the exploited, vulnerable, and powerless - to those actors who suffered within a hierarchy of credibility.“ Katovich, Michael A./ Reese II, William A.: Postmodern Thought in Symbolic Interaction: Reconstruction Social Inquiry of Late-Modern Concerns, in: The Sociological Quarterly 34.3 (1993), S. 391-411, hier S. 397. Z. n. Dellwing: Befreiung, S. 168. Diese Ansicht vom Labeling Approach führte sogar zu der Annahme man müsse, um Devianz zu verhindern, völlig von Stigmatisierungen absehen und zu einer so genannten „Non-Intervention“ gelangen. Siehe hierzu Schur, Edwin M.: Radical Non-Intervention: Rethinking the Delinquency Problem, Englewood Cliffs 1973. 325 Wissenschaftstheoretisch ist der Labeling Approach der Phänomenologie verpflichtet, in methodischer Hinsicht der Ethnomethodologie. Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 251. 326 Der Labeling Approach geht von der Grundannahme aus, dass es sich bei Devianz um einen „ausgehandelten Status“ handelt. Beim Prozess des Aushandelns werde das Label „deviant“ selektiv sowie situations- und personengebunden von einer Machtinstanz verteilt. Mit dieser 72 5 Methode und Aufbau der Arbeit wahr (gerechtfertigt) oder unwahr (ungerechtfertigt) seien. 327 Der Labeling Approach zeichne zudem eine reaktive Zwangsläufigkeit eines Karrieremodells von Devianz, die andere Handlungsvariablen ausschließe und einen Devianten ex nihilo schaffe etc. Der Kausalzusammenhang zwischen Etikettierung und abweichendem Verhalten sei zudem nicht empirisch belegbar. 328 Und schließlich bestünden erhebliche Lesefehler und Missverständnisse innerhalb der deutschen Rezeption amerikanischer Labeling- Theoretiker. 329 Bei all den berechtigten Einwänden stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, warum in dieser Arbeit trotzdem am Etikettierungsansatz als soziologische Deutungsmöglichkeit des Hexenphänomens festgehalten wird, wenn doch eine fundierte Deskription von gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen solider erscheint. Besinnt man sich auf den Gedanken zurück, dass es sich bei dem Labeling Approach um einen Erklärungsansatz handelt und nicht um eine fertig ausgebildete Theorie, wird der Vorwurf relativiert, er sei eine Illusion. Vielmehr stellt er ein Gedankengebäude dar, das den Begriff der Etikettierung nutzt, um sich dem Gegenstand der Erkenntnis anzunähern („sensitizing theory“). Wird zusätzlich Rekurs auf das „Kerngerüst“ des Etikettierungsansatzes genommen, ohne den Ballast „of endless debate in which representatives of a position consciously and unconsciously select facts and arguments to bolster their views [...]“ 330 , wird eine Idee sichtbar, die sowohl eine pluralistische und interaktionistische Perspektive bietet als auch bisher isoliert voneinander betrachtete Faktoren in einen plausiblen Zusammenhang bringt. 331 Sichtweise wird der Labeling Approach um eine gesellschaftspolitische und -kritische Dimension erweitert. 327 Vgl. Quensel, Stephan: Das Labeling-Paradigma - Ein Konstrukt? Oder: Wie wir Theorien lieben, in: Menzel, Birgit/ Ratzke, Kersin (Hrsg.): Grenzenlose Konstruktivität? Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven konstruktivistischer Theorien abweichenden Verhaltens, Oldenburg 2 2006, S. 17-41. Siehe auch Gouldner, der abwertend von einer „Zoowärtermentalitität“ spricht, wenn stigmatisierte Gruppen verteidigt werden sollen. Gouldner, Alvin W.: The Sociologist as Partis: Sociology and the Welfare State, in: The American Sociologist 3.2 (1968), S. 103-116, hier S. 104. 328 „Keine der Untersuchungen in den geprüften ASR-Jahrgängen [stellt] Forschungsergebnisse bereit, die sich bestätigend oder falsifizierend den Thesen Beckers zuordnen lassen.“ Springer, Werner: Kriminalitätstheorien und ihr Realitätsgehalt, Stuttgart 1973, S. 130. Z. n. Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 287. 329 Vgl. Schneider, Hendrik: Schöpfung aus dem Nichts. Missverständnisse in der deutschen Rezeption des Labeling Approach und ihre Folgen im Jugendstrafrecht, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsform 82.3 (1999), S. 202-213. Die deutsche Rezeption des Labeling Approach wird wesentlich von Fritz Sack und Wolfgang Keckeisen geführt. Siehe auch die kurze Einführung in den „folgenschweren“ Rezeptionsfehler bei Bock, Michael: Kriminalsoziologie in Deutschland. Ein Resümee am Ende des Jahrhunderts, in: Dreier, Horst (Hrsg.): Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts. Gedächtnissymposium für Edgar Michael Wenz, Tübingen 2000, S. 115-136. 330 Petrunik, Michael: The rise and fall of “labelling theory”: the construction and destruction of a sociological strawman, in: The Canadian Journal of Sociology/ Cahiers canadiens de sociologie 5.3 (1980), S. 213-233, hier S. 215. 331 Peters, Helge plädiert für die Aufrechterhaltung des Labeling-Ansatzes. Siehe hierzu Peters, Helge: Als Partisanenwissenschaft ausgedient, als Theorie aber nicht sterblich: der Labeling 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) 73 Konkret auf unser Hexenthema bezogen, erlaubt das Konzept ein neues Erprobungsfeld zu eröffnen: Unter der Prämisse, dass die frühneuzeitliche Vorstellung von der Hexe ein Devianzmodell par excellence darstellt, kann mit Hilfe dieses Ansatzes das interaktionistische Wechselspiel des Hexen-Machens nachvollzogen werden. Ins nähere Blickfeld kommen folglich diejenigen Handlungsstrukturen, die bei der Verleihung des Etiketts „deviant“ angewendet werden, aber auch die möglichen sozialpsychologischen Auswirkungen auf die stigmatisierten Personen. Auf diese Weise wird ein Circulus vitiosus nachgezeichnet. Zudem kann der kurz aufgenommene, aber weitgehend wieder fallen gelassene Diskussionsfaden erneut aufgegriffen werden, ob es sich bei den Hexenprozessen nicht um eine formelle wie informelle Form der Kontrolle abweichenden Verhaltens gehandelt hat. Im Rahmen dieses Ansatzes sind demnach ein interdisziplinäres Verfahren und Methodenpluralismus unerlässlich. Das hohe Abstraktionsniveau des soziologischen Etikettierungsansatzes und insbesondere seine Erklärungsabsicht unter Zuhilfenahme unabhängiger und nicht näher definierter Variablen erschweren freilich dessen Erprobung aufs Exempel. Bestehen schon erhebliche Schwierigkeiten, die verschiedenen Akzente und Schwerpunkte, Brüche und Verwerfungen der einzelnen Ansätze zum Labeling Approach 332 summarisch zu erfassen, erweist sich eine gezielte Einschränkung auf ein gesondertes Konzept als besonders problematisch. Die Herausforderung ist die bekannte Theorie-Praxis-Kluft. Die konzeptuellen wie methodischen Schwierigkeiten, die eine konkrete Festlegung auf einen devianzsoziologischen Ansatz beinahe unmöglich machen, liegen in dem zum Untersuchungsgegenstand erhobenen Deüffelskind mitsamt seinem ihn umgebenden Approach, in: Kriminologisches Journal 28.2 (1996), S. 107-115. Eine kritische Replik hierzu von Kreissl, Reinhard: Begrenzte Konstruktivität - Wie Helge Peters einmal versuchte, den labeling approach zu retten, in: Menzel/ Ratzke (Hrsg.): Grenzenlose Konstruktivität? , S. 42-55. Trotz angestrebter Versöhnungsversuche und Neubewertungen des Labeling Approach, wie z. B. durch Sacks Forderung, den Ansatz durch eine marxistisch-interaktionistische Metaebene zu erweitern, um sie in einem größeren gesellschaftstheoretischen Rahmen zu betrachten oder eine Schlichtung zwischen den beiden Paradigmen anzustreben, wird unweigerlich der Eindruck erweckt, der Labeling Approach sei gescheitert, er nütze nichts mehr. Dellwing: Befreiung, S. 171. Mit Sacks radikalem Ansatz, der strikt jegliche Form der Ursachenforschung ablehnt, wurde in der deutschen Rezeption der Labeling Approach schwerpunktmäßig auf eine Instanzenforschung festgelegt. Unter marxistischen Vorzeichen versucht Gerlinda Smaus, den devianzsoziologischen Interaktionismus zu integrieren. Smaus, Gerlinda: Versuch um eine materialistisch-interaktionistische Kriminologie, in: Kritische Kriminologie heute, 1. Beiheft zum Kriminologischen Journal 1986, S. 179-199. Sack, Fritz Ansatz führte wiederum zu heftigen Kritiken, in denen ihm vorgeworfen wurde, dass die Instanzenforschung nicht das eigentliche Ziel des Etikettierungsansatzes sei. Siehe hierzu Keckeisen, Wolfgang: Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens in zeitgenössischen Gesellschaften. Perspektiven und Grenzen des labeling approach, München 1974, hier insb. S. 110. Einen Überblick über die ältere Forschungsdiskussion entwirft Petrunik: The rise and fall. 332 Je nach Betonung des Ansatzes können diese selbst in 1. dem Normsetzungslabeling, 2. dem Selektionslabeling, 3. dem Definitionslabeling, 4. dem Zuschreibungslabeling, 5. dem Verursachungslabeling, 6. dem Forcierungslabeling etc. differenziert werden. In übergeordneter Hinsicht sind die einzelnen Ansätze 1. dem interaktionistischen Karriere-Modell, 2. dem phänomenologischsprachanalytischen Modell, 3. dem ethnomethodologischen Modell, 4. dem kommunikationstheoretischen Modell oder 5. dem marxistischtheoretischen Modell verpflichtet. 74 5 Methode und Aufbau der Arbeit Lebensraum begründet. Der Facettenreichtum seiner sozialen, rechtlichen, ökonomischen wie politischen Umwelt lässt sich weder eindeutig mit statischen Größen, wie sie die Ätiologie bevorzugt, noch allein mit normativen Variablen erfassen, wie es die Labeling-Theoretiker idealtypisch fordern, die jedoch in praktischer Hinsicht bisher nicht gänzlich ohne einen Rückbezug auf die „objektivistischen Reste“ auskommen. Um eine tiefendimensionale Lebenswirklichkeit zu erfassen, bedarf es beider Pole. Denn die „Lebenswelt“ einer Person besteht aus einem Konglomerat aus repetitiven Handlungsstrukturen und -räumen, einem zeitlich wandelbaren Werte- und Regelsystem sowie starren, teils miteinander konkurrierenden Normensets mit jedoch variierbaren Normanwendungen, die zudem situations- und personengebunden sind (wie z. B. das zweigleisige Strafrecht der Frühen Neuzeit), und einer großen grauen Toleranzzone. Etikette können wegen einer realiter begangenen Devianz verliehen oder einer Person lediglich zugeschrieben werden etc. Es ist schlicht das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Ebenen, das die Komplexität ausmacht und in dem das „Warum? “ und „Wie? “ zusammenfließen. Um dennoch den Gegenstand der Untersuchung mittels einer adäquaten Methode greifbar zu machen, soll aus der Vielzahl der Erklärungsangebote gezielt eine Reduktion ausgewählter „klassischer Ansätze“, sozusagen der „Grundpfeiler“ der Labeling-Theoretiker, erfolgen. Deren Gedankengebäude prägt seit annähernd siebzig Jahren die Neue Devianzforschung und wurde von weiteren Soziologen aufgenommen sowie in unterschiedlicher Couleur abgestuft. Die „Urväter“ 333 sind nach einstimmiger Meinung des soziologischen Kreises die Amerikaner Lemert, Becker, Erikson und Kitsuse. 334 Ihre Ansätze „alten Typs“ sollen im Vordergrund dieser Arbeit stehen. Da bereits die Quintessenz des Labeling-Ansatzes angeführt wurde und um nicht in unnötige Redundanzen zu verfallen, sollen ihre Lehren hier nicht im großen Stil rekapituliert, sondern lediglich punktuell die einzelnen Differenzen zwischen ihnen kurz hervorgehoben werden. Die Geburt des Labeling-Ansatzes ist Edwin M. Lemert zu verdanken, der als Erster Tannenbaums 335 Definitionsansatz wieder aufgegriffen hatte und daher als Wiederentdecker und -begründer der Labeling-Schule gilt. 336 In seinem 1951 erschie- 333 Als eigentliche „Erfinder“ des Etikettierungsansatzes gelten E. H. Sutherland und F. Tannenbaum, deren Interesse an der sozialen Reaktion gegenüber abweichendem Verhalten sich Ende der 1930er-Jahre entwickelte. Ihre Ansätze wurden jedoch von der Soziologie bis in den 1960ern nicht weiter beachtet. Vgl. Ahrens, Stephan: Außenseiter und Agent. Der Beitrag des Labeling-Ansatzes für eine Theorie abweichenden Verhaltens, Stuttgart 1975, S. 9. 334 Die Ausklammerung der deutschen Rezeption des Labeling Approach, bei der insbesondere der Soziologe Fritz Sack mit seinem radikalen Ansatz eine Vorreiterrolle übernommen hat, ist einerseits arbeitsökonomischen Gründen geschuldet, andererseits wird seine Position in der deutschen Neuen Devianzsoziologie sehr kritisch gesehen. Eine zu starke theoretische Radikalisierung und Vereinseitigung werden ihm grundsätzlich von anderen Labeling-Theoretikern vorgeworfen. Vgl. Bock: Kriminalsoziologie, S. 125. 335 „Als entscheidende Ursache für das Auftreten abweichenden Verhaltens sah er die sozialen Reaktionen der Umwelt auf dieses an: ‚The young delinquent becomes bad, because he defined as bad‘.“ Z. n. Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 225. 336 Ebd., S. 226. 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) 75 nenen Werk Social Pathology. A Systematic Approach to the Theory of Sociopathic Behavior untersucht er das Phänomen der Devianz noch unter der Rubrik der sogenannten „Sozial-Pathologie“. In seinen sieben Postulaten legt er die Stützen seines Ansatzes über die Entstehung von Devianz dem Leser nahe: Lemert beobachtet, dass die soziale Akzeptanz oder Missbilligung „soziopathischen Verhaltens“ 337 zeitlichen und situativen Konjunkturen unterliegt: Während ein gewisses Verhalten zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Situation für sozial gut befunden wird, kann dasselbe Benehmen zu einem anderen Zeitpunkt sozial verachtet werden. So sehr die Definition von Devianz der zeitlichen und situativen Interpretation unterworfen ist, seien auch die Bestrafungsakte, d. h. die sozialen Reaktionen, auf missbilligendes Verhalten unterschiedlich ausgeprägt. Diese sozialen Reaktionen seien ausschlaggebend für die Bedeutung und die graduelle Ausprägung von Devianz: „ The deviant person is one whose role, status, function and self-definition are importantly shaped by how much deviation he engages in, by the degree of its social visibility, by the particular exposure he has to the societal reaction and by the nature and strength of the societal reaction.“ 338 Um sich dem Phänomen „Devianz“ anzunähern, muss das Augenmerk auf die soziale Ebene und insbesondere auf den Ablauf der sozialen Reaktion gerichtet werden. 339 Lemert sieht folglich eine Interdependenz zwischen den sozialen Reaktionen und der Entstehung von (sekundärer) Devianz. Diese Beobachtung „would carry us too far afield into the subjects of public opinion and social control“ 340 . Die nächsten Gedankenausführungen legten wesentlich den Grundstein für den Labeling Approach und die fortführenden Arbeiten seiner Nachfolger: Lemert betont, dass die Stärke einer Normverletzung nicht immer mit der Stärke der Bestrafung korreliere: Es gebe nicht die eine Bestrafung auf eine bestimmte Normverletzung. Es herrsche in einer Gesellschaft vielmehr ein breites und flexibles Spektrum an Bestrafungsmöglichkeiten vor, die je nach Situation und Person differenziell eingesetzt werden würden. Mit anderen Worten: Ein massiver Normverstoß zieht nicht zwangsläufig eine harte Bestrafung nach sich und eine minimale Normverletzung kann umgekehrt mit Sanktionen erheblichen Ausmaßes belegt sein. 341 In seiner Studie arbeitet Lemert folglich das wesentliche Erkenntnisziel heraus, dass trotz der Kenntnis einer Norm innerhalb der Normanwendung ein Toleranzraum vorherrsche. 337 Unter „soziophatisches Verhalten“ versteht Lemert folgendes: „4. Sociopathic behavior is deviation which is effectively dissaproved.“ Lemert, Edwin M.: Social Pathology. A Systematic Approach to the Theory of Sociopathic Behavior, New York 1951, S. 23. 338 Ebd. 339 Zusammenfassend hier Ahrens: Außenseiter und Agent, S. 11. 340 Lemert: Pathology, S. 56. 341 „It is fairly easy to think of situations in which serios offenses against laws commanding public respect have brought only a mild penalty or have gone entirely unpunished. Conversely, cases are easily discovered in which a somewhat minor violation of legal rules has provoked surprisingly stringent penalties.“ Ebd., S. 55. 76 5 Methode und Aufbau der Arbeit „ Nach diesen Beobachtungen erlaubt die Kenntnis einer Norm nicht immer die Voraussage über die Stärke der sozialen Reaktion oder darüber, ob diese überhaupt erfolgt. Lemert schlägt daher vor, die Normen an der sozialen Reaktion festzumachen und sie nach der Stärke der sozialen Reaktion, die ihre Übertretung hervorruft, auf einer Skala zuzuordnen.“ 342 Wichtiges Ausführungsorgan der sozialen Kontrolle seien die privaten oder öffentlichen „Agenten“, „which society or the community organized to aid, repress, rehabilitate, or otherwise deal with its ‚problems‘“ 343 . Lemerts Ansicht nach begünstigen diese Kontrollagenturen mehr Devianz, als diese zu beseitigen: Werde das Individuum bestraft, sozial isoliert, ausgesondert oder zu ihm eine soziale Distanz gewahrt, erhalte es durch diese Handlungen ein Stigma (label), das hochaufgeladen sei mit Emotionen und Bedeutungen. „These serve to define the deviant’s exspected behavior in social interaction, and they become the reciprocal of the individual deviant’s own-selfdefinition.“ 344 Neben dem vermeintlichen Abweichler werden auch die konformen Mitglieder der Gemeinschaft gezwungen, sich mit dem verliehenen Etikett auseinanderzusetzen. „Eine wichtige Rolle hierbei spielt deren Stereotyp von Devianz, ihre Vorstellung von dem, was Abweichung ist und wie man sich einem Abweichler gegenüber zu benehmen hat. Das kann zu einem ‚Unterschieben‘ von Daten und Eigenschaften führen, die mit der Art des Normbruchs in keinerlei logischem Zusammenhang stehen und sich in keiner Weise aus seinem objektiv beobachtbaren Verhalten ableiten lassen.“ 345 Mit dem Kriterium der sozialen Reaktion erweitert Lemert die soziologische Devianztheorie um die Bedeutung des Interaktionismus zwischen nonkonformen Individuen und einer konformen Mehrheitsgesellschaft. Dieser soziale Mechanismus sei nach seiner Ansicht die entscheidende Ursache für das Aufkommen weiteren Fehlverhaltens des gelabelten Individuums. Auf Basis dieser Perspektive von Devianz entwickelte er das Modell der primären und sekundären Devianz, das den Kernpunkt seiner Arbeit darstellen sollte. Während primäre Devianz auf verschiedene, aber nicht weiter nachforschenswerte Ursachen zurückzuführen sei, 346 ist für Lemert die sekundäre Devianz ausschließlich durch gesellschaftliche Reaktionen verursacht. Entscheidende Kennzeichen, die die wesentliche Trennlinie zwischen primärer und sekundärer Devianz setzen, sind die unterschiedlichen Einbettungen von nicht-normgerechtem 342 Ahrens: Außenseiter und Agent, S. 11. 343 Lemert: Pathology, S. 68. 344 Ebd., S. 64. 345 Ahrens: Außenseiter und Agent, S. 11. 346 „Primäre Devianz ist im Gegensatz zur sekundären vielfältigen Ursprungs, sie entsteht aus einer ganzen Reihe von sozialen, kulturellen, psychologischen und physiologischen Faktoren, die entweder zufällig oder in bestimmten Kombinationen auftreten.“ Ahrens zitiert hier Lemert, Edwin M.: The Concept of Secondary Deviation, in: ders. (Hrsg.): Human Deviance, Social Problems and Social Control, Englewood Cliffs 1967, S. 40-64, hier S. 40. 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) 77 Verhalten in den jeweiligen Rollenkontext des Individuums und die entsprechende Bewertung dieses Verhaltens durch Interaktionspartner. 347 Wird ein Verhalten folglich als deviant „abgestempelt“, benehmen sich die Interaktionspartner gegenüber dem etikettierten Individuum entsprechend seines Labels. Zudem orientieren sich ihre Verhaltenserwartungen an diesem Etikett. Das Resultat dieser Etikettierungsvorgänge ist eine Einschränkung von Symbol- und Aktionsfeldern des Individuums, die wiederum zu einer Art Aufschaukelungsprozess führen kann: Durch diese „highly traumatic [experiences]“ 348 wird der Abweichler gezwungen, sich mit seinem eigenen Stigma auseinanderzusetzen - die etikettierte Person identifiziere sich bei zunehmenden sozialen Reaktionen mit der ihr zugewiesenen Rolle, die schließlich zu einem Teil ihrer Identität werde. „The person may organize an aberrant sect or group in which he creates a special role of his own. When a person begins to employ his deviant behavior or a role based upon it as a means of defense, attack or adjustment to the overt and covert problems created by the consequent societal reaction to him, his deviation is secondary.“ 349 Mit diesem Aspekt wird neben der sozialen Ebene auch die psychische angeschnitten. Wolfgang Keckeisen fasste die Quintessenz dieser Persönlichkeitsveränderung und ihrer Stabilisierung als Folge der sozialen Reaktion mit den Worten zusammen: „In diesem sich eskalierenden Wechselspiel gerät die Identität des Kontrollierten in dem Maße unter Druck, in dem ihr die Bestätigung durch andere verweigert wird. Neben materiellen Pressionen [...], ist es vor allem diese Diskrepanz zwischen Selbstdefinition und sanktionsmächtiger Fremddefinition, deren Auflösung schließlich in der Reorganisation des Selbst auf der Grundlage einer devianten Rolle und unter Umständen im sozialen Kontext einer devianten Subkultur gesucht wird. Sekundäre Devianz - als Organisation der Identität um ein ‚deviantes Verhaltensmuster‘ [...].“ 350 Rund zehn Jahre später wurden Lemerts Gedanken von einem der bedeutendsten Labeling-Theoretiker, Howard S. Becker, erneut aufgegriffen und weiterentwickelt. 351 Sein wohl berühmtester Ausspruch - „abweichendes Verhalten [ist] keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem Missetäter“ 352 - wird vielfach in älteren und neueren Arbeiten zitiert und liefert 347 Ahrens: Außenseiter und Agent, S. 12. 348 Lemert: Pathology, S. 76. 349 Ebd. 350 Keckeisen: Gesellschaftliche Definition, S. 39. 351 Kritische und detaillierte Anmerkungen zu Beckers Labeling-Ansatz siehe die Einleitungsworte von Michael Dellwing et altera. Nachzulesen in der Neuauflage von Becker, Howard S.: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, hrsg. v. Michael Dellwing, unter Mitarb. v. Viola Abermeilt, aus dem Englischen übers. v. Monika Plessner (Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften), Wiesbaden 2 2014, S. 7-21. 352 Ebd., S. 31. 78 5 Methode und Aufbau der Arbeit gleichzeitig einen wichtigen Fingerzeig für sein Verständnis der Neuen Devianzsoziologie: Abweichung ist nach ihm keine immanente Qualität einer Handlung, „sondern entsteht erst durch die Bewertung der Interaktionspartner und deren Reaktion gegenüber dem Beurteilten, die auf dem Boden dieser Bewertung erfolgt“ 353 . In seinen Ausführungen argumentiert er ähnlich wie Lemert: Ebenso wie sein Vorgänger geht Becker von einer selektiven Vergabe der Labels aus, d. h. von einem situations- und personengebundenen Bewertungsschema und -vorgang der Zuschreibung. Hier klingen bereits die Gedanken des Machtaspekts und der sozialen Ungleichheit bei der Verteilung des Labels an, die bei Sack ihre stärkste Ausdrucksform erhalten sollten. Ein prägnantes Axiom von Becker lautet, dass „Regeln auf einige Menschen unnachgiebiger angewandt [werden] als auf andere. [...] Verhalten [ist] nicht einfach eine Qualität, die in einigen Verhaltensweisen liegt, in anderen nicht. Es ist vielmehr das Produkt eines Prozesses, der die Reaktion anderer Menschen auf das Verhalten miteinschließt. Das gleiche Verhalten kann zu einem Zeitpunkt ein Verstoß gegen Regeln sein, zu einem anderen nicht; es kann ein Verstoß sein, wenn eine bestimmte Person dieses Verhalten zeigt, und kein Verstoß, wenn es eine andere zeigt; einige Regeln werden straflos verletzt, andere nicht. Kurz, ob eine gegebene Handlung abweichend ist oder nicht, hängt zum Teil von der Natur der Handlung ab, [...] zum Teil davon, was andere Menschen daraus machen.“ 354 An diesem Zitat wird besonders deutlich, dass sich Becker wie (Lemert) in seinem Ansatz nicht gänzlich von der klassischen Devianzsoziologie losgelöst hatte: Er geht von einer statischen Normsetzung (Regel) aus, anhand derer Devianz gemessen und beurteilt werden kann. Jedoch gewinnt die Abweichung erst an Qualität, wenn eine Normanwendung durch eine soziale Reaktion erfolgt. Obwohl in seiner Definition von Devianz inkonsequent, 355 unterscheidet Becker zwischen abweichendem und regelverletzendem Verhalten: Letzteres stelle zwar eine Regelverletzung dar, werde aber nicht zwangsläufig als abweichend empfunden. Zudem betont er, dass nicht jede Handlung, die als abweichend eingestuft werde, auch „wirklich“ abweichend sein müsse - sie könne lediglich zugeschrieben sein. 356 Mit Hilfe dieses Differenzierungskatalogs arbeitet Becker die in einer Gesellschaft parallel bestehenden Devianztypen heraus. 357 Im Gegensatz zu Lemert spielt für Becker die primäre Devianz keine große Rolle, er schließt diese aber in seinem Erklärungsmodell nicht aus. Sein Hauptaugenmerk liegt vielmehr auf der sekundären Devianz des vermeintlichen Abweichlers, die nach seiner Auffassung lediglich durch die soziale Reaktion von Interaktionspartnern bzw. Kontrollagenten entstehe. Aufgrund seiner Ablehnung der Multivariatenanalyse 358 353 Ahrens: Außenseiter und Agent, S. 15. 354 Becker: Außenseiter, S. 35. 355 Siehe hier ausgewählte Zitate bei Ahrens: Außenseiter und Agent, S. 16. 356 Becker: Außenseiter, S. 39. 357 Insgesamt nennt Becker vier Kategorien der Abweichung. 358 „Die Multivariaten-Analyse geht von der Annahme aus, dass alle bei der Entstehung des untersuchten Phänomens beteiligten Faktoren gleichzeitig wirksam sind [...]. Tatsächlich jedoch 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) 79 entwickelt Becker ein „Karrieremodell“ der Devianz, dem die sogenannte „Selffulfilling Prophecy“ zugrunde liegt. Indem er den Gedanken von Lemert hinsichtlich der Einschränkung des konformen Handlungsraumes der etikettierten Person aufgreift, stellt er ein Schaubild für eine sich verfestigende kriminelle Laufbahn dar: In einer Abfolge von sich sukzessiv steigernder Aktion und Reaktion wird die stigmatisierte Person immer mehr in eine kriminelle Karriere hineingedrängt. Schließlich handle das Subjekt gemäß der ihm zugewiesenen Rollenerwartung. „Auf jeden Fall hat die Tatsache, erwischt und als abweichend gebrandmarkt zu werden, wichtige Konsequenzen für die weitere soziale Partizipation und für das Selbstverständnis des Menschen. Die wichtigste Konsequenz ist ein drastischer Wandel bezüglich der öffentlichen Identität eines Individuums. Das Verüben einer unrechtmäßigen Handlung und dabei von der Öffentlichkeit erwischt zu werden, verleiht ihm einen neuen Status. Er wurde als Mensch entlarvt, der anders ist als der, der er sein sollte.“ 359 Mit diesem Ansatz habe Becker - so heißt es einstimmig in der Literatur - die Devianzsoziologie revolutioniert und revitalisiert. James A. Holstein schreibt Becker die Rolle des wichtigsten Multiplikators zu: „If there is a central figure in popularizing the labeling perspective, it is surely Howard Becker.“ 360 Es ist das besondere Verdienst von Kai T. Erikson, das Augenmerk von dem Etikettierungsprozess auf die „social setting[s]“ einer Gesellschaft gerichtet zu haben. Denn nach seinem Verständnis beinhaltet das Studieren von Devianz „much a study of social organization as it is a study of disorganization and anomie“ 361 . Prägnanter Aspekt seiner Arbeit ist die differenzierte Unterteilung der „social control agencies“ in einem „social system“: Erikson bezeichnet sie unter anderem als „social audience“ und versteht unter diesem Begriff sowohl eine Gesamtgesellschaft als auch offizielle Vertreter des sozialen Kontrollsystems wie auch jedes einzelne Mitglied einer Gesellschaft. 362 Diese „Agenten“ tragen entscheidend zur Konstruierung und Konstituierung von Devianz bei, indem sie mit Hilfe von sozialen respektive rechtlichen „ceremonies“ den sozialen Status der devianten Person verändern. Hierbei unterscheidet Erikson drei Phasen, um einen vermeintlichen Abweichler „moving [...] out of his normal position in society and transferring him into a distinct deviant role“ 363 : 1. „a formal confrontation between the deviant suspect and representatives of his community [...]“, 2. „they announce some judgement about the nature of his sind nicht alle Ursachen zur gleichen Zeit wirksam, und wir brauchen ein Modell, welches das Faktum berücksichtigt, dass Verhaltensmuster sich in ordentlicher Abfolge entwickeln.“ Ebd., S. 42. 359 Ebd., S. 49. 360 Holstein, James A.: Defining Deviance: John Kitsuse’s Modest Agenda, in: The American Sociologist 40.1/ 2 (2009), S. 51-60, hier S. 54. Z. n. Becker: Außenseiter, S. 11. 361 Erikson: Notes, S. 308. 362 Eriksons Unterscheidung in „informelle“ und „formelle“ Sanktionsformen bezeichnet Lamnek als „makro-“ und „mikrosoziologische“ Aspekte. Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 234. 363 Erikson: Notes, S. 311. 80 5 Methode und Aufbau der Arbeit deviancy [...]“ und schließlich 3. „they perform an act of social placement, assigning him to a special deviant role [...]“ 364 . Diese „Zeremonien“ seien höchst ritueller Natur, öffentlich und dramatisch inszeniert, wobei mehr Personen aus der unteren sozialen Schicht von einer Stigmatisierung betroffen seien als höhere Klassen. 365 Obwohl der devianten Person ab der zeremoniellen Verleihung des Stigmas und infolge seines Umwertungsprozesses kein normales Leben mehr in der Gemeinschaft möglich sei, seien nicht alle Etikettierungen von langlebiger Dauer - sie könnten sehr wohl auch temporärer Natur sein. 366 Mit diesem Ansatz schneidet Erikson einen wichtigen Aspekt der sozialen Etikettierung an: Es ist dem stigmatisierten Abweichler sehr wohl möglich, sich von seinem Stigma zu lösen und in die Gesellschaft reintegriert zu werden. 367 Obwohl er nicht näher beschreibt, wie das etikettierte Individuum praktisch zu seinem „normalen“ Status zurückgelangt, ist dieser Gedanke für das Hexenphänomen zu überprüfen. Ferner betont Erikson, dass in einer Gesellschaft ein breites und variables Verständnis von Devianz vorliege: In logischer Konsequenz bedeute dies, dass die „social audience“ selektiv bei der Verleihung des Labels vorgeht. Ahrens fasst Eriksons Ansatz wie folgt zusammen: „ Er weist auf die Stereotypisierung der Devianzvorstellung als bedeutsamen Aspekt für die Initiierung einer sozialen Reaktion hin, die dazu führt, daß schon ein noch so kleiner Ausschnitt als deviant genügt, um den Etikettierungsprozess in Gang zu bringen. In dieses Stereotyp geht eine Vielzahl von Faktoren ein, die mit dem eigentlich beobachteten Verhalten in keinerlei Zusammenhang stehen.“ 368 Darüber hinaus ist es Eriksons Anliegen, Devianz nicht als bloßen Destabilisierungsfaktor einer Gesellschaft zu werten: Dank der Abweichung könne ein „soziales System“ eine klare Grenze zwischen Norm und Devianz ziehen und infolgedessen die eigenen Normen neu bekräftigen. Oder mit seinen Worten formuliert: „Generally speaking, boundaries are controlls which limit the fluctuation of a system’s component parts so that the whole retains a defined range of activity - a unique pattern of constancy and stability - within the larger environment.“ 369 Am Beispiel der sexuellen Devianz - hier insbesondere die männliche Homosexualität 370 - untersucht John I. Kitsuse die gesellschaftliche Konzeption von 364 Ebd. 365 Ebd., S. 308. 366 Ebd., S. 313. 367 „[...] the problem for applied sociology might be to see if we have anything to learn from those cultures which permit re-entry into normal social life to persons who have spent a period of service on society’s boundaries.“ Ebd., S. 314. 368 Ahrens: Außenseiter und Agent, S. 17. 369 Erikson: Notes, S. 309. In gleicher Form argumentiert er auch in seinem bereits zitierten Werk Die widerspenstigen Puritaner. 370 Für Kitsuse stellt - ohne jeglichen moralischen Tenor, sondern lediglich die gesellschaftlichen Auffassungen aufgreifend - Homosexualität den Inbegriff von Devianz dar, an dem sich der 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) 81 abweichendem Verhalten und ihre soziale Reaktion auf diese. 371 Er legt den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf den verfestigenden Charakter von Etikettierungen und behält sich eine interaktionistische Sichtweise auf die Etikettierungsprozesse vor. 372 In Abgrenzung zu Becker, der eher illustrativ-plausibilisierend vorging, forschte Kitsuse empirisch-konkret. 373 In Interviews mit mehr als 700 Probanden versucht er, diverse Vorstellungen von homosexueller Devianz, das Spektrum und die Mittel zur Erhärtung eines Verdachts sowie den Umgang mit den devianten Personen bei der Bestätigungen eines Verdachts zu erfassen. Er betont dabei, dass die Konzeption von devianten Personen in „everyday life“ und situationsbedingt ausgehandelt werden würde. Aus einem fein differenzierten Blickwinkel sucht Kitsuse nachzuzeichnen, wie ein Individuum bzw. die Gesellschaft anhand von indirekten oder direkten Indikatoren oder Beweisen qua Beobachtungen eine Person als deviant zu erfassen versucht. Dabei spielen das Gerücht um die vermeintlich anomale Person, Berichte über sie, eigene Erfahrungen mit ihr, ihr Verhalten, ihre Gesten oder ihr Umgang mit anderen berüchtigten Personen eine erhebliche Rolle, die erst zu einem sensibilisierten Blick von der Gesellschaft auf den Abweichler führen: Sowohl in der Retrospektive werden nun vergangene Handlungen des Abweichlers als deviant konstituiert als auch künftige Vorgänge gemäß einer devianten Rollenerwartung als abweichend interpretiert („for suspecting [...] to be different“ 374 ): Um es mit den Worten von Kitsuse wiederzugeben: „[...] by whatever form of evidence, the imputation of homosexuality is documented by retrospective interpretations of the deviant’s behavior, a process by which the subject reinterprets the individual’s past behavior in the light oft the new information concerning his sexual deviance.“ 375 „Indirect“, „direct“ und „unmistakable“ Indikatoren, die Homosexualität verraten und „which everyone knows“, führen zu einem Uminterpretieren der unscheinbarsten Handlungen, die per se nicht Labeling Approach an einem empirischen Beispiel systematisch erproben lässt. „In the sociological and anthropological literature homosexual behavior and the societal reactions to it are conceptualized within the framework of ascribed sex statuses and the socialization of the individuals to those statuses. [...] Homosexual roles and behaviors are conceived to be inappropriate to the individual’s ascribed sex status, and thus theoretically they are defined as deviant.“ Kitsuse, John I.: Societal Reaction to Deviant Behavior: Problems of Theory and Method, in: Social Problems 9.3 (1962), S. 247-256, hier S. 249. 371 Ebd. 372 Kitsuse wirft insbesondere Becker vor, einen uniinteraktionistischen Ansatz zu vertreten, indem er noch zu sehr an dem Anker der „Norm“ festhält. Mit dieser Kritik unterstellt er Becker, noch zu sehr der Ätiologie verhangen zu sein. Siehe hierzu Spector, Malcom/ Kitsuse, John I.: Constructing Social Problems. With a New Introduction by John I. Kitsuse, New Jersey 4 2009. Keckeisen spricht bei Becker von einer „Paradigmen-Interferenz“, da er sowohl objektivistische als auch subjektivistische Auffassungen von der normativen Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit vertrat. Keckeisen: Gesellschaftliche Definition, S. 42. 373 Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 234. Ein Vorwurf, den auch Kitsuse Lemert mit den Worten unterstellte: „The discrepancy between the theoretically hypothesized and empirically observable societal reaction is also noted by Lemert.“ Kitsuse: Societal Reaction, S. 248. 374 Ebd., S. 251. 375 Ebd., S. 253. 82 5 Methode und Aufbau der Arbeit als deviant bezeichnet werden können. Im Licht des Stigmas werden sie jedoch als verdächtig und den Verdacht bestätigend empfunden. Die Folgen können in indirekt oder direkt geäußerten Missbilligungen über die vermeintlich deviante Person münden, z. B. in Form von Beschimpfungen, erniedrigenden Gesten, aber auch Ausschluss von gesellschaftlichen Aktivitäten. Es kann allerdings auch zu körperlichen Strafen kommen - sei es durch informelle oder formelle Instanzen. Kitsuse betont jedoch, dass „the subject’s silent withdrawal from an established relationship with an alleged deviant may represent a stronger disapproval than an explicitly communicated, physically enforced sanction against a stranger, moral indignation or revulsion is not necessarily communicated to the deviant“ 376 . Obwohl beim Labeling Approach das Hauptaugenmerk auf den Aufschaukelungs- und Eskalationsprozess im interaktionistischen Wechselspiel von Aktion und Reaktion gelegt wird, schneidet er essenzielle sozialpsychologische Aspekte an. Denn dem Etikettierungsansatz liegt der problematische Mechanismus der „Selffulfilling Prophecy“ 377 nach Robert K. Merton zugrunde, der sich pauschal auf die simple Formel reduzieren lässt, dass der als abweichend Bezeichnete sich abweichend verhalten wird. 378 Dieser Mechanismus ist das zentrale Schluss- und Schlüsselelement des Circulus vitiosus im Labeling Approach und führt direkt in sozialpsychologische Gewässer. Das Konzept betont hierbei den prozessualen Wirkungscharakter von Schuldzuschreibungen, mittels derer die Identität des vermeintlichen Abweichlers sowie seine soziale Position innerhalb seines gesellschaftlichen Lebensraumes in symbolischen und/ oder direkten Kommunikationssituationen neu ausgehandelt werden. Der „Selffulfilling Prophecy“ zufolge macht sich der Betroffene immer mehr die ihm zugewiesene normabweichende Rolle zu eigen, bis eine Umkehrung zu einem normkonformen Verhalten nicht mehr möglich ist: Er akzeptiert schließlich das Attribut „kriminell“ als einen Teil seiner Persönlichkeit und handelt künftig entsprechend seinem ihm zugewiesenen Image. Dieser aktions- und reaktionsbelastete „Aufschaukelungsprozess“, den Becker als „Karrieremodell“ bezeichnet, birgt durch seine dynamische Selbstreferenzialität ein hohes Eskalationspotenzial: Die zuvor lediglich attribuierte Devianz erhält im Zuge des Internalisierungsprozesses und der damit einhergehenden Identitäts- und Verhaltensänderung bei der stigmatisierten Person einen tatsächlichen Gehalt, indem das gelabelte Individuum sich künftig deviant verhalten wird. Der Labeling Approach betont jedoch, dass nicht per se die Stigmatisierung, sondern die Einschränkung konformer Verhaltensmöglichkeiten ausschlaggebend für den identifikativen und sozialen Transformationsprozess ist. Pointiert formuliert fasst der Soziologie Siegfried Lamnek den Kern des Labeling-Ansatzes wie folgt zusammen: „Der Prozess der Entwicklung des Kriminellen ist daher ein Prozeß des Markierens, Definierens, Identifizierens, Absonderns, Beschreibens, Hervorhebens und 376 Ebd., S. 254. 377 Zur Kritik siehe Trotha: Ethnomethodologie. 378 Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 230. 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) 83 des Wachrufens eines entsprechenden Bewußtseins in ihm und in der Gesellschaft. Er wird zu einer Art des Stimulierens, Suggerierens, des Hervorhebens und des Hervorrufens gerade der Charakterzüge, deren man den Kriminellen beschuldigt. Das Individuum übernimmt die ihm zugeschriebene Rolle.“ 379 Das interaktionistische „Karriere-“ und Eskalationsmodell berührt folglich höchst ontologische Fragen nach den kohärenten Spannungsfeldern von kollektiver Identität und Individualität, Rollenerwartungen und Selbstbehauptung, Fremdbestimmung und Selbstverwirklichung. Damit ist unweigerlich ein Themenfeld betreten, das eine kurze, aber nähere Auseinandersetzung mit dem sozialpsychologischen Identitätsdiskurs verlangt. Die klassischen Ansätze der Neuen Devianzsoziologie nutzen den Begriff der „Identität“ ohne nähere Erläuterung seiner semantischen Verwendung, obwohl das „seelische Phänomen“ 380 bis in die heutige Zeit keine einheitliche und allgemeingültige Bestimmung erfahren hat. 381 Die besondere Problematik, die mit einer konkreten Begriffsbestimmung einhergeht, 382 rührt daher, dass das Wort zunächst ein Abstraktum darstellt. 383 Streng analytisch betrachtet, existiert die eine Form von Identität nicht. Sie ist ein komplexes Konstrukt aus vielen Einzelelementen, dessen Kerngerüst auf eine Kohärenz zwischen den vertikalen (personalen, biografischen) und horizontalen (sozialen) Ebenen heruntergebrochen werden kann. 384 Diese Ebenen können freilich noch feiner ausdifferenziert werden: von einer geschlechtsspezifischen, kulturellen, beruflichen, religiösen und ethnischen Identität bis hin zu einer individuell lebensgeschichtlichen, die persönliche Eindrücke und Erinnerungen einschließt. Diese idealtypischen Trennungen gelten selbstverständlich nur in der Theorie, denn das Individuum versucht stets, die sich ergänzenden oder teils widerstreitenden Identitätsparts „auszubalancieren“ und in Einklang zu bringen. Insbesondere der letztgenannte Punkt ist für das theoretische Konzept des Labeling Approach von tragender Bedeutung, indem es auf die durch Fremdeinwirkung hervor- 379 Ebd., S. 225 f. 380 Jüttemann: Persönlichkeit, S. 11. 381 „Eine allgemeingültige Definition von Identität kann es für die Neuzeit ebenso wenig geben wie für die Moderne. Siehe hierzu Göttmann, Frank: ‚Identität‘ - Überlegungen zu einem kulturwissenschaftlichen Leitbegriff, in: Langenbacher-Liebgott, Jutta/ Avon, Dominique (Hrsg.): Facteurs d’Identité. Faktoren der Identität, unter Mitarb. v. Anna-Susan Franke, Bern 2012, S. 9-26.“ Jarzebowski/ Schmale/ Leppin: Identität. 382 Peter Wagner vermerkt, dass in der sozialwissenschaftlichen Identitätsdiskussion der 1990er- Jahre eine gewisse Konfusion herrschte. Diese kritische Feststellung besitzt aktuell noch Gültigkeit. Wagner: Fest-Stellungen, S. 44. In der sozialpsychologischen Literatur wird häufig auf die Arbeit von Erik Erikson verwiesen. 383 Spätlateinischer Ursprung von „idem“ = „derselbe“ oder „dasselbe“. „Unter Identität versteht man im Sinne der Logik die vollständige Übereinstimmung einer Person oder Sache mit sich selbst: Identität meint eine zweistellige Beziehung, in der jeder Gegenstand nur zu sich selbst steht.“ Landwehr, Achim/ Stockhorst, Stefanie: Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, Paderborn 2004, S. 193. 384 Vgl. Lipp, Wolfgang: Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten (Religion in der Gesellschaft, Bd. 26), Würzburg 2010, S. 21. 84 5 Methode und Aufbau der Arbeit gerufene Verhaltens- und schließlich Identitätsveränderung nachdrücklich hinweist. Der Ansatz macht damit folgerichtig auf den prozessualen Charakter von Identität aufmerksam, die einerseits zyklisch, andererseits perspektivisch verortet ist. 385 Mit anderen Worten: Das Individuum versucht beständig, sich durch Handlungen neu zu definieren. Der Etikettierungsansatz verweist damit indirekt „vor allem auf diejenigen psychischen Prozesse, die durch Freiheit, Selbstbestimmtheit und Subjektrelevanz gekennzeichnet sind [...], in denen beispielsweise ein Mensch völlig selbstlos handelt oder auf eine äußere Zwangslage zu reagieren gezwungen ist.“ 386 Diese seelischen Identifikations- und Identitätsprozesse können treffend mit dem psychologischen Begriff der Autogenese bezeichnet werden. 387 Kurz auf die Formel des Labeling Approach übertragen: Das Individuum, dessen Identität zum einen durch die Einengung des sozialen Handlungsraumes und zum anderen durch die gesellschaftliche Schuldzuschreibung instabil geworden ist, versucht, die Identitätskrise zu überwinden, indem es sich bewusst oder unbewusst für die Annahme des Labels entscheidet und infolgedessen immer mehr in die Abwärtsspirale der Devianz gerät. Oder mit den Worten von Wolfgang Lipp: „Gerade Individuen, die die randseitige, gesellschaftlich negativ bewertete Lage, in der sie stehen, als unausweichlich erfahren, müssen dazu neigen, sich zur kriminellen Gruppe, zur Minorität oder Subkultur, der sie angehören, wie zu den eigenen, von der Umwelt wie immer als Unwert bezeichneten physischen und psychischen Besonderheiten am Ende bewußt, mit Nachdruck, zu bekennen.“ 388 Freilich kann der Labeling Approach keine exakten Angaben über Formen und Ausprägungen der sozialpsychologischen Verinnerlichungsprozesse von Rollenzuschreibungen liefern - zu groß ist die Bandbreite an Möglichkeiten und Schattierungen, deren Einfärbungen wiederum vom persönlichen Identitätskonzept des Individuums abhängig sind. Gerade dieses „Ausschweigen“, die sozusagen amorphe Gestalt des „Selffulfilling Prophecy“-Konzepts, eröffnet jedoch den Spielraum, es als ein Handwerkszeug zu nutzen, um sich den diversen Spielarten von Verinnerlichungsformen zu nähern. Als hermeneutisches und erkenntnisleitendes Element soll hierbei der Begriff der Autogenese dienen, der die „Selffulfilling Prophecy“ um den Aspekt der individuellen Subjekttätigkeit ergänzt, aber nicht ihren offen gehaltenen Ansatz semantisch eingrenzt. Der psychologische Begriff hebt lediglich den psychischen Prozess des 385 Vgl. Jüttemann: Persönlichkeit, S. 14 f. 386 Ebd., S. 11. 387 „Subjekte, wollen sie sich selbst, ihre Identität, im Fluß der Ereignisse bewahren, sind nicht nur stets angehalten, mit diesen Ereignissen mitzugehen; sie haben sie im Sinne ihrer Wertkonzepte, ihrer Erinnerungen und Ziele vielmehr in Balance zu bringen und sind so bestrebt, sie auch umzugestalten und mit neuem, ihrer Selbstverwirklichung entgegenkommendem Sinn zu durchdringen. Identität, sei es als gleichbleibend vor einem Publikum, konsistent nach außen hin darzustellen, sei es für sich selbst im Gleichgewicht zu halten und als Eigenwert fortzuschreiben, ist dem Handeln erst balancierend, als Umarbeitung und ständige Neudeutung möglich.“ Lipp: Stigma und Charisma, S. 22. 388 Ebd., S. 23. 5.1 Der Etikettierungsansatz (Labeling Approach) 85 „Sich-Entscheidens“, hier die Entscheidung zur Annahme des Hexenimages, hervor. Das Konzept der Autogenese betont die immanente Eigenlogik von psychischen Entwicklungsprozessen, indem es den erkenntnisleitenden Grundsatz zum Handlungsparadigma erhebt, dass jeder Mensch bestrebt sei, aus sich selbst und seinem Leben „das Beste“ zu machen. „Das Beste“ hat für jede Person eine unterschiedliche Bedeutung und ist somit subjektgebunden und -definiert. Diese konstitutive Anmerkung ist für diesen Interpretationszusammenhang wegweisend. Denn selbst Handlungen, die sowohl in der Frühen Neuzeit als auch in der Gegenwart als irrational oder gar absurd gelten, erhalten unter dem Blickwinkel des Autogenese-Konzepts eine plausible Eigenlogik und Rationalität. Jüttemann führt hierzu näher aus: „Der Begriff Autogenese verweist vor allem auf diejenigen psychischen Prozesse, die durch Freiheit, Selbstbestimmtheit und Subjektrelevanz gekennzeichnet sind, trifft also auch auf Situationen zu, in denen beispielsweise ein Mensch völlig selbstlos handelt oder auf eine äußere Zwangslage zu reagieren gezwungen ist. Akte von Selbstschädigung oder der Entschluss, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, stellen ebenfalls keine Ausnahmen dar. Die Behauptung, es handele sich auch beim Suizid um eine Form von Selbstgestaltung, mag vielleicht zynisch klingen. Vergegenwärtigen wir uns in diesem Kontext aber einmal die Figur eines Selbstmordattentäters, dann wird klar, dass hier zweifellos ein spezifischer Typus von Autogenese vorliegt, da der Handelnde durchaus die Überzeugung vertritt, aus sich selbst und seinem Leben ‚das Beste‘ gemacht zu haben. [...] Der Mensch unternimmt nichts, was ihm nicht in irgendeiner Hinsicht als wünschenswert erscheint, auch wenn es dabei um etwas Unangenehmes geht. Alles, was eine Person will, muss letzten Endes auch ihr eigenes Interesse berühren [...].“ 389 Wird dieser Interpretationsrahmen auf das Hexenphänomen transferiert, fordert er die Hexenforschung auf, sich von den älteren Deutungsmustern zu lösen, in neuen Bahnen zu denken und die „habituelle Selbstinszenierung“ der Angeklagten in einem neuen Licht zu sehen. In seiner logischen Radikalität gibt er Raum für bisher von der Forschung abgelehnte Interpretationsmodelle und greift sogar die provokante Frage auf, ob manche Delinquenten nicht doch ihre Exekution herbeiwünschten. 390 Mit Blick auf die hier konstatierten Befunde und insbesondere den biografischen Erfahrungshintergrund der Deüffelskinder lädt der sozialpsychologische Ansatz der Autogenese, gepaart mit dem Labeling Approach, dazu ein, sich ungescheut und unvorbelastet mit einem herausfordernden Fragekatalog den Handlungsweisen der Stigmatisierten zu nähern. 389 Jüttemann: Persönlichkeit, S. 11 f. 390 Vgl. Beck: Der Teufel im Verhörlokal, S. 380. 86 5 Methode und Aufbau der Arbeit 5.2 Konzeptionelle Überlegungen Da das frühneuzeitliche Hexereidelikt in diesem Forschungsprojekt eher als Erprobung für einen devianzsoziologischen Ansatz dient, ist die Untersuchung in erster Linie der Historischen Kriminalitätsforschung zuzuordnen. Dieser Forschungszweig ist ein Teilbereich der allgemeinen Sozialgeschichte und „untersucht abweichendes Verhalten in der Vergangenheit im Spannungsfeld von Normen, Instanzen und Medien sozialer Kontrolle [...]“. 391 Folglich gilt es auf der einen Seite dem bilateralen und dynamisch-interaktiven Anspruch des Labeling-Konzepts, auf der anderen dem interdisziplinären und multiperspektivischen Zugang der Kriminalitätsgeschichte 392 gerecht zu werden. Daher müssen beide Forschungsdisziplinen in eine wechselseitige und komplementäre Beziehung gesetzt werden, indem eine mikrohistorische und komparative Vorgehensweise erfolgt. Das mikroskopische „Heranzoomen“ in das soziale Geschehen erlaubt, das Delikt der Hexerei und deren Akteure sowohl in einen kontextuellen Zusammenhang als auch in deren soziale Lebenswelt 393 einzubetten: Ergo können soziale und rechtliche Praktiken, interaktionistische Umgangs- und Verhaltensformen sowie mentale Verortungen anschaulich herauskristallisiert werden, um zu fundierten Aufschlüssen über die symbolische und rechtliche Grenzziehung zwischen legitimen und illegitimen Handlungsweisen sowie den situations- und personengebundenen Toleranzschwellen 391 Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 12. 392 „‚Kriminalität‘ wird in der Gegenwart definiert als ‚die Summe aller strafrechtlichen missbilligten Handlungen‘. Was ‚kriminell‘ ist und wie es bestraft werden soll, bestimmt mithin eine präzise Rechtsnorm. Bezüge auf das Recht sind auch für den Kriminalitätshistoriker unvermeidlich, aber er versteht seine Arbeit vor allem als Teil einer allgemeinen Sozial- und Kulturgeschichte und nutzt Kriminalität als Lackmus-Test für Verhaltensformen und Wahrnehmungen in vergangenen Gesellschaften. ‚Kriminalität‘ ist dabei eine Chiffre für die verschiedensten Varianten abweichenden Verhaltens, also auch der ‚kleinen‘, alltäglichen Delinquenz. Die von ihm ins Auge gefassten Normen umfassen nicht lediglich das Strafrecht, noch nicht einmal nur alle Formen geschriebener Normen [...], sondern auch jene ungeschriebenen Gesetze, die sich oft aus den Quellen nur indirekt erschließen lassen. [...] Wer mit einem so weiten Netz von Begriffen auf die Jagd nach historischer Erkenntnis geht, kann sich sehr unterschiedlichen Problemen und sozialen Milieus zuwenden.“ Ders.: Karrieren im Schatten des Galgens. Räuber, Diebe und Betrüger um 1500. Kriminalitätsgeschichte - Blicke auf die Ränder und das Zentrum vergangener Gesellschaften, in: Schmitt, Sigrid/ Matheus, Michael (Hrsg.): Kriminalität und Gesellschaft in Spätmittelalter und Neuzeit (Mainzer Vorträge, Bd. 8), Stuttgart 2005, S. 11-46, hier S. 11 f. 393 Ohne näher auf die begriffliche Diskussion einzugehen, sei an dieser Stelle auf die Debatte um das terminologische Erfassen des Repetitiven (Alltag) und gleichzeitig Wandelbaren (Erfahrung) im Alltag verwiesen. Lüdtke, Alf: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M. und New York 1989. Zudem der kritische Beitrag von Tenfelde, Klaus: Schwierigkeiten mit dem Alltag, in: Geschichte und Gesellschaft 10.3 (1984), S. 376-394 und Borscheid, Peter: Alltagsgeschichte - Modetorheit oder neues Tor zur Vergangenheit, in: Schieder, Wolfgang/ Sellin, Volker (Hrsg.): Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang. Band III: Soziales Verhalten und soziale Aktionsformen in der Geschichte, Göttingen 1987, S. 78-100 sowie Steinbach, Peter: Geschichte des Alltags - Alltagsgeschichte. Erkenntnisinteresse, Möglichkeiten und Grenzen eines „neuen“ Zugangs zur Geschichte, in: Neue Politische Literatur 31.2 (1986), S. 249-273. Siehe auch die Einleitung von Münch (Hrsg.): „Erfahrung“. 5.2 Konzeptionelle Überlegungen 87 zu gelangen. 394 Die mikroskopische Erforschung des sozialen Milieus fördert somit ein feingliedriges Geflecht zutage, das zum einen sowohl der Gemeinde, zum anderen den Tätern und den Opfern schärfere Konturen verleiht: Somit treten plastisch die individuellen und kollektiven Biografien der Einzelpersonen und „Hexensippen“ hervor, ihre formellen und informellen Handlungsmöglichkeiten vor und nach der Ausbreitung des Hexengerüchts sowie die diversen Attribuierungen und Umgangsformen der Kläger mit den Angeklagten. Auf Basis dieser methodischen Vorgehensweise ergibt sich ein Zugriff auf das regionalspezifische Verständnis, was bzw. wer eine Hexe nach der Ansicht der Gemeinde und Obrigkeit ist und in welchen Situationen eine Person zu einem solchen „Unwesen“ wird. Diese grob umrissene konzeptuelle Herangehensweise verdeutlicht, dass Hexenprozesse in dieser Arbeit nicht losgelöst und isoliert von ihrem sozialen Milieu betrachtet werden. Vielmehr werden sie als Teil eines größeren Ganzen verstanden, dessen einzelne gesellschaftlich-soziale, ökonomische, rechtliche, politische und moralische Mechanismen zusammengesetzt und aufeinander bezogen mögliche Antworten auf das berühmte „Warum“ und wenig beachtete „Wie“ ergeben können. 395 Damit führt dieses Projekt in die jeweiligen Bereiche der frühneuzeitlichen Kultur, die mit einem Spektrum an Begriffen zusammenhängt, die sich, wie Gerd Schwerhoff formuliert, in einem „Nebel von Unbestimmbarkeit und Verworrenheit“ 396 befinden: „Gesellschaft“, „Kommunikation“, „Wahrnehmung“, „Ehre“, „Selbstbild“, „Normen“, „Toleranz“, „Abweichung“, „Stigmatisierung“, „Strafe“, „Schande“, „Unehre“ etc. Diese Leitbegriffe sind schwer semantisch zu erfassen, da sie flexibel, teilweise miteinander konkurrierend, verwoben und in einem kontextabhängigen Code zusammenstehen, jedoch für die Rekonstruktion der regionalen Eigenarten zwingend notwendig sind. 397 Es soll allerdings keine holzschnittartige Wiedergabe erfolgen. Ganz im Sinne der historischen (Kultur-)Anthropologie, die auf Bourdieus Konzept des „Habitus“ beruht, wird nach dem Sinn sozialen Handelns gefragt, um zu einer größeren Tiefenschärfe 394 Über illegitime und legitime Gewaltdelikte siehe hierzu den Aufsatz von Pröve, Ralf: Violentia und Potestas. Perzeptionsprobleme von Gewalt in den Söldnertagebüchern des 17. Jahrhunderts, in: Meumann, Markus/ Niefanger, Dirk (Hrsg.): Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 24-42. 395 So auch Walter Rummel: „Vom Wirken des Alltags in Hexenprozessen und von der ‚Hexerei‘ im Alltag zu sprechen heißt, das soziale Umfeld der Verfolgungen in Betracht zu nehmen. Es sind dabei auch Verhältnisse und Geschehnisse zu berücksichtigen, die mit den Verfolgungen auf den ersten Blick weniger oder gar nichts zu tun haben.“ Rummel, Walter: Vom Umgang mit Hexen und Hexerei. Das Wirken des Alltags in Hexenprozessen und die alltägliche Bedeutung des Hexenthemas, in: Franz/ Irsigler (Hrsg.): Methoden und Konzepte, S. 79-108, hier S. 79. 396 Schwerhoff: Verordnete Schande? , S. 183. 397 „[...] die Wissenschaft soll, um objektiv zu sein, nicht von Begriffen ausgehen, die ohne ihr Zutun gebildet wurden, sondern die Elemente ihrer grundlegenden Definition unmittelbar dem sinnlich Gegebenen entlehnen. Man muß sich nur klar vorstellen, worin die wissenschaftliche Arbeit eigentlich besteht, um einzusehen, daß die Wissenschaft nicht gut anders verfahren kann.“ Durkheim, Emile: Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet von René König, Darmstadt und Neuwied 6 1980, S. 138. 88 5 Methode und Aufbau der Arbeit der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die die „soziale Wirklichkeit“ bedingen, zu gelangen. Es gilt also folglich, die bisher traditionell getrennt voneinander betrachteten Quellengattungen - „normale“ Kriminalquellen und „außergewöhnliche“ Hexenprozessakten - in einen gezielten Dialog zu setzen, zu analysieren und zu interpretieren, um einer einseitigen und verengenden Perspektive entgegenzuwirken. Die Summe der vereinzelten und weit verstreuten Angaben im Quellenmaterial ergibt somit zusammengefasst ein differenziertes und tiefgehendes Bild der fürstenbergischen Gesellschaft und ihrer Individuen. Eine fundierte Interpretation auf Basis des „close-reading“ scheint m. E. in diesem Analyserahmen die erfolgversprechendste Methode zu sein, um Schicht für Schicht das hochkomplexe Phänomen des Hexen-Machens abtragen zu können. Dieser Ausgangspunkt begründet die bewusste Ablehnung eines geschlossenen, eindimensionalen Blickwinkels, der dem historischen Material und Untersuchungsgegenstand schlichtweg nicht gerecht werden würde. Die Quellen geben folglich die Auswahl und Richtung für den zu behandelnden thematischen Stoff vor, der von der Rechts-, Kultur- und Alltagsgeschichte bis hin zur Gender-Forschung etc. reicht. Der konzeptionelle Aufbau dieser Arbeit gleicht einem Blick durchs Mikroskop. Stück für Stück wird näher an das soziale Geschehen herangezoomt, um zu den subtilen Spuren zu gelangen, die sonst unentdeckt blieben. 398 Das heißt, die einzelnen Verfahrensschritte führen zu den sozialen Determinanten 399 im interaktionistischen Wechselspiel des Hexen-Machens: Im II. Teil dieser Arbeit wird auf einer breiten Basis der Literatur und des gesichteten Archivmaterials allgemein der Ort Fürstenberg in groben Facetten vorgestellt, wobei seine geografische Lage und sein Klima ebenso berücksichtigt werden wie die bäuerliche Sozial- und Organisationsstruktur. Im weiteren Verlauf der Studie verengt sich der Blick zunehmend auf das fürstenbergische Samtgericht, seine personelle Konstellation und Verfahrenspraktika sowohl in Bagatelldelikten als auch bei Schwerverbrechen, worunter auch das Hexereidelikt zu zählen ist. Der III. Teil steht ganz im Zeichen des lokalen Hexenphänomens. Dabei erlaubt die systematische Einbettung des Hexenverbrechens in die fürstenbergische Gesamtkriminalität und strafrechtliche Verfahrenspraxis mit Hilfe eines komparativen Ansatzes, die besonderen Eigenheiten der lokalen Strafjustiz im Hexenprozess herauszuarbeiten. Auf diese Weise können die rechtlichen Handlungsräume der Kläger und Angeklagten schärfer konturiert werden. Dieser Analyseschritt ist unabdinglich, um 398 Ulbricht, Otto: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2009. Ebenso Medick: Mikro-Historie. Siehe auch Ginzburg, Carlo: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, aus dem Italienischen übers. v. Gisela Bonz/ Karl F. Hauber, Berlin 4 2011. 399 Anregend hierfür war der Aufsatz von Mommertz, Monika: Von Besen und Bündelchen, Brandmahlen und Befehdungsschreiben. Semantiken der Gewalt und die historiographische Entzifferung von „Fehde“-Praktiken in einer ländlichen Gesellschaft, in: Eriksson, Magnus/ Krug-Richter, Barbara (Hrsg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.-19. Jahrhundert) (Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft, Bd. 2), Köln, Weimar und Wien 2003, S. 197-248, hier S. 217. 5.2 Konzeptionelle Überlegungen 89 die brisante Frage nach der verfahrenstechnischen Einordnung des Hexenprozesses (processus extraordinarius? ) in Fürstenberg beantworten zu können. Anschließend gilt es, das lokale Hexenverständnis plastisch hervortreten zu lassen, damit das „Superverbrechen“ nicht in pauschalen und amorphen Formeln versinkt, sondern plastisch greifbar wird. Im IV. Teil soll den Opfern der Hexenverfolgung ein „Gesicht“ verliehen werden, d. h., die kollektiven Biografien der „Hexensippen“ und ihre strukturellen Netzwerke werden systematisch durchleuchtet. Schließlich werden in einem letzten Schritt (V. Teil) die empirischen Befunde in Dialog zum devianzsoziologischen Konzept des Labeling Approach gesetzt, um zum scheinbar irrationalen Hexenphänomen einen verstehend-nachvollziehbaren Zugang zu gewinnen. Im Schluss (VI. Teil) soll nach dem verallgemeinerungsfähigen Charakter der Arbeitsergebnisse gefragt werden. Um möglichst authentisch in die Welt der Teufelskinder „eintauchen“ zu können, werden die hier verwendeten Quellenzitate in der Originalsprache wiedergegeben. Lediglich wenn der Lesefluss durch fehlende Zeichensetzungen gestört oder inhaltliche Verständnisschwierigkeiten vorlagen, wurden Ergänzungen eingefügt, die mit eckigen Klammern kenntlich gemacht sind. Teil II Lebensraum Dorf 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive Eine historische „Dorfgeschichte“ 400 über Fürstenberg zu schreiben, soll dem Leser nicht etwa suggerieren, gleichsam einen modellhaften Prototyp eines Dorfes im Paderborner Raum vorzustellen. 401 In Anbetracht der zeitlichen und quellenmäßigen Einschränkung auf den Einzelfall „Fürstenberg“ wäre ein solches Unternehmen auch nicht erfolgversprechend. Denn der erkenntnisleitende Anspruch, langfristige diachrone Entwicklungslinien eines Dorfes nachzuzeichnen, kann zumindest in dieser Studie nicht erfüllt werden. In diesem Abschnitt wird das Ziel verfolgt, nicht vorschnell auf Verallgemeinerungen in der Literatur zurückzugreifen und diese lediglich über den Untersuchungsgegenstand zu „stülpen“, sondern ein quellenbasiertes Bild des lokalen und alltäglichen Betriebes der fürstenbergischen Gemeinde im 17. Jahrhundert zu skizzieren. Hierbei dürfen wichtige erkenntnisleitende Aspekte wie die Gründungsgeschichte, kommunale und herrschaftliche Organisationsstrukturen, aber auch die geomorphologischen und klimatischen Spezifika der Region sowie ihre Topografie nicht außer Acht gelassen werden. Um die frühneuzeitliche Gemeinde Fürstenberg mit ihren lokalen Eigenarten vorstellen zu können, sind zusätzlich Themen wie Nachbarschaft, Gemeinschaft, Geselligkeit, Kommunikation, Wahrnehmung, Wertvorstellungen, Mentalitäten, Interaktionen, Streitkultur, Gewalt, Delikte, Arbeit, ländliche Ökonomie, Herrschaft, Rechtspraxis etc. von besonderer Relevanz. Aufgrund der Komplexität des Vorhabens kann nicht jede Thematik in der Ausführlichkeit behandelt werden, die ihr gebührt. Einige Themensektionen weisen daher den Charakter einer Skizze auf. Indessen wird eine detailliertere Auseinandersetzung mit den Themenfeldern vorgenommen, die von besonderem Erkenntnisgewinn für die Erhellung des in dieser Arbeit gewählten Forschungsschwerpunktes sind: die Hexenverfolgungen in Fürstenberg. Im Mittelpunkt dieses Untersuchungsabschnittes „Dorfgeschichte“ soll daher die fürstenbergische Kriminalität im 17. Jahrhundert stehen. Die analytische Konzentration auf die lokalen Deliktfelder hilft dabei, in einem späteren Abschnitt mittels eines methodischen Vergleichs das lokale Hexenverbrechen schärfer zu konturieren. Um dem Leser eine geordnete Übersicht und eine Orientierung für den inhaltlichen Grad der Vertiefung zu ermöglichen, sind die folgenden 400 Vgl. Hahl, Werner: Art. „Dorfgeschichte“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0799000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 401 Vgl. Rothe, Hans Werner: Zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft im Schaumburger Land: Lindhorst, mit einem Nachw. v. Karl H. Schneider (Schaumburger Studien, Heft 56), Knoth 1998, S. V. 94 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive Kapitel stufenartig angelegt: 1. Eine Untersuchung aus der Vogelperspektive liefert einige grundlegende Eckdaten über das Dorf Fürstenberg. 2. In einer darauffolgenden Nahaufnahme werden die topografische Lage der Gemeinde und ihre politische wie ökonomische Organisationsstruktur tiefer gehend durchleuchtet. Schließlich erfolgt 3. eine Analyse der lokalen „Verbrechen“ im Detail. Aufgrund der geringeren Informationsdichte im ersten und zweiten Abschnitt soll auf ein jeweiliges Einzelresümee dieser Teilkapitel verzichtet und die Ergebnisse in einem Gesamtzwischenfazit zusammengetragen werden. Hingegen ist für den dritten Abschnitt wegen seiner ausführlich und intensiv behandelten Thematik ein separates Zwischenfazit vorgesehen. 6.1 Ortsobrigkeit und Untertanen Dorf und Gemarkung Fürstenberg gehörten seit ihrer Gründung vom Hochmittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein zum Hochstift Paderborn. Die Siedlung, die an der Schnittstelle der drei im Mittelalter wüst gefallenen Distrikte Eilern, Vesperthe und Dorsloh errichtet worden war, galt im 17. Jahrhundert als Mittelpunkt des Sintfeldes. 402 Der Ortskern wurde auf einem Kalkplateau der Paderborner Hochfläche errichtet und besitzt durch zwei Seitentälchen des Baches „Karpke“ eine strategisch günstige Spornlage. Die erste urkundliche Erwähnung der Vorstenburg ist für das Jahr 1325 dokumentiert. Vom Paderborner Fürstbischof Bernhard V. als Gegengründung zur von den Edelherren von Büren um 1300 erbauten Burg und Stadt Wünnenberg gedacht, übertrug er 1326 die Burgverwaltung, Rechtsprechung sowie Schutzpflicht diversen Adelsfamilien. Sie sollten einerseits die Handelsrouten sichern, andererseits ein territoriales Eindringen des hessischen Landgrafen rechtzeitig abwehren. 403 Zum Ende des 14. Jahrhunderts hin wurde die Burg Fürstenberg im Zuge der Bengeler Fehde im Sintfeld mehrfach belagert und beinahe vollständig zerstört. 404 Rund fünfzig Jahre lang sollte die Siedlungslandschaft um Fürstenberg wüst bleiben, bis 1446 die Herren von Westphalen wegen besonderer Verdienste in der Soester Fehde vom Paderborner Landesherrn mit der Vorstenburg belehnt wurden. 405 Bereits 1379 hatten sie vom Fürstbischof die nahe gelegene Stadt Wünnenberg 406 als Pfand erhalten sowie 402 Vgl. Henkel: Geschichte und Geographie, S. 151. 403 Vgl. Bader, Dieter: Die Freiheit Fürstenberg. Mit einer kommentierten Übertragung des Bundbriefes, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 195-218, hier S. 195. Siehe auch Henkel: Geschichte und Geographie, S. 150 und Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 16. 404 Vgl. Graf von Westphalen zu Fürstenberg: Schloß Fürstenberg. 405 Siehe hierzu Bruns, Alfred: Stadt Wünnenberg. Dokumente 1217-1779. Urkunden aus dem Graf von Westphalen’schen Archiv, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Wünnenberg 1987, Quelle B 700, S. 25. 406 Damit übten die westphälischen Adelsherren die Niedere Gerichtsbarkeit in der Stadt Wünnenberg und über die zum Amt zugehörigen Siedlungen Leiberg und Bleiwäsche bis zur Pfandauflösung des Amtes Wünnenberg im Jahr 1656 aus. Der Vertragstext ist abgedruckt bei Gorges, Max: Beiträge zur Geschichte des ehemaligen Hochstifts Paderborn. im 17. Jahrhundert unter Dietrich 6.1 Ortsobrigkeit und Untertanen 95 das Recht zu deren Nießbrauch. 407 Mit dem Lehen Vorstenburg sollten dem westphälischen Adelsgeschlecht noch weitreichendere Privilegien zugebilligt werden: Die Adelsherren erhielten über die Wüstung uneingeschränkte Herrschaftsrechte sowie die private Gerichtsbarkeit in Form des Patrimonialrechts, d. h., sie waren in Fürstenberg sowohl für Zivilals auch Strafsachen zuständig. Zwei Jahre nach Erhalt des Lehens begannen die Westphälinge mit dem Wiederaufbau der Burg und der Rekultivierung der in der Umgebung „herrenlos“ liegenden Äcker. 408 Um potenzielle Neusiedler anzuwerben, setzten sie eine Urkunde auf, in der den künftigen Bewohnern weiträumige Rechte zugesichert wurden. In der regionalgeschichtlichen Literatur wird dieser Moment häufig als historischer „Neubeginn“ gefeiert, der der gegenwärtigen Gemeinde Fürstenberg bezüglich ihrer Adolf von der Reck, in: Westfälische Zeitschrift - Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 50 (1892), S. 1-114, hier insb. S. 101-108. Obwohl Essentho nicht zum Amt Wünnenberg gehörte, sondern der Gerichtsbarkeit des Adelsgeschlechts von Plettenberg-Lenhausen unterstand, verwalteten die Herren von Westphalen teilweise auch hier die Jurisdiktion. Ein Hinweis für diese Handlungspraxis gibt eine erhalten gebliebene Supplik von 1646. Wegen kursierender Hexengerüchte und einem massenhaften Pferdesterben wendeten sich die Dorfvorsteher mit der Bitte um eine Hexenprozesseröffnung an den Drosten Wilhelm von Westphalen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. Siehe auch Krus, Horst-D.: Verwaltung und Rechtspflege im Raum Wünnenberg in Grundzügen und Beispielen, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 67-148, hier S. 74. Die Herren von Westphalen waren in der Frühen Neuzeit treue Anhänger des katholischen Fürstbischofs zu Paderborn und Kurköln. Im Dreißigjährigen Krieg kam es jedoch zu religiösen Spaltungen innerhalb der weitverzweigten Adelsfamilie. Siehe hierzu Neuwöhner (Hrsg.): Im Zeichen des Mars, S. 289 f. Zur Familiengeschichte und ihren sozialen Netzwerken vergleiche das Personenregister in Müller, Andreas: Die Ritterschaft im Herzogtum Westfalen 1651-1803. Aufschwörung, innere Struktur und Prosopographie (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Neue Folge, Bd. 34), Münster 2017. Aufgrund der gewinnbringenden Einträge aus dem Amt Wünnenberg forderte der Paderborner Landesherr zur Aufbesserung seiner Einkünfte - so wird jedenfalls in regionalgeschichtlichen Studien spekuliert - 1596 die Einlösung der Pfandschaft Wünnenberg. Die Herren von Westphalen versuchten, die Pfandeinlösung abzuwehren, indem sie auf die besonderen Verdienste ihrer Vorfahren gegenüber dem Paderborner Fürstbischof sowie ihre beständige Treue zum Landesherrn, die zusätzlich durch Ehebündnisse bekräftigt worden war, hinwiesen. Um ihr Ansehen beim gemeinen Mann nicht verlustig zu werden, baten die Westphälinge, von der Pfandeinlösung abzusehen. Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 367, S. 47. Über fünfzig Jahre lang konnten die Adelsherren die landesherrliche Forderung abweisen. Im Jahr 1656 wurde das Pfand schließlich endgültig eingelöst. Inwieweit die Gemeinde Fürstenberg von dieser ökonomischen und politischen Schwächung ihrer Ortsobrigkeit betroffen war, ist bisher in der einschlägigen Literatur nicht thematisiert worden. 407 Durch den Belehnungsakt (Investitur) waren beide, der Lehnsherr und der Vasall, zu einem wechselseitigen Treueverhältnis verpflichtet worden. Siehe hierzu Schnettger, Matthias/ Tresp, Uwe: Art. „Lehnswesen“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a2456000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 408 Henkel: Geschichte und Geographie, S. 152. Während die Herren von Westphalen von Süden her das Sintfeld zu kultivieren versuchten, drangen vom Nordwesten und Nordosten das Augustiner-Chorherren-Kloster „Böddeken“ und seine Tochtergründung „Dalheim“ auf die fruchtbare Hochfläche vor. Zwischen den beiden Klöstern und der Adelsfamilie kam es wiederholt zu langwierigen Rechtsstreitigkeiten um die Gemarkungsgrenzen, die mehrere Jahrhunderte andauerten. Nachzulesen bei Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 380, S. 50 ff. 96 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive rechtlichen und kulturellen Verortung nachhaltig seinen Stempel aufdrückte. Das Schriftstück gilt als das wichtigste Dokument in der lokalen Dorfgeschichte. Im sogenannten „Bundbrief“ wurde die Freyheit tor Forstenberg begründet. Dieser soll aufgrund seiner Bedeutung für die Rechtsposition der Gemeinde stichpunktartig wiedergegeben werden. 409 In dieser Gründungsurkunde legten die westphälischen Adelsherren einerseits die Abgaben sowie Frondienste und andererseits die Rechte der künftigen Ansiedler fest: 410 Vollspänner sollten an sechs Tagen im Jahr Hand- und Spanndienste leisten, Häusler hingegen an dreien; 411 zu Fastnacht habe jede Herd- und Feuerstelle ein Huhn und zu Ostern vierzig Eier zukommen zu lassen; von jedem gesäten Morgen Land sei ein Scheffel Frucht zu Michaelis abzuliefern (Heuer) sowie der Zehnte auf den Feldern liegen zu lassen; wer einen ganzen Garten besitze, solle der Obrigkeit ein Pfund Wachs geben. Neu Hinzugezogene wurden für zwei Jahre von den erwähnten Gefällen befreit, außer vom Zehnten und vom gebotenen Dienst. Diejenigen Bauern, die Waldflächen urbar machten, brauchten sechs Jahre weder Pacht noch Zehnt geben, und wer wüste Äcker bewirtschafte, sollte lediglich eine gemäßigte Heuer an die Adelsherren liefern (worüber er mit uns einig werden muß [...] 412 ). 413 Als Gegenleistung versprachen die Herren von Westphalen, der Gemeinde einen Richter zu setzen, so daß jeder, der mit einem anderen etwas zu schaffen hat, die Möglichkeit hat, diesen vor Gericht zu verklagen 414 , und verzichteten darüber hinaus auf die Leibeigenschaft: Jeder künftige Einwohner solle frei, ungebunden und los von uns ziehen, wann immer [ihn] das gelüstet, ohne Einsprache und ungehindert von uns und unseren Erben [...] 415 . Ferner wurde den Einwohnern gestattet, die Allmende in Holz und Wald, Wasser und Weide frei zu gebrauchen im selben Maße wie wir 409 Über Jahrhunderte wurde das Dokument im Archiv der Gemeinde aufbewahrt. Noch 1606 attestierte der Bürgermeister und der Rat der Stadt Wünnenberg, dass der Bundbrief von 1449 in verflossenen Zeiten von ihnen aufbewahrt worden und in den kriegerischen Zeiten 3 Siegel abgerissen und nur noch 3 Siegel daran befindlich seien. Z. n. Brunnstein: Denkschrift, S. 16. Seit den 1960er-Jahren gilt die Urkunde allerdings als verschollen. Eine buchstabengetreue Abschrift des Bundbriefes mit Anmerkungen ist bei Bader: Freiheit Fürstenberg, S. 198-202 zu finden. 410 „Dieser Bundbrief, der ein für damalige Zeiten ungewöhnlich ausgewogenes Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten der im Vertrag aufgeführten Personengruppen erkennen läßt, war ein maßgeblicher Grund für die erfolgreiche Wiederbesiedlung des Fürstenberger Raumes. Er gewährte den Bewohnern des Ortes Freiheiten und Vorrechte, die sonst nur die Bürger der Städte genießen konnten. Es wurde dieser Siedlung also eine Art Minderstadtrecht verliehen.“ Ebd., S. 202. 411 Bader vermerkt, dass bis 1793 die Vollmeier in Marienmünster im Gegensatz zu Fürstenberg 28 Tage im Jahr mehr Dienste zu leisten hatten. 412 Ebd., S. 201. 413 Neben den obrigkeitlichen Diensten und Abgaben waren selbstverständlich auch landesherrliche zu leisten. 414 Vortmer scholn unde willen wy en eynen richter setten, so dat eyn iuwelik, de diar mit dem andern to donde hebbe, magh den mit gerychte vorderen [...]. Z. n. Bader: Freiheit Fürstenberg, S. 200. 415 Unde alle de jenne, de so myt uns wonet, offte wonende werdet, mogen weddir fryg, ledich unde loß van uns theyn, wenner se dez gelustet, sunder unse offte unsir erven weddersagge, ungelettet [...]. Z. n. ebd., S. 201. 6.1 Ortsobrigkeit und Untertanen 97 selbst 416 . Der freie Gebrauch des Holzes war ein äußerst attraktives Zugeständnis der Obrigkeit an die Gemeinde, denn es galt sowohl im Mittelalter als auch in der Frühen Neuzeit als einer der wichtigsten Rohstoffe für den täglichen Lebens- und Verbrauchsbedarf. 417 Als Brenn-, Bau-, Reparatur- und Geschirrholz war dieser natürliche Rohstoff unverzichtbar. Als jedoch die Bevölkerung in Fürstenberg anwuchs und damit einhergehend der Holzbedarf anstieg, war der Wald durch diese unbeschränkte und ungeregelte Holz-Nutzung [...] sehr heruntergekommen 418 . Die Ortsobrigkeit versuchte wohl zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch eine Forstaufsicht (Holtzfürsten) und verschiedene Anordnungen, die zusätzlich durch die landesherrliche Paderborner Holzordnung von 1669 untermauert wurden, den Holzgebrauch zu limitieren und zu reglementieren. Jedoch führten diese Bemühungen zu einem fast zwei Jahrhunderte bestehenden Rechtsstreit zwischen Gemeinde und Obrigkeit, der erst im Jahr 1796 beigelegt wurde. 419 Schließlich gelobten die Herren von Westphalen, unsere Mitbewohner, zuverläßlich, beständig und unverbrüchlich zu halten ohne Arglist 420 sowie getreulich zu beschützen, [zu] vertreten vor Gericht und gegen jedermann [zu] verteidigen, wie immer es uns möglich ist und wir können 421 . Im Hinblick auf die Hexenprozesse und die Rechtslage der als Hexen und Hexer angeklagten Personen enthält das letzte Zitat eine bedeutende Schlüsselinformation. Denn zum einen wurden den vermeintlichen Delinquenten zumindest in formeller Hinsicht großräumig juristische Handlungsmöglichkeiten zugebilligt, und zum anderen verpflichteten sich die Herren von Westphalen, jedem Anwohner zu Fürstenberg ihren persönlichen Rechtsbeistand zu gewähren. 422 Angesichts der günstigen Wirtschafts- und Rechtsverhältnisse für die Neuanwohner mag es nicht verwundern, dass bereits in den ersten hundert Jahren Fürstenberg einen rapiden Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen hatte. In der Frühen Neuzeit galt es als eines der dichtbesiedelsten Gebiete auf dem Sintfeld und darf durchaus treffend als „Großdorf“ bezeichnet werden. 423 Nach den Berechnungen von Paul Schäfer 416 [...] gelyk uns sellfs, [...]. Z. n. ebd. 417 Vgl. Bleidick, Dietmar/ Holbach, Rudolf/ Selter, Bernward: Art. „Holz“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1735000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 418 Brunnstein: Denkschrift, S. 18. 419 In Folge der Vergleichsverhandlungen führte die Ortsobrigkeit 1714 den sogenannten „Drittpfennig“ ein, d. h. bei Subhastationen von Gebäuden musste 1/ 3 des Kaufpreises an die Herren von Westpahlen gezahlt werden. Vgl. hierzu ebd. 420 [...] unsen medewoners, geloifflich, stede, vast unde unverbroiken to hoildende an arge list. Z. n. Bader: Freiheit Fürstenberg, S. 202. 421 [...] getruwlich vorbidden, beschermen unde verdegedingen thegen ydermanne, woir wy können unde mogen. Z. n. ebd., S. 201. 422 Nähere Informationen zu den Verteidigungsmaßnahmen im fürstenbergischen Hexenprozess siehe Kapitel 9.2.4. 423 In der einschlägigen Forschungsliteratur wird von einer regelrechten „Bevölkerungsexplosion“ gesprochen. Vgl. Henkel: Geschichte und Geographie, S. 154. 98 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive dürften im Jahr 1672 ca. 1300 Einwohner in der fürstenbergischen Gemeinde gelebt haben. 424 Diese kurze Darstellung des Bundbriefes führt direkt in das komplexe Themenfeld von Herrschaftspraxis und Untertanenverhalten - ein wechselwirkendes Verhältniskonstrukt, in dem in dynamischen und kommunikativen Prozessen das Kräfteverhältnis zwischen beiden Seiten stetig neu ausgehandelt wurde. Eine knappe, aber nähere Betrachtung aus der Vogelperspektive erscheint notwendig, um die lokalen Herrschaftsbedingungen und damit einhergehend die Rechtsposition der frühneuzeitlichen Fürstenberger bestimmen und skizzieren zu können. Die Gründungsurkunde besteht aus einem komplexen Konglomerat mittelalterlicher Rechtsvorstellungen und -ordnungen. Sie setzt sich zusammen aus dem lokalen Gewohnheits-, Zivil- und Lehnsrecht. In Ermangelung eines dokumentierten zeitgenössischen Begriffs des lokalen Herrschaftsstils muss an dieser Stelle auf ein wissenschaftliches Deutungskonzept zurückgegriffen werden, 425 um den Untersuchungsgegenstand hermeneutisch greifbar zu machen: Am ehesten ist die Führungsweise der Westphälinge mit den Strukturmerkmalen der Grundherrschaft 426 zu vergleichen, die das Prinzip des Lehnsrechtes mit der bäuerlichen Leihe fortsetzte. 427 Obwohl das historische Modell der Grundherrschaft ein hierarchisch geprägtes Verhältnis zwischen Lehnsherr und Lehnsmann impliziert, bei dem die superiore Stellung der Grundherr innehat, 428 erlebte dieses Herrschaftsverhältnis im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts weitere Ausdifferenzierungen. 429 Im Hinblick auf Fürstenberg scheinen auch hier die bäuerlichen Besitzrechte in diesem Zeitraum erweitert worden zu sein: Die zunächst nur leihweise vergebenen Nutzungsrechte an Bodengütern 430 standen nun im erblichen Besitz der jeweiligen Stelleninhaber. Diese Rechtspraxis 424 Schäfer: Bevölkerung und Landbesitz, S. 389. 425 „Das Problem [...] angelegter Definitionen [von Grundherrschaft] besteht darin, dass Grundherrschaft in den Quellen jener Zeit, in der es die Sache gegeben haben soll, in dieser Bedeutung nicht eindeutig nachzuweisen ist. Deswegen ist von einem ‚eklatanten Widerspruch zwischen semantischem Wortsinn und fachwiss. Gebrauch‘ gesprochen worden, woraus die Konsequenz gezogen wurde: ‚Wer aus Grundherrschaft einen Leitbegriff zur Erforschung eines ländlichen Sozialgebildes zu machen gedenkt [...] ist gehalten, das Wort mit Bedeutungsgehalten und Strukturmerkmalen anzureichern, die seine semantischen Anschlussmöglichkeiten überfordern‘.“ Blickle, Peter: Art. „Grundherrschaft“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1529000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 426 Obwohl der Lehensnexus „Grundherrschaft“ und „Feudalismus“ zu austauschbaren Begriffen macht, soll in dieser Arbeit der Terminus „Grundherrschaft“ bevorzugt werden, da er in der historischen Forschung weit weniger aggressiv konnotiert ist und nicht im Sinne eines „Kampfbegriffs“ gebraucht wird. Ebd. 427 Vgl. Brauneder, Wilhelm: Art. „Lehnsrecht“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a2455000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 428 Vgl. ebd. 429 Vgl. Enders, Lieselott: Art. „Bäuerliche Besitzrechte“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0355000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 430 Im Todesfall des Lehnsmanns durfte der belehnte Boden ohne Zustimmung des Lehnsherrn nicht an die Nachfahren weitervererbt werden. Das Besitzrecht oblag dem Grundherrn. Somit war er rein formal gesehen die letzte Entscheidungsinstanz bei der Weitervergabe und dem Verkauf des Landes. 6.1 Ortsobrigkeit und Untertanen 99 wird insbesondere an den Kauf-, Pfand- und Erbverträgen deutlich, in denen die Bauern eigenmächtig sowohl Gärten, Äcker, Wiesen als auch Häuser erwarben oder veräußerten, ohne vorher die grundherrliche Erlaubnis eingeholt zu haben. Es genügte lediglich eine Beglaubigung durch den Gerichtsschreiber, der sowohl den Besitzerwechsel als auch die Bezahlung des abgehaltenen „Weinkaufes“ 431 schriftlich fixierte. 432 Ob diese Rechtsgewohnheit dem in der Neuzeit aufkommenden Leihzwang geschuldet ist 433 oder der freien Rechtsposition der Bauern, ist anhand der Quellen nicht zu eruieren. Mit Sicherheit kann allerdings die These aufgestellt werden, dass die personelle Abwesenheit der an Fürstenberg erbberechtigen Westphalen diesen ungezwungenen Rechts- und Handlungsraum, der die persönliche Freiheit und Freizügigkeit der Bauern unterstrich, wesentlich begünstigte. Mit diesem Ergebnis soll nicht etwa impliziert werden, dass das Dorf Fürstenberg völlig autonom lebte. Denn die Adelsherren versuchten mittels sogenannter westphälischen Bedienten - Dorfbewohner, die in obrigkeitlichen Diensten standen 434 - sehr wohl ihren Herrschaftsanspruch geltend zu machen. Dennoch griffen die Westphälinge selten in das kommunale Gemeindeleben ein und gewährten somit den Gemeindemitgliedern stillschweigend Handlungsfreiheiten. Lediglich zu bestimmten Anlässen war die Ortsobrigkeit im Dorf zugegen: Bei der Mast-, Heuer-, Zehnt- und Waldbesichtigung, 435 beim Jahresgericht sowie bei schwerwiegenden Deliktfällen. 436 Ebenso reisten die Adelsherren nach Fürstenberg, um Ortsansässige in das Amt eines westphälischen bedienten 437 zu berufen oder sie besuchten als adeliche Gäste Hochzeits- und Tauffeste sowie Beerdigungen, wenn die jeweiligen Dorfbewohner eine besondere Nähe zur Adelsfamilie pflegten. 438 Ganz am Rande sei angemerkt, dass die Westphälinge gelegentlich nicht nur ein rein rechtliches „Dienst-Verhältnis“ zu den fürstenbergischen Einwohnern pflegten: Einige Herren von Westphalen hatten Affären mit ortsansässigen Frauen und zeugten mit ihnen Kinder. Um die aus dieser Beziehung entsprungenen „Bastarde“ sorgten sich die Herren von Westphalen in wirtschaftlicher Hinsicht ausreichend. Zumindest ist dieses Verhalten 431 Es handelt sich hierbei um Gebühr, die bei einer Landübernahme an den Grundherrn gezahlt werden musste. 432 Vgl. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22. 433 Der Leihzwang beinhaltete die Möglichkeit der Wiederverleihung des Bodens an die Erben des Lehmanns. 434 Näheres hierzu in den Kapiteln 7.3 und 8.1 sowie 8.2. 435 den 2. Oct. [1659] [sind] Sämbtliche Gerichtsherren Westphalen wegen Besichtigung der Mast beysammen kommen [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 436 Dies gilt für Kriminaldelikte sowie dem Hexenverbrechen. Exemplarisch sei hier LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 102 r erwähnt. Wegen unberechtigter Diebstahlvorwürfe drohte Johann Walters Nach Juncker wilmen [zu] gehen und nötigenfalls dort sein Recht einzuklagen. Im Hexenprozess gegen Johann Vahlen 1631 wendete sich der Angeklagte persönlich an die Herren von Westphalen. Zusätzlich beschwerte er sich bei den Adelsherren über den hiesigen Richter, der ihm die Aushändigung der für seine Verteidigung nötigen Protokolle verweigert hatte. Die Adelsherren sprachen ihm Recht. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Johann Vahlen am 29.07.1631. 437 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 230 v . 438 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 105 r . 100 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive nachweislich für zwei Kinder in den Quellen belegt. So übertrug beispielsweise Lubbert von Westphalen 1554 nach einem Dorfbrand sein Haus mitsamt Hof und Land an seine obdachlos gewordene „Bastardtochter“. 439 Auch dem Sohn der „Barstadtochter“, Meinolff Oisterwalt, war bei den Junkern jederzeit ein Freitisch zugesagt worden. 440 Die hier geschilderten Beispiele, die einen Einblick in das enge Kommunikationsverhalten zwischen Obrigkeit und Untertanen gewähren, laden regelrecht zu einem Perspektivwechsel ein, indem der Blick auf die herrschaftliche Ebene verlassen und die Perspektive des „ gemeinen Mannes“ eröffnet wird. Konkret lautet die spannende Frage: Wie nahmen die Gemeindemitglieder ihre Adelsherren wahr? Einige spärliche Hinweise liefern die nieder- und kriminalgerichtlichen Prozessakten, die den Eindruck einer typisch ambivalenten Relation vermitteln. Allgemein bezeichneten die Gemeindemitglieder die westphälischen Junker als guete Obrigkeit 441 , auf deren Gesundheit üblicherweise bei gesellschaftlichen Zusammenkünften getrunken wurde, indem man den Krug erhob, den huet [abzog] vndt sich [neiget] 442 . Aus einigen Fallbeispielen ist zudem bekannt, dass etwaige Verbalinjurien gegen die lokalen Adelsherren bei Trinkgesellschaften bisweilen nicht geduldet wurden, und auch kleinere Betrügereien gegen sie galten als schimpflich. Eine Situation sei an dieser Stelle kurz geschildert: Als die Witwe von Kallenberg, geborene Westphalin, von dem Dorfbewohner Hans Böddeker ein Pferd gekauft hatte, ermahnte ihn ein Ortsansässiger mit den Worten: solt die fraw nicht betruegen, weil das Zugtier gemeinhin als untauglich galt und die adelige Herrin ihm, dem Verkäufer, doch viel Gutes getan habe. 443 Ebenso galt es als frevelhafte Beleidigung der Adelsherren, wenn der Zehnt, der üblicherweise auf dem Ackerfeld liegen gelassen und von einem beauftragten Zehntsammler eingeholt wurde, unsachgemäß abgelegt wurde. Trina Kesperbaum, die sich in vorherigen Situationen bereits mehrfach gegen die Obrigkeit ausgesprochen hatte, schmähte die Adelsherren, indem sie die Zehntabgabe in den Dreck legte. Der Zehntsammler Johann Peters war über dieses provokante Verhalten derart entrüstet, dass er öffentlich sagte, man solle diesem Weib das Haus verbieten, damit die Zehntherren nicht zu kurz kommen 444 . Für eine demonstrative Ablehnung der Obrigkeit sorgten hingegen herrschaftliche Erlasse, die weder mit dem römischen Recht und den natürlichen Rechtsvorstellungen noch mit dem Gewohnheitsrecht (ius commune, ius naturae) in Einklang standen, wie beispielsweise die bereits erwähnte Holzordnung. Für weiteren Unmut in der Gemeinde sorgten nachweislich die Akzise-Einnahmen oder Pfändungen. 445 So reichte 439 Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 345, S. 44. 440 Ebd., Quelle A 387, S. 53. 441 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 50 v . 442 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 136 r . 443 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 8 r . 444 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Klageschrift gegen Trina Kesperbaum am 17.07.1657. 445 Dieser Befund erinnert an den Forderungskatalog des „Baltringer Haufens“ an ihre jeweilige Herrschaft, der 1525 unter der Bezeichnung die „Zwölf Artikel“ in die Geschichte eingehen sollte. Einführend hierzu Blickle, Peter: Der Bauernkrieg. Die Revolution des Gemeinen Mannes, München 4 2011. 6.2 Wirtschaft 101 z. B. am 12. August 1667 Henrich Vahlen eine Klage vor Gericht ein, weil ein Mann namens Johann sich weigerte, die Verbrauchssteuer zu zahlen, und dazu noch nebenbei bemerkte, dass [ihn] die Junckern midt [ihrer] accise vndt schatzung nichtes ahn[gienge] 446 . 6.2 Wirtschaft Der historische Forschungszweig „Wirtschaftsgeschichte“ beschäftigt sich mit einem weitreichenden Themenkomplex. 447 Um dennoch den Forschungsgegenstand in diesem begrenzten Untersuchungsrahmen greifbar machen zu können, orientiert sich diese Studie an folgende allgemeine Leitbegriffe, die im Laufe der Analyse jedoch noch feiner ausdifferenziert und mit anderen Themengebieten verknüpft werden: 1. „Wirtschaft“, 2. „Witterungsverhältnisse“ und 3. „Markt“. Zum Zweck der besseren Übersicht ist eine idealtypische Trennung der Kategorien sicherlich dienlich. Jedoch muss darauf hingewiesen werden, dass in der sozialen Praxis die Rubriken oft ineinander verschlungen und wechselwirkend waren. 1. Zunächst gilt es, die Bodenqualität in der Gemarkung Fürstenberg eingehender zu betrachten. Der ortsansässige Richter und gleichzeitig vom Landesherrn beauftragte Schatzbeamte Andreas Stümmel vermerkte 1672 im löblichen Ton über Fürstenberg, dass die gesampte[n] herren westvalen hieselbst allerbilligst die beste adeliche ohnplatzbare Lendereyen[,] wiesenwachß[,] gärten, vnd Kempen vnter sich haben [...] 448 . Seine äußerst fruchtbare Bodengüte verdankt der Ort seinem geomorphologischen Aufbau. 449 In Fürstenberg ist zudem ein nährstoffreicher Lehmboden vorzufinden, 446 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 50 r . 447 „Wer mit Wirtschaftsgeschichte ernstlich sich beschäftigt, weiss, wie schwierig ihre Behandlung ist. Besonders trifft solches auf die Landwirtschaft zu. Sie gestaltet sich nach Boden, Klima, Verkehrs- und Bevölkerungsverhältnissen.“ Goltz, Theodor Freiherr von der: Geschichte der deutschen Landwirtschaft. Erster Band. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Unveränderter Nachdruck der Originalausgabe der J. G. Cottaschen Verlagsbuchhandlung und Erben Nachfolger, Stuttgart 1999, S. III. Siehe auch Pfister, Ulrich: Art. „Wirtschaftsgeschichte“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_ a5037000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 448 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 2 r . 449 Mehrere Gesteinsschichten aus der Zeit des Paläozoikums und Mesozoikums reichern die Sintfelder Landschaft mit Karbon, Cenoman-Grünsand und diversem Kalk an, sodass ein gut mineralisierter Ackerboden für die Landwirtschaft zur Verfügung steht. Vgl. Hecker, Wilhelm: Die geographischen Verhältnisse im Stadtgebiet Wünnenberg, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 13-35, hier insb. S. 17. Die Ackerflächen des Dorfes liegen ausnahmslos auf Schichten der Oberkreide. Turon (krt2) liegt auf Cenoman (krc4) und bildet mit der wasserführenden Kalkmergelschicht (krt1/ krt1R) die markante Geländestufe des Sintfeldes. Auf ihr stand auch der Galgenplatz. Gesteinsschichten aus dem Oberkarbon, obere Arnsberger Schichten (cnA2), finden sich nur das unter dem Waldgebiet und den Wiesen im Tal der Karpke südwestlich des Dorfes. Wo Cenomankalk (kcr2) auf Karbon (cnA2) liegt, bildet grobkörniger Sandstein (krlW) eine wasserführende Schichtgrenze und damit einen Quellhorizont mit existenzieller Bedeutung für die Wasserversorgung Fürstenbergs. 102 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive der einen hohen Löss-Gehalt aufweist 450 und bei guten Ackerkenntnissen sowie günstigen Witterungsverhältnissen eine ertragreiche Ernte verspricht. Dennoch ist vor zu leichtfertigen geologischen und ökonomischen Verallgemeinerungen zu warnen: Der Boden im Sintfeld erfordert eine individuelle Bearbeitung, und seine Qualität variiert je nach Hochlage 451 - eine Beobachtung, die sich auch in den jeweiligen Ackerpreisen zeitgenössischer Verkaufsurkunden widerspiegelt, wobei die am Dorf nahe gelegenen Feldflächen für die Bauern am attraktivsten waren, weil sie einen geringeren Arbeitsaufwand benötigten: Verkürzte Wagenfuhren zwecks Düngung, Saatstreuung und Ernte ließen diese zu favorisierten Ackerfeldern werden und dementsprechend den Kaufpreis in die Höhe schnellen. 452 Bedauerlicherweise sind nicht genügend zeitgenössische Abgabenverzeichnisse für die Region Fürstenberg überliefert, um eine konkrete Aussage über die jahresdurchschnittlichen Ertragseinnahmen treffen zu können. Das Scheffel-Heuer-Register von 1595 bis 1602 liefert zu wenig Anhaltspunkte für eine reguläre Durchschnittsmenge (siehe Abb. 6.1 auf der nächsten Seite). Während der ökonomische Gewinn bei Roggen und Hafer zeitlich fluktuierte, ist bei der Gerste eine relative Konstante zu verzeichnen. Bezeichnenderweise war offenbar das für die Viehhaltung wichtige „Ruhfutter“, das auch unter der Bezeichnung „Rauch-“ oder „Raufutter“ 453 geführt wird, 454 im Jahr 1600 nicht abgabepflichtig. Stattdessen wurde eine im Abgabenverzeichnis nicht näher identifizierte Ersatzsorte, die lediglich unter der Abkürzung „B“ aufgeführt ist, auf den Feldern erfolgreich angebaut. Neben den im Abgabenverzeichnis aufgeführten Fruchtarten befanden sich auf den Ackerfeldern und in den Gärten weitere für die Subsistenz, Reziprozität, Redistribution, aber auch den Markt wichtige Anbausorten: Flachs, Wicken, Klee, Kohl, Rüben, Bohnen und Erbsen werden im Untersuchungsmaterial erwähnt. 455 Über die agronomischen Kenntnisse, die überwiegend durch Beobachtung und Erfahrung gewonnen wurden, 456 ist wenig aus den Quellen zu erfahren. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass in Fürstenberg die Dreifelderwirtschaft praktiziert wurde. Diese Vermutung wird lediglich durch den spärlichen Quellenhin- 450 Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 15. 451 Ebd., S. 25. 452 Äußerst beliebt waren Ackerflächen am sogenannten „Grasweg“. Ein Morgen Land konnte für bis zu zehn Reichstaler verkauft werden. Hingegen waren die Länder auf der vom Dorf weiter entfernten „Körtige“ mit jeweils drei Reichstaler recht unbeliebt. Vgl. hier exemplarisch LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 88 r , 47 r . 453 Unter dem Sammelbegriff „Ruhfutter“ werden z. B. auch Stroh, Streu und Heu subsumiert. 454 Vgl. Weddigen, M. P. F. (Hrsg.): Neues Westfälisches Magazin zur Geographie, Historie und Statistik. Zweyter Band, Heft 5-8, Leipzig, Lemgo, Berlin und Bielefeld 1790, url: https : / / books.google.de/ books? id=A_Y-AAAAcAAJ&lpg=PA178&dq=ruhfutter&hl=de&pg= PA178#v=onepage&q=ruhfutter&f=false (Zugriff am 23. 06. 2018), S. 178. 455 Hier sollen nur einige Quellenbeispiele aufgeführt werden: LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 102 r , 125 r , 265 v . 456 Vgl. Troßbach, Werner: Art. „Landwirtschaft“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a2410000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 6.2 Wirtschaft 103 1595 1596 1597 1598 1599 1600 1601 1602 0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 Jahr Mengenangabe in Scheffel Roggen; Gerste; Hafer; Ruhfutter; „B“ Abbildung 6.1: Abgabenverzeichnis Fürstenberg 1595-1602 weis bestätigt, dass offenbar in einer festgelegten Reihenfolge Länder brachgelegt wurden. 457 So verpfändete beispielsweise 1697 Adam Schimpf an Tönnies Fleckenkamp zwei Morgen Land am steinern creutze für fünf Reichstaler. Da Tönnies an keiner geilung, d. h. an einer Düngung des Landes, interessiert war, sollte er das Land lediglich biß zur bracke zeit beackern. 458 Für gewöhnlich wurde das brachgelegte Ackerland im Herbst und Winter als Stoppelweide für das Vieh genutzt, das dem Feld Dünger zuführte. Erst im April brachen die Bauern den Boden um und bestellten ihn mit Sommerfrucht, die sie im August ernteten. Danach blieben die Äcker erneut als Brache liegen. Erst im Juni nächsten Jahres wurde sie gepflügt und geeggt sowie anschließend für weitere zwei Monate als Weideland genutzt. Im September erfolgte schließlich die Bestellung mit der Winterfrucht. 459 Neben der Ackerwirtschaft betrieben die Gemeindemitglieder und die Herren von Westphalen zusätzlich eine Viehwirtschaft. Die sogenannten „Feuchtwiesen“, deren Schieferböden im Frühling eine botanische Vielfalt aufweisen, 460 eigneten sich besonders gut zur Weidenutzung. In Fürstenberg wurden hierfür überwiegend die 457 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 274 r , 275 r . 458 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 59 v . 459 Krus, Horst-D.: Vier Ähren im Stadtwappen. Zu Geschichte und Gegenwart der Landwirtschaft im Raum Wünnenberg, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 343-385, hier S. 349. 460 Vgl. Hecker: Geographische Verhältnisse, S. 27 f. 104 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive das Dorf umgebenden Berghänge, hier der Anten- und Eilerberg, als Allmende für die Weidewirtschaft genutzt. Für die frühneuzeitliche Viehwirtschaft waren die genügsamen Schafe besonders geeignet. Denn „sie sind bewegliche, an Klima, Gelände und extensive Hutungen auf mageren Böden (u. a. Heiden) äußerst anpassungsfähige, genügsame Nutztiere mit hoher Reproduktionsleistung“ 461 . Da es am Schaf nichts gab, was nicht verwertet werden konnte, waren sowohl das Nutzvieh als auch die aus ihm hergestellten Produkte für den externen Markt attraktiv. Allein Adam Elmerhauß Diederich von Westphalen soll im Jahr 1690 bis zu 160 Schafe gehalten haben. 462 Angesichts dieser Größendimension verwundert es nicht, dass die Ortsobrigkeit eigens für sich im Unterdorf einen Schafstall errichten ließ. 463 Aber auch der Schafbesitz der hiesigen Dorfbewohner war beträchtlich: So reichte z. B. Levin Blinden am 8. Juni 1689 beim Gericht eine Klage gegen Cordt Finnen ein, weil dieser unerlaubterweise 70 fremde Schafe unter Blindens Schafherde gemischt habe und dieses Vieh damit auf seine Kosten mitgefüttert worden sei. 464 Die Schafe bzw. Schafsprodukte waren jedoch nicht nur für den auswärtigen Handel bestimmt. Auch bei den innerdörflichen Geschäften waren sie ein begehrtes Zahlungsmittel. Ein Beispiel soll an dieser Stelle genügen. Da Dietherich Voß und seine Frau dem Ludowig Wegener fast 50 Reichstaler schuldig waren, versprachen sie, die Summe mit Wolle abzuzahlen. Ludowig Wegener merkte jedoch an, daß ihre schaffe in abgang gerieten, Inmaßen fürm jahr allein drey klüde wolle bekommen[,] weiln Ihm nun solches in seinem handel nicht dienlich, so begehrte bezahlung seines außgelegten geldes [...] 465 . Über ein mögliches Montanwesen in Fürstenberg im 17. Jahrhundert ist aus den Quellen nichts bekannt. Im Nachbarort Bleiwäsche wurde zwar im 16. Jahrhundert Bergbau betrieben, da sich in den Gesteinen Bleiglanz, Zinkblende und Kupferkies befanden, jedoch wurde der Betrieb relativ früh wieder eingestellt. Das geförderte Erz war von zu niederer Qualität und der wirtschaftliche Aufwand (Wasserfuhren, Schächte, externe Bergarbeiter etc.) zu hoch. 466 2. Das Vorhaben, einen kurzen Abriss über die Klima- oder Witterungsverhältnisse im frühneuzeitlichen Fürstenberg zu schreiben, wird durch das Fehlen zeitgenössischer Wetterdaten erheblich erschwert. Zwar bekommt man sowohl durch die Ortschronik als auch durch die Aufsätze lokaler Heimatforscher einen Eindruck von den metereologischen Bedingungen im 19. und 20. Jahrhundert, jedoch ist die Frage nach ihrer Kontinuität nicht zu beantworten (Stichworte „Kleine Eiszeit“ und Klimawandel), sodass diese Befunde nicht bedenkenlos auf das 17. Jahrhundert übertragen werden 461 Schöller, Rainer G.: Art. „Schafe“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a3741000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 462 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 228 v . 463 Im Jahr 1780 wurde der alte Schafstall der Adelsherren abgerissen. 464 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 200 r . 465 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 184 r . 466 Vgl. Krus: Vier Ähren, S. 440-448. 6.2 Wirtschaft 105 können. Trotz aller gebotenen Vorsicht muss in diesem Teilabschnitt auf die Ergebnisse aus moderner Zeit zurückgegriffen werden, um dem Leser zumindest ein pauschales Bild von der klimatischen Beschaffenheit in Fürstenberg zu geben. Trotz der günstigen Bodengüte erschwerten die strengen Witterungsverhältnisse auf den Sintfeldhöhen die Ackerarbeiten erheblich und wirkten sich teilweise verheerend auf die Ernteerträge aus. Aufgrund der hohen Niederschlagswerte in den Sommermonaten Juni, Juli und August wurde die Verkarstung des Ackerbodens beschleunigt, sodass ein Befahren der Felder mit Fuhrwerken beschwerlich war und die Bauern stets den harten Cenomankiesel von ihren Feldern absammeln oder bei größerem Umfang mühsam an die Wegränder transportieren mussten. 467 Die für den Ackerbetrieb ungünstige Höhenlage verkürzte zudem die Saat- und Erntezeit um fast vier Wochen. „Der Sintfeldbauer beginnt mit der Ernte 10 bis 14 Tage später, hat aber wegen des frühen Wintereinbruchs 14 Tage früher fertig zu sein.“ 468 Häufiger führten die für diese Region typisch feuchten Sommer zu erheblichen Ernteverlusten und teilweise zu kompletten Ernteausfällen. Einen Extremfall bildete das Jahr 1817. 469 Die Lebensmittelknappheit der Gemeinde war so groß, dass die mehrsten aus den Hecken die Gemüße auf[suchten], Nesselen und Kartoffelen Laub waren die Speise, womit sie den Hunger stillten [...] 470 . Neben den direkten Folgewirkungen von meteorologischen Extremereignissen auf Mensch und Vieh 471 sind auch die indirekten zu nennen: In den zeitgenössischen Dokumenten werden immer wieder erhebliche Schnecken-, Raupen- und Mäuseplagen erwähnt, die das Korn sowie das Obst und Gemüse abfraßen. Zudem wird wiederholt im gesichteten Archivmaterial von beträchtlichen Gebäudeverwüstungen, verursacht durch starke Windböen, berichtet. 472 Die als Hexe verschriene Gölcke Schweins erinnerte sich beispielsweise 1631 noch an ein extremes Wetterereignis, das bereits 15 Jahre zurücklag. Als nach einem Brandfall die Dorfbewohner die Häuser erneut aufgebaut hätten, habe ein extremer Wind ihre gesamte Arbeit wieder zunichtegemacht. Das auffällige Wetterphänomen blieb im kollektiven 467 Hecker: Geographische Verhältnisse, S. 23 sowie S. 33. 468 Ebd., S. 23. Bernhard Nolte/ Natalia Nolte vermerken gleichfalls: „Auf den offenen Flächen und windexponierten Bergkuppen ist es häufig rauh. Das Frühjahr beginnt spät und der Winter bricht oft schon früh herein.“ Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 15. 469 Hier wäre es sicherlich lohnenswert zu überprüfen, inwieweit dieses Extremereignis in einem kausalen Zusammenhang mit dem Phänomen „Jahr ohne Sommer steht“. 470 Z. n. Nolte: Chronik, S. 26 f. Die akute ökonomische Not konnte zumindest partiell gemindert werden, weil im Namen des preußischen Königs Roggenvorräte eingekauft und bedeutende Quantitäten in das nicht weit entfernte Marsberg geschickt wurden, wo die Fürstenberger sowohl Getreide als auch gebackenes Brot kaufen konnten. Ebd., S. 27. Auch für das 17. Jahrhundert ist schriftlich dokumentiert, dass die westphälische Obrigkeit den fürstenbergischen Gemeindemitgliedern aus so manch misslicher Lage half: Bei Geldschulden, Ernteausfällen oder sonstiger Knappheit an Gebrauchsgütern entlasteten und/ oder unterstützten die Adelsherren die Kommune. Nähere quellenunterlegte Ausführungen sind im Kapitel 7.3 zu lesen. 471 Nasses Gras führte nicht selten zu Beschwerden im Magen-Darm-Trakt oder gar Seuchen unter dem Vieh. Abel, Wilhelm: Deutsche Agrargeschichte Band II. Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 3 1978, S. 256. 472 Siehe auch Hecker: Geographische Verhältnisse, S. 15. 106 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive Gedächtnis haften, weil iah [sogar] die ziegellspannen auff einem newen schaff stal vmbgewendet, vndt sonsten die tächer aus dem dorff ihns feldt gepflogen 473 waren. Von solchen Stürmen, die erhebliche Forstschäden im Wald verursachten, berichten auch die Ortschronisten Anfang des 19. Jahrhunderts. 474 Äußerst gefürchtet waren und sind die Wintermonate auf dem Sintfeld. 475 Der Wind weht den Schnee zu hohen Wechten zusammen und lässt die tiefer gelegenen Straßen wortwörtlich unter einer dichten Schneedecke versinken. Bis in die 1950er-Jahre waren sogar einige Nachbardörfer mehrere Tage vom Außenverkehr abgeschnitten, weil die Straßen und Wege in den Kältemonaten nicht passierbar waren. 476 Auch das Dorf Fürstenberg war aufgrund seiner Höhenlage im Herbst und Winter sowohl für Einheimische als auch Reisende weder zu Fuß noch mit Fuhrwerken erreichbar. Es verwundert daher nicht, dass in der Ortschronik häufiger von Personen berichtet wird, die im Sintfeld erfroren sind. 477 Die strengen Wintermonate beschränkten auch die Hexenprozesse auf den Frühsommer bis zum Frühherbst. Die regionalen Witterungsverhältnisse schufen daher einen engen Handlungszeitraum bei der Bekämpfung der „Unholde“. Aus diesen Gründen waren im Jahr 1659 die Herren von Westphalen darauf bedacht, dass die auswärtigen Hexenkommissare vor dem winter Zum Weinigsten Noch ein Actus Justitiae halten [...] 478 . Denn war der Winter erst einmal in Fürstenberg hereingebrochen, konnten die Rechtsgelehrten die Gemeinde nicht mehr aufsuchen, wie aus einer Korrespondenz des Hexenspezialisten Antonius Bergh hervorgeht. So bedauerte er, vorzeitig die Untersuchungen gegen die Hexen wegen anietzo [...] eingefallener wintter Zeit - bey welcher dieser Procehs ohne gefahr nicht vorgesetzt werden kann - nicht ferner verfahren [zu] können 479 . Um jedoch kein einseitiges Bild von einem den Wetterlagen gänzlich passiv ausgelieferten Bauern zu zeichnen, sei an dieser Stelle vermerkt, dass den Sintfeld-Bewohnern durchaus - selbstverständlich im begrenzten Maße - ein gewisses Repertoire an Abwehrstrategien zur Verfügung stand: Denn über Generationen tradiertes Erfah- 473 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis der Gölcke Schweins am 28.06.1631. 474 [...] auch herrschten besonders im Januar starke Windstürme, wodurch die größten Bäume mit der Wurzel umgerissen wurden, Stroh- und Ziegeldächer wurden entblößt, und die mehrsten Häuser sah man beschädiget umherstehen. Bericht des Chronisten am 12. Februar 1814. Z. n. Nolte: Chronik, S. 27. 475 Im recht saloppen Tonfall bemerkt Hecker über das regionale Wetter: „Wer von den Flachlandbewohnern einmal einen richtigen Winter erleben will, der möge sich in einem der Sintfelddörfer einquartieren! “ Hecker: Geographische Verhältnisse, S. 22 476 Ebd., S. 21. 477 Über die Soldatenmärsche im Österreichisch-Französischen Krieg von 1809 berichtete beispielsweise ein Chronist: [...] am 11ten Januar d. J. [marschierten] einige Regimenter der Franzosen von Wesel über Lippstadt durch Fürstenberg bei der häftigsten Kälte, Wind und Sturm und tiefen Schnee, die mehrsten hatten Hände und Füße verfroren, bei der dieser Gelegenheit sah man mit Bewunderung den Geist und Eifer der Franzosen, nackend und bloß ohne Schuh und Strümpfe eilten sie den Raben ähnlich dem Zuge nach, freilich unterlagen manche der grimmigen Kälte, mehrere im Sendefeld Erfrorene haben wir von hieraus ihnen nach Stadtberge nachgeschickt [...]. Z. n. Nolte: Chronik, S. 21. 478 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Notiz des Gerichtsschreibers Christoph Hibigen vom 09.10.1659. 479 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierte Korrespondenz, ca. Spätoktober 1658. 6.2 Wirtschaft 107 rungswissen über die typischen lokalen geomorphologischen Besonderheiten und Witterungsverhältnisse ließ die Bauern nur bedingt zu einem „Spielball“ der Naturverhältnisse werden: Bei schlechten Witterungsverhältnissen säeten die Landwirte die Feldfrüchte um - anstelle der Sommersaat griffen sie z. B. auf die strapazierfähigere Wintersaat zurück. 480 Zudem ist für das 17. Jahrhundert verbürgt, dass im Sintfeld auf den Anbau des kälteempfindlichen Weizen verzichtet wurde. Eine weitere Präventivmaßnahme stellten die sogenannten „Wölbäcker“ dar. Diese „Wölbäcker“ wurden mit einer speziellen Pflugtechnik geformt und sind etwa 15 bis 20 Meter breite Streifen, die in der Mitte deutlich erhöht sind und zur Seite hin abfallen. Mittels dieser Ackerform sollten die unterschiedlichen Feuchtigkeitsverhältnisse reguliert und die Gefahr eines Erneteausfalls verringert werden, „indem in nassen Jahren das Getreide auf den Wölbungen, in trockenen jedoch das in den Vertiefungen besser gedieh“ 481 . Diese prägnanten Furchen sind noch heute im Gelände des Nachbarortes Leiberg sichtbar. 482 Es mag dieser lokale Erfindungsreichtum gewesen sein, der Hecker zu der lokalpatriotischen Bemerkung hinreißen lässt: „Das strenge Klima hat aber zwei äußerst positive Folgen. Im Sintfeld weht eine saubere Luft von guter Qualität und es lebt dort ein Mensch, der es gelernt hat, fleißig zu sein, mit Unbilden fertig zu werden und nicht vor Schwierigkeiten zu kapitulieren.“ 483 3. Wie bereits in den anderen Abschnitten stellenweise anklang, waren der Land- und Viehbetrieb nicht nur für die Subsistenz bzw. Reziprozität und Redistribution gedacht. Obwohl die Gemeinde im 17. Jahrhundert keine eigenen Marktrechte besaß, geben die spärlichen Quellen einige indirekte Hinweise preis, dass Waren auf den regionalen Märkten von Wünnenberg 484 oder Paderborn verkauft worden sind. 485 Sicherlich hatten die Stadtkontakte auf das ökonomische und sozialstrukturelle Dorfleben Einfluss, sodass auch für die Marktbedürfnisse produziert wurde und eine gewisse Marktorientierung in der Gemeinde herrschte. Jedoch kann anhand des vorliegenden Archivmaterials die Frage nicht beantwortet werden, inwieweit das Dorf bereits protoindustrielle Züge aufwies. Ein wichtiges Indiz für einen betriebenen Handel in Fürstenberg liefern seine Ortslage sowie Peripherie (siehe Abb. 6.2 auf S. 109). Eingebunden in ein dichtes 480 [...] unter beständigen anhaltenden Regen fiel am 1ten März 1816 ein starkes Gewitter mit Hagel ein, der Horizont blieb verdunkelt, es regnete unter tobenden Windfällen beständig fort, die Winterfrüchte mußten zum Theil umgesäet werden, die Ueberbleibsel wuchsen auf dem Hallme aus [...]. Z. n. Nolte: Chronik, S. 25. 481 Krus: Vier Ähren, S. 350. 482 Ebd. 483 Hecker: Geographische Verhältnisse, S. 24. 484 Die Stadt Wünnenberg erbat sich am 09.10.1661 vom paderbornischen Landesherrn die Erlaubnis, zwei Mal im Jahr einen Markt eröffnen zu dürfen, da durch Kriegh vndt brandt [ein] verarmte[s] Städtlein. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 458, fol. 40 r . 485 Für nähere Einblicke in die zeitgenössischen Wirtschaftsverhältnisse des Hochstifts Paderborn siehe Göttmann, Frank: Paderborn - Eine Stadt in der frühen Neuzeit, in: ders. (Hrsg.): Die Frühe Neuzeit. Gesellschaftliche Stabilität und politischer Wandel (Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region, Bd. 2), Paderborn, München, Wien und Zürich 2 2000, S. 3-59, hier S. 21-41. 108 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive außerdörfliches Verkehrsnetz durchzogen viele auswärtige Händler die Gemeinde und suchten auch fallweise vor Ort eine günstige Unterkunft. 486 Die Kaufmänner reisten aus Frankfurt, Lemgo, Bielefeld, Gütersloh und sogar Holland an. 487 Dass sie recht rege Handelsgeschäfte mit den fürstenbergischen Einwohnern betrieben, belegen die zahlreichen Geldeinforderungen aus dem Aktenbestand der Niedergerichtsbarkeit. Ein Beispiel von vielen sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt. Weil die Witwe von Hartmann Mertens dem Kaufmann Niclauß Becker aus Bielefeld 40 Reichstaler schuldig war, reiste er nach Fürstenberg, um dort vor Gericht sein Geld einzuklagen. Der Kaufmann berichtete dem Richter, dass ob nun woll [Beklagte] ihme versprochen[,] in kurtzer zeit ein solches zu bezahlen, wie Er auch nit anders verhoffet hette, jedoch nichts erhalten, alß pathe, beclagte viduam zur zahlung innert weniger frist zu astringiren [...] und gegebenenfalls die Exekution, d. h. die Pfändung, durchzuführen. 488 Aber auch umgekehrt boten die Dorfbewohner den Reisenden ihre Ware feil. Die Frauen verkauften beispielsweise ihre aus Flachs gefertigten Leinentücher, Butter und andere tierische Erzeugnisse. So kritisierte beispielsweise Trina Kesperbaum, dass schnittker Hermans dochter Nuen von seinem vatter weggangen [were] vndt hette so viel [...] Laaken verkaufft [...] 489 . 486 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 87 r . 487 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 4 r , 40 r , 159 r . 488 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 237 r . 489 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage vom 20.09.1662. 6.2 Wirtschaft 109 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 1: Landstraße nach Paderborn 2: Eilerberg (Galgen) 3: Sonnenborn Quelle 4: Eilerborn Quelle 5: Kirchstelle Eilern 6: Hersweg/ Hesseweg 7: Weg nach Warburg 8: Weg nach Haaren 9: Gollendahl/ Gollental 10: Weg nach Büren 11: Ringelsbuke/ Ringelsbruch 12: Twesweg 13: Dalheimische Linde 14: Schlichte 15: Weg nach Wünnenberg 16: Körtecke/ Körtge 17: Weg nach Alme 18: Antenberg 19: Callendahl/ Kallental 20: Dorsloh Kirchstelle Wohlbedacht 21: Weg nach Bleiwäsche 22: Jämmerger Busch/ Schürenbusch 23: Landstraße nach Stadtberge/ Marsberg Abbildung 6.2: Geografische Karte von Fürstenberg 1758 490 490 LA NRW Abt. Westf., Kartensammlung A 19578, Nr. 834 Fürstenberg (Wünnenberg), Distrikte der Feldmark (1747) o. M. 50, 5 x 54 kol. Zeichnung aus: Reichskammergericht B Nr. 62, 6 Bem.: Anlage zum Prozess Erben Bange ./ . v. Westphalen KS Minden A Nr. 150. 110 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive 6.3 Religion In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebten in Fürstenberg nachweislich mehr Katholiken als Protestanten. 491 Weil das gemeindliche Gotteshaus, die Vesperkirche, 492 zweihundert Jahre zuvor zerstört und nicht wieder aufgebaut worden war, waren die Dorfbewohner gezwungen, sich dem Kirchspiel Wünnenberg anzuschließen. 493 Den etwa fünf Kilometer langen Kirchweg traten die Fürstenberger in Gruppen an und tauschten währenddessen den neuesten Klatsch aus. 494 Zur Herbst- und Winterszeit war der Weg jedoch kaum passierbar - Überschwemmungen und starke Schneefälle machten einen Kirchbesuch nur schwer möglich. Zudem führten die witterungsbedingten vngelegenheitten häufig zu Krankheits- und gelegentlich zu Todesfällen unter den Neugeborenen. So berichtete beispielsweise die Dorfschaft im Februar 1654 dem Paderborner Generalvikar Bernhard Frick, dass die kinderlein bei so vielen vngewittern vnd so großer kälte bei nah offt halbtodt hereingebracht werden, wie dan solches vergangenen winter leider geschehe, das mahn ein kinderlein für todt nach hauß getragen [...] 495 . Die räumliche Distanz und das regionale Wetter bildeten nach Ansicht der fürstenbergischen Gemeinde jedoch nicht die einzigen Missstände, die die Einrichtung eines lokalen Sprengels zwingend nötig machten: Sie beschwerten sich ferner über eine mangelnde katholische Erziehung vor Ort. Denn im Dorf sei die leidige ketzerey eingerissen, die darüber hinaus auch noch täglich zunehme. Diese „Ketzer“, Protestanten, würden nicht nur den katholischen Gottesdienst verhöhnen und auslachen, sondern auch andere so woll mit wortten alß Ihren bößen Exemplen darzu anreitzen, also des wegen mangell des pastoratts die Catholische disciplin nicht der gepühr nach kan gehalten, noch die sacramenta der kirchen, so biß hero im schwung gewesen[,] können administrirt werden, wie dan das sacrament der letzten oelung gantz in abgang gekommen, vnd bei menschen gedencken den krancken niemalß mitgetheilet [...]. 496 Zusätzlich würden die Protestanten in ihrer antikatholischen Haltung bestärkt, weil die Herren von Westphalen hinsichtlich der Konfession zerstritten seien. Die Dorf- 491 Im Jahr 1656 lebten in Fürstenberg elf Protestanten. Dies geht aus einer Notiz des Pfarrverwesers Johann Stamm hervor. Er bemerkte: Nomina haeretici qui hic degunt: Henrich Neukirch, Dietherich Grotten, Burebart Keiffen, Christophorus Hibbigen, Fridericus Tonsor, Paulus Dertis, [...] Droppels uxor, Jacob Blinden, Theodora Blinden, Johann Blinden Junior, Henricus Kostrop. DiözesA Pb., Acta 150, fol. 66 r . Siehe auch PfA Fü., St. Marien, Bestand III, 310, Notiz vom 13.06.1660. 492 Siehe hierzu Nolte, Bernhard: 800 Jahre Kirchweihe Vesperthe-Fürstenberg. Festschrift (1217- 2017). Herausgegeben vom Kirchenvorstand der Katholischen Pfarrgemeinde St. Marien Fürstenberg, Bad Wünnenberg 2017. 493 Vgl. Rüthing, Heinrich: Geschichte der Pfarrei Fürstenberg. Festschrift aus Anlaß des 300jährigen Pfarrjubiläums, Paderborn 1955, S. 26. 494 Auf dem Kirchgange nach Wünnenberg nimmt das Gerücht um Johann Vahlen zu. Vgl. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage von Johann Henckel, ca. Mai 1630/ 31. 495 DiözesA Pb., Acta 150, fol. 33 r . 496 DiözesA Pb., Acta 150, fol. 33 r . 6.3 Religion 111 schaft beschrieb die Situation mit den Worten: dan benebens andern weillen malestien vndt beschwerung betrübt, vndt auch mannigmahl das die Junckern - dieweiln sie eines anderen glaubens - in die geistlichen sachen mit einem großen praeiudicio der pastoren 497 ein griffen vnd in dem Catholischen Exercitio sehr hinderlich sein. Vermutlich spielten die Dorfvorsteher auf Raban von Westphalen und seine Frau Elisabeth, geborene von Padberg, an, die bei einer Kirchenvisitation 1624 als Haeretiker bezeichnet wurden. 498 Um möglichst schnell Dorf- und Pfarrgemeinde räumlich zur Deckung zu bringen, 499 wurden dem künftigen Pfarrer attraktive Pfründen (ehrliche vnterhaltung) für sein geistliches Amt zugesprochen. Er erhielt von der Gemeinde 30 Morgen Land 500 sowie jährlich eine Abgabe in Höhe von 44 Scheffel Roggen, 40 Scheffel Gerste und 80 Scheffel Hafer. Zusätzlich wurden dem Pfarrer 3 Fuder Wiesenwachs (Heu) für sein Vieh und der Zehnte von den Herren von Westphalen zugesprochen. Weitere Einnahmen sollten ihm von den Stolgebühren und dem Vierhochzeitsopfer 501 zuteilwerden. 502 Der Küster hingegen wurde jährlich mit je 2 Malter Roggen und Hafer bezahlt, ohne das Schulgeld der Kinder dazugerechnet, 503 das er aus seinen Tätigkeiten als Schulmeister bezog. 504 Die für die Eucharistie benötigten Messopfer (Wein, Hostien, Kerzen) sollten von den Rentten der Vesperkirche[,] welche albereitz mit 200 Rthlr. durch vnderschiedtliche sterbfäll dotirt worden sind, besorgt werden. 505 Die Ausübung des Pastorats war jedoch nicht nur auf die Vesperkirche beschränkt, die von der Gemeinde wiederaufgebaut werden sollte. Auch die Herren von Westphalen beanspruchten die Dienste des Pfarrers für ihre eigene Kapelle, die dem heiligen Antonius geweiht war. Zusätzlich behielten sie sich das Patronatsrecht vor - ein Rechtsakt, der ihre herrschaftliche Position im Dorf unterstrich und bekräftigte. 506 497 Für das Jahr 1645 ist der Pastor Joahnn Mimberg namentlich überliefert. PfA Fü., St. Marien, Bestand III, 310, fol. 10. 498 Z. n. Conrad/ Teske (Hrsg.): Sterbzeiten, S. 142. 499 Vgl. Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 96. 500 Die Pfarrer der Gemeinde waren bemüht, ihren Landbesitz stetig zu erweitern und ökonomisch aufzubessern. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Kaufvertrag zwischen die Beniheit und dem Pfarrverweser Johann Stamm vom 29.07.1663 und PfA Fü., A 1, Urkunden und alte Akten, unfol., Tauschschein von ca. 1681. 501 An den vier höchsten Festen des Jahres war jeder Kommunikant der Pfarrei verpflichtet, beim Hauptgottesdienst ein Opfer von vier Pfennigen auf den Altar zu legen. 502 PfA Fü., A 1, Urkunden und alte Akten, unfol., Designatio redditum pro pastore Fürstenbergensi ausgestellt am 11.11.1654. 503 [...] ohn des[,] was er von der schule oder pro instructione puerorum empfehngt. DiözesA Pb., Acta 150, fol. 17 r . 504 Die zu unterrichtenden Kinder wurden höchstwahrscheinlich im Haus des Küsters in den Grundrechenarten sowie rudimentär im Schreiben und Lesen unterrichtet. Aus den frühneuzeitlichen Quellen geht hervor, dass der Schulbesuch seit nachweislich 1601 zum Alltagsleben des fürstenbergischen Nachwuchses gehörte. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht von Gretha, der Wilkeschen vom 23.08.1601. 505 DiözesA Pb., Acta 150, fol. 17 r . 506 Rüthing: Pfarrei Fürstenberg, S. 31 f. 112 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive Ferner wurden, um weiterhin die tüchtige Catholische disciplin zu fördern, zwei Gemeindemitglieder zu Provisoren bzw. Tumplirer ernannt. 507 Damit das Dorf vor diversen Gefahren geschützt sei, wählten die Dorfbewohner die heilige Jungfrau Maria zur Schatzpatronin, derer sie an Mariä Himmelfahrt gedachten. 508 An ihrer Seite stand der Schutzheilige Josef, Nährvater des Sohnes Gottes. 509 Schließlich wurde 1655 in festo nativitatis Christi Fürstenberg zu einer eigenen Pfarrei. Mit der Gründung 510 wurde jedoch nicht nur die katholische Disziplin gefördert, sondern auch unbeabsichtigt ein tobender Kleinkrieg unter den Einwohnern um die spärlich vorhandenen Kirchstühle entfacht. Der Streit um die Sitzplätze ist dabei weniger als Zeichen religiöser Frömmigkeit zu werten. Vielmehr scheint er die Befriedigung nach sozialem Prestige widerzuspiegeln. 511 Jedes Hausmitglied erhielt eine bestimmte Sitzgelegenheit für die Teilnahme am Gottesdienst, die mit dem Verkauf der Wohnstätte an die künftigen Hausbewohner rechtlich übertragen wurde. 512 Die reservierten Sitzplätze waren unter den Dorfbewohnern begehrt und wurden sogar teilweise im Austausch für ein paar Schuhe feilgeboten. So gab Jesper Kepper 1699 dem Ortsgericht an, dass Hanß schetter gesagt[,] Er hette Adam schimpff vor seinen standt in der capellen auff der buhnen vor 1 paar schue erblich abgetretten, Er danckte Gott, daß er ihm die schue gemacht, seine leute könten und wölten doch nicht helfen 513 . Der Streit um die rechtmäßigen Besitzrechte am Kirchenstuhl konnten sogar so weit gehen, dass eine Partei sich entschloss, den Gottesdienst gar nicht mehr aufzusuchen - so im Fall des Zenzing Buschmann: Weil der Richter seinen standt Eingenommen vndt sonsten von andern verdrungen worden [...] 514 sei, weigerte sich Zenzing, weiterhin zur Kirche zu gehen. Ein anderes Beispiel liefert ein Fall von 1689: 507 Für das Jahr 1665 ist belegt, dass Hans Schütter und Henrich Scheiffer dieses Amt übernahmen. Siehe hierzu PfA Fü., St. Marien, Bestand III, 310, fol. 27. 508 Am 15.08.1671 bescheinigte der Provisor Henrich Scheiffer, dass die zu ehren der muter godtes im Sauerland (suhrlande) gegossene Kirchenglocke auß mitel der kirchen vndt[,] waß gute pathrone dar zu verehrt haben, bezahlt wurde. PfA Fü., St. Marien, Bestand III, 310, ohne Blattangabe. 509 Vgl. Nolte/ Nübold: Die Pfarrkirche. 510 Erster Pfarrverweser der Pfarrei Fürstenberg war Johann Stamm, Professus in Bodeken. Diözes. A Pb., Visitationsakte XIII, 5b, fol. 71 r . Einige Dokumente über seine Amtstätigkeit liefert ein Brief an den paderbornischen Fürstbischof vom 16.06.1658. DiözesA Pb., Acta 150, fol. 38 r-v . Siehe auch Diözes. A Pb., Visitationsakte XIII, 5b, fol. 71 r . 511 Vgl. Peters, Jan: Der Platz in der Kirche. Über soziales Rangdenken im Spätfeudalismus, in: Iggers, Georg (Hrsg.): Ein anderer historischer Blick. Beispiele ostdeutscher Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 93-127 und Ulbrich, Claudia: Zankapfel „Weiber-Gestühl“, in: Lubinski, Axel/ Rudert, Thomas/ Schattkowsky, Martina (Hrsg.): Historie und Eigensinn. Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag, Weimar 1997, S. 104-114. 512 Diese Information geht aus einem Kaufschein vom 14.12.1695 hervor. Die beiden Geschwister Margaretha und Catharina Möllers verkauften an Johann Ermels erblich ihre hieselbsten annoch habende zwischen Jacob schmidts und Caspar schweinß hauße gelegene haußstette sambt darauff noch etwa befindtlichem holtze sambt allen zu behöer in specie kirchenstandt in der vesperkirchen vor 13 Rthlr. [...]. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 268 v . 513 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 84 r . 514 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 24.07.1659. 6.4 Der Dreißigjährige Krieg 113 Georg Dam klagte im Namen seiner Frau vor dem Richter, dass Cordt Finnens Frau Clara sich des frawen standt[s] in der capellen vndt vesperkirchen bemechtigen vndt appropryre, Ihn vnd seine fraw aber darin perturbiren wolte, alß pathe ein solches zu remedyren, [...]. Das Gericht ermahnte Cordt Finnens Frau bei zwei Goldgulden Strafe, sich des Kirchstandes zu enthalten. 515 6.4 Der Dreißig jährige Krieg Während die politische Verwicklung und das Mitwirken der einzelnen westphälischen Familienmitglieder im Kriegsgeschehen von der historischen Forschung gut aufgearbeitet worden ist, 516 kann für die Gemeinde Fürstenberg lediglich die geradezu lapidar anmutende Aussage getroffen werden, dass der Dreißigjährige Krieg 517 eine tief einschneidendes Krisenerlebnis für die Sintfelder Dörfer darstellte. 518 Obwohl der Krieg bereits 1621 durch das Eingreifen des Herzogs Christian von Braunschweig in den Stiften Paderborn und Corvey begann, 519 liegen erst ab 1631 konkrete Hinweise im gesichteten Archivmaterial vor, dass auch das Paderborner Hochplateau von den Kriegsunruhen massiv betroffen war. Das Großdorf Fürstenberg, das erst 15 Jahre zuvor einen Großbrand und ein Jahr später durch ein Unwetter einen Sachschaden in Höhe von 1000 Reichstalern erlitten hatte, 520 wurde von dem Obristen Jacques Mercier vulgo der „Kleine Jacob“ (∗ 1588, † 1633 in Lippstadt) 521 während des Durchzuges mit seinem Söldnertrupp 1631 nahezu vollständig durch Feuer zerstört. 522 Die 515 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 206 r . 516 Insbesondere die Kriegsverdienste des Landdrosten und Obristen Wilhelm von Westphalen (∗ 1590, † 1656), der in erster Ehe mit Elisabeth von Büren (Mutter des späteren Jesuiten Moritz von Büren) und seit 1633 mit Anna Maria von der Recke, Schwester des späteren Paderborner Bischofs Dietrich Adolf von der Recke zu Kurl verheiratet war, sind ausführlich aufgearbeitet worden. Der auch der „reiche Westphal“ genannte Obrist konnte 1622 die Stadt Paderborn vor dem Einfall der Protestantischen Union bewahren und erzielte zwischen 1631 und 1633 einen wechselnden Erfolg bei der Verteidigung des Stifts gegen die Hessen und Schweden. Siehe hierzu das Internetportal von Warlich: Der Dreißigjährige Krieg und Neuwöhner (Hrsg.): Im Zeichen des Mars, S. 107. 517 Für einen knappen Gesamtüberblick siehe Kaiser, Michael: Art. „Dreißigjähriger Krieg“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_ a0808000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 518 So schreibt Krus: „Der Dreißigjährige Krieg ging auch am Sintfeld nicht spurlos vorüber. Wieder brannten die Dörfer und wurden ausgeplündert, starben Menschen.“ Krus: Rechtspflege, S. 72. 519 Conrad/ Teske (Hrsg.): Sterbzeiten, S. 17. 520 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis der Gölcke Schweins am 28.06.1631. 521 Siehe hierzu Mercier, Jacques [„Der kleine Jakob“], 2016, url: http: / / www.30jaehrigerkrieg.de/ mercier-jacques-der-kleine-jakob-3/ (Zugriff am 24. 06. 2017). 522 An den Vorfall erinnerte sich vierzig Jahre später Gretha Meyers, deren Landbesitzurkunden im Feuer zerstört worden waren. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 63 r . Im Jahr 1637 und 1658 sollte das Dorf erneut eingeäschert werden, jedoch nicht durch die Söldnertruppen, sondern durch ein Gewitter. Im Jahr 1727 brannte Fürstenberg nahezu vollständig ab. Lediglich drei Häuser sollen die Flammen überstanden haben. Aus der knapp achtzig Jahre später verfassten Chronik ist zu entnehmen, wie die Dorfgemeinde mit dieser Krisensituation umging: [...] die Verunglückten haben die Keller beziehen, und die Minen unter der Erde zur Wohnung machen 114 6 Dorfgeschichte aus der Vogelperspektive wütenden Kriegsunruhen und Feuersbrünste bildeten auch den ausschlaggebenden Punkt, warum die strafrechtlichen Hexenverfolgungen von 1631 eingestellt wurden. 523 Im Vergleich zu seinem Nachbarort Marsberg, der gegen Ende des Krieges von schwedischen Truppen massiv belagert und geschleift wurde, sollte Fürstenberg nicht gänzlich dem Erdboden gleich gemacht werden. 524 Neben der direkten Bedrohung an Leib und Leben waren die Söldnerheere auch wegen der durch sie eingeschleppten Infektionskrankheiten gefürchtet. Im Sintfeld- Dorf Leiberg fielen 1635 über 400 Personen der Pest zum Opfer und wurden auf einem gesonderten Friedhof, dem sogenannten „Pestfriedhof“, begraben. Noch heute erinnert ein zeitgenössisches Sandsteinkreuz an die vielen Opfer der Seuche. 525 Nach mündlicher Überlieferung überlebten lediglich sieben Leiberger den „Schwarzen Tod“. Es ist zu vermuten, dass auch in Fürstenberg die Zahl der Gemeindemitglieder einerseits durch die mordenden Soldaten, andererseits durch die kursierenden Krankheiten wie die Pest und die Blattern erheblich dezimiert worden ist. 526 Die Folgen des demografischen Schwunds waren bis in die späten 1650er-Jahre deutlich spürbar, wie aus einem Briefwechsel zwischen Wilhelm von Westphalen und Clara von Oberg, Witwe von Westphalen hervorgeht. 527 Auch der Dorfbewohner Johann Grothen erinnerte sich beinahe vierzig Jahre nach Kriegsgeschehen, dass zu dieser Zeit viele Kinder elternlos geworden waren und er bei sich eine Waise aufgenommen hatte. 528 Die brandschatzenden Söldnerheere gehörten im Laufe der 1630er- und 1640er- Jahre zum lokalen Alltagsgeschehen. Jedoch wussten die Dorfbewohner für sich einige Abwehrstrategien zu entwickeln, um zumindest partiell das Morden und Plündern eindämmen zu können. Aus dem an Fürstenberg angrenzenden Ort Essentho ist bekannt, dass die Dorfgemeinschaft Späher aufstellte, die die Einwohner rechtzeitig vor dem Einmarschieren der Soldaten warnten, sodass diese ihre wenigen Habseligkeiten und sich selbst im angrenzenden Wald verstecken konnten. 529 müßen, wodurch häufige Krankheiten entstanden sind. Z. n. Nolte: Chronik, S. 16 und auch Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Antonius Bergh und Wilhelm Steinfurt an sämtliche Gerichtsherren und Interessenten zu Fürstenberg, undatiert. 523 Wegen eingefallenen Fewersbrunst und kriegsunruhr aber, ist der proceß [sc. die Hexenverfolgung] nicht zu endt getrieben [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des ehemaligen Richters Henrich Neukirch an den Obristen und Landdrosten Wilhelm Westphalen am 18.03.1651. 524 Conrad/ Teske (Hrsg.): Sterbzeiten, S. 220-227. 525 Die Inschrift lautet: ANNO/ 1635/ DEN 25./ (AV)GVSTI HAT/ VNS GOT DIE PES/ TI- LENS GE/ SANT. WIE/ MANGEM/ IST BEKA/ NT SINT/ VOM DOR/ F LEBERG/ 400 MENSCHEN/ GESTORBEN/ DENEN GOT DIE/ SELIKEIT ERWO/ RBEN. AMEN . Z. n. Pickhardt, Karl: Der Schwarze Tod, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 278-279, hier S. 278. 526 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage der Elsche Vogels am 27.06.1631. 527 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 31.08.1659. 528 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 63 r . Von einem ähnlichen Ereignis berichtete der landesherrliche Schatzmeister Andreas Stümmel im Jahre 1672. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 2 r . 529 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 17.10.1649. 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme 7.1 Topografische Lage Will man die kommunale Organisationsstruktur eines Dorfes erfassen, ist ein Blick auf die topografische Lage des Untersuchungsraumes unumgänglich, die hier kurz skizziert werden soll (siehe Abb. 7.1 auf S. 118 f.). Die Vorstenburg [1] wurde auf einem Bergsporn im unmittelbaren Anschluss an einen Steilhang errichtet. Auf dem Burgplatz stand neben einem Burgturm zusätzlich das Zehnthaus [18], das nicht nur als Lagerungsstätte für Zehntabgaben diente, sondern auch zeitweise als Gefängnis. 530 Im Schutz der Burg arrangierten die neuen Siedler auf dem Hochplateau ihre Häuser in Form einer geordneten Gruppensiedlung 531 und gründeten damit den künftigen Siedlungskern der Gemeinde [2]. Diese Wohnplätze waren nicht nur wegen ihrer militärisch günstigen Lage begehrt, sondern auch wegen ihres für die Fürstenberger einbringenden Sozialprestiges. Denn in den kommenden Jahrzehnten wurde dieser Siedlungsbereich aufgrund der räumlichen Wohnnähe zur Burg vornehmlich von der bäuerlichen Elite bewohnt. Zudem waren die östlich gelegenen Felder, Kämpe und Gärten „auf dem Hedderhagen“ nicht weit von diesen Wohnstellen entfernt [4 und 5], sodass mit nur wenigen Schritten die angebauten Gemüse- und Kohlsorten, Bohnen und Kräutergewächse schnell bewässert und deren Wuchs kontrolliert werden konnte. 532 Ferner war dieser Wohnbereich bei stark anhaltenden Regengüssen nicht von Überschwemmungen betroffen - im Gegensatz zu der später errichteten Wohnsiedlung auf dem „Klingenberg“, dessen Bezeichnung im Verlauf des 19. Jahrhunderts verschliffen wurde und gegenwärtig „Klimberg“ genannt wird [3]. Dieser Siedlungsbereich wurde wegen der wachsenden Bevölkerung ausgebaut und befindet sich auf einem Steilhang im direkten Anschluss an das Kalkplateau. Der „Klingenberg“ weist alle charakteristischen Züge einer dichten Haufensiedlung auf mit unregelmäßiger Siedlungsstruktur und unregelmäßigem Wegenetz. Aufgrund der zunehmenden Einwohnerzahl an der Schwelle zur Frühen Neuzeit konnte das Problem der langsam, aber stetig knapp werdenden Bauplätze gelöst werden, indem 530 Näheres hierzu in Kapitel 9.2.3. 531 Für eine Überblicksdarstellung mit zahlreichen Abbildungen der verschiedenen Siedlungsformen siehe hierzu Lienau: Siedlungen, S. 67. 532 Nachweislich standen Rüben, Kohl, Linsen, Wicken etc. auf dem Speiseplan der Fürstenberger. 116 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme der Randbereich des Dorfes ausgeweitet wurde. Ausreichend Platz befand sich am westlichen Hang des Kalkplateaus, wo durch die „Karpke“ ein Seitental gebildet worden war. An dieser Stelle errichteten die Siedler weitere Häuser und erweiterten somit das topografische Siedlungsbild um ein Ober- und Unterdorf. Das Unterdorf war von der Wasserversorgung her am besten gestellt, weil es im Gegensatz zum oberen Dorfgebiet keine Fernleitung benötigte, die aufgrund des geologisch zerklüfteten Kalkplateaus die eigens hierfür eingesetzten kommunalen Wassermeister vor technische Herausforderungen stellte. 533 Gespeist durch die ortsnahen Quellen, wie die „Nüllequelle“ [15] und „Höpperquelle“ [17], erhielt der Ortsteil die Bezeichnung „Wasserplatz“ [7]. Von hier aus wurden das Unter- und Oberdorf mit genügend Trink- und Nutzwasser versorgt, das die oberen Dorfbewohner mittels Karren in Fässern von den Kümpen transportieren mussten. Zusätzlich konnten hier die Frauen die hohen Wassermengen schöpfen, die sie für die Flachsverarbeitung benötigten, sowie anschließend die fertig gesponnenen Leinenlaken an „der Bleiche“ [16] von der Sonne aufhellen und trocknen lassen. 534 Im Tal befanden sich zudem der sogenannte „Schwemmteich“ [8], in dem beim Hexenprozess das Ordal der Wasserprobe durchgeführt wurde, sowie eine Viehtränke [9]. Ein wesentliches Verbindungsscharnier zwischen Ober- und Unterdorf war die sogenannte „Totenbrücke“ [10], über die die Verstorbenen auf einem Pferdewagen zum nahe gelegenen (alten) Kirchhof gebracht wurden, wo auch die Vesperkirche stand [12]. Südlich und westlich vom Kalkplateau des Dorfes waren die für die Viehversorgung wichtigen Berghänge und Wälder. Auf südlicher Seite lagen die Buchen- und Eichenwälder auf dem „Antenberg“ [6], in denen die Schweine zur Mast getrieben wurden und die Dorfbewohner für ihren Eigenbedarf Holz schlagen durften. Den dorf- und wassernahen Berghang nutzten die Ortsansässigen zudem für die Enten und Gänse. In westlicher Richtung nahe dem Burgplatz diente der „Pellenberg“ [13] als Hütewiese für Kleinvieh, wie z. B. Ziegen und Schafe - eine Tätigkeit, die üblicherweise Kinder übernahmen. Unterhalb des Berghanges waren die sogenannten „Haagen“ [11] gelegen, die zeitweise als Schafwiese gebraucht wurden. Einen wichtigen Hauptwirtschaftsweg stellte zudem die „Kuhtrift“ [14] dar, ein nach Osten führender Hauptpfad, auf dem die Kühe und Rinder zu den Feldern und Weiden getrieben wurden. Ein von der 533 Die Wartung der vier von fünf Kümpen (Brunnen) lag in der alleinigen Verantwortung der Gemeinde, die sie unterhielt. Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 117; siehe auch Ströhmer, Michael: Die frühneuzeitliche Wasserleitung des Dorfes Fürstenberg - eine Rekonstruktion der dunklen Jahre 1591-1820, in: Paderborner Historische Mitteilungen 31 (2018), S. 4-31. 534 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 74 v -75 r . 7.1 Topografische Lage 117 Gemeinde bestellter Kuhhirte 535 sammelte die zu versorgenden Kühe des Morgens ein und trieb sie auf die Allmende. 536 An der westlichen Peripherie der fürstenbergischen Gemarkung stand die sogenannte „Zinsdorf-Mühle“, die an einem Zusammenfluss von „Gollentaler Grund“ und „Karpke“ lag. Sie war im Besitz der Herren von Westphalen und wurde von den örtlichen Dorfbewohnern betrieben. 537 Eine weitere gräfliche Mühle, die „Höppeke- Mühle“, war bereits im 15. Jahrhundert an der „Höpperquelle“ erbaut worden. 538 535 1669 war Cersting Schellen für den Klingenberg als gemeindlicher Kuhhirte eingestellt. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 100 r . Die monetär besser gestellten Gemeindemitglieder waren nicht zwangsläufig auf einen Gemeindehirten angewiesen. Sie konnten es sich leisten, einen privaten Kuhhirten einzustellen. Exemplarisch LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 148 r . 536 Bis das gesamte Vieh von den verschiedenen Höfen zusammen war, hielt der Kuhhirte auf der Haupttrift, die rechts und links von Häusern umsäumt war. Die verharrenden Kühe vertrieben sich unterdessen die Wartezeit, indem sie die Kräutergewächse von den Hofgärten auffraßen oder an den Zäunen leckten. Es mag nicht überraschen, dass dieser Viehsammelplatz stark mit Unrat beschmutzt war. Offenbar lud dieser übermäßig mit Fäkalien beschmutzte Weg einige Dorfbewohner dazu ein, es dem Vieh gleich zu tun: Sie nutzten diesen als eine öffentliche Stelle, um dort ihre Notdurft zu verrichten. So beschwerten sich einige Hausbesitzer vor Gericht, dass des Öfteren verschiedene Einwohner an den Zäunen stehen blieben und dort hin seichen würden. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis des Meineke Evertt am 28.07.1631. 537 Im Jahre 1662 unterhielt Engelbracht Bangen und 1664 Henrich Storck die Sinstorffer-Mühle. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 13 r , 42 r . 538 Vgl. Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 285, S. 34. 118 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme 6 17 7 3 4 5 14 Abbildung 7.1: Topografische Lage von Fürstenberg 539 7.1 Topografische Lage 119 8 2 15 9 10 11 1 16 18 19 13 12 1: Burgplatz 2: Alter Siedlungskern (Gruppensiedlung) 3: Klingenberg (Haufendorf) 4: Gärten 5: Felder 6: Antenberg 7: Auf dem Wasserplatz 8: Schwemmteich 9: Viehtränke 10: Totenbrücke 11: Unter den Haagen 12: Vesperkirche 13: Pellenberg 14: Kuhtrift 15: Nüllequelle 16: Bleiche 17: Höpperquelle 18: Zehnthaus 19: Wiesen der Herren von Westphalen 539 Topografische Karte von Fürstenberg um 1780. Privatbesitz Graf von Westphalen Schloss Fürstenberg. Reprografie der Originalkarte zur Verfügung gestellt von Herrn Bernd Nolte. 120 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme 7.2 Sozialstrukturen Hinsichtlich des knappen Datenmaterials erweist es sich als diffizil, einen fundierten Überblick über die Sozialstrukturen im frühneuzeitlichen Fürstenberg zu geben. Neben dem Problem mangelnder Quellendichte kommt die quellenkritische Schwierigkeit hinzu, dass die vorliegenden Flurbücher lediglich eine Momentaufnahme darstellen, sodass die Aussagekraft des ausgewerteten Archivmaterials bezüglich des Erkenntnisziels schwierig einzuordnen ist. Denn bei der Dateninterpretation sind zusätzliche Variablen zu berücksichtigen wie beispielsweise die durch Kriege, Seuchen und Krankheiten bedingte Mortalitätsquote, Besitzschwankungen durch Landbesitzwechsel, eine hohe Mobilitätsrate durch Ein- und Abwanderung, nicht schriftlich aufgeführte Nicht- Steuerzahler (Tagelöhner, Einlieger) etc. Diese gängigen Schwankungen führten zu ständigen zahlenmäßigen Verschiebungen in der örtlichen Sozialstruktur. 540 Die heuristischen und hermeneutischen Hürden erlauben folglich keinen leichtfertigen Umgang bei der Auswertung der vorliegenden Zahlen. Für eine bessere Nachvollziehbarkeit des Interpretationsproblems seien daher einige zeitgenössische Alltagspraktiken kurz aufgegriffen, die eine Variabilität im jeweiligen Landbesitz bedingen konnten. Würdigt man die fürstenbergischen Verkaufsurkunden eines näheren Blickes, so fällt ins Auge, dass der Gerichtsschreiber nahezu monatlich Kaufbriefe für einen Besitzerwechsel ausstellte. Die Gründe für eine temporäre oder erbliche Abtretung an Land, Wiesen oder Gärten sind unterschiedlicher Natur. Die Verkäufer gaben häufig persönliche Notsituationen als Verkaufsgrund an, wie Krankheit, Witwenschaft, Viehsterben etc., aber auch der Wunsch, an einen anderen Ort zu ziehen. 541 Der Landverkauf war zudem häufig einem ökonomischen Kalkül geschuldet: Einerseits war man bemüht, den „Geldbeutel wieder aufzufüllen“, andererseits konnte auf diesem Wege die obrigkeitliche und herrschaftliche „Steuer-Schraube“ 542 , wie die Heuer- und Zehntabgabe, „zurückgedreht“ werden. Um jedoch seinen Landbesitz nicht zwangsläufig zu verringern, war statt der erblichen Abtretung die temporäre Pfändung weitaus beliebter. Für weitere Schwankungen hinsichtlich des Landreichtums der jeweiligen Dorfbewohner sorgten die hiesigen Erbpraktiken. Obwohl der fürstbischöfliche Landesherr 540 Siehe hierzu Le Roy Ladurie: Karneval in Romans, S. 9 ff. 541 Ich Jobst Hamb Urkunde vnd bekenne hirmit vnd in krafft dieses briefes für auch, Elsen, meine Ehelich hausfrawen Erben, vnd sonsten Jedermenniglich, daß ich henrich Papens zur fürstenbergh, meine vff der schlucht belegene drittehalb morgen landes Erblich, vmb zwantzigh drei Rthlr. paderbornsche wehrungh, verkaufft, cedirt vnd vbergelaßen habe, welche itz. benente dritte halb morgen verkauffs landes / : wofür ich die benente kauffgeldes entfangen. Deßwegen ich hirmit bestendigh quitire vnd für richtige Zahlung dancksagung thue: / er kauffe hier füro zu seinem besten nutzen, ahn mein oder meiner kinder, vnd sonsten ohne Jemandts verhinderung heur, vnd Zehentfrey, gleich wie ich [es] biß hir zu gebrauchet, besamen vnd gleich sondern seiner landes damit verfahren magh, deßwegen ich mich des ihm krefftens, vnd des seinigen die Eviction zu praestirn mich hirmit vestiglich verobligier. Zu urkundtlicher warheit vnd vnterhaltung. [...]. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 2 r . 542 Schmale, Wolfgang: Art. „Ungleichheit“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a4443000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 7.2 Sozialstrukturen 121 im Hochstift Paderborn den Brauch des Anerbenrechts bei der Bevölkerung großräumig durchzusetzen versuchte, 543 bestand in Fürstenberg weiterhin ein Konglomerat parallel bestehender Vererbungspraktiken, die grob unter die terminologischen Subsumierungen „Realteilung“ und „Anerbenrecht“ gefasst werden können. Während die sozial besser gestellten Dorfbewohner darauf bedacht waren, den Hof durch eine kalkulierte Heiratspolitik und das Anerbenrecht zu erhalten, teilten ärmere Personen, den Besitz unter den Erbberechtigten auf. 544 Zu weiteren Landzersplitterungen kam es, wenn die Kinder verheiratet wurden und die Brautbzw. Bräutigameltern diesen Land und Wiesen aus dem Familienbesitz übertrugen. Ferner hatten verwitwete Personen bei einer Neuverheiratung zunächst den kindtlichen Anteil an die Kinder aus vorheriger Ehe auszubezahlen, um vorab Erbstreitigkeiten in der Familie zu verhindern. 545 543 In der Verordnung von 1662 heißt es: Und gleichwie dann Fürs andere insonderheit vermerket wird, daß die Meyer- und Pacht-Güter von den Elteren unter die Kinder pro Legitima, aut dote, oder auch wohl von Brüderen und Schwesteren unter sich viel vielfältig vertheilet werden; allso soll hiernächst alle solche Versplitterung und Theilung ernstlich verboten seyn, und mit dem Meyer- oder Pacht-Gut nur einer, welcher seine Miterben mit Geld, oder anderen Mittelen abfinden muß, und zwar allemal unter obgesetzter Clausul des Guts verlustig seyn, wofern die Pacht über die rechltiche Zeit ausstehen, oder auch das Gut ohne Consens beschwert, oder sonsten veräußert werden sollten, bemeyert werden; da aber bey einen oder anderen solches zumalen inpractikabel oder ohnmöglich seye, und derselbe dann von Uns Unsern ggsten. Consensum zu einiger Anweisung oder Theilung ad Tempus erhalten haben würde, so soll dergleichen Theil- oder Anweisung von Unseren Beamten gerichtlich ad Protocollum geschehen, und die theilende Erben der jährlichen Pacht und Schuldigkeit halber alle in Solidum obligirt werden. Hochfürstlich-Paderbornische Landes-Verordnungen, S. 116 f. 544 Zur zeitgenössischen Erbpraxis siehe Rüffer, Joachim: Vererbungsstrategien im frühneuzeitlichen Westfalen. Bäuerliche Familien und Mentalitäten in den Anerbengebieten der Hellwegregion (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, Bd. 51), Stuttgart 2008. 545 In einer Fürstenberger Urkunde vom 22.04.1698 steht: Hatt Johan volmer[,] weiln zur andern Ehe geschritten, seine güter und haubschafft und mit seinen kindern getheilet und wie folget specificirt, auffer ahe eine wiese, item im ringelsbuke eine wiese versetz weise, ein hoff bey Hr. obristen Campe, ein hoff in der berchen grundt, noch ein hoff in der hoff in der brechengrundt[,] woran stoffel koch den 4ten theil hatt, ein campe ahn der heppe; länderey[: ]2 morgen ahn der Eilerseit - grünen roggen, 1 1 / 2 morgen ahm Eilerwege, 2 morgen auffm hederhagen - grünen roggen, 1 1 / 2 morgen auffm kley, 1 1 / 2 morgen daselbsten, 2 morgen auffm paderborner kley, 2 morgen unten auffm gollendahl, 2 morgen auffm graßwege - grünen roggen, 1 1 / 2 morgen bey der kettlernt freylandt, 3 morgen hintern jüngeren busche, 2 morgen oben der obersten mühle, 1 morgen ahm pannenstein, 2 morgen ahm ringelsbuke im wünnenbergischen - grünen roggen, item ahm hederhagen auff den 1 morgen landt so zum unterpfande stehet - einen grünen roggen. 3 pferde mit zugehörigem zeuge - aestimirt ad 25 Rthlr., 1 kuh, 3 rinder, 1 saw und 2 schötters, 18 schaffe und 11 lammer, ein wage mit zubehöer, ein pflug mit 2 toggen, eine ruhlker und 2 rader, ein waßernägeln. Daß hauß mit schaffestall und spieker ist angeschlagen ad 140 Rthlr. von diesem vorgesetzten posten und theilen gebühret den kindern die halbscheidt und die halbscheidt behaltet der vatter. Was auffe anbelanden thuet die beide antrettende Eheleute Joan Volmer und Elsabein oisterwalt, so ist abgeredet eingewilliget, daß nach deren Eines jeden todt die halbscheidt von seiner habschafft[,] so nicht verzehret[,] den nechsten von seiner seits limit nach beider Eheleuten todt wider heimb- und anfallen solle, jedoch das jeder theil vor seinen todt macht und vorbehalten haben wolle[,] und solle damit seinem freyen willen und belieben nach zu disponieren und zu geben ahn den, welcher Ihm guts thuet, mann und fraw beiderseits[,] aber die verlaßenschafft, welcher der letzte sein wirdt[,] sein lebentlang selbsten 122 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme Angesichts der fehlenden Landverzeichnisse können zusätzlich keine Aussagen über die soziale Ungleichheit bzw. über den Umgang mit ihr im Raum Fürstenberg getroffen werden. Denn die frühneuzeitliche Gesellschaft delektierte sich geradezu an einer steten Auffächerung der Rangunterschiede, die sich nicht bloß an dem ökonomischen Landreichtum orientierten. 546 Soziale Dignität und Besitz gingen aufgrund der hiesigen Erbpraxis nicht zwangsläufig Hand in Hand. Insbesondere durch den Anerbenbrauch waren die übrigen Erben, die nicht für die Nachfolgerschaft bestimmt waren, zu einem ökonomischen Abstieg gezwungen. Dennoch besaßen die wirtschaftlich benachteiligten Nachkommen weiterhin ihr „symbolisches Familienkapital“. Am deutlichsten tritt dieses Phänomen bei der Familie Papen zutage. Als Alteingesessener des Ortes Fürstenberg bekannt, belegte Hermann Papen senior das Schöffenamt und konnte sich durch seinen erworbenen Reichtum zur gehobenen Mittelschicht zählen. Das Kataster von 1672 belegt, dass er zu diesem Zeitpunkt insgesamt 48 Morgen Land (1684: 45,5 Morgen) besaß. Da er offenbar mehrere Kinder hatte, konnte nur eines als Alleinerbe bestimmt werden. Seinem Sohn Johannes Papen junior fiel lediglich sein Pflichtanteil zu. Mit gerade einmal 8,5 Morgen Land (1684: 9 Morgen) zählte er zur Unterschicht und führte ein recht bescheidenes Leben, wie die schriftliche Dokumentation seines Nachlasses bezeugt: Nach seinem Ableben im Jahr 1694 wurde sein mobiler und immobiler Besitz unter seinen fünf Kindern (Cordt, Catharina, Friedrich, Ludowig und Anna Catharina) aufgeteilt: Der Wert des Hauses belief sich auf 55 Reichstaler und war in einem maroden Zustand. So berichteten die Schöffen, dass Papens Haus keine dile [...] und kein beschloß, auch sülloß und ahn einerseit keine schlüssel habe. 547 Auch das Inventar fiel nicht üppig aus: 2 eisen potte, ein von 6 maßen vndt 1 von 2 maßen, 2 lägelen ein von 4 maßen und 1 von 2 maßen, item ein butterstuntz von einem eymer, ein disch, item ein bettespan 548 sowie ein Esel, der einen Wert von 5 Reichstalern habe. Zudem müsse sein ältester Sohn die hinterlassenen Schulden in Höhe von 11 Reichstalern und 35 Groschen begleichen. Seine recht „mageren“ Besitzverhältnisse beeinflussten jedoch den Familiennamen Papen nicht in negativer Hinsicht, wie anzunehmen wäre. Johannes Papen jun. genoss trotz seiner kargen Lebensverhältnisse ein hohes Ansehen in Fürstenberg und wurde wie sein Vater zuvor in das Schöffenamt gewählt. 549 Der Familienname war folglich mitbestimmend, an welcher sozialen Stelle eine Person positioniert war. erst zu gebrauchen und nützen und zu genießen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 68 r-v . 546 Schmale: Ungleichheit. 547 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 48 r . 548 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 48 r . 549 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 165 r . Bereits für das Jahr 1670 wird in den niedergerichtlichen Akten ein Johannes Papen als Schöffe erwähnt. Allerdings ist nicht klar herauszuarbeiten, ob es sich bei dieser Person um Johannes Papen senior oder junior handelt, sodass auf den zuverlässigsten Hinweis von 1685 zurückgegriffen wird. Es bleibt folglich nicht auszuschließen, dass Johann Papen junior bereits zu einem früheren Zeitpunkt als Schöffe tätig war. 7.2 Sozialstrukturen 123 Dass nicht nur die familiäre Zuordnung bzw. der Ahnenstolz, sondern auch Verwandtschaftsverhältnisse und Beziehungsnetzwerke für die soziale Platzierung und Selbstverortung einer Person richtungsweisend waren, belegen zudem die aktenkundigen Überschreitungen, die sich die Hausdienerschaft und Hirten gut situierter Fürstenberger erlaubten. Auffallend viele Korn- und Wiesenbeschädigungen gingen auf das Konto der Schäfer, die im Dienst der prestigeträchtigen Familien Blinden und Thelen standen. Will man ihnen nicht geradezu Einfältigkeit unterstellen, so liegt die Vermutung nahe, dass sich die Hüter aufgrund der hohen Sozialposition ihrer Dienstherren 550 die Freiheit herausnahmen, beabsichtigt oder unbeabsichtigt unaufmerksamer zu sein. Sicherlich wäre es wünschenswert zu klären, welchem der beiden Aspekte - materieller Besitz oder soziale Netzwerke - die Zeitgenossen mehr Gewicht bei der sozialen Positionierung verliehen. 551 Jedoch muss diese Frage offen bleiben. Diese, der frühneuzeitlichen Alltagspraktiken geschuldeten Überlegungen, mahnen, Zurückhaltung bei der Erstellung einer sozialen Stratifikation zu wahren. Insbesondere da die Grenzen bei der Bildung von Vermögensklassen weitestgehend „willkürlich“ 552 gesetzt sind. 553 Denn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Schichtzuweisungen geht stets die problematische Frage voraus, welcher Besitz gewährleistete zu welcher Zeit eine ausreichende Versorgung? 554 Diese Frage scheint umso brisanter, wenn die verschiedenen Konjunkturverläufe - wie oben angeschnitten - berücksichtigt werden. Um dem Problem eines oft sehr abiträr anmutenden Verfahrens mittels Maßzahlen zu entgehen, soll daher die in der Stadtgeschichtsforschung anerkannte Dezilen-Methode als Analyseinstrumentarium herangezogen werden. 555 550 Die Familien Thelen und Blinden befanden sich aufgrund ihrer zahlreichen Ländereien an der obersten sozialen Spitze in Fürstenberg. Im Jahr 1672 verzeichnete die Familie Blinden 83 Morgen Land, das sie zwölf Jahre später auf die beträchtliche Anzahl von 121 Morgen erweiterten. Die Familie Thelen belegte 1672 mit ihren 79,5 Morgen Land nach der Familie Blinden den zweiten Platz in der Güter-Hierarchie. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, 4 v und 4 r . 551 Eine sehr aufwendige und minutiöse Arbeit, die aufgrund fehlender Kirchenbücher für das 17. Jahrhundert hier nicht gewährleistet werden kann. Dennoch soll ein entsprechender Ausblick für weiterführende Arbeiten gegeben werden, der eventuell neue methodische Zugänge zum Phänomen „Schichtenkriminalität“ liefert. 552 Mahlerwein, Gunter: Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen 1700-1850 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Bd. 189), Mainz 2001, S. 82. 553 Für Literaturhinweise siehe Frank, Michael: Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650-1800, Paderborn 1995, S. 68, Fußnote 128. 554 Vgl. Göttmann, Frank: Die Versorgungslage in Überlingen zur Zeit der Hungerkrise 1770/ 71, in: ders. (Hrsg.): Vermischtes zur neueren Sozial-, Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte des Bodenseeraumes. Horst Rabe zum Sechzigsten (Hegau-Bibliothek, Bd. 72), Konstanz 1990, S. 75-134, hier S. 86. 555 „[...] [sie] besitzt den Vorteil, nicht nur pauschal das relative Ausmaß von Konzentrationen bei statistischen Verteilungen zu beziffern, sondern erstens aufzudecken, welche Bereiche des Samples sich wie zur Gesamtverteilung verhalten, und zweitens klare Grundlagen für den Vergleich zwischen verschiedenen Datenreihen zu schaffen.“ Ebd., S. 89. 124 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme Tabelle 7.1: Aggregierte Daten der Kataster von 1672 und 1684 1672 1684 Anzahl Haushalte 150 200 Summe an Land (in Mg.) 3230,25 4356,5 arithmetisches Mittel (in Mg.) 21,5 21,8 Median (in Mg.) 19 17,3 Für das Jahr 1672 werden im Kataster insgesamt 150 Haushalte erwähnt, zwölf Jahre später sind es sogar 50 Feuerstellen mehr. Um die Versorgung für die angestiegene Einwohnerzahl weiterhin zu gewährleisten, wurde in diesem Zeitraum das Landvermögen um 1126 Morgen erweitert, dabei blieb der durchschnittliche Landbesitz relativ stabil, wie anhand des gleichbleibenden arithmetischen Mittel ersichtlich ist (siehe Tabelle 7.1 sowie die Tabellen B.1 und B.2 auf S. 522 bzw. S. 529). Betrachtet man hingegen die Änderung des Medians zwischen 1672 und 1684 wird eine gering steigende Ungleichverteilung zwischen der unteren und oberen Hälfte der Haushalte erkennbar. Dieses Ergebnis lässt sich auch durch die ermittelte Lorenz-Kurve bestätigen, die im Gegensatz zum Jahr 1672 für 1684 flacher ausfällt (vgl. Abb. 7.2 auf der nächsten Seite). Werden die Katasterdaten zusätzlich in Dezile aufgeschlüsselt (vgl. Tabelle 7.2 auf S. 126), zeigt sich, dass der Zuwachs des ersten Dezils zuungunsten des zweiten bis sechsten Dezils erfolgte. Was bedeuten diese erarbeiteten Befunde konkret für die lokale Sozialstruktur? Beinahe 70 % des gesamten Landbesitzes befand sich in den Händen der oberen 40 % der Haushalte, die für die ärmeren Dorfbewohner Arbeitsplätze schufen. Zudem besitzen die Dezilgrenzen eine große Ähnlichkeit zu den ermittelten Schichtgrenzen wie sie bei Linde 556 für das frühneuzeitliche Paderborn und bei Nolte/ Nolte 557 für das preußische Fürstenberg ermittelt wurden: Das obere Zehntel bildete die Oberschicht mit mindestens 42 bzw. 42,5 Morgen Land und der Mittelstand stellte fünf Zehntel mit mindestens 14,8 bzw. 14,5 Morgen Land. Die Frage nach der sozialen Schichtverteilung lässt sich um die zusätzliche Komponente der lokalen Berufsstände und Einwanderer erweitern. Zum ersten Punkt lässt sich nur so viel festhalten, dass im frühneuzeitlichen Fürstenberg nachweislich nicht nur Bauern, sondern auch Schmiede, Böttcher, Schneider, Wirte, Krämer, Zimmermänner, Müller, Maurer und ein Feldscher lebten. Über die Mobilität der Handwerker und ihr Wirken im dörflichen Zusammenleben ist anhand des Quellenmaterials keinerlei Aussage zu treffen. 558 556 Vgl. Linde, Roland: Vom Westfälischen Frieden bis zum Ende des Fürstbistums (1648-1802), in: Göttmann (Hrsg.): Die Frühe Neuzeit, S. 267-495, hier S. 303 f. 557 Vgl. Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 92 f. 558 Sicherlich handelt es sich hierbei um ein Forschungsdesiderat, das in der Historiografie noch nicht genügend gewürdigt wurde. Vgl. Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 72. 7.2 Sozialstrukturen 125 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Haushalte in % Landbesitz in % 1672 1684 Abbildung 7.2: Lorenz-Kurven der Flurbücher von 1672 und 1684 Weitaus mehr Informationen gibt das vorliegende Archivmaterial über die Wahrnehmung der „unerwünschten Fremde[n]“ 559 preis, die teilweise in Fürstenberg lebten, zeitweise dort arbeiteten oder lediglich als Reisende passierten. Nachweislich ließen die Herren von Westphalen 1617 der fürstenbergischen Bevölkerung verkünden, dass, wer von außen fremd ins Dorf Fürstenberg ziehen und sich verheiraten will, soll zuvor Einzug dingen und die Güter beweinkauffen, auch Freibrief und Zeugnis seines ehrlichen Verhaltens und Herkommens vorlegen 560 . Die obrigkeitliche Forderung nach einem Identitätsnachweis war nicht nur aus dem bloßen Bedürfnis einer zunehmenden Bürokratisierung in einem sich allmählich entwickelnden Staat heraus entsprungen. In erster Linie galt sie dem Anliegen, Städte und Gemeinden zu schützen. Denn zum einen stellten die organisierten Räuberbanden, die von Dorf zu Dorf bzw. von Stadt zu Stadt zogen, eine regelrechte Plage dar. 561 Zum anderen waren Minderheiten und Randgruppen wie heimatlose Vagabunden, Landstreicher, Bettler, Fahrende, Juden etc. nicht weniger ungern gesehen, von denen es sich sozial abzugrenzen galt. 559 Hering Torres: Fremdheit. 560 Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 383, S. 51. 561 Erinnert sei an den Räuber Scribonius von Haaren. 1579 wurde er schließlich festgenommen und nach gehaltenem Gericht in Dalheim das Urteil ausgesprochen: Man solle ihn auf einen Tisch binden, mit glühenden Zangen am ganzen Leibe, wo man ihn fassen könnte, brennen und zwacken, ihm darauf den Bauch öffnen, das gottlose Herz ums Maul schlagen, alsdann den ganzen Leib in vier Stücke schneiden und diese an vier Orten allen zum Exempel und Abscheu aufhängen. Z. n. Richter: Dreißigjähriger Krieg, S. 159. Ausführlicher bei Hecker, W.: Scribonius, der Schreiber von Haaren, in: Haarener Geschichte, hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft zur Tausendjahrfeier, S. 310-315 und kurz angeschnitten bei Wedekin, Jost: Haaren, altes Dorf am Sintfeldrand, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 227-245, hier S. 236. 126 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme Tabelle 7.2: Landbesitz nach Dezilen aus den Katastern von 1672 und 1684 Dezil Summe an Land Anteil Grenze Dezil in Mg. in % in Mg. 1672 1684 1672 1684 1672 1684 1 829,5 1273,3 25,7 29,2 43,0 42,5 2 557,5 742,0 17,3 17,0 33,0 30,5 3 440,5 548,5 13,6 12,6 26,3 24,5 4 366,5 443,8 11,3 10,2 22,7 21,0 5 311,0 388,8 9,6 8,9 19,0 17,3 6 251,0 317,3 7,8 7,3 14,8 14,5 7 184,3 255,3 5,7 5,9 11,0 10,5 8 141,5 186,0 4,4 4,3 8,0 8,0 9 103,5 137,8 3,2 3,2 5,5 5,5 10 45,0 64,0 1,4 1,5 0,0 0,5 Wie sehr die Beziehung zu dem „Anderen“, worunter auch allgemein Durchreisende und Tagelöhner gezählt wurden, durch Misstrauen bestimmt war, verdeutlichen auch die zeitgenössischen Policeyordnungen des Paderborner Fürstbischofs. So müsse jede reisende Person, die in fremden Orten Gaststätten oder Herbergen aufsuche, sich bei den zuständigen Lokalbeamten oder Wirten melden. Zudem sollten die Hausherren die unbekannten Personen gezielt danach fragen, woher sie kämen, was sie tun wollten und wohin sie zu gehen beabsichtigten. Sollte sich die Person verdächtig verhalten, sei sie sofort persönlich an [zu]halten 562 . Auch Tagelöhnern und Einliegern, die als Hilfskräfte temporär aushalfen, wurde in Fürstenberg mit Argwohn begegnet. In einer Satzung vom 17. Juli 1617 verordneten die Herren von Westphalen, dass die fremden Einlieger, die keine eigene Wohnung oder Güter hier haben und nur den Junckern und Untertanen die Zäune verbrennen, Gärten bestehlen und allerhand Schaden zufügen, gänzlich abgeschafft und des Dorfes verwiesen werden sollen 563 . Wie sehr Durchwanderer unter Beobachtung standen und an sie die Erwartung gestellt wurde, sich den örtlichen Gepflogenheiten unterzuordnen, verdeutlicht ein Beispiel aus dem Jahr 1669. Gerdrutt Otten war zur Herberge bei der Familie Saurhagen, als Hans, der Schweizer, sie für eine kinderverbringersche ausgerufen hatte. Sie klagte vor Gericht, weil sie dieses Vergehens unschuldig sei und sich doch Einheimisch gehalten habe. 564 Während durch herrschaftliche Verordnungen primär potenzielle und virulente Gefahren für die gesellschaftliche Gesamtordnung vermieden werden sollten, gaben sie auch eine Orientierungshilfe im Umgang mit dem Fremden. War erst einmal die Identität des „Anderen“ bekannt, war eine Kommunikations- und Interaktionsgrund- 562 Hochfürstlich-Paderbornische Landes-Verordnungen, S. 70. 563 Z. n. Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 383, S. 52. 564 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 86 r . 7.3 Kommunale und herrschaftliche Organisationsstrukturen 127 lage geschaffen, diesen nach den standesgemäßen Gepflogenheiten 565 und gemäß seinem „symbolischen Kapital“ zu behandeln und zu achten - Verhaltensregeln, die der Fremde auch durchaus für sich in Anspruch nahm. Wurde dem „Fremden“ nicht genügend Respekt gezollt, verstieß man gegen den örtlichen Verhaltenskodex. Ein Beispiel liefert hierfür der folgende Quellenauszug. Als die adelige Anna Catharina Schmittlin, geborene Schubartin, eine Herberge bei dem Wirt Meineke Dröppel suchte und am nächsten Morgen um die Rechnung der Verzehrkosten bat, versuchte die Frau des Wirtes, den Preis für Getränke und Speisen zu erhöhen. Als Anna Catharina Schmittlin den Betrug bemerkte und dieses Verhalten als vngepührlich empfand, habe die Wirtin sie midt große[m] vngestümb[,] Ja midt vielen schmehwortten überfallen[,] in specie für [eine] Hexen[,] Leichtfertige hueren, schelm, Landtsreichers gescholten vndt außgeruffen. Schließlich habe Meineke Dröppels Frau sie mit einem Tretbrett angegriffen und sei damit auff sie zugeEylt vndt damit Nach den köpffen geschlagen[,] daß sich deren kaum Endtwehren können, welches Ihr Endtlich auß den henden gerüket vndt zum wahrzeichen vorbringen vndt überlieffern theten, baeten ümb Gottes willen[,] solche gewaldthaedt Ernstlich zu bestraffen 566 . 7.3 Kommunale und herrschaftliche Organisationsstrukturen Allgemein kann festgehalten werden, dass die wichtigste Gemeindefunktion der Umgang mit den kommunalen Ressourcen war - so z. B. die Nutzung wie die Sorge um die Subsistenz und die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. 567 Diese Aufgabenbereiche oblagen sowohl den kommunalen als auch den obrigkeitlichen Amtspersonen, die in den niedergerichtlichen Gerichtsakten häufig als „Rüger“ in Erscheinung treten. 568 Zwar lassen sich beide Posten in terminologischer Hinsicht 565 Siehe hierzu Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Dorf und Stadt 16.-18. Jahrhundert, Bd. 2, München 2 1999, S. 176. 566 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 107 r . 567 Vgl. Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 80. 568 Der Rüger hatte während des Jahres seine Nachbarn zu beobachten. Fielen ihm Normübertretungen auf, musste er diese vor Gericht anzeigen. Ebd., S. 88. Einige Beispiele aus dem gesichteten Archivmaterial seien an dieser Stelle genannt. So gaben die Zehntsammler am 22.09.1669 klagend an, daß hin vndt wider am zehenden im felde von den schäffers großer schaden geschehe[,] dieselber aber vff scheinender thaedt nicht ertappen könten, gleich wol die zusammen gesetzte zehendtschöbe, hie vndt da gantz verderben würde. [...] Desgleichen Jost Reuters schäffer Cordt deßen schaffe vffe Körtke drey Roggen schöbe vndt einen hauff Ruhfutter gantz verdorben [...]. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 114 v . Auch die Schütterer zeigten vor Gericht Schäden an Wald, Wiese, Gärten und Kämpe an. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 82 r , 102 v . Sie kontrollierten zudem aktiv den dörflichen sozial-moralischen Raum und erinnerten durch maßregelndes Eingreifen an die Regeln des dörflichen Zusammenlebens. Werner Troßbach/ Clemens Zimmermann beschreiben folglich das mittelalterliche und frühneuzeitliche Dorf als einen Sozialraum, der „durch eine ausgesprochene Polarität der Elemente ‚Solidarität‘/ ‚Interaktion‘ einerseits und ‚Kontrolle‘ andererseits gekennzeichnet und zusammengehalten wurde“. Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 184. Die Amtspersonen bestätigten 128 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme strikt trennen, jedoch nicht auf praktischer Ebene. Denn die zwei Gruppenämter übernahmen sowohl Tätigkeiten im Interesse der Gemeinde als auch der Adelsherren. Einerseits waren sie in kommunalen Angelegenheiten ein wichtiges Sprachrohr der Gemeinde gegenüber der Ortsobrigkeit, andererseits konnten sie ein Korrektiv- und Durchsetzungsorgan für herrschaftliche Forderungen in der Kommune sein. 569 Will man die beiden Lager nicht idealtypisch, sondern praxisorientiert erfassen, so wäre es treffender, von einer Personalunion zu sprechen. Die richtungsweisende Diskrepanz zwischen ihnen bildete die Besoldung: Während die Kommunalämter von der Gemeinde monetär getragen wurden, waren es bei den herrschaftlichen Posten die Herren von Westphalen. Aufgrund ihres jedoch variierenden Aufgabenfeldes standen beide Ämter weder bei der Gemeinde noch bei der Obrigkeit in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis und verwalteten das Gemeindeleben weitestgehend autonom. Um den Untersuchungsgegenstand jedoch greifbar machen zu können, soll zur besseren Orientierung die terminologische Differenzierung beibehalten werden. Zunächst seien die kommunalen Ämter näher geschildert, deren Tätigkeitsbereich sich nur schwer aus den Quellen erfassen lässt. Zu ihnen zählten nachweislich die zwei Dorfvorsteher bzw. Schulten, die Wassermeister und die Wasserherren, die Nachtwächter und die Schützen. Trotz der wenigen Quellenhinweise ist noch am ehesten das Amt des Dorfvorstehers zu erfassen. Für gewöhnlich überwachten die Dorfvorsteher, die auch im vorliegenden Archivmaterial Dorffßfürsteherr genannt werden, 570 die Allmende- und Huderechte, die Holznutzung sowie die Einhaltung des Flurzwangs. Zusätzlich verwalteten sie die Gemeindekasse, aus der anfallende Reparaturarbeiten, wie die Instandhaltung von Wasserinstallation, Brücken (Stegen) und Wegen bezahlt sowie Back- oder Hirtenhäuser errichtet wurden. 571 Zudem kontrollierten sie die von der Gemeinde eingestellten Kuh-, Schaf- und Schweinehirten, wie aus einer beim Gericht eingegangenen Beschwerde von 1669 hervorgeht: Die beiden Dorfvorsteher Thönies Vahlen und Daniel Tonsor beneben dem dorffschwein gaben clagendt ahn[,] wie daß die schäffere, Jegen altersherkommen vndt gebrauch, die stöppel Im felde vndterschiedtlich so wol bey tag alß Nacht heimblich vndt Öffendtlich, vor dem schweine heer abfüteten[,] Insonderheit Jacob blinden[s] vndt Levin thelens schäffer, baeten daß denselben solches Einzustellen möchte Inhibirt werden [...] 572 . Kurz gefasst: Die Dorfvorsteher wahrten die Dorfordnung und die gemeinsamen dörflichen Belange. Damit war ihr Tätigkeitsbereich allerdings nicht erschöpft: Neben den kommunalen Tätigkeiten erhoben sie ferner die Abgaben für die Ortsobrigkeit, besaßen also folglich auch herrschaftliche somit nicht nur geltende Normen, sondern achteten auf deren Aufrechterhaltung und Einhaltung. Somit prägten sie auch den sozialen Lebensraum mitsamt seinen Wahrnehmungen, seinem Handeln und Verhalten. Brüggemann, Beate/ Riehle, Rainer: Das Dorf. Über die Modernisierung einer Idylle, Frankfurt a. M. und New York 1986, S. 197. 569 Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 89 ff. 570 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 33 r . 571 Vgl. Troßbach, Werner: Art. „Dorfgemeinde“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0797000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 572 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 114 r . 7.3 Kommunale und herrschaftliche Organisationsstrukturen 129 Tabelle 7.3: Übersicht der erfassten dorffßfürsteherr von 1654 bis 1705 Name Amtszeit Thönies Ludowig, Hans Schetter nwsl. 1654 Thönies Ludowig, Cordt Schmett nwsl. 1663-1664 Jasper Schmett, Henrich Dröppel nwsl. 1665 Thönies Vahlen, Daniel Tonsor nwsl. 1669 Henrich Voßebein, Jost Wolf nwsl. 1685-1686 Meineke Dröppel, Herman Hörning nwsl. 1674 Johann Scheifer Schulte, ? nwsl. 1690 Ludowig Henckel, ? nwsl. 1705 Befugnisse. Ihr Wirkungs- und Machtbereich drückt sich schließlich auch in der engen Zusammenarbeit mit dem Gerichtspersonal aus. 573 Für gewöhnlich übernahmen sie das Amt im Durchschnitt für ein Jahr oder länger (vgl. Tabelle 7.3). Sie stammten - soweit die Personen in den Flurbüchern namentlich aufzufinden sind - für gewöhnlich aus der Mittelschicht. Lediglich aus der Amtszeit von 1685 bis 1686 ist bekannt, dass auch Personen aus der Unterschicht die wichtigste Position im Dorf 574 innehaben konnten: Der Dorfvorsteher Henrich Voßebein besaß lediglich 5 Morgen Land und der zweite amtierende Dorffürst Jost Wolf 8,5 Morgen. Inwieweit es sich hierbei um eine gängige Praxis oder einen Sonderfall handelt, ist anhand der kargen Quelleninformationen nicht zu beantworten. Nach bisherigen Erkenntnissen oblagen die „Spitzenpositionen“ überwiegend den wirtschaftlich besser gestellten Großbauern, während kleinere, aber wichtige Kommunaldienste von Personen aus der Unterschicht wahrgenommen wurden, wie z. B. das Amt des Nachtwächters oder des Wasserherrn. 575 Aufgrund der heterogenen Ämterverteilung unter diversen Sozialschichten erhält das Dorf - zugespitzt formuliert - einen „egalitären Anstrich“ 576 . Die mehrmalige Ämterbesetzung durch ein und dieselbe Person sowie eine ausgeprägte Vetternwirtschaft scheinen dabei gängige Praxis in Fürstenberg gewesen zu sein. Denn gewisse „Sippen“ schafften es, durch Kooptation sich wiederholt die Führungsposition im Dorf zu sichern, wie es am Beispiel der Familien Ludowig, Dröppel und Schmett deutlich wird. Es ist daher angesichts dieser Beobachtung zu vermuten, dass manche Dorfposten zwischen bestimmten Familien sozial weiter „vererbt“ wurden. Dieses Ergebnis mag auch nicht weiter überraschen, wenn das zeitgenössische Wahlverfahren für eine Amtsneubesetzung näher betrachtet wird. 573 Exemplarisch hier LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 23 r . 574 Vgl. Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 89. 575 Dieser historische Befund gibt der bereits erwähnten Vermutung Raum, dass der Familienruf das entscheidende Kriterium für die Ämterbesetzung bildete, sodass auch Kleinbauern die Möglichkeit gegeben wurde, in die höheren kommunalen Dienste aufgenommen zu werden. 576 Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 93. 130 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme Denn üblicherweise schlugen die aktuell amtierenden Dorfvorsteher ihre Nachfolger vor, die schließlich von der Gemeinde durch ein Mehrheitsvotum gewählt und beim Amtsantritt in Gegenwart der obrigkeitlichen Amtspersonen vereidigt wurden. Ein solches Wahlverfahren ist in den Akten der Niederen Gerichtsbarkeit für den 1. Mai 1665 dokumentiert. So heißt es, dass die dorffßfürsteherr[,] benendtlich Jesper schmett vndt Henrich dröppel[,] baten, weiln sie nuhnmer Ein zeitlang vorsteherr gewesen, deßen Erlaßen vndt andere ahn Ihren Platz angeordnet werden möchten, so Ist solches in confideration gezogen vndt Ihmen andere dartzu düchtige Personen vorzuschlagen, anbefohlen worden, Darauff sie nachfolgende Personen vorgeschlagen[: ] Henrich Vahlen, Thönies budden, Hans schetter, Jost schluns, Thönies Reuter, Thönies Vahlen, Henrich Claus, Johann Papen, Berent Jost Voß. Auß diesen obgesetzten sein zu Vorsteherr in sämbtlicher Hr. Hr. Westphalen bed[ienter] [in] Jegenwart verordnet, welche auch stipula[to] manu solches In allem fleißig vndt trewlich zu verrichten, angelobt, Nemblich Jost schluns vndt Thönies Reuter 577 . Dass das Vorschlagsrecht bei der fürstenbergischen Gemeinde blieb, unterstreicht den hohen Autonomiegrad des Dorfes innerhalb der kommunalen Verwaltung. Im Gegensatz zu den kommunalen Ämtern sind die obrigkeitlichen Positionen in den Quellen detaillierter beschrieben. In der Frühen Neuzeit bestand für die erbberechtigten Mitglieder der Familie von Westphalen kaum ein Interesse, 578 für längere Zeit in dem alten Burggemäuer zu wohnen. Zum einen gingen die Westphälinge weitverstreuten und arbeitsintensiven Amtstätigkeiten in Paderborn, Laer, Lichtenau, Wünnenberg, Köln, Münster etc. nach, zum andern war die Fürstenburg als Sitz schlicht unattraktiv. Eine Urkunde aus dem Jahr 1658 schildert den äußerst renovierungsbedürftigen Zustand der Burg, 579 die kaum dem Geschmack eines herrschaftlichen Repräsentationsgebäudes entsprochen haben mag. 580 577 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 33 r-v . 578 Bereits für das 16. Jahrhundert ist belegt, dass es für diejenigen westphälischen Witwen, die erbberechtigt an der Fürstenburg waren, üblich war, in der Burg ihren Witwenplatz und/ oder Altenteil zu beziehen. So wird beispielsweise am 05.04.1565 berichtet, dass die Brüder Friedrich und Raven von Westphalen ihrer Schwägerin und Vetterin auf der Fürstenburg ihre Aufwartung machten, wo sie sie zum Essen trafen. Z. n. Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 351, S. 44. Jedoch bezogen sie die Räume, die sich in einem weniger desolaten Zustand befanden. 579 Henrich Wilhelm von Westphalen ließ 1658 seinen renovierungsbedürftigen Anteil an der Fürstenburg von einem Baumeister schätzen, der die Kosten auf etwa 3000 Reichstaler veranschlagte. Ebd., Quelle A 407, S. 57. 580 Zusätzlich ist danach zu fragen, ob die erbberechtigten Herren von Westphalen weitestgehend auf eine personelle Zentrierung der obrigkeitlichen Gewalt in Fürstenberg verzichteten, weil unter den Vettern keine gemeinsamen Herrschaftsinteressen und -ziele ausgehandelt worden waren. Dass diese Vermutung durchaus plausibel ist, belegt die Dokumentensammlung bei Alfred Bruns. So bezeichneten noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Gebrüder Jost und Raban von Westphalen den verstorbenen Wilhelm von Westphalen als abgünstiger Feind und schrien ihn öffentlich als Mordbrenner aus. Ebd., Quelle A 369, S. 48 und Quelle A 381, S. 50. Caspar Greif von Westphalen und Wilhelm von Westphalen teilten ihren Vettern, den Hofmeistern Heinrich und 7.3 Kommunale und herrschaftliche Organisationsstrukturen 131 Um trotz persönlicher Abwesenheit ihre Herrschaftsansprüche geltend zu machen, übertrugen sie alle innerdörflichen Administrationssowie Exekutionstätigkeiten, die die obrigkeitlichen Interessen berührten, sogenannten Westphälische[n] Bediente 581 . Es handelte sich hierbei um ortsansässige Fürstenberger, die mit den regionalen Gewohnheitsrechten und normativen Rechtsgepflogenheiten vertraut waren. Jedoch darf über dieses Amt nicht die moderne Vorstellung von einem „Vollzeitangestellten“ gestülpt werden: Es handelte sich hierbei um eine dienstliche Nebentätigkeit. Folgende Ämter zählten nachweislich zu den herrschaftlichen Bediensteten: Burgmeier, Richter, 582 Fiskal, Schöffe, Gerichtsfrone, Gerichtsschreiber, Zehntsammler, Accisesammler (vffheber), Schütterer und Holtzfürsten. Um jedoch mögliche Irrtümer auszuschließen, muss an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass die westphälischen Bediensteten nicht nur die Interessen der Ortsobrigkeit vertraten. In enger Kooperation mit den örtlichen Dorfvorstehern wahrten sie kommunale Anliegen jeglicher Art. Es entspräche nicht der historischen Lokalpraxis, sie lediglich als herrschaftliches Instrument oder zugespitzt als herrschaftliche „Fraktion“ wahrzunehmen, die sukzessiv und systematisch die gemeindlichen Anliegen zurückdrängte. Im Gegenteil: Die „westphälische Verbeamtung“ fürstenbergischer Ortsansässiger ist ein evidentes Indiz dafür, dass die Ortsobrigkeit darauf bedacht war, das lokale Rechts- und Ordnungssystem nicht zu touchieren - soweit dies im Einklang mit den adeligen Herrschaftsvorstellungen war. Obwohl die westphälischen Bediensteten realiter eine Doppelfunktion im Spannungsfeld zwischen obrigkeitlichem und gemeindlichem Zwang übernahmen, waren sie in erster Linie den Herren von Westphalen verpflichtet. Ihre Gehorsamspflicht gegenüber der Ortsobrigkeit äußerte sich schließlich in ihrer Denunziationspflicht: Vergehen niederer oder krimineller Art mussten sie den Junkern melden. Insbesondere der Richter und die Schöffen waren die direkten Kommunikationspartner der Westphälinge. 583 Die Bediensteten stammten vornehmlich aus der bäuerlichen Mittel- und Oberschicht der Fürstenberger Gemeinde und ihre Familien waren partiell seit mehreren Generationen bei den Herren von Westphalen tätig. Dass gerade die Großbauern für den westphälischen Dienst prädestiniert waren, mag nicht weiter verwundern. Nur dieser Sozialklasse war es monetär möglich, neben ihrem bäuerlichen Großbetrieb noch anderen Amtstätigkeiten nachzugehen, indem sie zusätzliche Arbeitskräfte, wie z. B. Knechte, Mägde und Tagelöhner, einstellten. 584 Sie waren folglich abkömmlich. Ihr wirtschaftlicher Erfolg brachte ihnen zudem ein gewisses Sozialprestige ein. Denn Wilhelm von Westphalen, sogar mit, dass Wilhelm Jost von Westphalen ihnen mit bewaffneten Bauern aus dem Amt Wünnenberg entgegentrat. Ebd., Quelle A 385, S. 52. 581 Ebd., Quelle A 420, S. 58 und LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 21 r . 582 Siehe Tabelle 9.1 auf S. 229. 583 Für nähere Ausführungen über ihre Amtstätigkeiten siehe die Kapitel 8.1, 9.1.2 und 9.1.3. 584 Die Bauern aus der Oberschicht besaßen nach herrschaftlicher und gemeindlicher Ansicht mehr Regulierungskompetenzen und Durchsetzungsfähigkeiten als die untere Sozialschicht, weil ihr großer Besitz sie wirtschaftlich unabhängig machte. Zugleich standen sie „an der Spitze innerdörflicher Abhängigkeitshierarchien, indem sie für Tagelöhner, Gesinde und Dorfhandwer- 132 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme mittels dieses „ökonomischen Kapitals“ bewiesen sie sowohl ihre rationalen als auch pragmatischen Kompetenzen - Qualifikationen, die im Rahmen des westphälischen Dienstes sicherlich gefordert waren. Zudem mag „die mit der langjährigen Amtsausübung errungene Erfahrung, die in der Familie vermittelt werden konnte, ebenso eine Rolle gespielt haben wie das Wissen um die dorfgesellschaftliche Akzeptanz einer bestimmten Familie“ 585 . Zusätzlich sollte der Aspekt der Verwandtschafts- und Klientelbeziehungen nicht unterschätzt werden. So scheint es im Dorf eine gängige Praxis gewesen zu sein, dass Personen, die bereits ein westphälisches Amt bekleideten ihr Votum zugunsten eines Familienkandidaten abgaben. 586 Bei manchen Familien kann von einer ausgeprägten familienstrategischen Tradition gesprochen werden. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Familien Blinden, Thelen, Papen, 587 Thorwesten, Sauren, Hibigen, Neukirch, Reuter, Vahlen, Schweins, Grothen, Voß, Österwaldt, Stüwer und Dröppel 588 zu nennen, die nachweislich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert im Dienst der lokalen Obrigkeit standen. Dabei ist die Beobachtung bezeichnend, dass einige der genannten Familien - Vahlen, Schweins, Grothen, Voß - per se zu den berüchtigten Hexengeschlechtern zählten. Dieser empirische Fund wirft die Frage auf, ab wann das Hexenstigma sich auf die verschrienen Personen desintegrierend auswirkte. Der ambivalente Umgang mit den Deüffelskindern verlangt daher nach einem plausiblen Erklärungsangebot, das in Kapitel V vorgestellt werden soll. Die Amtszeit der herrschaftlichen Bediensteten variierte je nach Tätigkeitsbereich stark: Während das Justizpersonal mehrere Jahrzehnte im Dienst der Ortsobrigkeit stehen konnte, blieben diejenigen Dorfmitglieder, die eine niedrigere Position bekleideten, für zwei bis drei Jahre im Amt tätig. Dennoch sind auch Fälle dokumentiert, in denen die Amtsinhaber ihren Dienst frühzeitig quittierten - sei es, weil sie sich in ihrer Amtsführung nicht genügend von den Herren von Westphalen unterstützt sahen oder von einzelnen Gemeindemitgliedern massiv verbal und/ oder körperlich attackiert wurden. In solchen Fällen konnte der Amtsträger die Obrigkeit darum bitten, seines Dienstes entlassen zu werden. 589 Auch bei Unfähigkeit oder Faulheit konnte der „Beamte“ frühzeitig entlassen werden, wenn sich seine Kollegen über ihn beklagten. Ein Beispiel sei zur Illustration angeführt. Am 18. Okotber 1665 ker Erwerbsmöglichkeiten darstellten“. Mahlerwein: Die Herren im Dorf, S. 310. Vgl. auch Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 44. 585 Mahlerwein: Die Herren im Dorf, S. 308 f. 586 Ebd., S. 309. 587 Deren einzelne Familienmitglieder waren sowohl in Dorfämtern als auch in herrschaftlichen Diensten tätig. Für die Familie Blinden ist beispielsweise belegt, dass ein gewisser Jobst Blinden 1593 als Vogt unter Johann Westphalen diente. Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 364, S. 47. 588 Die Familie Blinden steht nach den Angaben der Kataster von 1672 und 1684 an der Spitze der dörflichen Elite. Dicht gefolgt von der Familie Thelen, Sauren, Österwalt, Vahlen, Dröppel, Papen, Hibigen, Schweins und Reuter. Zum besseren Vergleich sind die Auswertungen im Anhang mit beigefügt. 589 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 34 r . 7.3 Kommunale und herrschaftliche Organisationsstrukturen 133 beschwerte sich der verordnete accise vffheber Henrich Schäffer über seinen Amtskollegen Thönies Reuter, an dem er wenig hülff hette, [so] daß solches alleine nicht verrichten könnte 590 . Reuters Unwille gegenüber dieser Amtstätigkeit mag darin begründet gewesen sein, dass die Eintreibung der Akzisesteuern 591 mehrheitlich von der fürstenbergischen Bevölkerung abgelehnt wurde, was zu vielen Pöbeleien und Ehrangriffen gegenüber den vfhebbern führte. 592 Trotz seines Treueeids gegenüber den Herren von Westphalen überwog offenbar Thönies Reuters Bedürfnis, seines sozialen Ansehens in der Gemeinde nicht verlustig zu gehen. Henrich Schäffer bat um eine Neubesetzung für das Amt, was ihm schließlich auch bewilligt wurde. Der westphälische Dienst konnte nach Ablegung eines rituellen Gelübdes angetreten werden. Nachdem die Bediensteten in Gegenwart aller erbberechtigen Westphalen mit den Schwurfingern (stipulato manu) den Eid geleistet hatten, diese als ihre alleinigen Herren anzusehen, 593 ihre Aufgaben fleißig vndt trewlich [zu] verrichten und gegebenenfalls Überschreitungen und Vergehen der hiesigen Normen anzuzeigen, 594 jedoch niemandts zu lieb oder zu leith auß zu saegen bey verlust seiner seele vndt seeligkeit 595 , waren sie in den westphälischen Dienst aufgenommen. 596 Der Dienstantritt wurde der gesamten Dorfgemeinde vor dem Haus der Westphalen vom Samtrichter verkündet. Dieses Vorgehen coram publico erfüllte nicht nur den Zweck, dass die Herren von Westphalen ihre Entscheidungen in der Ämtervergabe der bäuerlichen Gemeinde kundtaten. Umgekehrt sollte auch die fürstenbergische 590 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 29 v . 591 „Die Akzise war eine Umsatzbzw. Verbrauchssteuer, die im 17. Jahrhundert immer mehr Bedeutung erlangte, so daß fast alle Waren mit dieser Abgabe belegt wurden. [...] Beim Vieh bezog sie sich auf den gesamten Bestand und war damit vergleichbar mit einer Viehschatzung. Wein, Branntwein und Bier wurden nur beim Verkauf und Getreide beim Mahlen besteuert.“ Neuwöhner (Hrsg.): Im Zeichen des Mars, S. 266 f. Für Fürstenberg konnte zusätzlich eruiert werden, dass eine Akzise auf Tabak erhoben worden war. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Verzeichnis der empfangenen Steuern vom 29.07.1663. 592 Eine stets wiederkehrende Formel in den Quellen lautet, dass die vffheber mit hönischen Worten angegriffen worden seien. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 25 v . 593 Lunae[,] den 9. July 1668 Ist Jost Reuter zu einem freyen schöffen [erwählt] vndt hadt In Jegenwartt sämbtlicher Gerichtsherren Westphalen bediente vndt der andern scheffen[,] Benentlich Jacob blinde, Levin thelen, Henrich Neukirchen, Johann papen, Henrich stüwers vndt Johann Voettländers[,] den schöffenEydt würcklich abgeschworen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 70 r . 594 Seindt zu schutters angenommen[,] Inmaßen sie ahn Eydtstatt, daß fleißig vndt trewlich verrichten[,] auch allen schaden worüber sie Einen Oder andern betretten Oder finden werden[,] auffrichtig anzeigen[,] Niemandt verschweigen[,] keine freundschafft Oder feindschafft ansehen sollen vndt wollen, Frantz schmett vndt Friederich Freytag[,] welche stipulato Manu solches also angelobt. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 33 r . 595 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 150 r . 596 Sollte einer der Herren von Westphalen, dem sie den Eid geleistet hatten, während ihrer Amtszeit sterben oder seinen Erbteil an seine Vettern verkaufen, wurden sie aus ihrem alten Dienstverhältnis entlassen und mussten den Eid erneut vor dem neuen erbberechtigten Westphalen schwören. [...] und ließ [der Landdrost Raven] am 19. November [1593] vor sein Haus durch den Samtrichter die Gemeinde zur Fürstenberg zusammenrufen, die ihrer Eide an Johann [Westphalen] entlassen und ihn und seinen Bruder dafür für ihre herren zu erkennen angewiesen wurden. Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 364, S. 47. 134 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme Bevölkerung ihre Zustimmung zu den Beschlüssen geben, Sympathien oder Abneigungen offen verkündigen, ob sie die künftigen Bediensteten als intermediale Vorgesetzte sowie Kontrollorgane anerkennen. 597 Zudem diente die öffentliche Bekanntmachung dazu, die soziale Kontrolle zu „aktivieren“: Nun konnte die gesamte Gemeinde die „Beamten“ in ihren Aufgabenausführungen überwachen und bei Nichteinhaltung der gegebenen Pflichten bei den Herren von Westphalen persönlich oder vor Gericht denunzieren. Schließlich steckte auch die Idee dahinter, durch das öffentliche Ausrufen demonstrativ kundzutun, dass die Amtsinhaber dem herrschaftlichen Schutz und Segen unterstanden: Dieses Schutzangebot forderten auch die herrschaftlichen Kontrollorgane strikt ein. Ferner wurde auch die Gemeinde ermahnt, den Bediensteten mit Achtung und Respekt zu begegnen sowie den herrschaftlichen Aufforderungen nachzukommen. Auf beiden Seiten - sowohl bei der Gemeinde als auch bei den Bediensteten - war damit ein Verhaltenskodex geschaffen worden, der bestimmte Verhaltensanforderungen sowie -erwartungen an die jeweilige Gruppe richtete. Mit der Erhebung in den westphälischen Amtsstatus bestand für die Bediensteten die Chance, ihr Ehrkapital zu erhöhen. Denn als Bedienstete waren ihnen neue Handlungsräume und damit Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Dorfpolitik eröffnet worden. Neben einigen zusätzlichen monetären und wirtschaftlichen Vergünstigungen - die westphälischen Bediensteten waren von der verhassten Paderborner Accise 598 befreit 599 - verstärkten der westphälische Dienst ihre „Standesehre“, was sicherlich auch auf ihr Selbstverständnis einwirkte. So verwundert es nicht, dass Levin Thelen vor Gericht klagte, dass Meineke Dröppels Frau ihn beschimpft habe, er benähme sich wie ein großer herre 600 , und Johann Voettländer bezeichnete ihn als einen hochmütigen deüffel, der zudem vff Juncker Wilhelms hauß vnrecht gethaen haben soll 601 . So attraktiv die Vorteile einer westphälischen Karrierelaufbahn auch waren, sie brachte gewisse Auflagen mit sich. Erfüllte ein Bediensteter nicht die Regeln des 597 So klagte Levin Thelen 1663, dass er während des öffentlichen Verlesens eines obrigkeitlichen Dekrets von Meineke Dröppels Frau mehrfach mit steinwürffen gestöret [wurde], [sagend] Er[,] Levin[,] hab ihn [sc. ihren Mann] bedrogen [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 598 Erstlich soll ein jeder, der ein Faß Wein oder Bier zum Ausschenken anzapfen will, vor dem ers anzapft, bey Straf dessen ohnnachbleiblicher Confiscation, des Orts Receptori kund thun, und das angezapfte darauf völlig, und zwar, sobald das Faß aus ist, veraccisen [...]. Wenn das Fass aber nicht gänzlich leer sei, solle er es den Receptoren zeigen und je nachdem, wie viel das Fass noch enthalte, solle es auch vor der Orts Obrigkeit gebracht werden und daß es also darum seye, vermittels seines Bürger- oder sonst obliegenden Eid, bey welchem die untergehörige Bräuere, Krüger und Wirthe, wie auch andere insgemein, ernstlich erinnert und angemahnet werden, betheuren, wo aber die Bräuere das Bier auf den Keller oder Krug zu verzapfen geben, allda giebt der Verzapfer die Accisen, und nimmt auch dagegen den verordneten Pfennig zu sich. Hochfürstlich-Paderbornische Landes-Verordnungen, S. 89. 599 Johann Schäfer klagte, dass die Gerichtsschöffen Levin Thelen und Jacob Blinden sowie der Gerichtsschreiber Christoph Hibigen keine accise [geben]. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 50 r . 600 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Supplik vom 30.07.1663. 601 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 20 v . 7.4 Gemeindeleben und Geselligkeit 135 „Amtsethos“ oder beging sogar ein Amtsvergehen, 602 konnte das weitreichende Folgen für ihn haben. Diese Situation sei an einem Beispiel geschildert, die zwar nicht direkt einen fürstenbergischen Bediensteten betraf, jedoch einen externen „Kollegen“: Am 23. Oktober 1673 ging bei Gericht die Beschwerde ein, dass ein Reuter namens Jörgen, der im Dienst des Paderborner Fürstbischofs stand, in Gegenwart mehrerer Westphälischer Bedienter im Wirtshaus von Henrich Stüwer ahn [...] adelichen Ehren vndt guten Leuhmut [der Herren von Westphalen] Ohne die weinigste vrsach gröblich angezappet habe. In Anwesenheit der fürstenbergischen Gerichtsschöffe, schalt er die Edelherren und gloryrte damit, dass er in propria authoritate eine Pfändung durchgeführt habe. Als seine Geschichte von einem Trinkgenossen, Jörgen von Alme, korrigiert wurde, indem er darauf hinwies, dass er zu diesem Zeitpunkt im stifft Münster [...] alß ein soldat gelegen [habe], daselbst hette der vndterfrohne die pfandung thuen müßen, ist Reuter darauff heraußgefahren[,] fragte nach keinen Junckern, nach keinen schufften, nach keinen Edelleuten. Um wohl die Situation zu entschärfen, sich aber auch von dem Verhalten seines Kollegen zu distanzieren, stand Meineke Schmett auf und wollte auff seines Hr: Westphalen gesundtheit [trinken], [habe] seinen huet abgezogen vndt sich geneiget, darauff inquisitus geandtworttet[,] waß daß wehre midt dem huet abnehmen vndt Neigen. Jörgen Reuter fragte wiederholt in die Runde waß sie mehr wehren alß Junckern, hette darauff ferners recoquirt[: ] Er wolte Pfanden, wan vndt waß er wolte, daß solte Ihm kein Juncker, kein schufft, kein EdelMan wehren 603 . Wie der Fall ausging, ist nicht bekannt - die Akte ist nur fragmentarisch erhalten geblieben. Dennoch enthält sie den Hinweis, dass die Herren von Westphalen eine solche insolentz vndt Muhtwillen nicht duldeten und gegen Jörgen einen Inquisitionsprozess eröffneten. 7.4 Gemeindeleben und Geselligkeit Mit dem Ausdruck „Gemeindeleben“ sollen in dieser Teilanalayse nicht nur die hohe Eigenständigkeit und der weite Kompetenzradius der lokalen Gemeindeinstitutionen gegenüber der Herrschaft unterstrichen werden. 604 Neben dem rechtlichorganisatorischen Aspekt berührt der Terminus ebenfalls einen informellen, volkskundlichen Themenbereich, der in der einschlägigen Literatur zumeist unter dem Begriff „Nachbarschaft“ oder „Gemeindebräuche“ aufgeführt wird. 605 Konkret wird 602 Die defizitäre Struktur bei den Nürnberger Exekutivkräften untersuchte Henselmeyer, Ulrich: Ratsherren und andere Delinquenten. Die Rechtsprechungspraxis bei geringfügigen Delikten im spätmittelalterlichen Nürnberg (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven, Bd. 6), Konstanz 2002. 603 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 135 r -136 v . 604 Vgl. Zückert, Hartmut: Gemeindeleben. Verfassungsgeschichtliche, volkskundliche und historischanthropologische Zugänge, in: Rudert, Thomas/ Zückert, Hartmut (Hrsg.): Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.-18. Jahrhundert) (Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft, Bd. 1), Köln 2001, S. 1-9, hier insb. S. 1. 605 Vgl. Voltmer, Rita: Art. „Nachbarschaft“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a2886000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 136 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme unter diesem Rubrum nach der „inneren Form der Dorfgemeinschaft“ gefragt, nach den „Bedingungen, unter denen sich das alte Dorfleben zu vollziehen schien, [...]“ 606 . Es handelt sich folglich um einen Terminus, mittels dessen zwei Perspektiven eröffnet werden können: eine Außenansicht, also die rechtliche und verwaltungsmäßige Struktur des Großdorfes Fürstenberg, sowie eine Innenansicht mit einem sozialgeschichtlichen Schwerpunkt. Freilich überlagern sich sowohl makrostrukturelle als auch mikrostrukturelle Prozesse, wirken wechselwirkend aufeinander ein und tragen zu Überformungen bei. Eine idealtypische Distinktion besteht in der sozialen Praxis folglich nicht, sondern ein Mischverhältnis der auf eine Gesellschaft konstitutiv einwirkenden Elemente „außen“ und „innen“. Während die kommunale Organisationsstruktur in Fürstenberg im vorherigen Kapitel angeschnitten wurde, gilt es nun, sich der Kehrseite der Medaille zuzuwenden - den Grundzügen der kommunalen „Lebensgemeinschaft“. Mit dieser Begriffsverwendung soll nicht etwa die bestehende Forschungsdebatte um „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ eröffnet oder gar vom frühneuzeitlichen Dorfleben in einem romantischen Sinne gesprochen werden. 607 Der Gemeinschaftsbegriff wird in diesem Interpretationszusammenhang als eine erkenntnisleitende „Beschreibungskategorie“ verwendet, um die gegenseitigen Hilfestellungen im wirtschaftlichen „Aufeinander-Angewiesen- Sein“ sowie die identitätsstiftenden Momente von geselligen Bräuchen und Festen im Dorfleben unter einem terminologischen „Dach“ zu erfassen. Die informellen kommunalen Tätigkeitsfelder werden im vorhandenen Archivmaterial nicht direkt erwähnt, wie auch Kramer bemerkt, wenn er schreibt: „[...] das, was recht eigentlich das bäuerliche Leben ausmacht, bleibt unsichtbar, wenn es auch hintergründig wirksam ist.“ 608 Dennoch erscheint es m. E. unentbehrlich, zur Erhellung des lokalen Hexenphänomens diese doch wichtige Thematik zumindest in Teilaspekten anzuschneiden, um den markanten „Störfaktor“ Hexe im dörflichen Alltagsablauf plastisch hervorheben zu können. Hier ist sicherlich noch ein großer Forschungsbedarf vorhanden. Denn obwohl es in der Hexenforschung als eine Binsenweisheit gilt, dass die Hexe als potenzielle Gefahr für das dörfliche Ordnungsgefüge, 609 gar als ein 606 Kramer, Karl-S.: Die Nachbarschaft als bäuerliche Gemeinschaft. Ein Beitrag zur rechtlichen Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung Bayerns (Bayerische Heimatforschung, Heft 9), München-Passing 1954, S. 7. 607 Für einen kurzen Überblick zur Debatte siehe Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 10 ff. 608 Kramer: Die Nachbarschaft, S. 7. 609 „Neben den Frauen konnte der multifunktionale Hexereiverdacht auf alle Personen mit scheinbar oder wirklich auffälligem und deviantem Verhalten, auf ‚Fremdkörper‘ in einer geschlossen gedachten Gemeinschaft, aber auch auf ökonomisch, politisch und sozial aggressiv agierende beziehungsweise so wahrgenommene Zeitgenossen ausgeweitet werden. Vermeintliche oder tatsächliche Störenfriede gerieten deshalb schneller in Hexereiverdacht. Die Assoziation zwischen Hexerei und vermeintlicher Rebellion erklärt sich in diesem Kontext; denn wenn die Hexen ihrem Meister folgten, der gegen die Allmacht Gottes rebelliert hatte, dann musste ihnen auch der Wille zum Umsturz der herrschenden Ordnung und ihrer (politischen) Führung im Sinn stehen. Hexen hatten demnach als die größten Feinde jeglicher göttlich gewollter, politischer und gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien, angefangen beim König und Fürsten bis hin zur 7.4 Gemeindeleben und Geselligkeit 137 „Feind“ der christlichen Lebenswelt wahrgenommen wurde, 610 wird das jeweilige regionale Sozialgefüge - wenn überhaupt - nur recht allgemein in der entsprechenden Literatur angeschnitten. Hinsichtlich des soziologischen Gehalts dieser Studie, in der das Hexenstigma und seine sozialen Auswirkungen auf die Betroffenen im Mittelpunkt stehen, erweist sich eine nähere Betrachtung des dörflichen Zusammenlebens als fruchtbar. Zum gängigen Gemeindeleben zählte die gegenseitige Hilfe- und Dienstleistung bei der Bewältigung anstrengender und lebensnotwendiger Arbeiten, von denen hier einige Beispiele erwähnt werden sollen. Zu den wohl arbeitsintensivsten Tätigkeiten zählte der Ackerbau. Um einen Ernteertrag erzielen zu können, brauchte der Bauer gewisse Gerätschaften und Zugvieh. Pflug und Egge sowie Ochsen oder Pferde zählten zur Grundausstattung. Jedoch konnte sich nicht jeder Dorfbewohner das benötigte Material leisten oder gar das kostenaufwendige Vieh genügsam unterhalten. Um dennoch sein Feld bestellen zu können, wurden die entsprechenden „Materialien“ von Verwandten oder Nachbarn ausgeliehen, teilweise sogar für eine monetäre Gegenleistung. Damit jedoch die Ackerbestellung erfolgen konnte, bedurfte es weit mehr als der erwähnten Arbeitsgeräte. Karren und Fässer waren notwendig, um sowohl Wasser als auch Dünger auf die Felder transportieren und anschließend verteilen zu können. Die doch arbeits- und zeitaufwendigen Tätigkeiten wurden für gewöhnlich nicht allein unternommen. Das gegenseitige zuspahnen war eine gängige Leistung unter Bekannten oder Landnachbarn, 611 die sich einen eigenen Knecht nicht leisten wollten oder konnten. Weitere Unterstützung war bei der anschließenden Ernte erforderlich, für die üblicherweise drei Mann nötig waren: 1. ein Schnitter, der das Getreide mäht, 2. einer, der die Halme sammelt und 3. jemand, der die Garben bindet. 612 Die folgende Getreideverarbeitung wurde ebenfalls wie Anbau und Ernte nicht einzeln verrichtet. Wie der Ackerbau erwiesen sich auch die Flachsverarbeitung und Holzfuhren als lediglich im Kollektiv zu bewältigende Tätigkeiten. Das kooperative holzen 613 , d. h. das gemeinsame Absägen sowie Abtransportieren von Holzstämmen, konnte lediglich mit Unterstützung bewerkstelligt werden, während das Holzsammeln zumeist von den Kindern erledigt wurde. 614 Neben gemeinsamen Arbeiten übernahmen einzelne Dorfbewohner auch Tätigkeiten für die Gemeinde. So hüteten nicht nur die Gemeindehirten das Vieh, sondern auch patriarchalisch dominierten Ehe und Familie, zu gelten.“ Rummel/ Voltmer: Hexenverfolgung, S. 97. 610 In diesem Zusammenhang ist insbesondere die These der Gabenverweigerung zu nennen, die häufig in der älteren Literatur als Ursache für Hexenverfolgungen genannt wird. „Die ‚typische Hexe‘ ist [...] eine Frau, die in einem Haus der Dorfgemeinschaft Nahrungsmittel erbittet oder Geld oder Gegenstände leihen will, jedoch abgewiesen wird und unzufrieden, vielleicht noch eine Verwünschung murmelnd, das Haus verlässt: Geschieht bald danach in dem Haus ein Missgeschick, wird die Familie eine Hexereianklage gegen die abgewiesene Frau erheben.“ Schormann, Gerhard: Hexenprozesse in Deutschland (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 1470), Göttingen 3 1996, S. 77. 611 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 111 v . 612 Bader: Freiheit Fürstenberg, S. 199, Fußnote 9. 613 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht des Alten Hinten am 12.08.1601. 614 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage vom 07.10.1660. 138 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme zeitweise die kleinen Sprösslinge. Diese gaben zumeist auf die Kühe auf den Allmenden oder auf das Kleinvieh auf dem Pellenberg (siehe Abb. 7.1 auf S. 118 f., Nr. 13) acht. 615 Aber auch das Federvieh unterstand ihrer Obhut. Wilm Fischers Sohn Johann gab beispielsweise an, er müsse die Enten auf dem Wasserplatz weiden und achte darauf, dass keines vom Weg abweiche. 616 Offenbar zählte es zu den häuslichen bzw. kommunalen Hauptaufgaben der Kinder, sich um das Wohlergehen der Kleintiere zu kümmern. Als der Knecht von Jacob Blinden z. B. zu schnell mit seinem Wagen auf der Röden Marckede fuhr, versuchte Jost Ellmeyers Mettgen, schnell die Ferkel von der Straße zu locken - unglücklicherweise ohne Erfolg. 617 Fallweise waren auch die erwachsenen Gemeindemitglieder für die Versorgung des Viehs zuständig. So schilderte Magdalena Mengeringhaußen dem Gericht, dass ihr Mann zusammen mit anderen Dorfbewohnern mit den Pferden hinausziehe, vmb die zu weiden 618 . Dem kleinen Federvieh hatten hingegen die fürstenbergischen Frauen gelegentlich Trab und Brodt zu geben. 619 Außer der Wahrung der kommunalen und privaten Ressourcen sowie zu leistender Nachbarschaftshilfen 620 zählte die Armen- und persönliche Familienfürsorge zu den zentralen Aspekten des Gemeindelebens. Im 17. Jahrhundert war in der Hofkapelle der Herren von Westphalen eigens für die Notleidenden ein Armenkasten angebracht worden, der es den Gemeindemitgliedern erlaubte, Geldspenden einzuwerfen. 621 Neben monetärer Unterstützung waren auch Naturalgaben eine willkommene Hilfeleistung. Die Versorgung der älteren oder gesundheitlich eingeschränkten Personen oblag in erster Linie den Familienangehörigen. So erwartete Gretha, die Wilkesche, die offenbar an einem körperlichen Gebrechen litt, von ihren Verwandten und Flurnachbarn, dass diese ihr das Korn von ihren Ackerflächen holten. 622 Für gewöhnlich zogen sich die betagten Männer und Frauen auf ihren Altenteil zurück oder beanspruchten für sich ein lebenslanges Wohnrecht, wenn sie Haus und Hof an ihre Kinder abtraten. In einem Vertrag von 1691 heißt es beispielsweise, dass nemblich Joh[ann] Henr[ich] Bödiker des dröppels sein hauß gekaufft [hat] vor 120 Rthlr., [...] midt dem vorbehalt, daß Er [im] verkaufften hauße sein lebenlang verpleiben undt darin seine stette in der stuben beym ofen vndt beym fewer behalten wolle 623 . 615 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Goert Nüthen am 04.07.1631. 616 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 75 v . 617 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 71 r . 618 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 224 v . 619 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 15. 620 „Der Quellenterminus Nachbarschaft (von ahdt. nagiburo, mhdt. nahgebure, nakebur, angelsächs. nehebur, ‚Nachbar‘; lat. vicinitas) bedeutete in der Neuzeit im engeren Sinn die Nächstwohnenden zu einer bäuerlichen Hof-Stelle, im weiteren Sinn die z. T. informelle, formelle und/ oder mit Rechtsbefugnissen ausgestattete Organisationsform einer Sozialität bzw. eines städtischen oder dörflichen Sozialraumes, der mehrere Häuser, Straßen oder ein ganzes Viertel umfassen konnte. Im dörflichen Siedlungsbereich konnten zur Nachbarschaft alle haushäbigen Männer (d. h. vollberechtigten Haushalts-Vorstände) der Dorfgemeinde gehören.“ Voltmer: Nachbarschaft. 621 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 153 r . 622 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 623 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 43 r . 7.4 Gemeindeleben und Geselligkeit 139 Ebenso wie die Altenfürsorge war die Pflege von Waisen eine Angelegenheit der Familie und nächsten Verwandten. 624 Jost Grothen berichtete zum Beispiel, dass während der tobenden Unruhen im Dreißigjährigen Krieg seine Eltern ein Mädchen alß ein verlaßenes Elterloeßkindt bey sich Nehmen vndt erhalten müßen [...] 625 . Lebten die nächsten Familienangehörigen nicht mehr, wurde die Vormundschaft bei noch unmündigen Kindern den nächsten Verwandten übertragen. Für gewöhnlich wurden die Lebenshaltungskosten sowie die Regelung des hinterlassenen Erbes, insbesondere des Landbesitzes, auf mehrere Anverwandte aufgeteilt und juristisch geregelt. Bevor allerdings die Vormundschaft rechtlich in Kraft trat, musste von den neuen Erziehungsberechtigten der vormünder aydt geschworen werden. 626 Im Fall des Waisen Moritz Ganß heißt es in einem Vertrag von 1698, dass Tonies kemper, Jacob koch und ludowig bußmeyer alß vormünder und negste anverwandte steffen ganßes seinem sohn moritz ganß sagten und bekanten[,] daß zu behueff des sohns Moritzen kleidung und lehrgeldt bezahlen werden. 627 Selbstverständlich war das Verhältnis zwischen Kuratoren und Minderjährigen nicht immer konfliktfrei: Wie aus den niedergerichtlichen Prozessakten hervorgeht, versuchten die rechtlichen Vormünder fallweise, aus dem zu verwaltenden Erbe ihrer Schützlinge persönlichen Profit zu schlagen. 628 Dass die dörfliche Gemeinde auch durchaus als Notgemeinschaft 629 zu verstehen ist, wird bei kollektiv erfahrenen Krisenzeiten sichtbar, wie z. B. bei Feuerbrünsten. In diesem Kontext ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die Hilfsbereitschaft von Meineke Böddeker zu interpretieren, der nach einem Dorfbrand mehr als sechs Jahre lang einen Freund bei sich im Keller beherbergte. 630 Ein weiteres Charakteristikum des Nachbarschaftszeremoniells bildete ein „sorgsam ausgewogenes Gabenwesen“ 631 . Sowohl bei Geburten, Hochzeiten oder Sterbefällen als auch bei Taufen und Hausbauten wurden üblicherweise Präsente verteilt. So brachte Elsche Budden der Clara Brielohn eine kräftigende Suppe und Butterbrote, als diese im Kindbett lag. 632 Das Verschenken von Nahrungsmitteln war allerdings nicht nur zu festlichen Anlässen geboten: Es war eine Sitte, nach geleisteter Dienst- oder Gemeinschaftsarbeit eine Person zum Essen oder Trinken einzuladen bzw. sie mit Nahrungsmitteln auszuzahlen. Einige kurze Quellenauszüge sollen hier zur Illustration genügen: Nachdem Caspar 624 Vgl. Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 134. 625 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 63 r . 626 Seint Matthias wulff vndt Thönieß papen denen weisen Tönies krimke wittiben kindern zu vormündern gesetzt, vnd haben den vormünder aydt abgeschwohren vndt soll ihren wegen ein richtiges inventariu über alles auffgerichtet werden. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 252 r . 627 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 67 v . 628 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 216 r . 629 Voltmer: Nachbarschaft. 630 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 12.07.1631. 631 Zückert: Gemeindeleben, S. 2. 632 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 63 r . 140 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme Schmitt für Trina Kesperbaum einige Gefälligkeiten erledigt hatte, gab sie ihm einen Möhrenbrei bzw. ein Birnenbrot. 633 Ebenso gab Elsche Budden der Elisabeth Koch ein Ei, weil diese ihr Tuche gebracht hatte. 634 Nach dem gemeinsamen Schlagen von Bauholz gingen die Männer Jesper Koch, Meineke Dröppel und Thönies Ludowig nachgehendts des abents zusamen In Meineke dröppelß hauß, um den Feierabend mit einem wohlverdienten Trunk abzuschließen. 635 Die hier angeschnittene frühneuzeitliche Trinkkultur, die vielfach in der historischen Forschungsliteratur zum Untersuchungsgegenstand erhoben wurde, wird an dieser Stelle greifbar. 636 Dabei bot das Trinken nicht nur die Aussicht, seinen Durst zu stillen oder sich zu berauschen. In erster Linie galt es als eine Kommunikationsmöglichkeit, in der Beziehungen gefestigt, anstehende Geschäfte und Tätigkeiten besprochen und der neueste Klatsch ausgetauscht wurde. 637 Folglich hatte das gesellschaftliche Gelage eine stabilisierende und festigende Wirkung auf die innerdörfliche Gemeinschaft. 638 Ein Ausschluss aus der Trinkrunde wurde daher als persönliche Ehrkränkung empfunden, da er stets die potenzielle Gefahr einer totalen sozialen Isolation barg. Die gebräuchlichen Trinkrunden waren folglich konstitutiv für die Integration und Stärkung sozialer Netzwerke. Wird dieser symbolträchtige Aspekt der Trinkkultur ergänzend hinzugefügt, erschließt sich, warum die soziale Ausgrenzung aus einer solchen Gesellschaftsrunde ein probates Mittel der sozialen Rügeform darstellte. So weigerte sich beispielsweise Hans der Meister, neben seinem Trinkkumpanen, dem Schweizer, zu sitzen. 639 Und ein Sitznachbar des Henrich Vahlen, ein Kind aus einer „Hexensippe“, bediente sich sogar dieses „Erziehungsinstruments“, indem er ihm androhte, nicht mehr aus einem gemeinsamen Krug zu trinken. 640 Vor dem Hintergrund der möglichen sozialen Konsequenzen solcher Marginalisierungen werden die affektgeladenen Reaktionen der Betroffenen verständlich, die versuchten, ihre Ehre und ihren sozialen Platz in der Gesellschaft zu verteidigen oder wiederzugewinnen. Ein Beispiel sei in diesem Kontext kurz geschildert: Am 28. Februar 1664 klagte der Schäfer Rembert Böddeker gegen Jost Wegener. Der Konflikt bahnte sich an, weil Jost den Schäfer wiederholt aufgefordert hatte, sich zu ihm zu setzen, damit sie gemeinsam aus einem Krug trinken könnten. Rembert Böddeker schlug jedoch diese Einladung mit den Worten Er könte vndt wolte nicht 633 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage vom 22.07.1658. 634 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 76 r . 635 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 54 r . 636 Beispielhaft Gersmann, Gudrun: Orte der Kommunikation, Orte der Auseinandersetzung. Konfliktursachen und Konfliktverläufe in der frühneuzeitlichen Dorfgesellschaft, in: Eriksson/ Krug-Richter (Hrsg.): Streitkulturen, S. 249-268. 637 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 37 r . 638 Vgl. Tlusty, B. Ann: Art. „Trinkkultur“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a4394000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 639 Beklagter Leugnete hette Ihme nicht gescholten, allein für Henrich dröppel gesagt[,] wollte nicht bey Ihn sitzen[,] er solte bey Ihn sitzen gehen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 56 v . 640 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 50 v . 7.4 Gemeindeleben und Geselligkeit 141 drinken aus. Jost Wegener empfand diese Antwort als unterschwellige Botschaft, dass seine Gesellschaft unerwünscht sei. Die Situation eskalierte, als die Männer sich gegenseitig mit Eiern bewarfen. 641 Anhand dieses Beispiels wird eine weitere wesentliche Funktion der Trinkgelage sichtbar: Sie waren ein Ort, an dem auf der einen Seite geselliges Beisammensein herrschte, auf der anderen Seite wurde das Verhalten der Teilnehmer sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gelages strengstens überwacht. Die Beurteilung eines Betragens als konform oder nonkonform bedingte demnach die Aufnahme bzw. den Ausschluss von der gesellschaftlichen Partizipation. Frühneuzeitliche Trinkgelage sind demnach ein Spiegel der örtlichen Normen und Wertmaßstäbe und waren sowohl von Ritualen als auch Vorschriften geprägt. 642 Dieser flüchtige Blick auf das kommunale Gemeindeleben und seine gruppenstiftenden Geselligkeitsrituale, in dessen Bräuchen sich sein Sozialcharakter symbolisch ausdrückt, 643 verdeutlicht den „Gemeindewillen“ dörflichen Zusammenlebens im frühneuzeitlichen Fürstenberg. Lediglich vor dem Hintergrund eines bewusst erlebten Gemeinsinns kann ein Gemeindeleben stattfinden, dessen Sozialordnung Ausdruck in der gemeinsamen Verwaltung und Arbeit sowie in den damit verbundenen Brauchhandlungen findet. Infolgedessen entsteht zwangsläufig eine soziale und kulturelle Identität, die schließlich in eine Dorfidentität mündet mit einem ausgewiesenen Normensystem sowohl auf informeller als auch formeller Ebene, was einen Orientierungsfaden für Handlungs- und Verhaltensräume schafft. Im Weber’schen Sinne könnte auf Basis dieser Erkenntnisse pointiert von einer homogenen Ethnizität gesprochen werden. Diese Gesellschaftsordnung kann lediglich aufrechterhalten werden, wenn alle Dorfmitglieder die gesellschaftlichen Grundprinzipien einhalten und wahren. Die feste mentale Verankerung solcher Gesellschaftsvorstellungen wird am Beispiel der praktischen Landwirtschaftsarbeit manifest, die an dieser Stelle kurz erörtert werden soll. Der gesamte Landbesitz eines einzelnen Bauern lag nicht an einem Ort gebündelt, sondern war verstreut und zersplittert in Parzellen der fürstenbergischen Gemarkung und Peripherie. Zudem waren die einzelnen agrarischen Nutzflächen räumlich in ein dichtes Netz von Flurnachbarn eingebunden, wie auf einer Katasterkarte von 1832 ersichtlich ist (siehe Abb. 7.3 auf der nächsten Seite).Wollte ein Bauer sein Feld eggen, pflügen, bewässern, düngen oder die Früchte ernten, musste er zwangsläufig die Ackerfläche seines Flurnachbarn teilweise mit Karren und Vieh betreten. Allerdings bedurfte es der Rücksichtnahme bzw. der Einhaltung der hiesigen Gewohnheiten, das Ackerland des Nachbarn nicht durch Unachtsamkeit oder Mutwilligkeit zu zerstören, wodurch der Betroffene eventuell einen wirtschaftlichen Schaden erlitt. Der ökonomische Ackerbetrieb und das parzellierte Nutzflächensystem funktionierten folglich nur, wenn die einzelnen Gemeindemitglieder auf die Wahrung des Gemeinwohls bedacht waren. 641 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 19 r-v . 642 Vgl. Gersmann: Orte der Kommunikation, S. 51. 643 Vgl. Zückert: Gemeindeleben, S. 2. 142 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme Abbildung 7.3: Fluraufzeichnung der östlich vom Dorf gelegenen Ackerfelder, Karte „Tabula XIII“ von 1832. Privatbesitz Graf von Westphalen Schloss Fürstenberg; zur Verfügung gestellt von Herrn Bernd Nolte. 7.5 Zusammenfassung Als Mittelpunkt des Sintfeldes galt seit Jahrhunderten das Großdorf Fürstenberg. Indem die Herren von Westphalen im 15. Jahrhundert den künftigen Siedlern viele attraktive Sonderrechte einräumten, wurde aus dem im Mittelalter wüst gewordenen Ort binnen kurzer Zeit eine der dichtbesiedeltsten Kommunen im Sintfeld. Von zentraler Relevanz innerhalb der lokalen Dorfgeschichte war dabei der „Bundbrief“ von 1449. Mit diesem Dokument legten die westphälischen Adelsherren sowohl die Dienst- und Abgabepflichten als auch die Rechte der Dorfbewohner fest. Insbesondere der Verzicht auf die Leibeigenschaft unterstrich den hohen Autonomiegrad der Einwohner, der in den kommenden Jahrzehnten weiter ausgedehnt werden sollte. 7.5 Zusammenfassung 143 Obwohl dieses Schriftstück in erster Linie als ein rechtlicher Orientierungs- und Handlungsfaden gedacht war, führte es auch zu gewissen Ambivalenzen zwischen Gemeinde und Obrigkeit, die ihren Ausdruck nicht zuletzt in dem über zwei Jahrhunderte andauernden Rechtsstreit um die verordnete obrigkeitliche Holzordnung finden. Dennoch sollte aus diesem Spannungsverhältnis nicht voreilig die Schlussfolgerung gezogen werden, dass zwischen den Herren von Westphalen und der Kommune eine „Frontstellung“ geherrscht habe: Weder zeichnen die Quellen ein bipolares Beziehungsbild von Befehl und Gehorsam noch eine durchgehend asymmetrische soziale Wechselbeziehung zwischen Herrschaft und Untertanenschaft. Im Gegenteil: Aufgrund der räumlichen und herrschaftlichen Distanz der Dorfherren hatte die Dorfgemeinde die Möglichkeit, gemeindlich-institutionell weitestgehend autonom zu leben, was sich nicht zuletzt in der ländlichen Erbpraxis widerspiegelt. 644 Dieser selbstständige Aktionsradius wurde untermauert, indem die verwaltungstechnische Umsetzung kommunaler und obrigkeitlicher Interessen überwiegend ortsansässigen Mittel- und Großbauern oblag: den sogenannten „ gemeindlichen und obrigkeitlichen Amtspersonen“, deren Diensttätigkeiten zwar strikt terminologisch, aber nicht sozialpraktisch voneinander getrennt werden können. Die beiden Amtsgruppen sind folglich nicht als Fraktion, sondern eher mit dem Begriff der Personalunion zu erfassen. Insbesondere deren gemeinsame Rügefunktion bei gewohnheitsrechtlichen und satzungsrechtlichen Verstößen einte sie. Dennoch sollte nicht angenommen werden, dass der Herrschaftsanspruch der Herren von Westphalen weitestgehend zurückgedrängt worden wäre: Gerade durch die Beeidung und Einsetzung westphälischer Bediensteter versuchten die Grundherren, unmissverständlich ihren Machtanspruch im Dorf geltend zu machen und zu festigen. Diese obrigkeitlichen Amtspositionen, die in der festen Hand dörflicher Elitefamilien waren, bildeten karrieretechnisch für die Bediensteten ein Sprungbrett, um ihr Sozialprestige zu vermehren. Zudem ist zu beachten, dass es bei der Wahl kommunaler Amtspersonen einer Bestätigung vonseiten der Ortsobrigkeit bedurfte, damit diese als legitim anerkannt wurden - ein herrschaftliches Instrument, welches das hierarchische Machtgefüge stärkte. 645 Der „Lebensraum Fürstenberg“ bildete trotz seiner widrigen Witterungsverhältnisse, die die Anpassungsfähigkeit sowie den Kenntnisschatz der Einwohner herausforderten, einen attraktiven Wohnort, wie der demografische Zuwachs im 16. Jahrhundert bis zum Kriegsausbruch und ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts belegt. Der Bevölkerungsanstieg mag nicht nur der günstigen Rechtslage der Dorfbewohner geschuldet gewesen sein, sondern auch der hervorragenden Bodengüte im Sintfelder Raum sowie der topografischen Einbindung des Ortes in ein viel genutztes Wegenetz 644 Es wäre zu überlegen, ob die kommunale und institutionelle Organisationsstruktur in Fürstenberg nicht unter dem Forschungsbegriff „Kommunalismus“ zu erfassen wäre. Aufgrund der holzschnittartigen Wiedergabe der lokalen Rechtsverhältnisse soll an dieser Stelle lediglich die Anregung zu einer vertiefenden Auseinandersetzung gegeben werden. Vgl. Blickle, Peter: Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde., München 2000. 645 Vgl. Wunder, Heide: Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986, S. 95. 144 7 Dorfgeschichte aus der Nahaufnahme von Handelsrouten, das auch in wirtschaftlicher Hinsicht so manchem Fürstenberger die Möglichkeit bot, seine finanzielle Lage zu verbessern. So zählten der Austausch, Verkauf und Kauf von Waren zum Alltagsleben. Insbesondere nach den verheerenden ökonomischen und kulturellen Folgen des Dreißigjährigen Krieges, dessen katastrophale Auswirkungen auf die Kommune in den Quellen lediglich angedeutet werden, war die Ortslage für eine wirtschaftliche Erholung von zentraler Bedeutung. Es war auch nicht zuletzt diese vorteilhafte Dorfposition, die einen regen Kommunikationsaustausch unter Einheimischen und Fremden förderte und eine gewisse demografische Fluktuation im Dorf begünstigte: Reisende und Fahrende, denen die Bewohner häufig mit einer gewissen Abneigung begegneten, suchten des Öfteren eine geeignete Herberge in Fürstenberg. Es wäre sicherlich in diesem Interpretationszusammenhang lohnenswert, der Frage nachzugehen, ob der ständige Personenverkehr zu einer erhöhten Misstrauensatmosphäre im Dorf beigetragen hat und infolgedessen zu einer Erhöhung der sozialen Kontrolle. Bedauerlicherweise kann aufgrund der einseitigen Quellenlage diese Fragestellung nicht tiefer gehend verfolgt werden. Zentrale Schlüsselworte zum Verständnis der frühneuzeitlichen Gesellschaft bilden die Begriffe „Gemeindeleben“ und „Gemeindeidentität“, die einen sozialhistorischen Zugang zu Fürstenberg eröffnen. Einige Stichpunkte sind dabei die Kollektivarbeiten, die Nachbarschaftshilfe, das Gabenwesen, die gruppenstiftenden Trink- und Feiergesellschaften sowie die Notgemeinschaft. Um diese Grundpfeiler des dörflichen Zusammenlebens zu festigen, bedurfte es eines verbindlichen „Gemeinwillens“, der das regionale Gesellschaftsgefüge und die Handlungsweisen der Akteure prägte. Dieser „Gemeinwille“, der einen sozial-moralischen Raum schuf, musste durch eine hohe soziale Kontrolle gewahrt werden, um sowohl die Solidar-, Überlebens-, und Friedensgemeinde zu sichern, aber auch um die „moralische Ökonomie“ aufrechtzuerhalten. Angesichts dieses Kernelements frühneuzeitlicher Gesellschaften, denen nur eine begrenzte Ressourcenmenge („limited good“) für die ländliche Existenz zur Verfügung stand, wird ersichtlich, warum die Hexe als „Fremdkörper“ wahrgenommen und empfunden wurde: Demnach lehnte sie grundsätzlich das Regel- und Ordnungsgefüge ab, das in sozialer, ökonomischer sowie christlicher Hinsicht für das alltägliche Miteinander zwingend erforderlich war und erst eine Gruppenidentität ermöglichte. In diesem Sinne ist auch der Wunsch der mehrheitlich katholisch gläubigen Fürstenberger nach einem Pastorat zu verstehen. Denn diese Forderung ist nicht nur aus dem Blickwinkel eines akuten Frömmigkeitsbedürfnisses zu sehen, sondern auch dem Bedarf nach einem einheitlichen Ordnungs- und Bevölkerungsgefüge (Corpus Christi) geschuldet, um den leidigen Störfaktor ketzerey zu beenden. 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Die Schlüsselbegriffe „Verhalten“ und „Gewohnheit“ struktuieren den in diesem Kapitel zu bearbeitenden Stoff und bilden das wesentliche Erkenntnisziel. Jedoch berühren beide Begriffe Themenfelder, die sich wiederum in mehrere Themengebiete aufsplitten lassen. So liegt zwar eine begriffliche Eingrenzung vor, doch kann diese auf inhaltlicher Ebene nicht strikt eingehalten werden, da lediglich der Dialog mit verwandten Forschungsfeldern annähernd einen gründlichen und differenzierten Gesamteindruck über den hier zu behandelnden Forschungsgegenstand ermöglicht. Infolgedessen kann in diesem Abschnitt keine geschlossene Studie angestrebt werden, die sich beispielsweise lediglich auf die rechtliche Ebene konzentriert. Gelegentliche „Ausreißer“ zu benachbarten Teildisziplinen sind daher unumgänglich. Mit folgenden Worten lässt sich der thematische Schwerpunkt dieses Abschnittes grob skizzieren: Mit dem Begriff „Verhalten“ sind diejenigen Aktivitäten oder auch Nicht-Aktivitäten von Individuen gemeint, die weithin gewohnheitsmäßig erfolgen oder aber von einer Gepflogenheit abweichen. „Gewohnheit“ hingegen meint „eine durch Sozialisation und unzählige Wiederholungen erworbene Disposition des Individuums, aus seinem kulturellen Repertoire in einer bestimmten Situation vorzugsweise eine bestimmte Möglichkeit, sich zu verhalten und zu handeln, auszuwählen.“ 646 Werden beide Termini in einen gezielten Dialog zueinander gesetzt, wird zwischen der Makroebene der strukturellen Gegebenheiten und der Mikroebene des individuellen Entscheidungsspielraums vermittelt. 647 Im übertragenen Sinn stehen in diesem Untersuchungszusammenhang folglich die idealiter gedachte fürstenbergische Gesellschaftsordnung bzw. deren Vorstellung davon und das darin realiter agierende Individuum im frühneuzeitlichen Fürstenberg im Mittelpunkt. Will man eine weitere terminologische und semantische Verfeinerung vornehmen, muss auf folgenden Begriffskatalog zurückgegriffen werden, der zwar bewegt-bewegende und teils miteinander konkurrierende Größen darstellt, allerdings auf Richtungsschwerpunkte, Gewohnheitsbahnen, Steuerungsfaktoren und Planstrategien verweist: 648 „Normen“, „Rechts-“ und „Gesellschaftsgewohnheiten“, „Wertvorstellungen“, „soziale Kontrolle“, „Sozialdisziplinierung“, „Abweichung“, „Akzeptanz“, „Toleranz“, „Kriminalität“ etc. 646 Reinhard: Lebensformen, S. 11. 647 Ebd. 648 Vgl. Lipp: Stigma und Charisma, S. 16. 146 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Am ehesten wird dieser Themenkomplex bei einer näheren Untersuchung durch den institutionellen Filter des westphälischen Samtgerichts greifbar, in dem die erwähnten Untersuchungsgegenstände in gebündelter und ineinander verwobener Form vorliegen. Im Mittelpunkt der Untersuchung sollen zunächst die niederen und strafrechtlichen Gerichtsaktivitäten in „normalen“ Rechtsfällen stehen und der Sonderfall „Hexenprozess“ vorerst ausgeklammert werden. Diese analytische sowie inhaltliche Trennung ermöglicht es, folgende Erkenntnisziele noch schärfer herausarbeiten zu können: das Alltagsleben der Gemeinde, die Verortung der Akteure in ihrem regionalen Normen- und Wertesystem, die soziale Konstruktion der Delikte, die Verhaltensmuster bei der Zuschreibung bestimmter Tatbestände durch die Kläger und die sozialen sowie rechtlichen Abwehrmöglichkeiten der Angeklagten etc. Auf Basis der konstatierten Ergebnisse kann in einem nächsten Schritt mittels einer komparativen Methode eine direkte Parallele zum „Superverbrechen“ gezogen werden, um mögliche Analogien und Diskrepanzen zwischen dem justiziellen Umgang mit dem „Normalfall“ und dem „Sonderfall“ herauskristallisieren zu können. Hierbei sind folgende Fragen von Bedeutung: Welche rechtlichen und sozialen Handlungsmöglichkeiten sind den Deüffelskindern gewährt oder versperrt worden? Mit welcher Devianzvorstellung war der lokale Hexenglaube gekoppelt, und inwieweit unterschied er sich von der alltäglichen Devianz? Diese Leitgedanken sollen den roten Faden für die Vergleichsanalyse bilden. 8.1 Das westphälische Samtgericht Das westphälische Samtgericht 649 zu Fürstenberg zählte bereits seit der Dorfgründung unter dem westphälischen Adelsgeschlecht im 15. Jahrhundert zu einer festen institutionellen Einrichtung in der Gemeinde. Die Herren von Westphalen, die vom Landesherrn, dem Fürstbischof von Paderborn, das Partikularrecht erhalten hatten, waren damit in der fürstenbergischen Gemarkung für Zivil- und Strafsachen zuständig. Grundsätzlich stellte das Samtgericht kein exklusives Herrschaftsinstrument dar, mittels dessen ausschließlich das westphälische Adelsgeschlecht sozialdisziplinierend bei Bagatell- und Kriminaldelikten eingreifen konnte. Das Justizangebot war auch als Nutzungsmöglichkeit für den „ gemeinen Mann“ gedacht, mit dessen Partizipation die Rechtsinstitution erst Bedeutsamkeit, aber auch Umdeutungen und Ausformungen erfuhr. Das Gericht bot den Untertanen die Möglichkeit der „Gerechtigkeitspflege“, mittels derer sowohl private Streitigkeiten beigelegt werden sollten als auch Angelegenheiten von übergeordneter Bedeutung, wie z. B. die Wahrung des gesellschaftlichen 649 Der zeitgenössische Begriff „Samtgericht“ verweist auf eine Rechtsinstitution, die von mehreren Herrschaftsträgern gemeinsam geführt wurde. Das heißt konkret auf den Untersuchungsraum bezogen, dass das westphälische Gericht unter der Leitung aller an der Fürstenburg erbberechtigten Westphalen stand. Siehe hierzu das Deutsche Rechtswörterbuch Online unter Art. „Samtgericht“, in: Deutsches Rechtswörterbuch (DRW) Online (Retrospektive Digitalisierung), hrsg. v. d. Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, url: http: / / drw-www.adw.uniheidelberg.de/ drw-cgi/ zeige? index=lemmata&term=samtgericht (Zugriff am 25. 07. 2017). 8.1 Das westphälische Samtgericht 147 Ordnungsgefüges, sozial kontrolliert werden konnten. Die bei Gericht zahlreich eingegangenen Anzeigen über rechtliche oder moralische Vergehen zeugen gerade von dem allgemeinen Bedürfnis nach Aufrechterhaltung und Stärkung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Aufgrund dieser Doppelfunktion des Gerichts wird eine Untersuchung auf mindestens zwei Ebenen ermöglicht: der Ortsobrigkeit und der Untertanen. Über seine eigentliche Funktion hinaus besaß die lokale Gerichtsinstitution einen markanten symbolischen Gehalt für die Dorfbewohner: Sie unterstrich die Freiheit von Fürstenberg, d. h. den autonomen Charakter der Gemeinde, die im Gegensatz zu ihren Nachbardörfern nicht gezwungen war, bei Streitigkeiten oder Rechtsbrüchen ein externes Gericht anzurufen. 650 Umgekehrt betonte sie gleichzeitig das Herrschaftsrecht der Adelsherren, die in lokalen Rechtsangelegenheiten keiner übergeordneten Instanz unterstanden. Als Ausdruck ihrer privaten Gerichtsbarkeit 651 errichteten die Junker am Eilerberg einen Galgen. Der Platz für dieses Herrschaftszeichen war nicht zufällig ausgewählt worden. Außerhalb des Dorfes und an einer viel befahrenen Handelsroute gelegen, waren der Galgen und das Rad ein Mahnsymbol sowohl für reisende Fremde als auch Einheimische, die Normen und Werte der hiesigen Ortschaft zu wahren. Bezeichnenderweise machten die westphälischen Adelsherren in nur wenigen Kriminalfällen von ihrem Herrschaftsrecht Gebrauch. Die äußerst niedrige Exekutionsrate bei „harten“ Deliktfällen liefert den vorsichtigen Hinweis, dass die Gerichtsherren offenbar ein mildes Strafrecht in Fürstenberg praktizierten. Diese Hypothese bedarf allerdings im Laufe dieses Kapitels noch der näheren Überprüfung. Für das 17. Jahrhundert ist lediglich ein inquisitorischer Doppelprozess nachweisbar, der mit der Hinrichtung eines Vaters und seines Stiefsohnes endete. Es handelte sich hierbei um die Delinquenten Hans Roermuß und dessen Ziehsohn Peter Kröger, die 1601 hingerichtet worden sind, weil sie vor sechs oder sieben Jahren zu verschiedenen mast zeitten [...] zwei fette schweine so der herr Landdrost selig gehörten, in diebischer weise vnderschlagen[,] Im holtz vfm Broekes horn genandt heimblich biß dahin [geführt] [...] vndt daselbst durch einen kleinen außlendischen Joungen hoden laßen, volgends nach hauß gedrieben, geschlachtet vnd in seinem nutzen 652 gehabt. Neben dem offensichtlichen Schweinediebstahl wurden ihnen noch weitere Vergehen zur Last gelegt. So hätten beide gemeinsam von mehreren Dorfbewohnern Schafe und Schuhe gestohlen. Weil es sich hierbei um den „allerschlechtesten“, den heimlichen 650 Selbstverständlich konnten die Fürstenberger in Streitfällen auch alternative Gerichtsinstitutionen in Nachbarorten aufsuchen, wie z. B. die landesherrlichen Go-, Amts- oder Hofgerichte sowie die mit ihnen konkurrierenden kirchlichen Sendgerichte. Als beispielsweise Clemens August von Westphalen am 14. September 1783 eine Forstordnung erließ, klagte die Gemeinde vor das Reichskammergericht zu Wetzlar gegen diese, weil sie sich in ihren gewohnheitsmäßigen Rechten beschnitten sah. Vgl. Brunnstein: Denkschrift, S. 20. 651 Pahlow, Louis: Art. „Patrimonialgerichtsbarkeit“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a3171000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 652 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., fragmentarisch erhaltener Indizienkatalog, ca. September 1601. 148 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Diebstahl 653 und um eine Wiederholungstat 654 handelte, waren die Delinquenten nach der Carolina mit dem Tod zu bestrafen. Erst 130 Jahre später ist ein weiterer Deliktfall dokumentiert, der 1728 mit der Hinrichtung von fünf Juden endete. 655 Nach knapp weiteren fünfzig Jahren wurde 1786 ein Dieb aus dem Nachbarort Meerhof am „Rabenstuhl“ hingerichtet. 656 Angesichts der doch geringen Hinrichtungszahlen „normaler“ Delinquenten ist es kaum verwunderlich, dass sich die überproportional vertretenen Hexenverbrennungen in das kollektive Gedächtnis der Region einbrannten. Bis zum 18. Jahrhundert sollte kein architektonisches Gebäude die Jurisdiktion der Adelsherren repräsentieren. 657 Sämtliche Rechts- und Verfahrensschritte in Zivil- oder Strafangelegenheiten - außer das peinliche Verhör - wurden im Haus des Richters durchgeführt 658 oder in Krankheitsfällen direkt in der Behausung der sich streitenden Parteien. 659 Ebenso wurden die Aktenbestände im Privathaus des Richters gelagert und verwaltet. 660 Neben einem Gerichtsgebäude fehlte es der Gemeinde zusätzlich an einem Gefängnis. Die verurteilten Delinquenten wurden unterdessen so lange im zehndthause inhaftiert, 661 bis sie die Strafe abgesessen hatten, von den Herren von Westphalen begnadigt oder ihnen - wie im Fall der Hexenprozesse - das peinliche Halsgericht verkündet wurde. Obwohl es sich hierbei um eine temporäre Zweckentfremdung des herrschaftlichen Lagerhauses handelte, verlor die Haftstrafe per se nichts von ihrem ehrverletzenden Makel für die Angeklagten. Ein kurioses Beispiel sei an dieser Stelle zur Illustration angeführt. Weil Johann Dröppel im Jahr 1676 seine Schulden bei einem Juden nicht beglich, sollte er nach mehrmaliger gerichtlicher Anmahnung auf Befehl der Ortsobrigkeit durch den Gerichtsfronen zum gehorsam gebracht werden, indem er inhaftiert wird. Der Angeklagte floh, sei aber Im verlauffen gestreuchelt, worüber [man] 653 CCC, Art. 157. 654 CCC, Art. 162. 655 Siehe hierzu AV Pb., Cod. 150, Bl. 211 sowie Nolte, Bernhard: Der Rabenstuhl - die Richtstätte des Sintfeldes und die wahre Geschichte des Joseph Braun, in: Warte 115 (2002), S. 11-14. 656 Ders.: Chronik, S. 19. 657 Das heute für geschichtsinteressierte Besucher zugängliche Patrimonialgericht wurde erst im Jahre 1737 von den Herren von Westphalen errichtet. Vgl. hierzu Huismann, Frank: Das alte Gericht in Fürstenberg, Bad Wünnenberg und Fürstenberg 2010. 658 So wurde Liese Böddeker am 23.07.1658 in das Haus des Richters zitiert, wo sie noch einmal ihre Urgicht bekräftigen sollte. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 659 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 17 v . 660 Diese wurden jedoch von dem jeweiligen Gerichtspersonal nicht ordnungsgemäß gelagert, denn der spätere Ortsrichter Heinrich Anton Cosmann beklagte 1766, dass er die vorhandenen Protocolla, die bis vor einiger Zeit im sambtrichtern behaußunge gelagert worden seien, in Ziemblicher unordnung vorgefunden habe. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 1 r . 661 Während des Dreißigjährigen Krieges muss der Burgturm vorübergehend als Verwahrungsort für straffällig gewordene Einwohner genutzt worden sein, wie aus einer Quelle aus dem Jahr 1646 hervorgeht. Weil Ludowig Möller ein von den durchziehenden Schweden vergessenes Pferd einfing und nun als seinen rechtmäßigen Besitz ansah, wurde er als Strafe in dem besagten Turm eingesperrt. Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 393, S. 54. 8.2 Das tägliche Geschäft 149 Ihme ertapt habe. Dröppel widersetzte sich dem Fronen mit Leibeskräften. Aufgrund seiner vehementen Renitenz konnte der Gerichtsdiener ihn nicht fortbewegen, weil er allezeit vff der Mißten Ligendt geruffen[,] Er wolte nicht dahin[,] solten Ihmen doetschießen Oder den halß abhawen [...]. Schließlich wurde er auf einen Rollkarren gebunden und nacherm zehndthause 662 geführt. Der Bauzustand des Zehnthauses muss in der Mitte des 17. Jahrhunderts äußerst desolat gewesen sein, da es mehreren Delinquenten trotz eingesetzter Wächter z. T. gelang, aus dem „Gefängnis“ auszubrechen. 663 Seine Baufälligkeit lässt sich jedoch noch aus einem weiteren Dokument erschließen: Am 12. April 1669 ging die Anfrage bei den Herren von Westphalen ein, ob Anna mit ihrem Sohn Claudi den am Zehnthaus wuchernden Salpeter aufsammeln dürfe. Nach der Oekonomischen Enzyklopädie von Krünitz kann dieses Gewächs lediglich an „solchen Orten gefunden [werden], wo Fäulniß vorgeht, besonders aber in denjenigen Orten, wo eine mäßige Feuchtigkeit angetroffen wird [...]“ 664 . Die Salpeter-Pflanze wurde in der Frühen Neuzeit in pulverisierter Form als Düngemittel auf die Äcker gestreut, weswegen die westphälischen Adelsherren auch einen Anteil des hergestellten Präparates als Gegenleistung für die Sammelerlaubnis beanspruchten. 665 8.2 Das tägliche Geschäft Die Gerichtstätigkeiten lagen überwiegend in den Händen obrigkeitlicher Bediensteter, wie z. B. des Richters, des Gerichtsschreibers und der Gerichtsfronen. Eine Sonderstellung nahmen jedoch die Schöffen im frühneuzeitlichen Fürstenberg ein. 666 Sie bildeten ein selbstständiges Kollegium, das sogenannte Schöffengericht, das in Fürstenberg aus sieben Amtspersonen bestand und dem im Prozess der Gemeindebzw. Dorfbildung eine wichtige Funktion zukam. Nach Zimmermann und Trossbach bildete die Schöffentätigkeit eine Machtbasis, von „der aus potente Gruppen im Kräftefeld zwischen den übrigen Dorfbewohnern und der [...] Gerichtsherrschaft operieren konnten“ 667 . Zu den gängigen Gerichtstätigkeiten der Schöffen, die aus der dörflichen Mittel- und Oberschicht stammten, zählte die Bezeugung von Rechtsgeschäften, die Vermittlung in Streitigkeitsfällen und die Erstellung von Rechtsgutachten. Zudem fungierten sie in schwerwiegenden Kriminaldelikten als Rechts- und Urteilsfinder, während der 662 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 142 v . 663 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., der Fall des Meineke Brielohn im Jahre 1659 und des Henrich Hammerschmitts 1658. 664 Digitalisierte Version der Oekonomischen Encyklopadie des Dr. Johann Georg Krünitz. Abrufbar unter http: / / www.kruenitz1.uni-trier.de (Zugriff am 13.02.2017). 665 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 91 r . 666 In mittelalterlichen Urkunden fallen die Schöffen auch unter die Bezeichnung „meliores“, „maiores“, „seniores“ oder „potiores“. Vgl. Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 44. 667 Ebd. 150 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Richter hingegen über den ordnungsgemäßen Prozessablauf wachte. 668 Aufgrund ihres breit aufgestellten „Arbeitsfeldes“ war zumindest ein rudimentäres Wissen über das lokal ausgeformte, pluralistische und teilweise konkurrierende Normenset erforderlich: Sowohl Kenntnisse im Gewohnheitsrecht als auch im ius commune sowie im Satzungsrecht waren gefordert, um nur Einiges zu nennen. Es bleibt zu vermuten, dass die Schöffen sich ihr Rechtswissen nicht durch ein universitäres Studium erworben hatten, sondern es ihnen durch Familienmitglieder oder Verwandte mündlich vermittelt worden ist, die einst selbst im Amt tätig gewesen waren. Setzt man die Richtigkeit dieser These voraus, bestand das fürstenbergische Gerichtspersonal mehrheitlich aus Laien. Ob diese personelle Konstellation von Vorteil oder Nachteil für die Kläger und Angeklagten war, soll an späterer Stelle diskutiert werden. Das Justizpersonal war nicht exklusiv im Rechtswesen tätig. Wie bei allen politischen Ämtern im frühneuzeitlichen Dorf Fürstenberg handelte es sich auch bei der Gerichtstätigkeit um einen nebenberuflichen Erwerb. Von den zeitgenössischen Richtern ist beispielsweise bekannt, dass sie neben ihrer Funktion als Rechtssprecher in der Gemeinde zusätzlich auch für andere Adelsherrschaften oder den Paderborner Landesherrn tätig waren. So war der lokale Richter Johann Sauren (nwsl. 1646-1666) gleichzeitig auch der Rentmeister zu Wewelsburg. 669 Sein Nachfolger Andreas Stümmel (nwsl. 1672-1674) hingegen erhob 1672 im Auftrag des Landesherrn die Landschatzungen. 670 Die Notwendigkeit, parallel zum Haupterwerb anderweitigen Tätigkeiten nachzugehen, ist auf den Umstand zurückzuführen, dass die Konsultierung des Gerichts für viele Dorfbewohner eine kostspielige Angelegenheit war. Denn einerseits waren je nach in Anspruch genommener Diensttätigkeit Richter, Gerichtsschreiber, Gerichtsfrone und Schöffen zu bezahlen. Andererseits war aufgrund des örtlich praktizierten Akkusationsprinzips in Bagatelldelikten das Risiko, bei einem Schuldspruch die gesamten Prozesskosten zu tragen, freilich hoch. 671 Neben dem finanziellen Aspekt musste der Kläger zudem die Schwere des Normbruchs und zugleich die soziale Stellung des vermeintlichen Täters abschätzen, bevor der Gang zum Gericht angetreten wurde. Diese strategische „Klageökonomie“ war notwendig, um die besten Erfolgschancen bei einer Klageerhebung zu erzielen. 672 Vor dem Hintergrund der finanziellen und zugleich strategischen Überlegungen mag es nicht weiter verwundern, dass die Einschaltung der rechtssprechenden Organe häufig der letzte Schritt einer langen, vorausgegangenen Kette an sozialen 668 Für detailreiche Einblicke in die Tätigkeit des Richters und der Schöffen im frühneuzeitlichen Fürstenberg, siehe das Kapitel 9.1.2. 669 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 670 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 2 r . 671 In den Akten der Niederen Gerichtsbarkeit befinden sich vereinzelt gerichtliche Ermahnungen an Schuldner wegen noch Nachständigen brüchten. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 123 r -124 v . 672 Vgl. hierzu Frank: Dörfliche Gesellschaft, S. 221. 8.2 Das tägliche Geschäft 151 Spannungen darstellte. Kostengünstiger war es, sich zunächst eines ausreichenden Repertoires an sozialen Konfliktregulationsmechanismen zu bedienen, um Streitigkeiten beizulegen. 673 Eine der Haupttätigkeiten des Gerichtsapparates war nicht, wie anzunehmen wäre, alle Arten von Streitigkeiten im Kampf um die Ehre beizulegen oder Normbrüche abzustrafen, 674 sondern die schriftliche Ausstellung von Heirats- und Gesellenbriefen, Testamenten, Geburts-, Einlass- und Abgangszeugnissen („Freibrief“), 675 Käufen und Verkäufen sowie die Kontrolle über das ordnungsgemäße Abwiegen von Mehl und Fleisch. 676 Dieses doch recht unspektakulär anmutende Aufgabenfeld mag angesichts der fürstbischöflichen Landesverordnung für das Hochstift Paderborn, dass jede Person unter Androhung von Bußgeld dazu verpflichtet sei, personelle, mobile oder immobile „Transaktionen“ schriftlich festzuhalten, nicht weiter überraschen. 677 Bei der Durchsicht dieser Dokumente stach besonders ins Auge, dass in allen aufgeführten Urkunden der Ehrbarkeit der Antragsteller, Ehepartner, Käufer und Verkäufer eine zentrale Bedeutung sowohl bei vertraglichen Abwicklungen als auch im Alltagsleben zukam. Dieser Befund stellt freilich kein Novum für die Historiografie dar, in der das Themenfeld „Ehre“ seit geraumer Zeit rege diskutiert wird. 678 Dennoch hebt dieses Resultat exemplarisch die Bedeutsamkeit der Ehre sowie des zeitgenössischen Ehrdiskurses auch für diesen Untersuchungsraum hervor und unterstreicht damit bisherige Forschungsergebnisse. Das „symbolische Kapital“ einer Person bedingte die Aushändigung des Schriftstücks, mittels dessen kommuniziert wurde, ob der Antragsteller ein anerkanntes Mitglied der Dorfgemeinschaft war oder nicht. So musste jeder, der sich an einem anderen Ort oder in Fürstenberg niederlassen wollte, sei es wegen einer anstehenden Heirat oder der Arbeitssuche, vor der hiesigen Obrigkeit nachweisen, dass er ein Ehrkindt sei, von ehelicher geburt (ehelich erzielet), von frommen und ehrlichen Eltern abstamme, sich zeit seines Lebens ehrlich vnd redtlich verhalten habe und von aller Männiglichen alhir [ehrbar] gehalten wirdt vndt Ist 679 - auch, dass niemand 673 Detailliert werden diese bei Walz behandelt. Walz: Magische Kommunikation, S. 306-334. 674 Michael Frank konstatiert, dass die Primäraufgabe des frühneuzeitlichen Gerichts in der Friedensstiftung lag. Frank, Michael: Ehre und Gewalt im Dorf der Frühen Neuzeit. Das Beispiel Heiden (Grafschaft Lippe) im 17. und 18. Jahrhundert, in: Schreiner/ Schwerhoff (Hrsg.): Verletzte Ehre, S. 320-338, hier S. 338. 675 In quellenreicher Fülle im Konvolut LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22 nachzulesen. 676 So heißt es in einer Verordnung von 1705: Ist decretiret, daß zeitige vorstehers allezeit auff das fleisch verkauffen gewichte, rundt maße acht geben, das fleisch nach ihrem gewißen ohnentgeltlich taxiren vnd aestimiren sollen, falß aber ein frömbder schlachter oder Jude mit verlaubnüße alhir schlachten würde, sollen die aestimatores ihr gebühr nach der billigkeit alß vier groschen beyde davon fordern vnd nehmen, falß nun ein oder ander hier wohnender schlechter ohne anmelden oder höher das fleisch verkauffen alß es taxiret worden, solchenfalß soll das fleisch confiscirt vnd der schlachter in verfallen sein. Mit harter Strafe ging das lokale Gericht ebenso gegen das unerlaubte Mahlen von Mehl zu bestimmten Tageszeiten oder dessen falsches Abwiegen vor. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 252 r , 167 v . 677 Hochfürstlich-Paderbornische Landes-Verordnungen, S. 11. 678 Für zahlreiche Literaturhinweise siehe Weber: Ehre. 679 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 12 v , 23 v . 152 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten dem Antragsteller etwas Schlechtes nachsagen könne. 680 Konnte der vermeintlich ehrbare Lebenswandel der Eltern nicht durch einen schriftlichen Nachweis erbracht werden, weil dieser eventuell verloren gegangen oder durch eine Feuersbrunst vernichtet worden war, wurden mindestens drei Älteste über die Herkunft des Antragstellers befragt. 681 Neben den Beglaubigungsurkunden stellte das Gericht Verträge für Landschaftsüberschreibungen, Verkäufe und Käufe aus. In den sogenannten „Kauf- oder Versetzungsscheinen“ hielt der Gerichtsschreiber schriftlich fest, wer wem welches Land in welcher Qualität und zu welchem Preis „versetzte“ oder verkaufte. Ein Beweggrund für die temporäre Verpfändung von Ländern, Wiesen oder Höfen war es, die persönliche Abgabenlast zu senken, die jährlich nach der Größe des Landes und Ertrages neu berechnet wurde. 682 Hierbei konnte das Land antichretisch verpfändet werden, d. h., es wurde dem Pächter zeitlich begrenzt zur Nutzung überlassen. 683 Auf diese Weise konnte der Verpächter zusätzlich seine Geldkasse aufbessern, da er vom Pächter eine entsprechende Entschädigungssumme erhielt. Die Höhe des Geldes war dabei nicht nur von der wirtschaftlichen Konjunktur abhängig, sondern auch davon, in welchem qualitativen Zustand das Land verpachtet wurde: ob es driesch, ungemergelt (ungedünkt), gegeilt (gedüngt) war oder Früchte trug. Ebenso wie bei den Geburtsscheinen war auch bei der schriftlichen Abwicklung von Landverpachtungen die Ehre ausschlaggebend. Der Verpächter musste schwören, dass das zu versetzende Land ohnbelastet, ledig, eigen, niemands versetzt, verschrieben noch verpfändet 684 ist, hingegen verpflichtete sich der Pfandinhaber, das ihm anvertraute Pfand gerücht: vnd schadtloß zu halten. Dieser Appell führt nicht nur vor Augen, dass gepachtetes Land offenbar wiederholt durch unsachgemäße Behandlung wirtschaftlich untauglich gemacht wurde. Denn mit einer solchen groben Fahrlässigkeit konnte die ökonomische Grundversorgung des Verpächters potenziell in Gefahr gebracht und dessen persönliche Ehre verletzt werden, die, wie Walz belegt, an materielle Besitztümer gekoppelt war. 685 Ein versetztes Land verkommen zu lassen, indem es 680 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 36 v . 681 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 12 r . 682 Der Hirte (Hirtman) Tonsor versetzte beispielsweise zwei Morgen Land, damit der da von fälligen schatzung [...] künfftig befreyet werden möge [...]. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 38 r . 683 Laut dem Laterculus handelt es bei dem Wort „antichretisch“ um eine adjektivische Form des lateinischen Begriffes „antichresis“ und kann mit „Nutzungspfand“ übersetzt werden. Demandt, Karl E.: Laterculus Notarum. Lateinisch-deutsche Interpretationshilfen für spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Archivalien (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg. Institut für Archivwissenschaft, Nr. 7), Marburg 8 2006, S. 23. 684 Kriterien, die im Übrigen auch für den Hausverkauf galten. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 14 r . 685 Siehe hierzu Walz, Rainer: Schimpfende Weiber. Frauen in lippischen Beleidigungsprozessen des 17. Jahrhunderts, in: Wunder, Heide/ Vanja, Christina (Hrsg.): Weiber, Menschen, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, Göttingen 1996, S. 175-198, hier S. 178 und auch Schmölz-Häberlein, Michaela: Ehrverletzung als Strategie. Zum sozialen Kontext von Injurien in der badischen Kleinstadt Emmendingen 1650-1800, in: Häberlein (Hrsg.): Devianz, 8.2 Das tägliche Geschäft 153 mangelhaft gedüngt, bewässert, geeggt oder gepflügt wurde, war mit einem Ehrangriff gleichzusetzen. 686 Die Administration über die rechtliche Regelung der Besitzverhältnisse fiel den Schöffen zu. Mehrfach wurden sie bei Vermögenskonflikten konsultiert, damit sie die mobilen oder immobilen Güter, die zum Streitpunkt der Parteien geworden waren, manuteniren 687 , d. h. beschützen mögen. Die sogenannte Manutenentz wurde häufig in Situationen gefordert, wenn der Verdacht bestand, dass die Gegenseite sich des Kornes von dem strittigen Land bemächtigen oder daran Schaden verursachen könnte. 688 Die Haupttätigkeit des Gerichts bestand darin, Geldschulden einzufordern, wie eine quantitative Auswertung der niedergerichtlichen Akten belegt. 689 Die stets in Geldnöten gewesenen Gemeindemitglieder mussten vielfach rechtlich ermahnt werden, ihre Schulden bei Privathändlern, bei den Herren von Westphalen oder dem Fürstbischof von Paderborn zu begleichen. Mehr als die Hälfte aller Anzeigen beinhalten die gerichtliche Aufforderung, die noch offenstehenden Gelder zurückzuzahlen, wobei es sich bei den verschuldeten Personen mehrheitlich nicht um Angehörige der Unterschicht handelte, sondern um Personen aus der Mittel- und Oberschicht. Offenbar gaben viele Personen, die der elitären Schichten zugehörten, ihr Geld exzessiv für einen luxuriösen Lebensstil aus, der ihrem Sozialprestige und Selbstbild gerecht werden sollte. Es verwundert daher nicht, dass Levin Thelen, ein Gerichtsschöffe, ein Haus im Wert von 230 Reichstalern besaß 690 und gleichzeitig über 180 Reichstaler Schulden hatte. 691 Aber nicht nur einzelne Personen, auch die Gemeinde war teilweise in erhebliche monetäre Engpässe geraten, sodass die Gemeindevorsteher bei den Herren von Westphalen um Schuldenerlass bzw. um Verringerung der Schulden baten oder sich erneut bei der Ortsobrigkeit Geld liehen, um den Abgabeforderungen nachkommen zu können. So ersuchten beispielsweise die Vorsteher Arndt Tröster und Meinolf Blinden am 30. Juli 1718 das westphälische Adelsgeschlecht um 70 Goldgulden, damit die noch ausstehenden Brüchte und Prozesskosten - die Gemeinde hatte vor S. 137-163, hier S. 138. Walz: Agonale Kommunikation, S. 224 ff. „Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit definierte den Wert eines Individuums über Ansehen und Reputation, und ebenso wie die ökonomischen Güter nicht vermehrt werden konnten, so war auch das Ehrkapital einer Gesellschaft limitiert.“ 686 Der Verweis in den Dokumenten, ein Land gerüchtloß zu halten, gewährt zudem einen kurzen Einblick in das Selbstverständnis und moralische Wertesystem der zeitgenössischen Bauern. Ein Ackerwirt war dem Hohn und Spott bzw. dem Gerücht der Gemeinde ausgesetzt, wenn er wegen mangelhafter Kenntnisse oder Faulheit in der lokalen Königsdisziplin versagte. Diese Art von Spötteleien wird partiell in der fürstenbergischen Nomenklatur offenbar. So wird beispielsweise in den Hexenprozessakten des Jahres 1631 wiederholt ein Mann namens Kornmuffel genannt. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis des Reinhard Krögers am 27.06.1631. 687 Exemplarisch: LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 12 r . 688 Vgl. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 55 r . 689 Für nähere Informationen siehe das folgende Kapitel 8.3. 690 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 43 v . 691 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 168 v . 154 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten dem Hofgericht von Paderborn wegen Rechtsstreitigkeiten gegen die Herren von Westphalen geklagt - bezahlt werden könnten. 692 Die Geldnot der Kommune war ein Dauerzustand, von dem ein Chronist noch Anfang des 19. Jahrhunderts zu berichten wusste. Er schrieb: Fürstenbergs Bewohner geriethen durch Aufwand der vielen angeerbten alten und neuen Proceß Kösten, durch Brandschaden, und mehrmals erlittenen Mißwuchs, Mäuse und Schnecken Fraß in Schulden [...]. 693 In diesem Zusammenhang sind zusätzlich die Aestimation, Execution und wirkliche Immission zu nennen. Die Kreditgeber waren nicht nur hiesige Gemeindemitglieder, der Pastor oder Juden, sondern auch Händler, die teilweise lange Wegstrecken auf sich nahmen, um vor dem westphälischen Gericht ihr Geld einzufordern. Wiederholt ist in den niedergerichtlichen Akten zu lesen, dass Kaufhändler aus Brilon, Rietberg, Bielefeld, Hamburg, Herford etc. persönlich vor Gericht erschienen und darum baten, weilln [nun] Einer Zeit in die ander hin passirt vndt verfloßen [sei], aber keine bezahlung volgen wolte, Nuen Endtlich btE. debitores durch gehörige ZwangMittel zur bezahlung anzuhalten [sei], müßte sonst selbst sich anderer Mittel gebrauchen [...] 694 . Üblicherweise setzte das Gericht eine Frist von maximal 14 Tagen, wenn zu erwarten war, dass der Schuldner das Geld in dieser Zeit aufbringen konnte. War jedoch der Schuldner bekannterweise zahlungsunfähig, wurde die Frist verlängert - das von der Rechtsgeschichte oft betonte zweigleisige Strafrecht im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wird an dieser Stelle indirekt greifbar. 695 Kam der Debitor nach mehrmaligem Ermahnen weiterhin nicht für die Bezahlung seiner Schulden auf, wurde die Execution durchgeführt, d. h., der Gerichtsfrone pfändete Gegenstände oder Tiere, die zuvor aestimiert (geschätzt) worden waren und in etwa dem Schuldenwert entsprachen. Diese „Zwangsvollstreckung“ - um es mit einem modernen Begriff zu erfassen - diente dazu, den Druck auf den Schuldner zu erhöhen. Die Reaktionen der Schuldner fielen hierzu unterschiedlich aus: Hermann Gödden, der mit insgesamt zehn Morgen Land zur gehobeneren Unterschicht zählte, entschuldigte sich demütigst bei dem Geldverleiher und bat darum, dass man seinen Stoppen aus dem Pfandstall holen und ihm Zahlungsaufschub gewähren möge, da er sonst seine Ernte nicht einfahren könne. 696 Der Schuster Stefan Gans hingegen, der nicht wesentlich mehr Landreichtum als Gödden nachweisen konnte, 697 reagierte äußerst ungehalten. Als die Gerichtsfronen seinen Esel pfändeten, verfolgte er sie im Dorf, ging sie mit Schmähworten an und rief öffentlich aus, dass alle die Jenigen so damit gewesen vndt Ihmen gepfändet [...][,] weren alle schelm vndt diebe, vndt die daß 692 PfA Fü., A 1, Urkunden und alte Akten, unfol. 693 Z. n. Nolte: Chronik, S. 17. 694 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 14 r . 695 Siehe hierzu die Einführung von Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 109 und Eibach, Joachim: Versprochene Gleichheit - verhandelte Ungleichheit. Zum sozialen Aspekt in der Strafjustiz der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 35.4 (2009), S. 488-533. 696 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 11 v . 697 Laut dem Kataster von 1672 besaß Stefan Gans lediglich zwölf Morgen Land und ein Haus im Wert von 40 Reichstalern. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 4 v und LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 80 v . 8.3 Vergehen und Normverstöße 155 gesetzet auch, vndt alle die es böreten vndt verordneten hetten[,] weren deß deuffels, auch sich des deuffels verheißen [...] 698 . Im Unterschied zur Execution, die nach Begleichung der Schulden aufgehoben werden konnte, bedeutete die Immission ein endgültiges Einziehen immobiler Güter von Rechtswegen. Im Schuldenfall des Henrich Stüwer wurde als Wahrzeichen für die vollzogene missio in possesionem ein Stück wrasen [sc. ein Boden- oder Rasenstück] 699 des vorher vndterpfendeten Landeß dem Debitor übergeben, um den Besitzwechsel zu symbolisieren. 700 An dieser Stelle sei noch ein kurzer Exkurs eingeschoben: Dass sich das Gerichtspersonal aufgrund der genannten Haupttätigkeiten zeitweise bei der Gemeinde unbeliebt machte, veranschaulicht folgendes Beispiel. Als am 21. September 1690 auf Befehl der Herren von Westphalen Caspar Dröppel wegen noch offenstehender Schulden eine Kuh gepfändet wurde, nahm er sie sich eigenhändig wieder aus dem Pfandstall und ging anschließend mit einem Degen bewaffnet in die Gerichtsstube. Dort fing er an zu puggen vndt trutzen sagend [...] man solte die kuh vor einen teuffel aestimiren laßen, demnegst auß der stuben puggend weggegangen [...] vndt baldt darauf mit einen degen wider kommen biß vor das hauß ahn die tür [...] 701 . War dieses Verhalten bereits höchst schmächlich für die Gerichtsdiener, provozierte Caspar Dröppel das Personal noch weiter, indem er für jedermann sichtbar seinen Degen in die Tür der Gerichtsstube stach - offenbar ein symbolischer Akt, der verdeutlichen sollte, dass er die Justizbeamten am liebsten „abstechen“ würde. Sein Benehmen schockierte sogar Außenstehende, die zufällig des Weges kamen. So sagte der auswärtige Beckmann zu Caspar Dröppel entsetzt: [...] Er [sei] ein untweiß mensche. 702 8.3 Vergehen und Normverstöße Möchte man sich dem Forschungszweig informeller Vergehen und/ oder rechtlicher Normverstöße nähern, kann dies auf zwei methodischen Wegen geschehen: 1. durch eine pauschale Quantifizierung, anhand derer ein summarischer Gesamtüberblick über die einzelnen Übertretungen gewonnen werden kann. Jedoch ist auch 698 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 23 r . Stefan Gans wurde für sein Auftreten von dem Gerichtsfronen und sämtlichen Holzfürsten inhaftiert. 699 Art. „Wrasen“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, hrsg. v. Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier, Bd. 30, Sp. 1680-1684, url: http: / / woerterbuchnetz. de/ DWB/ ? sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=%20GW27519#XGW27519 (Zugriff am 11. 01. 2016). 700 Als ein Beispiel von zahlreichen sei hier LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 147 r aufgeführt. 701 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 211 r . 702 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 211 v . 156 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten bei einer analytischen Untersuchung der „objektivierenden Komponenten“ 703 Vorsicht geboten: Um eine quantitative Studie vornehmen zu können, bedarf es einer Kategorisierung nach Delikttypen. Eine Rubrizierung wiederum muss methodisch auf Simplifizierungen zurückgreifen, damit das Vorhaben überhaupt arbeitsökonomisch durchführbar ist und der Forschungsgegenstand analytisch greifbar bleibt. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht jeder Verstoß immer einer konkreten Vergehenskategorie zuzuordnen ist. Dementsprechend schwingen bei der quantitativen Datenerhebung erhebliche Methodenschwierigkeiten mit, die die historischen Ergebnisse potenziell verzerren können. Mit diesem kritischen Einwand soll keineswegs von einer zahlenmäßigen Erhebung abgeraten werden. Im Gegenteil: Die Frage nach der Häufigkeit bestimmter Vergehen bleibt eine zentrale Analysedimension und eine unabdingbare Voraussetzung für hermeneutische Interpretationen von Einzelfällen. Dennoch ist vor einem leichtfertigen „Jonglieren“ mit Zahlen zu warnen, um nicht „optischen Täuschungen“ zu erliegen. 704 Folglich kann es sich bei einer Quantifizierung lediglich um eine Annäherung an das jeweilige Devianz- und Delinquenzspektrum eines Ortes bzw. einer Region handeln. 2. durch eine tiefendimensional ausgelegte Studie, die sich dem zeitgenössischen Verständnis von Devianz und Delinquenz im Einzelfall minutiös nähert. Ein solches angestrebtes Erkenntnisziel ist zwangsläufig mit interdisziplinärem Methodenpluralismus und Multiperspektivität verbunden. Mit dieser Feststellung ist erneut die Frage nach der thematischen Zersplitterung des Untersuchungsgegenstandes und dessen Eingrenzung angeschnitten. Denn abweichendes Verhalten und Kriminalität lassen sich nur sinnvoll und fruchtbar erforschen in Bezug zu ihren Konstitutions- und Konstruktionsbedingungen. Das heißt, die „geschriebenen und ungeschriebenen Normen, das Strafverfahren und die Sanktionsinstrumente der Justiz ebenso wie die Anzeigebereitschaft (Denunziation), das Konfliktverhalten und die Wertorientierung der Bevölkerung, schließlich die ‚Kriminalpolitik‘ der Obrigkeit sowie ökonomisch-konjunkturelle Rahmenbedingungen“ 705 müssen in die Untersuchungen miteinbezogen werden. Neben den genannten thematischen Bezugspunkten sind die damit verbundenen Forschungskonzepte wie „Ehre“, „Agonale Kommunikation“ und „Streitkultur“ ebenso zu berücksichtigen wie die kritische Differenzierung der berühmten Theorie-Praxis- Kluft, die Zweigleisigkeit des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Strafrechts sowie die gesellschaftliche und variable Konstruktion von „Devianz“. 706 703 Schwerhoff, Gerd: Kriminalitätsgeschichte im deutschen Sprachraum. Zum Profil eines „verspäteten“ Forschungszweiges, in: Blauert/ Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte, S. 21-67, hier S. 29. 704 Ebd. 705 Schwerhoff, Gerd: Art. „Kriminalität“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a2302000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 706 Vgl. hierzu die Übersicht terminologischer Vorstellungsinhalte aus der Soziologie zum Begriff „Norm“ bei Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 19-32. 8.3 Vergehen und Normverstöße 157 In dieser Studie werden beide vorgestellten Verfahrensweisen vereint und in einen gezielten Dialog zueinander gesetzt, um einerseits ein komplementäres Bild zum Untersuchungsgegenstand zu erhalten, andererseits um diesen besser im Gesamtkontext verorten zu können. Zusätzlich soll eine analytische Konzentration auf folgende übergeordnete Leitthemen eine Vergleichsstudie ermöglichen: Konfliktverhalten der Akteure, Satzung und Anwendung geschriebener und ungeschriebener Normen, justizielle Verfahrens- und Strafpraktika. Um die Themenfelder „Devianz“ und „Delinquenz“ analytisch greifbar zu machen, werden nur diejenigen Deliktfelder näher in den Blick genommen, die auch in einen direkten, erkenntnisleitenden Bezug zum Hexenphänomen bzw. -verbrechen zu setzen sind. Das wären: 1. die Verbalinjurien, 2. die Gewaltdelikte und 3. die Eigentumsdelikte. Auf eine umfassende Studie der Sexualdelikte muss verzichtet werden, weil das vorliegende Archivmaterial sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht kaum verwertbare Aussagen enthält. Selbstverständlich gilt diese strikte analytische Trennung der Deliktfelder nur idealtypisch und ist in erster Linie methodischen Überlegungen geschuldet. Im Alltag waren die Vergehen häufig im Zuge des interaktionistischen Wechselspiels von Aktion und Reaktion miteinander gekoppelt. Freilich wäre es auch in dieser Arbeit wünschenswert, ausführlich den Kriminalitätsanteil diverser Sozialschichten zu diskutieren, um noch schärfer die fürstenbergische Gesellschaft konturieren und gleichzeitig erkenntnisleitende Details herausarbeiten zu können. Mit Blick auf die Arbeiten von Michael Frank und Keith Thomas wäre sicherlich eine solch themenspezifische Untersuchung lohnenswert. Allerdings stößt dieses Vorhaben aufgrund der desolaten Quellenlage bezüglich der Vermögens- oder Abgabenverzeichnisse an seine praktischen Grenzen: Lediglich ein Bruchteil der Akteure kann ihrer jeweiligen Sozialklasse zugeordnet werden, sodass die Aussagen auf keine valide Grundlage gestellt werden können. Weitestgehend auszuklammern ist auch eine schwerpunktmäßige Untersuchung der Konfliktinhalte, die natürlich zentrale Auf- und Rückschlüsse über die viel diskutierten Alltagsprobleme der Gemeinde und damit eventuell Motive für die Initiierung von Hexenverfolgungen erlauben würden. Jedoch gewährt ein Großteil der vor Gericht eingegangenen Konfliktsituationen keinen Einblick in die Streitursache. Mehrfach haben die schriftlich fixierten Anzeigen den Charakter einer Marginalie, entweder weil der ortsansässige Gerichtsschreiber den Grund als allgemein bekannt voraussetzte oder als belanglos einstufte. Aufgrund dieser kritischen Einwände wird auf eine eigenständige Untersuchung der möglichen Konfliktmotive verzichtet. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei vorab angemerkt, dass das Deliktfeld der Verbalinjurie in diesem Problemzusammenhang aus zweierlei Gründen den größten Raum einnimmt: einerseits weil es sich hierbei zahlenmäßig gesehen um das am stärksten aktenkundig gewordene Vergehen im frühneuzeitlichen Fürstenberg handelte, andererseits weil es in der Hexenforschung einen zentralen Stellenwert einnimmt. 158 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten 8.3.1 Quantitativer Gesamtüberblick gerichtlicher Tätigkeiten Das gesellschaftsgeschichtliche Profil der Frühen Neuzeit war von Leidenschaften gekennzeichnet. Seit geraumer Zeit ist in der Historiografie bekannt, dass frühneuzeitliche Agrargesellschaften sich durch ein hohes Maß an Konflikthaftigkeit und Konfliktfähigkeit auszeichneten, die zu den gängigen Kommunikationsformen im täglichen Miteinander zählten. 707 Charakteristisch für die Zeitgenossen sei ein „kurzschlussartiges“ Auftreten in Auseinandersetzungen gewesen, hervorgerufen durch die gesellschaftliche Eigenart, sich Attributionen vorschnell selbst zuzurechnen. 708 Sicherlich waren dieses prinzipielle „Misstrauensklima“ 709 und der theatralische Hang zum „Self-Fashioning“ 710 bedingt von der geläufigen Vorstellung der Summen- Konstanz-Lehre sowie des sozialen Ordnungsprinzips „Ehre“. Ohne vertiefend auf die terminologische und semantische Forschungsdebatte um das Themenfeld „Ehre“ eingehen zu wollen, 711 sei kurz darauf hingewiesen, dass das Ehrprinzip einerseits erst eine soziale Ordnung schuf, indem es einen Leit- und Orientierungsfaden für Verhaltenserwartungen und -forderungen hervorbrachte. Andererseits war das nach außen hin sichtbar „ getragene“ „symbolische Kapital“ zugleich dessen Schwachstelle, da Ehrangriffe den Sozialstatus nachhaltig beeinträchtigen konnten. Um seines Ansehens folglich nicht verlustig zu gehen, waren aggressive Abwehrstrategien erforderlich. Daher arteten viele Streitsituationen in einen regelrechten Agon aus, bei dem Gewaltanwendungen nur eine legitime Form der Konfliktaustragung darstellten. Dass das Ehrprinzip unumstritten auch in Fürstenberg als Ordnungs- und Verhaltenskodex vorherrschend war, soll folgender Quellenauszug exemplarisch belegen. Johann Rabe zeigte vor Gericht seinen Knecht an, weil dieser ihn in infamer Weise beleidigt hatte. Nachdem sein Herr ihn mehrmals gerufen habe, damit er ihm beim Satteln der Pferde helfe, habe der Knecht geantwortet: Nein[,] er wolte nicht kommen, ihme [auch] midt harschen wortten begegnet, auch gedutzt vndt gesagt[,] du bist ein Esell, welches er zu verschiedenen Mahlen repetirt. 712 Um das Streit- und Konfliktprofil in Fürstenberg zu erfassen, erscheint eine quantitative Datenerhebung der vor dem westphälischen Samtgericht eingegangenen Anzeigen am sinnvollsten. Ausführliche Dokumente über die Gerichtsaktivitäten des westphälischen Samtgerichts setzen im Archivmaterial erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts ein, weswegen eine nähere Betrachtung der nieder- und strafrechtlichen Vergehen in „Normalfällen“ für die Jahre 1663 bis 1709 erfolgt. Selbstverständlich muss quellenkritisch eingeräumt werden, dass aufgrund der fragmentarischen Quellenlage die Zahlen 707 Eriksson/ Krug-Richter (Hrsg.): Streitkulturen, S. 1. 708 Vgl. Walz: Magische Kommunikation, S. 426. 709 Ebd. 710 Schwerhoff, Gerd: Böse Hexen und fahrlässige Flucher: Frühneuzeitliche Gottlosigkeiten im Vergleich, in: Piltz, Eric/ Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 51), Berlin 2015, S. 187-206, hier S. 197. 711 Siehe hierzu die Literaturhinweise in Kapitel 2.2.1. 712 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 70 r . 8.3 Vergehen und Normverstöße 159 lediglich einen Eindruck über die mengenmäßig behandelten Gerichtsfälle in einem Zeitraum von annähernd fünfzig Jahren gewähren können und eine gewisse Dunkelziffer in die Statistik miteinzubeziehen ist. Das Fehlen einer dichten Quellenlage stellt allerdings für das angestrebte Erkenntnisziel kein Hindernis dar: eine ausschnitthafte Rekonstruktion des vormodernen Alltags- und Zusammenlebens in Fürstenberg. Die ermittelten Zahlen mögen das Bild eines geradezu idyllischen Dorflebens in Fürstenberg suggerieren: Gerade einmal 70 Fälle von Verbalinjurien, 27 verzeichnete Sach- Vieh- und Landbeschädigungen, 24 Gewalt- und 22 Eigentumsdelikte enthalten die Fürstenberger Gerichtsprotokolle für den Zeitraum von 1663 bis 1709 (siehe Abb. 8.1 auf der nächsten Seite). Dieses doch eigentümliche Resultat, das sich markant von anderen Studienergebnissen abhebt, 713 lässt Zweifel an die Richtigkeit der Datenerhebung aufkommen. Dennoch kann die Aussagekraft der absoluten Zahlen stichhaltig überprüft werden, indem eine quantitative Auswertung der Jahre mit hoher Quellendichte erfolgt. Zu nennen sind hier die Jahre 1668, 1669 sowie 1689 und 1690 (siehe Abb. 8.2 auf S. 161). Gemessen an einer Einwohnerschaft, die sich bereits 1672 auf ca. 1300 Seelen belief, 714 zeichnet sich in der Statistik eine äußert geringe Kriminalitätsrate ab. Während für das Jahr 1668 mehrere Ausnahme- und Singularfälle in den Akten aufgeführt werden, scheint das Gericht sich hauptsächlich mit den stets wiederkehrenden Problemfeldern „Schulden“, „Verbalinjurie“ und „Sachbeschädigungen“ beschäftigt zu haben. Jedoch fällt selbst deren Quantität kaum ins Gewicht. Lediglich 13 Ehrbeleidigungen bilden das Maximum in den Jahren 1668 und 1669. Weitaus weniger sind die körperlichen Übergriffe vertreten - gerade einmal fünf Gewaltattacken sind für 1668 angegeben. Mord oder Totschlag wird überhaupt nicht in den Gerichtsakten erwähnt, obwohl das Aktenkonvolut Bagatell- und Strafdelikte aufführt. Natürlich kann dahingehend argumentiert werden, dass die Zahlen trügen und inoffiziell vermutlich höher liegen. Der Gang vor Gericht war eine kostspielige Angelegenheit für den Ankläger, weswegen häufig zuerst auf dorfinterne Regulationsmechanismen zurückgegriffen wurde. Diese Begründung ist unzweifelhaft einleuchtend und berechtigt . Jedoch muss kritisch eingeräumt werden, dass viele begangene Devianz- und Kriminalvorgänge aufgrund der Rügepflicht der kommunalen und obrigkeitlichen Amtsträger auch ohne privaten Kläger ihren Weg zum Ohr des Richters fanden. Ein Beispiel soll zur Illustration genügen. Der Gerichtsschreiber vermerkte für den 24. Juni 1681: auff s. [sc. sankt] Johaniß deß abentß haben sich in Johaneß henkeln hauß Henrichen nüten, Berent Jörgen Pankoke, stoffel Voß vndt Caspar Viervirt blutig vndt blaw geschlagen, aber niemandt geklagt. 715 Es müssen folgerichtig noch andere tragende Aspekte die niedrige Devianzrate bedingt haben. Eine mögliche und aufschlussreiche Antwort könnten das lokale soziale Wertesystem und eine nähere 713 Vgl. Frank: Dörfliche Gesellschaft, S. 238-348. 714 Vgl. Schäfer: Bevölkerung und Landbesitz, S. 389. 715 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 152 v . 160 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Schulden Verbalinjurie Sach-, Vieh- und Landbeschädigungen Körperliche Angriffe Diebstahl Landstreitigkeiten Betrug Widersetzung bei Pfändung Ehebruch Ruhestörung Falsches Abwiegen (Mehl) Leichtfertigkeit Abtreibung Kirchstuhlverweigerung Verunreinigung von Bier Brandgefahr 0 20 40 60 80 92 70 27 24 22 14 7 6 2 2 2 1 1 1 1 1 Anzahl Abbildung 8.1: Quantitative Auswertung der Gerichtstätigkeiten von 1663-1709 bei „normalen“ Vergehen Betrachtung der innerdörflichen Kontrollmechanismen geben. Dieser Gedanke führt direkt in das „Gravitationszentrum“ der Gerichtsakten: 716 die Vergehen und Delikte. 716 Vgl. Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 48. 8.3 Vergehen und Normverstöße 161 Verbalinjurie Schulden Körperliche Angriffe Landstreitigkeiten Sachbeschädigung Diebstahl Betrug Falsches Abwiegen Brandgefahr Leichtfertigkeit 0 5 10 13 10 5 4 3 3 1 1 1 1 Anzahl - (a) 1668 (09.03. bis 20.12.) Verbalinjurie Schulden Sachbeschädigung Betrug Landstreitigkeiten Diebstahl 0 5 10 13 12 7 2 2 1 - (b) 1669 (14.01. bis 31.10.) Schulden Diebstahl Sachbeschädigung Landstreitigkeiten Körperlicher Angriff Verbalinjurie Kirchstuhlverweigerung 0 5 10 12 3 3 2 2 1 1 Anzahl - (c) 1689 (03.03. bis 28.11.) Schulden Verbalinjurie Körperlicher Angriff Diebstahl Sachbeschädigung 0 5 10 10 4 3 2 1 - (d) 1690 (03.01. bis 17.11.) Abbildung 8.2: Quantitative Auswertung zivilrechtlicher und strafrechtlicher Tätigkeiten für einzelne Jahre 162 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten 8.4 Verbalinjurien Bei keinem anderen historiografischen Forschungsthema wird der für die frühneuzeitliche Gesellschaft elementare Begriff „Ehre“ 717 so greifbar wie bei den vor Gericht verhandelten Injurienprozessen. Bewiesen die Fürstenberger einerseits mit ihren „Sticheleien“ einen gewissen ausgelassenen Umgang mit Spottnamen, 718 wurde andererseits den „bösen Worten“ 719 , zu denen neben den Flüchen und Drohungen auch Beleidigungen zählten, die Macht zugesprochen, eine Person buchstäblich ihrer Ehre zu berauben. Vor diesem zeitgenössischen Deutungshintergrund von Ehre ist es nicht verwunderlich, dass auch die fürstenbergischen Opfer von Verbalangriffen die Täter häufig als Ehrendieb oder Ehrenverleumbder bezeichneten. In seiner Funktion bildete das zeitgenössische Ehrprinzip einen Stabilitätsfaktor für gesellschaftliches Zusammenleben, indem es sozialmoralische Verhaltenserwartungen und damit zugleich Devianzvorstellungen implizierte. Es war folglich ein probates 717 Das von der historischen Anthropologie adaptierte Deutungskonzept „Ehre“ ist wesentlich von den soziologischen Theorien von Max Weber, Georg Simmel und Pierre Bourdieu geprägt worden und gilt als ein zentraler Interpretationsschlüssel für das Verständnis frühneuzeitlicher Gesellschaften. Das frühneuzeitliche Ehrprinzip wird als ein Kommunikations- und Konstitutionsmedium in einer „stratifikatorisch-hierarchisch strukturierten Gesellschaft“ verstanden, in der bewusst die Ehre eines Kontrahenten angegriffen wurde, damit bestimmte Erwartungshaltungen erfüllt werden. Damit wird das Ehrprinzip zusätzlich zu einem Mittel der sozialen Kontrolle, an der auch Rechtsinstanzen ihre Sozialdisziplinierung ansetzen konnten, wenn es galt, deviantes Verhalten zu strafen. Vgl. Vogt, Ludgera: Zur Logik der Ehre in der Gesellschaft, Differenzierung, Macht Integration, Frankfurt a. M. 1997. Zur Bedeutung der Ehre für die Interpretation frühneuzeitlicher Gesellschaften, ihren Möglichkeiten und Grenzen siehe Dinges: Die Ehre als Thema, S. 57 sowie Fuchs, Ralf-Peter: Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525-1805) (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 28), Paderborn 1999, S. 102 und Schmölz-Häberlein: Ehrverletzung als Strategie, S. 138. 718 Die frühneuzeitliche face-to-face-community besaß nach gegenwärtigen Maßstäben einen eigentümlichen Humor bei der Vergabe von Spitznamen, die auf persönliche Eigenschaften, Berufe oder physische Anomalien beruhen konnte und heute eher unter dem Begriff „Stigmatisierung“ fällt. Dieses Forschungsergebnis ist auch für Fürstenberg belegbar. Greta Meyer erhielt beispielsweise den Beinamen butzen grethen, der entweder auf den desolaten Zustand ihres Hauses oder auf ihren weniger angenehmen Charakter verwies. Nicht gerade zimperlich war die Gemeinde im Umgang mit anatomischen Anomalien oder Behinderungen: Die beträchtliche Leibesfülle brachte Cipß aus Essentho den Spottnamen der Dicke ein und Hinten Meinekes Sohn wurde wegen seiner ausgeprägten Kopffehlbildung dicke kopp genannt. Bei den Familiennamen Blinden und Plattvoeth ist zu vermuten, dass die Spottnamen ihre ursprüngliche Familienbezeichnung verdrängt haben. Siehe ergänzend hierzu das Kapitel „Die Welt der Spitznamen. Zur Logik der populären Nomenklatur“, in: Schindler: Widerspenstige Leute, S. 78-120. 719 Dem gesprochenen Wort lag die allgemeine Vorstellung von der Gegenständlichkeit des Wortes zugrunde und wurde infolgedessen eine magisch-sakrale Kraft beigemessen. Als besonders frevelhaft galt das Delikt der Blasphemie, das eng verknüpft war mit dem Gedanken der Vergeltungstheologie und göttlichen Kollektivstrafe. Schwerhoff: Böse Hexen, S. 194. Dieses theologische Argument wird auch in den frühneuzeitlichen Policeyordnungen des Fürstbischofs von Paderborn greifbar. In einer Satzung von 1657 heißt es: Weiln an Gottes heilsamen Segen alles bestehet, und daran daß durch Erweckung göttlichen Zorns selbiger nicht entzogen werde, bevorab gelegen ist; So soll manniglich jung und alt verhüten, die göttliche Allmacht [...] zu beleidigen. Hochfürstlich-Paderbornische Landes-Verordnungen, S. 7. Siehe auch Fuchs: Um die Ehre, S. 107-111. 8.4 Verbalinjurien 163 Steuerungs- und Ordnungsinstrument, 720 konnte aber zugleich auch ein dysfunktionales Element der Ordnungsstörung sein. Denn verbale Ehrangriffe beinhalten immer den potenziellen Vorwurf der Devianz und stellen somit eine Form von sozialer Etikettierung dar. Es verwundert daher nicht, dass die Akteure vielfach versuchten, unter dem Deckmantel des Gemeinwohls (bonum commune) ihre persönlichen Interessen mittels der ritualisierten „denouncing stragedy“ durchzusetzen. 721 Mit diversen objektbezogenen und objektfreien Injurien 722 sollte dabei der Kontrahent in sozialmoralischer Hinsicht zum Abweichler degradiert werden. Denn die Beleidigungen verwiesen auf vermeintliche Charaktereigenschaften des Gegners, die mit dem sozialen Wertesystem der Gemeinschaft nicht vereinbar waren. 723 In Fürstenberg waren insbesondere diejenigen Schimpfwörter beliebt, mit denen dem Gegner Faulheit, Sodomie, mangelnde Vaterlandsliebe und vornehmlich allgemeine Unehrenhaftigkeit unterstellt werden konnten. Bezeichnenderweise waren 720 Vgl. Schmölz-Häberlein: Ehrverletzung als Strategie, S. 137 f. 721 In der historischen Forschung besteht der Konsens, dass verbale Erniedrigungen und Verteufelungen des Gegners zur alltäglichen Normalität gehörten. Zu Recht könne man sogar von einer gewissen Standfestigkeit der Zeitgenossen im Gebrauch von Scheltworten ausgehen. „Der Alltag in vielen Lebensbereichen scheint [...] durch permanente Streitigkeiten bestimmt gewesen zu sein, in der dem Scheltwort eine tragende Rolle zukam. Einmal ausgesprochen, setzte es den Gescholtenen unter Zugzwang, in angemessener Weise zu reagieren.“ Fuchs: Um die Ehre, S. 102. Aufgrund dieser Beobachtung charakterisiert Walz das Konfliktverhalten der frühneuzeitlichen Akteure als Agon. Diesen verbalen Wettkämpfen lag die Idee zugrunde, dass in Konfliktfällen die Ehre des Gegners gezielt durch Beleidigungsangriffe gemindert werden sollte (denouncing stragedy), um diesen temporär oder längerfristig sozial zu „vernichten“. Je nach Konflikttyp waren Scheltworte gebräuchlich, die auf eine gewisse Ritualisierung im Ehrenhändel hinweisen und die Gescholtenen zu unterschiedlichen Reaktionsweisen aufforderten, die sie gewissermaßen unter Zugzwang bzw. Handlungsdruck setzten. Dieser differentielle Gebrauch der Scheltworte weist auf eine grundsätzliche Differenzierung zwischen einer reinen Beschimpfung und realen Vorwürfen in der Alltagspraxis hin. Siehe hierzu Walz: Schimpfende Weiber, S. 186. „Das archaische Rechtsdenken ging nicht von der Symmetrie zwischen Unrecht und Strafe aus, sondern von der Totalverwerfung des zu Bestrafenden.“ Ebd., S. 182. Siehe hierzu Walz: Agonale Kommunikation, S. 229-234. 722 Unter objektbezogenen Verbalattacken versteht Walz Injurien, die an Bereiche wie Eigentum, Abstammung, das Verhältnis zur Obrigkeit, Religion, Beruf, Sexualität und Physis anknüpfen. Objektfreie Beleidigungen hingegen zielen allgemein auf die Minderung der Ehre ab. Ders.: Magische Kommunikation, S. 431 f. 723 „Beleidigungen sollen den andern ja an einem schwachen Punkt treffen. Sie können dies am leichtesten, indem sie die Abweichungen von einem gewünschten Verhalten benennen. Schließlich sind Beleidigungen dann gesellschaftlich besonders wirkungsvoll, wenn sie erfolgreich an den geltenden Konsens über allgemein akzeptierte Wertvorstellungen appellieren. [...] Die häufige Wiederholung bestimmter Beleidigungen läßt demnach Rückschlüsse darauf zu, welche Abweichungen von der herrschenden Norm besonders gefürchtet werden. Implizit enthalten Beleidigungen also auch Hinweise auf gesellschaftlich verbreitete Ängste. Schließlich kann man aus Beleidigungen auch - gleichermaßen im Umkehrschluß - eine Vorstellung vom Idealbild des andern Geschlechts gewinnen.“ Dinges, Martin: „Weiblichkeit“ in „Männlichkeitsritualen“? Zu weiblichen Taktiken im Ehrenhandel in Paris im 18. Jahrhundert, in: Francia 18.2 (1991), S. 71-98, hier S. 86. 164 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten weitaus mehr Männer in verbale Ehrenhändel involviert 724 als Frauen 725 . Zudem lag ein weitaus größeres Repertoire an Beleidigungen für das männliche Geschlecht vor. 726 Bernhüter, Daumendreyer, Hunsfott, Fickelmacher, Verräter, Kieck in die Welt, Flickfloer, Fließhöwer, Landstreicher etc. waren nur einige der bevorzugten Injurien. Dieser Befund regt zu der Frage an, ob nicht das männliche Geschlecht aufgrund seines gesellschaftlich breiter aufgestellten Tätigkeitsfeldes als pater familias, ökonomischer Hauptversorger und „politischer“ Amtmann eine größere Angriffsfläche für Beleidigungen bot. 727 Für Frauen hingegen waren Devianzvorwürfe im sexuellen Bereich beliebt mit unterschiedlichen Ausformungen, wie Bluthuere, landläuferische Hure und Kinderverbringersche. 724 Soweit der Geschlechteranteil in den Quellen zu eruieren ist, verteilen sich die verbalen „Schlagabtausche“ wie folgt: 1. Mann contra Mann: 30; 2. Frau contra Mann: 5; 3. Mann contra Frau: 8 und 4. Frau contra Frau: 7. 725 Ein Ergebnis, das auch Walz für seinen lippischen Untersuchungsraum konstatiert: „Während die Verbaldelikte zwischen den Geschlechtern (ungefähr je 160 Mal beschimpft eine Frau einen Mann und umgekehrt) gleich zahlreich sind, überwiegen diejenigen zwischen Männern (720) die zwischen Frauen (110) bei Weitem. Selbst wenn man berücksichtigt, daß insgesamt viel weniger Frauen vor Gericht kamen, kann keine Rede davon sein, daß Frauen bei Verbaldelikten eine bedeutendere Rolle spielten als Männer.“ Walz: Schimpfende Weiber, S. 179 726 Dieses Ergebnis mag überraschen, wird doch in der entsprechenden Forschungsliteratur allgemein darauf hingewiesen, dass das weibliche Geschlecht in der Arena der „Wortgefechte“ weitaus begabter gewesen sei als der männliche Konterpart. Deren verbale Schlagabtausche werden mit den Worten: „Länger, vielfältiger und phantasiereicher“ charakterisiert. Krug-Richter, Barbara: Schlagende Männer, keifende Weiber? Geschlechtsspezifische Aspekte von Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Köhle-Hezinger, Christel/ Scharfe, Martin/ Brednich, Rolf Wilhelm (Hrsg.): Männlich. Weiblich. Zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Kultur, 31. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (Marburg, 1997), Münster, New York, München und Berlin 1999, S. 271-281, hier insb. S. 273. 727 Erklärungsmodelle, die weitestgehend auf eine Dichotomie zwischen Mann und Frau hinweisen bzw. von einer Polarität zwischen Natur und Kultur in der Frühen Neuzeit ausgehen, sollen in dieser Studie aufgrund ihrer teilweise anachronistischen Sichtweisen nicht vertiefend behandelt werden. Denn neuere Untersuchungen in der Geschlechtergeschichte plädieren dafür, dass „in der Frühen Neuzeit die Geschlechterrollen inkohärenter, noch nicht so fest gefügt [waren], eine eindeutige Abgrenzung geschlechtlicher Identitäten hat trotz aller Unterscheidungskriterien weder im gelehrten Diskurs noch [...] in der Lebenspraxis stattgefunden“. Pulz, Waltraud: Frauen und Männer - Fasten und Völlen? Geschlechterdifferenz und außergewöhnliches Eßverhalten in der Frühen Neuzeit, in: Köhle-Hezinger/ Scharfe/ Brednich (Hrsg.): Männlich, S. 209-223, hier S. 223. Siehe auch hierzu Bothe, Alina/ Schuh, Dominik (Hrsg.): Geschlecht in der Geschichte. Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie, Bielefeld 2014. Siehe auch Ulbrich, Claudia: Art. „Geschlechterrollen“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1387000 (Zugriff am 27. 03. 2017). Es sei auch auf die Arbeiten von Lipp, Carola: Frauen und Öffentlichkeit. Möglichkeiten und Grenzen politischer Partizipation im Vormärz und in der Revolution 1848, in: dies. (Hrsg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/ 49, Baden- Baden 1986, S. 270-307, hier S. 112-130 verwiesen. Um eine differenzierte Sichtweise auf die Geschlechterrollen und Geschlechterräume bemüht ist auch die Habilitationsschrift von Kuhn, Bärbel: Familienstand. Ehelose Frauen und Männer im Bürgertum (1850-1914), Wien 2000. 8.4 Verbalinjurien 165 Überproportional vertreten waren jene „konturlosen“ 728 Schimpfkategorien, die eine ganze Bandbreite an Assoziationen von Abweichung wachriefen und somit Universalbegriffe für Devianz waren. 729 Gemeint sind die Beleidigungen „Schelm“ 730 und „Hure“ 731 . Diese Verbalattacken, die meistens vor einem breiten Publikum ausgetragen wurden, sollten eine Öffentlichkeit auf die Untauglichkeit und Gesellschaftsunfähigkeit sowie auf das mangelnde Integrationsbedürfnis der beschuldigten Person aufmerksam machen; das zu beleidigende Individuum wurde schlicht als asozial degradiert, es war folglich kein anerkanntes Mitglieder der Gemeinde mehr - Stereotype, die, wie später noch zu beweisen ist, der vermeintlichen Hexe nachgesagt wurden. 732 Selbstverständlich verweisen diese Streittaktiken, die weniger auf eine Lösung der eigentlichen Konfliktursache abzielten als vielmehr auf eine Eskalation und soziale Degradierung der beschuldigten Person, 733 folgerichtig auf das Bemühen der Ankläger, die Zuschauer „für die eigene Sicht“ 734 und damit als „Rückendeckung“ zu gewinnen. Die Diffamierung hatte jedoch eine noch größere Tragweite, als es zunächst den Anschein hat: Denn häufig bezog sich die soziale Diskreditierung nicht nur auf den jeweiligen Streitkontrahenten, sondern sie konnte auf dessen gesamte Familie übertragen werden. Wie bereits bei der Analyse der fürstenbergischen Geburtsscheine ersichtlich wurde, bildete der Nachweis einer generationsübergreifenden redlichen Familienehre ein wichtiges Kriterium für die soziale Stellung der Familienangehörigen im Dorf. Die „Befleckung“ der Familienehre mittels Beleidigungen - sei es nun, dass sie sich auf ein verstorbenes oder noch lebendes Familienmitglied bezogen - konnte den guten Namen der gesamten Sippe und aller Nachfahren denkbar in Mitleidenschaft ziehen. Insbesondere die Verwendung ultimativer Devianzbeschuldigungen („Schelm“, „Hure“), d. h. der Vorwurf, ein gesellschaftsunfähiges, asoziales Subjekt zu sein, barg die potenzielle Gefahr, dass ein regelrechter Bannkreis um den Beschuldigten gezogen wurde, indem er sozial stigmatisiert und schließlich marginalisiert wurde. 728 Fuchs betont, dass die Akteure teilweise nicht konkret wussten, was sie ihren Gegnern vorwerfen könnten und deshalb zu dem konturlosen Begriff „Schelm“ griffen: „Das Scheltwort [Schelm] konnte immer wieder auch dann gebraucht werden, wenn nur diffuse Vorstellungen darüber bestanden, was dem Gescholtenen zur Last gelegt werden konnte.“ Fuchs: Um die Ehre, S. 106. 729 Dinges: „Weiblichkeit“, S. 80. 730 Mit dem Begriff „Schelm“ wurde der gesellschaftlich verachtete Beruf „Abdecker“ assoziiert. Siehe Fuchs, Ralf-Peter: Art. „Beleidigung“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http : / / dx . doi. org/ 10 . 1163/ 2352 - 0248_ edn_a0400000 (Zugriff am 27. 03. 2017) und Toch, Michael: Schimpfwörter im Dorf des Spätmittelalters, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 101 (1993), S. 311-327. 731 Susanna Burghartz weist darauf hin, dass die Ehre der Frau vornehmlich über ihre sexuelle Aktivität definiert wurde. Burghartz, Susanna: Geschlecht - Körper - Ehre. Überlegungen zur weiblichen Ehre in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Baseler Ehegerichte, in: Schreiner/ Schwerhoff (Hrsg.): Verletzte Ehre, S. 214-234, hier S. 215. 732 Siehe hierzu Kapitel 10. 733 Fuchs: Um die Ehre, S. 106. 734 Walz: Schimpfende Weiber, S. 178. 166 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Dieser Interpretationsansatz, der die Bedeutung der Familienehre hervorhebt, eröffnet eine weitere Dimension verbaler Ehrenhändel, die m. E. noch zu wenig von der historiografischen Forschung berücksichtigt worden ist. Wird doch gerade mit dieser Deutung sinnvoll erklärt, warum die Gegenaktion der betroffenen Person zumeist unverhältnismäßig aggressiv ausfiel, was von einer überaus hohen Empfindlichkeit und geringen Schmerzgrenze zeugt: 735 Die Zeitgenossen waren sich schlicht der Wirkungskraft sozialer Stigmatisierungen bewusst. Angesichts dieser Interpretationsfolie werden die in der Forschungsliteratur häufig als „unverhältnismäßig“ eingestuften Gegenreaktionen der Opfer ex abrupto verhältnismäßig. 736 Mithin wird auch ersichtlich, warum ein lediglich mit dem Vornamen genannter Ankläger (Meineke) darauf bedacht war, 1665 gegen Henrich Hurken gerichtlich vorzugehen. Henrich habe nämlich Meineke offendtlich vorgeworffen, sein vatter, der wol 20 jahr todt gewesen, hette bey [der] Gemeinheidt gethaen alß ein schelm [...] 737 . Mittels der Injurienklage wollte Meineke nicht nur das Totengedächtnis an seinen Vater frei von Schande halten, sondern auch sicherstellen, dass die Diffamierung nicht auf ihn und seine Familie übertragen bzw. sozial „weitervererbt“ wurde. 738 Die Auswertung von frühneuzeitlichen Beleidigungen weist jedoch über den Eskalations- und Inszenierungscharakter im Theater der verbalen Ehrenhändel hinaus: Werden die Ehrverletzungen im weiteren Sinne als ein Code betrachtet, d. h. als eine Transformationsregel, besitzen sie eine Verweisstruktur, anhand derer individuelle und öffentliche Meinungen sowie elementarste Erwartungshaltungen zutage treten. 739 Sie offenbaren zudem das allgemeine sowie zentrale Gesellschaftsbedürfnis um die Erhaltung und Stabilisierung sozialer Wertesysteme. Folglich beinhalten die Ehrverletzungen einen moralischen Impetus und den Appell an das jeweilige beschimpfte Gemeindemitglied, sich integrativ zu verhalten, d. h. die hiesigen sozialen, ökonomischen und kulturellen Leitideale zu achten sowie die jeweiligen Verhaltens-, Deutungs- und Orientierungsmuster zu wahren. 740 Auf Basis dieses Gesellschaftsverständnisses wird ersichtlich, warum der Vorwurf der Abweichung, einen derart massiven und neuralgischen Referenzpunkt bildete: Selbstverständlich sollte der Angeklagte aus taktischen Gründen mittels der Verbalinjurie unter Zugzwang gesetzt werden. Jedoch war diese kalkulierte Vorgehensweise nur deswegen erfolgreich, weil die Beschuldigungen an generelle Regelvorstellungen anknüpften und somit das vermeintlich nicht normgerechte Verhalten des Kontrahenten hervorgehoben werden konnte. Die Verbal- 735 Vgl. Dinges: „Weiblichkeit“, S. 71. 736 „Charakteristisch für die Drohung war die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem die Drohung auslösenden Vorgang (z. B. eine Gans des Nachbars dringt in den Garten ein oder dieser fordert einen verliehenen Gegenstand zurück) und dem durch die Drohung angewünschten Übel (Tod, schwere Krankheit, religiöses Unheil).“ Walz: Schimpfende Weiber, S. 186. 737 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 30 v . 738 Siehe auch LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 21 r-v . 739 Dinges: „Weiblichkeit“, S. 80. 740 Vgl. Hering Torres, Max Sebastián: Art. „Soziale Wertesysteme“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a3969000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 8.4 Verbalinjurien 167 injurien erhielten folglich ihre besondere Durchschlagskraft, weil sie eine symbolische Grenze zwischen Norm/ Integration und Abweichung/ Exklusion zogen. 8.4.1 Abwehrstrategien Werden unter diesen Vorzeichen die Verbalinjurien betrachtet, wird ersichtlich, warum die Opfer derartige Verleumdungen nicht stillschweigendt verschmertzen konnten oder ihre Kontrahenten aufforderten, den Beweis für ein schelmbstück zu erbringen: Es galt, die symbolische Grenzziehung durch gezielte Reaktionen aufzulösen und den Vorwurf als unberechtigt zu entlarven. Oberste Handlungsmaxime war folglich das Handeln. Wie Rainer Walz in seiner Habilitationsschrift über das frühneuzeitliche Lippe anschaulich darlegte, 741 war das Repertoire innerdörflicher Abwehrstrategien und Konfliktlösungsmechanismen breit gefächert - so auch im fürstenbergischen Untersuchungsraum. 742 Um jedoch nicht in Redundanzen zu verfallen, seien die aus der Forschungsliteratur allgemein bekannten Ergebnisse lediglich kurz skizziert, die besonderen räumlichen Spezifika hingegen ausführlicher dargestellt: Neben einer friedlichen Konfliktlösung mittels der Entsendung einen Mediators 743 verzeichnen die Akten auch aggressive Verhaltensweisen wie das Aussprechen von Drohungen oder Flüchen. Allerdings waren diese Vorgehensweisen offenbar nicht sonderlich beliebt - im gesamten Zeitraum von 1669 bis 1709 sind lediglich vier solcher streitlustigen Reaktionen im niedergerichtlichen Aktenband verzeichnet. 744 Noch seltener geben die Quellen preis, ob der Injuriant „Aus-dem-Haus-gerufen“ wurde - lediglich ein solcher Fall ist nachweisbar. 745 Offenbar wirkungsvoller und beliebter war hingegen ein retorsives Verhalten der Injurierten, das zahlreich in den Akten dokumentiert ist. Die verbale Retorsion wurde nicht auf die gleiche Stufe mit der Verbalinjurie gestellt, sondern galt als ein probates Verteidigungsmittel und wurde dementsprechend auch nicht strafrechtlich geahndet. So behalf sich beispielsweise Hans, der Schweizer, mit einem retorsiven Schlagabtausch, als ihn der Maurer der Herren von Westphalen öffentlich für einen deuffelsbünder, wicker vndt wahrsager ausgerufen hatte. Hans reagierte retorsiv, indem er seinen Injurianten so lange für Einen schelm vndt dieb halten 741 Walz: Magische Kommunikation, S. 306-364. 742 Walz nimmt in seinem Opus die kategoriale Einteilung „Verhalten der Verdächtigenden“ und „Verhalten der Verdächtigten“ vor. Diese klare Abgrenzung kann anhand der teilweise undurchsichtigen Streitlage zwischen den Kontrahenten nicht auf Fürstenberg übertragen werden, insbesondere weil die Schuldfrage häufig vom Standpunkt der jeweiligen Streitpartei abhängig war. 743 Als Johann Walters mit dem Diebstahlvorwurf konfrontiert wurde, habe er den Injurianten, Dietherich Lesten, beschicken vndt fragen Laßen[,] Ob er der wortte geständig sein wollte. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 102 r . 744 Es wird dem Gegner gedroht, dessen Wagen zu zerstückeln (LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 110 v ), dessen Arm zu brechen, selbigen totzuschießen (LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 57 v , 224 v ) oder ihm den „Teufel-in-den-Leib“ zu wünschen (LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 175 r ). 745 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 227 r . 168 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten wolte, bis er ihm die Rechtmäßigkeit dieser Anschuldigungen bewiesen (überweisen) hätte. 746 Die Retorsion musste sich allerdings nicht nur auf einen verbalen Schlagabtausch beschränken, sie konnte auch durchaus kumulativen Charakters sein. Der Fall von Jost Grothen aus dem Jahr 1664 ist hierfür exemplarisch. Als Jost Grothens Sohn erfahren hatte, dass Peultertz’ Frau über seine Familie hinterrücks Gerüchte verbreitete, habe er Ihr Muhtwiliger weise den zaun bey ihrem hause am hoffe midt dem wagen überm hauffen gefahren vndt alß sie davon gesagt[,] solte Ihr den wider zumachen, hette Jost Grothen sie für Ein[e] hure gescholten[,] solte Ihr Mutter vndt sie daß Maul halten[,] wolte sie sonst midt einem steine [schlagen]. Welcher er auch auffgenommen [vndt] auff den kopff werffen [wollte][,] daß sie zur Erden fallen solte. 747 Der geschilderte Vorfall ist auf mehreren Ebenen lohnenswert näher durchleuchtet zu werden: An erster Stelle bleibt festzuhalten, dass das Gericht Grothens offensivaggressives Vorgehen nicht verurteilte, obwohl das Verhalten eindeutig auf die Minderung der sozialen Ehre und die Schädigung des Körpers sowie der ökonomischen Existenz des Gegners abzielte - ökonomisch in der Hinsicht, weil die Ersetzung des Holzes für den Zaun Geld kostete und sowohl die auf dem Hof gehaltenen Tiere entlaufen als auch das übrige Vieh von der Straße auf das Gehöft treten konnte. Zudem machte die Sachbeschädigung die Öffentlichkeit auf das Fehlverhalten der Injuriantin aufmerksam, da die Reparatur der Einhegung Zeit in Anspruch nahm. Der Schweregrad der Retorsion belegt zudem, dass Peultertz’ Frau bewusst eingeschüchtert werden sollte, damit sie nicht weiter ihre Gerüchte verbreitete. Es handelte sich folglich um ein taktisches Kalkül, bei dem vorsätzlich mit der Angst des Gegners gespielt wurde. Zweitens liefert der Fall von Jost Grothens Sohn ein wichtiges und für diese Arbeit erkenntnisleitendes Detail - die Deüffelskinder waren anscheinend in dem sozialen Gebrauch von innerdörflichen Regulationsmechanismen nicht eingeschränkt worden bzw. ließen sich trotz ihres gesellschaftlichen Stigmas nicht einschränken. Denn die Familie Grothen galt seit den ersten Hexenprozessen von 1601 im Dorf als ein berüchtigtes Hexengeschlecht und sollte bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts strafrechtlich verfolgt werden. Obwohl seit vielen Jahrzehnten im Verdacht der Hexerei stehend, weist das Verhalten von Jost Grothens Sohn, der im Namen der Familienehre agierte, keine Spur einer Einschüchterung auf. Er bediente sich der innerdörflichen Verteidigungsmöglichkeiten und wurde sogar in seiner Handlungsweise vom Gericht bestärkt, indem es ihn trotz Peultertz’ Anzeige vor Gericht nicht bestrafte. Der Fall der Familie Grothen stellt keinen Einzelbefund dar. Eine weitere und wirkungsvolle Retorsionsmöglichkeit, mittels derer der Injuriant sozial stigmatisiert, aber die Ehre des Injurierten wiederhergestellt werden konnte, 746 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 57 r . 747 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 25 v . 8.4 Verbalinjurien 169 war das „Aus-dem-Haus-Werfen“ bzw. „Das-Haus-Verbieten“. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese Handlungsvariante bietet der Fall des Thönies Schweins, der auch aus einem altbekannten Hexengeschlecht stammte: Als Thönies Schweins’ Lämmer unbeabsichtigt das Gartengewächs von Johann Springer zerstörten, reagierte der Geschädigte retorsiv, indem dessen Sohn einem der Lämmer die Beine brach. Um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, beschickte Thönies Schweins Johann Springer in der Absicht, dass er ihm doch das geschädigte Lamm bezahlen solle. Johann verweigerte den Schadensersatz, weil er vom Kontrahenten selbst noch keine monetäre Wiedergutmachung für das zerstörte Gemüse erhalten hatte. Die Situation zwischen den beiden Familien spitzte sich zu, als die Frau von Johann Springer Ein solch Perlamoet vndt geschrey angefangen[,] daß die Nachbarn genug zuzuhören gehabt hätten, worauf Schweins gesagt [hatte][,] [sie] solte Ihm auß dem hause bleiben vndt midt dem Lamb [in ihren Armen] zurück gestoßen [...] 748 . Mit diesem Verbot entzog Thönies Schweins der Familie Springer nicht nur die häusliche Gastfreundschaft, sondern wies symbolisch darauf hin, dass sie seiner Gesellschaft unwürdig sei - ein entschiedenes Vorgehen, das zusätzlich die kommunale Bindung zwischen den beiden Familien zumindest temporär aufkündigte. Beide geschilderten Fälle enthüllen ein weiteres wesentliches Verhaltensmerkmal im agonalen Kampf um die Ehre und unterstreichen den bereits aufgestellten Befund, dass bei den verbalen Schlagabtauschen nicht nur die Reputation der einzelnen Kontrahenten auf dem Spiel stand, sondern die ihrer gesamten Familie und Verwandtschaft. Offenbar riefen die mittels Verbalinjurien angestrebten Ausgrenzungsversuche das Solidaritätsgefühl der beschuldigten Familie wach. Es sei auf Jost Grothens Sohn hingewiesen, der stellvertretend für seine Familie gegen Peultertz’ Frau sanktionierend vorging. Ebenso nahm der Streit zwischen Schweins und Springer fehdeartige Züge an, als Johanns Sohn die Tochter von Thönies zu dem sawstal getragen vndt Nohttzüchtigen wollen 749 . Dieses Verhalten lässt sich allerdings nicht nur bei den verschrienen Hexenkindern beobachten, sondern war eine gängige Praxis. Cordt Papen drohte beispielsweise dem Voetländer mit den fuß trampend [...] komme her[,] ich will meine brüders verthätigen, nachdem dieser seinen Geschwistern Schläge angedroht hatte. 750 Es sei in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Fall hingewiesen, der das Thema „Familienehre“ eindrucksvoll schildert: Am 27. Mai 1668 kam es zwischen zwei Kindern zu einem Streit: Henrich Neukirchs Junge 751 hatte Johann Kochs Sohn als Teufelskind beschimpft. Weil der Vater, Johann Koch, die Worte selbst gehört [und] nicht verschmertzen können, besondern dem ein Ohrfeige geben, worüber beklagtens Mutter Ihmen auch gescholten vndt geschmehet vndt 748 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 16 v . 749 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 16 v . 750 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 205 v . 751 Herr Decker machte darauf aufmerksam, dass es sich hierbei eventuell um den späteren Juristen Burkhard Neukirch handeln könnte. 170 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten alß die gefraget[,] Ob sie wüßte[,] daß sein kindt ein deuffelskindt wehre, sie Ihm geandtworttet[,] waß er wehre[,] daß solte früh genug gewahr werden [...] 752 . Der Zwist der Kinder, der nun auch die Eltern betraf, eskalierte in einer Schlägerei, wobei die Kinder die meisten Blessuren davontrugen: Es wurden nicht nur Steine, sondern auch eine Hacke zur Hilfe genommen. Bei diesem Streit ging es offenbar nicht mehr nur darum, sein Kind vor Verbalattacken zu schützen, es galt auch die eigene Familienehre zu wahren, die durch das Kind repräsentiert wurde. Aus diesen Gründen sahen sich die Eltern gezwungen, tatkräftig einzugreifen und „mitzumischen“. Die größte Durchschlagskraft im „Ehrenspiel“ besaß jedoch allem Anschein nach die Beanspruchung der ambtshülffe oder sogar die direkte Konsultierung der Herren von Westphalen. Das Konvolut ist gefüllt mit zahlreichen Injurienklagen und -prozessen, in denen die Adelsherren den Opfern ihre Hilfe zusagten. 753 Auch wenn bereits ein retorsiver Schlagabtausch stattgefunden hatte, wählten viele Geschädigte recht zeitnah zum Konfliktgeschehen parallel den Gang vor Gericht und bedienten sich dessen Autorität als Rechtssprechungsorgan. Mittels dieser Handlungskopplung von sozialen Regulationsmechanismen sowie rechtlicher Justiznutzung wollte man die Effizienz erhöhen, den Kontrahenten zum Stillschweigen zu bringen und die durch die Beleidigungen geschädigte Reputation erfolgreich wiederherzustellen. Insbesondere bei einem öffentlichen „Ausruf“ war offensichtlich eine sofortige Konsultierung des Gerichts vonseiten der Opfer zwingend nötig. Dieser Befund mag nicht weiter überraschen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das „Ausschreien“ eine erweiterte Dimension der Verbalinjurie darstellte und von ihm folglich eine größere Gefahr ausging. Denn beim rituellen „Ausrufen“ war der Injuriant von der Schuldhaftigkeit seines Kontrahenten zweifelsfrei überzeugt, sodass er dessen Verfehlung mit Gewissheit vor einem Publikum herausschreien konnte. 754 Dieser Handlungsakt, der fraglos wegen seines bedrohlichen Effektes häufig von den Zeitgenossen instrumentalisiert wurde, sollte der Öffentlichkeit einen hohen Wahrheitsgehalt der Vorwürfe suggerieren - im Gegensatz zu den partiell unbedacht 752 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 60 v . 753 Exemplarisch LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 21 r . 754 Walz: Magische Kommunikation, S. 320. Siehe auch hierzu Kramer, Karl-S.: Das Herausfordern aus dem Haus. Lebensbild eines Rechtsbrauches, in: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1956, S. 121-138. Kramer unterteilt dabei den Verlauf des Herausforderns aus dem Haus in vier Schritte: 1. das Laufen vor dem Haus, 2. die Beleidigung der Ehre, 3. die Aufforderung zum Zweikampf und schließlich die Beschädigung von Türen und/ oder Fenstern des Kontrahenten - eine Praxis, die auch bei den frühneuzeitlichen Studenten weit verbreitet war. Siehe hierzu Krug-Richter, Barbara: „Du Bacchant, quid est Grammatica? “ Konflikte zwischen Studenten und Bürgern in Freiburg/ Br. in der Frühen Neuzeit, in: Krug-Richter, Barbara/ Mohrmann, Ruth-E. (Hrsg.): Praktiken des Konfliktaustrags in der frühen Neuzeit (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme - Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, Bd. 6), Münster 2004, S. 79-104 und Braun, Tina/ Liermann, Elke: Feinde, Freunde, Zechkumpane. Freiburger Studentenkultur in der Frühen Neuzeit (Münsteraner Schriften zur Volkskunde/ Europäischen Ethnologie, Bd. 12), Münster, New York, München und Berlin 2007, hier insbesondere die Seiten 54 f. 8.4 Verbalinjurien 171 (vngestüm) ausgesprochenen Verbalattacken. 755 Dieser allgemeine Rechtsbrauch 756 konnte direkt ins Angesicht einer Person oder während seiner Abwesenheit vor anderen ausgesprochen werden und war häufig mit Drohungen oder körperlichen Attacken gekoppelt. So klagte beispielsweise Thönies Kochs Frau Magdalena, dass Stefan Wietfeldts Frau sie für eine Bluthuere ausgerufen und gesagt [habe], [ich will dich, S. M.] ahn den Eilerberg vndt Ins Zehendthause bringen 757 . Und Hans Letticus meldete dem Gericht, Jesper Koch und seine Frau hätten ihn nicht allein für seinen Eigenem hause für einen schelm vndt Ehebrecher außgeruffen vndt geschmehet, sondern auch beide Midt steinen auff Ihmen zugeworffen[,] daß er Ihnen Ins hauß Endtweichen müßen[,] In Maßen er 4 steine[,] womit sie auff Ihme geworffen [...] dem Richter gezeigt. 758 Die ausgerufene Beschuldigung stellte dabei einen massiven Ehrangriff dar, weil einerseits der Hausfriede gestört wurde 759 und es andererseits die Pflicht des Gastes war, dem Hausherrn, dessen Hausmitgliedern sowie dessen häuslichen Gewohnheiten den nötigen Respekt zu zollen. Das Haus war folglich eine Zone, in der von allen Gästen - seien es die temporären oder dauerhaften - ein normgerechtes Verhalten erwartet wurde. 760 Aufgrund der gravierenden Durchschlagskraft des „Ausrufens“ verzichteten die beschimpften Personen häufig auf einen Rückgriff auf innerdörfliche Regulationsmechanismen und reichten umgehend eine Injurienklage bei Gericht ein: Von insgesamt 21 aktenkundigen Fällen konsultierten 17 Opfer sofort den Richter. Damit ist ein wichtiger Hinweis geliefert, dass die Einforderung der rechtlichen ambtshülff offenbar die einzig effektive Möglichkeit bot, sowohl den Injurianten für seine Falschbeschuldigung zurechtzuweisen als auch die Öffentlichkeit von der eigenen Unschuld zu überzeugen. Ergo stellte die Einschaltung des Gerichtsapparates per se einen symbolischen Demonstrationsakt dar, mittels dessen der Ankläger seine Rechtschaffenheit öffentlich unter Beweis stellte. Denn das Gericht konnte auf mehreren Ebenen eine Wiederherstellung der Ehre ermöglichen. Häufig forderten die Geschädigten das Gerichtspersonal auf, dass ihnen der Reinigungseid gewährt werde, damit sie sich von den attribuierten Vorwürfen und der damit verbundenen mala fama reinigen könnten. Das Gerichtspersonal fungierte dabei als eine glaubhafte Zeugenschaft, bürgte für die Rechtmäßigkeit der Eidesausführung und bekundete den geleisteten Schwur vor der Öffentlichkeit. So bat zum Beispiel 755 Vgl. Walz: Magische Kommunikation, S. 324 und S. 327. 756 Vgl. Wiegelmann, Günter: Prinzipien zur Gliederung der Volkskultur, in: Harmening, Dieter/ Wimmer, Erich (Hrsg.): Volkskultur - Geschichte - Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag, Würzburg 1992, S. 30-43, hier S. 32. 757 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 32 v . 758 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 35 v . 759 Walz: Magische Kommunikation, S. 323. 760 Vgl. Neumann, Friederike: Die Schmähung als ‚Meisterstück‘. Die Absicherung ständischer Position durch Beleidigung unter Lemgoer Kürschnern im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen. Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 47 (1997), S. 621-642, hier S. 629. 172 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Johann Springer das Gericht, ihn midt [einem] Eide [zu] betruwen, weil er sich des Vorwurfs, Vieh beschädigt zu haben, unschuldig wisse. 761 Der Eidesschwur (Ius Iurandum) griff dabei auf rechtssakrale Vorstellungen zurück, deren Wortlaut unglücklicherweise in den Akten nicht schriftlich fixiert wurde. Jedoch gibt der Zedler eine auch für Fürstenberg vorstellbare Definition. Hier heißt es, dass unter „vorbedächtige Anrufung GOttes, der uns straffen sollte, wofern wir die Wahrheit nicht reden, oder unser Versprechen nicht halten sollten, um unseren Worten mehr Glauben zu Wege zu bringen. Oder, wie ihn Müller definiert, ist er eine Erklärung des Schwöhrenden durch die Rede, dadurch er dem anderen zu erkennen giebet, daß er der Göttlichkeit seiner Pflicht, das ist, daß sie dem Willen GOttes als dem Grunde aller Verbindlichkeit gemäß sey, in der That überzeuget sey, und aus diesem Grunde den Gewissens-Trieb, nemlich daß GOtt die Uebertretung seines Willens nicht werde ungestrafft lassen, seiner Pflicht gegen dem anderen aufrichtige Folge zu leisten, würcklich empfinde.“ 762 Unter Anrufung des Allmächtigen bekräftigte der Schwörende den Wahrheitsgehalt 763 seiner Aussage. 764 Demnach stellte der Schwur ein rechtlich-sakrales Instrumentarium dar, mit dessen zugeschriebener Beweiskraft man sich ein höheres Durchsetzungsvermögen gegenüber dem Gegner und seinen erhobenen Anschuldigungen erhoffte. Der Eidesschwur war jedoch auch mit einem gewissen persönlichen Risiko verbunden, das sowohl das Seelenheil als auch das Leibeswohl des Schwörenden im Falle eines Missbrauchs massiv beeinträchtigen konnte: Sollte der Beeidende sich des Vergehens eines Meineides schuldig machen, so waren einerseits der Zorn Gottes, andererseits rechtliche Konsequenzen zu fürchten, wie z. B. eine Leibesstrafe. 765 761 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 16 r . 762 Art. „Eid“, in: Zedler, Johann Heinrich (Hrsg.): Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden [...], 64 Bde., Halle und Leipzig 1731-1754, Bd. 8, Sp. 475-500, url: https: / / www.zedler-lexikon.de/ index.html? c=blaettern&seitenzahl=253&bandnummer= 08&view=100&l=de (Zugriff am 11. 03. 2017), hier Sp. 475. Herausgeber der Online-Version: Bayerische Staatsbibliothek München und Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. 763 Bayer, Erich/ Wende, Frank: Wörterbuch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke, Stuttgart 5 1995, S. 123. 764 Vgl. Holenstein, André: Rituale der Vergewisserung: Der Eid als Mittel der Wahrheitsfindung und Erwartungsstabilisierung im Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: Bierende, Edgar/ Bretfeld, Sven/ Oschema, Klaus (Hrsg.): Riten, Gesten, Zeremonien. Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit (Trends in Medieval Philology, Bd. 14), Berlin 2008, S. 229-252, hier S. 244 f. 765 Der Delinquentin Trina Kesperbaum, die wiederholt gegen ihre geschworene Urfehde verstieß, sollten nach Urteil des lokalen Gerichtspersonals die zwei vorderen Finger abgehauen werden. Jedoch wurde die Leibesstrafe in einen milderen Schuldspruch umgewandelt, weil aufgrund ihres renitenten Charakters schwehrlich andere Caution wird Prestiren können. Da keine Aussicht auf Besserung bestehen würde, sollte sie erneut mit steupen geschlagen und des Gerichts verwiesen werden. Wenn sie noch einmal ohne geleidt den Gerichtsbezirk betrete, werde sie nach Artikel 176 CCC bestraft werden. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Johann Sauren an die Herren von Westphalen am 20.4.1660. 8.4 Verbalinjurien 173 Der Eid stellte aber nicht nur für die Beschuldigten eine Möglichkeit dar, die subjektive „Wahrheit“ ans Tageslicht zu fördern bzw. die eigene Reputation zu bekräftigen, sondern bildete auch ein probates Druckmittel für das Gerichtspersonal. Ein Beispiel sei zur Illustration geschildert. Als Ludowig Schmelter am 15. Mai 1685 klagte, dass Hermann Schmett seinen Esell heimblicher weise für den hirtten weggenommen[,] nacher warburg gedrieben vndt den esell verdorben[,] daß er vndterm Leibe dicke geschwollen, bat er das Gericht um Strafe. Vor Gericht gestand jedoch Hermann Schmett seine Schuld nicht, sondern variierte seine Aussagen, auch so blödlich geandtworttedt, dass der Richter ihm nahelegte, Ihme den Eydt fürzuhalten vndt [zu] Expliciren, jedoch Deßen sich [...] außzuschwehren absolute geweigert 766 . Neben dem Reinigungseid stand dem Geschädigten zusätzlich der Rechtsweg offen, das Gericht um satisfactio, d. h. die Abstrafung des Injurianten alß Einen Ehren verleumbder, zu bitten, damit dieser anderen ein Exempell sei. 767 Mit der Forderung nach satisfactio konnte zudem aufgrund der massiven Ehrverletzung eine Entschädigungssumme (Brüchte) vom Angeklagten eingefordert werden. 768 Ferner bleibt der grundsätzliche Eindruck festzuhalten, dass die besondere Attraktivität in der Justiznutzung gerade darin lag, den Streit auf eine weitestgehend objektive Ebene zu verlagern, indem er vor einem möglichst unparteiischen Personal und an einem unparteiischen Ort gelöst wurde. Dieser Gedanke muss deutlich hervorgehoben werden. Denn in den frühneuzeitlichen Konfliktaustragungen waren ja gerade die sich streitenden Parteien häufig bemüht, die Öffentlichkeit für ihre Ansichten zu gewinnen, um sich ihrer Unterstützung im agonalen Kampf um die Ehre im Dorf sowie vor Gericht gewiss zu sein. Dieser Brauch, der auf dem Prinzip der mehrheitlichen Parteienbildung basierte, war offenbar nicht immer von Erfolg gekrönt. In vielen Konfliktsituationen wollten sich die Zuschauer nicht mit in die privaten Ehrenhändel hineinziehen lassen. Im Gegenteil: Vielfach sträubten sie sich, überhaupt für jemanden eine Lanze zu brechen, um nicht in die risikobelastete Zwangssituation zu geraten, dem vermeintlichen Gegner zumindest temporär die soziale, ökonomische oder politische Gemeinschaft aufzukündigen. Eine solche Situation sei anhand eines Quellenausschnitts kurz skizziert. Während eines Streites zwischen Voetländers Frau und Cordt Papen lief Voetländers Weib zu den anderen Frauen, die am nahe gelegenen Kump standen, und sagte zu ihnen: [...] daß so ein kerl [...] meine kinder schlagen will, der selber [...] gnug leiden muß vndt selber gnug hinter sich hatt, wobey gewesen Gerdrud schutten, worauf 766 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 164 r-v . 767 Exemplarisch sei auf die Quelle LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 57 r hingewiesen. 768 So klagte die Witwe von Johann Hoppen erfolgreich beim Gericht gegen eine Gruppe von jungen Männern, die ihren Sohn in der Wirtsstube für einen Teufel und Werwolf gescholten hatten. Es erging der Rechtsbescheid, dass die Beklagten die anstehenden Gerichtskosten zu bezahlen und zum Gerichtlichen Widerspruch verdammet [werden], wie wir Richter vndt schöffen Ihnen dan hirmirt verdammen von Rechtswegen, Ist hierauff der Gerichtliche widerspruch geschehen den clägern seine Ehr wider gegeben vndt solchero gestalt außgesönet worden. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 62 r-v . 174 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten foethländers dochter Engel so fort sie angesprochen, höret Ihr metgens[,] daß woll waß sie sagt, vndt hette Gerdrud schütten geantworttet[,] nein[,] das höre ich nicht. 769 Dieser Deutungsansatz würde auch plausibel erklären, warum einige Zeugen darauf beharrten, nichts von einem Konfliktfall gesehen oder gehört zu haben, obwohl sie nachweislich zugegen waren. 770 Nun können aus dem Verhalten der Zeugen einige Schlussfolgerungen gezogen werden: 1. Sie waren sich der häufigen Kurzlebigkeit von Streitereien durchaus bewusst und 2. unterschieden sie offenbar zwischen gegenstandsloser Beleidigung und gehaltvollem Vorwurf. Werden diese erkenntnisleitenden Resultate auf das Hexenphänomen bezogen, stellt sich die brisante Frage, ab welchem Zeitpunkt die Öffentlichkeit - oder wie es in den Protokollen heißt die gantze gemeinde - von den kursierenden Hexengerüchten um eine bestimmte Person und von deren Wahrheitsgehalt überzeugt war. 771 Mit dieser wichtigen Fragestellung ist ein Bogen zu den Deüffelskindern gespannt. Im Analyserahmen der Justiznutzung stellt sich selbstverständlich die Frage, inwieweit den „Hexensippen“ das Justizangebot verweigert wurde. Bezeichnenderweise war auch den Deüffelskindern trotz ihres schlechten Rufes der rechtliche Weg nicht versperrt worden. Im Gegenteil: Das Gericht unterstützte sie. Ein Fall von vielen sei kurz geschildert: Als 1668 Kersting Schweins’ Stieftochter, Elsche Brielohn, Kind des als Hexer 1659 hingerichteten Meineke Brielohn, zu Ohren kam, dass Meineke Dröppels Magd sie öffentlich und hinterrücks für eine kinderverbringersche ausgerufen habe, zeigte sie die vermeintliche Verleumdung vor Gericht an. Obwohl die Beklagte bereits beim ersten Erscheinen vor dem Richter anbot, sich mit der Klägerin gütlich zu einigen, lehnte Elsche die Schlichtung ab. Sie verlangte vom Richter, Zeugen anzuhören, damit Dröppels Magd ihres Fehlverhaltens und damit ergo ihrer Schuld überführt werde. Das Gericht kam ihrem Wunsch nach, und erst nach der Schuldüberführung wollte Elsche sich mit der Angeklagten versöhnen, indem sie Clägerinnen vmb verzeihung gebetten, vndt sich also midt handtgebung verglichen salva mulcta 772 . Bemerkenswert ist, mit welcher Hartnäckigkeit Elsche Brielohn das Gericht im Verfahren lenkte, um ihre Reputation vollständig wiederzuerlangen, und umgekehrt der Richter ihrem Drängen zustimmte. Denn obwohl es um ihren sozialen Ruf nicht allzu gut stand, weil sie 1. ein Nachfahre aus einem berüchtigten Hexengeschlecht war und 2. ihr eine mala fama nachgesagt wurde, genoss sie dennoch Rechtsschutz. Die geschilderten Beispiele belegen eindrucksvoll, dass sich die Deüffelskinder bewusst waren, wie im Falle einer Verbalattacke oder eines Gerüchts gehandelt werden musste, um die sozialen Folgen einzugrenzen, aber auch dem moralischen Regelsystem gerecht zu werden. Es stellt sich daher die berechtigte Frage, ab wann die 769 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 205 v . 770 Vgl. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 164 v . 771 Dieser Frage soll im Kapitel 12.2.2 nachgegangen werden. 772 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 81 v . 8.4 Verbalinjurien 175 „Hexenkinder“ den Entschluss fassten, trotz Beschuldigungen ihre Ehre nicht mehr zu verteidigen oder gar stillzuschweigen - eine Frage, die zunächst noch zurückgestellt und in einem anderen Kapitel erneut aufgegriffen werden soll. 773 8.4.2 Strafen Es muss ausdrücklich betont werden, dass Verbalinjurien im frühneuzeitlichen Fürstenberg offenbar nicht an der Tagesordnung waren. Wie bereits bei der quantitativen Auswertung vermerkt wurde, sind in dem annähernd 50-jährigen Untersuchungsrahmen lediglich 70 Beleidigungsfälle aktenkundig bzw. gerichtlich verhandelt worden, von denen gerade einmal 21 die aggressivere Form des „Ausrufens“ darstellten. Noch geringer werden die Zahlen, wenn einzelne Jahre näher betrachtet werden, in denen das westphälische Samtgericht lediglich 13 Anzeigen behandelte. 774 Diese doch geringe „Ausbeute“ an registrierten Fällen 775 verlangt nach einer plausiblen Deutung. Eine naheliegende Vermutung wäre, dass das Gericht ausgesprochen sozialdisziplinierend aktiv war. Überraschenderweise kann diese Vermutung nicht mit dem Quellenmaterial verifiziert werden (vgl. im Folgenden Abb. 8.3 auf der nächsten Seite). Bei nur zehn Prozent der verzeichneten Beleidigungsfälle wurde eine Gefängnisstrafe verhängt. Die Arretierung stellte in der Regel eine der härteren Maßnahmen der Sozialdisziplinierung dar, weil sie einerseits mit einer sozialen Ehrminderung verbunden war, andererseits der verurteilte Delinquent während seiner Inhaftierungszeit nicht seinen lebensnotwendigen Arbeitstätigkeiten nachgehen konnte und zusätzlich für seine Versorgung selbst aufkommen musste.Diese wirtschaftliche Not wird in einer Supplik des Ludowig Manuel an die Herren von Westphalen deutlich. Weil er den Schöffen Johann Papen während eines Gelages beleidigt hatte, wurde er ins Zehnthaus eingesperrt, worin ich nun über acht tage kümmerlich[,] weiß gott[,] weilln kein lebenß mittel bey mihr vorhanden[,] mich behelffen müßen, were dan von Clagern Johann Papen oder den seinigen mihr nichtes böß haffts bewust[,] weiß von Ihme zu sampt den seinigen auch wider Rechteß zu reden alß von Ehrlichen leütten, vndt alß waß ich Ehren rührigermaßen über ihme In drunckenheit ohne wißendt außgegoßen[,] solcheß thuedt mihr herztlich leit[,] vnterthenigeß bittendt auß Gnaden mihr solcheß [zu] verzeihen vndt dießer gefencknüß Jegen darstellunge gebührlicher caution mich zu erlaßen[,] damit ich In vortsetzungene meiner arbeit nicht weitern auff gehalten vndt [...] an den bettelstab mit weib vndt kindern gedrieben werden möge [...] 776 . 773 Siehe hierzu Kapitel 13. 774 Siehe hierzu Kapitel 8.3. 775 Gerhard Schormann kann für das paderbornische Amt Dringenberg vergleichsweise 1171 Fälle von Verbalinjurien (1571 bis 1689) nachweisen. Schormann: Nordwestdeutschland, S. 94. 776 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 51 r . Nachdem alle erbberechtigen Westphalen über die Freilassung abgestimmt hatten, wurde Ludowig Manuel gegen eine Kaution am 07.08.1663 aus dem Gefängnis entlassen. 176 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Zur Kenntnis genommen Erfolgreiche Versöhnung Erfolgloser Versöhnungsversuch Gefängnis Geldstrafe 0 50 100 45 24 14 14 3 Anteil in % Abbildung 8.3: Gerichtliches Vorgehen bei Verbalinjurien von 1663 bis 1709 Die Gefängnisstrafe richtete sich zumeist gegen Personen, die Ortsfremde oder hohe Amtspersonen massiv verbal attackiert hatten. So wurde Stefan Gans zum gehorsam gebracht, weil er den fürstlich-paderbornischen Kurier als Schelm und Dieb ausgerufen hatte, 777 der Neffe vom Müller zu Oberalme wurde auch wegen hindterrücks ausgerufener Verbalinjurien in Arrest genommen 778 und ebenso der Soldat Thönies Plattvoet aufgrund seiner Beleidigungen gegen den Maurermeister der Herren von Westphalen. 779 Die Gefängnisstrafe wurde erst aufgehoben, wenn der Delinquent bereit war, eine Kaution zu hinterlegen und Bürgen stellte, die stipulato manu mit ihrem Hab und Gut garantierten, dass der entlassene Häftling nicht wieder rückfällig würde. Sollte er sich erneut ungebührend verhalten, waren die Bürgen zur Auszahlung der vereinbarten Summe verpflichtet. Aus psychologischer Sicht handelte es sich bei dieser rechtlichen Vorgehensweise zweifelsohne um eine Finesse: Zum einen erhöhte sie den psychischen Druck auf den Delinquenten, sich gemäß den Normen zu verhalten, um nicht die Ehre seiner Bürgen in negativer Hinsicht zu touchieren. Zum anderen wachten die 777 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 23 r . 778 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 40 r . 779 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 37 v . Der Gerichtsdiener und die Holtzfürsten hatten ihn in flagranti erwischt, als er noch midt der büchsen vndterm armb haltendt vffm Platze beneben M. Hans des kochs hause stundt [...]. Während die westphälischen Bediensteten ihn festnehmen wollten, war er ihnen entwischt, wurde jedoch des Morgens zeitlich vffm bette Ertapt vndt zum gehorsamb gebracht. 8.4 Verbalinjurien 177 Bürgen 780 aufmerksamer über das Verhalten ihres Schutzbefohlenen. Folglich wurde die Bereitschaft zur sozialen Kontrolle erhöht. Ebenso wie die Anzahl der Gefängnisstrafen fallen auch die Geldbußen zumindest hinsichtlich der verzeichneten Verbalinjurien gering aus. Nachweislich wurden lediglich in zwei Fällen Geldstrafen angedroht, aber nicht verhängt. Ergo ist diese Form der Strafe mehr als ein psychisches Druckmittel und weniger als eine üblich vollzogene Strafpraxis zu betrachten. Wenn sich die Streitparteien nicht zur Räson bringen ließen und keine Ermahnung fruchtete, wurden beiden theilen bey drey Marck straff biß weiterer verhöhr vndt verOrdnung In dieser sachen, handt vndt Mundt ein Jegen den anderen zu halten, gebotten 781 . Oder wie im Fall des Levin Thelen gegen Meineke Dröppels Frau: Beide Parteien wurden mit einem Eid dazu verpflichtet, bis zur rechtlichen Klärung des Konfliktes Ein Jegen den andern midt handt vndt Mundt vndt aller ferneren thaedtlichkeit Einzuhalten[,] bey 10 [Goldtaler] straff gebotten 782 . Dieser Befund scheint nüchtern betrachtet, zu irritieren, da in der Historiografie üblicherweise die Meinung vertreten wird, dass das Gericht mit Vorliebe mehr Geldbußen über die Delinquenten verhängt habe als repressive Strafen, 783 solange es sich nicht um „harte“ Deliktfälle gehandelt habe. 784 Die milde Strafrechtspraxis des westphälischen Samtgerichts bezüglich der Verbalinjurie gibt erhellende Aufschlüsse über dessen Selbstverständnis sowie primäre Funktion: In erster Linie nahm es eine Vermittlungs- und Schlichtungsposition ein und begnügte sich in den meisten Fällen mit exemplarischen Abstrafungen. Zumindest bei Bagatelldelikten zielte folglich das Gericht nicht auf eine dauerhafte ökonomische Schädigung der devianten Person ab, indem es drakonische Strafen vermied. 785 In 38 % der aktenkundigen Fälle versuchte der Richter, die Streitparteien „auszusöhnen“ und eine gütliche Einigung zu erreichen (composito). Grundsätzlich schien auch die Mehrheit der Personen für das Vermittlungsvorhaben offen zu sein, obwohl sie vorher in ihrer Anklage um eine explizite Bestrafung des 780 „Der Bürge (Bürgschaft) übernimmt die Haftung für fremde Geldschuld oder rechtliches Verhalten. Er haftet mit seinem Vermögen, aber nicht mit seinem Leben. Nach älterem dt. R. (schwäb. Ldr.) traf ihn die gleiche Strafe wie den säumigen Schuldner, bis hin zur Todesstrafe.“ Schmidt- Wiegand, Ruth: Art. „Bürgen muss man würgen, aber nicht an den Leib reden“, in: Cordes, Albrecht/ Haferkamp, Hans-Peter/ Lück, Heiner/ Werkmüller, Dieter/ Schmidt-Wiegand, Ruth (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2 2008, Bd. 1, Sp. 737-738, url: https: / / www.hrgdigital.de/ HRG.buergen_muss_man_wuergen_aber_nicht_an_den_leib_ reden (Zugriff am 20. 07. 2018). 781 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 104 r . 782 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 105 r . 783 Vgl. Schuster, Peter: Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz, Paderborn 2000. 784 „Die enge Verzahnung mit einem Strafsystem im engeren Sinn zeigt sich auch darin, dass die Geldbuße in vielen Statuten als Ablösungsmöglichkeit für eigentlich verwirkte peinliche Strafen oder Verbannungen genannt wurde.“ Schwerhoff: Kriminalitätsforschung, S. 104 und S. 110. 785 Ähnliche Ergebnisse auch bei Schuster: Vor Gericht, S. 135 f. 178 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Kontrahenten gebeten hatten. 786 So klagte beispielsweise am 24. Juli 1668 Hans, der Schweizer, gegen Hans Koch, weil dieser ihn als einen Schelm beleidigt und sich in Gesellschaft geweigert hatte, neben ihm zu sitzen. Nachdem ein Zeuge über den Umstand befragt worden war, entschuldigte sich Hans Koch beim Kläger mit dem Verweis, er sei betrunken gewesen. Schließlich bat er den Kläger, ihm sein Vergehen zu verzeihen. Der Gerichtsschreiber schloss das Protokoll mit der Bemerkung ab, dass beide Parteien seind also In güte wider verglichen salva mulcta 787 . Diese Form der Versöhnung fand sowohl im Beisein der Kontrahenten als auch der Gerichtsbediensteten in der Richterstube statt, d. h., der Täter war nicht dem öffentlichen Spott und somit einer temporären sozialen Stigmatisierung ausgesetzt, indem er eine öffentliche christliche Abbitte leisten musste, die auch für das frühneuzeitliche Fürstenberg belegt ist. 788 Obwohl das Gericht vornehmlich als rechtlicher Mediator fungierte, waren in 14 % der Fälle die Kontrahenten nicht bereit, sich zu einer Schlichtung bewegen zu lassen. Damit ist ein wichtiger Hinweis geliefert, dass die Rechtsbeamten zwar vonseiten der Gemeindemitglieder als autoritatives Rechtsorgan angesehen wurden, sie sich jedoch nicht völlig passiv ihren Rechtsurteilen fügten. Im Gegenteil: Aufgrund der weitverzweigten Verwandtschaftsbeziehungen zu den Gerichtsdienern konnten sich die Dorfbewohner bei ihnen rasch Ratschläge in Rechtsfragen holen und somit den justiziellen Verfahrensablauf wesentlich beeinflussen. Ein Beispiel für diese gängige Praxis liefert der Fall von Johann Menken. Nachdem er vernommen hatte, dass im Dorf über ihn das Gerücht kursiere, er treibe das schändtliche crimen Sodomia mit einem Vieh [...], wandte er sich an einen Schöffen außerhalb des Dorfes, um nützliche Rechtshinweise in dieser heiklen Angelegenheit zu bekommen. Diverse Dorfmitglieder interpretierten jedoch sein Weggehen als Flucht, was wiederum die Gerüchteküche anheizte. Nach seiner Rückkehr ins Dorf kamen ihm die neu angeheizten Beschuldigungen zu Ohren. Johann sah sich aufgrund der prekären Situation gezwungen, an die Herren von Westphalen zu schreiben, um die Angelegenheit richtigzustellen und zu entschärfen. Er vermerkte, dass er nicht wie vieleicht daher vermuhtet werden dörffte conscientia criminis[,] sonderen vmb bey anderen sowohl Rahts mich zu erhohlen, alß meinen recursum ad superiores pro salvo Conductu[,] damit iegen die boßhaffte Calumniantinnen ferner frey vndt ohngehindert rechtlich dieße traduction vndt falschliche bezüchtigung außzuführen, vndt meine vnschuldt der gantzen weldt kundt zu thuen [...] 789 . 786 Zu den Riten gütlicher Konfliktbeilegung siehe Althoff, Gerd: Composito. Wiederherstellung verletzter Ehre im frühen und hohen Mittelalter, in: Schreiner/ Schwerhoff (Hrsg.): Verletzte Ehre, S. 63-76. 787 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 56 v . 788 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 22 r . In Fürstenberg war aber auch eine christliche Abbitte ohne eine Ehrminderung möglich. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 61 v . 789 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 133 r . 8.4 Verbalinjurien 179 Dass das Gericht in 45 % der Fälle lediglich die Klage schriftlich notierte, ohne rechtlich einzugreifen, sollte nicht kurzsichtig als besondere Milde ausgelegt werden. Die Passivität lässt sich durch die bereits angemerkte Beobachtung erklären, dass eine Anzeige bereits oft genügte, um das „entfachte Feuer“ zwischen den Kontrahenten zu löschen. Ferner muss der Aspekt beachtet werden, dass der Gerichtsapparat durchaus zwischen Beleidigung und realem Vorwurf differenzierte, demnach also bewusst erwogen wurde, wann es lohnenswert schien, einen rechtlichen Aufwand zu betreiben und wann nicht. 790 Zusätzlich ist die Überlegung zu berücksichtigen, dass im Kampf um die Ehre oft die Linien zwischen Täter und Opfer verwischt waren, was den eigentlichen Konfliktauslöser zu einer Sache des Standpunktes werden ließ. Ergo gestaltete es sich für den Richter häufig schwierig, den „harten Kern“ der Sache zu erfassen, und ein schlichtes Abwarten schien die taktisch klügste Vorgehensweise, bis sich entweder die ganze Angelegenheit „in Rauch aufgelöst“ hatte oder neue, handfeste Fakten geliefert wurden. Es wäre jedoch zu voreilig, wenn man dem fürstenbergischen Samtgericht in Anbetracht seiner Strafaktivität auf dem Deliktfeld der Verbalinjurie Nachlässigkeit nachsagen wollte. Es muss deutlich hervorgehoben werden, dass in 55 % der notorischen Fälle das Gericht aktiv wurde. Neben dem Hexenverbrechen handelt es sich bei den Verbalinjurien folglich um das am schärfsten kriminalisierte Vergehen in Fürstenberg, auch wenn damit nicht stets eine justizielle Sanktion verbunden war. Die hier konstatierten Ergebnisse liefern allerdings noch den wichtigen Hinweis, dass eine mögliche Erklärung für die niedrige Anzahl an aktenkundigen Beleidigungen nicht allein im Bereich der regionalen Gerichtsaktivität sowie Strafpraxis zu suchen ist. Es gilt folglich, sich ebenso den formellen Normen wie informellen Gewohnheiten zuzuwenden. Einen wichtigen Deutungsansatz liefert der Vorfall zwischen Gerdrut Parle und Christoph Kestink am 28. Juni 1645 im Nachbardorf Bleiwäsche. Der Streit zwischen den beiden Kontrahenten war eskaliert, als Gerdrut ihn nicht nur als Dieb, Schelm und Werwolf bezichtigt hatte, sondern auch seine schwangere Frau auf bösartige Weise verfluchte, indem sie gifftigh vmb sich herumb geworffen [habe], [gesagt][,] Ich wolte[,] daß dein fraw den teuffel zur welt trüge vnd daß er hörner auff dem kopff hette gleich wie ein ochs vnnd so baldt ich vermercken werde, daß die zeitt ihrer geburtt vorhanden, will ich sie 24. stunden in pein vnd qual auffhalten, damit sie nicht ehe erlösett werden möge, biß sie mich fromm erkleren. 791 Über ihr aggressives Verhalten derartig erschrocken, richtete Christoph Kestink eine Supplik an die Herren von Westphalen und erinnerte die Gerichtsherren an die gesetzliche Norm, dass es gemäß der Heiligen Schrift und der Carolina unter Androhung von Leibes- oder anderen Strafen keiner Person, ungeachtet welchen Standes, erlaubt sei, des anderen seinen Neben Christen ahn seinem gueten Nahmen 790 Siehe hierzu die Habilitationsschrift von Ströhmer: Jurisdiktionsökonomie. 791 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 180 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten vnd Leumuth heimblich oder öffentlich [zu] iniuryren, [zu] schelten vnd [zu] schmehen. Es sei allgemein bekannt, dass, wenn er mit jemandem in vnguite etwaß zu thuen [gehabt] habe, er immer den ordentlichen und rechten Weg gegangen sei. Gezeugt von frommen Eltern, sei Kestink in seiner Jugend stets ehrlich und fromm geblieben, sodass man ihm das Zauberlaster nicht nachsagen könne und keiner seinen Ehrenstand und Leumund schmähen dürfe. In conclusio habe Gerdrut Parle gegen das göttliche Gebot und die Rechtsordnung auf freventliche Weise gröblichst gesündigt, excedirt vnd gehändelt 792 . Mit diesem Zitat werden mehrere ineinander verwobene Vorstellungen der sozialmoralischen und rechtlichen Ordnung offenbar: Jemandes Ehre durch üble und unbegründete Nachrede zu schaden, ist wider das Reichsgesetz und die christliche Pflicht gegenüber den Mitmenschen. Mit anderen Worten: Der Injuriant begeht das Delikt der Verleumdung und ist folglich deviant. 793 Die wenig verzeichneten Verbalinjurien legen demnach die Vermutung nahe, dass die fürstenbergischen Dorfbewohner sich weitestgehend an einem sozialmoralischen Wertesystem orientierten, das auch in der Carolina fixiert war. Denn im Artikel 110 CCC heißt es bezüglich von Schmähschriften, wer vnrechtlicher vnschuldiger weiß laster vnd übel zumist, wo die mit warheyt erfunden würde, daß der geschmecht an seinem leib, leben oder ehren peinlich gestrafft werden möcht, der selbig boßhafftig lesterer soll nach erfindung solcher übelthat als die recht sagen, mit der peen, inn welche er den vnschuldigen geschmechten durch sein böse vnwahrhafftige lesterschrift hat bringen wöllen, gestrafft werden [...] 794 . Offensichtlich ist die Satzung bezüglich schriftlich fixierter Verbalinjurien in Fürstenberg auch auf das gesprochene Wort übertragen worden, sodass auf Grundlage der Strafrechtskodifikation ein rechtlicher „Ehrenschutz“ 795 gebildet worden war. Werden die (unberechtigten) Verbalattacken unter dem Gesichtspunkt der Devianz betrachtet, wird auch ersichtlich, warum die Angeklagten häufig darauf verwiesen, die Schmähworte seien vngestümme außgegoßen oder vnbesonnener weise ausgerufen worden: Gedankenlos bzw. kopflos ausgesprochene Injurien widersprachen dem sozialmoralischen Verhaltenskodex und der Rechtsnorm im Dorf. 796 In der Tat waren die Angeklagten sich ihres Fehlverhaltens durchaus bewusst und erhofften, durch den Verweis auf ihre Impulsivität oder ihrer Trunkenheit einer rechtlichen Bestrafung zu entgehen. 797 Ein Quellenausschnitt, der von den Rechtskenntnissen sowohl der Kläger 792 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 793 Siehe auch Fuchs: Vorwurf der Zauberei. 794 CCC, Art. 110. 795 Fuchs: Vorwurf der Zauberei, S. 7. 796 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 74 r , 87 r , 107 r und 110 v . 797 Der Verweis auf Trunkenheit bzw. Unzurechnungsfähigkeit wurde häufig genutzt, um sich der eigenen Verantwortung und/ oder unangenehmen Situationen zu entziehen. So arbeitet Ralf-Peter Fuchs für seinen Untersuchungsraum heraus, dass die vor Gericht geladenen Zeugen nur allzu oft ihr Nichtwissen unterstrichen, indem sie auf ihren angeheiterten Zustand hinwiesen. Durch 8.4 Verbalinjurien 181 als auch der Angeklagten zeugt, 798 soll zur Illustration genügen: Als am 27. Juli 1668 Levin Thelen den Meister Koch wegen einer Verbalinjurie vor Gericht anzeigte, verwies der Angeklagte ausdrücklich und mehrfach auf seinen „kopflosen“ Zustand: [...] Gab darauff zur andtwortt[,] wüßte nichts davon[,] wehre truncken gewesen, hette Clägern seines wißend midt augen nicht gesehen, hielte den für einen auffrichtigen Ehrlichen Man, solte er Ihme gantz vnwißendt In trunckener weise solche wortte geredet haben[,] wehr Ihme leidt, bäte Ihme daß zu verzeihen. 799 Eine nähere Betrachtung der Verbalinjurie reicht allerdings über den Rechtscharakter hinaus und führt tiefer in das Themenfeld des sozialmoralischen Kommunikationsverhaltens hinein. Denn nicht nur die Beleidigung galt per se als ein den innerdörflichen Frieden massiv störendes Delikt, sondern es wurde auch von den Zeitgenossen ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, wie sie kommuniziert wurde. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Attribut hindterrücks. Mit diesem Adjektiv war nicht nur der praktizierte Vorgang des „Hinter-jemandes-Rücken-Sprechens“ verbunden, sondern die offenbar verachtete Vorgehensweise, in aller Heimlichkeit, die mit Feigheit gleichgesetzt wurde, 800 Gerüchte über eine Person zu verbreiten, die eine Ehrminderung zur Folge haben könnten. Aus diesem zeitgenössischem Verständnis heraus betonte auch Johann Henckel offen, dass er Meineke Meyers Einen fließhöwer[,] daumendreyer vndt deuffel Inß gesichte gescholten, daß aber solches hindterrücks gethaen haben solte, davon wüßte er nicht 801 . Diese Form der üblen Nachrede wurde gesellschaftlich missbilligt, weil zum einen eine effektive Verteidigungsmöglichkeit durch ein rechtzeitiges und schnelles Agieren der betroffenen Person nicht möglich war. Zum anderen bedrohte es potenziell die kommunale Eintracht 802 - eine Gefahr, die insbesondere von Hexengerüchten ausging. 803 dieses taktische Vorgehen hofften sie, sich der gerichtlichen Befragung zu entziehen und „aus der Umklammerung eifernder Prozeßparteien“ lösen zu können. Fuchs, Ralf-Peter: Gott lässt sich nicht verspotten. Zeugen im Parteikampf vor frühneuzeitlichen Gerichten, in: Blauert/ Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte, S. 315-335, hier S. 326 f. 798 Siehe hierzu Dinges, Martin: Frühneuzeitliche Justiz. Justizphantasien als Justiznutzung am Beispiel von Klagen bei der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert, in: Mohnhaupt, Heinz/ Simon, Dieter (Hrsg.): Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 1 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 4), Frankfurt a. M. 1992, S. 269-292 sowie ders.: Justiznutzungen. 799 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 74 v . 800 Siehe hierzu das Kapitel 10.1.2.3. 801 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 67 v . 802 So klagte beispielsweise Henrich Schnittkers Witwe Clara, dass Herman Ludowigs fraw sie hinderrücks für eine diebische huere gescholten, hette midt dem deuffel einen contract vnd hette Ihr Einen Leinen stück gestolen, auch In ihrem abwesen Ihr Inß hauß gangen[,] den schlüßel zu dem schrank gesucht[,] denselbeben auffgeschloßen[,] daß zeug darin herumb geworffen vndt durchge[wühlt], könnte auch Ihrendthalben nicht midt frieden über die straße gehen [...]. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 48 v . 803 Rainer Walz weist mehrfach auf die Dysfunktionalität von Hexengerüchten hin. 182 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten 8.4.3 Von Hexereibeleidigungen, -vorwürfen und -gerüchten In der Hexenforschung nimmt die Hexereibezichtigung und das daraus potenziell resultierende Hexereigerücht einen zentralen Stellenwert ein. 804 Besonders hervorzuheben sind dabei Walz’ Leistungen bezüglich des „Geredes“ oder, wie es die fürstenbergischen Zeitgenossen nannten, des dorffgeschreis. Walz weist überzeugend darauf hin, dass die Langlebigkeit und Eigendynamik von Gerüchten sich vornehmlich aus ihrer autokatalytischen Struktur speisen, wobei häufig die bloße Existenz des Geredes ausreichend für dessen Selbstreferenz sein kann. 805 Ausgerechnet dieser Eigenschaft verdankt das Gerücht seine potenzielle Gefahr für die Betroffenen: Es schafft seine eigene Realität, indem in der Vergangenheit und Gegenwart stets nach Anhaltspunkten für die Bestätigung des Geredes gesucht wird. 806 Dadurch wurde den Berüchtigten metaphorisch gesprochen eine Schlinge um den Hals gelegt, die sich immer enger zuzog, da - wie Barbara Gross dezidiert beweist - jegliches Verhalten, ungeachtet ob gerechtfertigt oder nicht, als ein Zutreffen des jeweiligen Gerüchtes betrachtet wurde. 807 Infolgedessen war „ein Gerücht, das einmal kursierte, [...] so gut wie unmöglich aus der Welt zu schaffen: Es generierte in der Wahrnehmung des sozialen Umfeldes ständig neue verdachtserhärtende Indizien [...]“ 808 . Eine paradoxe Situation war geschaffen worden, die es den Leidtragenden schier unmöglich gemacht haben soll, den Makel des Hexengerüchtes abzustreifen, und nur allzu häufig in einem Hexenprozess endete. Bezeichnenderweise schlägt auch in diesem paradigmatischen Punkt das frühneuzeitliche Fürstenberg eine andere Richtung ein, die es näher zu untersuchen gilt. 804 Walz weist auf die wichtige Unterscheidung zwischen Vorwurf und Beschimpfung hin. Während der Vorwurf die Implikation beinhaltet, dass der Kontrahent tatsächlich ein Delikt begangen hat, zählten Beschimpfungen zu der Kategorie der leicht dahin gesagten, in Erregung gesprochenen Worte. Folgerichtig erhebt der Injuriant mit der Beleidigung keinen Anspruch auf Wahrheitsgehalt. Jedoch erfolgte in der Alltagspraxis eine scharfe Trennung zwischen den beiden Kategorien selten, sodass eine Vermischung zwischen diesen Bereichen leicht stattfinden konnte. Walz: Agonale Kommunikation, S. 233. Aufgrund der nur unzureichend nachweisbaren, differenzierbaren Begriffsverwendung der Zeitgenossen sollen in diesem Kapitel beide Termini ohne die genannte strikte semantische Trennlinie als Synonyme verwendet werden. 805 Vgl. ders.: Das Hexengerücht im Dorf und bei den Gelehrten, in: Altenberend, Johannes/ Vogelsang, Reinhard (Hrsg.): Kloster - Stadt - Region. Festschrift für Heinrich Rüthing. Mit einem Geleitwort von Reinhart Koselleck (Sonderveröffentlichung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg), Bielefeld 2002, S. 315-334, hier S. 316 f. Hierzu auch Hohkamp, Michaela: Art. „Gerücht“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi. org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1365000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 806 „Daher rührt auch das Unheimliche des Gerüchts: Seine Erzählung findet in sich selbst ihren Halt und berichtet zugleich von einem anderen. Gerüchte sind suggestiv und plausibel, und, darin ähneln sie dem Klatsch, sie haben Macht. Oft prägen sie das Verhalten von Menschen stärker als es verlässliche Informationen vermögen.“ Fama, Hans-Joachim: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 2 2009, S. 14. Siehe auch hierzu die Rezension von Neubauer, Hans-Joachim: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 2009, S. 152 f. 807 Gross: Hexerei in Minden, S. 240 f. 808 Ebd., S. 241. 8.4 Verbalinjurien 183 Werden die Verbalinjurien, die das Zauberlaster beinhalten, quantitativ ausgewertet, sticht zunächst ins Auge, dass der überwiegende Teil der Beleidigungen Männern galt und seine Bandbreite variantenreicher war als bei den Frauen. Dieser Befund ist überaus interessant, da statistisch gesehen die Rolle des Mannes als Opfer von Hexengerüchten mitsamt den daraus teilweise resultierenden Hexenprozessen als Forschungsthema bisher nur einen marginalen Niederschlag in der deutschen Literatur fand 809 und aktuell noch in den Kinderschuhen steckt. 810 Die Gründe für die bisherige Vernachlässigung dieses Untersuchungsgegenstandes ist hauptsächlich zwei Aspekten geschuldet: 1. Das Hexenstereotyp nach dem Malleus Maleficarum war mit seinem misogynen Ansatz maßgeblich weiblich konnotiert. 2. In großen Teilen des Alten Reiches lag die Verfolgungskonzentration nachweislich auf dem weiblichen Geschlecht. 811 Trotz vieler plausibler Deutungsversuche, die unter anderem auf eine semantische Wandlung des männlichen Ehrbegriffes in der Frühen Neuzeit hinweisen 812 oder auf die 809 Vgl. Labouvie, Eva: Männer im Hexenprozeß. Zur Sozialanthropologie ‚männlichen‘ Verständnisses von Magie und Hexerei, in: Geschichte und Gesellschaft 16.1 (1990), S. 56-78, hier S. 57. So auch Schulte, Rolf: Hexenmeister. Die Verfolgung von Männern im Rahmen der Hexenverfolgung von 1530-1730 im Alten Reich (Kieler Werkstücke. Reihe G: Beiträge zur Frühen Neuzeit, Bd. 1), Frankfurt a. M. 2 2000, S. 15-20. Siehe auch die neuere Studie von dems.: Man as a witch. Male witches in central Europe, übers. v. Linda Froome-Döring (Palgrave Historical Studies in Witchcraft and Magic), Hampshire 2009. 810 In seinem Fazit bedauert Monter, dass die männlichen Opfer rund um das Hexereidelikt in der Geschichtsforschung noch nicht genügend Beachtung gefunden haben und schließt mit der Bemerkung: „But a great deal of work remains to be done on this topic, as the exploratory nature of this sketch shows.“ Monter, William: Art. „Male witches“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 711-713, hier S. 713. 811 Bezeichnenderweise wurden in Skandinavien mehr Männer als Frauen verfolgt. Siehe hierzu Krampl, Ulrike: Art. „Hexer“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1686000 (Zugriff am 27. 03. 2017). Einen tiefgehenden Einblick über das skandinavische Hexenphänomen gewährt der Artikel von Hagen, Rune Blix: Art. „Hexenverfolgungen in Norwegen“, in: Gersmann/ Moeller/ Schmidt (Hrsg.): Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ jezsk/ (Zugriff am 25. 05. 2017). Siehe auch den Lexikonartikel von Næss, Hans Eyvind: Art. „Norway“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 3, S. 836-839. Exotische „Ausreißer“ bilden zumindest die ersten Hexenprozesse im 15. Jahrhundert, in denen überwiegend Männer verfolgt wurden. Vgl. Apps, Lara/ Gow, Andrew: Male witches in early modern Europe, Manchester 2003. Auf großes Interesse in der Hexenforschung stößt der sogenannte „Zauberer-Jackl-Prozess“ von 1675-1679, bei dem ein Großteil der Angeklagten männlich war. Hierzu Fürweger, Wolfgang: 1677-1679: Verbrannte Kindheit. Die vergessenen Kinder der Hexenprozesse um den Zauberer Jackl, Wien 2015. Aber auch in Luxemburg, im Saarland, in Lorraine und im westlichen Teil der Schweiz waren viele Männer Opfer von Hexenverfolgungen. Vgl. Monter: Male witches sowie ders.: Toads and the Eucharist: The Male Witches of Normandy, 1564-1660, in: French Historical Studies 20.4 (Autumn 1997), S. 563-595. 812 In der Frühen Neuzeit sollen sich sukzessiv ein strikter männlicher Ehrbegriff und -kodex entwickelt haben (gender ideals), die eine rigorose Verurteilung von Trunkenheit, Bigamie, Sodomie und Blasphemie etc. beinhalteten. Da diese Formen der sozialen Devianz leicht mit dem Hexenstereotyp in Verbindung gebracht werden konnten, kam es zu einer zunehmenden Verlagerung des vorher ausschließlich weiblich konnotierten Hexenbildes auf die Männer. „The still rather limited research on German men accused of witchcraft suggests that male suspects’ 184 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten sukzessive Dämonisierung der von Männern üblicherweise praktizierten Heilungen 813 und deren Nähe zur (Gelehrten-)Magie, ist die Erforschung des Mannes rund um das Thema „Hexereidelikt“ noch nicht weitreichend erschlossen worden. Wendet man sich jedoch den Befunden aus den Protokollakten des westphälischen Samtgerichts zu, so ist besonders auffällig, dass bei den männlichen Opfern von Verbalattacken Beleidigungen, wie Zauberer, Werwolf , Teufelsbündner, Wicker und Sager äußerst beliebt waren. 814 Für die Frauen fielen lediglich zwei Beleidigungsarten: Zaubersche und Hexe (siehe Abb. 8.4 auf S. 186). Diese Feststellung regt zu der Überlegung an, ob die Bandbreite an Beleidigungen auf eine Geschlechterdifferenz bezüglich der Zauberpraktiken und folglich des regionalen Hexenbildes hindeutet, wie es Eva Labouvie für den saarländischen Raum herausarbeitete. Jedoch kann diese These für Fürstenberg anhand des Materials nicht verifiziert werden. 815 Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Während noch in der ersten großen Verfolgungswelle von 1601 nahezu ausschließlich die weibliche Hexe in die Mühlen der Strafjustiz geriet, wurde ab den 1630er-Jahren das misogyne Hexenstereotyp durchbrochen und auf den Mann verlagert. 816 Angemessene Erklärungen für den Wandel des Hexenbildes geben sowohl die Akten der Niederen Gerichtsbarkeit als behavior often violated expectations of masculinity embodied in the ideal of the honest, reliable, married household head. Prosecuted males had frequently acquired over the years reputations as persons who did not adhere to the behavioral standards expected of their sex, and they tended to display the following negative social and moral characteristics: bringing the family into debt, involvement in questionable business practices, theft, drunkenness, gambling, bigamy, adultery.“ Hieraus sollte jedoch keine allgemeingültige Erklärungsformel für die Verfolgung von Männern als Hexen abgeleitet werden: „However, it should be emphasised that witchcraft accusations were complex, multifaceted phenomena and did not always neatly target persons who behaved in a manner that challenged gender ideals.“ Walinski-Kiehl, Robert: Males. “Masculine Honour” and Witch-Hunting in Seventeenth-Century Germany, in: Men and Masculinities 6.3 (2004), S. 254-271, hier S. 265 f. 813 Ein Paradebeispiel bieten hierfür die Verfolgungen der Benandanti („Wohlfahrende“), die in Friaul zunächst fest im regionalen Feldkult etabliert waren, jedoch zunehmend ins Kreuzfeuer der Inquisition gerieten und schließlich verfolgt wurden. Vgl. Ginzburg, Carlo: Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert, aus dem Italienischen übers. v. Karl Friedrich Habber, Frankfurt a. M. 1980. Siehe auch hierzu das Interview zwischen Carlo Ginzburg und Gudrun Gersmann: ders.: Zwischen den Zeilen. 814 Die Beleidigungen Teufel und Deüffelskind oder Deüffelsbündner dagegen sind geschlechtsneutral und werden für beide Geschlechter gleichermaßen verwendet. 815 Aus der fürstbischöflichen paderbornischen Verordnung von 1667 geht lediglich hervor, dass der Beruf des Schwarzkünstlers, der hauptsächlich von Männern ausgeübt wurde, kriminalisiert worden war. Diese Tätigkeit sollte nur toleriert werden, wenn ein Attest die Qualifikation des Schwarzkünstlers belegte. So heißt es, dass alle Landstreicher, Theriakkrämer, Schwarzkünstler, Teufelsbänner, Juden, ungerathene Alchimisten, alte Weiber und alle andere sich selbst aufwerfende Ärzten, die keine schriftliche Qualifikation nachweisen können, gänzlich abgewiesen werden sollen. Hochfürstlich-Paderbornische Landes-Verordnungen, S. 123 f. 816 Dieser Befund entspricht auch den Beobachtungen vieler Regionalforschungen zum Hexenthema. In dem Bestreben, die Midelfort-These kritisch zu überprüfen, kommt auch Rolf Schulte zu dem Schluss, dass vor 1600 eine deutliche Verfolgungskonzentration auf das weibliche Geschlecht gelegen habe, während im Verlauf des 17. Jahrhunderts verstärkt Männer in die Mühlen der Hexenjustiz geraten seien. Siehe hierzu Opitz-Belakhal: Perspektiven. 8.4 Verbalinjurien 185 auch die Hexenprotokolle nicht her. Lediglich die These von Rolf Schulte, dass der Hexensabbat und damit verbunden die Idee von der Hexensekte maßgeblich zur Verlagerung des typisch weiblichen Hexenstereotyps auf beide Geschlechter beigetragen habe, sollte an dieser Stelle Erwähnung und als möglicher Deutungsansatz Beachtung finden. 817 Denn in der Tat nahm die Bedeutung der nächtlichen Hexentreffen nachweislich ab 1631 in der Geschichte der fürstenbergischen Hexenverfolgung zu. 818 Die Vermutung, dass das regionale Hexenbild im Laufe der Jahre zunehmend androgyner wurde, belegt auch ein Blick auf den Nachbarort Essentho: Die Lykanthropie 819 wurde hier nicht nur Männern, sondern auch Frauen nachgesagt. 820 Aufschlussreicher als die Frage nach der Rezeption der elaborierten Hexenlehre sowie den Gründen der geschlechtsspezifischen Verlagerung des Hexenstereotyps ist m. E. für diesen Untersuchungsraum ein tiefer gehender Blick auf die Zahlen und die Akteure der verbalen Ehrenhändel hinsichtlich des Hexereivorwurfs. Denn 1. lässt die quantitativ geringere Summe der Hexereibeleidigungen (37 %) im Vergleich zu den gängigen Beschimpfungen wie Schelm und Hure (63 %) die These zu, dass erstere von den Akteuren zurückhaltender gebraucht wurden. Die Gründe für diese Diskretion können hier selbstverständlich nur vermutet werden, da es an entsprechenden Begründungen der Zeitgenossen in den Quellen fehlt. Jedoch wäre die Überlegung in Erwägung zu ziehen, ob die fürstenbergischen Akteure sich der sozialen wie rechtlichen Konsequenzen bewusst waren, die eine Hexereibeleidigung nach sich ziehen konnte und die zu Recht als die ultimative und ehrrührigste Beschimpfung respektive Verleumdung von allen galt: Denn einerseits konnte der Hexereivorwurf zu weitreichenden sozialen Stigmatisierungen und Marginalisierungen der Beschuldigten führen; andererseits muss der Injuriant sich schlicht der Tatsache bewusst gewesen sein, dass das heimlich begangene Hexenverbrechen nur schwer nachzuweisen war. Insbesondere der Punkt der rechtlichen Schuldüberführung war für die Injurianten besonders prekär, wenn das lokale Gericht eine hohe Differenzierungslogik besaß und prozessual nach den Grundlagen des Akkusationsprozesses verfuhr, dessen zentrale Rechts- und Verfahrensbasis die Prüfung des Beweismaterials und damit die Ergrün- 817 Vgl. Schulte: Hexenmeister, S. 87-106 sowie Opitz-Belakhal: Perspektiven. 818 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Vorstellung vom Hexensabbat bereits 1601 vollständig entwickelt war. Auf das Hexentreffen soll im Kapitel 10.1.2.2 näher eingegangen werden. 819 Dem frühneuzeitlichen Werwolf-Glauben widmet sich ausführlich Lorey, Elmar M.: Henrich der Werwolf. Eine Geschichte aus der Zeit der Hexenprozesse mit Dokumenten und Analysen, Frankfurt a. M. 1998. Siehe auch Nifl Heim, Nordian: Art. „Werwolf“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a4759000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 820 So klagte Enneke Schmitt am 24.08.1648, dass Cünna Fießel, mit der sie im Streit lag, sich in Gestalt eines Werwolfes verwandelt und ihre Pferde in Stücke zerrissen habe. Es sei ein schwartzes ding umb die 2 Pferde gangen und die pferde in ein wies getrieben, ein zerießen, dz andere also gebissen, dz es im 8. Tag davon gestorben. Das 2. Pferd sei mit giefft umbkommen [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt auch Rolf Schulte auf Basis seines ausgewerteten Materials. Schulte geht sogar von der These aus, dass in einigen Regionen der Werwolf androgyn definiert war. Schulte: Hexenmeister, S. 21-49. 186 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Hexe Zauberer Werwolf Hexenmeister Teufels Lutzherr Hexer Teufel Wicker Sager Deuffelskind Zaubersche Deuffelsbünder 0 10 20 30 40 50 9 6 4 2 1 3 2 1 1 1 1 1 Anzahl Abbildung 8.4: Quantitative Übersicht über die Vorwürfe, die das Zauberlaster und das Hexenverbrechen beinhalten (1669-1709) dung der „Wahrheit“ war. 821 Ergo war mit der unberechtigten Hexereibeleidigung das hohe Risiko verbunden, justiziell selbst als deviant verurteilt zu werden. Setzt man die Richtigkeit dieser Deutung als Handlungsprämisse voraus, so war es der fürstenbergische Gerichtshabitus, der die Hexenprozesse wesentlich eindämmte. Bezeichnenderweise richtete sich 2. ein Gros dieser Beleidigungsform 822 nicht - wie zu vermuten wäre - gegen Deüffelskinder, sondern gegen Personen und Familien, die nachweislich von der strafrechtlichen Hexenverfolgung verschont geblieben wa- 821 „Das akkusatorische Modell zeigt ferner eine sehr starke Neigung zur Aufstellung der Grundsätze von Öffentlichkeit und Mündlichkeit [...], die sich in der zentralen Bedeutung der mündlichen Verhandlung als Element der Prüfung und Diskussion des Beweismaterials, das von den Parteien benannt und eingebracht wird, und damit als Element der Beweisaufnahme und der Herstellung der prozessualen Wahrheit durch kontradiktorische Verhandlung manifestieren.“ Dezza, Ettore: Geschichte des Strafprozessrechts in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, hrsg. und aus dem Italienischen übers. v. Thomas Vormbaum, Berlin 2017, S. 3. 822 Es ist anhand der Aktenüberlieferungen, die teilweise den Charakter einer Notiz besitzen, nicht zu eruieren, ob sich die Zauber- und Hexenvorwürfe gegen randständige Berufsgruppen, wie Totengräber und Abdecker richteten. Vgl. Lambrecht, Karen: Tabu und Tod. Männer als Opfer frühneuzeitlicher Verfolgungswellen, in: Ahrendt-Schulte/ Bauer/ Lorenz/ Schmidt (Hrsg.): Geschlecht, S. 193-208, hier insb. S. 196. 8.4 Verbalinjurien 187 ren. 823 Ein zufällig gewähltes Beispiel von vielen sei an dieser Stelle näher geschildert: Der klingenbergische Kuhhirte 824 Cersting Schellen klagte vor dem westphälischen Gericht, dass im Dorf das Gerücht umhergehe, seine Frau sei eine Raupen- und Schneckenmacherin - ein Vorwurf, der generell das schadenstiftende Hexenverbrechen implizierte 825 und als äußerst schwerwiegend galt, weil der Ernteertrag durch Insektenbefall potenziell zunichtegemacht werden konnte. 826 Cersting schilderte dem Richter, dass Engelbracht Schäfers und Elisabeth Berkers Töchter seine Frau hochschmächtig beschuldigten, alß wan seine fraw Raupen vndt schnagel machen könte[,] Im hause verborgen haben vndt füttern solte, worauß ein gantz dorffgerüchte Endtstanden[,] seine fraw wehr eine zauberin[,] Raupen vndt schnagelmachersche, weiln Nuen sothane grobe schmehung stillschweigendt hinstreichen zu laßen nicht gemeinedt, seine fraw auch darahn vnschuldig; so baet beide beklagtinnen zum beweißthumb[,] ob sie die schnagel vndt Raupen gesehen, Ernstlich anzuhalten widrigenfalß andern zum Exempel abzustraffen, dan er das anders beweisen könte vndt wolte 827 . Trotz der offensichtlichen Brisanz des Falls und der potenziellen Gefahr, die vermeintlich von Cersting Schellens Frau ausging, mündete der Fall in keinen strafrechtlichen Hexenprozess, obwohl bereits vermeintlich ein dorffgerüchte entstanden war; Dennoch genügte offenbar die Injurienanzeige vor Gericht, damit das Dorfgerede abebbte. Mit diesem Resultat ist der geschilderte Fall allerdings keine Einzelsituation. Die meisten der angeführten Hexereibeschuldigungen 828 in den niedergerichtlichen Aktenbeständen mündeten trotz ihres massiven ehrmindernden Charakters und extremen Konfliktverlaufs in keinen zeitnahen oder späteren Hexenprozess. Damit ist ein wichtiger Hinweis geliefert, dass sowohl die Gerichtsbeamten als auch die Dorfbewohner sehr wohl zwischen gehaltlosen Hexereibeleidigungen und gehaltvollen Hexereivorwürfen differenzierten. Es stellt sich folglich die spannende Frage: Ab wann erhielt denn eine Hexereibezichtigung einen glaubhaften Wahrheitsgehalt? 829 Hing 823 Eine bekannte Ausnahme bildet der Fall der Magdalena Mengeringhaußen. Im Juli 1690 beschimpfte Caspar Dröppel die Hinzugezogene mit der Bemerkung indirekt als Hexe: All was aus dem sauerlande käm [...] weren hexen vnd deuffelß. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 224 v . Zwölf Jahre später sollte das Hexengerücht um sie erneut aktiviert werden und in einen Hexenprozess münden. Siehe hierzu Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 123 v . 824 Hirten und Schäfer gelten in der Forschungsliteratur zum Hexenthema als häufig vertretene Opfer in Hexenprozessen. Siehe hierzu die Fallstudie von Behringer: Chonrad Stoeckhlin. 825 Freda Sommers bezichtigte am 22.08.1659 die große Anna als Mäuse- und Schneckenmacherin. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 826 Nolte: Chronik, S. 17 und 25. 827 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 100 r . 828 Lediglich für zwei Fälle ist nachweisbar, dass die Hexereivorwürfe später in einen Hexenprozess mündeten. So im Fall des Friedrich Vahlen, der 1680 der Lykanthropie beschuldigt wurde, konnte das Hexengerücht über zwanzig Jahre erfolgreich abwehren. Ebenso verhält es sich mit der bereits erwähnten Magdalena Mengeringhaußen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 151 r-v und 224 r . 829 „Sobald ein Gerücht einen gewissen Umfang angenommen hatte, stellte sich [...] das Wahrheitsproblem wegen der unter Umständen tödlichen Folgen in aller Schärfe.“ Walz: Hexengerücht, S. 317. 188 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten die Glaubwürdigkeit letztendlich von der Person oder gar ihrem Verhalten ab? Dieser Fragekatalog soll zunächst noch zurückgestellt und in einem späteren Kapitel erneut aufgegriffen werden. 830 Zunächst gilt es, die Hexereibeschuldigungen exemplarisch anhand zweier „Extremfälle“ näher zu durchleuchten. Der erste Fall handelt von dem bereits vorgestellten Streit zwischen der Familie Koch und Neukirch, der in diesem Rahmen ausführlicher dargestellt werden soll. Die Ursache für die verbale und anschließende körperliche Auseinandersetzung geht zwar aus den Quellen nicht hervor, jedoch nahm sie einen ausufernden Grad an. Der Sohn von Henrich Neukirsch beschuldigte seinen Kontrahenten, Nachfahre eines Hexengeschlechtes zu sein (deüffelskindt), obwohl dessen Familie sich offiziell von diesem Laster freisprechen konnte. Der Vater des „Opfers“, Henrich Neukirch, der den Streit zwischen den beiden Jungen vernommen hatte, empörte sich über den Ehrangriff und versetzte prompt Johann Kochs Sohn eine Ohrfeige. Der körperliche Angriff rief die Mutter des Geschlagenen in die Kampfarena, die die von ihrem Sohn ausgesprochene Beleidigung aufgriff und bestätigte. Mithin eskalierte die Situation: Henrich Neukirch schlug Johann Kochs Sohn mit Steinen drei Löcher in den Kopf und bedrohte ihn mit einer Hacke. Jedoch sollte es dabei nicht bleiben. Nun schrie er den Jungen ebenfalls als Teufelskind und Werwolf aus, wiederholt sagend: Komb herauß[,] du wehrwolff[,] Ich will mit dier auffs waßer[,] herauß[,] herauß du wehrwolff[,] Ich will midt dier auf den heppedeich. 831 Nachdem die Aussagen mehrerer Zeugen vor Gericht gehört wurden, die zuvor geschworen hatten, vnpartheisch davon [zu] reden [und] Jedem [zu gönnen][,] waß Rechtenß, forderte der Richter schließlich beide Beklagten vndt Injurianten auf, einen öffentlichen Widerruf zu leisten und sich gegenseitig auszusöhnen. 832 Der zweite Fall ereignete sich am Anfang des Jahres 1691. Der weit über die Grenzen der Gemarkung Fürstenberg hohe Wellen schlagende Vorfall zwischen Engel Voetländer und Caspar Dröppel, der in einem regelrechten Blutbad endete, beinhaltet einige für das lokale Hexenthema interessante Hinweise. Über die Vorgeschichte des Konflikts geben die Quellen keinerlei Auskunft, jedoch hatte offenbar Engel Voetländer versucht, die Frau von Caspar Dröppel mit dem Hexenlaster bewusst im Dorf zu diffamieren, damit diese als solche hingerichtet werden würde. Am Morgen des „Attentates“ schien Engel Voetländer noch bemüht, wieder Frieden mit Caspar Dröppels Frau zu schließen, und fragte sie, ob sie mit zu der Obersten Mühle kommen wolle. Dröppels Frau hatte jedoch bereits das Gerücht vernommen, das Engel über sie 830 Siehe hierzu Kapitel 12.2.2. 831 Diese Aussage ist bezeichnend, weil sie offenbar der mündlichen als auch schriftlichen Überlieferung aus dem 19. Jahrhundert widerspricht, in der es heißt, dass allein der Schwemmteich zur Wasserprobe genutzt worden sei, der sich auf dem Wasserplatze bei der Lohemühle ohnweit Ridders Hause befunden habe. Z. n. Nolte: Chronik, S. 17. Dies scheint allerdings nicht der Fall gewesen zu sein. Offenbar wurde der Heppedeich auch für die Wasserprobe genutzt, erfreute sich aber offensichtlich nicht besonderer Beliebtheit, wie die Aussage von Johann Kochs Frau nahelegt. Sie gab vor Gericht an, dass sie gerne mit Henrich Neukirch auf das Wasser wolle, nicht aber auf den Heppedeich. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 60 v . 832 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 61 v . 8.4 Verbalinjurien 189 verbreitet hatte, und schrie Voetländers Tochter zu: Du fütgen vndt du huer[,] ich mag es dir dencken, ihr wolt mich zur hexe machen, ich bin keine hexe, das magst du vndt dein mutter woll sein, ein jeder der will[,] kann auff euch zu rechte kommen. 833 Sich des Geredes bewusst, wählte Dröppels Frau eine offensive Verteidigungsmaßnahme, die offene Konfrontation. Interessant an diesem Fall ist, dass es sich hierbei um den einzig explizit nachweisbaren Versuch handelte, das Hexengerücht zu instrumentalisieren, um unliebsame Gegner „loszuwerden“. Dieser Befund bestätigt damit die Forschungsthesen von Walter Rummel und Rainer Walz für diesen zeitlichen Untersuchungsraum. Jedoch - und das stellt die Besonderheit des genannten Beispiels dar - fruchteten Engels Bemühungen nicht, weder auf der Ebene des Dorfes noch des Gerichtes. Verärgert, dass ihre Anstrengungen gescheitert waren, die Gegnerin sozial zu diffamieren und möglicherweise von Rechts wegen zu liquidieren, griff sie am selben Nachmittag deren Ehemann massiv körperlich an, immer wieder ausrufend, sie wolle ihn zur Tugend schlagen. 834 Abgesehen von der Aufforderung zur „Kampfwasserprobe“, die insbesondere bei Hexereibeschuldigungen ein probates Verteidigungsmittel darstellte, 835 ist aus den geschilderten Beispielen im Gegensatz zu ihrem Pendant, den „normalen“ Verbalinjurien, keine auf das Hexengerücht exklusiv angewendete Verteidigungsweise zu erkennen. Die Opfer von Hexereivorwürfen reagierten ebenso offensiv, in jeglicher Spannbreite retorsiv und beanspruchten rechtliche ambtshülffe wie beim gewöhnlichen Äquivalent. Mittels der innerdörflichen Konflikt- und Eskalationsmechanismen sowie Justiznutzung gelang es ihnen, das Hexengerücht zumindest soweit einzugrenzen, dass keine weiteren Rechtsmaßnahmen getroffen werden mussten. Freilich stellt sich in diesem Untersuchungskontext die äußerst wichtige Frage, welche Verteidigungsmaßnahmen den Deüffelskindern offen standen, wenn sie mit dem Hexengerücht konfrontiert wurden. Die wenigen Einzelfälle, die in dem niedergerichtlichen Aktenband dokumentiert werden, geben die Schlüsselinformation preis, dass die vermeintlichen „Hexensippen“ in ihrem rechtlichen Handlungsradius vom Gericht weder beschnitten noch eingeschränkt worden waren. Das Gericht gewährte ihnen denselben Rechtsbeistand wie den „normalen“ Dorfbewohnern, und selbst die Herren von Westphalen genehmigten ihnen obrigkeitlichen Schutz. Zur Illustration seien dazu mehrere Beispiele aus den bekannten Hexengeschlechtern Schweins und Vahlen geschildert. Einen eindrucksvollen Einblick für ein sich schnell verdichtendes Hexengerücht bietet der Fall des Hermann Schweins, dessen Supplik auch maßgeblich den Titel dieser Arbeit bestimmte. Zwischen Johann Dröppel und Hermann Schweins eskalierte im August 1658 ein Konflikt, der sich hauptsächlich um deren Kinder drehte. Hermann Schweins’ Sohn Caspar wurde nämlich von der Gegenseite beschuldigt, daß der ihrer 833 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 232 r . 834 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 232 r . 835 Vgl. Gersmann, Gudrun: Wasserproben und Hexenprozesse. Ansichten der Hexenverfolgung im Fürstbistum Münster, 2006, url: https: / / www.historicum.net/ purl/ b7zyc/ (Zugriff am 24. 05. 2017). 190 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten tochter einiges böses im drunck zu gefüget[,] als wan dieselbe sei loß davon worden [...]. Konkret wurde Schweins’ Sohn demnach vorgeworfen, Dröppels Tochter besessen gemacht zu haben. Diese erheblichen Anschuldigungen untermauerte Dröppel, indem er diese nicht nur Einheimischen, sondern auch fremden Leuten, die in Fürstenberg zu Besuch waren, erzählte. Der Konflikt spitzte sich sogar derartig zu, dass die Dröppel-Familie Caspar Schweins aus dem Haus warf. Ihr Verhalten begründete sie mit den Worten: Er wehr [es] nicht wehrt[,] daß Er in ihr hauß keme[,] auch mein kinder für deüffelskinder außgeschrien vnd deßen gantz keinen scheuw tragen [...]. Da Hermann solch grobe Injurien nicht verschmerzen konnte, wandte er sich mit der Bitte an die Herren von Westphalen, gegen den Injurianten justiziell vorzugehen und an ihm ein Exempel zu statuieren. Da Johann Dröppel seine Vorwürfe nicht beweisen konnte, waren seine Beschimpfungen als haltlos und unrechtmäßig eingestuft worden. Für seine nachgewiesene Devianz wurde er für 14 Tage bei Wasser und Brot inhaftiert. 836 Im Fall des Johann Vahlen vulgo Behlen eskalierte die Situation, weil die Zuckersche über ihn das Hexengerücht verbreitete, er habe Schadenszauber an Land und Vieh praktiziert. Um den Hexereianschuldigungen ein Ende zu bereiten, reichte Johann Vahlen im Mai 1630 beim Richter gegen sie eine Injurienklage ein. Als Bürgen für seinen tadellosen Leumund benannte Johann seine Verwandten Johann Hennecken und Johann Endewicht, die seine Reputation beide mit einem Eid vor den Gerichtsbeamten bezeugten. 837 Entgegen der Intention des Klägers wurde sein Versuch, seine Ehre zu verteidigen, zum Auftakt eines Hexenprozesses. Weil die Vorwürfe der Zuckerschen sich mit der Meinung des Fiskals deckten, dass Johann Vahlen ein potenzieller Hexer war, wurde ex officio ein Indizienkatalog gegen den Kläger erstellt und die Voruntersuchung zum Hexenprozess eingeleitet. Nachdem die Collectores die Richtigkeit des Beweismaterials mit dem Wahrheitseid bestätigt hatten, wurde schließlich Johann Vahlen von den lokalen Justizbeamten befragt. Vahlen wies die Anklagepunkte strikt zurück und konsultierte einen Anwalt, der die Unrechtmäßigkeit der Vorwürfe betonte. Der Richter ließ schließlich die Anklage fallen, nachdem sich Johann Vahlen brieflich an die Herren von Westphalen gewandt hatte. Es sollte kein neuer Hexenprozess gegen ihn eröffnet werden. Circa fünfzig Jahre später wurden einem Nachfahren von Johann Vahlen, Friedrich Vahlen, der „Hexenruf“ vorgehalten. Im Juni 1680 führten mehrere Fürstenberger während einer Trinkrunde im Haus des Schöffen Levin Thelen ein Gespräch über die aktuelle Wolfsplage, von der die Gemeinde betroffen sei. Der Müller habe zu seinen Gesprächspartnern gesagt: Eß söllen wölffe allhir zur fürstenberg sein, worauff Elmerhauß sauren geandtworttet, Ja[,] der zöge alle tage bey seinem hause auff vnd nider, aber niemandt genandt [...]. Mit diesem Kommentar spielte Elmerhauß Sauren, ein westphälischer Bediensteter, wohl auf das Lykanthropiegerücht an, das 836 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Supplik des Hermann Schweins vom 12.08.1658. 837 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Klaglibell des Johann Vahlen vulgo Behlen. 8.5 Gewaltdelikte 191 über Friedrich Vahlen kursierte. Als der Schöffe Henrich Stüwer das Gesprächsthema vernahm, wurde er sofort hellhörig. Er packte seinen Sitznachbarn bey dem arm [...] vndt gesagt, er dörffe diese wortte alß ein beeydigter nicht verschweigen, wolte Ihmen darüber zum Zeugen beruffen haben vndt solches zum wahrzeichen in den huet geschrieben, damit auffgestanden vndt weggangen, auch andern Morgenß Ihmen daran Erinnnerdt, daß er[,] Waß da für Rede fürgefallen[,] nicht In vergeß stellen wolte [...] 838 . Als Friedrich Vahlen die um seine Person kursierenden Gerüchte vernahm, reichte er eine demütigste Clage bei den Herren von Westphalen ein, die dem Richter anschließend befahlen, einen Injurienprozess gegen Elmerhauß Sauren und den Müller Thönies Rinschen einzuleiten. Die vor Gericht zitierten Angeklagten Leugneten Pure[,] hetten daß nicht gesagt, wüßten auch von Clägern nichteß böseß [...]. Nachdem das Gericht mehrere Zeugen verhört hatte, die die Gesprächssituation wiedergaben, wurden Elmerhauß Sauren und Thönies Rinschen ihrer Schuld überführt (überwiesen). Die Angeklagten gestanden und nahmen die Anschuldigungen mit den Worten zurück: wüßte[n] von Clägern nichtes böses, sondern hielte[n] Ihn für einen Ehrlichen Mann, worauff dem andern die handt geben vndt also versöhnlich verglichen, geschehen wie obstehet. 839 Erst zwanzig Jahre später sollten die Werwolfgerüchte um Friedrich Vahlen neuen Nährboden erhalten, die dieses Mal in einem Hexenprozess endeten. 840 Angesichts dieser Quellenbefunde eröffnet sich ein scheinbares Paradoxon: Denn gerade der über Jahrzehnte einzementierte Hexenruf der Deüffelskinder würde doch zu der Annahme berechtigen, dass die Zeitgenossen ausgerechnet diesen Hexereivorwürfen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zurechneten, aus denen schließlich ein Hexenprozess resultieren konnte. Dass jedoch die Adelsherren und das fürstenbergische Samtgericht den berüchtigten Hexenkindern bei Hexereibeleidigungen Rechtsbeistand gewährten, gibt der kritischen These Raum, dass das Hexengerücht allein nicht für die Initiierung eines Hexenprozesses genügte. Offenbar mussten noch andere dringende und erhebliche Beweise vorliegen, damit die lokale Justiz aktiv wurde. 8.5 Gewaltdelikte Freilich erscheint es in Anbetracht der frühneuzeitlichen Konfliktlösungsmittel, in denen Real- und Verbalinjurien eng miteinander verkoppelt waren, nicht sinnvoll, beide Kategorien analytisch getrennt voneinander zu betrachten. Denn für gewöhnlich stellten die körperlichen Übergriffe und/ oder Sachbeschädigungen die letzte Stufe in einem sich steigernden Konfliktszenario dar, mittels derer eine gezielte Eskalation 838 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 151 v . 839 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 152 r . 840 Vgl. Kapitel 11.1.2. 192 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten provoziert werden sollte. 841 Um jedoch das lokale Gewaltverständnis und dessen differenzielle Ausprägungen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ erfassen zu können, bedarf es einer isolierten Betrachtung der Gewaltkriminalität in Fürstenberg auf phänomenologischer Ebene. Unter dem modernen Begriff „Gewaltkriminalität“ kann eine Reihe von heterogenen Straftatbeständen gebündelt werden, wobei ihr kleinster gemeinsamer Nenner in der Anwendung physischer Gewalt liegt: 842 Raub(mord), Kindestötung, sexuelle Übergriffe , affektiver Totschlag und intentionaler Mord. 843 Auch Sachbeschädigungen 844 können unter dieses Deliktsegment subsumiert werden, die gerade mit Blick auf die Frühe Neuzeit nicht nur im Sinne einer irrationalen Zerstörungswut gedeutet werden sollten: Die gezielten Beschädigungen an Ackerfeldern, Gärten und Vieh stellten sowohl in symbolischer als auch direkter Hinsicht einen bewussten Angriff auf die Ehre des Kontrahenten dar, die sich nach zeitgenössischem Ehrverständnis aus immateriellen und materiellen Aspekten zusammensetzte. Zudem konnte Sachbeschädigung eine indirekte und symbolische, aber radikale Form der Gewaltanwendung darstellen, wenn eine Minderung der ökonomischen Subsistenzfähigkeit der gegnerischen Seite beabsichtigt war. 845 In diesem Forschungszusammenhang soll allerdings das Augenmerk auf die direkten physischen Übergriffe in Streitsituationen gerichtet werden. Diese Eingrenzung der Analyse ist nicht etwa arbeitsökonomischen Gründen oder gar einem einseitigen Blickwinkel geschuldet, sondern resultiert zwangsläufig aus dem zur Verfügung stehenden Quellenmaterial. Denn die vor dem westphälischen Samtgericht behandelten Fälle von Gewaltkriminalität beinhalten „lediglich“ diese Form der Gewaltanwendung. Die systematische Untersuchung der Gewaltdelikte in Fürstenberg unterliegt dabei in erster Linie dem Erkenntnisziel, 1. das regionale Verständnis von Gewalt zu erarbeiten. Inwiefern war Gewalt ein Bestandteil im alltäglichen Gemeindeleben Fürstenbergs, und inwieweit wurde von den Dorfbewohnern zwischen legitimer und illegitimer Gewalt unterschieden? Wo lagen die Toleranzräume und wo die Differenzierungskriterien? Wie verhielt sich das Gericht in dieser Angelegenheit? Wann kriminalisierte und pönalisierte es eine Gewaltanwendung, wann nicht? Diese Überle- 841 Eine detaillierte Überblicksdarstellung eines gewalttätigen Stufenmodells in der Frühen Neuzeit liefert der Aufsatz von Bleckmann, Maren: Nachbarschaftskonflikte in Warendorf im späten 16. und 17. Jahrhundert, in: Warendorfer Schriften. 100 Jahre Heimatverein Warendorf 1902-2002 30-32 (2002), S. 166-189. 842 Hier soll nicht übersehen werden, dass auch Verbalinjurien zu den emotionalen und psychischen Formen einer Gewaltanwendung zählen können. 843 Vgl. Schwerhoff, Gerd: Art. „Gewaltkriminalität“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1429000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 844 Es muss in diesem Kontext deutlich hervorgehoben werden, dass nicht jede aufgeführte Sachbeschädigung in niedergerichtlichen Akten zwangsläufig eine Rügeabsicht bzw. einen Eskalationscharakter in Streitsituationen beinhaltete - viele Sachbeschädigungen an Getreide, Vieh oder Gartengemüse geschahen aus Unachtsamkeit. 845 Damit erweisen sich Sachbeschädigungen als eine Schnittstelle von Eigentums- und Gewaltdelikten. Vgl. Schwerhoff, Gerd: Art. „Eigentumsdelikte“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0857000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 8.5 Gewaltdelikte 193 gungen zu den sozialen und rechtlichen Grenzziehungen zum Gewaltthema dienen 2. dem Zweck, in einem späteren Kapitel das Hexenverbrechen mit besonderem Blick auf den Schadenszauber näher zu durchleuchten, der sowohl von Gemeindemitgliedern als auch der westphälischen Adelsherrschaft eindeutig zur Kategorie der illegitimen Gewalt gerechnet wurde. Ohne im Detail auf die diversen Wege und Annäherungen der historischen Kriminalitätsforschung zum Untersuchungsfeld „Gewaltkriminalität“ einzugehen, 846 besteht unter den Historikern hinsichtlich einer Charakterisierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft der Konsens, dass sie eine ausgeprägte Gewaltkultur besaß. 847 Allgemein wird die Ansicht geteilt, dass dieses markante Gewaltphänomen durch das zeitgenössische Ordnungsprinzip „Ehre“ und die damit zusammenhängende Ehrsensibilität verursacht sowie durch eine mangelhaft ausgeprägte Affektkontrolle begünstigt wurde. So stößt man in zahlreichen mikrohistorisch ausgerichteten Regionalstudien oder allgemeinen Überblicksdarstellungen zur vormodernen Konfliktforschung stets auf Aussagen, die die hohe Gewaltbereitschaft und -praxis in dieser Zeit betonen. Der Historiker Arnold Beuke resümiert, dass ungeachtet „in welcher Region [man] auch immer in die Akten der niederen Gerichtsbarkeit blickt, immer fällt die hohe Zahl 846 Vgl. Ulbrich, Claudia/ Jarzebowski, Claudia/ Hohkamp, Michaela (Hrsg.): Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD (Historische Forschungen, Bd. 81), Berlin 2005, S. 9-14 sowie Wettmann-Jungblut, Peter: Gewalt und Gegen-Gewalt. Gewalthandeln, Alkoholkonsum und die Dynamik von Konflikten anhand eines Fallbeispiels aus dem frühneuzeitlichen Schwarzwald, in: Eriksson/ Krug-Richter (Hrsg.): Streitkulturen, S. 17-58, hier insb. S. 17-23. Zum konfliktreichen Modell der „strukturellen Gewalt“ siehe Nunn-Winkler, Gertrud: Überlegungen zum Gewaltbegriff, in: Heitmeyer, Wilhelm/ Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a. M. 2004, S. 21-61. Soziologische Erklärungsansätze sind bei der Soziologin Nedelmann, Birgitta: Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen und Wege der künftigen Gewaltforschung, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): Soziologie der Gewalt (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37), Opladen 1997, S. 59-86 sowie Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996 und Gay, Peter: Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter, München 1996 zu finden. Aus dem makrosoziologischen Bereich ist selbstverständlich Norbert Elias mit seiner prominenten Theorie vom „Zivilisationsprozess“ zu nennen. Eine kritische Stellungnahme zu Elias’ Überlegungen schrieb Dinges, Martin: Vom Mythos des „Prozesses der Zivilisation“ zu einer realistischen Geschichte der Gewalt, in: Gallé, Volker (Hrsg.): Der Mord und die Klage. Das Nibelungenlied und die Kulturen der Gewalt. Viertes wissenschaftliches Symposium von Nibelungenliedgesellschaft Worms und Stadarchiv Worms vom 11. bis 13. Oktober 2002, Worms 2003, S. 8-39. Dinges endet mit der programmatischen Schlussbemerkung: „Nicht der Mythos der Entfernung ganzer Zivilisationen von der Gewalt als dem ganz Anderen und dem Fremden ist zu untersuchen, sondern der historisch recht veränderliche Umgang von Gesellschaften mit Gewalt.“ (S. 32). Eine dezidierte Auseinandersetzung mit Elias’ Theorem ist zu lesen bei Duerr, Hans Peter: Die Tatsachen des Lebens. Der Mythos vom Zivilisationsprozess, Bd. 5, Frankfurt a. M. 2002. Für eine neue Rezeption von Elias’ Theorem siehe Spierenburg, Pieter: Long-term trends in homicide. Theoretical reflections and Dutch evidence, fifteenth to twentieth centuries, in: Johnson, Eric A./ Monkkonen, Eric H. (Hrsg.): The civilization of crime. Violence in town & country since the Middle Ages, Urbana und Chicago 1996, S. 63-108. 847 Vgl. Schwerhoff: Gewaltkriminalität. 194 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten der Delikte und ihre breite Streuung auf“ 848 . Ebenso hält Joachim Eibach auf Basis seiner kriminalitätshistorischen Ergebnisse über Frankfurt im 18. Jahrhundert fest, dass „Gewaltausübung im Alltag erstens in sozialer wie topografischer Hinsicht omnipräsent [war], d. h. in allen gesellschaftlichen Schichten und an allen Orten verbreitet [...]“ 849 . Gerd Schwerhoff unterstreicht das Signum dieser Zeit 850 mit seiner Studie über das frühneuzeitliche Köln. In der vormodernen Reichsstadt war das Gewaltdelikt, gemessen am Gesamtaufkommen der Kriminalität, mit einem runden Drittel das relativ stärkste vor Gericht verhandelte Vergehen. 851 Um das Ausmaß des Gewaltphänomens im frühneuzeitlichen Fürstenberg zu erfassen, gilt es folglich, sich in einem ersten Schritt diesem Bereich quantitativ zu nähern. Würde man sich allein der Frage nach dem Anteil der Gewaltdelikte im Kontext der Gesamtsumme an rechtlichen Vergehen widmen, müsste man der Annahme verfallen, dass im Untersuchungsraum ein „ geradezu unglaubliches Maß an Brutalität“ 852 geherrscht habe. Dicht hinter dem Delikt der Verbalinjurie stehen an zweiter und dritter Stelle die Sachbeschädigungen und gewalttätigen Übergriffe. Eine genauere Betrachtung der konkreten Zahlen relativiert hingegen das Ausmaß der erfassten Gewaltdelikte. In über fünfzig Jahren verzeichneten die westphälischen Gerichtsschreiber 27 Fälle von Demolierungen und 24 Situationen von körperlichen Angriffen. Nun betont die historische Gewaltforschung hinlänglich, dass man sich der Tatsache bewusst sein müsse, „dass eine Dunkelziffer von Vergehen existiert, 848 Beuke, Arnold: „In guter zier und kurtzweil bey der naßen angetestatet“. Aspekte des Konfliktaustrags in der Frühen Neuzeit, in: Krug-Richter/ Mohrmann (Hrsg.): Konfliktaustrag, S. 119-155, hier S. 132. 849 Eibach, Joachim: Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn 2003, S. 206 f. Siehe auch die Dissertationsschrift von Schwerhoff, Gerd: Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991. 850 Bernhard Müller-Wirthmann relativiert die hohe Gewaltaktivität in der Frühen Neuzeit mit folgenden Worten: „Die Nachbarn des 16. Jahrhunderts gingen nicht aufeinander los, weil sie - besonders bösartig - sadistische Freude am Leid des Geschlagenen verspürten, sondern weil ihre spezifische Verhaltensstruktur dieses Muster von Konflikt und Lösung vorzeichnete. Gerade weil tätliche Gewalt ein fester Bestandteil der allgemeinen Umgangsformen zu sein schien, darf man annehmen, daß der gleiche Katalog von Verhaltensnormen auch ähnlich wirksame, direkte Möglichkeiten zur Auflösung der Gewaltverhältnisse enthielt.“ Müller-Wirthmann, Bernhard: Raufhändel. Gewalt und Ehre im Dorf, in: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, München 1983, S. 79-111, hier S. 89. Noch kritischer lautet das Fazit von Margarete Wittke: „Obwohl aus allen Schichten und Berufsgruppen Gewalttäter stammen, kann die frühneuzeitliche Gesellschaft nicht per se als gewalttätig und Gewalt duldend charakterisiert werden.“ Wittke, Margarete: Mord und Totschlag? Gewaltdelikte im Fürstbistum Münster 1580-1620. Täter, Opfer und Justiz (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XXII, Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung, Bd. 21), Münster 2002, S. 308. 851 Vgl. Schwerhoff: Gewaltkriminalität. 852 Frank: Dörfliche Gesellschaft, S. 242. 8.5 Gewaltdelikte 195 über die keine Aussagen getroffen werden können, da sie nicht angezeigt wurden“ 853 . Sicherlich hat dieser kritische Einwand seine Berechtigung. 854 Betrachtet man alleine das Züchtigungsrecht des Hausvaters in der Vormoderne, wird das Gewaltspektrum im alltäglichen Zusammensein erheblich erweitert. 855 Einige Beispiele häuslicher Gewalt (patria potestas) lassen sich auch in den vorliegenden Quellen wiederfinden. So zählte es beispielsweise zur gängigen Praxis, die Kinder mittels körperlicher Züchtigung zu „erziehen“. Ein solcher familiärer Erziehungsstil ist für den Jungen Henrich Wilhelm Maeß belegt, der wegen seiner begangenen Eigentumsdelikte von seinem Vater derart massiv mit einem Stecken geschlagen worden war, dass dem Kind das Blut die Beine entlanggeflossen sei. Ludwig Thomaß, der die Gewaltszene beobachtet hatte, kommentierte die Situation wenig später vor Gericht: [...] hette die schläge nicht aestimirt, vnd weinig darumb geben[,] were also geschlagen [worden][,] daß eß manniges kind noht hette [...]. 856 Ebenso wie die Kinder war auch das Dienstpersonal, das zum Haushalt (oikos, familia) gezählt wurde, 857 nicht vor Gewaltanwendungen geschützt. Frya Stuffer gab im Hexenprozess von 1601 an, dass sie ihrem Dienstherrn Papen Corde eine Kuh vergiftet habe, weil sie von Ihme geschlagen worden 858 sei. Dass generell alle Kinder, auch wenn es nicht die eigenen waren, von Gemeindemitgliedern mittels der berühmten „Maulschelle“ erzogen wurden, belegt der Vorfall 853 Bleckmann: Nachbarschaftskonflikte, S. 185 f. 854 Skepsis gegenüber der Deutungshoheit einer gewalttätigen Gesellschaft der Frühen Neuzeit äußert Margarete Wittke mit den Worten: „Die Einschätzung einer hohen Gewaltbereitschaft frühneuzeitlicher Menschen basiert bislang fast ausschließlich auf der Auswertung von strafrechtlichen Gerichtsquellen. Dies birgt zweifellos die Gefahr einer nicht unerheblichen Überbewertung in sich. Durch die Konzentration auf strafbare Handlungen, die im Strafverfahren zwangsläufig im Mittelpunkt stehen mussten, werden Elemente friedlichen Zusammenlebens, die dort nur am Rande registriert wurden, eher vernachlässigt. Die Vorstellung einer gewaltbereiten und gewaltakzeptierenden frühneuzeitlichen Gesellschaft wird zudem von Forschern im Bereich der historischen Kriminologie mit der Annahme einer extrem hohen Dunkelziffer begründet. Es spricht aber einiges dafür, dass die einfache Übertragung von hohen Dunkelzifferraten, von denen moderne Kriminologen gerade auch im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt für die Gegenwart zu Recht ausgehen, in die Frühe Neuzeit zu enormen Verzerrungen führen muss.“ Wittke, Margarete: Alltag, Emotionen, Gewalt. Auswertungsmöglichkeiten von Zeugenverhören der strafrechtlichen Generalinquisition, in: Fuchs/ Schulze (Hrsg.): Zeugenverhörprotokolle, S. 293-316, hier S. 308 f. 855 Siehe hierzu die Arbeiten von Ulbrich, Claudia: Saufen und Raufen in Steinbiedersdorf. Ein Beitrag zur Erforschung häuslicher Gewalt in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Historische Mitteilungen 8.1 (1995), S. 28-42 sowie Lutz, Alexandra: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit (Geschichte und Geschlechter, Bd. 51), Frankfurt a. M. 2006. Freist, Dagmar: Der Fall von Albinie - Rechtsstreitigkeiten um die väterliche Gewalt in konfessionell gemischten Ehen, in: Westphal, Sigrid (Hrsg.): In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln 2005, S. 245-270, hier insb. S. 260-268. 856 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 97 v . 857 Schwerhoff, Gerd/ Gestrich, Andreas/ Bley, Helmut/ König, Hans-Joachim: Art. „Gewalt“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_ a1427000 (Zugriff am 23. 03. 2017), Kap. 4. 858 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht der Frya Stuffer am 03.09.1601. 196 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten von Goert Nüthen. Er berichtete 1631 dem Richter, dass er als Junge von Thönies Dröppel geschlagen worden sei, weil ihm beim Kühehüten zwei Rinder durchgegangen waren. 859 Aber auch unter den Eheleuten waren gewalttätige Übergriffe nichts Ungewöhnliches. Die Kleine Cordesche berichtete ihrer Freundin Engel Brylen, dass sie ständig mit ihrem Ehemann Streit habe und häufig von ihm geschlagen werde. 860 Desgleichen eiferten die Kinder ihren erwachsenen Vorbildern nach, indem sie selbst untereinander sich dieses zeitgenössischen „Erziehungsinstrumentes“ bedienten. So habe der Junge Johann Wilm Bock die Mädchen von Johann Papen junior wiederholt mit einem Stecken geschlagen und ihnen Steine an die Füße geworfen, weil diese ihm das Leinenzeug aus dem Korb herausholen wollten, das für den Obristen von Westphalen bestimmt gewesen sei. 861 Solche Gewaltanwendungen stellten demzufolge für die Zeitgenossen ein legitimes Mittel dar, um „halsstarriges“ sowie „ungehorsames“ Verhalten zu bestrafen, 862 und zählten zu den alltäglichen Rügepraktiken. Folgerichtig sind sie nicht nur unter die Kategorie der innerdörflichen „Konfliktregulationsmechanismen“ zu fassen, sondern auch unter die der „sozialen Kontrolle“. Unter diesem Gesichtspunkt wird verständlich, warum Gewalt bis weit in das 19. Jahrhundert hinein nicht durchgehend gesellschaftlich stigmatisiert war, sondern auf breiter Linie akzeptiert wurde 863 - denn mittels Gewalt sollte die moralische Ordnung aufrechterhalten werden. 864 Eindeutige Beispiele für gewalttätige Rügepraktiken sind auch in den fürstenbergischen Akten vertreten. Weil sich ein unerwünschter Jude in der Gemeinde eine Herberge suchte, wurde er des Nachts in seiner Kammer von Jugendlichen hindterwärtz am kopff bey den haaren nidergerißen [und] Eine gantze handtvoll haar außgeraufft 865 . Noch aggressiver reagierte die bereits zitierte Ehefrau von Meineke Dröppel, nachdem sie ein Schlafgast des Betruges bezichtigt hatte und sie ihn daraufhin mit einem tretebret angriff, gefolgt von vielen Schmähworten. 866 Im Fall des Hans Letticus unternahm ein Ehepaar Sanktionsmaßnahmen gegen ihn, indem es Steine nach ihm warf, weil es glaubte, er begehe Ehebruch, 867 und bei anderer Bege- 859 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht vom 04.07.1631. 860 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht vom 04.09.1601. 861 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 67 v . 862 Art. „Züchtigung (häusliche)“, in: Zedler (Hrsg.): Grosses vollständiges Universallexicon 63, Sp. 1261-1264, 1249, url: https: / / www.zedler-lexikon.de/ index.html? c=blaettern&seitenzahl= 646&bandnummer=63&view=100&l=de (Zugriff am 04. 06. 2017). 863 Vgl. Schwerhoff: Gewaltkriminalität. 864 Gerd Schwerhoff betont die „Doppelgesichtigkeit“ von Gewalt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit als Medium und Objekt sozialer Kontrolle. Siehe hierzu Eriksson/ Krug-Richter (Hrsg.): Streitkulturen, S. 6 sowie Schwerhoff, Gerd: Social Control of Violence - Violence as Social Control, in: Roodenburg, Hermann/ Spierenburg, Pieter (Hrsg.): Social Control in Europe. 1500-1800, Bd. 1, Columbus/ Ohio 2004, S. 220-246. 865 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 87 r-v . 866 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 107 r . 867 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 35 v . 8.5 Gewaltdelikte 197 benheit wurde Berent Löniags Frau für einen vermeintlichen Diebstahl ins Gesicht geschlagen. 868 Trotz der Allgegenwart von Gewaltpraktiken in der frühneuzeitlichen Gesellschaft existierte auf informeller Ebene ein feiner Schnitt zwischen legitimer und illegitimer Gewalt. Der Zedler weist in Bezug auf die häusliche Gewalt darauf hin, dass aus der Züchtigung keine „Grausamkeit“ werden solle. Damit enthält der Lexikonartikel einen wichtigen Hinweis auf ein bedeutendes zeitgenössisches Unterscheidungsmerkmal, das auch auf die Gewaltanwendung im Rahmen von Konfliktszenarien übertragen werden kann und in der Geschichtswissenschaft unter den beiden Begriffspolen potestas und violentia bekannt ist. 869 Die Differenzierungskriterien erweisen sich als äußerst fein, aber hauptsächlich als fließend und perspektivabhängig. Sie sind folglich nicht als dichotome, sondern eher als graduelle Kategorien anzusehen. 870 Ein markantes Differenzierungskriterium zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt bildete das Austreten von Blut. 871 Nicht grundlos verwiesen deswegen die Opfer von Handgreiflichkeiten vor Gericht auf ihre blutenden Wunden. So klagte beispielsweise Jost Mennekens Witwe gegen den Ackerknecht der Herren von Westphalen, Thönies Papen. Dieser habe am Osterfeuer ihren Sohn mit dem Kielhakenstiel gantz Mörderische weise auff den kopff geschlagen, daß Ihme daß bluht die stirne herunter gelauffen 872 sei. Der Hinweis auf das Blut sollte damit nicht nur symbolisch die normative Grenzüberschreitung des vermeintlichen Täters markieren, sondern auch dessen Brutalität (bluetrünstigkeit) deutlich hervorheben. Während in der historiografischen Diskussion um die frühneuzeitlichen Differenzierungsmerkmale von rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt in Streitsituationen hauptsächlich auf den Blut-Aspekt hingewiesen wird, geben die fürstenbergischen Gerichtsakten noch weitere Kriterien preis. Nach zeitgenössischer Ansicht galten diejenigen Gewaltakte als unehrenhaft und damit als illegitim, die offenbar grundlos und unkontrolliert ausgeführt wurden. Wenn daher Gewaltopfer vor dem Richter angaben, ohne eintzig oder geringst gegebene vrsach geschlagen, blutig vndt blawe geprügelt oder auf gantz Mörderische weise traktiert worden zu sein, handelt es sich hierbei nicht um bloße Dramatisierungseffekte. Die Kläger verwiesen auf ein bestehendes Regelsystem und damit folgerichtig auf einen ritualisierten Charakter 868 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 75 v . 869 Die Vorstellung von einer gerechten und ungerechten Gewalt entwickelten bereits Gelehrte des Mittelalters. Siehe hierzu Eriksson/ Krug-Richter (Hrsg.): Streitkulturen, S. 7. 870 Vgl. hierzu den Aufsatz von Kormann, Eva: Violentia, Potestas und Potential - Gewalt in Selbstzeugnissen von Nonnen und Mönchen des Dreißigjährigen Krieges, in: Ulbrich/ Jarzebowski/ Hohkamp (Hrsg.): Gewalt in der Frühen Neuzeit, S. 145-154, hier insbesondere S. 145 f. und S. 154. 871 Bereits im Sachsenspiegel wird auf das Kriterium der „blutenden Wunde“ hingewiesen und als Missetat verurteilt. Vgl. Buchda, Gerhard: Die Dorfgemeinde im Sachsenspiegel, in: Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen, hrsg. v. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Bd. 2 (Vorträge und Forschungen, Bd. VIII), Sigmaringen 2 1986, S. 7-24, hier S. 23. 872 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 93 v . 198 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten von Gewalt, der ein affektgesteuertes Verhalten weitestgehend eindämmen sollte. Freilich wurde diese idealtypische Grenze in der Praxis häufig überschritten, sodass in den meisten Fällen von körperlichen Übergriffen eher von einer „Mischform“ zwischen ritualisierter, instrumentalisierter und affektbegleiteter Gewalt zu sprechen ist. 873 Dabei weisen ältere Forschungsarbeiten ausdrücklich auf den in Gewaltpraktiken innewohnenden Ritualaspekt hin. 874 Dennoch ist m. E. den „Feinheiten“ der „kontrollierten“ Gewalt noch nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt worden, da in der Historischen Kriminalitätsforschung zumeist die Grenzbzw. Extremfälle tiefendimensional durchleuchtet werden, bei denen die allgemein gültigen Konfliktregeln durch die Eigendynamik der Gewalt verzerrt werden. 875 Dieses Forschungsdesiderat soll hier aufgegriffen werden, um zu einer plausiblen Deutung der niedrigen Anzahl an Gewaltdelikten in Fürstenberg zu gelangen und gleichzeitig die Trennlinie zwischen legitimer und illegitimer Gewalt plastisch hervortreten zu lassen. Bezeichnenderweise zählen die in der einschlägigen Literatur häufig genannten exzessiven Gewaltdelikte zu den exotischen „Ausreißern“ in Fürstenberg. Für den Untersuchungszeitraum sind weder Fälle von Totschlag oder Mord noch brutale Gewalteinwirkungen mit Todesfolge überliefert. Der Eindruck einer starken Verhaltenskontrolle bei körperlichen Übergriffen wird zudem durch die Beobachtung gestärkt, dass lediglich ein Fall aus den fürstenbergischen Gerichtsakten bekannt ist, in dem scharffes Gewehr zum Einsatz kam. Jedoch trug das vermeintliche „Opfer“ keine Stichverletzungen davon, weil der Degen des Täters am Hut des Gegners [ab]schamperte 876 . Offenbar war der Täter nicht daran interessiert, seinen Gegner tödlich zu verletzen, weswegen lediglich als effektive Abschreckung die Kopfbedeckung anvisiert worden sein könnte und nicht etwa die Leibesmitte oder das Gesicht. Dennoch sorgte der Vorfall in der Gemeinde für einigen Tumult, sodass der Richter sich gezwungen sah, die beiden Streithähne vor Gericht zu zitieren und sie wegen ihres ungebührlichen Verhaltens zu ermahnen. Dieses Ergebnis mag verwundern, da „angesichts der Allgegenwart von Waffen (z. B. Messer, seit dem 17. Jahrhundert aber auch Schusswaffen) die Grenze zwischen letaler und nicht letaler Gewalt eher zufällig [war]“ 877 . Nun könnte selbstverständlich dahingehend argumentiert werden, dass eben nicht viele Dorfbewohner Waffen besessen hätten. 873 Vgl. Beuke: Aspekte des Konfliktaustrags, S. 138. Siehe auch die kritischen Anmerkungen von Eibach: Frankfurter Verhöre, S. 225-241. 874 So konstatiert Eibach, dass „die Gewaltausübung in der Vormoderne zweitens einen stark ritualisierten Charakter [hatte], der wesentlich zur Einhegung der Konfliktkapazitäten beitrug“. Eibach: Frankfurter Verhöre, S. 206 f. Siehe auch Althoff, Gerd: Regeln der Gewaltanwendung im Mittelalter, in: Sieferle, Rolf Peter/ Breuninger, Helga (Hrsg.): Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Frankfurt und New York 1998, S. 154-170. 875 Eriksson/ Krug-Richter (Hrsg.): Streitkulturen. 876 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 37 r . 877 Schwerhoff: Gewaltkriminalität. 8.5 Gewaltdelikte 199 Diesem kritischen Einwurf ist zu widersprechen. Denn die Quellen liefern die entscheidenden Indizien, dass sowohl die hiesigen Schützen, Jäger und Soldaten der Herren von Westphalen mit Schusswaffen ausgestattet worden waren als auch die „normalen“ Dorfbewohner sich entsprechende Verteidigungsinstrumente gekauft hatten. Diese Aussage belegt eine erhalten gebliebene Schuldeinforderung vom 07. September 1707: Der Waffenlieferant Hans Jacob Baß Feltweiffeler zeigte vor Gericht an, dass er die Gemeinde vor 13 und 14 Jahren mit 6 dägen gehemke oder Copel 878 mit den degens beliefert habe und die Begleichung des Betrages noch ausstehe. 879 Selbstverständlich beziffert die Lieferung lediglich die Neuware, die Dunkelziffer lag wesentlich höher. Denn viele Fürstenberger waren im Kriegsdienst tätig gewesen und nahmen nach Beendigung ihrer Dienstzeit die Waffen mit in die Heimat. 880 Das permanente und ostentative Tragen von Stich-, Hieb- und Schusswaffen muss jedoch mittels strikter Auflagen verboten oder zumindest eingeschränkt worden sein. 881 Denn wie aus dem Quellenmaterial hervorgeht, sollten diese nicht an Dritte verliehen oder von Einheimischen in ihrem gewohnten „Lebensraum“ im alltäglichen Umgang an Kleidungsstücken öffentlich getragen werden. 882 So klagte beispielsweise Jesper Koch junior Johann Nolten an, weil er Ihme Ohne sein wißen vndt willen seine büchsen, welche er zu dienst Ihr hochEhr. Obg. Außschuß haben vndt gebrauchen müßte, beneben Einem Pfundt Pulver auß seinem hause genommen vndt wiewol Ihme darjegen Ein kopstyck 878 Unter „Koppel“ ist laut dem Grimm’schen Wörterbuch die „Degenkoppel“ gemeint, an der die Scheide befestigt werden konnte. Art. „Koppel“, in: Grimmsche Wörterbuch, hrsg. v. Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier 11, Sp. 1785-1787, url: http: / / woerterbuchnetz.de/ DWB/ ? sigle= DWB&mode=Vernetzung&lemid=GK10889#XGK10889 (Zugriff am 06. 06. 2017). 879 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 266 v . 880 Viele Männer aus Fürstenberg und aus der Umgebung waren in diverse Kriege freiwillig gezogen oder wurden auf Befehl des Landesherrn eingezogen. So habe Jörg Reuter zusammen mit Jörgen von Alme zusammen im Graben im Stift Münster gelegen. In den vorhandenen Testamenten werden zudem häufig die unsicheren Erbverhältnisse greifbar, die durch die im Krieg gefallenen Männer ausgelöst wurden oder wenn sich diese endgültig für ein auswärtiges Soldatenleben entschieden. In diesem Zusammenhang ist auch die Klage von Meineke Götten aus Messinghaußen zu sehen. Am 25.10.1665 klagte er vor Gericht, wie daß sein bruder[,] Henrich Götten[,] Zwey Morge Landt vffm herderhagen, welche vermöge theilzettels[,] welchen er vorzeigete[,] Ihme vndt seinem anderen bruder[,] so Im kriege [sc. der Ungarische Krieg] zugefallen[,] Ohne sein wißen vndt willen ahn Jespern schmett verkaufft hette, welches er Ihme seinem bruder nicht gestünde, solchen vermeinten verkauff für vngültich vndt Nichtich hielte, selbigen nicht allein wideruffen thäete, sondern baet den käuffer betE: 2 Morgen Landes bey gewißer straff, sich deren Innichtes anzumaßen, vndt waß darauff außgethaen, ahn seinem verkauffer zu erholen Inhibiren vndt In verbott legen zu laßen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 38 v . 881 Diese normative Einschränkung galt selbstverständlich nicht für das Tragen von Messern, die ein tägliches Gebrauchs-, Ess- und Handwerkszeug waren. 882 Anders hingegen verhielt es sich, wenn sich die Zeitgenossen auf eine Reise begaben. Aufgrund der vielen Überfälle durch Räuberbanden war eine zweckmäßige Selbstverteidigung dringend notwendig. Auch ist zu überdenken, inwieweit in größeren Städten dieser Zwangsauflage nachgekommen wurde. 200 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten zugeben versprochen[,] damit er stillschweigen vndt dafür ander pulver kauffen solte [...] 883 . Offenbar hielten sich die Dorfbewohner weitgehend an diese Reglementierung. So rannte auch Caspar Dröppel erst nach Hause, um seinen Degen zu holen und ihn anschließend in die Tür der Richterstube zu stechen. 884 Im Streit zwischen Peter Nottebaum und Zenzing Buschmann lief letzterer in die Stube des Schöffen und verlangte von dem dort residierenden Scharfrichter sein Richtschwert. 885 Für die Richtigkeit der Annahme eines strengen Waffengebrauchs in Fürstenberg sprechen ex negativo die Streitsituationen: Wenn überhaupt, so kamen allenfalls „Zufalls-“ bzw. „Gelegenheitswaffen“ in Streitsituationen zum Einsatz, wie der berühmte Bierkrug, Eier oder Schäferhaken, nicht aber Stich- und Langwaffen. Zum Regelkanon der kontrollierten Gewaltausübung zählte es auch, den Kopf des Gegners weitestgehend auszulassen. Der Vater von Engel Voetländer schrie deshalb seiner Tochter während einer tobenden Kampfszene wiederholt zu, sie solle den Kopf ihres Gegners ein wenig schonen 886 . Der Fall der Engel Voetländer liefert allerdings einen Hinweis dafür, dass diese Gepflogenheit nur allzu gern missachtet wurde. Das Haupt des Gegners bildete ein beliebtes Angriffsziel, bei dem selbst das Herunterreißen der Kopfbedeckung als eine symbolische Ehrantastung galt. 887 So wurden Finger in die Nase gestoßen, Haare ausgerissen oder das Haupt des Gegners blutig und blau geschlagen. Der Grund für das gezielte Anvisieren des Kopfes mag zum einen in einer bewussten Grenzüberschreitung gelegen haben, die mit der Berührung des direkten Gesichtsbereiches verbunden war. Es ist folglich als eine absichtliche Provokation des Kontrahenten zu verstehen. Zum anderen besaßen die Gesichtsbzw. Kopfverletzungen einen gewissen „Öffentlichkeitscharakter“: Ein malträtiertes Gesicht ließ sich nur schwerlich mit Kleidungsstücken bedecken. Für jedermann war folglich die Rüge öffentlich sichtbar und bot eine breite Fläche für weiteren sozialdiszplinierenden Spott. 888 Schließlich stellte dieses exponierte Angriffsziel die effektivste Möglichkeit „im Spiel des Stärkeren“ dar, den Gegner schnellstmöglich temporär handlungsunfähig zu machen. 889 Wesentliche Kriterien für eine nach den Regeln des Ehrprinzips ausgerichtete Gewaltanwendung stellten Direktheit und Öffentlichkeit dar. Hindterrücks durchgeführte 883 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 20 r . 884 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 211 v . 885 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 886 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 233 r . 887 Vgl. Beuke: Aspekte des Konfliktaustrags, S. 131. 888 Erinnert sei nur an die Schandstrafen wie das Naseabschneiden oder das Aufschlitzen des Ohres. Vgl. hierzu Groebner, Valentin: Das Gesicht wahren. Abgeschnittene Nasen, abgeschnittene Ehre in der spätmittelalterlichen Stadt, in: Schreiner/ Schwerhoff (Hrsg.): Verletzte Ehre, S. 361-380. 889 „Man muß den Tätern hierbei [sc. das gezielte Attackieren des Kopfes] keine Tötungsabsicht unterstellen, gleichwohl dürfte ihr Ziel darin bestanden haben, den Gegner auf diese Weise wirksam außer Gefecht zu setzen.“ Frank: Ehre und Gewalt, S. 355. 8.5 Gewaltdelikte 201 Angriffe waren verpönt, wie es das folgende Zitat illustrativ belegt. Während einer gemütlichen Trinkrunde in Bernd Bußmeyers Haus kam es zwischen Henrich Clauß und Stoffel Vahlen zu einem Handgemenge. Weil Henrich wohl seinen Kontrahenten aus dem Hinterhalt angriff, beleidigte Stoffel ihn mit den Worten: du schlagst mich wie ein schelm, wan du mich schlagen willst, so schlag mich von vorn, und nicht von hinten her, du zaubererman[,] muß sich deiner schämen [...] 890 . Ein heimlicher Angriff widersprach damit stringent den „Spielregeln“ in gewalttätigen Ehrenhändeln. Unter diesem Aspekt erhält auch der Themengegenstand „Öffentlichkeit“, dem im Rahmen des historiografischen Diskurses frühneuzeitlicher Konfliktszenarien eine wichtige Rolle zukommt, eine Neubewertung: Ziel dieser öffentlichen Ausführungen war es nicht nur, eine breite Anhängerschaft im ständigen „Evaluationsprozess“ 891 des agonalen Kampfes um die Ehre zu gewinnen. Die Verlagerung der Konfliktsituation in einen „öffentlichen Raum“ bedeutete zugleich, dass sich die Streithähne bewusst einer öffentlichen Kontrolle aussetzten. Denn die Zuschauerschaft verteilte nicht nur die soziale Ehre - sie bewertete auch das Konfliktverhalten der Parteien hinsichtlich der Regeleinhaltung. Die „Öffentlichkeit“ sollte somit auch einen potenziellen Garanten für ein kontrolliertes Streitverhalten bilden. In diesem Sinne sind auch die Gasthausschlägereien zu interpretieren, die, wie Gerd Schwerhoff vermerkt, ebenfalls in einem „öffentlichen Raum“ stattfanden. 892 Gemeinhin gilt in der Geschichtsforschung das frühneuzeitliche Gasthaus als ein beliebter Platz, an dem im Zuge eines übermäßigen Alkoholgenusses Streitereien häufig eskalierten und affektbegleitete Gewaltübergriffe fast schon an der Tagesordnung waren. Auch in dieser Hinsicht folgte Fürstenberg offenbar nicht dem Trend seiner Zeit - im gesamten Aktenkonvolut über die gerichtlichen Tätigkeiten sind lediglich zwei Fälle von Schenken-Schlägereien verzeichnet. 893 890 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 278 v . 891 Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 145. Der Historiker Karl-Sigismund Kramer vergleicht die frühneuzeitliche Öffentlichkeit mit einem „omnipräsente[n] Dorfauge“. Kramer, Karl-Sigismund: Grundriß einer rechtlichen Volkskunde, Göttingen 1974, S. 17 ff. Zur Replik auf die Kritiken zu seinem Buch siehe Kramer, Karl-S.: Warum dürfen Volkskundler nicht vom Recht reden? Zur Problematik der Rezeption meines Buches „Grundriß einer rechtlichen Volkskunde“ (1974), in: Mohrmann, Ruth-E./ Rodekamp, Volker/ Sauermann, Dietmar (Hrsg.): Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Universität und Museum. Festschrift für Hinrich Siuts zum 65. Geburtstag (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland, Bd. 95), Münster, New York, München und Berlin 1997, S. 229-238. 892 Vgl. Schwerhoff, Gerd: Öffentliche Räume und politische Kultur in der frühneuzeitlichen Stadt: Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Köln, in: Schlögl, Rudolf (Hrsg.): Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 113-136, hier insb. S. 124. 893 Gezielt zum Thema „Wirtshaus“ und „Gewalt“ siehe Krug-Richter, Barbara: Das Privathaus als Wirtshaus. Zur Öffentlichkeit des Hauses in Regionen mit Reihebraurecht, in: Rau, Susanne/ Schwerhoff, Gerd (Hrsg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 21), Köln 2004, S. 99-117; Ebenso Gersmann: Orte der Kommunikation und Frank, Michael: Alkohol und ländliche Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Untersuchungen am lippischen Fallbeispiel, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 65 (1996), S. 107-127. Eine allgemeine Einführung zur Wirtshauskultur siehe 202 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Ein Paradebeispiel für eine kontrollierte Gewaltanwendung liefert folgender Quellenausschnitt aus dem Jahr 1668, der hier ausführlicher zitiert werden soll. Mit seiner Andeutung Ja[,] auffm Corbejes berge wehren auch allerley Leute gewesen erregte Thönies Ludowig bei gemeinsamen Holzarbeiten den Unmut von Jesper Koch senior, der die Aussage auf sich bezog. Jesper handelte daraufhin retorsiv und beschimpfte Thönies als einen falschen kerll. Nach getaner Arbeit saß die Arbeitsgruppe am Abend bei einer gemütlichen Trinkrunde zusammen. Jedoch beschäftigten Thönies’ Anspielungen weiterhin Jesper, sodass dieser den Vorfall erneut als Gesprächsthema aufgriff. Entscheidendes Movens bildete die Verbalinjurie, die er nicht habe ohnverandtworttet stehen lassen können. Jesper stand folglich vom Tisch auf vndt [hatte] gefraget, waß das dan für Leute gewesen, da Meinstu mich midt. Vndt über den disch nach Ihm getastet, Er Ihme aber Endtwichen vndt darauff zu Ihm Eingeschlagen, habe er Ihmen über den tisch gezogen vndt salva venia midt der handt nuer allein für der hindern geschlagen[,] aber sonst nicht das geringste beleidiget, deßen die andern auch alle midt Einander gelachedt. Indem Jesper Koch senior Thönies wie ein Kind behandelte und auf sein Gesäß schlug, entschärfte er nicht nur die Beleidigungen, sondern erniedrigte zugleich den Injurianten. Ob das „Hintern-Versohlen“ als ein Wink auf Thönies’ jugendliches Alter zu verstehen ist und der ältere Jesper Koch damit signalisierte, dass er ihn nur als „Buben“ wahrnahm, sei dahingestellt. Überraschenderweise griff anstelle von Thönies Ludowig nun Johannes Henckel in das Geschehen affektiv ein und brachte damit die Situation zum Eskalieren. Johannes Henckel, eventuell mit Thönies Ludowig verwandt, griff in solidarischem Eifer nach einem Krug und schlug ihn Jesper derartig massiv auf dem Kopf, [so]daß der In stuecken zersprungen, Ihm [sc. Jesper Koch] sehen vndt hören vergangen vndt das bluet über den kopff herunter gelauffen, auch [noch] forthaen Ihmen ahn Einer seit des kopffs vndt thönies Ludowig ahn der andere seit bey den harren gepacket[,] den kopff voller beulen vndt daß angesichte braun vndt blaw geschlagen[,] gleichsamb alß wan Ihmen hetten gantz ermorden wöllen 894 . Linde, Roland: Ländliche Krüge. Wirtshauskultur in der Grafschaft Lippe im 18. Jahrhundert, in: Baumeier, Stefan/ Carstensen, Jan (Hrsg.): Beiträge zur Volkskunde und Hausforschung 7 (Schriften des Westfälischen Freilichtmuseums Detmold - Landesmuseum für Volkskunde), Detmold 1995, S. 7-50. Auch die Fürstenberger Quellen gewähren einen Einblick in die lokalen Trinkgepflogenheiten. Freilich waren ausgelassene Trinkgewohnheiten im Untersuchungsraum alltäglich und führten häufig zu überhitzten Gemütern. Nicht wenige Angeklagte, die einer Missetat beschuldigt wurden, wiesen daher entschuldigend auf ihren Trunkenheitszustand hin, der sie richtig doll im Kopfe gemacht habe. Jedoch bestand wohl die lokale Ansicht, dass auch im Rauschzustand die tägliche Arbeit gewissenhaft auszuführen sei, wie der folgende Quellenausschnitt belegt. So klagte am 04.10.1678 der Schöffe Levin Thelen, dass ihm ausgebüchste Schafe den Hafer auf den Feldern verdorben hätten, weil der Schäfer Johan den gantzen tag gesoffen [habe] vndt nicht bey dem schaffen gewesen [...] sei. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 148 v . 894 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 54 r . 8.5 Gewaltdelikte 203 Jespers Empörung über Henckels unkontrollierte Gewaltanwendung, die er sogar mit einem Mordversuch verglich, ist noch deutlich in seiner Aussage spürbar. Wie der Streit letztendlich beendet wurde, ist im Aktenmaterial nicht weiter überliefert. Während der oben zitierte Vorfall einen illustrativen Einblick in beide Gewaltpole liefert, d. h. in die legitime (kontrollierte) und illegitime (unkontrollierte) Gewaltanwendung, ist die nächste Schilderung ein illustratives Beispiel für violentia. Einschränkend sei vorab angemerkt, dass es sich hierbei um den einzig nachweisbaren Zwischenfall handelt, in dem der Täter jegliche Aspekte des Konfliktverhaltens außer Acht ließ und damit alle anderen aktenkundigen Gewaltdelikte in den Schatten stellt: Er griff sein Opfer hindterrücks und, wie aus dem Arztbericht hervorgeht, offenbar gezielt mit einer Waffe an. Zudem hatte der Angeklagte offensichtlich die Absicht, den Geschädigten gänzlich arbeitsunfähig zu machen oder zu ermorden. Entgegen der allgemeinen Auffassung wurde die Tat nicht von einem Mann, sondern von einer Frau namens Elsche Voetländer am 16. Januar 1691 verübt. Obwohl gewalttätige Übergriffe von und auch zwischen dem weiblichen Geschlecht nichts Ungewöhnliches darstellten, sind sie doch im Gegensatz zu ihrem männlichen Pendant zahlenmäßig deutlich unterrepräsentiert und verliefen in einem kontrollierten Gewaltrahmen. 895 Jedoch sollte Elsche Voetländers brutales Vorgehen selbst die Herren von Westphalen auf den Plan rufen, die sonst die justizielle Regelung der Gewaltkriminalität in Fürstenberg weitestgehend dem dortigen Richter überlassen hatten. Der Gerichtsschreiber beginnt das Protokoll mit der Niederschreibung der Order, die die Adelsherren dem Gerichtsapparat wegen der vorgefallenen Schlägerei gaben. Weil Lubbert Jobst von Westphalen von außerhalb vernommen hatte, dass Elsche den Caspar Dröppel ohnverantwortlicher vndt gefährlicher weiß tractirt und der Vorfall in hiesiger dorffschafft unterschiedtliche vndt variabile dissenssen ausgelöst habe, befahl er dem Gerichtsschreiber, sich über diesen excessu [...] umbständig [zu] informiren. Es solle der Feldscherer Evers Wulff konsultiert werden, vmb von selben den rechten zustandt vndt ware beschaffenheit der körperlichen Malträtierung des Opfers zu attestieren, damit die Obrigkeit auf Basis seines fachmännischen Urteils ohne parteyligkeit rechtlich decidiren könnte. Noch am selben Tag besuchte der Chirurg den Patienten und hielt in Gegenwart der Schöffen den Befund schriftlich fest: Befunden 7. wunden im haupt, 4. schläge auff der lincken ackzel, jeder schlag so schwartz wie ein kakeloffen, schläge auff den händen[,] daß dieselbe gantz auffgeschwollen vndt man nit wißen köne, wie viel darauff kommen vndt ahn einer handt auch ein loch, ahn dem lincken beine vor der schinnen 2. löcher, deren ahn einen das bluet schwerlich stillen können, ahn selbigem beine so viel 895 Ein Beispiel sei an dieser Stelle geschildert: Wegen noch offenstehender Geldschulden kam es zu einem heftigen Wortwechsel zwischen Henrich Kestorffs Frau und Gölcken Schweins. Der Konflikt artete aus, indem Kestorffs Frau der Kontrahentin Zwei Maul klappen gab. Gölcken, die sich wegen der Maul klopperey und den unterstellten Vorwürfen in ihrer Ehre gekränkt sah, parierte die Angriffe solange mit Schlägen, bis ihr Magd sie [endlich] voneinander gezogen habe. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung über Henrich Gölckens Frau am 13.07.1659. Zur weiblichen Gewaltkriminalität siehe Troßbach, Werner: „Rebellische Weiber“? Frauen in bäuerlichen Protesten des 18. Jahrhunderts, in: Wunder/ Vanja (Hrsg.): Weiber, S. 154-174. 204 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten streiche nach vndt an einander befunden[,] daß nit all zehlen können, vndt der schenckel Biß dato so häfftig geschwullen[,] das nit gehen oder stehen können, vndt also der chyrurgus schwulßhalber nit sehen könne, ob der knoche geplißen oder nicht [...]. 896 In einem späteren Zeugenverhör erfährt der Leser, wie sich der Vorfall zugetragen hatte. Elsche Voetländer war aus unbekannten Gründen mit Caspar Dröppel in Streit geraten. Gemeinsam mit ihrem Vater war sie in der obersten mühlen in der stuben gewesen, um Dröppel aufzulauern. Elsche wusste, dass Caspar an diesem Tag sein Getreide mahlen lassen wollte. Als ihr Vater, aus dem Fenster schauend, Caspar Dröppel auf dem Weg zur Mühle erblickte, sagte er zu seiner Tochter: Wir habe[n] hier einen ehren dieb, den müßen wir fangen [...]. Seine Tochter habe auch in der stuben 2mahl auß dem fenster gesehen, vndt letzten mahl gesagt, nun vatter[,] leget die tabackspfeiffe hin[,] kommet, vndt Caspar dröppel, welcher eben gegen der mühlen gewesen, tarde nachgefolget [...]. Elsche warf schließlich ihr Opfer zu Boden, und unter den animierenden Ausrufen ihres Vaters (nun metgen[,] nun schlag du ihn) rief sie aus, sie wolle Dröppel so lange verkloppen, bis er genug davon habe und zur Tugend gelangt sei. Caspar Dröppel versuchte vergeblich, vor seinen Angreifern davonzukriechen, jedoch prügelte Elsche wiederholt mit einem unbekannten Gegenstand auf seinen Kopf ein und trat derartig massiv gegen seinen Leib, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Der Müller, der das ganze Szenerio beobachtet hatte, brachte, nachdem Elsche von ihrem Opfer endlich abließ und fortgegangen war, Caspar auf einem Schlitten ins Dorf. Obwohl die Quelle mit der Zeugenvernehmung abbricht, ist zu vermuten, dass die Herren von Westphalen Elsche aufgrund ihrer beispiellosen Brutalität pönalisierten. Weil das Opfer trotz seiner schweren körperlichen Verfassung weiterhin am Leben blieb, konnte sie nicht nach Artikel 137 der Carolina zum Tode verurteilt werden. Das Gerichtsverhalten im Fall der Elsche Voetländer leitet zu der zentralen Frage über, wie die justizielle Strafpraxis hinsichtlich der Gewaltkriminalität in Fürstenberg gestaltet war. Das Ergebnis mag überraschen: Außer in dem eben zitierten Fall verhielt sich das Gericht weitestgehend passiv und hielt lediglich die gewalttätigen Übergriffe in Form einer Anzeige schriftlich fest. Zwar ist zu vermuten, dass es fallweise Bußgelder verhängte, jedoch fehlt es für diese Annahme an entsprechenden Quellenbelegen. Die vonseiten des Justizapparates recht dürftige Kriminalisierung und milde Pönalisierung solcher Vergehen kann auf zwei Ebenen gedeutet werden, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern eher bedingen und bekräftigen: 1. Da keine Fälle von Körperverletzungen mit tödlichen Folgen vorlagen, handelte es sich bei den kontrollierten Gewaltdelikten „lediglich“ um ein Kavaliersdelikt, für das die Strafrechtskodifikation keine Bestrafung vorsah. 2. wurden gewalttätige Übergriffe zu den üblichen Regulationsmechanismen gezählt, fielen sie unter das Stichwort „Notwehr“. Denn laut Artikel 140 CCC war das private Regulations- und Verteidigungsverhalten der jeweiligen Akteure on alle straff . Aufgrund dieses rechtlichen 896 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 232 v -233 r . 8.6 Eigentumsdelikte 205 Rahmengefüges waren die Linien zwischen Täter und Opfer häufig verwischt und das Gericht konnte kaum eruieren, ob ein straffälliger Gewaltakt oder „lediglich“ eine retorsive Handlung vorlag. 8.6 Eigentumsdelikte Im Gegensatz zur modernen Kriminologie und Strafrechtswissenschaft umfasst in historischer Perspektive der Begriff „Eigentumsdelikt“ eine größere Spannbreite an heterogenen Kategorien der gesamten Kriminalität. Insbesondere der Diebstahl, der gewaltsame Raub, Sachbeschädigungen, der Betrug und die sogenannten „Sozialverbrechen“ 897 rückten dabei ins nähere Blickfeld der frühneuzeitlichen Strafverfolgung, wobei die für das Alte Reich zentrale Strafrechtskodifikation, die Carolina, in etlich[en] artickel[n] 898 die allgemeinen und spezifischen Formen der Eigentumsdelinquenz behandelte. 899 Dabei war es von mehreren Faktoren abhängig, welches Strafmaß über den Missetäter verhängt wurde: Neben dem Alter, dem Sozialstatus und der jeweiligen regionalen Wirtschaftssituation (Bsp. Hungersnot) war ebenso der kriminelle Wiederholungsaspekt ausschlaggebend. Aber auch die Ausführungsform der Eigentumsentwendung spielte eine entscheidende Rolle bei der rechtlichen Strafverurteilung - der heimliche Diebstahl wog beispielsweise schwerer als der offene und galt nach zeitgenössischer Ansicht als „das“ Verbrechen par excellence. 900 Die Intensität und Ausführlichkeit, mit der sich in der Carolina diesem Deliktsegment gewidmet wird, haben dabei durchaus die Funktion eines Indikators: Sie weisen über das gesellschaftliche Bedürfnis des Eigentumsschutzes hinaus und gewähren einen tieferen Blick in die kulturelle Wahrnehmung und Bewertung dieses Vergehens. Denn der Diebstahl beinhaltete nicht nur einen Verstoß gegen das rechtliche und gesellschaftliche Ordnungssystem, er stellte auch einen Friedensbruch dar: sowohl im privaten Bereich der Hausfrieden als auch im größeren Rahmen der Dorf- oder gar Landfrieden wurden durch ihn gestört und verletzt. 901 Obwohl bereits in vereinzelten Forschungsarbeiten die qualitative Bedeutung und der kriminelle Stellenwert der Eigentumsdelikte in der Wahrnehmung der Zeitgenossen hervorgehoben worden sind, 902 geriet und gerät das historische Thema „Diebstahl“ 897 Der Begriff verweist auf das nicht unumstrittene sozialgeschichtliche Deutungsmodell der „Social crimes“ und beinhaltet die Interpretationsprämisse, dass gewisse Diebstahlsdelikte in der Vormoderne als Protest gegen soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit ausgelegt werden könnten. Vgl. Wettmann-Jungblut, Peter: „Stelen inn rechter hungersnodtt“. Diebstahl, Eigentumsschutz und strafrechtliche Kontrolle im vorindustriellen Baden 1600-1850, in: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle (Studien zur historischen Kulturforschung, Bd. 3), Frankfurt a. M. 1990, S. 133-177, hier S. 134 f. 898 CCC, Art. 98. 899 Vgl. Schwerhoff: Eigentumsdelikte. 900 Vgl. CCC, Art. 157. Siehe auch Schwerhoff: Aktenkundig, S. 116. 901 Vgl. Dülmen: Dorf und Stadt, S. 249. 902 Eine quantitative Betrachtung der Diebstahlsdelikte sowie deren strafrechtliche Verfolgung unterstreicht den zentralen, kriminellen Stellenwert dieses Vergehens. Auf Basis zahlreicher 206 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten in der Historiografie zunehmend in den Hintergrund. 903 Als weitaus attraktiverer „Dauerbrenner“ in der historischen Kriminalitätsgeschichte erweisen sich hingegen Untersuchungen zur Thematik „Räuberbanden“. Dabei gilt sehr wohl in einem Zeitalter der begrenzten Ressourcen 904 der Eigentumsschutz „als Leitwert der bürgerlichen Gesellschaft schlechthin“ 905 , wie es nicht zuletzt in den zahlreichen Paragrafen der Carolina zum Ausdruck kommt. Dagegen wird in der CCC der Raub lediglich in „lakonischer Kürze“ 906 abgehandelt - der Delinquent solle am leben gestrafft werden 907 . Die soziale, aber auch rechtliche Schlüsselrolle, die dem Diebstahl in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zukam, ist folgerichtig unübersehbar, weshalb eine nähere Betrachtung der regionalen Diebstahlquote sowie des justiziellen Umgangs mit diesem Deliktsegment lohnenswert scheint. Auf diese Weise wird einerseits das Sozialprofil der fürstenbergischen Gemeinde geschärft, andererseits können neue Erkenntnisse über die regionalen soziokulturellen sowie rechtlichen Praktiken gewonnen werden. Der aus der Kriminalsoziologie bekannte „second code“ 908 steht folglich im Mittelpunkt dieser Untersuchung und nicht die normative Ebene der Strafrechtskodifikation, auch wenn gelegentlich auf sie zurückgegriffen wird, um die zeitgenössische Handlungslogik erläutern zu können. Der besondere Reiz dieses Untersuchungsgegenstandes liegt jedoch noch an anderer Stelle: Bisher wurde von der historischen Forschung nicht bedacht, dass eine tiefer gehende Beleuchtung des Diebstahlsdeliktes hilfreich ist, dem Hexenverbrechen schärfere Konturen zu verleihen. Die direkte Parallele dieser beiden Deliktgruppen wird ersichtlich, wenn der Überlegung Rechnung getragen wird, dass das berühmte „Abzaubern“ von Gesundheit, Glück, Ernteerträgen, Nahrungsmitteln etc. durch die Hexen nach zeitgenössischer Ansicht kein anderes Verbrechen war als den bestatistischer Auswertungen kommt Oestmann zu dem Schluss, dass es sich bei dem Diebstahl „um die mit Abstand am häufigsten belegte Straftat der Neuzeit“ handelt. Oestmann, Peter/ Kahl, Karoline: Art. „Diebstahl“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0764000 (Zugriff am 27. 03. 2017). Vgl. Behringer, Wolfgang: Mörder, Diebe, Ehebrecher. Verbrechen und Strafen in Kurbayern vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Dülmen (Hrsg.): Verbrechen, S. 85-132, hier insb. S. 126. Siehe auch Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör und Eibach: Frankfurter Verhöre, S. 291. Der quantitative Anstieg der Eigentumskriminalität im 18. Jahrhundert, die das Gewaltdelikt abgelöst haben soll, verleitete zum nicht unproblematischen Erklärungsmodell der „Violence-au-Vol-These“. Die Erklärungskraft dieses Interpretaments ist jedoch vonseiten zahlreicher Historiker mehrfach in Zweifel gezogen worden. Vgl. Schwerhoff: Aktenkundig, S. 114-117. 903 Vgl. Eibach: Frankfurter Verhöre, S. 287. „Es überrascht bei der Durchsicht von Literaturverzeichnissen kriminalhistorischer Arbeiten, wie vergleichsweise wenig über den Diebstahl gearbeitet worden ist.“ Beuke, Arnold: Diebe im Münsterland. Pferdediebstahl und andere Beschaffungskriminalität vor und während des Dreißigjährigen Krieges, in: Westfälische Forschungen 54 (2004), S. 57-98, hier S. 57. 904 Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör, S. 361. 905 Eibach: Frankfurter Verhöre, S. 288. 906 Schwerhoff: Eigentumsdelikte. 907 CCC, Art. 126. 908 Das heißt, „über das rein theoretische Recht der Strafrechtskodifikation hinauszugehen und sich dem Recht zuzuwenden, das die Gesellschaft sich durch ihre Handlungen macht [...]“. Wettmann-Jungblut: Diebstahl, S. 136. 8.6 Eigentumsdelikte 207 rüchtigten Diebstahl. Es stellt sich also folglich erneut die berechtigte Frage, wo die Fürstenberger sowohl in sozialer als auch rechtlicher Hinsicht eine Trennlinie zwischen dem realiter begangenen Eigentumsdelikt und dem „fiktiven“ Diebstahl durch die Hexen gezogen haben. Diese für diesen Untersuchungszusammenhang erkenntnisleitende Frage soll jedoch zunächst zurückgestellt und in einem eigenständigen Kapitel nochmalig aufgegriffen werden. 909 Wie für die anderen analysierten Deliktkategorien bereits beobachtet, sticht Fürstenberg hinsichtlich seiner offiziellen Diebstahlkriminalität deutlich im Vergleich zu anderen Ortschaften heraus. 910 Lediglich 22 Fälle von Eigentumsentwendung sind vor dem westphälischen Gericht in annähernd fünfzig Jahren eingegangen; damit belegt die Eigentumsdelinquenz den vierten Platz in der Rangliste der Gesamtkriminalität. Der gewaltsame Raub findet hingegen keine Erwähnung in den Gerichtsakten. 911 Aus den vorliegenden Daten allerdings voreilig von der Quantität auf die Qualität zu schließen, wäre zu kurzsichtig gedacht: Die Zahlen implizieren keineswegs eine geringere Bedeutung von Eigentumsschutz und/ oder -vergehen im frühneuzeitlichen Fürstenberg. Im Gegenteil: Die materiellen Verteilungskämpfe im Dorf werden anhand der verschiedenen vor Gericht eingegangenen Diebstahlklagen sichtbar, in denen die Opfer sich über die unrechtmäßige Entwendung von Heu, Stroh, Leinentüchern, Rübensamen, Rauhfutter, Roggen, Gänsen, Schafen, eines Schweines oder eines Pferdes beschwerten. 912 Eine mögliche Antwort auf das Phänomen der niedrigen Diebstahlzahlen ist mithin an anderer Stelle zu suchen. Zwei Überlegungen, die zwar auf völlig konträren Annahmen beruhen, sich aber nicht widersprechen, sondern sich ganz im Sinne des zweigleisigen Strafrechts überlagern und bekräftigen, sollen dabei den Stoff der Analyse strukturieren: 1. Die eruierte Anzahl ist auf der einen Seite als valides Ergebnis anzunehmen, weil das Vergehen sowohl gesellschaftlich stark stigmatisiert als auch rechtlich scharf sanktioniert wurde. 2. Der für Fürstenberg ermittelte Zahlenwert überdeckt die Dunkelziffer, weil er ein Ergebnis wechselwirkender institutioneller und zugleich sozialer Selektionen ist. Es gilt folglich, sich den „Attitüden der Justiz“ 913 eingehend zu widmen, die die Kriminalitätsrate „produzieren“, indem sie sich an formellen wie informellen Richtlinien orientierten. Bevor allerdings die örtliche Gerichtspraxis in den Blick genommen wird, bedarf es eines näheren „Röntgens“ der Akteure. Denn kein anderes Deliktfeld ist so sehr mit der Frage nach dem Täterprofil verbunden wie der Diebstahl. In der historischen Forschung wird betont, dass bestimmte Status-, Alters-, Geschlechts- und Berufsmerkmale die Akteure stärker für ein Eigentumsdelikt disponierten als andere. Der 909 Vgl. hierzu Kapitel 10.1.2.3. 910 Siehe hierzu beispielsweise Schwerhoff: Köln im Kreuzverhör, S. 447. 911 Für das 18. Jahrhundert ist belegt, dass eine famausse (Räuber-)Bande, die sich aus fünf Juden zusammensetzte, von den Herren von Westphalen zur Todesstrafe verurteilt wurde. Sie wurden zuerst gerädert und anschließend in den Rabenstuhl eingeflochten. AV Pb., Cod. 150, Bl. 211. 912 Vgl. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 158 r , 220 v , 221 v etc. 913 Schwerhoff: Aktenkundig, S. 115. 208 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten „klassische“ Dieb sei deswegen der junge, männliche Vagant gewesen, zu dem sich ab dem 18. Jahrhundert zunehmend auch die diebische Frau gesellte. 914 Obwohl aus einem obrigkeitlichen Dekret von 1617 bekannt ist, dass die Gemeinde Fürstenberg mehrfach von fremden Einliegern bestohlen worden ist, 915 liegen im Aktenkonvolut zur niedergerichtlichen Tätigkeit des westphälischen Samtgerichts keine Indizien vor, die von einer exzessiven Diebstahlquote durch auswärtige Personen zeugen. Lediglich ein Fall ist dokumentiert, in dem ein frembder junge aus Paderborn den Armenkasten aus der Hofkapelle der Obrigkeit gewaltsam aufgebrochen und das darin befindliche Geld entwendete. Der 15-Jährige wurde schließlich vom Küster ertappt und vor den Richter gebracht. Weil er jedoch gute beßerung verspricht, so ist er misericordia mit dem pranger abgestraffet vndt nachgehen durch den frohn auß dieser feltmarck biß über ahe gebracht vndt verwiesen worden 916 . Die übrigen 21 vor Gericht angezeigten Fälle wurden von Einheimischen begangen und verteilen sich auf beide Geschlechter gleichermaßen: Elf Eigentumsentwendungen wurden von Frauen, weitere zehn von Männern ausgeführt. Unglücklicherweise lässt sich das Gros der vermeintlichen Diebe nicht berufsmäßig einordnen, sodass hierüber keine konkreten Aussagen getroffen werden können. Aufgrund der fragmentarischen Quellenlage gestaltet sich ebenso das Unterfangen schwierig, die Akteure sozial zu verorten. In lediglich sieben Fällen sind die Opfer und Täter namentlich in den Katastern von 1672 und 1684 auffindbar (siehe Tabelle 8.1 auf der nächsten Seite), sodass die ermittelten Daten keine allgemeingültige Aussagekraft besitzen und lediglich den Charakter einer Stichprobe aufweisen. Auf voreilige Schlussfolgerungen ist daher zu verzichten. Das Sozialprofil der Täter fördert in diesem Untersuchungszusammenhang wenig Fruchtbares ans Tageslicht. Es gilt folglich, sich dem „second code“ ausführlicher zu widmen. Ein erster Blick in die Strafurteilspraxis des westphälischen Samtgerichtes könnte leicht zu der Schlussfolgerung verleiten, der Richter habe arbiträr gehandelt: Auf der einen Seite sticht das Gericht 1. durch seine markante Passivität heraus, indem es lediglich Diebstahlanzeigen und -vorwürfe schriftlich fixierte, aber im Übrigen der Sache nicht weiter auf den Grund ging. Auf der anderen Seite war es 2. aktiv bemüht, vermeintliche Diebstähle mit fast schon detektivischer Feinarbeit aufzuklären und fallweise die Angeklagten bei einer eindeutig nachgewiesenen Straftat zu einer monetären Wertentschädigung zu verurteilen oder mit dem Pranger abzustrafen. Dieser summarische Überblick zeugt von einer justiziellen Selektionslogik, die es näher zu untersuchen gilt. Insbesondere der erste Punkt erscheint m. E. hierbei am erklärungsbedürftigsten und soll den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bilden. Wendet man sich den konkreten Sachverhalten der Diebstahlanzeigen zu, so fällt auf, dass die Eigentumsentwendung in Konfliktsituationen offenbar zu den inner- 914 Vgl. Eibach: Frankfurter Verhöre, S. 292 ff. sowie Wettmann-Jungblut, Peter: Der nächste Weg zum Galgen? Eigentumskriminalität in Südwestdeutschland 1550-1850, Saarbrücken 1997, S. 139. 915 Siehe Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 383, S. 52. 916 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 153 v . 8.6 Eigentumsdelikte 209 Tabelle 8.1: Landbesitzverhältnisse einzelner Opfer und Täter entnommen aus den Katastern 1672/ 84 Täter Besitz Opfer Besitz in Mg. in Mg. Johan Noltes Witwe 19,00 Trompeters Frau Elsche 7,50 Johan Königsbeck 31,00 Levin Thelen 79,50 Daniel Tonsors Frau 20,00 Caspar Kochs Frau 23,00 Ludowig Manuels Frau 5,50 Herman Böddeker 18,00 Meineke Meyers Frau 21,00 Johan Kieß 42,75 Niclaus’ kleine Frau 7,00 Johan Henrich Böddeker 20,50 Adam Meyers Frau 14,50 Meineke Meyers Frau 21,00 dörflichen Konfliktregulationsmechanismen zählte und sogar zur sozialen Kontrolle gerechnet werden darf. Im zeitgenössischen Sinne dürfte es sich bei diesen Handlungen eher cum salis granis um eine nach Ansicht der Täter „ gerechtfertigte Abrechnung“ mit dem Opfer gehandelt haben, indem sie nach dem Prinzip des symbolischen Retorsionsmoments handelten. 917 Obwohl streng genommen nach carolinischer Richtlinie eine Straftat vorlag, schuf dieses lokale Gewohnheitsrecht die sprichwörtliche „Grauzone“. Einige Beispiele seien zur Illustration geschildert. Am 3. August 1668 klagte der Schöffe Levin Thelen vor Gericht, weil Johann Königsbecks Frau in seine Stube gekommen war und seine Magd beschuldigte, ihr Flachs genommen und ausgewaschen zu haben. Thelens Frau versuchte, die Situation abzuschwächen, indem sie angab, nichts von einem derartigen Vorfall zu wissen. Mit höhnischen Worten antwortete ihr Königsbecks Frau: Mire Ist thuch Gestolen[,] mier Ist Laken gestolen, so muß Ich bey [eurem] flachß auch thuen [...] 918 . Ihrem Vorhaben verlieh sie Nachdruck, als sie zusätzlich die Familie Thelen verfluchte und zur Obertür hinausging. 919 Aufgrund ihrer grobe[n] Nachdencklichen[n] wortte sah Levin Thelen sich gezwungen, das Gericht einzuschalten und um ambtshuelff zu bitten. Zwei Schöffen wurden schließlich 917 Vgl. hierzu Rummel: Verletzung. 918 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 74 v und 77 r . 919 Ihre Handlung beruhte auf der zeitgenössischen Vorstellung, dass man jemandes Glück abzaubern könne, indem man durch die Oberbzw. Untertür hinein- oder hinausgehe - eine Schadenszauberpraktik, die auch im Nachbarort Essentho von einigen Einwohnern praktiziert wurde. So heißt es in der Voruntersuchung über die vermeintliche Hexe Cünna Fießel, sie sei, weil sie mit Johann Warker Streit hatte, des abendts in der Oberthür des haußes Ein vndt zur Niederthür stillschweigendt wieder außgangen, Daß Ihme[,] Warker Johan[,] vmb Mitternacht ein Pferdt kranck worden, vndt des Morgens sopalt abgestorben [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Supplik der Einwohner zu Essentho an die Herren von Westphalen am 26.09.1648. Siehe auch Weiser‐Aall, Lily: Art. „Tür“, in: Hoffmann-Krayer, Eduard/ Bächtold-Stäubli, Hanns (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bde., Berlin und Leipzig 1927-1942, Bd. 8, Sp. 1185-1209. 210 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten beauftragt, die Qualität des Leinens in Augenschein zu nehmen und die Menge der Laken abzuschätzen, indem sie die Wasserbotengänge taxierten. Die Beweislage ergab dabei, dass die Anschuldigungen von Königsbecks Frau ungerechtfertigt waren. Nach Verkündigung des Untersuchungsergebnisses sei die Klägerin stillschweigendt davon gegangen 920 . Der Fall wurde abgeschlossen, und das Gericht belangte sie nicht weiter. Ebenso nach dem symbolischen Retorsionsprinzip handelnd, ging Ludowig Jungeblohts Frau am 9. November 1665 in das Haus von Otto Götten und entwendete aus dem Kuhtrog ein Bund Heu. Ihre Handlung begründete die Angeklagte vor Gericht damit, dass Otto ihr zuvor das Viehfutter vom Speicher gestohlen habe und es ihr zustehe, ihren Besitz eigenhändig wiederzuholen. Der Kläger dementierte hingegen die Vorwürfe und betonte, das Bund wehr seins. Weil der Sachverhalt nicht klar nachzuweisen war und keiner der Parteien der bezigtigten dieberey [...] überwiesen werden konnte, wurde das Verfahren nach acht Tagen Bedenkzeit eingestellt. 921 Während der im Dorf Fürstenberg konkurrierende Normenpluralismus bzw. Normendissens das Diebstahldelikt fallweise zu einer Frage des Standpunktes werden ließ, wird insbesondere anhand des letzten Zitats ein weiterer tragender Aspekt ersichtlich, der hinreichend die überwiegende Gerichtspassivität erklärt: Häufig war die Täterfrage aufgrund sich widersprechender und/ oder diffuser Aussagen nicht zu beantworten, und diese boten gemäß der Carolina keinen gnugsam verdacht, um strafrechtlich aktiv zu werden. Das fürstenbergische Gericht handelte demnach ganz im Sinne der Strafrechtskodifikation, wenn es bei unklarer Beweislage zurückhaltend innerhalb der rechtlichen Spruchpraxis war. Interessant ist der Punkt, dass die örtlichen Richter offenbar nicht nach eigenem Ermessen verfuhren, sondern sich strikt an der Peinlichen Halsgerichtsordnung orientierten. Diese These lässt sich anhand weiterer Quellen belegen. Als im Dezember des Jahres 1668 den Herren von Westphalen aus dem Zehnthaus Stroh gestohlen wurde, reichten sie beim Gericht eine Klage gegen die vermeintliche Täterin Trineke ein. Nachdem der Richter und die Schöffen die Angeklagte sowie mehrere Zeugen vernommen hatten, stellte sich der Sachverhalt als äußerst nebulös dar: Trineke behauptete, der Sohn des Bastards habe ihr das Stroh gegeben, der es wiederum für seine Dreschtätigkeiten bei Johann Henckel als Lohn erhalten habe. Als dieser von dem Justizpersonal befragt wurde, erzählte er eine weitere Variante zum Geschehen; sie beide hätten von dem westphälischen Knecht Stroh bekommen, um die Pferde zu füttern. Ein weiterer Zeuge, Ludowig Happen, dementierte die vorherigen Aussagen und behauptete hingegen, Trineke nahm als Dank für eine Kanne Bier das Bund Stroh von ihm entgegen. Aufgrund der sich widersprechenden Informationen stellte das Gericht den Prozess biß zu weitere verordnung ein. 922 Die Schwierigkeit, den Dieb eindeutig dingfest zu machen und somit auf ein Strafurteil zu hoffen, war offenbar auch den Gemeindeeinwohnern bewusst, die teilweise nach gewissen Raffinessen griffen, um den Täter zu überführen. Ein anschauliches Bild für 920 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 75 r . 921 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 41 r . 922 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 80 r-v . 8.6 Eigentumsdelikte 211 dieses Taktieren liefert der folgende Fall. Hermann Böddeker bemerkte, dass ihm zwei seiner Gänse fehlten. Als seine Frau eines Morgens in die Stube von Ludowig Manuel gegangen war, habe dessen Frau Maria beim Feuer gesessen und zwei Gänse auf ihrer Schürze liegend gehabt, um sie zu plüeken. Als Maria die Eintretende bemerkte, habe sie sofort ihre Schürze über das Federvieh gelegt. Böddekers Frau glaubte jedoch, ihre verschwundenen Gänse entdeckt zu haben. Bevor sie Maria mit ihrem noch nicht bestätigten Verdacht konfrontierte und damit eventuell Gefahr lief, aufgrund einer unrechtmäßigen Verbalinjurie deviant in Erscheinung zu treten, wollte sie sich ihrer Vermutung sicher sein. Sie bat die vermeintliche Diebin Ihr die haut von den füßen [zu] geben, die wolte sie Ihrem Manne ümb den fuß legen[,] worin er fröst 923 bekommen, damit sie die ganß recht besehen möchte; worauff sie allein einen fueß ins waßer gestecket vndt damit nicht recht fort gewolt, hette sie klägerin den andern fueß genommen vndt gesehen[,] daß der auffgeschlüppet, darauff sopalt zu beklagtinnen gesagt, sie sehe Nuen [woll] [,] wo Ihre gänse geblieben [sind]; solte diese Ligen Laßen vndt nicht fegen, dan sie wolte Leute dabey haben; Eß weren Ihre gänse [...] 924 . Obwohl Maria den Diebstahl abstritt und anschließend einen Zwist mit der Familie Böddeker begann, wurde sie vor Gericht zitiert und ihrer Schuld überwiesen. Neben den oben genannten Differenzierungskriterien trat noch ein weiteres hinzu, das die örtlichen Gerichtsbeamten dazu stimmte, den Delinquenten mit Nachsicht zu begegnen: deren Alter. Denn mit Ausnahme von dem frembden jungen wurden einheimische Kinder oder Jugendliche trotz nachgewiesenen Diebstahls rechtlich nicht sanktioniert. Es handelt sich bei diesem Befund um eine besondere Form der Rechtsauffassung und kann als lokales Phänomen gelten, da de jure auch junge Diebe zu bestrafen waren. Nach Artikel 164 CCC seien Diebe unter vierzehn Jahren mit einer Leibstrafe mitsamt ewiger Urfehde zu belangen. Sollte der Dieb jedoch älter sein vnd der diebstall groß oder obbestimpt beschwerlich vmbstende, so geuerlich dabei gefunden würden, also daß die boßheyt das alter erfüllen möcht, So sollen Richter vnd vrtheyler deßhalb auch, (wie hernach gemelt) radts pflegen, wie eyn solcher junger dieb an gut, leib oder leben zu straffen sei. Dass der dörfliche Gerichtsapparat sich diesem justiziellen Leitfaden widersetzte und die von Jugendlichen begangenen Straftaten eher als gelegentliche „Bubenstreiche“ einstufte, belegen die folgenden Beispiele. 1669 reichte Meineke Meyer vor Gericht gegen die Söhne von Thönies Plattvoet und Johann Österwalt eine Diebstahlklage ein. So berichtete er dem Richter, dass er sich in der Nacht auf die Lauer gelegt 923 In der Volksmedizin gilt die Gans als ein Allheilmittel für alle möglichen Leiden. Dabei wurden sowohl ihre Organe als auch die Haut, ihr Gefieder und sogar ihr Kot als Medizin verwendet. Taylor, A.: Art. „Gans“, in: Hoffmann-Krayer/ Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Aberglauben 3, Sp. 290-295, hier Sp. 291. 924 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 155 r . 212 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten habe, weil Kinder oder Jugendliche des Öfteren aus seinem Garten Äpfel und Birnen klauen würden. Sein Warten habe sich gelohnt, denn er habe Endtlich diesen Morgen [die Täter] Ertapt vndt gefunden[,] InMaßen der Eine den huet voller biernen habendt Im stich gelaßen vndt Ihme so wol auch der ander; welcher den buesen ümb vndt ümb vollgepacket gehabt, Endtlauffen vndt durchgangen [sei], baet solchen frevel[,] [weil] so gantz vndt gar überhandt genommen vndt alhir niemandt In seinem Gartten ahn äpffel vndt biernen etwas verthättigen Oder erhalten könte, Ernstlich zu bestraffen [...] 925 . Der Richter beschloss, die jungen Diebe exemplariter an den Pranger zu stellen. Jedoch hätten diese sich auß dem staub gemacht vndt nicht finden laßen wöllen. Als sie in das Dorf zurückgekehrt waren, ließ der Richter die Strafe nicht vollziehen. Ebenso verhielt sich das Gericht in dem bereits zitierten Fall zwischen einem reisenden Juden und mehreren ansässigen Jungen. Während der jüdische Kaufmann in seinem Gästezimmer schlief, schlichen sich die Jugendlichen in sein Zimmer und stahlen ihm Knöpfe und Seidenbänder, die er unter seinem Kissen verwahrt hatte. Das Opfer erwachte schließlich aufgrund des Lärms und konnte ihnen das Diebesgut wieder abnehmen, das sie am ganzen Leib versteckt hatten. Der Jude zeigte das Vergehen vor Gericht an, das die Jungen anschließend vor Gericht zitieren ließ. Weil sich diese aber absentirt hätten, ergaben sich für sie keine weiteren rechtlichen Konsequenzen. 926 Ebenso ungestraft kam auch der Junge Johann Wilm Bock davon, obwohl er vermeintlich einen Käse gestohlen hatte. 927 Dass der von einheimischen Jugendlichen begangene „Bubenstreich“ per se nach lokalem Gewohnheitsrecht nicht kriminalisiert, sondern offenbar als gelegentlicher „Ausreißer“ betrachtet wurde, mag auf diverse zeitgenössische Vorstellungen zurückzuführen sein, die selbst im modernen Strafgesetzbuch noch Berücksichtigung finden. Die jugent habe noch nicht ihren synn 928 , d. h., sie sei noch nicht im Besitz ihrer voll ausgereiften geistigen Kräfte, was eine strafrechtliche Milde begründe. Ergo kann den Kindern und Jugendlichen nicht pauschal unterstellt werden, in bewusster bosheyt gehandelt zu haben, 929 sodass ihr Verhalten als starker Normbruch empfunden worden wäre. Folglich gingen das Gericht und wohl auch die fürstenbergischen Einwohner von der grundsätzlichen Annahme aus, dass die jungen und jugendlichen Sprösslinge sich noch in einem Verinnerlichungsprozess der Normen und des sozialen Wertesystems befanden. Sicherlich ist hier die Frage von besonderem Erkenntniswert, ob zwischen diesen konstatierten Befunden und den fürstenbergischen Hexenprozessen eine Koinzidenz besteht. Denn in diesem Untersuchungszeitraum wurden nachweislich weitestge- 925 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 116 r . 926 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 87 r -88 r . 927 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 67 r . 928 CCC, Art. 179. 929 CCC, Art. 164. 8.6 Eigentumsdelikte 213 hend 930 keine Kinderhexenprozesse geführt. 931 Eine nähere Untersuchung des lokalen Hexenglaubens soll zu dieser wichtigen Fragestellung nähere Aufschlüsse geben. 932 In Anbetracht der erarbeiteten Selektionslogik, die das zweigleisige Strafrecht in Fürstenberg bestimmte und den vermeintlichen Delinquenten Straffreiheit gewährte, gilt es nun, sich der Frage zuzuwenden, ab wann der Richter Sanktionen gegen Diebe verhängte. Die Antwort fällt recht simpel aus: Wenn a) keine Zweifel bezüglich der Täterfrage und des Sachverhaltes bestanden und b) dieser erwachsen oder ein Wiederholungstäter war. Schließlich fiel c) noch die Frage ins Gewicht, ob der Diebstahl heimlich verübt worden war. War dieser Fragekatalog mittels eindeutiger Indizien und Zeugenaussagen hinreichend geklärt worden, verhängte der Richter üblicherweise die Prangerstrafe über die Delinquenten. Zur besseren Verdeutlichung dieser Urteilspraxis seien einige Gerichtsfälle herangezogen, die mit der Bestrafung des Täters endeten. Während eines Heutransports fielen Johann Kieß, der alleine unterwegs war, drei Ballen vom Wagen. Weil er diese nicht ohne zusätzliche Hilfe auf den Karren hieven konnte, wollte er sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufladen, wenn sein Knecht dabei war. Nach seiner Rückkehr fehlte jedoch ein Heuballen. Sein Verdacht fiel sofort auf Meineke Meyers Frau, weiln nuen niemandt anders alß [sie] daher kommen[,] also Ohn zweiffels solches getahen haben werde[,] alß baet [das Gerichtspersonal] in deren hauß Nachsuchung zu thuen, wie dan geschehen auch befunden [...] 933 . Das Gericht erließ aufgrund der evidenten Beweislage die Schandstrafe über Meineke Meyers Frau. Doch als diese das Urteil vernahm, versteckte sie sich in einem leerstehenden Haus, wurde jedoch von den Gerichtsfronen und Schützen entdeckt und anschließend an den Pranger gestellt, worahn sie biß auff den abendt gestanden. Ebenso verfuhr das Gerichtspersonal mit Johann Höppers Frau, weil sie auf seinem Feld Rauhfutter ausgeraufft hatte. Als unwiderlegbarer Beweis (wahrzeichen) fanden die Gerichtsherren das ausgerissene Viehfutter in ihrer Schürze, welche voll gebunden gewesen 934 . Auch Niclaus’ kleine Frau und Jesper Schlüter wurden mit dem Pranger bestraft, weil sie ein Schwein und er Wickenfutter gestohlen hatten. 935 Bezeichnenderweise fiel auch ein Deüffelskind durch ein bewiesenes Eigentumsdelikt negativ auf. Es handelt sich hierbei um Johann Grothen. Als am 23. März 1685 Sanders Frau in Nüthens Haus fünf Brote gebacken hatte, legte sie sie zum Abkühlen auf den Tisch. Johann Grothens Frau trat in die Stube ein, sah die frischgebackenen 930 Der Fall des Henrich Wilhelm Maeß von 1694 ist als einziger Kinderhexenprozess in der fürstenbergischen Geschichte der Hexenverfolgungen bekannt. Hierzu muss jedoch kritisch eingeräumt werden, dass die Rechtsgelehrten bezüglich der Altersangabe des vermeintlichen Delinquenten stritten. Während das westphälische Samtgericht von vierzehn Jahren ausging, gab der Defensor des Jungen an, er sei erst elf bzw. zwölf Jahre alt. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 84 r . Der Historiker Rainer Decker konnte die Angaben des Verteidigers anhand eines Taufbucheintrages verifizieren. Decker: Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn, S. 345. 931 Eine völlig konträre Ansicht nimmt Dillinger, Johannes: Kinder im Hexenprozess. Magie und Kindheit in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2016, S. 26 f. ein. 932 Vgl. Kapitel 10. 933 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 169 v . 934 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 169 v . 935 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 221 v und 256 r . 214 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten Brote und bat um ein stück vom Plaße. Sanders Frau kam der Bitte nach. Während Grothens Frau die Brotscheibe aß, habe sie nebenher gefragt, ob die Brote des Nachts auf dem Tisch liegen blieben. Die Frage wurde bejaht. Am nächsten Tag fehlten alle fünf Brotlaibe. Weil nun Sanders Frau Einigen argwohn habe, dass Johann Grothen oder seine Frau die Backware gestohlen hat, klagte sie bei Gericht und bat die westphälisch bediente, das Haus des vermeintlichen Täters zu durchsuchen. Die herrschaftlichen Amtsträger wurden fündig und das Gericht verurteilte Johann Grothen zu 24. stündiger Inhaftierung. 936 8.7 Zusammenfassung Freilich vermögen die hier vorgestellten Ergebnisse kein Gesamtbild über die lokale Normenstruktur und das soziale Wertesystem zu liefern. Obschon die Quellen nur bruchstückhaft Informationen preisgeben, gewähren diese aber dennoch wichtige Einblicke in das eigentümliche Gesellschaftsprofil Fürstenbergs, das sich sowohl in der herrschaftlichen Jurisdiktion als auch in der Justiznutzung durch die Akteure manifestierte: Dabei werden die charakteristischen Merkmale über normative Konstitutionsbedingungen und gesellschaftlich ausgehandelte Konstruktionsformen von Normen und Wertvorstellungen, Devianz und Toleranz, Kriminalität und Entkriminalisierung, Strafnorm und Urteilspraxis sichtbar. Die primäre Funktion des fürstenbergischen Samtgerichts, das von Laien geführt wurde, war nicht das Pönalisieren von Normbrüchen. Das tägliche Gerichtsgeschäft bestand vornehmlich in der verwaltungstechnischen Regelung von Besitzverhältnissen, Erbschaftsangelegenheiten und Konfiskationen. Eher zu den Ausnahmeerscheinungen als zum regulären Tagesgeschäft zählte die Gerichtstätigkeit in Bagatell- und Kriminalfällen, die aufgrund der geringen „Gelegenheitsausreißer“ offenbar die Errichtung eines eigenständigen Repräsentationsgebäudes der hiesigen Jurisdiktion nicht erforderlich machten. Besonders auffallend ist, dass das lokale gesellschaftliche Zusammenleben sich nicht durch eine hohe Affektivität auszeichnete. Werden die aktenkundigen Schuldeinforderungen und Landstreitigkeiten aus der Statistik ausgeklammert, die streng genommen nicht zu dem Segment „Delikt“ gezählt werden können, reduziert sich das Gesamtaufkommen der Kriminalitätsrate auf 167 Fälle in annähernd fünfzig Jahren. Der niedrige Zahlenwert wird darüber hinaus noch weiter bedeutend relativiert, wenn er in Relation zur Einwohnerzahl gesetzt wird, die in dem hier gewählten Betrachtungszeitraum ca. 1300 betrug. Dieser Befund, dessen Aussagekraft mittels eines methodischen Vergleichs mit quellendichteren Jahren untermauert wird, verlangt nach einer sinnvollen Deutung. Erste Überlegungen, dass die westphälischen Adelsherren ihr Hoheitsrecht repressiv und exzessiv nutzten, um sozialdisziplinierend den Normvergehen in Fürstenberg abschreckend entgegenzuwirken, müssen verneint werden. Denn ein Blick auf die 936 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 158 r . 8.7 Zusammenfassung 215 örtliche Jurisdiktion ist in dieser Hinsicht äußerst ernüchternd: Für das 17. Jahrhundert sind weder Todesstrafen bei „normalen“ Kriminaldelikten zu verzeichnen, noch wurden exzessiv Leibesstrafen verhängt. Die milde Strafpraxis im Untersuchungsraum sollte jedoch nicht voreilig als ein Zeichen defizitärer Herrschaft gedeutet werden. Eher scheint die Teildeutung gerechtfertigt zu sein, dass aufgrund des hohen Autonomiegrades des Großdorfes („Bundbrief“) die Gerichtsjunker um eine Konsensbildung mit der kommunalen Rechtsgemeinschaft im Umgang mit Vergehen bemüht waren. 937 Denn das lokale Gericht war in seiner Urteilspraxis vorrangig auf die soziale Einbindung, Wiedereingliederung und Versöhnung der jeweiligen sich streitenden Akteure bedacht. Freilich stellt sich angesichts dieser historischen Befunde die berechtigte Frage, ob die Patrimonialherren die Hexenprozesse instrumentalisierten, um symbolisch die Rechtsautonomie des Dorfes einzugrenzen und einem obrigkeitlichen Autonomieverlust entgegenzuwirken. Eine mögliche Antwort erfolgt im nächsten Kapitel. Es flossen jedoch noch weitere soziale wie normative Aspekte ein, die die besondere Ausformung des westphälischen Gerichtshabitus und die niedrige Straf- und Kriminalitätsrate bedingten. Zunächst sei die materielle und strafrechtliche Ebene schärfer in den Blick genommen, die die justiziellen Straf- und Urteilsmodalitäten prägte. 1. Der kleinste gemeinsame Nenner, der allen Gerichtsaktivitäten zugrunde lag, war der hohe Selektionsgrad. Während bei oberflächlicher Betrachtung dem örtlichen Justizapparat ein arbiträrer Gerichtshabitus unterstellt werden könnte, kristallisiert sich unter Hinzuziehung lokaler wie normativer Rechtsgrundlagen dessen besondere Differenzierungs- und Handlungslogik heraus. Diese Schlagwörter sind programmatisch für eine angemessene Deutung und Charakterisierung des lokalen Gerichts, dessen materielles und formelles Strafrecht sich stark auf die Carolina und das mittelalterliche Akkusationsverfahren stützte. Weitere Ausdifferenzierungen erhielt der Gerichtshabitus durch das Prinzip des zweigleisigen Strafrechts und die lokalen Gewohnheitsrechte („Salvatorische Klausel“). Dieses materiell- und verfahrensrechtliche Rahmengefüge, bestehend aus teils miteinander konkurrierenden Normensets an formellen wie informellen Regeln, ließ die Devianz bzw. Kriminalität partiell zu einer Frage des Standpunktes werden. Damit war eine beträchtliche „Grauzone“ geschaffen worden, die das Gericht förmlich zwang, seine Prozess- und Strafaktivität auf gnugsame indicien, d. h. auf einer eindeutigen Beweislage, aufzubauen. Pointiert gesagt, war das westphälische Samtgericht sichtlich bemüht, Justizirrtümer weitestgehend zu vermeiden. Angesichts des Rechtsstatus der Fürstenberger (keine Leibeigenschaft) und des ihnen zugebilligten Handlungsspielraumes sowohl in kommunalen (Konfliktregulationsmechanismen) als auch in rechtlichen Angelegenheiten scheint diese Interpretation durchaus tragfähig zu sein. Nur so lässt sich auch hinreichend erklären, warum die Deüffelskinder trotz vermeintlich glaubwürdiger Hexereiattributionen weiterhin Rechtsschutz genossen: Der Vorwurf 937 Vgl. Ludwig, Ulrike: Art. „Strafprozess“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a4170000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 216 8 „Detailaufnahme“ - Gerichtsaktivitäten galt im Sinne des lokalen Rechtsverständnisses zum Zeitpunkt der Beschuldigung noch nicht als handfest erwiesen. Die hohe Selektions- und Differenzierungslogik wird insbesondere auf den Deliktfeldern der Verbalinjurien und der Diebstähle deutlich. Gleichwohl handelt es sich bei diesen beiden Vergehen um die am stärksten kriminalisierten: Mit einer Gerichtsaktivität von 55 % bei Beleidigungsklagen sowie der mehrfach verhängten Prangerstrafe bei Eigentumsdelikten zählten sie zu den schweren Devianzfällen - die Injurien, weil sie potenziell den Gemeindefrieden störten, die Sachentwendungen, weil im Zeitalter der begrenzten Ressourcen der Eigentumsschutz von besonderer Bedeutung war. Dagegen wurden die Gewaltdelikte weitestgehend weder gerichtlich sanktioniert noch kriminalisiert, da sie als probates sozialdisziplinierendes Erziehungsinstrument gesellschaftlich nicht stigmatisiert und mithin marginalisiert waren. Während bei den Eigentumsdelikten das Alter, der Sozialstatus der Delinquenten sowie die Fragen nach der Häufigkeit (ne bis in idem) und der Tatdurchführung (heimlicher Diebstahl) das Strafmaß bestimmten, unterschied das Gericht sehr wohl zwischen gehaltvollen Vorwürfen und gehaltlosen Beleidigungen. Dies wird besonders an den Hexereiattributionen deutlich, die auch „normale“ Fürstenberger treffen konnten, die nicht zu den bekannten „Hexensippen“ zählten. 2. Die niedrige Kriminalitätsrate lässt sich ferner durch eine stark ausgeprägte innerdörfliche Sozialkontrolle plausibel deuten, wie es anhand der quantitativen Auszählung der Verbalinjurien sowie der phänomenologischen Betrachtung der Gewalt- und Eigentumsdelikte deutlich wird. Freilich war die Verbalinjurie unter den Zeitgenossen ein beliebtes soziales Exklusionsinstrument, mittels dessen der Gegner unter Zugzwang gesetzt werden sollte. Die Ehrbeleidigung bildete deshalb einen neuralgischen Punkt, weil mittels der „konturlosen“ (Schelm) oder spezifischen (Hexe, Verräter) Schimpfwörter der Kontrahent als asozial abgestempelt und damit potenziell einer gesellschaftlichen Transformation unterzogen werden konnte: War der mehrheitliche Part der Kommune vom Wahrheitsgehalt der Vorwürfe überzeugt, war die Gefahr eines gesellschaftlichen Ausschlusses groß. Diese sozialen Stigmatisierungs- und Marginalisierungsvorgänge konnten dabei nicht nur den Kontrahenten betreffen. Das Stigma der „Unehre“ war sozial weitervererbbar, konnte also folglich auf eine ganze Familie übertragen werden. Vor dem Hintergrund ihrer sozialen Wirkmacht wird nachvollziehbar, warum die betroffenen Personen impulsiv und teilweise unverhältnismäßig auf Beleidigungen reagierten oder ein familiensolidarischer Fehdezug gegen den Injurianten unternommen wurde. Trotz der Bandbreite an innerdörflichen Konfliktregulationsmechanismen galten offenbar der Weg zum Richter und die Bitte um ambtshülff als das effektivste Mittel im Kampf gegen die Beleidigungen, besonders beim öffentlichen dorffgeschrey. Bezeichnenderweise legt das zahlenmäßige Gesamtaufkommen der Verbalinjurien (70 Fälle) die Vermutung nahe, dass diese nicht an der Tagesordnung waren und 8.7 Zusammenfassung 217 insbesondere Hexereiattributionen (37 %) nicht pauschal gebraucht wurden. 938 Eher scheint die Deutung angemessen, dass angesichts der hohen kriminellen Bewertung der Verbalinjurien bzw. der Verleumdungen im Dorf diese ebenso wie die Gewaltanwendungen kontrolliert bzw. zurückhaltend gebraucht wurden. Denn Beleidigungen oder Vorwürfe, die auf keinem tragenden Indiz fußten und aus „der Luft gegriffen“ waren, zählten zu den ehrantastenden Vergehen, die sowohl gesellschaftlich verpönt als auch normativ unter Strafe standen. Zugespitzt könnte von einer lokalen „Beleidigungsökonomie“ gesprochen werden, in der der Injuriant sowohl den sozialen Status des Kontrahenten als auch den lokalen Gerichtshabitus abwog, um nicht als deviant verurteilt zu werden. Freilich sind trotz aller formellen wie informellen Regelsysteme Impulsreaktionen nicht ausgeschlossen gewesen. Jedoch lässt sich die gleiche grundlegende Verhaltenskontrolle der Fürstenberger auch bei körperlichen Übergriffen beobachten. Weder sind in den Quellen Messerstechereien noch Gewaltattacken mit Todesfolge oder im Affekt begangene Morde verzeichnet. Die Konfliktverläufe lassen eher die Vermutung zu, dass die körperlichen Attacken stark durch einen innerdörflichen Verhaltenskanon reglementiert waren, der eine feine, aber scharfe Trennlinie zwischen potestas und violentia schuf: Sowohl bluetrünstig als auch ohne eintzig vrsach ausgeführte Schläge galten als unstatthaft; desgleichen Gewaltattacken mit scharffem Gewehr. 3. Allen drei Deliktkategorien ist ferner die soziale Determinante gemein, dass sie öffentlich verrichtet werden sollten. Weder die Verbalinjurie noch die körperlichen Angriffe waren hindterrücks auszuführen, ebenso nicht der Diebstahl in aller Heimlichkeit. Das wesentliche Kriterium der „Öffentlichkeit“ schuf dabei eine Plattform der sozialen Kontrolle, auf der das Publikum zum einen die Akteure und die Schuldfrage bewerten konnte; zum anderen war somit eine markante Regulierung der Verhaltensweisen getroffen worden, die ein Ausufern der Konflikte verhindert sollte, die potenziell das bonum commune gefährden konnten. Obschon eine Studie der verschiedenen Konfliktauslöser sicher wünschenswert gewesen wäre, um den „empfindlichen Punkt“ der fürstenbergischen Gesellschaft und damit koinzidierend die möglichen Ursachen für die Hexenverfolgungen herausarbeiten zu können, muss aufgrund geringer Quelleninformationen dieses Vorhaben zurückgestellt werden. Eher ist zu vermuten, dass es nicht „den einen“ Krisenpunkt gegeben haben mag. Denn das Hexereigerücht konnte ja bekanntlich aufgrund seiner Multifunktionalität an viele Konflikttypen anknüpfen. 939 938 Vgl. Gersmann, Gudrun: Gehe hin und verthedige dich! Injurienklagen als Mittel der Abwehr von Hexereiverdächtigungen - ein Fallbeispiel aus dem Fürstbistum Münster, in: Backmann/ Künast/ Ullmann/ Tlusty (Hrsg.): Ehrkonzepte, S. 237-269, hier S. 251. 939 Siehe Behringer: Vermarktung, S. 19. Teil III In Sachen Hexerei 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg In diesem Kapitel werden die personellen Rahmenbedingungen sowie die verfahrenstechnischen Praktiken der lokalen Hexenjustiz untersucht. Dieses methodische Vorgehen soll weniger dem Erkenntnisziel dienen, die in der Literatur allgemein bekannten Stationen eines neuzeitlichen Strafverfahrens von der Verfahrenseröffnung bis hin zur Urteilsfindung erneut wiederzugeben. Vielmehr sollen die örtlichen Spezifika innerhalb der Verfahrenspraktika in einem Inquisitionsprozess herauskristallisiert werden. Die Notwendigkeit dieses Analyseschrittes ist durch folgende Überlegungen begründet: 1. Die zeitgenössische Rezeption der rechtlichen Verfahrensgrundlagen, wie beispielsweise der Carolina und diverser scholastischer Gelehrtentraktate, hatte aufgrund der territorialen Zersplitterung des Alten Reiches sowie der verschiedenen Ausprägungen des Gemeinen Rechts (ius commune), der obrigkeitlichen Privilegien und des örtlichen Gewohnheitsrechts je nach Region zu differenzierten Syntheseprozessen der materialrechtlichen Substanz geführt. 940 2. Diese Formatierungs- und Umwandlungsprozesse schlugen sich zwangsläufig in unterschiedlichen Interpretationsansätzen und damit ergo in lokal differenten Rechts- und Verfahrenspraktiken im Strafprozess nieder. Jeder Verfolgungsort ist folglich in seinen personellen wie verfahrenstechnischen Spezifika zu untersuchen. In diesem Kapitel soll speziell nach der örtlichen „Verfahrensrealität“ und nicht nach dem „Idealtypus“ 941 oder dem allgemeinen Schema eines Hexenprozesses gefragt werden. 942 Im Mittelpunkt der Analyse stehen dabei zunächst die Fragen, die Aufschlüsse über die personellen und juristischen Rahmen- 940 So bemerkt auch Lorenz hinsichtlich der differenzierten Rezeption der Carolina: „Zwar hat ihr die Entwicklung zu einer weiten Verbreitung verholfen, aber es bleibt doch immer die territoriale Zersplitterung des Alten Reiches zu berücksichtigen, die es für die Geschichte der Strafrechtspflege mit sich bringt, daß man stets auch die Geschichte der Territorien im Blickfeld haben und von Herrschaft zu Herrschaft mit den unterschiedlichsten Phänomenen rechnen muß.“ Lorenz, Sönke: Der Hexenprozeß, in: Lorenz/ Schmidt (Hrsg.): Wider alle Hexerei, S. 131-154, hier S. 133. Auf die verschiedenen juristischen und römisch-kanonischen Einflüsse verweist Ströhmer: Rezeption, S. 63. 941 Einen summarischen Überblick über den typischen Verlauf von Hexenprozessen bietet die Arbeit von Gerst, Christoph: Hexenverfolgung als juristischer Prozess. Das Fürstentum Braunschweig- Wolfenbüttel im 17. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 175-216. 942 Bisher besteht in der Historiografie ein weitgehendes Forschungsdefizit bezüglich der Frage nach der Norm-Praxis-Differenz in Hexenprozessen. Dieser Umstand mag nicht zuletzt den teils spannungsgeladenen Positionen zwischen Rechtshistorikern und Kulturhistorikern geschuldet sein, obwohl bereits die Rechtssoziologie und die historische Kriminalitätsforschung als Verbindungsglieder anzusehen sind. Die Arbeiten von Ströhmer und Zagolla greifen dieses Forschungsdesiderat auf. 222 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg bedingungen im Umgang mit dem Delikt „Hexerei“ geben. In einem ersten Schritt sollen daher - metaphorisch gesprochen - zunächst die großen und kleinen „Zahnräder“, d. h. die lokalen Prozessbeteiligten von Rechts wegen, in der Maschinerie „Hexenprozess“ durchleuchtet werden. Dieser Analyseschritt ist sowohl für die Entschlüsselung des hierarchischen Aufbaus als auch für die Beziehungskonstellation der einzelnen Instanzen untereinander im Hexenprozess von Bedeutung, da diese maßgeblich die Strafverfahren gegen die „Unholde“ fördern, aber auch eindämmen konnten. In einer zweiten Untersuchung werden die örtlichen Verfahrenspraktiken im Hexenprozess untersucht. In Anbetracht der eng miteinander gekoppelten Zusammenhänge kann es gelegentlich zu inhaltlichen Überschneidungen kommen. Aufgrund der engen Verzahnung zwischen der personellen Konstellation der lokalen Hexenjustiz und der verfahrenstechnischen Umsetzung im Hexenprozess sollen die Ergebnisse beider Untersuchungsabschnitte in einem Zwischenfazit erfolgen. Um Missverständnisse zu vermeiden, soll an dieser Stelle kurz auf einen methodisch kritischen Punkt hingewiesen werden: Der weitestgehende Verzicht auf eine Vergleichsstudie zwischen einem gewöhnlichen Inquisitionsprozess in „normalen“ Kriminalitätsdelikten und einem außergewöhnlichen Inquisitionsverfahren im Sonderfall „Hexenverbrechen“ ist der Quellenarmut geschuldet. Außer zwei erhalten gebliebenen Inquisitionsprozessakten, liegen keine weiteren Dokumente vor, die einen Vergleich erlauben würden. Die zwei genannten Quellen sind zudem stark fragmentarisch und geben keinerlei Auskünfte über die lokalen inquisitorischen Verfahrensmodi und -praktiken im processus ordinarius. Der erste bekannte Inquisitionsprozess wurde 1601 gegen die bereits erwähnten Inquisiten Hans Roermuß und dessen Stiefsohn Peter Kröger wegen diverser Diebstähle geführt. 943 Die teils durch Mäusefraß stark zerstörte Akte enthält lediglich den Libellus und keine weiteren Aufzeichnungen über die inquisitorisch geführten Verfahrensschritte. Für den zweiten Inquisitionsprozess lässt sich lediglich mit Sicherheit das Ergebnis festhalten, dass zumindest zu Beginn der Ermittlungen nach den Kriterien eines processus ordinarius verfahren wurde, indem die Gerichtsbeamten umfangreiche Zeugenbefragungen durchführten. Es handelt sich hierbei um den Prozess gegen den in landesherrlichen Diensten stehenden Reuter Jörgen, der wegen eigenständig durchgeführter Pfändungen und seiner Beleidigungen gegen die Herren von Westphalen ex officio angeklagt worden war. 944 Der Ausgang dieses Falles ist leider unbekannt. Aufgrund der desolaten Quellen kann kein methodischer Vergleich zwischen den beiden Verfahrenstypen erfolgen, obwohl dieses Vorgehen sicherlich für eine schärfere Konturierung der Verfahrenspraktik im Hexenprozess erkenntnisleitend gewesen wäre. 943 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., ca. September 1601. 944 Über die Herren von Westphalen hatte er mehrfach in Gegenwart von Zeugen verlauten lassen waß sie mehr wehren alß Junckern, hette darauff ferners recoquirt[,] Er wolte Pfanden, wan vndt waß er wolte, daß solte Ihm kein Juncker, kein schufft, kein EdelMan wehren [...]. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 136 r . 9.1 Die personellen Konstellationen 223 9.1 Die personellen Konstellationen 9.1.1 Obrigkeit Die fürstenbergischen Hexenverfolgungen waren entscheidend von einem herrschaftlichen Interesse geprägt. Das heißt, im Unterschied zu den einungsrechtlichen Strafprozessen, die „in erster Linie auf einen Ausgleich zwischen den Konfliktparteien und auf die Wiederherstellung des öffentlichen Friedens zielten“ 945 , handelte es sich bei den Hexenprozessen grundlegend um einen herrschaftlich geführten Strafprozess mit obrigkeitlichem Strafanspruch. Dieser Befund ist nicht überraschend: Denn die Strafen an Leib und Leben zählten zu den symbolträchtigsten Ausdrucksformen von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. 946 Die Herren von Westphalen, die aufgrund ihrer vom Paderborner Landesherrn übergebenen Privilegien die Blutsgerichtsbarkeit in Fürstenberg autonom ausüben durften, waren folglich in der lokalen Jurisdiktion die erste und letzte Entscheidungsinstanz. Eine institutionelle Trennung von Untersuchungsgericht und Urteilsgremium lag folglich nicht vor. Die fehlenden Prüfungsinstanzen, die aufgrund ihrer Kontrollfunktion der Anklagepunkte sowohl eine entscheidende zeitliche Hürde als auch eine deutliche rechtliche Eindämmung für übereilte Verfolgungsanliegen sein konnten, mögen auch ein wesentliches Kriterium gewesen sein, warum die Hexenverfolgungen noch zu einem relativ späten Zeitpunkt (1703) durchgeführt werden konnten. 947 Die lokale Eigenart der autonomen Rechtsprechung sollte für die Bedeutung der Hexenverfolgung nicht unterschätzt werden: Denn mehrfach weisen historische Studien, die sich mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Herrschaftspraktiken auseinandersetzen, darauf hin, dass die Hochgerichtsbarkeit durchaus zu einem „Instrument, zur Waffe werden [konnte], man konnte sie jenseits ihres eigentlichen Zwecks, der Verfolgung und Bestrafung von Missetätern, zur Herrschaftslegitimierung und Herrschaftssicherung benutzen“ 948 . Unter Berücksichtigung der hiesigen 945 Ludwig: Strafprozess. 946 Dabei sollte nicht fälschlicherweise angenommen werden, dass diese Form der Strafpraxis vollkommen losgelöst von den Rechtsgrundlagen der lokalen Gemeinde gewesen wäre. Vielmehr erwies sie sich als eine gemeinsam übergreifende Schnittstelle zwischen herrschaftlichen und dörflichen Interessen. Freilich konnte ein Dissens bezüglich der Frage, wie Devianz und Delinquenz zu bestrafen sei, bestehen. Jedoch beruhte die Strafausführung zumeist auf einem Konsens zwischen landesherrlichen, obrigkeitlichen und gemeindlichen Rechtsvorstellungen. Auf die dörfliche Akzeptanz der verhängten herrschaftlichen Leibes- und Lebensstrafen war auch die Obrigkeit angewiesen, die schnell in Verruf geraten konnte, wenn die Körperstrafe als illegitim empfunden wurde. 947 Die Hexenprozesse wurden im Alten Reich ab 1660 sukzessiv eingestellt. Vgl. Schwerhoff, Gerd: Art. „Hexenprozess“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi. org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1685000 (Zugriff am 27. 03. 2017). Ebenso Rummel/ Voltmer: Hexenverfolgung, S. 74-79. 948 Voltmer: Hochgerichte, S. 486. Siehe hierzu Martschukat, Jürgen: Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, S. 15. Zu denselben Schlussfolgerungen gelangte auch Wüst, Wolfgang: Das inszenierte Hochgericht. Staatsführung, Repräsentation und blutiges Herrschaftszeremoniell in Bayern, Franken und Schwaben, in: 224 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Konkurrenzverhältnisse zwischen den lokalen Adelsgeschlechtern 949 und der stets drohenden Gefahr der Machteinschränkung der Herren von Westphalen durch die Pfandabgabe scheint dieser Erklärungsansatz für Fürstenberg zunächst tragfähig. Sicherlich wäre hier noch eine fundiertere Untersuchung der direkten und indirekten Auswirkungen der landesherrlichen Pfandeinlösung für das westphälische Adelsgeschlecht wünschenswert. Die Gerichtsjunker waren in vielerlei Hinsicht dem Fürstbischof von Paderborn treu ergeben 950 und standen in enger Kooperation mit ihm. 951 Bezüglich ihres alleinigen Anspruchs auf die Hochgerichtsbarkeit in Fürstenberg waren sie peinlichst darauf bedacht, dieses Hoheitsrecht durchzusetzen, wie aus diversen zeitgenössischen Korrespondenzen hervorgeht. 952 Für das Jahr 1658 ist jedoch belegt, dass die beiden bestellten Hexenkommissare Wilhelm Steinfurt und Antonius Bergh dieses exklusive Herrschaftsrecht der Westphälinge infrage stellten: Sie weigerten sich, ohne Zustimmung des Paderborner Landesfürsten am fürstenbergischen Gericht tätig zu sein. Die bestellten Hexenkommissare baten die Adelsherren ausdrücklich um eine Bestätigung der fürstliche[n] [...] placidirungh. Sie versicherten den westphälischen Junkern, dass diese fürstliche confirmation lediglich eine formale Vorsichtsmaßnahme sei, damit ihnen keine vngnade zugeworffen werde. 953 Es muss fraglich bleiben, ob diese Maßnahme als Indikator für einen landesherrlichen Unmut über die fürstenbergische Hexenpolitik gewertet werden kann. Dennoch liefert der Brief den Hinweis, dass die Herren von Westphalen bei früheren Hexenverfolgungen entschieden ihr ius publicum demonstrierten. Die Herren von Westphalen gewährten dem Richter einen erheblichen Ermessensspielraum innerhalb der Rechtsprechung der Niedergerichtsbarkeit. Lediglich zu festgelegten Tagen im Jahr sollte der gewählte Gerichtsvorsitzende die leichteren Kriminalfälle in einem Rapport der Obrigkeit vorlegen. Bei schwerwiegenderen Übertretungen hingegen, die die justizielle Konsequenz einer Leib- oder Lebensstrafe zur Ackermann, Konrad/ Schmid, Alois/ Volckert, Wilhelm (Hrsg.): Bayern vom Stamm zum Staat. Festschrift für Andreas Kraus zum 80. Geburtstag, Bd. 1 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 140/ I), München 2002, S. 273-300. 949 Am deutlichsten tritt diese Rivalität zu den Herren von Büren hervor. Nachdem der Landdrost Wilhelm von Westphalen die Mutter des Moritz von Büren, Elisabeth von Loe, geehelicht hatte, übereignete sie nach ihrem Tod ihrem Ehemann einen erheblichen Teil ihrer Ländereien. Ihr Sohn, der spätere Jesuit Moritz von Büren, klagte mehrfach vor Gericht gegen seinen Stiefvater, um seine Erbansprüche geltend zu machen. 950 Nicht zuletzt seiner mehrheitlichen Loyalität gegenüber dem Landesherrn verdankte das westphälische Adelsgeschlecht seine Machtposition im Raum Paderborn. 951 Der Landdrost Wilhelm von Westphalen war in zweiter Ehe mit einer Schwester des Fürstbischofs Dietrich Adolf von der Recke verheiratet. Auch besetzten die Herren von Westphalen wichtige Ämter im Stift Paderborn und hatten enge Beziehungen zum kurkölnischen Bischof. Westphalen, Wilhelm von, 2016, url: http: / / www.30jaehrigerkrieg.de/ westphalen-wilhelm-von/ (Zugriff am 29. 06. 2017). 952 Siehe hierzu beispielsweise die verschiedenen Briefwechsel zwischen den Jahren 1657 und 1659. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 953 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierte Korrespondenz zwischen Wilhelm Steinfurt und Henrich von Westphalen. 9.1 Die personellen Konstellationen 225 Folge hatten, zeigten die Herren von Westphalen ihren herrschaftlichen Autoritätsanspruch. So waren grundsätzlich alle Suppliken, die die Bitte der Gefängnisentlassung beinhalteten, bei den erbberechtigten Westphälingen einzureichen oder durch Bürgen persönlich vorzutragen. 954 Dies zeigt sich eindrucksvoll am Beispiel von Stefan Gans, der sich einer Pfändung widersetzt und sowohl die Obrigkeit als auch den Landesherrn beleidigt hatte. Nach mehreren Bitten ließ der Inhaftierte abermals durch seine Bürgen ümb Gottes willen bitten, Ihmen, waß er trunckener weise geredt Oder gethaen vndt gesündigett haben möcht, zu verziehen vndt Ihmen noch dießmahl Loß[zu]laßen [...]. Dieß Eodem den sambtlichen alhir anwesenden Gerichts Junckern vorgetragen, darauff den bescheidt erhalten, daß wofern solcher tumultuosischen thattlichkeiten hinfortter gäntzliche sich zu Endthalten [und] Eydtliche vhrpfede [zu] Praestiren Midt handt vndt Mundt [...] an[zu]loben[,] auch seßhafft bürgen stellen würde [...], vorbehalt dahern er hiernegst In Einem vndt anderem hierJegen thuen vndt handeln würde, Nach Ordnung Caroli Quinti ahn Leib vndt Leben solle gestrafft werden [...]. 955 Am deutlichsten tritt jedoch der Herrschaftsanspruch der Adelsherren bei den Hexenprozessen hervor. So kam es durchaus zu unterschiedlichen Ansichten zwischen den Hexenkommissaren und den Westphälingen, was zu einer gewissen Anspannung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer führte. Ein Beispiel sei zur Verdeutlichung genannt: Die Angeklagten Anna Grothen (die Beckersche), Trina Kesperbaum und Peter Schantz hatten bereits mehrfach die Tortur ohne Ablegung eines Geständnisses ausgestanden und waren somit von Rechtswegen aus der Haft zu entlassen. Zudem erklärte sich der Mann von der Beckerschen bereit, seine Frau so weit außer Landes zu bringen, daß man von Ihr so weinig sehen, hören vndt zu befahren haben möchte. 956 Die Doktoren Bergh und Steinfurt entschieden daher, die drei inhaftierten Personen zu relegieren, wenn die entsprechende cautionem geleistet wurde. Ihren Rechtsbeschluss teilten sie allen erbberechtigten Adelsherren mit, die sich zunächst einverstanden zeigten. Kurze Zeit später revidierten sie jedoch ihre Meinung und beschlossen, die Haftstrafe zu verlängern, weil sie von der Schuld der vermeintlichen 954 In persönlichen Rechtsangelegenheiten zu den Junkern zu „ gehen“, war durchaus gängige Praxis bei den Fürstenbergern. Diese „Besuche“ konnten auf der Fürstenburg gemacht werden, wenn die Herren zu dem Zeitpunkt vor Ort residierten oder auf dem nahe gelegenen Adelssitz Hoppeke. In einem Nachbarschaftsstreit ging beispielsweise Jost Stork mit seiner Frau nach Hoppeke, um den Vorfall persönlich einem der westphälischen Erbberechtigten vorzutragen. Als er schließlich wieder in Fürstenberg war, kam die Beklagte Trina Kesperbaum schreiend aus ihrem Haus vndt gesagt[,] heut Magst hinlauffen nach Hoppeke nach dem Richter[,] wo du wil[s]t[,] da ist dein Gott nicht, dein Gott Ist in den blawen Himmel [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., eingereichte Klage am 21.05.1659. Und im Streitfall zwischen Johann Walters und Henrich Neukirchen junior sowie seiner Magd ist in den Akten notiert, dass wan sie da noch viel werckß drüm machen wollten, so wollte er Nach Juncker wilmen gehen vndt sie verklagen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 102 r . 955 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 23 v . 956 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Antonius Bergh am 18.09.1659. 226 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Delinquenten überzeugt waren. So schrieb Caspar Ludowig von Westphalen 957 an den Richter Johann Sauren: Man höre von so viel Unglück, das diese Hexen und Hexer verursachten, dass man sie lieber wegsperren sollte vndt auch Mitt Wasser vnd brott so lange tractiren, biß Jenen der Eifrige Mhuet entfelt[,] dar Neben auch vermeine[,] daß [es] besser sey, das Ein Missgünder vnd [eine] Vbeldetersche sölte[n] Ihre lebdage gefenclich sitzen, als Etliche hundert bedrübter hertzen sein sollten. Überhaupt sei es besser, das sölche [Leute] werden ausgerohttet vnd verdillget [...] 958 . Sein Vetter, Wilhelm von Westphalen, war der gleichen Ansicht. Er schrieb, dass es gefährlich sei, ein solches vngezifer in einer gemein zu halten. 959 Die Doktoren waren über die Missachtung ihres Rechtsurteils empört, wie noch in einem späteren Brief an den Richter Johann Sauren deutlich zu spüren ist. Beide Rechtsgelehrten hätten vngehrn vernommen, daß vnser gegen die beyde Inhafftirte weiber abgefaßte vhrteill an denselben nicht vollen Zogen, da sich doch die hochadelichen Gerichtsherren in dero Jüngsten schreiben darzu willfährig erkläredt [...]. Antonius Bergh und Wilhelm Steinfurt insistierten auf ihren Rechtsbeschluss, erklärten sich aber bereit, falls neue Indizien gegen die Angeklagten vorlägen, [...] noch einen actum [...] vorm wintter 960 zu halten - ein bezeichnender Befund, der gegen das gängige Klischee der verfolgungswütigen Hexenkommissare spricht. 961 Während die Doktoren sich eng an die Verfahrensvorlagen der CCC hielten, 962 sahen die Adelsherren über diese Rechtsnorm hinweg. Unmissverständlich demonstrierten sie ihre hoheitsrechtliche Dominanz gegenüber den Rechtsgelehrten und der Gemeinde. Freilich darf das Verhalten der westphälischen Adelsherren nicht nur aus dem bloßen Bedürfnis einer Herrschaftsdurchsetzung erklärt werden. Dieser Blick wäre zu verengt. Wie aus diversen Korrespondenzen hervorgeht, vertraten sie die Meinung, dass von den Hexen und Hexern eine tatsächliche Bedrohung für die Gemeinde ausging. Insbesondere war man auf den Schutz der Kinder bedacht. Denn die Adelsherren waren überzeugt vom Reiz und von der Anziehungskraft, die die teuflische Kunst auf den Nachwuchs ausüben konnte. Zudem bemühten sich die Gerichtsjunker, daß greuliche abscheuliche Hexenlaster[,] [welches] bey theils Menschen eingewurtzelt sei, zu bekämpfen, und Jegen die vnholden zu inquieren, wie aus der Kundgebung vom 18. Juni 1658 hervorgeht. Damit ist ein wichtiger Hinweis für den lokalen Hexenglauben geliefert, der auch den westphälischen Adelsherren bekannt war: Es handelt sich um die Vorstellung von der transgenerativen Vererbung bzw. des Anlernens des Hexenlasters. 963 Diese 957 Ludowig von Westphalen hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Adelssitz in Herbram. 958 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 07.10.1659. 959 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 05.10.1659. 960 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Brief. 961 Siehe hierzu Kapitel 9.1.4. 962 Artikeln 61, 99 und 201 CCC. Siehe hierzu auch Gerst, Christoph: Der Hexenprozess. Vom Erkennen einer Hexe bis zum Urteil, Saarbrücken 2007, S. 68 ff. 963 Siehe hierzu Kapitel 10. 9.1 Die personellen Konstellationen 227 generationsübergreifende „Kette“ wollten die Herren von Westphalen unterbrechen. Auf Basis dieser Interpretation wird deutlich, warum die Ortsobrigkeit es als ihre herrschaftliche Aufgabe betrachtete, insbesondere die Kinder vor dem Hexenlaster zu schützen. So schrieb beispielsweise Clara von Oberg, Witwe von Westphalen, am 31. August 1659 an ihre Vettern: [...] wen man sie itzo nicht brennen wolte[,] so könte man sie itzo mitt wasser vndt brott noch lassen hinsitzen, der deufel wirt ihn[en] doch balt den halß [...] breggen, so würde ihr böse[s] gift nicht weiter [...] [über] die vnschuldigen kinder gestreiwet. 964 Die persönlichen Einstellungen der Adelsherren zu den Hexenprozessen werden noch an anderer Stelle aus den Korrespondenzen in den Jahren von 1657 bis 1659 ersichtlich. Diese ergeben ein feines Geflecht der verschiedenen Gemütslagen und jeweiligen Motive für die Hexenverfolgungen in diesem Zeitraum. Das Treiben des Hexenunwesens in der Gemeinde forderte die herrschaftliche Souveränität heraus, weil der Zustand im Dorf als elendig (ellende) empfunden wurde. Die Gründe für diesen Gefühlseindruck waren vielfältig: Während Raban von Westphalen sichtlich darum bemüht war, den Gemeindemitgliedern zu helfen, Gottes Ehre durch die Verfolgungen zu erhöhen und den armen leuten rechten [zu] [ver]schaffen 965 , war bei Wilhelm von Westphalen der Verfolgungsdrang deutlich durch einen Abscheu gegen die Hexen geprägt. 966 Obwohl die emotionale Einstellung der einzelnen Adelsherren zum Hexenlaster durchaus divergierte, waren sich die Erbberechtigten doch in dem Punkt einig, dass die „Unholde“ die Eintracht in der Gemeinde gefährdeten. Selbstverständlich ist der Einwand von Gerd Schwerhoff berechtigt, dass die Historiker sich von der Vorstellung verabschieden sollten, dass ein „reiner Purismusgedanke“ 967 das entscheidende Movens für die obrigkeitlichen Hexenverfolgungen war. Dennoch sollte er m. E. nicht völlig außer Acht gelassen werden, wenn der zeitgenössische Hexenglaube in seinen unterschiedlichen regionalen Ausprägungen systematisch und fundiert untersucht sowie seine Bedeutung für die jeweilige Gemeinde herausgearbeitet wird. Ein weiterer Faktor, der kennzeichnend für den autonomen Herrschaftsanspruch der Adelsherren ist, sei an dieser Stelle noch kurz angeführt. Obwohl die Kommissare mit gewissen Vollmachten ausgestattet worden waren, durften sie sich lediglich auf die nötige Inquisition vndt Commision 968 beschränken. Ihre Handlungen wurden streng durch den hiesigen Richter und den Schöffen überwacht und kontrolliert. Keine außer- oder innergerichtliche Befragung von Zeugen oder Delinquenten durfte ohne ihre Anwesenheit durchgeführt werden. Ferner waren die durch Zeugenbefragung und Inquisitionsprozess ermittelten Befunde umgehend entweder durch den Richter 964 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 965 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Raban von Westphalen an seinen lieben Herr Gevatter Johann Sauren am 18.03.1658. 966 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Wilhelm von Westphalen vom 05.09.1659. 967 Schwerhoff, Gerd: Crimen Maleficarum. Das Verbrechen der Hexerei im kriminalitätshistorischen Vergleich, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 39.1/ 2 (2017), S. 1-25, hier S. 20. 968 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., öffentliche Kundgebung vom 18.06.1658. 228 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg oder persönlich durch die Doktoren an die Herren von Westphalen weiterzuleiten. Auf Basis der vorgebrachten Indizien, die mit juristischen Anmerkungen der Doktoren versehen waren, fällten die Schöffen das Strafurteil, das anschließend an die einzelnen erbberechtigten Westphalen gesandt wurde. In einer Art „Rotationsverfahren“ stimmten diese ab, ob sie der Entscheidung des Urteilsgremiums zustimmten oder diese ablehnten. Dazu wurde ein Bote mit den entsprechenden Dokumenten zu den jeweiligen Wohnsitzen der Obrigkeit geschickt: nach Laer, Herbram, Hoppeke und Fürstenberg. 969 Dabei entschieden die Vettern und Witwen der verstorbenen Westphalen in einer Art Familienrat das Strafmaß. So „zirkulierte“ z. B. 1658/ 59 ein Brief zwischen den sechs erbberechtigten Westphälingen, 970 der mit einigen kurzen Anmerkungen und der Abschiedsformel schließt, er bzw. sie lasse sich den Beschluss der Vettern gefallen. 9.1.2 Richter Bedauerlicherweise erlaubt das vorliegende Quellenmaterial nur eine unzureichende Rekonstruktion des biografischen Hintergrundes der jeweils bekannten Ortsrichter. 971 Das ausgewertete Archivmaterial liefert lediglich das Ergebnis, dass die lokalen Richter aus den Reihen alteingesessener Fürstenberger stammten und in der Gemeinde lebten (siehe Tabelle 9.1 auf der nächsten Seite). 969 Hierzu wurden diverse Fürstenberger als Boten eingesetzt. 970 Es handelte sich hierbei um Rab Wilhelm von Westphalen (Hoppeke), Wilhelm von Westphalen (Laer), Henrich Wilhelm von Westphalen (Fürstenberg), Caspar Ludwig von Westphalen (Herbram), Clara, Witwe von Westphalen, und Clara von Oberg. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Brief, ca. 1659. 971 Über den Werdegang des Richters und Rentmeisters zu Wewelsburg, Johann Sauren, der ca. von 1646 bis 1666 amtierte, geben die Quellen einige spärliche Hinweise preis. Um ca. 1668 verstarb Johann Sauren. Damit hatte er beinahe bis zu seinem Tod das Amt des Gerichtsvorsitzenden inne. Seine Söhne Laurentz und Johann Jost Sauren, die ihr Vater als Erben ernannt hatte, waren nach dessen Tod um die Begleichung der noch ausstehenden Schulden bemüht sowie um die Eintreibung der zu bezahlenden Brüchten an ihren Vater. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 76 r -77 r , 123 r -124 v . An anderer Stelle ist im Aktenband eine kurze Randbemerkung über den Richter Henrich Neukirch (nwsl. 1630-31) zu finden. Wegen noch vermeintlich offenstehender Schulden wurde sein Enkel Jobst Neukirchen 1706 vor Gericht zitiert. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 257 r-v . 9.1 Die personellen Konstellationen 229 Tabelle 9.1: Übersicht der amtierenden Richter von 1601 bis 1703 972 Name Amtszeit Franz Grothen vmtl. 1593-1601 Kerstink Vahlen nwsl. 1601/ 02 Henrich Neukirch nwsl. 1630-1631 Johann Blinden nwsl. 1639-1646 Johann Sauren nwsl. 1646-1666 Andreas Stümmel nwsl. 1672-1674 Christoph Hibigen ? Johann Jost Hibigen nwsl. 1695-1703 Speziell im Fall der Hexenprozesse zählte es zu ihrem gängigen Aufgabenbereich, in der Funktion des Fiskals 973 die Strafverfahren entweder durch die Offizial- und Instruktionsmaxime oder auf Grundlage von offiziell eingereichten Anklagen von Privatleuten einzuleiten. Sie hatten zudem die westphälischen Adelsherren über den prozessualen Verfahrensstand brieflich oder persönlich zu informieren. Im Gegensatz zu den Schöffen, die die Funktion eines Spruchgremiums innehatten, leitete der Gerichtsvorsitzende lediglich die Verhandlungen und wirkte nicht beim Strafurteil mit. 974 Das heißt, die Richter kontaktierten und bestellten im Auftrag der Herren von Westphalen die externen Rechtsgelehrten und überwachten den Verfahrensablauf. Des Weiteren fiel es in ihren Tätigkeitsbereich, die Kostenausgaben zu kontrollieren, für die Bezahlung aller amtlichen Prozessbeteiligten (Kommissare, Schöffen, Gerichtsschreiber, Boten, Holzfürsten, Schützen, Wächter) zu sorgen und die Konfiskation bei den Hinterbliebenen der Delinquenten durchzuführen. 975 Obwohl sich die genannten administrativen und verfahrenstechnischen Praxisschritte im Kern auf diese wesentlichen Arbeitspunkte herunterbrechen lassen, die typisch für die Jahre 1631 bis 1703 waren, bedurfte es eines langen Weges der Professionalisierung im Hexenprozess. Am Beispiel des Richters lässt sich dieser Prozess partiell nachzeichnen, der von dem Bemühen der Herren von Westphalen zeugt, den Delinquenten nach hiesigem Gewohnheitsrecht und carolinischer Norm einen „ordentlichen“ Prozess zu ermöglichen. Insbesondere die ersten Hexenverfolgungen stellten die Gerichtsjunker vor eine besondere Herausforderung, da man auf keine 972 Die Amtszeiten können nur mit ungefähren Jahresangaben wiedergegeben werden, da es an einem Verzeichnis der westphälischen Amtsdiener fehlt. Die Tätigkeitszeit ist den von ihnen unterzeichneten und datierten Protokollen entnommen worden. 973 Bei der Hexenverfolgung von 1700 hatte - entgegen der gewohnten Praxis - nicht der Richter Hibigen das Amt des Fiskals inne, sondern der westphälische Bedienstete Liborius Tröster. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 105 r . 974 Vgl. Czeguhn, Ignacio/ Müßig, Ulrike: Art. „Richter“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a3655000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 975 Ein detailliertes Verzeichnis der Prozessausgaben ist für die Verfolgungen von 1658 und 1659 erhalten geblieben. 230 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg lokalen Praxiserfahrungen im Sonderfall „Hexenprozess“ zurückgreifen konnte. 976 Um die Tragweite dieser Anstrengungen deutlich erfassen zu können, wird im folgenden Abschnitt detailliert auf das Richteramt um 1601 eingegangen. Nachweislich lebte und wohnte zum Zeitpunkt der ersten Hexenverfolgungen der Richter Franz Grothen, der wegen seiner Amtstätigkeit mit dem Beinamen der Richter gerufen wurde, in Fürstenberg selbst. 977 Er zählte zur Mittelschicht 978 und war sogar teilweise von der jährlichen Heuerpflicht befreit. Obwohl er offensichtlich bei den Herren von Westphalen ein gewisses Ansehen genoss, war Franz Grothen bei vielen Dorfbewohner unbeliebt. Einige beschuldigten ihn, in Notsituationen kein Geld geliehen, unrechtmäßigerweise gepfändet oder anderer Leute Korn mutwillig verdorben zu haben. 979 Aufgrund seines als unangebracht empfundenen Verhaltens sei er nach den Geständnissen der Hexen und Hexer ein beliebtes Opfer für Schadenszauberanschläge gewesen. So wurden ihm nach deren Aussagen in mehreren Jahren Kühe, Gäule und ein Hund vergiftet. Um seine Familie kursierte auch das Hexengerücht, denn seine Frau und Kinder wurden als „Unholde“ denunziert: Der Inquisit Trouvelus Plumpe berichtete am 24. August 1601 ausführlich, dass Trine Grothen ihren Kindern das Zaubern lehre. 980 Ebenso gerieten Franz Grothens Mutter, drei seiner Tanten und die Patin seiner Mutter in den Strudel der Hexereibezichtigungen. 981 Obwohl Franz Grothen zum Beginn der ersten Verfolgungswelle mit hoher Wahrscheinlichkeit als Lokalrichter in Zivil- und Kriminalsachen tätig war, wurde er nicht als Gerichtsvorsitzender in den Hexenprozessen eingesetzt. Dieser Befund ist für fürstenbergische Gerichtsverhältnisse ungewöhnlich. Denn nach gängiger Praxis war ein und derselbe Richter für die Nieder- und Hochgerichtsbarkeit zuständig, auch im Sonderfall „Hexenprozess“. Zwei Vermutungen, die sich gegenseitig nicht ausschließen, legen die Gründe für den personellen Besetzungswechsel nahe: Offenbar befürchtete die Ortsobrigkeit, dass aufgrund des direkt bestehenden Blut- und Verwandtschaftsverhältnisses zwischen Richter und einigen Inquisiten die Unparteilichkeit nicht mehr gewährleistet sei. Ferner bleibt zu spekulieren, ob Franz Grothen ausschließlich als Laienbzw. Bauernrichter tätig gewesen und damit lediglich Rechtskenntnisse für die 976 Inwieweit das Adelsgeschlecht auf das juristische und administrative Basiswissen anderer Verfolgungsbezirke im Raum Paderborn zurückgreifen konnte, ist nicht bekannt. Zudem liegen bisher keine detaillierten Studien über die übliche Rechtspraxis zu Beginn der frühen Hexenverfolgungen für das Hochstift vor. 977 Seine Amtstätigkeit als Richter geht aus einem Indizienkatalog von 1631 hervor. Hier heißt es Frans grothen oder Richters frans. In den Protokollen von 1601 gestanden der Alte Hinte, Gretha Arenken und die Große Trine, Richter Frantz Tiere vergiftet zu haben. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 978 Die Interpretation der Abgabenverzeichnisse von 1595 bis 1602 erweist sich im Fall von Franz Grothen als schwierig, weil nicht ablesbar ist, inwieweit seine Sonderposition als westphälischer Bedienter ihm Abgabeerleichterungen verschaffte. Die verzeichneten Abgaben spiegeln folglich nicht zwingend seinen tatsächlichen Landbesitz und damit verbunden seinen Wohlstand ab. 979 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht der Arenken Gretha am 17.08.1601, des Alten Hinten am 12.08.1601 und der großen Trine am 21.8.1601. 980 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Libellus des Trouvelus Plumpe. 981 Vgl. Kapitel 11.1.1. 9.1 Die personellen Konstellationen 231 „Normalfälle“ besaß. 982 Sein mangelndes Fachwissen mag ausschlaggebend gewesen sein, dass er für die besondere Strafprozessform „Hexenverfahren“ nicht qualifiziert schien. An seiner Stelle leitete Kerstink Vahlen gemeinsam mit den Urteilträgern die Hexenprozesse. Augenscheinlich klassifizierte ihn sein hohes Alter für das Richteramt. Denn Kerstink Vahlen zählte zum Zeitpunkt der ersten lokalen Verfolgungswelle zu den Dorfältesten in Fürstenberg, weshalb er auch den Beinamen der alte Köstnicken 983 erhalten hatte, und lebte nachweislich bis 1603. 984 Ob nun sein hohes Alter und damit einhergehend seine Lebenserfahrungen ihn für den Richterposten prädestinierten, er eine juristische Ausbildung genossen hatte oder eventuell sogar selbst einmal am Gericht als westphälischer Bedienter tätig war, kann nicht mit absoluter Gewissheit geklärt werden. Lediglich für seine Nachfahren ist belegt, dass sie zeitweise als Freischöffen tätig 985 sowie mit den Rechtsnormen und lokalen Rechtsgepflogenheiten vertraut waren. Dies geht aus einem Brief von Johann Vahlen an die Herren von Westphalen am 29. Juli 1631 hervor. Neben seinen Kenntnissen über den verfahrenstechnischen Prozessablauf im Hexenprozess stützte er seine Argumentation auf den italienischen Rechtsgelehrten Prospero Farinaccio. 986 Einige Passagen sind sogar auf Latein verfasst. 987 Mit der Amtseinsetzung des alten Kerstink Vahlen als Richter wird deutlich, dass die Ortsobrigkeit bedacht war, der ersten Kautel der Carolina gerecht zu werden. Denn laut der Strafrechtskodifikation sollte ein Gericht, damit es zum besten verordnet [sei] vndt niemandt vnrecht geschehe, [...] von frommen, erbarn, verstendigen vnd erfarnen personen, so tugentlichst vnd best die selbigen nach gelegenheyt jedes Orts gehabt vnd zubekommen sein 988 , besetzt werden. Es ist ferner zu spekulieren, ob Kerstink Vahlen aufgrund seines hohen Alters bereits die ersten Hexenverfolgungen um 1550 im Paderborner Raum erlebt hatte oder auf Erfahrungswerte aus den Prozessaktivitäten im Sintfeld zurückgreifen konnte, die 1601 erst vier Jahre zurücklagen. Es kann 982 Vgl. Czeguhn/ Müßig: Richter. 983 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht von Gretha, die Wilkesche, am 23.08.1601. 984 Am 21. und 22. Mai 1603 beorderte Heinrich von Westphalen seine Vettern, die Schnade um Fürstenberg mit den Dorfältesten abzugehen. Darunter wird auch Kerstink Vahlen genannt. Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 373, S. 48 f. 985 Am 22.07.1657 wurden die Zeugen Coderich Manuel und Henrich Schmitt aus Atteln wegen Hexereiverdächtigungen von den Freischöffen Johann Vahlen und Diethrich Österwalt verhört. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. Inwieweit die Hexenprozesse als „Sprungbrett“ für eine juristische Karriere genutzt worden sind, wie Rita Voltmer es für den Hexenrichter Claudius Musiel herausarbeitete, kann für den fürstenbergischen Raum nicht beantwortet werden. Vgl. Voltmer, Rita: Claudius Musiel oder die Karriere eines Hexenrichters. Auch ein Beitrag zur Trierer Sozialgeschichte des späten 16. Jahrhunderts, in: Franz/ Irsigler (Hrsg.): Methoden und Konzepte, S. 211-254. 986 Zu Farinaccios Werken und Rechtsauffassung siehe Oehler, Dietrich: Die Erweiterung der Strafgewalt im oberitalienischen Recht der zweiten Hälfte des Mittelalters, in: Seidl, Erwin (Hrsg.): Aktuelle Fragen aus modernem Recht und Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Rudolf Schmidt, Berlin 1966, S. 493-506. 987 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Petition des Johann Vahlen. 988 CCC, Art. 1. 232 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg lediglich behauptet werden, dass die Obrigkeit ihm genügend Kompetenz im Umgang mit dem crimen exceptum zusprach. 9.1.3 Schöffen Im Räderwerk des Justizapparates nahmen die Schöffen, die in der Carolina offenbar auch vrtheylsprecher 989 genannt werden, eine zentrale Position ein. Sie wurden als Zeugen und Rechtsberater, aber eben auch als Urteilssprecher in der Strafjustiz an die Seite des Richters gestellt 990 und konnten entscheidenden Einfluss auf das Verfahren nehmen. 991 Dieser personelle Aufbau des frühneuzeitlichen Lokalgerichts ist noch in Relikten dem mittelalterlichen Recht entlehnt. Bezeichnenderweise handelt es sich bei den fürstenbergischen Schöffen um keine Institutionsform des mittelalterlichen Schöffenstuhls, der eine feste Einrichtung im Gerichtswesen darstellte. Kennzeichnend für das lokale Amt war es, dass es sich sporadisch und nach Dringlichkeit der Fälle zusammensetzte. Aufgrund der konjunkturellen Verläufe der Hexenprozesswellen und kaum vorhandener Schwerkriminalität in Fürstenberg war dieses justizielle Strukturelement auch nicht nötig gewesen. Denn dem Richter oblag ja die autonome Rechtsprechung und Urteilsfindung in Bagatelldelikten. Gemäß des 84. Artikels der kaiserlichen Halsgerichtsordnung bildete erst das Schöffenkollegium die Grundlage eines recht besetzten Gerichts. Mit dieser Verordnung wurden gleich mehrere Ziele verfolgt: Mittels einer breiteren Zusammensetzung des Personals sollte eine höhere gegenseitige Kontrolldichte bezüglich der Einhaltung der juristischen Satzungen gewährleistet werden - ein zentraler Punkt, auf den im 83. Artikel CCC ausdrücklich hingewiesen wird. 992 Zweitens war mit den Schöffen, deren Anzahl sich mindestens auf vier Personen belief, 993 ein Kuratorium geschaffen worden, 989 Es ist dabei ungewiss, ob der Begriff vrtheylsprecher synonym für den Schöffen gebraucht wurde oder ob es sich hierbei um zwei verschiedene Ämter mit unterschiedlichen Funktionen handelte. Die Carolina gibt in diesem Fall wenig Aufschluss über die terminologischen Unterscheidungskriterien. Vgl. ebd., Art. 4. Auf dasselbe Problem einer strikten terminologischen Differenzierung weist auch Gerst: Hexenverfolgung als juristischer Prozess, S. 135 hin. 990 Ich N. schwere, daß ich soll vnd will inn peinlichen sachen, rechte vrtheyl geben, vnd richten dem armen als dem reichen, vnnd das nit lassen, weder durch lieb, leydt, miet, gab noch keyner andern sachen wegen. Vnnd sonderlich so will ich Keyser Karls des fünfften vnnd des heyligen Reichs peinlicher gerichts ordnung getrewlich geleben vnd nach meiner besten verstentnuß halten, vnnd handthaben, alles getrewlich und vngeuerlich, Also helff mir Gott vnd die heyligen Euangelia. CCC, Art. 4. 991 Zagolla, Robert: Folter und Hexenprozess. Die strafrechtliche Spruchpraxis der Juristenfakultät Rostock im 17. Jahrhundert (Hexenforschung, Bd. 11), Bielefeld 2007, S. 357. 992 Item inn allen peinlichen gerichtlichenn hänndeln sollen Richter vnd Schöffen diser vnser ordnung vnd satzung gegenwertig haben vnd darnach handeln, auch den partheien souil jnen zu jren sachen not ist, auff jr begern, diser vnser ordnung vnderrichtung geben, sich darnach wissen zu halten, also darmit sie durch vnwissenheyt derselbigen verkürtzt oder geuerdt werden, Man soll auch den partheien die artickel, so sie auß diser vnser ordnung nottürfftig sein, auff jr begern vmb leidlich belonung abschrifft geben. 993 Vgl. CCC, Art. 196. 9.1 Die personellen Konstellationen 233 das in Zweifelsfällen radts pfleg[t]e 994 . Damit sollte die rechtliche Kompetenz effizient gesteigert werden, wenn divergierende Ansichten ein neues Überdenken und Ausloten der vorliegenden Indizien erforderten. Die Verfasser der Carolina waren sich durchaus bewusst, dass eine Vielzahl der Artikel keinen festen Rahmen, sondern lediglich ein Orientierungsangebot im Strafverfahren darstellte. Diesen Interpretationsraum („Salvatorische Klausel“) mussten auch die Autoren aufgrund der territorialen Zersplitterung des Alten Reiches den lokalen Gerichten einräumen, wollten sie nicht eine ständige Situation örtlicher Normenkonflikte herbeiführen, die womöglich zu erheblichen Spannungen zwischen Ortsobrigkeit und Gemeinde geführt hätten. Von der Einleitung bis zur Hauptuntersuchung sollten die Schöffen die Funktion einer Zeugenschaft übernehmen und beim Verfahrensabschluss auf Grundlage der Indizien und des Geständnisses des Delinquenten als Urteilssprecher fungieren. 995 Im Rahmen der Prozessführung erfüllten die Schöffen noch eine weitere nicht unerhebliche Funktion: Die Eidschschwerer, wie sie 1631 genannt wurden, 996 mussten die erstellten Indizienkataloge auf ihre Richtigkeit vor der Befragung des Delinquenten bestätigen. Damit nahmen sie einen wesentlichen Einfluss auf das Prozessgeschehen, indem sie verdachtserhärtende Beweismaterialen bekräftigten oder entlastende Aspekte einräumten. Zudem leiteten die Schöffen wesentlich die Voruntersuchungen, zusammen mit den sogenannten Collectores 997 , die lediglich für diesen Prozesszeitraum ernannt wurden. Ob diese Collectores einen professionellen „Hexenausschuss“ zumindest für das Jahr 1631 bildeten, muss aufgrund der fragmentarischen Quellenlage offen bleiben. Bereits zu Beginn der Hexenverfolgung in Fürstenberg war eine breite Rezeption der Peinlichen Halsgerichtsordnung zumindest bezüglich der personellen Struktur erfolgt, die allerdings erst in der nächsten großen Verfolgungswelle 1630/ 31 den letzten professionellen Schliff erhalten sollte. Während in der ersten Verfolgungswelle vier vrtheildreger unabhängig voneinander genannt werden, waren es in den folgenden Jahren sieben bis acht Personen, die zusammen ein Gremium bildeten - eine Verfahrenspraxis, die bis zu den letzten Prozessen (1703) beibehalten wurde. Entgegen 994 Vgl. CCC, Art. 88. 995 Artikel 91 CCC: [...] so soll der Richter die zwen geordenten schöpffen, so mit jm solche verleßne vrgicht vnnd bekanntnuß gehort haben auff jr eyde fragen, ob sie die verlesen vrgicht gehort haben, Vnd so sie jha darzu sagen, so soll der richter jn alwegen bei dem rechtuerstendigen oder sunst an orten vnnd enden, als hernachmals angezeygt radts pflegen, vnnd nach dem solche zwen schöffen inn disem fall nit als zeugen, sonder als mit Richter handeln [...]. 996 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Responsiones der Ursula Goten am 26.06.1631. 997 Die Collectores, namentlich Johann Rinsche, Caspar Nolte, Henrich Droppel, Johann Koch, Tönnies Fabel und Cort Dröppel mussten dem Kommissar den Eid leisten alle möglichen Anzeigungen vorzubringen. Sie schworen bei Gott und seiner hl. Schrift Niemandt zu leb: auch zu leidt etwaß [zu] verschweigen noch Vnderschlagen[,] wider aller verdechtigen bösen Hexen argwohn[,] daß gemein gerücht[,] deren besagungh[,] bösen herkommens verflucht, verwißens vndt nicht verthettigungh[,] insonderheit Gott allmechtigen Zur ehre vnd den gemeinen stützen Zum besten Ime Comm. vff Richtigh erdencken vnd Ihmen Informiren, sonsten aber davon niemanden nichts daß aller gerüchte offenbahren, sondern gantz verschwigen halten wollen, so gewiß vnd wahr, helffe Vnß Gott vnd sein heiliges Evangelium. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Eid der Collectores am 07.05.1631. 234 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg den gängigen Verfahrensmodi in den jüngeren Hexenprozessen sollten zu Beginn der lokalen Hexenverfolgungen die vier Schöffen nicht gemeinsam das Urteil beschließen, sondern lediglich ein vrtheildreger. Die Gründe für diese Verfahrensweise sind unbekannt. Das Schöffenamt konnte innerhalb einer Familie weitervererbt werden. Um diese familiäre Politik visuell darstellen zu können, seien die Namen der einzelnen Schöffen tabellarisch aufgeführt (siehe Tabelle 9.2 auf der nächsten Seite). Die unterschiedlichen Farbhinterlegungen verdeutlichen dabei die Familienzugehörigkeit. 9.1 Die personellen Konstellationen 235 Tabelle 9.2: Übersicht über die in Hexenprozessen eingesetzten Schöffen 998 Schöffen Prozesszeitraum Goert Koecken 1601 Friedrich Schmett 1601 Meineke Schimpf 1601 Hans Vedekeins 1601 Ebert Neuhaus (Niggehaus) 1631 Herman Papen 1631 Tönnies Blinden 1 1631 Hans Walter 1631 Hans Reuters 1631 Johannes Snere 1631 Johann Stüwer 1631 Johann Vahlen 1 1657 Dietherich Österwalt 1657/ 58 Jacob Blinden 1 1658-1662 Henrich Stüwer 1658/ 59 Ludowig Dröppel 1658/ 59 Herman Papen 1658/ 59 Levin Thelen 1658-1662 Johann Papen 1659 Johann Voetländer 1659 Henrich Neukirch 1 1659 Levin Blinden 1 1700-1702 Elmerhauß Sauren 1 1700 Elmerhauß Wolf 1702 Friedrich Vahlen 1 2 1702 Johann Bernd Balve 1702 Henrich Goßen 1702 Legende: 1 Diese Personen stammten aus Familien, in denen zumindest ein Familienmitglied im Richteramt tätig war. 2 Es muss sich hierbei um einen direkten oder nahen Verwandten des am 23.11.1700 hingerichteten Friedrich Vahlen handeln. 998 In der Visualisierung sind bewusst die Schöffen in den Hexenprozessen von 1686/ 87 und in den Einzelverfahren von 1660, 1667, 1671 und 1681 ausgelassen worden, weil diese Prozessakten entweder gänzlich verschollen oder nur fragmentarisch erhalten geblieben sind. In dem von Rautert wiedergegebenen Prozess gegen Elsche Budden wurden die Namen der einzelnen Prozessbeteiligten anonymisiert. 236 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Auf ein weiteres Detail bezüglich der Schöffen sei noch an dieser Stelle aufmerksam gemacht: Die Zugehörigkeit zum Schöffengremium schützte die Amtsträger nicht davor, in den Strudel der Hexereibezichtigungen zu geraten. Die vermeintlichen Hexen und Hexer scheuten nicht davor zurück, die Frauen und Töchter der Schöffen mittels einer Denunziation zu diskreditieren: So denunzierten sie beispielsweise 1601 die Frau von Meineke Schimpf, die Theeksche und Goert Koeckens Frau Ursula als Hexen. Letztere wurde sogar am 3. Juli 1631 als solche hingerichtet. 999 Im Jahr 1631 wurden Heinrich Papens Trine, Tönnies Blinden Frau und Hans Walters Clara beschuldigt, am Hexensabbat teilgenommen zu haben. Meineke Brielohns Frau Trine behauptete sogar, der Tanzplatz befinde sich hinter Tönnies Blindens Haus. 1000 Lediglich ein Fall ist aus dem Aktenkonvolut bekannt, in dem ein Schöffen selbst im Fokus der Verfolgungsabsichten stand: nämlich das bereits vorgestellte Deüffelskind Johann Vahlen. 1001 9.1.4 Hexenkommissare Obwohl die Hexenkommissare idealiter den Platz eines unparteiischen Rechtsgelehrten einnehmen sollten und damit lediglich eine Beraterfunktion für die jeweilige örtliche Hexenjustiz im Umgang mit dem crimen maleficarum hatten, seien sie realiter die eigentlichen „Drahtzieher“ und „Katalysatoren“ in den Hexenprozessen gewesen - so lautet das gängige Urteil in der einschlägigen Forschungsliteratur. 1002 Die Hexenkommissare hätten die Richter und Schöffen aus ihren Aufgabenbereichen verdrängt und ihnen somit eine „Statistenrolle“ 1003 zukommen lassen. Getrieben von ihrer teils „fanatischen Verfolgungstätigkeit“ 1004 und der Aussicht, sich durch die Hexenprozesse zu bereichern, seien einige von ihnen zu „zweifelhaftem Ruhm“ 1005 gelangt. Als die Bekanntesten von ihnen gelten in der westfälischen Landesgeschichte Heinrich von Schultheiß, Kaspar Reinhard, Jobst Hoxar und Franz Buirmann. 1006 999 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1000 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 10.07.1631. 1001 Siehe hierzu Kapitel 11.1.2. 1002 Vgl. Gawlich, Tanja: Der Hexenkommissar Heinrich von Schultheiß und die Hexenverfolgung im Herzogtum Westfalen, in: Klueting, Harm (Hrsg.): Das Herzogtum Westfalen. Band 1: Das kurkölnische Herzogtum Westfalen von den Anfängen der kölnischen Herrschaft im südlichen Westfalen bis zur Säkularisation 1803, Münster 2009, S. 297-320, hier S. 310. Zu Heinrich von Schultheiß siehe Heuser, Peter Arnold/ Decker, Rainer: Die theologische Fakultät der Universität Köln und die Hexenverfolgung. Die Hexenprozess-Instruktion (1634) des Arnsberger Juristen Dr. Heinrich von Schultheiß im Spiegel eines Fakultätsgutachtens von 1643, in: Westfälische Zeitschrift - Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 164 (2014), S. 171-219. Ebenso Decker, Rainer: Der Hexen-Richter Dr. Heinrich von Schultheiß (ca. 1580-1646) aus Scharmede, in: Grothmann, Detlef (Hrsg.): 750 Jahre Stadt Salzkotten. Geschichte einer westfälischen Stadt, Bd. 2, Paderborn 1996, S. 1045-1060. 1003 Ders.: Die Hexenverfolgungen im Herzogtum Westfalen, in: Westfälische Zeitschrift - Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 131/ 132 (1981/ 82), S. 339-386, hier S. 358. 1004 Gawlich: Hexenkommissar, S. 305. 1005 Ebd. 1006 Vgl. Schormann: Krieg gegen die Hexen, S. 69-83. 9.1 Die personellen Konstellationen 237 Die Mehrheit der Hexengelehrten hätten jedoch „recht unauffällig operiert“ 1007 , sodass ihnen der heutige Bekanntheitsgrad der oben genannten Kollegen nicht zuteil geworden sei. Unterm Strich seien sie durchaus mit einem „Vernichtungsapparat“ 1008 vergleichbar und hätten erheblich zu den Massenverfolgungen der vermeintlichen Hexen beigetragen. 1009 Sadismus und Inhumanität sind die Schlagworte, die gemeinhin die zeitgenössischen Hexenkommissare charakterisieren - sowohl in der seriösen Geschichtswissenschaft 1010 als auch in populärwissenschaftlichen Beiträgen. 1011 Aufgrund dieser Auffassungen und der ihnen zugeschriebenen Schlüsselfunktion bei der Verfolgung von Hexen und Hexern besteht der dringende Bedarf, die Rolle der „furchtbaren Juristen“ 1012 für diesen Untersuchungsraum zu überprüfen. 1013 Freilich ist bei der Untersuchung von personellen Verhaltensmustern stets das Moment des subjektiven und situativ bedingten Ermessens zu berücksichtigen, um zu differenzierten Schlüssen zu gelangen. Dazu wäre eine dichte Quellenüberlieferung über den gesamten Prozesszeitraum nötig, die jedoch für diesen Analyserahmen nicht gegeben ist. Um dennoch grundlegende Muster herausarbeiten zu können, basiert diese Studie in erster Linie auf dem gut dokumentierten Beispiel der Rüthener Hexenkommissare Dr. iur. Antonius Bergh († 1702) 1014 und Dr. iur. Wilhelm Steinfurt (um ∗ 1610, 1007 Hier Gawlich: Hexenkommissar, S. 305 beruhend auf Schormann: Krieg gegen die Hexen, S. 77. 1008 Gerhard Schormann leitet sein Kapitel über die Hexenkommissare mit der Überschrift „Vernichtungsapparat“ ein, ebd. Für kritische Anmerkungen siehe hierzu Becker: Hexenverfolgung in Kurköln. 1009 Decker: Westfalen, S. 358. 1010 Siehe hierzu den Aufsatz von Heuser, Peter Arnold: Juristen in kurkölnischen Hexenprozessen der Frühen Neuzeit. Studien zu Konsultation und Kommission im peinlichen Strafprozess, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 81 (2017), S. 61-117. 1011 Kolhagen, Julia: Hexenkommissar: Wie „hungrige Mücke“ auf Opfer gestürzt, 2012, url: https: / / www.rundschau-online.de/ hexenkommissar-wie--hungrige-muecke--auf-opfer-gestuerzt- 10230628 (Zugriff am 28. 07. 2017). 1012 Irsigler: Hexenverfolgungen, S. 10. 1013 Die erste nachweisliche Inanspruchnahme der Dienste eines Hexenkommissars (Georg Brüggemann) ist für die Jahre 1630/ 31 belegt. Für die erste Prozesswelle im Jahr 1601 liegt kein Zeugnis vor, dass ein auswärtiger Jurist als Berater hinzugezogen worden wäre. Dabei wäre unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich um die erste Prozesszeit gegen die Hexen in der fürstenbergischen Gemeinde handelte, die Hinzuziehung einer zusätzlichen Expertenmeinung vor Ort sowie dessen praktische Hilfe im prozessualen Umgang mit den „Unholden“ sicherlich begründet gewesen. Dennoch schweigen die Quellen darüber und zweifelsfreie Aussagen können über diesen Zeitraum nicht getroffen werden. Gerhard Schormann beobachtet in den Aktenbeständen ebenfalls diesen Prozess der Professionalisierung. Nach seinen Angaben wurden Hexenkommissare als Rechtsberater für Richter und Schöffen ab 1627 eingesetzt und seitdem stetig vorangetrieben. Schormann: Krieg gegen die Hexen, S. 68. 1014 Antonius Bergh war gleichzeitig auch Richter zu Rüthen. Er führte seit den frühen 1650er-Jahren zahlreiche Kommissionen in Hexenprozessen des kurkölnischen Herzogtums Westfalen und des Fürstbistums Paderborn. Siehe hierzu Heuser, Peter Arnold: Die kurkölnische Hexenprozessordnung von 1607 und die Kostenordnung von 1628. Studien zur kurkölnischen Hexenordnung, Teil II (Verbreitung und Rezeption), in: Westfälische Zeitschrift - Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 165 (2015), S. 181-256, hier S. 218. 238 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg um † 1692). In diesem Abschnitt soll zunächst die Frage im Mittelpunkt stehen, welchen Spielraum die Ortsobrigkeit den Hexenkommissaren gewährte. Bevor auf das Tätigkeitsfeld der in Fürstenberg konsultierten Doktoren näher eingegangen werden soll, 1015 gilt es, die ihnen grundlegend zugewiesene Position im Prozessverfahren gegen die „Unholde“ aufzuzeigen: Wie bereits an anderer Stelle betont wurde, 1016 waren die Herren von Westphalen die uneingeschränkten Träger der fürstenbergischen Jurisdiktion. Die Wahrung dieses Hoheitsrechts wurde durch die Schöffen und zeitweise den Richter gewährleistet, indem sie die einzelnen Schritte der Hexenkommissare während des gesamten Prozessgeschehens kontrollierten. Keine Befragungen, weder der Zeugen noch Delinquenten, Foltersituationen oder Urteilsverkündigungen durften ohne Anwesenheit von zwei bis drei Schöffen durchgeführt werden. Dass durchaus eine interne Hierarchie in der lokalen Hexenjustiz bestand, deren Reihenfolge auch den Aktionsradius der jeweiligen Prozessbeteiligten widerspiegelt, kommt dabei eindrucksvoll im Libellus zum Ausdruck: Zuerst wurden der Richter, schließlich die Schöffen und zuletzt die Hexenkommissare erwähnt. Dass es sich hierbei nicht nur um eine „sprachliche Fiktion“ 1017 handelt, sondern de facto das Selbstverständnis der Ortsobrigkeit und des Gerichtspersonals zum Ausdruck kommt, belegt ein weiteres Dokument. In einer Kundgebung von 1658 teilten die Herren von Westphalen den Dorfbewohnern unmissverständlich mit, dass die Doctores die Adelsfamilie vor Geist vndt weltlicher Obrigkeit vnserer zustehender Jurisdiction vndt deßen Rechtmeßigen Execution halber vertretten [...] 1018 . Mit dieser Formulierung war nicht etwa eine vollständige Übertragung der adeligen Hoheitsrechte auf die Hexengelehrten gemeint. Im Gegenteil: Ihnen wurde lediglich gestattet, die lokale Rechtsprechung beim Hexenverbrechen im Sinne der westphälischen Junker zu führen. 1015 Auf eine biografische Darstellung der einzelnen Doktoren wird weitestgehend in diesem Abschnitt verzichtet, weil das untersuchte Quellenmaterial, aber auch andere hinzugezogene allgemeine Nachschlagewerke nur wenig Auskunft über ihren persönlichen und beruflichen Werdegang liefern. Einige karge Informationen über deren Wohnort und weitere Tätigkeitsräume sind in den Dokumenten überliefert. Über den ersten eingestellten Kommissar Georg Brüggemann (1631) ist bekannt, dass er seinen Wohnsitz später in Brilon hatte, wie aus einer Klageschrift seiner Erben hervorgeht. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., untertänige Bitte von Hermann Nüte, Henrich Schweins, Henrich Köster und Meineke Schweins hinterbliebenen Kindern, undatiert. Die dritte Prozesswelle wurde von den Rechtsgelehrten Antonius Bergh und Wilhelm Steinfurt geleitet, die aus Rüthen stammten. Siehe hierzu Decker: Westfalen und Heuser/ Decker: Hexenprozess-Instruktion. Hinsichtlich Antonius Bergh sind zusätzlich seine Nachfahren bekannt sowie die Anzahl der durch ihn verurteilten Hexen in Rüthen. Vgl. Plassmann, Clemens: Mein lieber Franz! Briefe an einen westfälischen Studenten 1796-1799. Ein familiengeschichtlicher Versuch, Münster 1956, S. 184 f. Der letzte bekannte Hexenkommissar in Fürstenberg leitete die Hexenprozesse von 1700 bis 1703. Es handelt sich hierbei um Doktor Johann Poelmann aus Werl. Siehe hierzu Falke: Kapuzinerkloster, S. 36. 1016 Siehe hierzu das Kapitel 9.1.1. 1017 Schormann: Krieg gegen die Hexen, S. 75. 1018 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Kundgebung am 18.06.1658. 9.1 Die personellen Konstellationen 239 Dieses Rollenverständnis wird noch an anderen Stellen deutlich: So wurden beispielsweise persönliche Haus- und Gefängnisbesuche vom Richter selbst durchgeführt. 1019 Ebenso fanden die Voruntersuchungen sowie Urteilsverkündigungen im Haus des Richters statt. Unzweifelhaft handelt es sich bei diesen Prozessabläufen nicht nur um pragmatisch orientierte Handlungen. Sie waren ebenso als symbolische Demonstration gedacht, wem die eigentliche Rechtsprechung oblag; ein taktischer Vorgang, der auch nötig war, wollten die lokalen Gerichtsbeamten ihre Autorität nicht in den Augen der Gemeindemitglieder verlieren oder zu unfähigen Laien degradiert werden. Denn die Hexenkommissare konnten sowohl zeitlich als auch wegen zusätzlicher paralleler Tätigkeiten in anderen Regionen nicht bei jedem Hexenprozess in Fürstenberg anwesend sein. Zudem machte die kalte Witterung eine Anreise der Doktoren teilweise unmöglich. Die Hexengelehrten, die zu Pferd anreisten, konnten zur Winterszeit nur schwerlich die stark verschneiten Wege nach Fürstenberg passieren, ohne sich selbst einer Gefahr auszusetzen. Zusätzlich waren die Rechtsgelehrten häufig arbeitsmäßig überlastet, weil sie teilweise mehrere Aufträge gleichzeitig angenommen hatten und folglich zwischen den verschiedenen Verfolgungsorten „pendeln“ mussten. Je nach Verfolgungskonjunktur schätzten die Doktoren auch aus ökonomischen Gründen ab, welcher Verfolgungsort und vor allem welche hoheitliche oder adelsherrliche Persönlichkeit sie dringlicher brauchte. Denn die „prominenten“ Gerichtsherren boten den Hexenkommissaren die Chance, ihr eigenes Prestige zu steigern. War die Nachfrage ab einem gewissen Zeitpunkt besonders hoch, konnten die Rüthener Hexenkommissare die westphälische Ortsobrigkeit durchaus in eine Zwangslage bringen; insbesondere, wenn noch Gelder wegen bereits erfolgter Leistungen ausstanden - eine Situation, die sich so 1659 in Fürstenberg abspielte. Während 1658 die beiden Rechtsgelehrten Wilhelm Steinfurt und Antonius Bergh den lokalen Gerichtsbeamten als externe Rechtsberater zur Seite standen, konnte im Frühling 1659 nur noch Antonius Bergh seine Dienste dem Adelsgeschlecht anbieten - offenbar zum Unwillen der Herren von Westphalen, da wegen noch offener Schulden zwischen Kommissar Bergh und den Adelsherren Spannungen herrschten. Antonius Bergh war sich jedoch der Notlage der Herren von Westphalen bewusst, die es als dringend erachteten, das grassierende Hexenlaster auszurotten. 1020 So konnte er ihnen mit der Aufkündigung seiner Tätigkeit drohen, 1019 So bat am 23.06.1658 Engel Hinte ausdrücklich den Richter, zu ihr ins Gefängnis zu kommen. Im Fall der Margaretha Vahlen besuchte der Richter Johann Sauren die Berüchtigte in ihrem Haus, um sie persönlich über ihre mala fama zu unterrichten und zu befragen. Das Gespräch fand in ihrer Küche statt. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Inditionalen gegen Margaretha Vahlen vulgo Brielohn. 1020 Als 1657 eine regelrechte „Hexenseuche“ in Fürstenberg ausbrach und die Beweislage den landesherrlichen Doktoren des ThumbCapittuls Syndico Fürstl. Paderbörnischen Hoffgerichts[,] HoffRichter vndt Assessoren Victor Warnesius, Laurentius Koch sowie Friedrich Welterman vorgelegt worden war, die die Einleitung der Tortur für nötig erachten, beauftragten die Herren von Westphalen den hiesigen Richter mit der Aufgabe, einen passenden Juristen für diese Dienste zu finden. Eine erste Anfrage bei Dr. Conrad Rose aus Lippstadt wurde abgelehnt. Auch die zweite bei Dr. Justus Bilstein aus Korbach verlief erfolglos, obwohl er sich zur heilsamen 240 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg wenn sie auf Wilhelm Steinfurt als alleinigen Berater beharren sollten. In einer Replik vom 19. Mai 1659 schrieb Bergh an den fürstenbergischen Richter Johann Sauren: Sollten die Herren von Westphalen lieber Wilhelm Steinfurt als Juristen gebrauchen lassen wollen, so geschehe dies nur, wenn er Zeit habe, denn schenet[,] dz Er mehr lust habe[,] diesen Process im sauerlandt, alß im stifft Paderborn[,] abzuwartten, worzu meiner ort gantz nicht geeignet, [...] will auch zweiffeln vndt nicht glauben, daß Er sich dessen ohne mein zuthuen allein vnternehmen, sondern viellmehr, auff meine verweigerung auch entschlagen, vndt also desto ehender der Fürstenbergische Process seinen Vortgang gewinnen werde, wan zu dem [der] allmechtige gott seinen gnädigen segen geben vndt allerseits biß dahin gefristen wöllen 1021 . Die „Notsituation“ der Junker gereichte ihm zum Vorteil, sodass die Ortsobrigkeit beschloss, beide Doktoren bis 1662 in Hexenangelegenheiten zu konsultieren. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt, der zum einen die stetige Anwesenheit eines externen Rechtsgelehrten bei den Hexenprozessen unmöglich machte, war der immense Kostenfaktor. Die Kommissare erhielten pro geleisteten Dienst zwei Reichstaler, d. h., die Anreise, die Zeugenbefragung, die Aufsetzung der Inditionalen und/ oder Interrogatoria, die mehrtägigen Befragungen der Delinquenten und die Verkündigung des Halsgerichts wurden in Rechnung gestellt. Dabei konnte ein Kommissar - je nach Prozesszeitraum - bis zu 30 Reichstaler pro Prozess verdienen, wie die minutiös aufgeführten Kostenveranschlagungen belegen. 1022 Allerdings beschränkten sich die finanziellen Ausgaben nicht nur auf ihren Aufgabenbereich: Einen Großteil der Gesamtkosten verursachten der ihnen zugesicherte Begleitschutz, ihre Beherbergung sowie Verköstigung mitsamt ihren Dienern und Pferden. 1023 Die Zehrkosten konnten sich dabei im Durchschnitt auf ein Minimum von 10 Reichstalern und ein Maximum von 31 Reichstalern belaufen. 1024 In Anbetracht Justitz diener zu sein erachte, vnd sonderlich zur ausrottung deß Hexenlasterß [s]einen fleiß erbiete. So könne er doch zeitlich und wegen gräfliche[r] vberheufte[r] dienste seine Fähigkeiten als Kommissar nicht für die fürstenbergischen Angelegenheiten anbieten; alß werden meine hochgeehrte herren mich deßwegen entschuldiget halten, daß [Ihr] begehren für dißmahl nicht deferiren kan. Er stehe aber gerne mit schriftlich[em] raht den Herren von Westphalen zur Seite. Die Suche nach einem zeitlich verfügbaren Doktor sollte über Wochen dauern. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Briefwechsel der Herren von Westphalen an die genannten Doktoren und dem Richter Johann Sauren, März bis Mai 1658. 1021 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1022 Der Verfolgungszeitraum von 1658 bis 1659 ist am ausführlichsten über die verursachten Prozesskosten dokumentiert. 1023 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief an Conrad Rosen vom 10.05.1658. So heißt es in der Kundgebung vom 18.06.1658, die zugleich eine Verkündigung der Vertragskonditionen darstellte: Wollen auch Jedem alle tage eine ducat Neben deren diener vndt Pferde nötig verpfleg: vndt besoldung von Zeit vndt tag [...] inclusive angerechnet, danckbarlich schaffen Laßen [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1024 Siehe hierzu Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Summa der Gesamtkosten im Fall Zenzing Buschmann und im Fall Agatha Brielohn. Im Jahr 1631 soll der Kommissar Georg Brüggemann bei Anton Blinden Speisen und Getränke in Höhe von 80 Reichstalern verzehrt haben. Ob es 9.1 Die personellen Konstellationen 241 dieser immensen Kosten verwundert es, dass die Ortsobrigkeit nicht darauf bedacht war, die in Anspruch genommene Tätigkeit der Juristen 1025 möglichst kurz zu halten: Trotz der erheblichen monetären Ausgaben belief sich im Schnitt ein Strafverfahren auf zwei bis vier Wochen. 1026 Statt eines persönlichen Dienstes vor Ort griff man zeitweise auf eine Korrespondenz zurück, die kostengünstiger war. 1027 Häufig konnten die Herren von Westphalen die Hexenkommissare erst spät für ihre Dienstleistungen auszahlen, weil einerseits die Gesamtsumme der Prozessausgaben sehr hoch war und andererseits die Hinterbliebenen der hingerichteten Personen ihren Kostenanteil noch nicht beglichen hatten. So beschwerte sich beispielsweise am 16. September 1631 der Rechtsgelehrte Georg Brüggemann bei dem Samtrichter Henrich Neukirch, dass seine Kosten noch nicht vollends gedeckt worden seien. Mit Bedauern antwortete Neukirch, [...] daß ob ich zwarn nicht lieber sehen, alß denn[,] daß ihm bei zeigern [sc. Zeiten] sein nohtwendigs salarium hette der gepühr eingeschieckt werden muegen. So sei doch godt mein zeuge, solches von den Justificirten vff zubringen ohnmüglich. vnndt ob ich woll die rechts offereten vmb etwaß behuiff der vnkosten auß zuleggen anstrengen wollen[,] so berufen sie sich doch darauff, daß ihre gelarten ihnen verbotten[,] daß sie[,] biß die sache ihre entschafft erreicht[,] zu der vnkosten nichtß außleggen sollen 1028 . Selbst Jahre später sollte der Rechtsgelehrte noch auf die Bezahlung seines Gehaltes warten und die Angehörigen wegen rückständiger Kosten aufsuchen. 1029 Des Öfteren waren es sogar die Herren von Westphalen, die noch die Schulden der Hinterbliebenen übernahmen - sehr zum Verdruss des Richters Henrich Neukirch. Er schrieb an die Hexenkommissare, dass von den Hingerichteten sicherlich mehr zu erzwingen sich hierbei um die gesamte Beköstigungszeit handelt oder nur einen gewissen Zeitabschnitt, geht aus der Rechnung nicht hervor. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Henrich Neukirch an den Landdrosten Wilhelm von Westphalen am 15.05.1651. 1025 Im Gegensatz zur Kundgebung erhielten die Kommissare nicht einen, sondern zwei Reichstaler für ihre Mühen. 1026 Diese zeitliche Angabe kann lediglich für den Prozesszeitraum von 1631 und 1658/ 59 gemacht werden, da für die übrigen Verfolgungsperioden nur Fragmente erhalten geblieben sind. 1027 Statt zwei Reichstaler wurde hierfür nur einer berechnet. 1028 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1029 So wendeten sich die hinterbliebenen Kinder von Hermann Nüte, Henrich Schweins, Meinike Köster und Meinike Schweins an die Ortsobrigkeit und zeigten an, dass wir Zu ablösunge der protocollen, welche noch bei den Erben von Kommissar Georg Brüggeman aus Brilon wegen reducirten deputats vorliegen, 20 Rthlr. aufbringen und bezahlen sollen, weil leider bey damahls inquisition veneficiae pravitatis die vnserige hingerichtet sein. Dabei hätten sie doch wie andere Personen vnnd ein Jeder Sygillatim 40 Rthlr. haupt für haupt dem damaligen amtierenden Samtrichter Henrich Neukirch zu abzahlung so woll Commisarius alß auch deßen beygeordneten Gerichtß Genoßen liefern müßen. Dennoch würden sich die Gerichtgenossen und der Kommissar beklagen, nichts erhalten zu haben. Wan vnß dan ein solches keine billigkeit auffdringen kan, sonderlich da der damahliger Richter Neukirchen einem Jeden seine quoten zugerechnet, die Er sich auch seiner bekändtnuß nach von Vnß zur genüge bezahlen laßen; so wollen wir nicht verhoffen, daß vnß solches allein vnnd die 20 Rthlr. auffzubringen aufferlegt werden könne oder möge. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 242 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg gewesen [wäre], würden sie auß Hr. Gestr. eigenen [...] Riesen zuschuß nicht gethaen haben 1030 . Aufgrund der hohen Prozesskosten, die die Herren von Westphalen zu tragen hatten, ist auch der spätere Vorwurf, sie hätten die Hexenprozesse lediglich geführt, um ihren eigenen Geldbeutel zu füllen, nicht haltbar. 1031 Inwieweit diese Behauptung auf die Kommissare zutrifft, kann nicht beantwortet werden. Denn die Bezahlung bildete stets einen neuralgischen Punkt zwischen den externen Rechtsexperten und den Edeljunkern. So schrieben am 26. Juni 1659 die vnterthenige[n] diener Johann Sauren, Johann Blinden und Christoph Hibigen an die Ortsobrigkeit: Erßtens müssen hirmit vnterthenig berichten, daß Nunmehr die beiden Doctores Steinfurt und Berg alhier zur stelle, einen bekanten Zauber[er] sitzen haben, vnd noch zwei einziehen laßen, waß nun vnmöglich bei diesen geltlosen Zeiten von den leuten die parate gelder zu erpreßen, Gleichwol die gelerte ihr gelt haben wöllen, für Wehr vnd andere sachen[,] auch so palt kein gelt zu machen, damit dan der process continuiert, Gottes ehr dadurch befördert, vnd die iustitz ergehen möchte, so haben wir vnß verbürgen müßen, E. Gestr. vnterthenig zu bitten, die wollen zu diesem Gott wolgefelligen Werck vnß ein wochen oder sechs einige 40. oder 50. Rthlr. vorsetzen, biß man auß der hingerichteten güter die gelder widermachet [...]. 1032 Kehrt man zu der Eingangsfrage zurück, ob die Hexenkommissare die eigentlichen „Herren“ in den Hexenprozessen gewesen sind, so ist dies auf Basis des ihnen von der Ortsobrigkeit zugewiesenen Rechts- und Handlungsstatus zu verneinen. Sowohl die Adelsherren als auch die lokalen Gerichtsbeamten waren sichtlich bemüht, ihre Autorität und Autonomie zu demonstrieren und zu wahren. Eine Verdrängung in eine „Statistenrolle“ 1033 ist auf justizieller Ebene daher nicht zu beobachten. Verlagert man jedoch den Blickwinkel auf die Ebene der Dorfbewohner, Angehörigen und Delinquenten, eröffnet sich eine andere Perspektive. Denn diesen war durchaus bewusst, dass die Rechtsgelehrten aufgrund ihres Fachwissens wesentlich den Prozessverlauf beeinflussen und lenken konnten: Wie bereits an anderer Stelle vermerkt, setzten die Kommissare sowohl die Interrogatoria für die Zeugen als auch die Inditionalen für die verdächtigten Personen auf, d. h., sie entschieden nach Auswertung der Beweissammlung, was als starcke Indizien eingestuft werden konnte und ob diese für die Einleitung einer juristischen Untersuchung ausreichten. 1034 Ebenso 1030 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1031 PfA Fü., A 1, Urkunden und alte Akten, unfol., Notiz des Kaplans Meinolf Blinden (∗ 1736, † 1816) über die in die Gemeinde eingeführte Blutsvikarie, um 1800. Siehe hierzu auch Decker: Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn, S. 351. 1032 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 26.06.1659. 1033 Decker: Westfalen, S. 358. 1034 So ist in einem Brief von Johann Sauren an den Kommissar Antonius Bergh zu lesen, dass er ihm die von den Schöffen gesammelten Indizien übersende, um solche zu erwegen vndt neben deren Hr. collega Doctore Steinfurt, zu wiegen, zu examinieren vndt ferner [...] anhero zu senden. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 21.05.1659. 9.1 Die personellen Konstellationen 243 fiel es in ihren Entscheidungsbereich, die Denunziationen auszuwerten und gegebenenfalls - je nach Tatverdacht -, weitere Hexereiverfahren einzuleiten. 1035 Weiterhin zählte es zu ihren Tätigkeiten, auf Grundlage der Indizien und Responsiones der Delinquenten die Einleitung der Tortur zu beschließen, wenn diese sich durch ihre Antworten nicht von dem Verdacht der Hexerei purgieren konnten. Schließlich waren es auch die Kommissare, die die Inquisiten ermahnten, vor, während und nach der Folter die Wahrheit zu bekennen, nichts zu verschweigen und Gott die Ehre zu geben. Ihre zentrale Rolle bei der justiziellen Entscheidung, ob ein Verfahren eingeleitet oder eingestellt werden sollte, machte sie in den Augen der Delinquenten zwangsläufig zu einer hohen Autoritätsperson mit erheblichem Beeinflussungspotenzial. Aus diesen Gründen richteten auch einige Angeklagte bzw. deren Familienangehörige ihre Defensions- und Submissionsschriften an die professionellen Juristen. Ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Fall liefert der Prozess gegen die Beckersche. Ihr Mann Henrich Vahlen suchte mehrfach sowohl die Herren von Westphalen als auch den Kommissar Antonius Bergh auf, um für die Entlassung seiner Frau aus dem Gefängnis zu bitten. Obwohl der Jurist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Fürstenberg weilte und die Hexenprozesse größtenteils abgeschlossen waren, wendete sich Henrich Vahlen flehentlich an ihn, damit dieser die Adelsherren dahingehend bewege. Antonius Bergh kam dem Wunsch des Ehemanns nach und schrieb einen respektvollen Brief an die Herren von Westphalen mit den Worten: Ob mir nuhn zwahrn nicht anstehen will für dergleichen leuthe, absonderlich gegen vnser abgefastes Vhrteill ein anders zu suchen[,] die weill demnach diese gratia nicht bey mir[,] sondern bey Ew. hochEdel. Sembtlich stehet [...]; so habe meines orts wol zu leiden, dz die Vhrteill in so weit auß sonderlicher gnadt gemiltert vndt Ihme erlaubt werde, sein weib in favorem seiner kinder ausser landts vndt so weidt abzuführen, damit sich deßwegen keiner zu befahren haben möchte [...]. 1036 Auch an dieser Stelle wird die hierarchische Ordnung der lokalen Hexenjustiz deutlich: Der Hexenkommissar wagte es nicht, ohne die Zustimmung der Herren von Westphalen einen Gerichtsbeschluss zu erstellen. Das Handeln von Antonius Bergh, der sich für die Unschuld einer vermeintlichen Delinquentin einsetzte, räumt zusätzlich mit den bisherigen Klischees auf, die gemeinhin mit den zeitgenössischen Rechtsgelehrten assoziiert werden. 1035 Eine Notiz des Georg Brüggemann belegt, dass er die Denunziationen systematisch durchzählte und eine Art „Personenverzeichnis“ mit der entsprechenden Anzahl an Besagungen anlegte. Es ist allerdings zu betonen, dass die Quantität offenbar nicht das ausschlaggebende Kriterium war, ab wann gegen eine Person ein Hexenprozess eröffnet wurde. Meinike Dröppel und Bories Nüthen wurde im gesamten Prozesszeitraum insgesamt viermal denunziert, ohne dass gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet worden wäre. Bei Elsche Vogels hingegen reichte die einmalige Nennung ihres Namens, damit ein Prozess eröffnet wurde. Johann Grothen, Nachfahre aus einem berühmten Hexengeschlecht, wurde zweimal als Hexenanhänger besagt - auch hier erfolgten keine rechtlichen Konsequenzen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierte Notiz, ca. Juni 1631. 1036 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Brief des Antonius Bergh, ca. Oktober 1659. 244 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg 9.1.5 Gerichtsschreiber Den zeitgenössischen Gerichtsschreibern, deren Tätigkeit in der schriftlichen Fixierung des gesprochenen Wortes in Verhörsituationen bestand, wird in der Hexenforschung eine tragende Rolle zugesprochen. Denn ihr „Produkt“, die Hexenprozessakten, konnte den Verlauf eines inquisitorischen Strafprozesses gegen die „Unholde“ entscheidend zum Vorteil oder Nachteil der Delinquenten beeinflussen, wie die Arbeit von Elvira Topalovic belegt. 1037 In diesem Analyseschritt soll jedoch nicht die historische Debatte um die konstruierte Wirklichkeit sowie die methodische Verwertbarkeit von Gerichtsprotokollen erneut aufgegriffen werden, die im quellenkritischen Teil dieser Studie eingehend gewürdigt wurde (siehe Kapitel 3). Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht der biografische Hintergrund der lokalen scribae jurati sowie ihr weiterer Aufgabenbereich im Hexenprozess, der sich nicht auf die bloße Protokollierung reduziert. Namentlich lassen sich in den Gerichtsakten für den Zeitraum der Verfolgungen folgende Gerichtsschreiber erfassen: 1038 Tabelle 9.3: Übersicht einzelner fürstenbergischer Gerichtsschreiber von 1601 bis 1703 Name Jahr Heinrich Tonsor nwsl. 1601 Johann Nübel nwsl. 1631 Christoph Hibigen nwsl. 1653-1676 Matthias Wolff 1039 nwsl. 1700-? Für einen Großteil der scribae jurati lassen sich nur wenige biografische Informationen im Quellenmaterial finden. Mit Sicherheit lässt sich lediglich die allgemeine Aussage festhalten, dass auch sie, wie für alle westphälischen Bediensteten nachweisbar, aus der dörflichen Mittelbzw. Oberschicht stammten. 1040 In den Akten der niederen Gerichtsbarkeit tauchen die Familien Tonsor und Hibigen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf: beim Verkauf und Ankauf von Land, als Zeugen in Streitigkeitsfällen und bei der Ausstellung von Testamenten. Während ein Familienmitglied aus dem Tonsor-Geschlecht bewiesenermaßen ab den 1660er-Jahren als Kramer tätig 1037 Topalovic: Konstruierte Wirklichkeit, S. 76. 1038 Darüber hinaus werden für das 18. Jahrhundert ein Gerichtsschreiber namens Witten und sein Nachfolger, der bekannte Henrich Anton Cosmann, genannt. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 1 r . 1039 Sein Name taucht in den untersuchten Protokollakten nicht auf. Jedoch verweist der spätere Zeitgenosse Anton Henrich Cosmann auf ihn. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 1 r . 1040 Über Johann Nübel kann keine Aussage getroffen werden, weil in keiner vorliegenden Quelle Angaben über seine Person oder seine Familie zu finden sind. 9.1 Die personellen Konstellationen 245 war, 1041 übernahm offenbar ein Verwandter von ihm diverse dörfliche Amtstätigkeiten als Schutzmann 1042 und Dorfvorsteher 1043 . Abgesehen von einigen gerichtlichen Klagen wegen kleinerer Bagatelldelikte von der und gegen die Familie Tonsor 1044 sind keine weiteren Informationen über sie zu eruieren. Anders hingegen verhält es sich bei der Familie Hibigen, über die weitaus mehr Quellenmaterial zur Verfügung steht. Insbesondere über Christoph Hibigen lassen sich sowohl allgemeine als auch spezifische Hinweise über das Tätigkeitsfeld des Gerichtsschreibers in Bagatelldelikten und im juristischen Sonderfall „Hexenprozess“ finden. Christoph Hibigen, der im Besitz des Gerichtssiegels und eines eigenen Petschafts war, 1045 avancierte im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts vom Gerichtsschreiber zum Samtrichter. 1046 Vermutlich geschah dieser Karrieresprung zum Anfang der 1680er-Jahre hin, da er nachweislich bis 1676 als Gerichtsprotokollant tätig war. Zu diesem Zeitpunkt mag er schon fortgeschrittenen Alters oder durch eine Krankheit gekennzeichnet gewesen sein. Seine Handschrift, die sonst kräftig und geschwungen war, wird im Laufe der Jahre zunehmend zittrig und dünn. Ob er bereits in den Hexenprozessen von 1686/ 87 als Richter tätig war, muss unbeantwortet bleiben, weil die Prozessakten lediglich fragmentarisch erhalten geblieben sind. Sein beruflicher Aufstieg ist nicht weiter verwunderlich: Als Protokollant jeglicher Art von juristischen Dokumenten - von Anzeigen, Prozessverläufen, Verkäufen bis hin zu Testamenten - war er mit den örtlichen Rechtsgewohnheiten und Normen vertraut, die ihn für die Position des Richters qualifizierten. Auch für das crimen maleficarum konnte er auf eine ausreichende Expertise zurückgreifen. Entsprechend seiner Pflicht war er nicht nur während der gesamten Prozessverläufe anwesend, sondern er war auch Träger der schriftlichen Erinnerungskultur. Wiederholt wurde er von seinen Vorgesetzten gebeten, die alten Hexenprozessakten zu durchforsten und von ihnen Abschriften anzufertigen, damit ein stichfester Indizienkatalog gegen die potenziellen Hexen und Hexer angefertigt werden könne. 1047 Aus der Feder von Christoph Hibigen stammten auch die meisten erhalten gebliebenen Schriftstücke sowohl im Bereich der Hexenprozesse als auch der Niederen Gerichtsbarkeit. Bezeichnenderweise sind auch vereinzelte Mit- und Abbzw. Rein- 1041 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 14 r . Der Krämer Fritz Tonsor schuldete den Herren von Westphalen eine erhebliche Summe Geld. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 15 v , 26 v und 29 r . Zudem war er schon beinahe notorisch bankrott: Über ihn sind mehre Anmerkungen im niedergerichtlichen Aktenband verzeichnet, in denen erwähnt wird, dass er die Heuer für die Ortsobrigkeit schuldig blieb oder einen jüdischen Kaufhändler aus Frankfurt nicht bezahlt hatte. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 188 r , 177 r-v . 1042 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 23 r . 1043 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 114 r . 1044 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 35 v , 48 r und 98 v . 1045 Ich Christoff Hibigen [...] fürstenbergensis scriba juratus vnd hab dieses [sc. die Beglaubigung des Zeugenverhörs] in mangel des Gerichts siegeln mit Mein siegeln versiegelt. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 6 r . 1046 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 1 r . 1047 Im Fall der Trina Kesperbaum wurde Hibigen beauftragt, eine Abschrift des protocollo antiquo anzufertigen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 246 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg schriften für einige Hexenprozessfälle erhalten, sodass der quellenkritische Appell von Topalovic stichprobenartig für die fürstenbergischen Verhältnisse aufgegriffen werden kann. Eine korrektive „Glättung“ der Mitschriften ist für diesen Verfolgungszeitraum nicht zu eruieren. Es wäre auch in praxisorientierter Hinsicht sicherlich lohnenswert, zu diskutieren, inwieweit - überspitzt formuliert - eine „Manipulation“ der Hexenprozessakten dem ortsansässigen Gerichtsschreiber möglich gewesen wäre. Denn die Dokumente wurden im Haus des Richters gelagert und konnten jederzeit von ihm kontrolliert werden. Freilich ist auch zu beachten, dass der gerichtliche Protokollant gemäß der Carolina sich eidlich verpflichtet hatte, das gesprochene Wort wahrheitsgemäß aufzuschreiben. 1048 Damit soll mitnichten ein strikter Purismus als grundlegende Handlungsmaxime des Schreibers unterstellt werden. Eine derartige Betrachtungsweise wäre auch sicherlich zu generalisierend. Dennoch sollte m. E. die Aspekte der Eidespflicht und die Lagerung der Protokolle im Haus des Richters nicht völlig unterbewertet werden, die eine Verfälschung erschwerten. Die Person Hibigen gibt noch weitere detaillierte Aufschlüsse über die Rolle des Gerichtsschreibers in einem Hexenprozess. Als westphälischer Bedienter unterstand er der Anzeigepflicht, d. h., augenscheinliche Kuriosa oder auffälliges Grenzverhalten von berüchtigten Personen musste er vor Gericht anzeigen. Dabei konnte er als Denunziant auftreten oder als Augenzeuge vor Gericht gerufen werden. Im Fall Hibigen lassen sich beide Situationen nachweisen. In den Voruntersuchungen zu Trina Kesperbaum, die wegen ihres streitlustigen Wesens sowie des Vorwurfs der angezauberten Besessenheit der Hexerei verdächtig war, brachte Christoph Hibigen belastende Indizien gegen sie vor. Er beschuldigte sie, seinen Knecht, Caspar Schmitt aus Atteln, mit einem Möhrenbrei, 1049 der so schwarz gewesen sei, alß sey [er] [aus] korn getroschen, hätte vergiften wollen. Caspar Schmitt, der im Haus der Trina einer Nebentätigkeit nachgegangen war, sei nach Konsumierung der ihm vorgesetzten Speise augenblicklich tödlich krank geworden, sodass er ihn aus Trinas Behausung habe abtransportieren und bis zu dessen Genesung bei sich wohnen lassen müssen. Derweil sei von ihm unten und oben stinckende materie abgegangen. Anschließend wurde er mit dem Karren nach Atteln gebracht. Nachdem Caspar nun glaubte, in seinen kopff sterben [zu] müßen, holte man den Priester, der ihm ein Gegengift verabreichte. Die Medizin hatte den gewünschten Erfolg: Caspar Schmitt genas und verbreitete sowohl in den Dörfern Atteln und Fürstenberg als auch im österreichischen Krieg seinen aus den Nachbargemeinden stammenden Kriegskameraden das Gerücht, Trina habe ihn vergiften wollen. Einer der Hauptzeugen im Ermittlungsverfahren 1048 Im Artikel 5 CCC heißt es: Ich N. schwere, daß ich soll vnd will inn den sachen das peinlich gericht betreffend, fleissig auffmercken haben, klag vnnd antwurt, anzeygung, argkwon, verdacht, oder beweisung, auch die vrgicht des gefangen, vnd wes gehandelt wirdet, getrewlich auffschreiben, verwaren, vnnd so es not thut verlesen. Auch darinn keynerley geuerde suchen vnd gebrauchen. Vnnd sonderlich so will ich Keyser Karls des fünfften und des heyligen Reichs peinlich gerichts ordnung vnd alle sachen darzu dienende, getrewlich fürdern, vnd souil mich berürt, halten, Also helff mir Gott und die heyligen Evangelia. 1049 Die Aussagen widersprechen sich in diesem Punkt: Trina behauptete, es habe sich um keinen Brei, sondern um Birnenbrot gehandelt. 9.1 Die personellen Konstellationen 247 gegen Trina Kesperbaum war Christoph Hibigen, der mit seiner Aussage maßgeblich dazu beitrug, dass ein Strafprozess gegen die Verdächtigte eingeleitet wurde. In bestimmten Fällen konnte der Aktionsradius des Gerichtsschreibers sogar erweitert werden, indem er bestimmte Vollmachten von der Ortsobrigkeit erhielt. So z. B., um Zeugen ohne Anwesenheit der übrigen Gerichtsmitglieder zu befragen. Eine solche Situation ist im Aktenmaterial gegen die „Unholde“ dokumentiert. Christoph Hibigen wurde beauftragt, nachdem das Gericht beyläuffig erfahren hatte, dass Liese Böddeker für den Tod eines Kindes der Witwe Clara von Westphalen schuldig sei, die genannte Westphalin nach dem Sachverhalt zu befragen. 1050 Ein weiteres nicht unerhebliches Detail sticht in den Gerichtsrechnungen hervor, das die methodisch nicht unproblematische Bereicherungstheorie indirekt aufgreift: Pro angefertigtes Verfahrensprotokoll, d. h. für die Ausstellung des Indizienkataloges, der Responsiones, der Hauptuntersuchung und des Libellus’, erhielt Christoph Hibigen einen Reichstaler - dieselbe Vergütungspauschale, die dem Richter zuteilwurde. Aufgezeichnete Zeugenverhöre wurden einzeln nach der Anzahl der vernommenen Personen berechnet, pro Zeuge drei Groschen. Eine zusätzliche Entlohnung bekam er für die Rechnungsaufstellung der Gesamtkosten eines Prozesses: Pro angefertigte Rechnung wurden 18 Groschen verrechnet. Somit konnte sich Hibigen fraglos einen gewissen monetären Reichtum verschaffen, der ihn bis an die Spitze der bäuerlichen Oberschicht beförderte. 1051 Sowohl sein monetärer Wohlstand als auch sein Rechtswissen bildeten die entscheidenden Weichenstellungen für die westphälische Karrierelaufbahn seines Sohnes Johann Jost Hibigen. Dieser war zunächst als Schöffe und anschließend als Richter am fürstenbergischen Samtgericht tätig und übte auch die Rechtsprechung in den Hexenprozessen von 1700 bis 1703 aus. 1052 Um jedoch zu fundierten Angaben über eine mögliche Bereicherung des Gerichtspersonals qua Hexenprozesse zu gelangen, müsste deren Besitz sowohl vor als auch nach den Hexenprozessen untersucht werden. Ein solches Unterfangen setzt eine äußerst günstige Quellenlage voraus, die für diesen Untersuchungsraum nicht gegeben ist. 9.1.6 Pastor Freilich darf die Tatsache nicht außer Acht gelassen werden, dass der Klerus sowohl aktiv als auch passiv an der Verbreitung und Internalisierung des Hexenglaubens maßgeblich beteiligt war. So seien in diesem Kapitel zwei wichtige Aspekte in den Mittelpunkt dieser Analyse gestellt: zum einen die kommunikative Ebene, zum anderen die praktische Tätigkeit des Pastors im Hexereiverfahren. 1050 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung der Clara von Westphalen am 04.07.1658. 1051 Laut dem Kataster von 1672 besaß Hibigen zu diesem Zeitpunkt 44 Morgen Land und belegte damit den 15. Platz innerhalb der reichsten Landbesitzer in Fürstenberg. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 5 v . 1052 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 1 r . 248 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Wendet man sich dem ersten Punkt zu, sticht aus den Hexenprozessakten ins Auge, dass die fürstenbergischen Pastoren 1053 entscheidend zur Erhärtung von Verdachtsmomenten in Hexereifällen sowie zur Verstärkung des lokalen Hexenglaubens beitrugen, wodurch die Selbstreferenzialität des Hexengerüchts deutlich erhöht wurde. Obwohl sie offenbar nicht in persona aktiv als Denunzianten vor Gericht in Erscheinung traten, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sie von der Kanzel aus gegen das schändliche Laster der Hexerei predigten. 1054 Während des Gottesdienstes wurde durch den Pastor explizit erwähnt, gegen welche Personen aus der Gemeinde aktuell ex officio inquiriert wurde. Die öffentlichen Bekanntmachungen geschahen zumeist auf Wunsch der Delinquenten hin. Aus Sorge um ihr Seelenheil wendeten sich die vermeintlichen Hexen und Hexer häufig mit der Bitte an den Pastor, für sie ein Vaterunser von der Kanzel zu beten oder eine Betmesse zu halten. Eines von vielen Beispielen sei an dieser Stelle zur Veranschaulichung herangezogen. Nachdem Liese Böddeker am 20. Juli 1658 ihre vermeintlichen Vergehen den Hexenkommissaren gestanden hatte, bat sie um das heilige Sakrament. Liese reichte jedem Gerichtsmitglied und den Kommissaren die Hand und bat schließlich den Hrr. pastor[,] auff Morgen uff der cantzell offentdtlich für sie [zu] bitten, damit sie Gott wiederum zu Gnaden auff vndt annehmen, dabey erhalten vndt die Ewige seligkeit geben möchte, worauff dem Hrr. pastor vmb zu trösten erlaubt 1055 . Aufgrund seiner persönlichen Anwesenheit und Tätigkeit in den Hexenprozessen erhielten die Predigten, die die Hexenthematik berührten, ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, da die Berichte sozusagen aus erster Hand stammten. Was zuvor von einzelnen Dorfbewohnern eventuell noch hinter vorgehaltener Hand „ gemunkelt“ wurde, bekam durch den Geistlichen einen ernsten Wahrheitsgehalt, sodass der Hexenglaube sowohl von den Gottesdienern als auch den Gemeindemitgliedern von Neuem rezipiert und verinnerlicht werden konnte. 1056 Eine erhöhte Sensibilisierung gegenüber den Verdachtspersonen und eine von Misstrauen geschwängerte Atmosphäre innerhalb der Gemeinde konnten die Folgen sein. 1053 Als erster Ortspastor von Fürstenberg ist Johann Waldschmidt (1671-1682). Rüthing: Pfarrei Fürstenberg, S. 31. Nach dessen Tod wurde das Amt schließlich Hermann Thies (Tigesius) (1682-1708) übergeben. 1054 Diese Bekanntmachungen waren wohl einerseits als moralisches Monitum für die Gemeinde gedacht, um potenzielle Malefizien-Nachahmer abzuschrecken, andererseits zählte es zum Aufgabenfeld des Geistlichen als „Nachrichtensprecher“ zu fungieren. In der fürstbischöflichen Policeyordnung von Paderborn wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Verordnungen und Satzungen von der Kanzlei zu verkünden seien. Beispielhaft hier Hochfürstlich-Paderbornische Landes-Verordnungen, S. 104. Entgegen den Befunden von Zagolla ist für diesen Untersuchungsraum nicht nachweisbar, dass sie als Spurensicherer oder Zeugen tätig waren. Es liegen für Fürstenberg zusätzlich keine Belege vor, dass sie Auskünfte von Sterbenden an das Gericht weitergegeben hätten. Zagolla: Folter und Hexenprozess, S. 376. 1055 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Prozess gegen Liese Böddeker, 20.07.1658. 1056 Diese Internalisierungsvorgänge drückten sich zum Teil in den Gesprächen vor und nach dem Kirchgang aus, die beim anschließenden Wirtshausbesuch fortgesetzt wurden. Siehe hierzu Gersmann: Orte der Kommunikation, S. 253 f. Sicherlich wäre auch eine systematische Untersuchung der thematisierten Gesprächsinhalte nach einem Kirchgang äußerst interessant. 9.1 Die personellen Konstellationen 249 Die Rolle des Geistlichen als Beichtvater in Hexenprozessen führt zum nächsten Analysepunkt: der näheren Betrachtung seines konkreten Aufgabenfeldes im Strafverfahren gegen die „Unholde“. Allgemein ist in den wissenschaftlichen Hexenstudien nachzulesen, dass der Pastor sowohl in den Foltersituationen - obwohl dies den Grundsätzen des kanonischen Rechts widersprach 1057 - als auch bei den Geständnissen der Angeklagten zugegen war. Er nahm den Inquisiten die Beichte ab und spendete ihnen das heilige Sakrament, wenn die Verdächtigen geständig waren. Im letzten Akt des Inquisitionsverfahrens, dem peinlichen Halsgericht, begleitete der Pastor die Delinquenten zu ihrer Hinrichtungsstätte und sprach für sie ein Gebet. 1058 Darüber hinaus war der Pastor auch als Exorzist tätig. Besonders gefragt waren seine Tätigkeiten, wenn vonseiten der Hexenjustiz der Verdacht bestand, der Delinquent schütze sich durch einen Schweigezauber. 1059 Denn nach zeitgenössischer Ansicht war nach abgeschlossenem Teufelspakt der Beelzebub darauf bedacht, dass seine Anhänger weder ihre begangenen Verbrechen gestanden noch ihre Hexenkameraden in Gegenwart von Nicht-Sektenmitgliedern verrieten. Bekanntlich war es ja der Wunsch des Teufels, dass die Hexen und Hexer möglichst unentdeckt blieben, um weiterhin im Verborgenen Schadenszauber an ihren widerwertigen praktizieren zu können. 1060 Gestanden die Angeklagten ihre Vergehen nicht, konnte der psychische Druck erhöht und die Suggestionskraft gegenüber den Delinquenten forciert werden, indem der Priester gebeten wurde, mehr geistige Mittel zu gebrauchen, um ihr Schweigen zu brechen. Einige Beispiele seien in diesem Zusammenhang erwähnt. Als Peter Nottebaum nach einer für ihn missglückten Wasserprobe 1061 zum Gefängnis zurückgeführt wurde, war er dermaßen schockiert über sein Schwemmen auf dem Wasser, dass er sich selbsten auch vmb die bloßen arm midt händen gestrichen sagendt[: ] du sathanas[,] weich von mier ab, auch vor Ihnen zu bitten begehrt, daß der böse feindt vom ihm weichen möchte, Ist der Herr Pastor geruffen worden vnd von demselben Excorciert worden[,] dem vorganen midt Instendiger bitt vndt adhoration dem deuffel keinen Platz mehr zu gönnen vndt zu bekennen angemahnt [...] 1062 . 1057 Vgl. Zagolla: Folter und Hexenprozess, S. 375. 1058 Der später als Hexer hingerichtete Pfarrer Andreas Koch aus Lemgo berichtete in seinen Briefen von diesen üblichen Tätigkeiten. Siehe hierzu Wilbertz, Gisela: „... Es ist kein Erretter da gewesen ...“. Pfarrer Andreas Koch, als Hexenmeister hingerichtet am 2. Juni 1666 (Schriften des Städtischen Museum Lemgo, Bd. 7), Bielefeld 2008. Siehe auch Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Verkündung des endlichen Gerichtstages der Liese Böddeker am 05.07.1658. 1059 Um zu erfahren, ob eine Hexe vom Schweigezauber geschützt werde, riet Heinrich Institoris den Richtern, darauf zu achten, ob sie weinen kann, wenn sie vor ihm steht oder er sie den Foltern aussetzt. Jerouschek/ Behringer (Hrsg.): Der Hexenhammer, S. 678 f. 1060 Siehe hierzu Kapitel 10. 1061 Eine interessante Untersuchung wäre auch die Rolle des Pfarrers bei der Wasserprobe. Obwohl noch nicht weiter in der Hexenforschung untersucht, wurde dieser zur Segnung des Wassers, in dem der Angeklagte „schwimmen“ sollte, gerufen. Auch wäre es sicherlich aufschlussreich der Frage nachzugehen, inwieweit der Geistliche die Ordalie mit Segensprüchen und unter Anrufung des Herrn begleitete. 1062 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Wasserprobe des Peter Nottebaum vulgo Schantz am 09.08.1659. 250 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Auch der kurz zuvor inhaftierte Meineke Brielohn begründete seinen erfolglosen Fluchtversuch mit der Aussage, dass seine Buhlin namens Agatha ihn zum Ausbruch ermutigt habe, weil der pastor Ihm Morgen waß eingeben [würde], so müßte er [sc. der Teufel] von Ihm weichen, solte sich hart halten [...] 1063 . Die wohl eindrucksvollsten Beispiele stellen die Fälle von Elsche Budden (1687) und Angela (Engel) Vahlen (1702) dar. Als Elsche während der Tortur dem Gericht nichts über ihren Buhlen oder Hexengenossen sagen konnte, wurde sie wiederholt gefragt, wer sie daran hindere, es zu sagen. Täte es der böse Feind? Um ihr die Zunge aus den Klauen des Teufels lösen zu können, Wollte man mehr Geistliche Mittel gebrauchen, und hatt man geweiheten Weyrauch, Weywasser, Taufkerze und Heiligthumb vorhin und continuirlich gebrauchet, und sollen inskünftig mehr gebrauchet werden, auch die instrumenta torturalia et ipsa inquisita benedicirt werden 1064 . Der Prozess gegen Angela Vahlen gewährt einen zusätzlichen Einblick in die Funktion der Betmessen für die Delinquenten: Auch sie sollten dazu dienen, das Schweigen der verstockten Angeklagten zu brechen. So bat Engel den Kommissar, dass er den Pastor beauftragen solle, für sie eine Messe zu lesen, damit sie gott[es] gnadt verstehen mögte, wan an ihre sölche böße dinge verborgen, am tag geben könnte 1065 . Zusätzlich ersuchte sie den Pastor, dass er ihr Hexenhemd benediziere, weil ein hartnäckiger teuffel bey ihr sey, der müßte sie fest gemacht haben 1066 . 9.1.7 Scharfrichter und Abdecker Den beiden Berufsfeldern „Scharfrichter“ und „Abdecker“, die aufgrund diverser regionaltypischer Rechtsausprägungen nicht zwangsläufig von ein und derselben Person ausgeübt wurden, 1067 ist in der historischen Forschung bereits viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Von besonderem Interesse und stets zu neuen Auseinandersetzungen einladend ist dabei die sozialgeschichtlich orientierte Frage nach der Unehrlichkeit und der sozialen sowie rechtlichen Marginalisierung dieser Berufsgruppen. 1068 Denn ein Blick in die zeitgenössische Alltagspraxis verdeutlicht, dass eine strikte idealtypische Einordnung der zwei Berufsbilder in die Kategorie „Unehrlichkeit“ nicht 1063 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung des Meineke Brielohn am 19.06.1659. 1064 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 23. 1065 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 123 r . 1066 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 126 r . 1067 „Als selbstverständlich vorauszusetzen, Scharfrichter und Wrasenmeister seien stets ein und dieselbe Person gewesen oder der Scharfrichter habe gar in eigener Person die mit der Abdeckerei zusammenhängenden Arbeiten erledigt, ist der größte Fehler, den man in der Scharfrichterforschung begehen kann.“ Wilbertz, Gisela: Wohnstätten und Tätigkeitsbereiche von Scharfrichtern und Abdeckern. Organisatorischer Zusammenhang und personale Differenz, in: Auler (Hrsg.): Richtstättenarchäologie, S. 506-531, hier S. 508. Wilbertz unterteilt sowohl deren Tätigkeitsfelder als auch deren personelle Differenzierung insgesamt in vier verschiedene Modelle. 1068 Einschlägig hierzu Nowosadtko: Scharfrichter; Stuart, Kathy: Unehrliche Berufe. Status und Stigma in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben, Bd. 36), Augsburg 2008. 9.1 Die personellen Konstellationen 251 zwingend angemessen ist. 1069 Ihre Stellung in der frühneuzeitlichen Gesellschaft ist eher ambivalent geprägt, da sie zusätzlichen Nebentätigkeiten als Heiler, Lieferanten von magischen Hilfsmitteln, Hexenfinder sowie Nachweiser bei Viehbehexung 1070 nachgingen und ihre Hilfe allgemein von der Bevölkerung auch in Anspruch genommen wurde. In diesem Untersuchungsrahmen soll speziell nach deren regionalen Eigenarten gefragt werden, insbesondere im Zusammenhang mit dem lokalen Hexenphänomen. Denn diese Berufstypen waren für die Bekräftigung und Zementierung des Hexenglaubens nicht unerheblich. Jedoch kann kein genaues Bild der beiden Berufsgruppen gezeichnet werden, weil die Quellenüberlieferung sporadisch ist und ihre Erwähnung häufig in Form einer Randbemerkung erfolgt. Lediglich zwei Fälle sind aktenkundig, in denen der Abdecker zwecks Klärung einer Viehbehexung konsultiert wurde, 1071 und erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts kann mit Sicherheit gesagt werden, dass ein berufsmäßiger Abdecker in Fürstenberg wohnte. 1072 Wie oft nun der Wrasenmeister von den Dorfbewohnern bei Verdachtsfällen als Berater hinzugezogen wurde, kann nicht genau geklärt werden. Jedoch war das magische Wissen des Scharfrichters und Abdeckers nicht nur bei vermeintlichen 1069 Vgl. Münch, Paul: Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500 bis 1800, Frankfurt a. M. und Berlin 1996, S. 107. In der älteren Literatur ist noch die pauschale Dichotomie zu finden, dass der „Scharfrichter oder Henker der Unehrlichste unter den unehrlichen Leuten [war]“. Danckert, Werner: Unehrliche Leute. Die verfemten Berufe, Bern 1963, S. 23. Die neuere Forschung betrachtet solche Simplifizierungen weitaus kritischer. Nowosadtko betont beispielsweise zu Recht, dass die regional und zeitlich unterschiedlich verlaufenden Entwicklungen in der zeitgenössischen Auffassung und Kategorisierung dieser Berufstypen zu beachten sei. So sei der Augsburger Scharfrichter Veit Stolz nachweislich in das nachbarschaftliche Sozialnetz von Handwerkern integriert gewesen. Nowosadtko: Scharfrichter, S. 39. Wilbertz stimmt insofern dieser Einschätzung zu, wenn sie den allgemeinen Befund festhält, dass die Grenzen der attribuierten Unehrlichkeit des Scharfrichters im Süden des deutschen Sprach- und Kulturraumes ausgeprägter waren als im Norden. Wilbertz, Gisela: Art. „Scharfrichter“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http : / / dx . doi . org / 10 . 1163 / 2352 - 0248 _ edn _ a3746000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 1070 Vgl. Walz: Agonale Kommunikation, S. 214 f. Ebenso Behringer: Chonrad Stoeckhlin, S. 91-93. 1071 Es handelt sich hierbei um den Prozess der Gemeinde Essentho gegen Cünna Fießel 1648. Einige Gemeindemitglieder hatten sie ihm Verdacht, ihre Pferde behext zu haben, die urplötzlich verstorben seien. Nachdem der bestellte Wrasenmeister die Pferde aufgeschnitten hatte, habe er in den Pferdekadavern allerley gifftige formen, von schlangen, Kröten, Ja Gößeln [...] gefunden, die sich teilweise - so die Aussage des Thönies Wegener - im Herzen befunden hätten. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Bittschrift an die Herren von Westphalen am 26.09.1648. Der zweite Fall ist im Hexenprozess gegen Trina Kesperbaum belegt, der vorgeworfen wurde, Dethart Sommers Pferde auf der Deele zu vergiftet zu haben. Nach dem Aufschneiden der Kadaver hätte sich in deren Herzen Gift in Form von Schlangen befunden. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung am 22.07.1657. Der Zustand des Herzens spielte bei Hexereiverdächtigungen eine große Rolle. Siehe hierzu auch Walz: Magische Kommunikation, S. 214 f. 1072 An einem Haus, das sich nach der heutigen Straßenbezeichnung Am Pellenberg 9 befindet, ist folgende Inschrift am Hausbogen angebracht: 1734 Als hier vor sieben Jahr, der Hunde Scharnde war, und viel Pferd, Schwein und Kuh gelangten hier zur letzten Ruh, auf Geheiß der Obrigkeit, waren hier sehr brave Leut. Josef Wessel. Die Ortsbezeichnung „Röenmark“ weist heute noch auf den ehemaligen Scharrplatz hin. Z. n. Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 247. 252 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Schadenszauberfällen gefragt. Insbesondere der Henker, 1073 der die Tortur in Hexenprozessen durchführte, wurde von den Dorfbewohnern gezielt kontaktiert, um in Erfahrung zu bringen, ob er Anzeichen von Hexerei bei den Inquisiten finde. So führte beispielsweise die Inquisitin Magdalena Mengeringhaußen freimütig vor dem Gerichtspersonal an, dass ihre im Dorf geäußerten Verdächtigungen, wer am teuflischen Werk in Fürstenberg beteiligt sei, durch den Scharfrichter bestätigt worden seien. Denn dieser habe Magdalena erzählt, dass die wegen Hexerei verurteilte Margaretha Stroeth einen Pedden fueß vo[r]m kropf [habe] 1074 . Bei dem hier genannten Henker handelt es sich um einen Meister Tönigs, der vor seiner Gesprächspartnerin andeutete, dass die hingerichtete Margaretha sich eines Schweigezaubers bediente, indem sie einen Krötenfuß um den Hals trug. Neben der sukzessiv gesteigerten Schmerzzufügung bei Delinquenten war der Scharfrichter zusätzlich für die Durchführung der Wasserprobe sowie die Enthauptung und anschließende Körperverbrennung der Verurteilten zuständig. Auch das Verscharren der im Gefängnis verstorbenen Personen zählte zu seinem Tätigkeitsbereich. 1075 Gemeinhin galten und gelten die zeitgenössischen Nachrichter als brutal, „skrupellos, geldgierig und korrupt, wenn nicht gar als ausgesprochene Zyniker“ 1076 . Bereits in der zeitgenössischen Literatur wurden Vorwürfe gegen die Scharfrichter erhoben und ihnen gerade in Hexenprozessen Manipulation und Sadismus nachgesagt. 1077 Sicherlich sind diese Charakterisierungen in vielerlei Hinsicht berechtigt. Ohne jedoch im Detail auf die gängigen Folterpraktiken im fürstenbergischen Hexenprozess einzugehen, die in einem gesonderten Kapitel gewürdigt werden, 1078 muss ausdrücklich betont werden, dass der Aktionsradius des Henkers nicht uneingeschränkt war: Sowohl die Folterpraktiken als auch deren zeitliche Anwendungen wurden durch das fürstenbergische Gerichtspersonal scharf überwacht. Ferner orientierte sich die örtliche Hexenjustiz hinsichtlich der Tortur stark an den Maßstäben der Carolina, denn nach dreimaliger Tortur galt der Delinquent als purgiert und der Hexenprozess wurde aufgehoben. 1073 Fürstenberg verfügte über keinen eigenen Scharfrichter. Dieser wurden in dringenden Fällen aus den Nachbarorten „ geliehen“. Zum Zeitpunkt der dritten größeren Verfolgungswelle 1658/ 59 in Fürstenberg wurde der Nachrichter aus Brilon bestellt und wohnte während seines Aufenthaltes bei dem Schöffen Hermann Papen. Obwohl der Scharfrichter sowohl in den Rechnungen als auch Gerichtsprotokollen nicht namentlich genannt wird, bleibt zu vermuten, dass es sich um die Nachrichter Meister Petrus oder Stephan Berg gehandelt haben könnten, die in diesem Zeitraum als Strafvollstrecker in Brilon tätig waren. Brökel, Gerhard: Henker und Hinrichtungen in Brilon, in: SüdWestfalen Archiv. Landesgeschichte im ehemals kurkölnischen Herzogtum Westfalen und der Grafschaft Arnsberg 9 (2009), S. 7-19, hier S. 12. 1074 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 123 v . 1075 So erhielt der Scharfrichter von der Ortsobrigkeit vier Reichstaler wegen deß grubenß der Bina Engelbracht. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1076 Nowosadtko, Jutta: Berufsbild und Berufsauffassung der Hexenscharfrichter, in: Franz/ Irsigler (Hrsg.): Methoden und Konzepte, S. 193-210, hier S. 193. 1077 An prominenter Stelle zu nennen Spee, Friedrich von: Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse, übers. und mit einer Einl. vers. v. Joachim-Friedrich Ritter, München 8 2007, S. 86 f. 1078 Siehe hierzu Kapitel 9.2.5. 9.1 Die personellen Konstellationen 253 Ferner wurde die Folter offenbar weitestgehend auf das Alter und die körperliche Konstitution des Inquisiten abgestimmt. Ein Beispiel sei hierfür geschildert. Weil Anna (Enneke) Grothen physisch sehr schwach war, beschlossen die Richter und Schöffen, nicht zur scharffe[n] tortur schreiten [zu] wöllen, sondern sie „lediglich“ mit gelinder Folter anzugreifen. Diese Einschätzung teilten auch die Herren von Westphalen. In einem Brief an den ortsansässigen Richter forderten sie ausdrücklich, Enneke nit zu dimmittiren[,] sonderns [zu] inhaftire[n] 1079 , bis eine Besserung eingetreten sei. Die Härte der Tortur soll dabei mitnichten verharmlost werden. Ennekes körperliche Schwäche war eine Folge der vorherigen peinlichen Befragungen, in der sie scharff torquiert wurde. Ihre Malträtierungen hatten sogar eine bleibende körperliche Behinderung zur Folge. 1080 Trotzdem sollte ein differenzierter Blick auf die örtliche Folterpraxis beibehalten werden, denn die schwere Körperschädigung bei Enneke ist ein Singularfall. Zudem war die Inquisitin bereits ein Jahr zuvor wegen des Verdachts der Hexerei im Rahmen eines Hexenprozesses gefoltert worden und womöglich nicht genesen, als ihr erneut der Prozess gemacht wurde. Ferner konnte der Scharfrichter den psychischen Druck auf die Delinquenten erhöhen, indem er mit ihnen sprach. 1081 Ein Beispiel hierfür liefert eine Hexenprozessakte aus dem Jahr 1702. Weil Magdalena Mengeringhaußen nicht gütlich bekennen wollte und die angewendete Tortur ihre Zunge nicht lösen konnte, ja sogar alle angewante mühe zur gütte umbsonst war, entließ man sie aus der Tortur. Der Scharfrichter fragte sie anschließend, während sie sich ankleidete: Meinstu, daß fromme leuthe, [die Folter, S. M.] leiden [könnten] [? ] 1082 9.1.8 Schützen und Wächter Die Bedeutung der Schützen und Wächter - sogenannte wahrers oder latinisiert custodes - bei Hexenprozessen könnte bei oberflächlicher Betrachtung als marginal eingestuft werden. Schließlich bestand ihre scheinbar triviale Aufgabe darin, den Delinquenten vor dem Zorn der Gemeindemitglieder zu beschützen und eine Flucht zu verhindern. Aufgrund ihrer scheinbaren Bedeutungslosigkeit wurden sie bisher in der einschlägigen Literatur keiner näheren Betrachtung gewürdigt, da sie schlicht zu den kleinsten Zahnrädchen in der Maschinerie des Hexenprozesses zählten und in den Prozessakten kaum namentlich erwähnt werden. Dennoch gehörten sie zum 1079 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Wilhelm von Westphalen an seinen Gevatter am 14.08.1659. 1080 So bat der Kommissar Antonius Bergh die Gerichtsherren, Enneke Grothen auf vielfältiges Bitten ihres Ehemannes vom Exil zu begnadigen, weil sie wegen außgestandener torturen an armen[,] füßen vndt anderen gliedern, gantz erlamet[,] daß sie auch nirgentes auß noch hin gehen könte [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 30.7.1662. 1081 Zumindest im kurkölnischen Raum war dem Scharfrichter eine Befragung der Inquisiten untersagt. So heißt es in der Hexenprozessordnung: [...] darauf die hafte Person selbsten abfragen und dem Scharpf- oder Nachrichter das Examen nit einraumen oder zulassen. Z. n. Seibertz, Johann Suibert: Urkundenbuch zur Landes- und Rechtsgeschichte des Herzogthums Westfalen. Dritter Band: 1400-1800, Arnsberg 1854, S. 302. 1082 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 126 v . 254 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg festen Stab der Prozessbeteiligten bei den Hexenverfolgungen. Blieben sie in diesem Zusammenhang unberücksichtigt, würden charakteristische Merkmale des inquisitorisch geführten Strafverfahrens gegen die „Unholde“ unbeachtet sowie tiefer gehende Einblicke in den lokalen Hexenglauben verwehrt bleiben. Zunächst seien eingehender die Schützen betrachtet. Ihre primäre Tätigkeit in den Hexenprozessen war es, die Delinquenten sicher abzuführen - zum Torturplatz, zur Richterstube oder zum Zehnthaus, zum Schwemmteich oder zur Hinrichtungsstelle. Dabei sollte auch die Flucht der Inquisiten verhindert werden. Die Schützen waren nicht nur aufgrund ihrer Expertise im Umgang mit renitenten Schuldnern für diese Aufgabe qualifiziert, 1083 sondern auch, weil es ihnen erlaubt war, öffentlich Schusswaffen zu tragen. Offenbar waren sie in Fürstenberg für ihren schroffen Umgang und Ton mit den Angeklagten berüchtigt, wie aus einer Randbemerkung aus der Akte Zenzing Buschmanns hervorgeht. Zenzing, der als gewaltbereit und „Prahlhans“ im Dorf berüchtigt war, fragte bei seinem Gasthausbesuch den Wirt, ob dieser nicht mit ihm um Geld trinken wolle. Der Schankwirt wies ihn plump mit den Worten zurück: [...] Er könnte vndt wolte Ihm keine zwey kreiten halten. [...] solte mit denen [sc. die Schützen], wie sichs gebührte trincken [...] 1084 . Deren rüdes Auftreten und Bewaffnung sollten die Angeklagten freilich vor einem widerspenstigen Verhalten abschrecken. 1085 Denn die Inquisiten ließen sich nicht immer bereitwillig und ohne jegliche Gegenwehr von den Schützen abführen. So brauchte es beispielsweise allein drei Personen, um die berüchtigte Trina Kesperbaum zu inhaftieren. 1086 Die Dienste der Schützen wurden jedoch noch für weitere Aufgaben im Hexenprozess in Anspruch genommen: so z. B. bei Gefängnisausbrüchen und bei der Hinrichtung der Delinquenten. Ein Fall sei an dieser Stelle geschildert. Im Zuge der Hexenprozesse von 1659 sorgte der wegen Hexerei angeklagte Meineke Brielohn für Aufsehen in der Gemeinde Fürstenberg, weil er des Nachts am 12. Juni 1659 aus dem Gefängnis erfolgreich ausgebrochen und geflohen war. Offensichtlich wurden die Nachbardörfer augenblicklich über die Flucht informiert und um Mithilfe bei der Gefangennahme des Geflohenen gebeten. Zwei Tage später, am 14. Juni, meldeten die Schützen von Essentho, das zum Amt Wünnenberg gehörte, Meineke Brielohn gefunden und inhaftiert zu haben. Dass die Schützen die Delinquenten nicht nur zur Hinrichtungsstätte begleiteten, sondern offenbar zusätzlich den Scheiterhaufen bewachten, bis der Körper des Hingerichteten gänzlich zu Asche verbrannt war, geht aus den Rechnungen der Hexenprozessakten hervor. Diese Bewachung diente offensichtlich nicht nur dazu, das Feuer im Auge zu behalten und ein mögliches Funkengestöber zu verhindern. Die Schützen sollten zudem unterbinden, dass Angehörige oder Gemeindemitglieder die Knochen 1083 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 33 v . 1084 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung contra Zenzing Buschmann am 23.06.1659. 1085 Aus diesen Gründen wurden die Schützen unter anderem auch als Begleitschutz der Kommissare eingesetzt. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1086 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., die zweite Rechnung der Trina Kesperbaum von 1658. 9.1 Die personellen Konstellationen 255 bzw. Asche der Hingerichteten zwecks magischer Praktiken entwendeten. 1087 Während ihres Wachdienstes hielten die Schützen offenbar regelrechte Gelage ab: Stets wird in den Kostenaufstellungen von Hexenprozessen der immense Bierverbrauch durch sie genannt. So tranken sie bei Engel Möllers Hinrichtung 42 Maß Bier (ca. 45 Liter). Die Wächter hatten hingegen die Pflicht, den Häftling über den gesamten Zeitraum seines Arrestes zu bewachen. Vor der großen Tür des Zehnthauses positioniert, waren sie die einzigen gerichtlichen Kontaktpersonen, mit denen es dem Gefangenen erlaubt war zu reden. 1088 Aufgrund der doch langen Zeitspanne, die sie zwangsweise mit den Inhaftierten verbrachten (Tag- und Nachtwache), entstanden einige Kommunikationssituationen zwischen Wachpersonal und Gefangenen, die in den Hexenprozessakten dokumentiert sind. Mag es die Einsamkeit oder der innere Aufruhr gewesen sein, das Gericht und ebenso die Hexenkommissare waren sich der psychischen Verfassung der vermeintlichen Delinquenten bewusst, die nur allzu häufig den Drang verspürten, mit einer Person zu reden und so weitere potenziell tatverdächtige Äußerungen von sich zu geben. So konnte die Hexenjustiz zu weiteren Indizien gelangen. Die Custodes waren verpflichtet, jegliche Gespräche mit den Inquisiten dem Richter zu melden. Kurzum: Die Wächter waren wichtige Informanten für die Gerichtsbeamten, mit deren Hilfe sich Verdachtsmomente erhärten ließen und die Indizienkette gegen die Delinquenten verlängert werden konnte. Aus diesen Gründen wurden die wahrers von den Kommissaren beeidet, alles anzugeben, waß sie von Inquisiten [...] verstanden vndt vernommen, sonsten auß Ihren worten, werken vndt geberde abmercken können 1089 . Wie aus diesem Zitat hervorgeht, sollte sich die Achtsamkeit der Wächter nicht nur auf das gesprochene Wort beschränken, sondern jedwede Gebärde oder Verhaltensauffälligkeit war augenblicklich dem Gericht zu melden. Einige Beispiele seien an dieser Stelle genannt, die nicht nur illustrativ verdeutlichen, wie sehr diese eher unbedeutenden herrschaftlichen Amtsträger entscheidend den Prozessverlauf beeinflussen konnten, sondern auch, welcher Gefahr sie sich im Umgang mit der Hexe ausgesetzt sahen. Als 1694 der Junge Henrich Wilhelm Maeß im Zehnthaus arretiert wurde, geschahen des Nachts seltsame Dinge. So berichteten die Wächter Hermann Böddeker und Hermann Clauß, dass sie, als sie ihren Wachdienst antraten, den Teufel im Gefängnis gespürt hätten. Einer der Wächter sagte: Er - den teufel meinend - ist hier[,] der teuffel ihnen auch in selsahmen vngewohnlich vnd nicht menschlicher stimme nachgesprochen [...]. Als sie daraufhin versuchten, die Türen zu öffnen, um zu überprüfen, ob jemand bei dem Jungen sei, konnten sie das nicht, bis der Frone gerufen habe: gehe auf[,] in Jesus nahmen. Zudem sei 1087 Vgl. Ruff, Margarethe: Zauberpraktiken als Lebenshilfe. Magie im Alltag vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M. 2003. 1088 Lediglich durch den Wächter konnte ein Angehöriger oder Freund mit den inhaftierten Personen in Kontakt treten. So hatte der Mann der gefangenen Beckerschen, Henrich Vahlen, den wahrer steffen wietfeldt herauß gefordert vndt an demselben begehrt, Er solte die beckersche fragen[,] Ob sie bekandt hette Oder nicht. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 136 r . 1089 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 256 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg auffm schlag 6 vhren abendts der teuffel zu ihm in die gefängnuß kommen, sagend er müße ein wenich bei ihm liggen gehen, were müde[,] auch bey ihm verplieben[,] biß sie zu ihm kommen vnd hette der Junge den teuffel nennen dörffen[,] mit der lincken hand die thür deß kengells zu gehalten vndt mit den klawen darin gepackt[,] so lang biß gesprochen worden[: ] gehe auff[,] in Jesus nahmen[,] da hette er forth loßgelaßen[,] auch hette der zu Ihme gesagt[,] er solte halten helffen vnd wie er loß müßen[,] hette er zornig und mit beyden händen zuckend Ihnen gleichfalß inß gesichte schlagen wollen 1090 . Weitaus unspektakulärer war der Bericht der Wächter über die Beckersche, die im Gefängnis fortwährend geseufzt haben soll. Als sie von ihnen gefragt wurde, warum sie so stöhne, habe sie zu ihnen etwas gesagt, dass ihrer Ansicht nach den Hexereiverdacht bestätigte. 1091 Ihr Verhalten und ihre Worte führten schließlich zu einer Fortsetzung des peinlichen Verhörs. In noch einer Hinsicht konnten die Wächter für den weiteren Verlauf im Hexenprozess und die psychische Verfassung der Delinquenten verantwortlich sein: indem sie auf die Inquisiten einredeten, gütlich zu bekennen, wie es aus dem Fall von Henrich Hammerschmidt bekannt ist. Als die Wächter ihn zum Torturplatz führten - offensichtlich wurde diese Aufgabe teils den Schützen, teils den Custodes übertragen -, ermahnten sie ihn eindringlich, ein Geständnis abzulegen, was er schließlich auch tat. 1092 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 1093 Inzwischen zeichnet die jüngere Forschungsliteratur zur Thematik „Hexenprozess“ ein weitaus kritischeres Bild von der zeitgenössischen Justiz im Umgang mit dem „Superverbrechen“, als es noch die „Vorgänger“ getan haben. Bisweilen findet der Leser in den Büchern noch stark vereinheitlichte Modelle, deren wesentliche Merkmale an dieser Stelle kurz aufgeführt werden sollen: Für gewöhnlich sei der Hexenprozess ein Sonderfall des Inquisitionsprozesses gewesen, der ex officio eingeleitet worden sei. 1094 Weil nach zeitgenössischer Ansicht das Hexenverbrechen ein Ausnahmedelikt (crimen exceptum) dargestellt habe, sei der Hexenprozess in der Regel im Sinne eines processus extraordinarius geführt worden. Für den Angeklagten habe diese rechtliche Kategorisierung des Hexereidelikts eine Vielzahl an nachteiligen Konsequenzen mit sich gebracht, weil die in einem processus ordinarius geltenden Verfahrensgrundsätze 1090 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 94 v -95 r . 1091 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung der Wächter am 16.08.1658. 1092 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung des Henrich Hammerschmitt am 17.08.1658. 1093 Der Titel ist angelehnt an den Artikel von Schwerhoff: Hexenprozess. 1094 Im Gegensatz zum gängigen Akkusationsverfahren lagen die Beweisführung und das Prozessrisiko damit nicht mehr bei dem Kläger, der der Talionsstrafe unterlag (Art. 12 CCC), sondern bei dem Richter. Dieser konnte auf Grundlage von Denunziationen, Gerüchten und geringeren Verdachtsmomenten einen weitaus risikoärmeren Rechtsweg gehen, indem er „von Amts wegen“ einen Hexenprozess eröffnete. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 257 aufgehoben worden seien: So seien die Folterungen uneingeschränkt brutal eingesetzt, Akteneinsicht verweigert sowie eine (professionelle) Strafverteidigung den Delinquenten generell nicht gestattet worden, da die Indizien und Zeugen der Geheimhaltung unterlegen hätten. 1095 Zudem sei den Angeklagten keine Zeit verblieben, Rechtsmittel in Form einer Appellation einzureichen, weil der Hexenprozess ein Schnellverfahren gewesen sei. Dieser habe eine zusätzliche Eigendynamik erhalten, wenn bei der verfolgungswilligen Ortsobrigkeit das Bild von einer kollektiven „Hexensekte“ breit rezipiert worden ist: 1096 Um die Namen potenzieller Sektenmitglieder buchstäblich aus den Delinquenten herauszupressen und ein Geständnis (regina probationum) zu erzwingen, sei die Folter massiv eingesetzt worden. Die Denunziationen und die Tortur hätten folglich das Herzstück dieses rechtlichen Verfahrensmodells gebildet, mit dessen selbstreferenziellen Praktiken Massenprozesse erheblich begünstigt worden seien. 1097 Dieses standardisierte Bild eines Hexenprozesses kann neueren Forschungsergebnissen nicht standhalten. Die kritische Frage, ob der Hexenprozess tatsächlich als ein Sonderfall des Inquistionsprozesses in der vormodernen Strafjustiz zu werten ist, 1098 nahmen vereinzelte Regionalstudien als Impuls auf, um sich mit den verschiedenen Ausformungen örtlicher Gerichtspraktiken im Hexenfall auseinanderzusetzen. Folgender Fragenkatalog verhilft dabei zu einem differenzierteren Blick: Inwieweit orientierte sich das Gericht in der Rechtsprechung am Gewohnheitsrecht oder am Römischen Recht? Wie hoch war der Grad der Akzeptanz des Hexensabbat-Konstruktes bei den Justizbeamten? Waren die lokalen Gerichte autonom oder eingebunden in ein hierarchisch aufgebautes Justiz- und Verwaltungssystem, sodass das lokale Prozessgeschehen „unter Aufsicht“ stand? Waren die lokalen Gerichte mit gelehrten oder mit juristisch ungebildetem Personal besetzt? 1099 Wie stark wurde die Fol- 1095 Vgl. Zagolla: Folter und Hexenprozess und Gerst: Hexenverfolgung als juristischer Prozess, S. 166. 1096 Bei der Ausarbeitung vom kumulativen zum elaborierten Hexenbegriff hin waren viele geistige Strömungen und Gelehrte über Jahrhunderte „am Werk“. Siehe hierzu Behringer: Vermarktung, S. 38. 1097 Vgl. Oestmann, Peter: Hexenprozesse am Reichskammergericht (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 31), Köln, Weimar und Wien 1997. 1098 Vgl. Krampl/ Behringer/ Schwerhoff: Hexe. In der Encyclopedia of Witchcraft steht in diesem Zusammenhang: „Each of the courts that claimed jurisdiction over witchcraft had its own procedures and traditions. [...] Even among those courts that followed either system of criminal procedure, there were significant variations in the methods used to begin prosecutions, the deposing of witnesses, the methods of interrogating the accused [...], the determination of guilt, and the process of appealing verdicts or reviewing sentences. The claim that all witchcraft trials were identical has no foundation in reality.“ Unbekannter Autor: Art. „Trials“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 4, S. 1133-1135, hier S. 1133. Siehe auch die Dissertationsschrift von Ströhmer: Rezeption und ebenso Decker, Rainer: Hintergrund und Verbreitung des Drucks der römischen Hexenprozeß-Instruktion (1657), in: Historisches Jahrbuch 118 (1998), S. 277-286 sowie Moeller, Katrin: Dass Willkür über Recht ginge. Hexenverfolgung in Mecklenburg im 16. und 17. Jahrhundert (Hexenforschung, Bd. 10), Bielefeld 2007. 1099 Vgl. Rummel/ Voltmer: Hexenverfolgung, S. 42 f. 258 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg ter eingesetzt ? Inwieweit waren die Werke der ausgewiesenen Hexengelehrten von örtlichen Justizbeamten rezipiert worden? 1100 Die hier angeführten kritischen Fragestellungen verdeutlichen, wie sehr ein schärferer Blick auf das materielle und formelle Strafrecht sowie seine praktische Umsetzung vor Ort nötig ist, um nicht in einseitige Vereinfachungen zu verfallen. Es besteht weiterhin ein großer Forschungsbedarf, die Besonderheiten der jeweiligen örtlichen Hexenjustiz noch stärker herauszuarbeiten. 1101 Aus den erwähnten Gründen scheint es sinnvoll, sich näher mit der fürstenbergischen Verfahrens- und Strafpraxis im Umgang mit dem Hexereidelikt auseinanderzusetzen, um zu einer angemessenen Bewertung des lokalen Gerichtshabitus im Hexenprozess zu gelangen. Im Vordergrund dieser Analyse soll dabei die gewichtige Frage stehen, ob der fürstenbergische Strafprozess gegen die „Unholde“ im Sinne eines processus ordinarius oder processus extraordinarius geführt wurde. 1102 Trotz der analytischen Einschränkung - denn um eine intensive rechtshistorische Auseinandersetzung kann es in diesem Rahmen nicht gehen - stellt ein näherer Blick auf die fürstenbergische Prozesssituation einen grundlegenden Erkenntnisschlüssel für die Erschließung des Phänomens Deüffelskinder dar. Denn anhand der Ergebnisse kann herausgearbeitet werden, inwieweit den vermeintlichen Delinquenten ein rechtlicher Aktionsradius zugebilligt oder verwehrt wurde. Um sowohl Analogien als auch Abweichungen herausarbeiten zu können, sollen in dieser knappen Abhandlung die Carolina als Bezugspunkt genommen werden. Zu berücksichtigen sind auch die bereits erarbeiteten lokalen Gerichtstraditionen. 1103 Freilich ist die Anzahl der zeitgenössischen Gelehrtentraktate zur Strafprozessführung in der Hexenthematik Legion. Dennoch kann das Kodifikationswerk, die Carolina, getrost als die „Hauptquelle“ und der „Knotenpunkt“ innerhalb der verschlungenen Wege der vormodernen Rechtsprechung im Inquisitionsprozess und damit auch im crimen maleficarum bezeichnet werden. 1104 1100 Vgl. Zagolla: Folter und Hexenprozess, S. 171. 1101 Vgl. Krampl/ Behringer/ Schwerhoff: Hexe. 1102 „Dabei scheinen die Befürworter eines Ausnahmeverfahrens zumindest im Norddeutschen Raum nicht per se in der Mehrheit gewesen zu sein, denn wie hier wurde sich etwa in Oberhessen hauptsächlich an dem Normalprozess der Carolina orientiert, ebenso im Mecklenburgischen und in Göttingen.“ Gerst: Hexenverfolgung als juristischer Prozess, S. 163. Siehe auch Heuser, Peter Arnold: Der Rostocker Jurist Johann Georg Göddelmann und die kurkölnische Hexenordnung vom 24. Juli 1607. Studien zur kurkölnischen Hexenordnung, Teil I: Entstehungsgeschichte und Textgenese bis 1607, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 78 (2014), S. 84-127. 1103 Vgl. Zagolla: Folter und Hexenprozess, S. 181. 1104 Sicherlich wäre zu überdenken, ob nicht die kurkölnische Hexenprozessordnung von 1607 auch in Fürstenberg angewandt wurde, da der Erzbischof Ferdinand von Köln seit 1619 auch zugleich das Oberhaupt des Bistums Paderborn war. Zwar bestand bis 1629 die Forderung, dass für das Hochstift ein eigener Erlass formuliert werden sollte, jedoch wurde dieses Vorhaben nie umgesetzt. (Siehe hierzu Decker: Hexenverfolgungen im Hochstift Paderborn, S. 330 f.) Ob dieser Umstand den herrschenden Kriegswirren geschuldet war oder ob die kurkölnische Hexenprozessordnung eventuell ab diesem Zeitpunkt bereits im Paderborner Territorium breit rezipiert wurde, sodass eine spezifische Neuformulierung obsolet erschien, muss fraglich bleiben. Dass der Geltungsbereich des Rechtstextes durchaus über die Grenzen des Kurfürstentums 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 259 Für eine bessere Inhaltsübersicht wurden die einzelnen Verfahrensschritte in den fürstenbergischen Hexenprozessen chronologisch angeordnet. 1105 Jedoch waren diese Schritte in der Verfahrenspraxis nicht zwingend linear aufeinander aufbauend. Es mag ungewöhnlich erscheinen, dass in diesem Kapitel bewusst auf eine detaillierte Aufstellung des Corpus Delicti verzichtet wird, die die Grundlage der offiziellen Anklageerhebung bildete. Der Grund für diese Ausklammerung ist einer simplen Überlegung geschuldet: Die materiellrechtliche Grundlage der Strafverfahren erweist sich als eine Schnittstelle zwischen diversen Rechtsauffassungen und -traditionen sowie soziokulturellen, aber auch religiösen Vorstellungen. Das gesellschaftlich konstruierte Hexereidelikt ist folglich in seiner Komplexität nicht nur im rechtshistorischen Bereich anzusiedeln und soll deswegen in einem gesonderten Kapitel untersucht und gewürdigt werden. In diesem Abschnitt steht „lediglich“ der verfahrenstechnische und strafrechtliche Praxisrahmen im Fokus der Untersuchung. 9.2.1 Hexenverfolgungen in Fürstenberg - ein quantitativer Gesamtüberblick Gegen mehr als hundert verdächtige Personen war das fürstenbergische Gericht aktiv. Freilich ist jedes Opfer der Hexenverfolgung ein dramatischer Beleg für die offensichtlichen Irrtümer der Zeitgenossen. Um jedoch zu einer angemessenen Deutung der Zahlen zu gelangen, müssen die Daten trotz aller Empathie für die vermeintlichen Hexen und Hexer zunächst nüchtern-objektiv betrachtet werden. Schlüsselt man die für diesen Untersuchungszeitraum eruierte Gesamtsumme der Angeklagten nach den jeweiligen Verfolgungsjahren auf, so ergibt sich für den Historiker ein höchst aufschlussreiches Bild, das über eine quantitative Erhebung hinausweist (siehe Tabelle 9.4 auf der nächsten Seite). Denn zwei markante Beobachtungen werden anhand der Visualisierung sichtbar: 1. Es ist ausdrücklich zu betonen, dass Fürstenberg zweifelsohne zu den verfolgungsintensivsten Orten im Hochstift Paderborn gezählt werden kann und damit folglich seine Bedeutung für die Erschließung der Hexenverfolgung im nordwestdeutschen Raum nicht unterschätzt werden sollte. 1106 2. Obwohl die Ortsobrigkeit offenbar eine konsequente Verfolgungspolitik gegen die „Unholde“ betrieb, die entgegen dem Trend hinaus reichte, belegt die Herrschaft Büren: Die Edelherren hatten eine Kopie der kurkölnischen Hexenordnung geordert - inwieweit sie auch Anwendung in der lokalen Hexenpolitik fand, ist noch nicht erforscht. Im fürstenbergischen Archivmaterial liegt hingegen keine Abschrift vor. Jedoch wäre es durchaus denkbar, dass die kurkölnische Hexenprozessordnung auch in Fürstenberg zumindest im Hintergrund wirksam war, weil die Herren von Westphalen auch Amtsposition in Kurköln innehatten. Allerdings müssen diese Überlegungen spekulativ bleiben, weswegen auf eine Heranziehung der Hexenordnung verzichtet wird. Für nähere Ausführungen zur kurkölnischen Hexenprozessordnung siehe Heuser: Hexenprozessordnung. Eine Abschrift des Rechtstextes ist zu lesen bei Seibertz: Urkundenbuch, S. 298-310. 1105 Der Kapitelaufbau orientiert sich an der Dissertation von Ströhmer: Rezeption. 1106 Rainer Decker konnte im Raum Paderborn bisher 260 Hexenprozesse nachweisen. Vgl. Decker: Paderborn - Hexenverfolgungen. 260 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Tabelle 9.4: Gesamtanzahl der Hexenverfolgungen in Fürstenberg von 1601 bis 1703 Jahr Angeklagte Voruntersuchung Hauptuntersuchung Einstellung des Verfahrens Hinrichtung Unsicher In Haft verstorben ♀ ♂ ? ♀ ♂ ♀ ♂ ? ♀ ♂ ♀ ♂ ♀ ♂ ? ♀ ♂ 1601 15 2 1 14 2 1 14 2 1602 1 1 1 1621 1 1 1 1629 1 1 1 1631 14 8 11 2 3 6 11 2 3 5 1 1658 5 2 1 4 2 3 2 2 1659 8 4 1 7 4 2 1 4 3 1 1660 1 1 1 1 1 1 1662 2 2 1 2 1667 1 1 1 1686 1 1 1 1 1 1 1 1687 11 7 10 7 1 11 7 1694 1 1 1 1700 2 1 2 1 2 1 1701 3 1 2 1 2 1702 2 1 2 1 1 2 1703 1 1 1 1700-02 3 2 3 2 3 2 1700-03 1 2 2 1 1 2 Summe 70 34 1 31 14 40 20 1 35 12 32 17 2 5 1 1 0 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 261 der Zeit bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts praktiziert werden sollte, nahmen die örtlichen Hexenprozesse selbst in Verfolgungshochphasen (1601, 1631, 1658/ 59, 1687 und 1700-1703) keine exzessiven Ausmaße an. Es liegen folglich keine Massenverfolgungen vor. Ein näherer Blick in die fürstenbergische Strafurteilspraxis gibt dabei der Vermutung Raum, dass die Eindämmung der Opferzahlen offenbar wesentlich der gerichtlichen Verfahrenspraxis geschuldet war: Denn in nachweislich 45 % der Fälle verurteilte das westphälische Samtgericht die vermeintlichen Hexen nicht zum Tode, sondern stellte das Verfahren ein (siehe Abb. 9.1 auf der nächsten Seite). 1107 Dieser quantitative Befund ist bezeichnend. Denn für gemeinhin herrscht in der historischen Forschung die Meinung vor, dass die autonomen Adelsgerichte eine „Brutstätte“ von Massenverfolgungen mit hohen Todesraten gewesen seien, weil es an einer übergeordneten juristischen Kontrollinstanz gefehlt habe, die einen erheblichen Einfluss auf das lokale Prozessgeschehen hätte nehmen können. 1108 9.2.2 Die Voruntersuchung Der analytische Blick auf die frühneuzeitliche Generalinquisition im Hexenprozess, die die Grundlage für die spätere Spezialinquisition gegen den vermeintlichen Täter bildete, ist stets mit der Frage nach der Gründlichkeit des gerichtlichen Vorgehens hinsichtlich der Überprüfung der Indizienlage verbunden. Generell war von dem ortsansässigen Fiskal das Hexenverbrechen als crimen exceptum eingestuft worden. 1109 Hinreichende Verdachtsmomente für eine Prozesseinleitung ex officio bildete in Fürstenberg zumeist ein Bündel an Beweisstücken. Ausschlaggebend war zunächst die mala fama eines Menschen. Dabei wurde das „Gerücht“ hauptsächlich von zwei wesentlichen Fragen bestimmt: 1. ob die verdächtigte Person von Hexenart abstammte und 2. eine intensive Gemeinschaft zu ebenfalls berüchtigten Personen pflegte. Diese beiden Punkte bildeten von 1631 bis 1703 die zentralen Verdachtsmomente für die Initiierung eines Hexenprozesses, während die Fragen nach möglichen devianten Verhaltensauffälligkeiten oder Schadenszauberdelikten eher eine untergeordnete Rolle spielten. Idealtypisch sollte der Richter die Eröffnung eines Inquisitionsprozesses nicht bloß auf eine reine Indizienlage gründen, sondern die Beweise „aufstocken“, indem zusätzlich Denunziationen 1110 durch Zeugen angeführt wurden. Diese Verfahrenspraxis 1107 Einschränkend muss darauf hingewiesen werden, dass zwar in fünf Fällen die Delinquenten aus dem Hexenprozess entlassen wurden, jedoch erhielten sie eine Leibesstrafe (Ausstreichen) und wurden aus dem fürstenbergischen Gerichtsbezirk verbannt. Es handelt sich dabei um die Prozessfälle gegen Trina Kesperbaum (2x), Enneke Grothen (2x) und Clara Schlunß. Im Fall der Trina Kesperbaum ist zu ergänzen, dass sie insgesamt vier Mal des Gerichtsbezirks verwiesen wurde. 1108 Moeller: Willkür über Recht, S. 409-412. 1109 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Fiskals vom 26.06.1631. 1110 Im Zuge sozialhistorischer Forschungen zum Hexenthema hat die Denunziation einen negativen Stellenwert erhalten, da sie von den Zeitgenossen maßgeblich instrumentalisiert worden sei, um unliebsame Feinde „auszuschalten“. Aus rein rechtshistorischer Sicht hingegen stellt die 262 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Hinrichtung Freilassung Unklar 0 20 40 60 47,1 45,2 7,7 Anteil in % Abbildung 9.1: Urteilsspruch in den Hexenprozessen von 1601-1703 sollte sowohl Klarheit über die Dringlichkeit des Falls als auch eine sichere Rechtsbasis für die kostspielige Verfahrenseröffnung geben. 1111 Zudem stellte die Kumulation des Beweismaterials eine Vorsichtsmaßnahme dar, damit kein Verfahren geschwindtlich vnd vnbedechtlich (Art. 218 CCC) eingeleitet werde und der angegriffen an seinen ehren nachtheyl erleidet [...]. Die genannte Kautel sollte den Richter dahingehend sensibilisieren, mit größtmöglicher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit vorzugehen, nicht jeder Klage oder jedem Gerücht leichtfertig Glauben zu schenken, sondern müglich vnd nach gestalt vnd gelegenheyt eyner jeden sachen, [...], sich erkundigen, vnd fleissig nachfragens haben, ob die missethat darumb der angenommen berüchtiget vnnd verdacht, auch beschehen sei oder nit, wie hernach, inn diser vnser ordnung ferner erfunden wirdet 1112 . Die vorliegenden Indizien waren dabei durch eine Zeugenvernehmung zu verifizieren oder zu falsifizieren. Lediglich die Aussagen von zweyen guten zeugen (Art. 23 CCC) waren Denunziation eine legitime Anzeige dar, um „von Amts wegen Untersuchungen zu ermöglichen, die keiner formellen Klage (wie im Akkusationsprozess) bedurften“. Für die Prozesseröffnung war das Gericht folglich auf Zeugenaussagen qua Denunziation angewiesen, d. h., die Grenzen zwischen einem Denunzianten und einem Zeugen waren fließend. Siehe hierzu Walz, Rainer: Dörfliche Hexereiverdächtigung und Obrigkeit, in: Jeruscheck/ Marssolek/ Röckelein (Hrsg.): Denunziation, S. 80-98. Zitat von Landwehr, Achim: Art. „Denunziation“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http : / / dx . doi . org / 10 . 1163 / 2352 - 0248 _ edn _ a0731000 (Zugriff am 23. 03. 2017). Zur Problematik einer angemessenen Begriffsdefinition siehe Ross, Friso/ Landwehr, Achim (Hrsg.): Denunziation und Justiz. Historische Dimensionen eines sozialen Phänomens, Tübingen 2000. Das Hilfswörterbuch Laterculus Notarum übersetzt den Begriff „Denunziant“ mit „Anzeiger“, „Rüger“ oder „Ankläger“. Demandt: Laterculus, S. 72. Gerd Schwerhoff weist zusätzlich auf den Aspekt hin, dass Denunziationen einen Akt der Gruppensolidarität bildeten, um die Gemeinde vor dem Unwesen der Hexen zu schützen. Schwerhoff: Crimen, S. 23. 1111 Ströhmer: Rezeption, S. 65. 1112 Art. 6 CCC. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 263 für die rechtliche Beweisführung zulässig, um den Tatverdacht zu zerstreuen oder zu erhärten. 1113 Auf praktischer Ebene zählte in Fürstenberg die Zeugenbefragung nicht bei jedem Prozessbeginn zu den festen Bestandteilen des Hexenprozesses. Sie wurde sporadisch, zumeist bei den ersten zwei bis drei Prozessfällen, eingeleitet. Die Vermutung, dass eine Korrelation zwischen Zeugenbefragung und Sozialstatus der Inquisiten besteht, muss negiert werden. Die Zeugenvernehmung stellte kein exklusives Rechtsprivileg für diejenigen Delinquenten dar, 1114 die der sozialen Mittel- und Oberschicht angehörig waren. Da das Gros der Deüffelskinder zur bessergestellten Sozialklasse zählte, 1115 müssen die Gründe für diese singuläre Verfahrensweise folglich woanders zu suchen sein. Soweit zu eruieren ist, hing die Einleitung der Generalinquisition wesentlich von dem Umstand ab, inwieweit sich die bestellten externen Hexenkommissare einen ersten Überblick sowohl über den üblen Leumund als auch über die vermeintlichen Straftaten der Angeklagten verschaffen mussten. Indem sie die Beweislage auf ein Indizienkorpus von glaubhaften Augenzeugenberichten stützten, konnte die Einleitung der teuren Hexereiverfahren gegenüber der Ortsobrigkeit wohl begründet werden. Waren nicht genügend Augenzeugen aufzufinden, die die vermeintlichen Schadenszauberanschläge oder ein anomales Verhalten beobachtet hatten, 1116 griffen die Rechtsgelehrten auf sogenannte Collectores als Zeugen zurück. Diese lieferten Informationen oder ergänzten bereits eingeholte Informationen und überprüften zudem die Glaubwürdigkeit der von dem Angeklagten gemachten Responsiones. 1117 Die Einschaltung der Collectores stellt jedoch einen einzigartigen Sonderfall für die Verfolgungszeit von 1631 dar. In den folgenden Prozesswellen werden sie nicht weiter erwähnt. Ob die Errichtung dieses temporären Amtes als ein hinreichendes Indiz für eine mangelnde Denunziationsbereitschaft vonseiten der fürstenbergischen Einwohner zu deuten ist, kann nicht eruiert werden. Die Dauer und Intensität der Zeugenvernehmung sind durchaus ein Indikator für eine obrigkeitliche Verfolgungsbereitschaft bzw. für deren Verfolgungsunwilligkeit. Im Durchschnitt wurden zu Beginn einer Hexenprozesswelle vier bis sechs Personen examiniert. Einen Einzelfall stellt hingegen das Jahr 1686 dar. Als sieben Kinder verdächtigt wurden, Läuse zu zaubern, versuchte der ortsansässige Richter in minutiöser Kleinstarbeit, den Urheber für dieses Gerücht ausfindig zu machen, und befragte nicht weniger als dreizehn Personen. Dabei erschien es dem Richter als unwesentlich, ob die Kinder de facto gezaubert hatten. Wesentlicher war die Frage, warum dieses Gerücht im Dorf verbreitet worden war. Obwohl der Hauptschuldige, 1113 Ströhmer: Rezeption, S. 65 f. 1114 Die Grundüberlegung war, dass das Gericht bei einem besser sozial gestellten Delinquenten eher zu befürchten hatte, dass dieser in Revision geht. Bei einer nachweislich lückenhaft geführten Voruntersuchung hatte der Angeklagte nach carolinischem Recht Anspruch auf Schadensersatz. 1115 Siehe hierzu Kapitel 11. 1116 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 18.06.1658 und 22.07.1658. 1117 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Beeidung der collectores am 07.05.1631. 264 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg der Junge Johann Wilm Bock, bestätigte, er wolle [...] [den anderen Kindern] zeigen[,] wispelten [zu] machen 1118 , wurde kein Prozess gegen ihn eingeleitet. 1119 Ein weiteres anschauliches Beispiel liefert ein Fall von 1648, der die Nachbargemeinde Essentho in Aufruhr versetzte. Überzeugt davon, dass Cünna Fießel ihre Pferde und sonstiges Vieh vergiftet habe, forderte das Dorf über zwei Jahre lang von den Herren von Westphalen, einen Hexenprozess zu initiieren. Die Adelsherren wiesen jedoch die Klagen geschickt ab, indem sie durch einen Richter eine intensive Zeugenbefragung der Einwohner durchführen ließen, die die vermeintliche Unhaltbarkeit der Vorwürfe ans Tageslicht förderte. 1120 Während bei den ersten Prozessfällen noch eine gründliche Zeugenvernehmung durchgeführt wurde, sollte allgemein bei den nachfolgenden Hexenprozessen größtenteils auf diesen Prozessschritt verzichtet werden. Die Besagungen der bereits hingerichteten Delinquenten galten als schwerwiegende Indizien und ließen den zusätzlichen Kostenfaktor „Zeugenbefragung“ in den Augen der Rechtsgelehrten und des Gerichtsstabes obsolet erscheinen. Die Zulässigkeit der umstrittenen Besagungen als hinreichendes Indiz für eine Prozesseröffnung ist ein übliches Kennzeichen eines extraordinär geführten Verfahrens, da sie den Regeln des processus ordinarius Hohn sprach. 1121 Jedoch wurden die carolinischen Verfahrensprinzipien nicht gänzlich außer Acht gelassen und die Vorsichtsvorkehrungen berücksichtigt, dass nicht jeder Anzeige eines Mittäters uneingeschränkt Glauben zu schenken sei. 1122 Der Gedanke, dass ein Hexenprozess sowohl auf den Rechtsgrundlagen eines extraordinär als auch ordinär geführten Verfahrens basieren konnte, d. h. eher einer „Mischform“ entsprach, muss für das fürstenbergische Gericht betont werden. Wie noch im Laufe dieses Kapitels zu beweisen ist, stützte sich der lokale Justizapparat zwar in materieller Hinsicht auf das crimen exceptum, aber vom formellen Aspekt her nicht gänzlich auf den processus extraordinarius - das Ausnahmedelikt sollte vornhemlich mit „ordentlichen“ Mittel aufgeklärt werden: Gerade am Beispiel der Besagungen wird eine hohe Differenzierungs- und Selektionslogik sichtbar, die der 1118 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 73 v . 1119 Johann Wilm Bock widersprach sich jedoch im Verlauf des Verfahrens und sagte aus, lediglich hespel gemacht haben zu wollen, also Wespen. 1120 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. Siehe auch hierzu die unveröffentlichte Masterarbeit von Masiak, Sarah: Ein deüffel und ein werwolff im Raum Paderborn. Eine Studie zum crimen magiae in Essentho (1648-1650) und Fürstenberg (1659), (unveröffentlicht), Masterarbeit, Paderborn: Universität Paderborn, 2013. 1121 Schwerhoff, Gerd: Art. „Todesstrafe“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a4349000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 1122 Art. 31 CCC Item so eyn überwundner mißthetter, der inn seiner missethat helffer gehabt, jemant inn der gefengknuß besagt, der jm zu seinen geübten erfunden mißthatten geholffen haben, ist auch ein argkwonigkeyt wider den besagten, sofern bei solcher besagung nachuolgende vmbstende vnd ding gehalten vnd erfunden werden. Erstlich, daß dem sager, die beklagt person, inn der marter mit namen nit fürgehalten, vnnd also auff die selbig person sonderlich nit gefragt oder gemartert worden sei, sondern daß er inn eyner gemeyn gefraget, wer jm zu seinen mißthatten geholfen, den besagten von jm selbs bedacht vnd benant habe. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 265 These Raum gibt, dass das Gerichtspersonal diesen mit großer Skepsis begegnete (siehe Tabellen 9.5 und 9.6 auf S. 279 f.) - im Übrigen ein Gerichtshabitus, der typisch für das lokale Justizwesen war, wie anhand der Bagatelldelikte eruiert werden konnte. 1123 Selbst ein Widerruf der Namenspreisgaben wurde generell von der lokalen Hexenjustiz akzeptiert, ohne dass der Delinquent für eine Bestätigung erneut gefoltert wurde. 1124 Mit dieser Verfahrenspraxis beschnitt sich der Gerichtsapparat selbst in seinem Aktionsradius, und ein Ausufern der Hexenprozesse wurde verhindert. Ähnlich wie die Zeugenbefragung erfüllte auch die Aktenversendung den Zweck, letzte Unsicherheiten ob der Einleitung oder Ablehnung eines Hexenprozesses zu eliminieren. Bezeichnenderweise ist im Prozessaktenband lediglich ein Dokument vorhanden, das von einer Konsultierung einer ausgewiesenen Juristenfakultät zeugt, obwohl in der Carolina (Art. 219) ausdrücklich von den Richtern gefordert wurde, in Zweifelsfällen den Rat eines unparteiischen Rechtskollegiums einzuholen. Es handelt sich hierbei um ein Rechtsgutachten der Juristischen Fakultät der Universität Ingolstadt von 1602 und betraf Elsche Budden, die bereits 1601 im Verdacht der Hexerei stand. 1125 Die rechtliche Expertise wurde folglich zu einem Zeitpunkt ersucht, als das fürstenbergische Gericht noch unerfahren im Umgang mit dem Hexereidelikt war. Für alle übrigen Prozesse von 1601 bis 1703 wurden ausschließlich Interlokute von (Einzel-)Gutachtern gefordert, die eine gewisse Verbindung zum Verfolgungsmilieu oder zu den Herren von Westphalen hatten. 1126 Die in der Carolina vorhandene Idee einer größtmöglichen Objektivität durch die Konsultierung eines externen Kollegiums, das zudem eine räumliche Distanz zum jeweiligen Verfolgungsgeschehen hatte, ist in Fürstenberg folglich unberücksichtigt geblieben. Mit ihrer autarken Verfahrensführung demonstrierten die Herren von Westphalen unmissverständlich, dass das ius gladii im fürstenbergischen Gerichtsbezirk bei ihnen lag und sie auch fähig waren, es souverän auszuüben. 1127 9.2.3 Offizielle Anklageerhebung Ein grundlegender Verfahrensschritt für die offizielle Anklageerhebung war die gütliche Befragung des Delinquenten anhand eines individuell erstellten Indizienkataloges, der sogenannten Interrogatoria. Der Angeklagte wurde einen Tag vor der gütlichen Inquisition in Haft genommen und im Zehnthaus unter ständiger Bewachung gefangen gesetzt. Der marode Zustand des Zehnthauses, der seit nachweislich 1631 bestand, bot offenbar für einige Inquisiten die einladende Chance zu fliehen. Trotz der 1123 Siehe hierzu Kapitel 8. 1124 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis des Johann Hinte am 29.08.1658. Ebenso Meineke Brielohn am 11.06.1659, Gölcke Schweins am 27.06.1631, Ursula, Gotten Gerdes Frau am 28.06.1631. 1125 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog von Elsche, die Buddesche. 1126 So wurden beispielsweise die Hexenkommissare Antonius Bergh und Wilhelm Steinfurt, die Rechtsgelehrten Leonhard Beckmann und Conrad Rose aus Lippstadt sowie das Paderborner Hofgericht um Rat gefragt. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1127 Vgl. Ströhmer: Rezeption, S. 187. 266 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg ketten nägel 1128 , die dem Inhaftierten zuvor angelegt worden waren, gelang mehreren Angeklagten die Flucht. Sie wurden jedoch nach ein bis zwei Tagen von den Schützen wieder auffgeschnappt. 1129 Für gewöhnlich fand dieser Teil der Befragung in der Richterstube unter Vorsitz des Richters zusammen mit vier Schöffen sowie den Hexenkommissaren statt. Bevor der Angeklagte die Möglichkeit hatte, seine Unschuld zu beteuern bzw. seine Schuld einzugestehen, wurde er von den Schöffen ermahnt, in der Güte zu bekennen. Dieser Verfahrensschritt bot dem Inquisiten die Möglichkeit, das Beweismaterial anhand von entlastenden Antworten zu entkräften und sich zu verteidigen. Bezeichnenderweise konnten ab diesem Prozessabschnitt viele Angeklagte die Einleitung der Hauptuntersuchung mittels ihrer Responsiones verhindern. 1130 War das Justizpersonal jedoch von der Schuld des Angeklagten überzeugt, konnte es aufgrund der starcken Indizien (Halbbeweise) das weitere Prozessgeschehen vorantreiben - sowohl Halsstarrigkeit im Sinne von Leugnen als auch ein Teil- oder vollständiges Geständnis 1131 führten somit zwangsläufig zum nächsten Verfahrensschritt - der peinlichen Hauptuntersuchung. Diese „Zwickmühle“ war den Bestimmungen des materiellen Rechts geschuldet, laut denen beim Fehlen eines „vollen Beweises“ (Geständnis und zwei glaubwürdige Zeugen) verfahrensrechtlich zur Tortur geschritten werden sollte. 1132 Dennoch war die Lage für den Angeklagten nicht aussichtslos, denn in Fürstenberg sind dem Delinquenten nicht alle wirkungsvollen Verteidigungsoptionen versperrt worden. 1133 Bevor allerdings die Hauptuntersuchung eingeleitet wurde, bildete die Konfrontation eine weitere wichtige Ermittlungsmethode im frühneuzeitlichen Strafprozess. Die Gegenüberstellung war ein Teil der gütlichen Befragung und diente zum einen dazu, Klarheit über sich widersprechende Aussagen zu erhalten. 1134 Zum anderen war sie ein psychologisches Druckmittel, um den Widerstand des Inquisiten zu zermürben. Zudem bot die Konfrontation für die lokalen Justizbeamten die Möglichkeit, zusätzliche Indizien gegen weitere potenzielle Delinquenten zu sammeln. Die Gegenüberstellung bestand gewöhnlich aus einem beschuldigenden Part, den ein bereits geständiger Angeklagter übernahm, und einem „Zuhörer“, dem Delinquenten, den es noch zu überführen galt. Während dieser „Gesprächssituation“ hielt der Gerichtsschreiber jegliche Reaktion oder Resignation des zu Überführenden schriftlich fest, die anschließend als weitere Indizien seiner Schuldbzw. Unschuld gedeutet werden konnten. Die fürstenbergischen Hexenprozessakten gewähren mehrfach einen 1128 Für das gelieferte Schmiedematerial bezahlten die Herren von Westphalen in der Verfolgungsperiode von 1658/ 59 Johann (Jesper) Henckel. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Rechnung der Hinrichtung des Jost Hammerschmetts vom 18.07.1658. 1129 Siehe hier den Fall von Meineke Brielohn am 11.08.1659 und Goert Nüthen vom 01.07.1631. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1130 Siehe hierzu die Verfolgungswellen von 1631 und 1686/ 87. 1131 Stellvertretend für viele Beispiele seien die Responsiones von Enneke Grothen (23.07.1658) und Liese Böddeker (19.07.1658) erwähnt. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1132 Vgl. Dezza: Strafprozessrecht, S. 224. 1133 Für einen detaillierten Überblick der örtlichen Verteidigungsoptionen siehe das folgende Kapitel. 1134 Vgl. Dezza: Strafprozessrecht, S. 218. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 267 Einblick in eine solche Kommunikationsszene. So bat beispielsweise die bereits überführte Liese Böddeker die inhaftierte Enneke Grothen flehentlich, dass sie doch Ihr hertze Lösen [sollte], bekene vndt gebe Gott die Ehr wie sie[,] [Liesa][,] [es] gethan hette, dan sie wehr Eben so schüldig alß sie, wehre bey beyerßbusche midt Ihr vffm deuffelsdantze gewesen. Enneke erwiderte darauf: O Lisa[,] ist dat so, bin ich da gewesen, so bleibt dabey vndt schlaget mier daß haubt ab. Lisas Worte blieben jedoch ohne Wirkung, sodass der Richter wegen Ennekes steiffhaften sinß 1135 die Konfrontation beendete. Die Vis-à-vis-Gegenüberstellung sollte aber nicht fälschlicherweise lediglich als ein sadistisches Druckmittel im frühneuzeitlichen Strafverfahren betrachtet werden, dessen einziges Ziel es war, den Willen der Angeklagten zu brechen. Diese Ansicht greift m. E. zu kurz und würde den frühneuzeitlichen Verfahrensprinzipien im Hexenprozess, die mit einer Vielzahl von Kautelen gekoppelt waren, auch nicht gerecht werden. Die Konfrontation beruhte auf einem weiten Spektrum zeitgenössischer Ideen soziokultureller, religiöser, aber auch gewohnheitsrechtlicher Art und ist folglich noch aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Es gilt freilich, auch die idealtypische Grundidee hinter dem Verfahrensschritt der Konfrontation zu sehen, die in der verfahrenstechnischen Praxis sicherlich zwecks Geständniserpressung instrumentalisiert werden konnte: 1. Wird die in der Carolina erhobene Anordnung, niemanden zu Unrecht eines Vergehens zu beschuldigen, zum Leitfaden interaktioneller Handlungen erhoben, ist ersichtlich, warum die Konfrontation als ein probates Rechtsmittel der Täterüberführung galt. Die Hexenjustiz ging schlicht von der Prämisse aus, dass der vermeintliche Delinquent von dieser Norm selbst im Hexenprozess nicht abrückte. 2. Die direkte Beschuldigung ins angesichte stellte zudem in psychologischer Hinsicht eine Hemmschwelle dar, die Unwahrheit zu sagen. Schließlich herrschte 3. in der frühneuzeitlichen Gesellschaft die religiöse Vorstellung, dass der geständige Inquisit im Angesicht seines nahen Todes sein Seelenheil nicht mit einer Lüge gefährden werde. 1136 9.2.4 Verteidigungsmöglichkeiten der Delinquenten In Anlehnung an die Modalitäten eines processus ordinarius waren gemäß der Carolina (Art. 47 sowie Art. 73) und dem gemeinrechtlichen Zivilprozess dem Angeklagten vor der Anwendung der Tortur verschiedene Verteidigungsmöglichkeiten eingeräumt worden. Diese sollten dem Delinquenten die Möglichkeit gewähren, die Anklagepunkte zu entkräften und eine Verfahrenseinstellung zu erzielen. 1137 1135 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., stellvertretend für viele Beispiele seien die Responsiones von Enneke Grothen (23.07.1658) und Liese Böddeker (19.07.1658) erwähnt. 1136 Erinnert sei daran, welche Bedeutung der Denunziation von Sterbenden zugemessen wurde, wie sie auch Rainer Walz für den lippischen Raum feststellte. Vgl. Walz: Magische Kommunikation, S. 320. 1137 Ausführlich siehe hierzu Ströhmer: Rezeption, S. 66 ff. 268 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Bezeichnenderweise war die lokale Obrigkeit darauf bedacht, in dieser Hinsicht den vermeintlichen Hexen und Hexer einen ordentlichen Prozess zu ermöglichen, und räumte ihnen weitreichende Verteidigungsoptionen ein. Diese Fälle sind ein markantes Beispiel dafür, an welchen materiell- und strafrechtlichen Hürden ein Hexenprozess scheitern konnte und wo dem Delinquenten rechtliche Verteidigungsräume zugestanden wurden. Dass sich die Angeklagten ihres rechtlichen Aktionsradius in der Tat bewusst waren und diesen auch strategisch für ihren Rechtsschutz zu nutzen wussten, belegen zahlreiche Hexenprozessakten. Darüber hinaus gewähren die Dokumente den Einblick, dass die fürstenbergischen Inquisiten der Hexenjustiz nicht nur passiv ausgeliefert waren, sondern auch aktiv eine Verurteilung abwenden konnten. Die Kehrseite dieser Medaille zeigt ferner eine Ortsobrigkeit, die darauf bedacht war, die Rechte ihrer einzelnen Gemeindemitglieder zu wahren und nicht repressiv zu verfahren. Das fürstenbergische Samtgericht gestattete den Angeklagten nach dem Verfahrensprinzip des processus ordinarius auch im Hexenprozess eine Defension, die dem Inquisiten sogar fallweise vom Richter und Hexenkommissar ausdrücklich nahegelegt wurde. So ermahnte beispielsweise der Hexenkommissar Johannes Poelmann in der letzten großen Verfolgungswelle von 1700 bis 1703 wiederholt die Angeklagten, sich einen Defensor zu holen, da es jedem Straftäter freistünde, sich mitt recht zu vertähtigen vndt die ex parte Fisci vbergegebene auch wieder ihmen streitende starcke indicia zu elidiren gebrauchen möchte[,] so stunde demselben frey[,] auff seine kosten einen Defensoren zu begehren [...] 1138 . Jedoch lehnten manche der Angeklagten aus Kostengründen einen Verteidiger ab. Der Inquisit Albert Sanders weigerte sich z. B. einen Advokaten zu konsultieren, weil er nicht säcke voll gelts hette 1139 . Trotz der monetären Bedenken wendeten sich insbesondere in der Verfolgungsperiode von 1631 mehrere der Hexerei verdächtige Personen an einen Defensor, der sie auch erfolgreich vor einer Hinrichtung bewahrte. 1140 Einige dieser Fälle seien an dieser Stelle geschildert. Der erste dokumentierte Widerstand kam von dem bereits zitierten Angeklagten Johann Vahlen vulgo Behlen. Johann Vahlen war 1629 vom schwarzen Hermann als Hexer denunziert worden, doch kam es zu diesem Zeitpunkt noch zu keiner Initiierung eines Hexenprozesses. Das Gerücht über ihn erhielt jedoch im Mai 1630 einen hohen Intensitätsgrad, weil die Zuckersche behauptete, er vergifte Pferde und Vieh. Besonders Christoffer Veckel sei Leidtragender seiner Schadenszauberpraktiken, der aufgrund des rasanten Viehsterbens zu einem armen Manne gemacht worden sei und schließlich aus Fürstenberg habe wegziehen müssen. 1141 Bis zum Juli 1631 wurden weitere starke Indizien gegen Johann Vahlen vorgebracht, sodass sich schließlich das Gericht gezwungen sah, strafrechtlich gegen ihn vorzugehen und Indizien zu sammeln. Unmittelbar darauf ging ein Schreiben bei den Herren von Westphalen ein, in dem 1138 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 118 r . 1139 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 116 r . 1140 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Anwaltsschreiben von ca. Juli 1631. 1141 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog contra Johann Vahlen. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 269 sich Johann über den Fiskal beschwerte, weil dieser ihm die Akteneinsicht verweigert habe, auf deren Grundlage der Advokat eine Verteidigungsschrift hätte erstellen können. Die Ortsobrigkeit gab dem Inquisiten Recht und befahl, dass alsbald der Fiskal ihm die gewünschten Dokumente aushändige. Basierend auf den Artikeln 66 und 68 CCC entkräftete der Defensor schließlich die belastenden Indizien, da sie auf eine boßhafftig zeugenschafft und diversen Verleumdungen beruhten, die gemäß der Carolina im eklatanten Widerspruch zu den Qualitätsmaßstäben einer Zeugenaussage ständen. Der Prozess gegen Johann Vahlen wurde gegen eine Bürgschaft in Höhe von 500 Reichstalern eingestellt. 1142 Auch die angeklagte Elsa Vogels, die seit 1601 mit dem Hexengerücht belastet war, konsultierte 1631 einen Anwalt. Aus dessen Schreiben geht hervor, dass dem Richter und den Schöffen offenbar gleich mehrere erhebliche Verfahrensmängel unterlaufen waren. Dabei implizierte der Anwalt in seiner Verteidigungsschrift, dass bei seiner Principalin absichtlich widerrechtlich verfahren worden und somit die Reputation der lokalen Hexenjustiz anzuzweifeln sei. Der Defensor verurteilte scharf die verfahrensrechtliche Praxis im Fall der Vogelschen, weil die Collectores offensichtlich einen Meineid geleistet hätten. In kasuistischer Vorgehensweise listete der Anwalt die irrelevantz vndt Vergeblichkeit der Anklagepunkte gegen seine Mandantin auf und beendete sein Schreiben mit dem süffisanten Schlusssatz, dass er im Gegensatz zum örtlichen Fiskal ordentlich verfahre 1143 . Anschließend erstellte er einen alternativen Indizienkatalog, in dem er dezidiert Beweise aufführte, die den guten Leumund seiner Klientin bezeugen sollten. 1144 Schließlich wurde die Anklage gegen Elsa gegen eine Bürgschaft von 200 Reichstalern aufgehoben. 1145 Bezeichnenderweise schlossen sich in einem weiteren Fall sogar zwei Angeklagte zu einem Personalverbund zusammen und verfassten gemeinsam eine Supplik an den Hexenkommissar Georg Brügemann mit der Bitte, eine copiam indicorum auszustellen, damit sie einen Rechtsgelehrten konsultieren könnten. 1146 Die Gründe für diesen Zusammenschluss waren nicht allein monetären Überlegungen geschuldet, beispielsweise zwecks Kosteneinsparung. Die zwei Inquisitinnen, Elsche Grothen vulgo die Buddesche und Meineke Brielohns Witwe Trina, standen in einem engen Verwandtschaftsverhältnis: Meineke Brielohns Witwe war qua Heirat mit der Grothen- Familie 1147 verbunden. Dieser strategische „Kniff“ mag nicht nur in psychologischer Hinsicht den Delinquentinnen untereinander Rückhalt gegeben haben, sondern stärkte 1142 Die von Johann Vahlen eingereichte Injurien-Klage gegen Maria Sinckhaus (die Zuckersche) wurde jedoch abgewiesen und beide Parteien zur Begleichung der entstanden Gerichtskosten angehalten. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Gerichtsbeschluss vom 03.08.1631. 1143 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Anwalts vom Juli 1631. 1144 Hugo S. J. Zwetsloot weist in seiner Arbeit nach, dass der Advokat in seinem Schreiben explizit und implizit dieselben Argumente wie der Jesuitenpater Friedrich Spee nutzte. Siehe hierzu Zwetsloot, Hugo S. J.: Friedrich Spee und die Hexenprozesse. Die Stellung und Bedeutung der Cautio Criminalis in der Geschichte der Hexenverfolgung, Trier 1954. 1145 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Freilassungsbescheid vom 17.07.1631. 1146 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Supplik vom 24.07.1631. 1147 Siehe hierzu Kapitel 11.1.1. 270 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg sie auch in Hinblick auf ihre rechtliche Situation. Damit erhöhten sie ihre Chancen auf eine Verfahrenseinstellung. Künftig wurden die Verfahren gegen Elsche Budden und Trina Brielohn vom Fiskal und Hexenkommissar nicht mehr getrennt voneinander betrachtet, sondern in einem Atemzug genannt. Dieser Umstand war nicht nur der gemeinsam formulierten Bittschrift geschuldet: Offenbar hatten die beiden Angeklagten mit Erfolg auch denselben Anwalt wie Elsa Vogels aufgesucht: 1148 Elsche Budden und Trina Brielohn wurden am gleichen Tag gegen eine Kaution in Höhe von 300 Reichstalern aus der Haft entlassen und das Verfahren gegen sie eingestellt. 1149 Warum die Angeklagten sich nur in äußerst wenigen Fällen an externe Rechtsgelehrte wandten - lediglich die vier beschriebenen Fälle sind bekannt -, mag weniger dem Kostenfaktor geschuldet gewesen sein als eher der festen mentalen Verankerung des purgatio-Gedankens in der fürstenbergischen Gesellschaft, der dem Römischen Recht entlehnt war. 1150 Die purgatio galt als ein probates Rechtsmittel, das dem Delinquenten in der Hauptuntersuchung die Möglichkeit bot, sich von dem Tatvorwurf zu reinigen, wenn dieser die Tortur ohne Geständnis durchstand (tortura purgat a crimine) 1151 - ein wichtiger Aspekt, der m. E. bisher in der Hexenforschung zu wenig beachtet worden ist. Eine symbolische Reinigung mittels körperlicher Schmerzen scheint im fürstenbergischen Inquisitionsprozess auch für den Angeklagten möglich gewesen zu sein, weil für gewöhnlich nach zweimaliger überstandener Tortur ohne erfolgtem Geständnis der Prozess gegen den Delinquenten eingestellt wurde 1152 - eine lokale Verfahrenspraxis, die auch den Delinquenten bekannt gewesen sein muss. Denn einige Inquisiten gaben explizit an, sich willig 1153 der Tortur zu unterziehen. So sagte beispielsweise Elsche Budden 1687 freimütig dem Richter, er sollte mit der Folter beginnen; sie werde ihr recht ausstehen, indem sie ihre Haut zum Besten gebe 1154 . In der gesamten lokalen Verfolgungsperiode von 1601 bis 1703 wurde mindestens bei vier Personen die Hexereianklage fallengelassen, weil sie die Tortur ohne Ablegung eines Geständnisses ausgestanden hatten. 1155 Eine weitere Form der Verteidigungsmöglichkeit bildete das Ordal der Wasserprobe. Ohne an dieser Stelle auf die ideengeschichtlichen Ursprünge oder auf die 1148 Die Submissionsschrift von Meineke Brielohns Witwe ist in dem Konvolut nicht erhalten geblieben. Dass sie sich allerdings mit Elsche Budden zusammengeschlossen hatte, geht aus einer Replik des Fiskals hervor. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Beschluss des Fiskals vom 06.07.1631. 1149 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Beschluss des Fiskals vom 06.07.1631. 1150 Ströhmer: Rezeption, S. 70. 1151 Trusen, Winfried: Rechtliche Grundlagen der Hexenprozesse und ihrer Beendigung, in: Lorenz, Sönke/ Bauer, Dieter (Hrsg.): Das Ende der Hexenverfolgung (Hexenforschung, Bd. 1), Stuttgart 1995, S. 203-226, hier S. 204. 1152 Die gängige Folterpraxis in Fürstenberg wird im nächsten Unterkapitel detailliert untersucht. 1153 Im Artikel 124 Bambergensis heißt es in einem Holzschnitt: Wo du gedult hast in der peyn/ So wirt sie dir gar nutzlich sein/ Darumb gib dich willig darein. Z. n. Ströhmer: Rezeption, 70, Fußnote 223. 1154 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 20. 1155 1658/ 59 die Beckersche (2x), Trina Klingenberges (2x), Peter Nottebaum und 1687 Elsche Budden. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 271 von Zeitgenossen kontrovers diskutierte Legitimation bzw. Illegitimität der Wasserprobe einzugehen, 1156 sei lediglich vermerkt, dass in Fürstenberg - wie in vielen westfälischen Orten 1157 - die Kaltwasserprobe weit verbreitet war. Während der ersten Verfolgungswelle im Jahr 1601 zählte sie im Untersuchungsraum zum festen Verfahrensbestandteil eines Hexenprozesses und wurde nachweislich bis 1669 praktiziert. 1158 Die in der historischen Forschung vorherrschende Meinung, dass die Kaltwasserprobe in der Frühen Neuzeit ihren Charakter als Gottesurteil verloren habe, kann für den fürstenbergischen Raum nicht übernommen werden. Diese Sichtweise erscheint m. E. auch zu rechtspositivistisch gedacht und muss mit der sozialen Wirklichkeit der Zeitgenossen nicht zwangsläufig übereinstimmen. Denn offensichtlich hatte in der fürstenbergischen Bevölkerung die Kaltwasserprobe bis weit in das 17. Jahrhundert hinein noch den bedeutenden Stellenwert eines Gottesbeweises, 1159 wurde aber in rechtlicher Hinsicht nicht als verdachtserhärtendes Indiz in Hexenprozessen zugelassen. Obwohl die externen Hexenkommissare seit 1631 die Inquisiten wiederholt darauf hinwiesen, dass die Kaltwasserprobe als Beweismittel unzulässig sei, beharrten die Delinquenten vehement auf der proba aquae. So schrie beispielsweise wiederholt Trina Kesperbaum während der Tortur: sie wolte vffs waßer[,] Immerfort bringet mich vffs waßer, daß Ist die weißeste Probe, bittedt abermal vmb Gottes willen, gebt mier die waßerprobe. [...] gebt mier daß waßer sonst geschieht mier nicht Recht 1160 . Ebenso vehement bat Zenzing Buschmann um das Wasserordal, da er sich gewiss war, wie ein Mühlenstein zu Boden zu sinken und so seine Unschuld zu beweisen. 1161 Bezeichnenderweise gestattete das Gericht jede einzelne Bitte um die Wasserprobe und ließ sie durch den bestellten Scharfrichter durchführen. Wiederholt betonte der Richter, dass er dem Delinquenten den Wunsch der Kaltwasserprobe nicht abschlagen wolle, obwohl sie als solches vor kein Indicium zu achten 1162 sei. Den Inquisiten wurden folglich vonseiten der Ortsobrigkeit und Hexenjustiz Partizipationsmöglichkeiten am Prozessgeschehen eingeräumt. Das Beharren der Delinquenten auf die Kaltwasserprobe lag in ihrem öffentlichkeitswirksamen Charakter. Das Wasserbad kann in der Tat als ein „politisches“ 1156 Über die verschiedenen frühneuzeitlichen Gelehrtenmeinungen ob der Zulässigkeit der Wasserprobe siehe Gersmann: Wasserproben. 1157 Vgl. Schormann: Nordwestdeutschland, S. 119. 1158 Die noch späte Nutzung der Wasserprobe, obwohl bereits auf dem Laterankonzil von 1215 verboten, scheint ein Beleg für die von Gersmann aufgestellte These zu sein, dass dieser Spektralbeweis insbesondere von Adelsherrschaften als Ausdruck herrschaftlicher Selbstbehauptung genutzt wurde. 1159 Bis nachweislich 1669 hatte die „Kampfwasserprobe“ in der Gemeinde ihren Stellenwert als Gottesbeweis nicht verloren. Sie galt weiterhin als ein probates Mittel, um die Schlechtigkeit des Gegners in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 95 r . 1160 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Hexenprozess contra Trina Kesperbaum am 20.07.1658. 1161 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Hexenprozess contra Zenzing Bischmann am 24.07.1659. 1162 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Notiz des Gerichtsschreibers im Hexenprozess contra Peter Nottebaum am 08.08.1659. 272 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Instrumentarium betrachtet werden, mit dem sich die Delinquenten einen öffentlichen Meinungswechsel über ihren schlechten Leumund erhofften, um somit gleichzeitig die Hexenjustiz von ihrer Unschuld zu überzeugen. Allerdings barg ein Wasserbad für die Angeklagten die Gefahr, dass die Öffentlichkeit und die Ortsobrigkeit in ihrem Treiben informell bestärkt wurden, wenn es zu Ungunsten des Angeklagten ausfiel. Nicht zu vergessen ist auch die hohe Suggestionskraft, die die Wasserprobe für den Delinquenten selbst haben konnte. Ein Beispiel sei für diese Situation angeführt: Als bereits das Hauptverfahren gegen Peter Nottebaum eingeleitet wurde, bestand er darauf, dass ihm die Wasserprobe gewährt werde. Seiner Bitte nachkommend, wurde er zum Wasser geführt und öffentlich gefragt, ob das Wasserbad wirklich sein Begehren sei, widrigen falß solte wider zurück geführt werden. Auf sein inständiges Bitten hin wurde er vom Scharfrichter gebunden, vff ein brett gesetzt vndt zum waßer hinein gelaßen vndt geschwommen wie ein ganß. Diese Prozedur wurde ein zweites Mal wiederholt, jedoch mit dem gleichen Resultat. Anschließend wurde Peter Nottebaum aus dem Wasser herausgezogen, darauff loeß gebunden vndt zum dritten mahl hinein gelaßen, da er gleichfalß midt händt vndt füßen auch den gantzen leib geschwommen wie eine Ganß vndt wie hierauff der vmbstandt geruffen[,] Er sehe nuen woll[,] waß er für ein Man wehr [...]. Anfangs noch den Vorwurf der Hexerei negierend, wandelte sich innerhalb kurzer Zeit Nottebaums Gemütszustand, indem er sich selbsten auch vmb die bloßen arm midt händen gestrichen[,] sagendt du sathanas[,] weich von mier ab, auch von Ihnen zu bitten begehrt, daß der böse feindt vom ihm weichen möchte [...] 1163 . Wie sehr die Wasserprobe ein regelrechtes Spektakel im Dorf Fürstenberg darstellte, 1164 belegt eine Anmerkung von einem Chronisten am Anfang des 19. Jahrhunderts, die ein illustratives Zeugnis des kollektiven Gedächtnisses ist. Knapp 120 Jahre nach Beendigung der letzten Hexenverfolgung wird in der Gemeinde weiterhin mündlich tradiert, wo sich der ehemalige „Schwemmteich“ befand, in dem die Wasserproben durchgeführt worden sind. Der Chronist berichtet, dass [...] [die Hexen] auf dem Wasserplatze bei der Lohemühle ohnweit Ridders Hause ins Wasser geworfen [worden sind], und welche in diesem so genannten Schwemmteiche zu Grunde gegangen, sind auf dem Scheiterhaufen geworfen, und verbrannt worden 1165 . Diesen Teich können Besucher gegenwärtig als trockengelegtes Teichbett bestaunen. 9.2.5 Die Hauptuntersuchung Konnte der Inhaftierte sich nach Ansicht der Hexenjustiz nicht überzeugend von dem Verdacht der Hexerei reinigen oder zeigte er sich gar verstockt (alle gütliche ermahnung[en] an deroselben verlohren gehen), war das Gericht befugt, die peinliche Hauptuntersuchung einzuleiten, wenn gnugsame Indizien gegen den Delinquenten 1163 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., durchgeführte Wasserprobe an Petter Nottebaum am 09.08.1659. 1164 Vgl. hierzu Rügge, Nicolas: Die Hexenverfolgung in der Stadt Osnabrück. Überblick - Deutungen - Quellen (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen, Bd. 56), Osnabrück 2015, S. 139. 1165 Z. n. Nolte: Chronik, S. 17. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 273 vorlagen. Bevor zur Tortur geschritten wurde, führten die Wächter oder Schützen den Delinquenten vom Gefängnis (Zehnthaus) zum Torturplatz. Aus der Prozessakte des Meineke Brielohn geht hervor, dass sich der Folterort im alten Schafstall der Herren von Westphalen befand. 1166 Dass ausgerechnet der Schafstall als Marterort ausgewählt wurde, war keine zufällig getroffene Entscheidung. Diese Lokalität bot aufgrund ihres ausreichenden Platzangebots genügend Raum für die Unterbringung aller Prozessbeteiligten und garantierte zusätzlich Bewegungsfreiheit: 1 Richter, 1 Gerichtsschreiber, 4 Schöffen, 1-2 Hexenkommissare, 1 Scharfrichter sowie sein Hilfspersonal und schließlich der Delinquent. Zudem musste genügend Platz für die Prozessutensilien vorhanden sein: Stühle für die Gerichtspersonen, ein Tisch für den Protokollanten und das Folterinstrumentarium. Zudem waren der Schwemmteich für das Ordal der Kaltwasserprobe und der Verbrennungsplatz nur wenige Schritte von dem alten Schafstall entfernt (siehe Abb. 7.1 auf S. 118 f.). Dass die fürstenbergische Rechtsinstitution beim Hexenverbrechen fraglos auch als „magisches Gericht“, um es mit den Worten von Johannes Dillinger wiederzugeben, bezeichnet werden kann, belegen mehrere Prozessakten. 1167 In Anbetracht des hier erarbeiteten lokalen Hexenbildes (siehe Kapitel 10) waren auch nach zeitgenössischer Ansicht apotropäische Schutzmaßnahmen zwingend notwendig, da die fürstenbergischen Einwohner annahmen, dass von den vermeintlichen Malefikanten eine starke schadenswirkende Kraft ausging. 1168 Um sich einerseits vor dem schädlichen Einfluss der Hexen zu schützen und andererseits diese zu einem gütlichen Bekenntnis zu bewegen, ergriff vor Beginn der Hauptuntersuchung das Gerichtspersonal verschiedene Maßnahmen: Dem Delinquenten wurde vor dem peinlichen Verhör ein krefftlich gebett Jegen den deuffel 1169 vorgelesen und ein geweihtes Torturhemd angezogen. Auch der Inquisit und die Folterwerkzeuge mussten gesegnet werden. 1170 Zusätzlich wurden dessen Haare abgeschnitten und dessen Haupt geschoren, damit der Teufel sich dort nicht verstecken und seine Anhänger mit einem Schweigeund/ oder Unverwundbarkeitszauber schützen konnte. 1171 Nach diesen apotropäischen Vorkehrungen, die auch den Hexenprozess beschleunigen sollten, 1172 erfolgte anschließend der peinliche Verfahrensteil. Bevor auf die einzelnen in Fürstenberg praktizierten Folteranwendungen eingegangen werden soll, erscheint es aufgrund der weitverbreiteten Ansichten zur gängigen 1166 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage des Hans Schetters am 17.06.1659. 1167 Vgl. Dillinger, Johannes: Das magische Gericht. Religion, Magie und Ideologie, in: Eiden/ Voltmer (Hrsg.): Hexenprozesse, S. 545-593. 1168 Siehe hierzu Kapitel 10.1.2.3. 1169 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zweites Torturverfahren gegen Meineke Brielohn am 11.06.1659. 1170 Vgl. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 23. 1171 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 125 v . Zur Funktion des Haare-Abschneidens siehe Zagolla, Robert: Art. „Folter“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1121000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 1172 Rainer Beck eröffnet die berechtigte Perspektive, dass aufgrund der pastoral-sakralen Elemente der Folter diese durchaus auch als ein dämonenaustreibendes Mittel zu sehen ist. Beck: Der Teufel im Verhörlokal, S. 359. 274 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Torturpraxis in Hexenprozessen notwendig, 1173 einige allgemeine Vorbemerkungen zum höchst problematischen Themenfeld „Folter“ zu machen. 1174 Zunächst ist festzuhalten, dass die körperliche Marter als angewendetes Rechtsinstrumentarium nicht dazu gedacht war, Geständnisse zu erpressen. Als ein legitimes Mittel der Wahrheitsfindung, sollte sie eigentlich die Schuld bzw. Unschuld eines Angeklagten ans Tageslicht bringen. 1175 Auch gilt es sich entschieden von der überholten Vorstellung zu verabschieden, dass der erfinderischen Grausamkeit 1176 keine Grenzen gesetzt worden wären. Freilich fehlte es in der Carolina an einer exakten Formulierung Von der maß der peinlichen frage (Art. 58). Dennoch schuf sie eine für das Gerichtspersonal verbindliche Kautel, die eine unbegrenzte Ausschweifung der Marter verhindern sollte, indem der Richter sich an den Attributen „ gut“ und „vernünftig“ orientiere. 1177 Diese Modalität, die eigentlich eher als ein idealtypischer Appell an die Gewissenhaftigkeit eines Richters zu verstehen ist, konnte durchaus in der Verfahrenspraxis nach subjektiven Maßstäben variieren. Dieser subjektive Ermessensraum 1178 brachte der Carolina vonseiten der Geschichtsforschung häufig den Vorwurf ein, „naiv“ zu sein und die Türen für einen ungebremsten Einsatz der Folter geöffnet zu haben. 1179 Durch welchen Gerichtshabitus sich nun das westphälische Samtgericht auszeichnete, ob es der carolinischen Kautel der richterlichen „Selbstdisziplinierung“ folgte oder gemäß der mehrheitlichen Einschätzung der Historiografie uneingeschränkt die Folter nutzte, soll nun eingehend durchleuchtet werden. Obwohl keine konkreten Folterinterlokute vonseiten des Richters oder der Schöffen vorliegen, geben die Verhörprotokolle doch einige essenzielle Hinweise über die Torturpraxis in Fürstenberg. Obgleich die Anhaltspunkte sich sporadisch über die gesamten Hexenprozessakten verstreuen, ergibt sich für den Leser in ihrer Zusammenschau ein annähernd vollständiges Bild. Nachdem der Delinquent mit seinen Responsiones im gütlichen Verfahren die Indizien gegen ihn nicht erloschen konnte, d. h., es ihm nach seiner [vorgebrachten] Einrede vndt andtwortt nicht gelungen war, gegen die ihn schwebende vndt Eingeführte indicia des Zauberlasters [zu] elidier[en] 1173 Nach gängiger Ansicht handelte es sich bei der Folter um ein bloßes „Erzwingungsinstrument“. Gerst: Der Hexenprozess, S. 234 f. 1174 Bereits im 13. Jahrhundert war die Folter in Wissenschaft und Theorie umstritten. Vgl. Ströhmer: Rezeption, S. 71. Eine semantische Definition des Begriffs, losgelöst von jeglichen modernen Überformungen, erweist sich als schwierig. Vgl. Zagolla, Robert: Die Folter. Mythos und Realität eines rechtsgeschichtlichen Phänomens, in: Moeller/ Schmidt (Hrsg.): Realität und Mythos, S. 122-149, hier S. 123 f. 1175 Gerst: Der Hexenprozess, S. 234 f. 1176 Radbruch, Gustav: Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), Stuttgart 6 1996, S. 20. 1177 Vgl. Ströhmer: Rezeption, S. 69. Kritisch hierzu Lorenz, Sönke: Aktenversendung und Hexenprozeß, dargestellt am Beispiel der Juristenfakultäten Rostock und Greifswald (1570/ 82-1630), Bd. 1 (Studia philosophica et historica, Bd. 1), Frankfurt a. M. 1982, S. 56 f. 1178 Vgl. Dezza: Strafprozessrecht, S. 49; Gerst: Hexenverfolgung als juristischer Prozess und Zagolla: Die Folter, S. 125. 1179 Vgl. ebd. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 275 vndt [zu] tötte[n] 1180 , ging das Gericht zur Vorlesung des Decretum torturale über. Ganz im Sinne der Carolina (Art. 46) schritten das Gerichtspersonal zunächst zur Verbalterrition und erst bei einer verspürten Hartnäckigkeit des Delinquenten zu dem nächsten Foltergrad, der territio realis. Dabei wurden zunächst - wie es in den lokalen Gerichtsakten heißt - die Augen des Delinquenten verbunden, die Instrumente angelegt und der Angeklagte erneut befragt, ob er nicht gütlich bekennen wolle. Verneinte er dies, zog der Scharfrichter die Folterwerkzeuge an. Die unterschiedlichen Intensitätsgrade der Tortur werden in den Quellen je nach Verfolgungsperiode mit diversen Attributen versehen: Während 1601 die Folterstärken in den Kategorien emoderirt, modorirt oder meßig beschrieben werden, heißt es 1631 gelinde oder starck. Für das Jahr 1701 sind hingegen Beschreibungen wie gradative cum moderamine dokumentiert. Ungeachtet, welche Bezeichnung in den Prozessakten Verwendung fand, ist doch die terminologische Differenzierung ein Indiz dafür, dass in Fürstenberg die Folter in unterschiedlichen Stärken eingesetzt wurde. Der Grad der Anwendung hing dabei offenbar vom Alter sowie der körperlichen Konstitution des Delinquenten ab, 1181 aber auch von seinem hartnäckigen Schweigen. Insgesamt kamen in Fürstenberg vier Folterwerkzeuge zum Einsatz, die nicht sonderlich für einen sadistischen „Erfindergeist“ sprechen: 1. die Korde, teilweise mit einem Stein zur Gewichtsbeschwerung versehen, 2. die Bein- und 3. die Daumenschraube sowie zuletzt 4. das Ausstreichen mit Ruten. Eine favorisierte Reihenfolge der gewählten Foltermittel ist in den verschiedenen Verfolgungswellen nicht zu erkennen. Die Anwendung aller vier genannten Folterinstrumente konnten darüber hinaus miteinander gekoppelt werden. Dennoch bleibt zu betonen, dass die Folterpraxis in Fürstenberg nicht exzessiv betrieben wurde. Zeigte sich der Delinquent verstockt oder eine gewisse Schmerzunempfindlichkeit, wurde die Tortur beendet und ihm bedenckzeitt bis zum nächsten Tag gewährt. Der Inquisit konnte jedoch auch das peinliche Verhör selbst abkürzen, indem er das Gerichtspersonal um Bedenkzeit bat. 1182 So taucht in den Quellen stets die Wortformel auf, dass die Marter auf begehren des Angeklagten unterbrochen wurde. 1183 Dieser Aspekt der lokalen Torturpraxis ist m. E. hervorzuheben: Denn gerade wenn bei der Folteranwendung der kritische Punkt erreicht war, dass der Delinquent die physischen Schmerzen nicht mehr ertrug und seine Widerstandskraft brach, hätte das fürstenbergische Gericht mit Leichtigkeit jeglichen Namen aus dem Mund des Angeklagten erpressen können. Jedoch gaben die Justizbeamten den Angeklagten die Möglichkeit, sich von der Tortur zu erholen. Mit 1180 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Torturdekret gegen Enneke Grothen am 23.07.1658. 1181 Ein auf Quellen gestütztes Beispiel hierfür ist im Kapitel „Scharfrichter und Abdecker“ zu lesen. 1182 Ein Beispiel von vielen sei hier genannt: Damit sie zur Erkenntnis kommen möge, bat Angela Vahlen, die Folter zu unterbrechen und ihr Bedenkzeit bis zum nächsten Morgen zu gewähren. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 126 r . 1183 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. Verfahren gegen Enneke Grothen am 19.08.1658. Ebenso bei Meineke Brielohn am 11.06.1659, Margaretha Vahlen am 03.07.1659, Mentzen Grethen am 03.07.1659, Zenzing Buschmann am 01.08.1659, Bina, Engelbracht Tilmans Frau am 07.07.1659 etc. 276 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg dieser Vorgehensweise wird deutlich, dass das Personal darauf bedacht war - wenn möglich -, Falschdenunziation zu vermeiden. Die Folter bestand für gewöhnlich aus ein bis maximal zwei Sitzungen. Entgegen der von den Zeitgenossen breit rezipierten römischen Strafrechtslehre, die eine dreimalige Wiederholung der Tortur erlaubten, 1184 wich das fürstenbergische Gerichtspersonal von diesem strafrechtlichen Handlungsleitfaden im Inquisitionsprozess auffallend ab und handelte weitaus moderater - eine Verfahrensmilde, die ganz im Sinne der Carolina war 1185 und sich auch in der zeitlichen Dauer der Torturanwendung widerspiegelt. Regulär wurde die Marter auf eine halbe Stunde begrenzt. 1186 Auch ist der Befund bezeichnend, dass ein Folterinstrument nur einen einmaligen Gebrauch in einer „Tortursitzung“ fand - abgesehen von der Bein- und Daumenschraube, die entweder an die rechte oder linke Extremität versetzt werden konnte. Einen Ausnahmefall bildet der Hexenprozess gegen Gretha Mentzen. Weil sie wiederholt ein Geständnis ablegen wollte, wurde das peinliche Verhör, das „Hochziehen“ mit der Korde, häufig unterbrochen. Sobald jedoch ihre Füße den Boden berührten, weigerte sie sich, eine Aussage zu machen. Infolgedessen wurde Gretha insgesamt viermal mit der Korde hochgezogen. 1187 Eine erneute Einleitung der Tortur bildete der Sonderfall einer Revocation. Nachdem der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hatte, wurde er zwei bis drei Tage später in das Haus des Richters geführt, wo er seine vorherigen Aussagen bestätigen musste. Dabei wurde dem Delinquenten noch die Möglichkeit eingeräumt, einzelne Namen von vermeintlichen Tanzgenossen zu ändern und streichen zu lassen oder Tatbestände zu widerrufen, 1188 solange er bei allen weiteren Posten beständig blieb. Während kleinere Variationen innerhalb des Geständnisses nach lokalen Verfahrensgepflogenheiten kein neues Aufgebot der Folter erforderten, sollte hingegen eine gänzliche Wankelmütigkeit 1184 Vgl. Zagolla: Folter und Hexenprozess, S. 438. 1185 Art. 59 CCC Item ob der beklagt geuerlich wunden oder ander scheden, an seinem leib hett, so soll die peinlich frag dermassen gegen jm fürgenommen werden, damit er an solchen verwunden oder scheden am minsten verletzt würde. Schließlich sanktionierte die Carolina auch diejenigen Richter, die dieser geltenden Norm zuwider handelten und sprach in diesem Fall den durch die Folter körperlich Geschädigten Schadensersatz zu (Art. 61 CCC). Siehe hierzu auch Dezza: Strafprozessrecht, S. 52. 1186 Vgl. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 22. 1187 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., peinliches Verhör am 03.07.1659. 1188 Zwei Beispiele von vielen seien an dieser Stelle aufgeführt. Die Aussage des Meineke Brielohns beinhaltete zunächst das Geständnis der wehrwolfferey. Drei Tage später widerrief er jedoch explizit diesen Anklagepunkt. Das Gericht gestattete ihm die Revokation und strich diese Anschuldigung aus dem Indizienkatalog. Damit verschonten die Hexenbeamten Meineke vor einer schmachvollen Hinrichtung als Werwolf. Denn wie aus zeitgenössischen Flugblättern hervorgeht, wurde ein als Werwolf Hingerichteter mit zusätzlichen, stigmatisierenden Symbolen versehen. Weitere Aufschlüsse über die Toleranz des Gerichts bietet der Fall von Johann Möller vulgo Hinten. Er bezichtigte seinen Vater, ihn vor zwei Jahren das Zaubern gelehrt zu haben. Nachdem sein Vater ihn im Haus des Richters aufgesucht hatte, nahm Johann die Aussage zurück, dass sein Vater sein Lehrmeister gewesen sei und bezichtigte stattdessen seine Base Engel Hinten. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis des Johann Möllers am 01.09.1659 und des Meineke Brielohns am 19.06.1659. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 277 des Delinquenten gemäß der Carolina (Art. 57) eine Wiederholung der Tortur nach sich ziehen. Eines der Kernelemente eines Hexenprozesses stellte das Befragen des Delinquenten nach den jeweils vorgeworfenen Strafbeständen dar. Suggestivfragen waren laut Artikel 53 CCC untersagt und sind im fürstenbergischen Aktenmaterial auch nicht nachweisbar. 1189 Bei der peinlichen Befragung orientierte sich die lokale Hexenjustiz stark an der Kautel (Art. 31), dass der Inquisit niemanden aus Hass oder Neid besagen sollte. Denn es sei bei schwerer straffe verbotten das Niemandt den anderen, was standes würden oder wehres dem auch sei[,] ahn seinen gutten herbrachten Nahmen ehren vndt leumuthe verletzlich angriffen vnd schmehen [...] 1190 sollte. Der Hexenkommissar ermahnte eindringlich den Inquisiten, sich diesen Appell zu Herzen zu nehmen und seiner seelen nicht zu kurtz [zu] thuen. 1191 Diese Wortformel ist keineswegs eine leere Worthülse - sie ist eher als eine ausdrückliche Ermahnung zu verstehen, dass der Angeklagte sein Seelenheil nicht durch eine Lüge in Gefahr bringen sollte. Dieser Verfahrensmodus verdeutlicht, dass das fürstenbergische Gericht sich bemühte, Falschdenunziationen zu vermeiden und die „Wahrheit“ zu ermitteln. Ohne im Detail auf den Fragekatalog einzugehen, der sowohl allgemeine als auch individuelle Anklagepunkte beinhaltete, waren folgende verbindlichen Erörterungen für das Gericht von Interesse: 1. Wer ist ihr/ sein Lehrmeister? 2. Wie hat sie/ er Gott abgeschworen? 3. Wie lange war sie/ er auf dem Tanzplatz? 4. Was hat sie/ er dort gemacht und wen hat sie/ er erkannt? 5. Wie hat sie/ er sich und anderen Schaden zugefügt? 1192 Dieser Fragekatalog war gültig von der ersten Verfolgungsperiode von 1601 bis zu der letzten im Jahr 1703. Allerdings erfuhr innerhalb dieser Zeitspanne die Gewichtung der Fragen eine Verlagerung. Während zu Beginn der Hexenjagd der Schadenszauber im Vordergrund stand, war es spätestens ab dem Jahr 1631 die Komplizenschaft, die im Verlauf der Jahrzehnte zunehmend in den Fokus gerichtlichen Untersuchungen rückte. Fragt man nach den Gründen für diese mentale, aber auch verfahrensrechtliche Entwicklung, mag die naheliegendste Antwort sein, dass die Lehre des Malleus Maleficarum von einer bestehenden konspirativen Hexensekte vermutlich erst ab 1189 Vgl. auch Art. 56 CCC. 1190 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Klaglibell vom 22.07.1658. 1191 Exemplarisch hier Adels. A Brenk., HS 117, unfol., peinliche Befragung der Trina Kesperbaum am 01.10.1659. 1192 Der Fragekatalog ist angelehnt an den Indizienkatalog der Margaretha Stroeth. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 107 r . 278 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg diesem Zeitpunkt in Fürstenberg breit rezipiert worden ist. Diese Vermutung greift jedoch zu kurz. Bereits 1601 legte das Gericht großen Wert darauf, zu erfahren, welche Tanzgenossen auf dem Hexensabbat gesichtet worden waren. Wäre erst dreißig Jahre später der Gedanke einer Hexensekte voll entwickelt gewesen, hätte das Gericht nicht gezielt nach den Hexenkomplizen gefragt. Das mögliche Movens ist eher an einer anderen Stelle zu suchen: nämlich in der fest verankerten mentalen Vorstellung von einer transgenerativen Vererbung des „Hexenblutes“, die dem sozialen Konstrukt Deüffelskind erst seine markante Dimension verlieh. Auffällig viele Personen wurden vor Gericht wegen Hexerei angeklagt, weil sie zum einen aus einem Hexengeschlecht stammten, zum anderen mit anderen „Leidensgenossen“ intensiven Umgang pflegten. Der justizielle Verfolgungsfokus auf diesen Personenkreis besaß eine gewisse Eigendynamik - gab er doch der Vorstellung von einem schadenstiftenden Kollektiv einen tatsächlichen empirischen Gehalt. Dass dieses Erklärungsangebot einen wesentlichen Interpretationsschlüssel für die fürstenbergischen Hexenverfolgungen bildet, belegt eine tiefer gehende Betrachtung der Besagungen, die eine hohe Differenzierungslogik vonseiten der lokalen Gerichtsbeamten erkennen lassen. Stichprobenartig sollen hier die Denunziationen von 1601 und 1658/ 59 tabellarisch aufgeführt werden (siehe die Tabellen 9.5 und 9.6 auf S. 279 f.), die aufgrund ihrer Ausführlichkeit für eine komparative Methode geeignet sind. 1193 Bewusst wird in diesem Abschnitt auf die Darstellung eines sogenannten „Besagungsgeflechts“ verzichtet, wie es Gerhard Schormann in seiner Studie für das Amt Werl machte. 1194 Für Fürstenberg liegen keine Anhaltspunkte vor, das erst eine gewisse Quantität an Besagungen den Anstoß für die Initiierung eines Hexenprozesses bildeten. Im Gegenteil: Zum Teil war eine einzige Denunziation ausreichend, um ein Strafverfahren gegen eine bestimmte Person einzuleiten. So im Fall der Liese Böddeker und des Meineke Brielohn, die lediglich von Engel Hinte denunziert worden waren. Hingegen wurde der Alte Budde von drei verschiedenen Personen als Tanzgenosse auf dem Hexensabbat angegeben und das fürstenbergische Gerichtspersonal sah keinen Anlass, dieser Denunziation nachzugehen. 1195 Ebenso verhielt es sich im Fall der Alke Saurhagen, die zweimal als Hexe besagt 1196 und sogar von den Besessenen geschlagen wurde, womit sie sie unmissverständlich als „Unholde“ kennzeichneten. 1197 Den aus einem altbekannten Hexengeschlecht stammenden Johann Jost Grothen denunzierte Liese Böddeker mit Nachdruck - ohne rechtliche Konsequenzen. Thönies Vahlen, ebenfalls als Deüffelskind bekannt, blieb trotz zweimaliger Beschuldigung von 1193 Die Akten für die Jahre 1631, 1667, 1687 und 1700 bis 1703 enthalten aufgrund ihrer fragmentarischen Quellenüberlieferung kaum Anhaltspunkte über die Besagungen der Delinquenten in einem Hexenprozess. Die lückenhafte Überlieferung bietet nur wenig Vergleichsmöglichkeiten zwischen Besagung sowie daraus resultierenden Prozessen. 1194 Schormann: Nordwestdeutschland, S. 106. 1195 Der Alte Budde wurde von Agatha Brielohn, Margaretha Brielohn und Freda Sommers besagt. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1196 So von Agatha Brielohn und Zenzing Buschmann 1197 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 119 v . 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 279 Tabelle 9.5: Übersicht aller Denunziationen von 1601 1199 Person Denunzia- Resultierende Bereits tionen Prozesse 1 hingerichtet 2 Gretha Bitterfeindes 29 7 0 Gretha Arendt (Arenken) 11 5 1 Anna, die Borchartsche 7 5 0 Der Alte Hinte 20 5 0 Die Große Trine 3 1 1 1 Gerdrut Schmett 9 3 2 Gretha, die Wilkesche 28 6 2 Engel Brylen 8 4 2 Trouvelus Plumpe 18 0 0 Gerdrut, die Stutmersche 13 5 3 Frya Stuffer 7 1 1 Die Kleine Cordesche 11 3 0 Agatha Plumpe 3 5 1 1 Legende: 1 Mehrfachnennungen sind enthalten. Für einen Gesamtüberblick der Prozesse siehe Tabelle 9.4 auf S. 260. 2 Zum Zeitpunkt der Denunziation war die besagte Person bereits hingerichtet. 3 Die Prozessakte ist lediglich fragmentarisch erhalten geblieben. einem Hexenprozess verschont. 1198 Und das „Teufelskind“ Boris Nüthen sei laut einer Notiz des Hexenkommissars Georg Brüggemann von 1631 insgesamt viermal von verschiedenen Personen als Tanzgenosse auf dem Hexensabbat gesehen worden - es wurde gegen ihn kein Strafverfahren eröffnet. 1200 Ab wann folglich eine Besagung als glaubwürdig bzw. unglaubwürdig eingestuft wurde, unterlag einer ganz eigenen Differenzierungslogik, die sich offenbar nicht nach einer bestimmten quantitativen Auswertung richtete. Anhand der Aufstellungen wird sichtbar, dass das fürstenbergische Gericht ein Ausufern der Hexenprozesse verhinderte, indem es nur bestimmten Denunziationen Glauben schenkte und somit folglich endlose Kettenprozesse eindämmte. Der hohe Gehalt an Differenzierungsvermögen sowie der gerichtliche Anspruch der „Wahrheitsfindung“ werden an dieser Stelle deutlich fassbar und ergeben ein völlig konträres 1198 Thönies wurde von Meineke Brielohn und Zenzing Buschmann als Hexer besagt. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1199 Die Personen werden chronologisch nach der Ausstellung des Libellus’ aufgelistet. In der Denunziationsliste aufgeführt, aber nicht mehr als Prozessakten erhalten geblieben, sind folgende Protokolle: Die Eklansche, die Glomsche, Johann Schenß’ Trine und der zweite Prozess der Wilkeschen. 1200 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Notiz von Georg Brüggemann, undatiert. 280 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Tabelle 9.6: Übersicht aller Denunziationen von 1658/ 59 1201 Person Denunzia- Resultierende Bereits tionen Prozesse 1 hingerichtet 2 Engel Hinte 8 4 0 Liese Böddeker 11 5 0 Meineke Brielohn 13 6 2 Agatha Budden 16 6 0 Margaretha Brielohn 10 6 2 Gretha Mentzen 5 4 1 Zenzing Buschmann 23 7 1 Freda Sommers 26 7 6 Johann Möller 12 4 0 Legende: 1 Mehrfachnennungen sind enthalten. Für einen Gesamtüberblick der Prozesse siehe Tabelle 9.4 auf S. 260. 2 Zum Zeitpunkt der Denunziation war die besagte Person bereits hingerichtet. Bild über die praktischen Verfahrensräume des Gerichts im Hexenverbrechen, als es bisher sowohl von zeitgenössischen Gegnern der Hexenverfolgung 1202 als auch Historikern gezeichnet wurde. Offenbar waren die fürstenbergischen Richter bemüht, der carolinischen Handlungsmaxime nachzukommen, gut und vernünfftig zu verfahren. Nachdem der Inquisit ein Geständnis abgelegt hatte, wurde das eigentliche Hauptverfahren abgeschlossen und der Delinquent zum Gefängnis zurückgeführt. Nach ein paar Tagen wurde der Geständige erneut in der Richterstube bezüglich seiner Konfession befragt. Blieb er mit bestendigen gemuethe bei seinen vorherigen Aussagen und schwor, daß er darauff leben vndt sterben wolle, wurde ihm das Halsgericht durch den Richter und die Schöffen verkündet. Abschließend versprach der Angeklagte feierlich, dass ihm weder vom Gericht noch von den externen Rechtsgelehrten Unrecht zugefügt worden sei. Wie konkret dieser Schwurakt aussah, illustriert der Fall von Liese Böddeker. Sie beteuerte am Jüngsten tage die Hrrn. Commisarien vndt daß gantze gericht deßhalber, daß Ihr kein vnrecht geschehen, [...] vor Gott verandtworten vndt vertretten wolle, Maßen zu deßen bestettigung einem Jeden die handt geben, midt contritem hertzen die handt gedrücket vndt sich bedanket, daß sie durch deren Embsigen fleiß nuhnmehr auß des deuffels banden erretet vndt erlediget, [...] 1203 . 1201 Die Personen werden chronologisch nach der Ausstellung des Libellus’ aufgelistet. 1202 Ein überaus - überspitzt formuliert - „naives“ Gericht zeichnet Friedrich von Spee in seinen quaestiones 44 bis 46, das jeder Denunziation unkritisch Glauben schenke und auf deren Basis ein Verfahren einleite. 1203 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., erneute Konfession der Liese Böddeker am 20.07.1658. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 281 Dieser Abschlussritus des Hauptverfahrens belegt, dass das Gericht deutlich darauf bedacht war, keine unschuldigen Personen zu verurteilen. Freilich sollte anhand des Aktenmaterials nicht problemlos die pathetische These formuliert werden, dass ausschließlich die Gewissenhaftigkeit die ultima ratio im fürstenbergischen Hexenprozess bildete. Jedoch belegen die Quellen insgesamt eine umsichtige Prozessführung gegen die vermeintlichen „Unholde“. 9.2.6 Der „Endliche Rechtstag“ und das peinliche Halsgericht Nach dem Abschluss des Hauptverfahrens wurden in einer kollegialen Diskussion der lokalen Gerichtsbeamten unter Anwesenheit der Hexenkommissare die vorliegenden Indizien gewertet, und auf deren Basis ein Urteilsspruch gefällt. Galt das Hexereidelikt als erwiesen, war nach den Statuten der Carolina 1204 das peinliche Halsgericht über den Delinquenten zu verhängen. Das Gerichtsurteil wurde in der Regel von mindestens zwei freien Schöffen im Beisein des Gerichtsschreibers dem Inhaftierten im Gefängnis verkündet. Dabei wurde die Reaktion des Verurteilten während und nach der Verlesung genauestens studiert, um mögliche Anhaltspunkte zu entdecken, ob beim Delinquenten nicht noch einig bedenken oder Etwaß auffm hertzen verborgen vndt zu Endtdecken sei. 1205 Diese Verfahrensweise unterstreicht die Bemühungen der Gerichtsbeamten, Gewissheit zu erlangen, ob sie sowohl in materieller als auch strafrechtlicher Hinsicht gründlich verfahren sind. Als ein Indiz für die Rechtmäßigkeit des angekündigten Strafurteils wurde dessen Akzeptanz durch den Delinquenten, die zumeist in den Quellen mit dem Attribut guetwillig gekennzeichnet ist, gesehen. Diese „Gutwilligkeit“ wurde als ausreichendes Indiz gewertet, dass die Aussagen des Inquisiten aufrichtig gewesen sind, die ihm vorgeworfenen Anklagepunkte als nachgewiesen gelten konnten und er sein Fehlverhalten bereute. Gemäß dem Artikel 79 CCC setzten das Justizpersonal den „Endlichen Rechtstag“ zwei bis drei Tage nach der Urteilsverkündung an. Allerdings richtete sich das Gericht auch in diesem Punkt nach den emotionalen Belangen des Verurteilten und gewährte eine zeitnahe Hinrichtung, wie es im Fall der Engel Hinte geschah. Auf ihr Begehren hin, Man solte Nuen Morgen midt Ihr fortfahren vndt helffen, daß Ihre seele zu Gott[,] deme sie die nun befohlen hette, kommen möchte [...] 1206 , verlegte der Richter das peinliche Halsgericht auf den nächsten Tag. In Begleitung der Schützen sowie eines Pastors wurde die Verurteilte unter ständigem Gebet zur Hinrichtungsstätte gebracht. Die geistliche Betreuung war dabei als psychische und moralische Unterstützung für die Delinquenten gedacht, da von ihnen erwartet wurde, gefasst in den Tod zu gehen (Ars moriendi). 1207 1204 Vgl. CCC, Art. 109. 1205 Verkündungdes Halsgerichts über Liese Böddeker am 04.07.1658 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1206 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Libellus vom 04.07.1658. 1207 Vgl. Schwerhoff: Todesstrafe. 282 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Um sich der Zustimmung der Öffentlichkeit ex post gewiss zu sein, die durchaus aktiv über die Schuld bzw. die Unschuld der Inquisiten diskutierte, wurden die im Inquisitionsprozess hinter verschlossenen Türen nachgewiesenen Straftaten publik gemacht und laut vorgelesen. 1208 Dieses Zeremoniell beinhaltete einen prekären Punkt für das Gerichtspersonal, der über den eigentlichen formalen Akt hinausragte. Denn die lokale Hexenjustiz machte in diesem letzten Abschnitt des inquisitorischen Strafverfahrens die „Ergebnisse“ der Ermittlungen von Rechts wegen öffentlich und stellte sich damit gleichzeitig für die lokale Allgemeinheit auf den Prüfstand. Erst das Schweigen oder die jubelnde Zustimmung gab dem Rechtsurteil seine dörfliche Legitimität. Anschließend brach man den richterlichen Stab und sprach den Rechtsfrieden über den Nachrichter aus (Art. 97 CCC). Laut Artikel 109 CCC war bei erwiesener Zauberei der Angeklagte mit dem Feuertod zu bestrafen. Zu Beginn der Hexenverfolgungen in Fürstenberg kam das Gericht auch diesem normativen Handlungsrahmen nach und verurteilte die vermeintlichen Hexen und Hexer 1601 mit den Worten, dass diese mit [dem] fever vom leben Zum thoett zubringen vnd in aschen zu verbrennen 1209 seien von Rechts wegen. Erst in der nachfolgenden Verfolgungswelle von 1631 wandelten die Herren von Westphalen den Feuertod in einen ehrenhaften Gnadentod um, indem die zum Tode verurteilten Personen zuerst mit dem Schwert enthauptet und anschließend deren Cörper zu äschen verbrandt wurden. Wie diese Abmilderung der Hinrichtungsform zu interpretieren ist, kann nur spekuliert werden. Es ist die Vermutung nicht auszuschließen, dass die Herren von Westphalen sich vor der lokalen Öffentlichkeit selbst als gütige Ortsobrigkeit mittels eines Akts der christlichen Güte inszenieren wollten, der dem Delinquenten einen wesentlich schnelleren und schmerzfreieren Tod ermöglichte. Eventuell war auch der Sozialstatus der Inquisiten für das „Umdenken“ der Gerichtsjunker im Strafvollzug verantwortlich, weil sie überwiegend aus der dörflichen Mittel- und Oberschicht stammten. Oder es ist die Interpretationsmöglichkeit zu erwägen, ob im Mittelpunkt des fürstenbergischen Strafvollzuges eher die „Reinigung der Gesellschaft und [die] Wiederherstellung der verletzten Weltordnung“ 1210 sowie die Errettung des reuigen Sünders standen als der präventive Abschreckungsgedanke. Dass gerade die letzte Überlegung nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist, belegt der Libellus von Friedrich Vahlen. Da Friedrich freiwillig gestanden hatte, Schadenszauber und Lykanthropie betrieben zu haben, vermerkte der Richter: [...] dahero zu seiner wolverdienten straffe vnd anderen zum abschewlichen exempel nach schärffe des Rechts vom fewer verzehret vnd läbendig in äschen verbrandt werden sollen, weilen dannoch die hochwolgebohren Gerichtsherren von Westphalen bey verspührtem leidtwesen vnd deß inquisiti buß vnd poenitens[,] indehme dem teuffel mitt allen seinem anhange ab vndt Gott dem herren seinen Erschöpffer vnd Erlöser wiederumb zugesacht[,] auch auff dessen vnEndtliche 1208 Ströhmer: Rezeption, S. 77. 1209 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Libellus der Agatha Plumpen, undatiert. 1210 Schwerhoff: Todesstrafe. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 283 Barmhertzigkeit seine hoffnüße gesetztet, gebeichtet vnd communicirt[,] daß dahero auß angebohrnen Christ milden Güttigkeit die straffe in so weiter gemildert vndt mitigirt worden, daß auß bewehgenden mehreren vhrsachen nicht mitt dem langwirigen fewer lebendig gepeiniget, sondern mitt dem schwehrtt hingerichtet, vnd dessen tode Corper allein anderen zum abschewlichen Exempel vndt schröcken auch guhter Richtiger Justici Erhaltunge, inß fewer geworffen vnd zu äsche gebrandt werden solle [...]. 1211 Schließlich können auch alle genannten Überlegungen zusammengenommen für den mentalen Wandel des Hinrichtungsaktes maßgebend gewesen sein. Obwohl in den Schriftstücken die jahrhundertealte mündliche Tradierung nicht nachzuweisen ist, beharren die alteingesessenen Fürstenberger auf der Überlieferung, dass der Verbrennungsplatz für die verurteilten Hexen nicht neben dem Galgenplatz errichtet worden sei, sondern innerhalb der Dorfumfriedung. Bei einer topografischen Betrachtung der Ortsangabe sprechen mehrere Beobachtungen für die Richtigkeit dieser Annahme (Abb. 9.2 auf der nächsten Seite). Der Verbrennungsplatz soll sich nämlich nahe dem um 1780 errichteten Schafstall der Herren von Westphalen befunden haben. Damit läge die Verbrennungsstelle auf der Ebene des unteren, weniger bewohnten Dorfteils. 1212 Dieser Ort war für größere Feuerstellen günstig gelegen, da einerseits der dicht besiedelte Dorfkern auf dem Bergplateau vor möglichem Funkengestöber geschützt war. Andererseits befand sich um die Verbrennungsfläche eine weiträumig freie Wiese. Zudem wurde die Gefahr einer Ausbreitung des Feuers stark durch die Vorsichtsmaßnahme eingedämmt, dass nur wenige Schritte von der Verbrennungsstelle entfernt ein reichlicher Wasservorrat durch Teiche vorhanden war. Unklar bleibt allerdings, ob das Köpfen auf dem Blutgerüst am Galgenplatz stattfand und der enthauptete Leichnam anschließend auf einem Karren zur Verbrennungsstelle gebracht worden ist oder ob der Scheiterhaufen gleichzeitig auch der Hinrichtungsort war. Dass die Hinrichtung ein öffentliches Spektakel bot und ein essenzielles Element zur Bekräftigung des Hexenglaubens darstellte, ist in der Literatur mehrfach erwähnt worden und soll nicht näher behandelt werden. 1213 Es sei jedoch betont, dass auch das Verhalten des Delinquenten, wenn dieser zum Scheiterhaufen bzw. Schafott geführt wurde, für großes Aufsehen sorgte. Lediglich eine Marginalie gibt einen Einblick in das Verhalten eines zum Tod verurteilten Hexers. Als an Zenzing Buschmann am 14. August 1659 das peinliche Halsgericht vollzogen werden sollte, rief er öffentlich eine weitere Person als Tanzgenossin aus. 1214 Dieser Umstand war ungewöhnlich, weil der Delinquent vor der Verkündung des „Endlichen Rechtstages“ von den Schöffen ausdrücklich hinsichtlich seiner getanen Aussage und Denunziation gefragt wurde, ob der Inquisit nichts hinzufügen wolle. Wird zusätzlich der Punkt berücksichtigt, dass 1211 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 112 v . 1212 Für das 18. Jahrhundert sind lediglich am oberen Wasserplatz eine Handvoll Häuser nachweisbar. 1213 Es sei beispielhaft auf das Werk von Dülmen, Richard van: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 1985 verwiesen. 1214 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 119 v . 284 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Abbildung 9.2: Topografische Karte von Fürstenberg um 1780. Privatbesitz Graf von Westphalen Schloss Fürstenberg. Der Punkt markiert die Verbrennungsstelle. Die umrandeten Stellen kennzeichnen die Wasserplätze Zenzings Handeln der üblichen Verfahrenspraktik im Hexenprozess widersprach, nach der die Besagungen der Delinquenten nicht publik gemacht werden sollten, erhält der Fall zusätzlich Brisanz. Sein Verhalten zog weitreichende Konsequenzen für die betroffene Person nach sich - ihre Familie sollte von diesem Zeitpunkt an erneut im Fokus der Hexenverfolgungen stehen. 1215 9.2.7 Gerichtskosten Die Frage nach der gängigen Finanzierungspraxis von Hexenprozessen wurde bereits im Zusammenhang mit den Hexenkommissaren eingehend erörtert und soll an dieser Stelle lediglich kurz angeschnitten werden, um unnötige Redundanzen zu vermeiden. Generell war ein Hexenprozess für die Gerichtsherren ein immenses Verlustgeschäft, das pro Verfolgungswelle Hunderte von Reichstalern kosten konnte. Detaillierte Auskünfte über einen Großteil der gesamten Gerichts- und Prozesskosten, die hier zur besseren Visualisierung wiedergegeben werden sollen, gibt der Zeitraum von 1658/ 59 (siehe Tabelle 9.7 auf der nächsten Seite). Das fürstenbergische Gericht wahr darauf bedacht, die carolinische Klausel zu wahren, die Angeklagten nicht durch überhöhte Prozesskosten überflüssig [zu] beschwer[en] 1216 . 1215 Siehe hierzu Kapitel 11.2.2. 1216 Art. 204 CCC. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 285 Tabelle 9.7: Gerichtskosten der Hexenprozesse von 1658/ 59 Zeitraum Person Kosten Rthlr. Gr. Pf. 1658 Enneke Grothen 79 30 1658 Liese Böddeker 75 1 1658 Engel Möllers vulgo Hinte 76 10 5 1658 Trina Kesperbaum 103 10 5,5 1658 Jost Hammerschmitt 95 12 2 1658 Henrich Hammerschmitt 62 18 2 1659 Meineke Brielohn 71 11 1659 Trina Kesperbaum 50 4 2 1659 Agatha Brielohn 54 2 1659 Margaretha Brielohn 72 3 1 1659 Gretha Mentzen 44 4 1 1659 Bina, Engelbracht Tilmans Frau 48 3 3 1659 Zenzing Buschmann 66 30 3 1659 Freda Sommers 49 25 1 1659 Johan Möller vulgo Hinten 47 5 1 1659 Peter Nottebaum 81 17 3 Um die Hinterbliebenen der verurteilten Personen durch die Höhe der Gerichtskosten nicht um das Erbe zu bringen und in die Armut zu treiben, wurde je nach Vermögenssituation des Hingerichteten dessen Kostenbeitrag berechnet. Damit fiel den Inquisiten „lediglich“ ein Teil der finanziellen Gesamtausgaben zu, der sich auf die Hälfte (Halbscheid), den dritten (quota tertia), vierten (quota quarta) oder fünften (quota quinta) Part belaufen konnte. Konkret gestaltete sich die Kostenbegleichung in der Form, dass die Ortsobrigkeit einen Teil der immobilen Besitztümer (Länder, Wiesen, Gärten) der Delinquenten konfiszierte und an Interessenten weiterverkaufte. 1217 Nur von einem Fall ist bekannt, dass das Haus der Inquisitin veräußert werden sollte, weil ihre unmündigen Kinder es monetär nicht tragen könnten. 1218 Primär wurde jedoch die Konfiskation von Land bevorzugt. Die äußerst prekäre Kostenfrage konnte auch ausschlaggebend für die zeitliche Dauer eines Hexenprozesses sein. So schlugen die Hexenkommissare dem Samtrichter 1217 Ca. zwei Wochen nach der Hinrichtung des Johann Caspar Saurhagen als Hexer gelang es den Herren von Westphalen, seine eingezogenen Güter, in diesem Fall vier Morgen Land, an einen Bewohner aus Meerhof zu verkaufen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 98 r . 1218 Als ihre Schwester Berdraut erfuhr, dass Trina Kesperbaum im Hexengerücht stand, habe sie zu Manuel Coderich gesagt, dass nach deren Hinrichtung sich [ein] anderer Her [finde], d[er] nach dem Neuwen hauße stünde [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Anzeige vom 17.07.1657. 286 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Johann Sauren im Fall der Liese Böddeker vor, bereits am ersten Verfahrenstag vmb meidung übriger Costen 1219 mit der peinlichen Befragung zu beginnen. Zwecks Kosteneinsparung wurden auch mehrere Hinrichtungen am selben Tag ausgeführt: Beispielsweise wurde Meineke Brielohn zusammen mit seiner Tante Agatha Brielohn am 01. Juli, Margaretha Brielohn zusammen mit Gretha Mentzen am 09. Juli sowie Freda Sommers mit Johann Möller am 04. September 1659 justifiziert. Trotz der Bemühungen der Gerichtsherren, die Angehörigen des Inquisiten nicht allzu sehr finanziell zu beschweren, stellte selbst eine in Anbetracht der Gesamtsumme gering verrechnete Selbstbeteiligung für viele Personen eine hohe Kostenausgabe dar. Aus diesen Gründen mag auch Henrich Vahlen den Schöffen mehrfach darum gebeten haben, seine als Hexe angeklagte Frau im Gefängnis aufsuchen zu dürfen, um sie zu ermahnen, daß sie sich nicht mehr solte Peinigen Laßen, sondern waß sie wüßte[,] gütlich von sich [zu] sagen, Er wolte sie wol gerne Loeß bürgen, befürchte sich aber[,] wan sie von andern mehr würde besagt werden[,] sie doch auffß newe wider angriffen, vndt weren die vnkosten alß dan ümbsonst [...] 1220 . Die finanzielle Beschwerung resultierte jedoch nicht nur aus den zu deckenden Gerichts- und Prozesskosten. Die Familienmitglieder von Delinquenten hatten zusätzlich die Sorge um deren Speisung für die gesamte Prozessdauer bis hin zum peinlichen Halsgerichtstag zu tragen. Üblicherweise wurde den Angeklagten das Essen und Trinken nur von einer bestimmten, vom Gericht beauftragten Person, geliefert. In den Jahren 1658/ 59 speiste beispielsweise Hans Walters Elsche die Gefangenen und erhielt für diese Ausgaben teils Barzahlungen, Naturalien (Bier) oder sogar Rindvieh. 1221 Jedoch erwiesen sich nicht nur für verurteilte Angeklagte die Prozesskosten als redundanter Kostenfaktor. Selbst bei Verfahren, die eingestellt wurden, hob das Gericht den Kostenbeitrag nicht auf. 1222 Ein Beispiel liefert hier der Fall Peter Nottebaum. Nottebaum wurde nicht des Hexenlasters überführt, aber, weil die Ortsobrigkeit von seinem schlechten Leumund überzeugt war, mehrere Monate inhaftiert, um seinen Eifrige[n] Mhuet 1223 zu brechen. Dennoch erwies sich dieses Strafmittel bei Nottebaum als vergebens: Ohne ein Geständnis abzulegen, wurde er am 01. Dezember 1659 nach fünf monatigem Gefängnisaufenthalt entlassen. Jedoch nicht ohne Auflagen. Nach geleisteter Urfehde musste er zudem schwören, die aufgelaufenen Gerichtskosten gutwillig zu bezahlen. Sollte er es versäumen, die monetären Ausgaben zu begleichen, werde der Gerichtsdiener die Execution vornehmen lassen. Zudem habe sich Peter 1219 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Replik der Kommissare auf den Brief von Johann Sauren am 17.07.1658. 1220 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage des Schöffen Levin Thelen am 16.08.1658. 1221 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1222 Siehe hierzu Zagolla: Folter und Hexenprozess, S. 483. 1223 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Caspar Ludowig von Westphalen an Johann Sauren vom 07.10.1659. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 287 Nottebaum gegenüber dem Gerichtsdiener nicht ungestüm zu verhalten, sondern solle ihm ohne Murren und Knurren in aller gebühr begegnen 1224 . 9.2.8 Zusammenfassung Dieses Kapitel verdeutlicht systematisch das komplexe Zusammenspiel von Ortsobrigkeit, Recht und Gesellschaft im Sonderfall „Hexereidelikt“. 1225 Dieser Themenkomplex bietet dabei nicht nur die Möglichkeit, die justizielle und praxistechnische Ausformung der lokalen Hexenprozesse schärfer zu konturieren, sondern er eröffnet auch die Chance, am konkreten Beispiel einige Klischees kritisch zu überprüfen: Denn bei der Vielschichtigkeit der jeweiligen regionalen Ausformung von Verfahrensrealität[en] im Sonderfall „Hexenprozess“ werden die bisherigen Pauschalisierungen hinfällig. Damit wird das berühmte Forschungsthema der „Theorie-Praxis-Kluft“ neu angeschnitten, die dazu einlädt, überkommene Vorstellungen von den Hexenprozessen und der jeweiligen Prozessbeteiligten zu verabschieden und diese in einem neuen Licht zu bewerten. Zunächst seien die Beobachtungen, die für die lokale Hexenjustiz gemacht wurden, kurz in den wesentlichen Punkten zusammengefasst: Die nähere Durchleuchtung des Gerichtsapparats legte ein graduell abgestuftes Personengeflecht frei, dessen enge kollaborative Verzahnung erst die verfahrenstechnische Umsetzung des Hexenprozesses in der geschilderten Form ermöglichte. Dabei wurden dynamische und interdependente Kommunikationsräume geschaffen, die sowohl den prozessualen Verlauf für die Delinquenten erheblich beeinflussen konnten als auch den Hexenglauben im Dorf forcierten. Es sei auf die Denunziationspflicht der Schöffen, des Gerichtsschreibers sowie der Schützen und Wächter verwiesen, die jedwede Verhaltensauffälligkeiten der Inquisiten vor Gericht zu melden hatten, die in Verbindung mit dem Hexenlaster stehen konnten. Aber auch der örtliche Pastor trug erheblich seinen Anteil dazu bei, die Vorstellung von einer de facto existierenden Hexensekte zu festigen, wenn er von der Kanzel über die aktuellen Hexenhinrichtungen predigte. Gewiss stellen diese Ergebnisse kein Novum in der Hexenforschung dar. Jedoch wird anhand dieses kommunikativen Austausches inner- und außerhalb des hier untersuchten Personennetzes plastisch sichtbar, dass jedes einzelne - metaphorisch gesprochen - „Zahnrad“ grundlegend dazu beitrug, den innerdörflichen Meinungsbildungsprozess zu prägen sowie die inhärente Selbstreferenzialität des Hexengerüchtes deutlich zu erhöhen. Damit wurde das Misstrauensklima gegenüber den „üblichen Verdächtigen“ verstärkt. Angesichts dieses komplexen Zusammenspiels gestaltet es sich schwieriger, die Frage nach den eigentlichen Initiatoren und Agitatoren von und in Hexenprozessen zu beantworten - insbesondere da die vorliegenden Quellen keine Informationen für die Ursache der fürstenbergischen Hexenjagden liefern. Es kann also folglich für diesen 1224 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1225 Vgl. Schwerhoff: Crimen, S. 20. 288 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Untersuchungsraum keine Aussage getroffen werden, wer konkret - die dörfliche Nachbarschaft oder die Ortsobrigkeit - die zentrale treibende Kraft in der jeweiligen Verfolgungswelle war oder das größere Verfolgungsinteresse besaß. Die Frage nach den eigentlichen „Urhebern“ von Hexenprozessen scheint m. E. auch für dieses Projekt nicht erkenntnisleitend. Denn in der sozialen Realität wird der „Verfolgungswunsch“ sich in beiden Gruppen häufig überlappt haben, sodass ein gemeinsamer „Verfolgungswille“ bestand, auch wenn diesem heterogene Interessen zugrunde lagen. Die systematische Untersuchung der einzelnen Prozessbeteiligten diente vor allem dazu, deren einzelne Funktionen und Handlungsräume, aber auch deren unterschiedlichen Machtpositionen schärfer herausarbeiten zu können. Ferner sollte das Spannungsfeld zwischen praktizierter Rechtsrealität und subjektiven Wahrnehmungsempfindungen sichtbar werden. Besonders die rechtliche und praxistechnische Verortung der externen Hexenkommissare lässt dabei gängige Forschungsmeinungen für diesen Untersuchungsraum fragwürdig erscheinen: Es waren eher die Hexenspezialisten, die in den fürstenbergischen Hexenprozessen eine „Statistenrolle“ zugewiesen bekamen, als dass sie die „eigentlichen Fäden“ in der Hand gehalten hätten. Denn die Herren von Westphalen waren peinlichst darauf bedacht, das ihnen verliehene ius gladii ostentativ sowohl intern den Dorfbewohnern als auch extern, sozusagen der „Konkurrenz“, zu zeigen. Dieses Herrschaftsverständnis der Adelsjunker führte schließlich zu gewissen Spannungen mit den Hexenkommissaren, die sich fallweise für die Unschuld der Delinquenten einsetzten. Gerade dieses obrigkeitliche Verhalten ruft die These von der Instrumentalisierung der Hexenjustiz durch die Gerichtsherren auf den Plan. Wie die Arbeiten von Rita Voltmer und Gudrun Gersmann belegen, sind ausgerechnet von kleineren Patrimonialherren die Hexenverfolgungen dazu genutzt worden, um „ihren Anspruch auf Hochgerichtsbarkeit und damit ‚Protostaatlichkeit‘“ zu demonstrieren sowie dadurch „die Legitimität ihrer Herrschaft und deren Akzeptanz zu steigern [...]“ 1226 . Freilich ist auch für diesen Untersuchungsraum anzunehmen, dass das Hoheitsrecht den westphälischen Adelsjunkern die Möglichkeit bot, ihre herrschaftlichen Ansprüche durchzusetzen und ihre Machtposition zu stärken. Jedoch stellt dieses Movens lediglich einen Teilaspekt für das obrigkeitliche Verfolgungsinteresse dar. Wie explizit aus den Korrespondenzen zu erfahren ist, bildeten die „reine[n]“ oder „abstrakte[n]“ Motive wie „Gerechtigkeitspflege“, „Schutz der göttlichen Weltordnung“ 1227 oder Pflege des kränkelnden „sozialen Körpers“ ebenfalls entsprechende Beweggründe für die Initiierung von Hexenprozessen. Eine besondere „Triebfeder“ war allerdings die „Zerschlagung“ der „Hexensippen“, die ein großes Angstpotenzial in Fürstenberg bargen. 1226 Vgl. ebd., S. 19. 1227 Ebd. 9.2 Der Sonderfall „Hexenprozess“? 289 Es sei ja gerade dieses vngeziefer, 1228 das sein böse[s] gift über die unschuldigen Kinder im Dorf streue, 1229 so die Worte der erbberechtigten Adelsherren. Angesichts der hier konstatierten Befunde stellt sich die berechtigte Frage, warum die Herren von Westphalen keine repressive und exzessive Hexenverfolgungspolitik betrieben, obschon das Hexenlaster theils bey Menschen eingewurtzelt sei. 1230 Denn kennzeichnend für die fürstenbergische Hexenjagd ist ja gerade, dass keine ausufernden Massenprozesse geführt worden sind und eine hohe Differenzierungs- und Selektionslogik sowohl die Verfahrenseinleitung als auch -praxis bestimmten. Den Delinquenten wurden darüber hinaus erhebliche Handlungsräume und Partizipationschancen im Rahmen des Hexenprozesses eingeräumt; Ihnen wurde die Wasserprobe gestattet, und auf ihr Verlangen hin fallweise die Folter unterbrochen. Gemäß den Statuten der Carolina wurde nach zweimaliger Folter der Hexenprozess für gewöhnlich eingestellt. Der fürstenbergische Hexenprozess ist demnach nicht klassisch in die Kategorie processus extraordinarius oder processus ordinarius einzuordnen, obwohl das Hexenverbrechen durchaus den Sonderstatus eines crimen exceptum einnahm. Eher lässt sich der Verfahrensmodus als eine Mischform, salopp formuliert als processus mixtus klassifizieren, da trotz des geführten Ausnahmeverfahrens mindere Mittel nur eingeschränkt erlaubt waren sowie bestimmte Kautelen aus der CCC weitestgehend beachtet wurden. Insbesondere die Berücksichtigung des Appells der Strafrechtskodifikation, die Jurisdiktion solle von einem „vernünftigen“ Richter geführt werden, wird in den ersten Hexenprozessen deutlich, als das fürstenbergische Gericht sich im justiziellen Umgang mit dem Hexenverbrechen erst noch professionalisieren musste. Aber vor allem stellt das Stichwort „Schuldüberführung“ ein zentrales Charakteristikum des fürstenbergischen Gerichtshabitus im Hexenprozess dar, wie bereits bei der Niedergerichtsbarkeit beobachtet wurde. Kehrt man jedoch zur eingangs erhobenen Ausgangsfrage zurück, so können nur Vermutungen für die milde Hexenpolitik der Herren von Westphalen angestellt werden. Ein tragendes Argument ist sicherlich der Sozialstatus der Deüffelskinder, die ausnahmslos aus der dörflichen Mittel- und Oberschicht stammten. Sie zählten folgerichtig zu den wichtigsten „Steuerzahlern“ für die Adelsherren. Dass das Deutungsmodell einer bewussten „Jurisdiktionsökonomie“ 1231 durchaus tragend ist, belegt ein Brief der Clara von Oberg, Witwe von Westphalen. Als ihre Vettern ihr mitteilten, dass sie die Inquisitinnen Anna Grothen und Trina Kesperbaum aus der Haft entlassen und den Hexenprozess einstellen wollten, schrieb sie: Wenn es den erbberechtigten Junkern gefallen würde, daß solge Leutte wider los sollen, dar so vil menschen außgestorben sint [...][,] [sollen die Vettern] in diesen post[en] vor gott entschuldiget sein [...]. 1228 Brief des Wilhelm von Westphalen an Johann Sauren vom 05.09.1959 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1229 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief der Witwe von Westphalen Clara von Oberg vom 31.08.1659. 1230 Verkündigung vom 18.06.1658 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1231 Ströhmer: Jurisdiktionsökonomie. 290 9 Die Hexenjustiz in Fürstenberg Dieser Interpretationsansatz gilt jedoch nicht nur für die Verfolgungsjahre 1658/ 59. Das Großdorf Fürstenberg war in demografischer Hinsicht durch den Dreißigjährigen Krieg stark geschwächt worden, und auch in den Erholungsphasen der folgenden Jahrzehnte dezimierten diverse Seuchen die Einwohnerzahl. So heißt es im Kataster von 1672: [...] seindt viele heuser [...] an die anderhalb Jahr lang alhero grassierten contagion dergestalt mitgenommen, das Viele mit Man vndt Weib außgestorben, in Vielen anderen aber arme Wittiben vndt waysen, die sich - ob sie schon etwas Landts haben - nicht helffen können, Überich verplieben [...]. 1232 Dass das ökonomische Argument durchaus plausibel ist, wird zusätzlich an der moderaten Praxis der Güterkonfiskation sichtbar. Die Herren von Westsphalen waren um eine ausgewogene Kostenverteilung bemüht, um die Hinterbliebenen nicht unnötig zu beschweren. Dass in der Tat den Löwenanteil der Prozesskosten die Ortsobrigkeit übernahm und nicht die Nachfahren der Delinquenten, spiegelt sich nicht zuletzt in den Rechnungen wider, sondern auch in der sozialen Position der Deüffelskinder: Trotz der pekuniären Ausgaben für die Hexenprozesse konnten sich die „Hexensippen“ weiterhin in der Mittelbzw. Oberschicht halten und wurden nicht in die Armut gedrängt. Ein gewichtiges Argument war auch der starke Personenverband innerhalb der „Hexensippen“. So riet beispielsweise Institoris den Hexenbeamten: Der umsichtige Richter sei auch auf die Macht der Personen bedacht und daß jene dreifach ist, nämlich die Macht der Abstammung und Familie, die Macht des Geldes und die Macht der Bosheit [...]. 1233 Die Furcht vor einem möglichen Racheakt der Hinterbliebenen sollte angesichts der historischen und empirischen Befunde für diesen Untersuchungsraum nicht allzu gering geschätzt werden. Setzt man die Richtigkeit dieser Deutung voraus, wäre den Deüffelskindern mit dem Angstfaktor ein probates Instrument in die Hand gegeben worden, das Ausmaß der Hexenverfolgungen zu lenken - selbstverständlich nur, wenn sie sich dieses Handlungsraumes auch bewusst waren. Der Dominikanerpriester macht jedoch noch auf einen anderen Punkt aufmerksam: den sozialen Status der Inquisiten. Dass dieser Aspekt durchaus eine tragende Rolle in den fürstenbergischen Hexenprozessen spielte, belegt die lokale Hinrichtungspraxis. Denn um die Standesehre der Verurteilten nicht zu tangieren, wurde die Strafe von dem entehrenden Feuertod in die „ehrlichere“ Enthauptung umgewandelt. Die Strafmilderung der Westphälinge im Fall des crimen maleficarum gewährt zudem Einblicke in ihr Selbstverständnis im Hexenprozess sowie ihre Sichtweise auf die Inquisiten: Die Ortsobrigkeit betrachtete das Strafverfahren gegen die „Unholde“ zusätzlich als ein Rechtsmittel, um eine verirrte, vom rechten Wege abgekommene „Seele“ wieder zu Gott zurückzuführen: Denn ab dem Zeitpunkt des erfolgten Geständnis war nicht nur der Tatbestand der Hexerei erwiesen und somit eine Person ihrer kriminellen Taten überführt worden, sondern der Hexer oder die Hexe galt zugleich als reuiger Büßer bzw. als reuige Büßerin, dem entsprechend Gnade und Milde zuteil werden muss. 1232 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 2 r . 1233 Z. n. Jerouschek/ Behringer (Hrsg.): Der Hexenhammer, S. 655. 10 Hexerei als Kriminaldelikt Seit ihrer reüssierten Etablierung in den 1990er-Jahren als eigenständiges Forschungsfeld in der deutschen Geschichtswissenschaft 1234 erschienen zahlreiche Studien zum Thema „Historische Kriminalitätsforschung“. Aufgrund ihres interdisziplinären Ansatzes verwundert es wenig, dass unter dem thematischen Rubrum „Kriminalität“ eine Vielzahl an Arbeiten erschienen ist mit jeweils unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten: Sie umfassen sowohl gender-, rechts- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze als auch anthropologische, soziologische und kulturgeschichtliche. In Anbetracht dieser Forschungsvielfalt mag es erstaunen, dass das ureigenste „Kind“ der Historischen Kriminalitätsforschung, das Hexenphänomen, bisher isoliert von seinem historischen „Mutterfeld“ betrachtet worden ist. 1235 Eine Brücke zwischen der Historischen Kriminalitätsforschung und der Hexenforschung zu schlagen, stellt dementsprechend - wie auch Gerd Schwerhoff in seinem jüngst erschienenen Aufsatz bedauert - keine Selbstverständlichkeit dar: Obwohl die europäischen Hexenverfolgungen zur allgemeinen Geschichtswissenschaft sowie zur Rechtsgeschichte gehören, wird das Hexenphänomen in der Historiografie weitestgehend als ein separater Forschungsgegenstand mit Sonderstatus betrachtet. 1236 Der Umstand für die gesonderte Einordnung der Hexenthematik ist m. E. hauptsächlich zwei simplen Gründen geschuldet: 1. Vor der Deutungsfolie der mental-rationalen „Fortschritte“ der Aufklärung wird das crimen maleficarum zu einer Fiktion, die in das Reich der Schimären gehört. Betrachtet man allein die christlich-theologischen Wege ihrer Konstruktion zum kriminalistischen „Superverbrechen“ (crimen laesae maiestatis divinae) mitsamt ihrer antijudaischen und häretischen Einzelelemente sowie deren weitläufigen kulturellen Glaubenswurzeln, 1237 die bis in die Antike reichen, gehört das Hexereidelikt zu den „faszinierendsten Produkten der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Phantasie [...]“. 1238 Aufgrund dieser geradezu fadenscheinigen 1234 Über die Wege und den Werdegang der historischen Kriminalitätsforschung siehe die einleitenden Worte von Blauert/ Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte, S. 11-20. 1235 „Insbesondere die international zu einem eigenen Forschungszweig aufgestiegene Hexenforschung hat ‚ihr‘ Delikt weitgehend abgetrennt von der übrigen Kriminalität behandelt.“ Schwerhoff: Böse Hexen, S. 189. 1236 Vgl. ders.: Crimen. 1237 Dazu Ginzburg, Carlo: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, aus dem Italienischen übers. v. Martina Kempter, Berlin 2005 und Clark, Stuart: Thinking with Demons. The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe, New York 1997. 1238 Behringer bezog sich bei seiner Charakterisierung speziell auf den Hexensabbat. Dennoch kann ohne Weiteres die Darstellung auch allgemein auf das frühneuzeitliche Hexereidelikt übertragen werden. Krampl/ Behringer/ Schwerhoff: Hexe. 292 10 Hexerei als Kriminaldelikt „Fantastereien“ traten viele skeptische Zeitgenossen der elaborierten Hexenlehre mit scharfer Kritik entgegen. Das historiografische „Eigenleben“ 1239 des Hexereidelikts wurde wohl unbewusst durch die Situation verstärkt, dass es in einschlägigen Werken hauptsächlich auf seine aus der mittelalterlichen Dämonologie stammenden und höchst pauschalen Topoi begrenzt wird, die seinen Kumulativcharakter hervorheben: Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Schadenszauber, Hexensabbat und Hexenflug. Ergänzend fügen noch einige Werke zum Hexereiverbrechen die Tierverwandlung, Kindstötung und den Kannibalismus hinzu. 1240 Mit dieser groben Typisierung gleitet die frühneuzeitliche Hexerei zu einem exotischen Grenzphänomen ab. 2. Die frühneuzeitliche Debatte um die materiell- und strafrechtliche Einordnung der Hexerei als crimen exceptum und processus extraordinarius mag zweifelsohne ihren Anteil dazu beigetragen haben, 1241 dass die Historiografie das Hexenthema unter das Rubrum „Sonderfeld“ subsumierte. Greift man jedoch auf die theoretischen und empirischen Überlegungen von Gerd Schwerhoff zurück, wird nicht nur die strenge Dichotomie „fiktive“ Hexerei versus „reale“ Kriminalität fragwürdig, sondern auch die beiden „entfremdeten Geschwister“ 1242 Hexenforschung und Kriminalitätsgeschichte können miteinander versöhnt werden: Nicht nur dass das Delikt Hexerei auf einer realiter betriebenen magischen Alltagspraxis beruhte, 1243 es weist auch neben seinen dämonischen Zügen äußerst profane Attribute auf, die eindrucksvoll anhand der begangenen „Begleitdelikte“, wie der „tatsächlichen“ Verbrechen Diebstahl, Mord, sexuelle Devianz, Körperverletzung, Kindsmord, Sachbeschädigung, Viehtötung, Vergiftungen etc., verdeutlicht werden können. Hexerei stellt folglich eine Schnittmenge zwischen realen und fiktiven Verbrechen dar, sodass die Bezeichnung des crimen maleficarum als crimen mixtum m. E. gerechtfertigt erscheint. 1244 Nun könnte freilich der Einwand erhoben werden, dass eine auftretende Vermischung beider Elemente noch nicht das Problem ihrer bestehenden Polarität beseitigt. Diese analytische und methodische Schwierigkeit kann nur behoben werden, wenn man nicht danach strebt, „Wirklichkeit“ zu rekonstruieren, sondern gezielt nach dem gesellschaftlichen Gebilde der sozialen Wirklichkeit fragt, 1239 „[...] das Delikt der Hexerei [hat] im europäischen Kontext ein historiografisches Eigenleben geführt.“ Johansen, Jens Chr. V.: Erträge der neuen Rechtsgeschichte in den skandinavischen Ländern, in: Blauert/ Schwerhoff (Hrsg.): Kriminalitätsgeschichte, S. 175-189, hier S. 179. 1240 Dazu Stephens, Walter: Art. „Definitions of Witch and Witchcraft“, in: Golden (Hrsg.): Encyclopedia 1, S. 1200-1205, hier S. 1201 ff. sowie Krampl/ Behringer/ Schwerhoff: Hexe. 1241 Für nähere Literaturhinweise siehe hierzu Zagolla: Folter und Hexenprozess, S. 9-20. 1242 „[...] gerade angesichts der personalen wie sachlichen Nähe der beiden Felder bleibt der Befund umso erstaunlicher, dass die Zahl expliziter kriminalhistorischer Überlegungen zum Hexereidelikt sehr überschaubar geblieben ist.“ Schwerhoff: Crimen, S. 1 ff. 1243 An dieser Stelle sei auf Labouvie, Eva: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16.-19. Jahrhundert) (Saarland Bibliothek, Bd. 4), St. Ingbert 1992 verwiesen; ebenso dies.: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991 und Malizia, Enrico: Liebestrank und Zaubersalbe. Gesammelte Rezepturen aus alten Hexenbüchern, München 2002. 1244 Vgl. Schwerhoff: Crimen, S. 13 f. 10.1 Der lokale Hexenglaube 293 wie es das bekannte Modell des Sozialkonstruktivismus von Berger/ Luckmann vorschlägt. 1245 Das heißt, in diesem Untersuchungsrahmen ist von Belang, was die Zeitgenossen als gesellschaftlich erfahrbare, entwickelte, vermittelte und bewahrte „Wirklichkeit“ empfunden haben. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Gegenüberstellung „Fiktion“ versus „Realität“ gegenstandslos, das Hexereidelikt verliert seinen exotischen Charakter, wodurch die Chance einer Neubewertung von Hexerei als einem Kriminaldelikt eröffnet wird. Diese Vorüberlegungen sind deshalb wichtig, weil sie helfen, über den „Tellerrand“ hinauszublicken und über eine lediglich oberflächlich typisierende Dimension hinauszugelangen. Die Hexe, die, wie eingangs bereits erwähnt, in der einschlägigen Literatur abstrakt als „Personifikation des Bösen“ 1246 und deren Benehmen als Paradebeispiel eines „asozialen Verhaltens“ 1247 beschrieben wird, kann im Detail auf einer kriminalsoziologischen Ebene untersucht und ihre soziale Bedeutung für ihre Umwelt, hier Fürstenberg, aber auch gleichzeitig ihr Eigenbild stärker herauskristallisiert werden. Die Hexe wird damit nicht mehr zu einer fiktionalen Gestalt, erschaffen aus einem „Hirngespinst“, sondern zu einer höchst kriminellen Person - in der Gestalt, wie sie Zeitgenossen wahrgenommen haben. 1248 10.1 Der lokale Hexenglaube Um das lokale Profilbild einer Hexe, ihre charakteristischen Wesenszüge sowie ihre spezifische Devianz und Delinquenz schärfer konturieren zu können, bedarf es einer komparativen Methode auf mehreren Ebenen. 1249 Dabei wird auf Analyseergebnisse zurückgegriffen, die eingangs für die „normalen“ Delikte für Fürstenberg konstatiert wurden und in Bezug zum Hexereidelikt gesetzt werden. Mit dieser methodischen Vorgehensweise kann systematisch das graduelle Ausmaß der Normverstöße von den „Unholden“ gemessen und eingeordnet werden. Dadurch zeichnet sich ein höchst greifbares Lokalbild von der Hexe und ihren potenziellen Gefahren für die Gesellschaft ab. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt folglich auf der sozialen und kriminalhistori- 1245 Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, übers. v. Monika Plessner, eingel. v. Helmuth Plessner, Frankfurt a. M. 25 2013, S. 3. 1246 Krampl/ Behringer/ Schwerhoff: Hexe. 1247 Behringer: Vermarktung, S. 32. 1248 Was Hexerei konkret sei, wie sie erlernt und zu bestrafen sei, beschäftigte die Gelehrten des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit zunehmend. Ausschlaggebend für diesen Diskurs war eine neue Rezeption des „Hexenhammers“, die zwar erst ca. 150 Jahre nach dem Erscheinen des Werkes einsetzte, jedoch die Debatte um das Hexenthema weitestgehend prägte. Einen kurzen Überblick in den Diskurs liefert Behringer: Vermarktung, S. 32-74. Quellenreiche Ausschnitte aus den zeitgenösschen Traktaten sind ebenfalls zu lesen bei ders. (Hrsg.): Hexen und Hexenprozesse. 1249 Die folgenden Überlegungen beruhen wesentlich auf dem inspirierenden Aufsatz von Schwerhoff: Crimen. 294 10 Hexerei als Kriminaldelikt schen Ebene und soll eher auf konkreten Beobachtungen beruhen als auf theoretischen Induktionen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die christlich-theologischen Aspekte des Hexenglaubens, sein Apostasiegedanke sowie seine Dämonisierung, sollen in keiner Weise in Abrede gestellt werden - sie sind zentraler Bestandteil des Kumulativdeliktes. In dieser Arbeit soll lediglich eine perspektivische Erweiterung auf die „Unholde“ dazu verhelfen, die Hexe in einem neuen Licht zu bewerten, in dem sie nicht mehr nur als dämonischer Konterpart christlich-religiöser Tugenden betrachtet wird. Es soll deutlich herausgearbeitet werden, dass in den Köpfen der Zeitgenossen die Hexe als das terroristische Wesen schlechthin empfunden wurde. Denn bekanntlich lehnte sie ja das gesamte soziale und rechtliche Wertesystem der christlichen Gesellschaft bewusst ab und bedrohte damit die öffentliche Sicherheit sowie die tragenden Säulen einer Gesellschaft. Es sei an dieser Stelle mit Nachdruck betont, dass es nicht Ziel dieser Überlegungen ist, de facto die Existenz von Hexen nachzuweisen, 1250 sondern den Standpunkt und Blickwinkel der Zeitgenossen einzunehmen, um ihre Ängste und Sorgen vor den Deüffelskindern logisch nachvollziehen zu können. Dreh- und Angelpunkt bildet hier folglich die phänomenologische Ebene. Es soll jedoch nicht bloß eine „Außenansicht“ auf die Hexen, also eine Darstellung der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften, erfolgen, die durch eine Beschränkung auf die vergleichende Methode gegeben wäre, da hier lediglich die Deliktfelder im Vordergrund der Untersuchung stehen. In dem Bemühen, ein möglichst vollständiges Profilbild zu rekonstruieren, darf es auch an der „Innenansicht“ nicht fehlen: Das heißt, Aussagen über signifikante Merkmale der Hexensekte und ihrer gruppenstiftenden Identitätselemente von ihren eingeweihten Anhängern selbst finden in diesem analytischen Rahmen Berücksichtigung. Dabei handelt es sich um Informationen, die aufgrund der arkanen Struktur der Hexensekte Nicht-Mitgliedern unzugänglich waren. Freilich sind in der Theorie beide Betrachtungsweisen idealtypisch voneinander trennbar, jedoch überlappten sie sich in der Alltagspraxis. Dennoch soll, um den Analysegegenstand greifbarer zu machen, eine entsprechende Orientierung am Idealtypus erfolgen. Leitfaden für den inhaltlichen Aufbau dieses Kapitels bilden neben einer kurzen Überblicksdarstellung des Hexereiverbrechens in Fürstenberg die oben genannten Stereotype des Hexenglaubens, die in Fürstenberg seit Beginn der Hexenverfolgungen im Jahr 1601 breit rezipiert worden sind und sich in den Hexenprozessakten deutlich widerspiegeln. Aufgrund des über hundertjährigen Untersuchungsausschnittes kann auch die Wandelbarkeit des Hexenbildes Berücksichtigung finden, das in der Hexenforschung für seine hochgradige Flexibilität und Adaptionsfähigkeit bekannt ist. Bei dem Delikt „Hexerei“ handelte es sich folglich nicht um ein geschlossenes Bild, es unterlag vielmehr stets einer Neuinterpretation und -bewertung. 1250 Diese Position nimmt Carlo Ginzburg in seinem Werk Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte ein. 10.1 Der lokale Hexenglaube 295 10.1.1 Das Hexereiverbrechen Mit dem Auftreten der Hexen in Fürstenberg war der innere Gemeindefriede potenziell gefährdet. Die Angst ging sowohl unter den Gemeindemitgliedern als auch der Ortsobrigkeit umher, wie wenige Hinweise in den Quellen verdeutlichen: Sowohl in den Korrespondenzen der Herren von Westphalen als auch in Zeugenaussagen wird die Furcht vor dem dämonischen Hexentreiben regelrecht fassbar. So ließen die Adelsherren 1658 öffentlich verkünden, dass sie mit Hilfe der bestellten Doktoren die besorgniserregende Gefahr, die von dem abscheulichen Hexenlaster ausgehe, auszurotten gedächten, wenn Gott ihnen diese Gnade zuteilwerden lasse. 1251 Auch sei daran erinnert, dass rund vierzig Jahre später der Rechtsgelehrte Johann Poelmann, der von 1700 bis 1703 als Hexenkommissar in Fürstenberg tätig war, es nicht versäumte, vor der voll besetzten Ratsversammlung in Werl von den Ungeheuerlichkeiten der fürstenbergischen Hexen zu berichten, die den festen Vorsatz gehabt [hätten], auf Geheiß des Satans das ganze Dorf in Brand zu stecken 1252 . Dass das Hexenunwesen gleich einem Damoklesschwert über der Gemeinde schwebte, war offensichtlich auch in Nachbardörfern ein Gesprächsthema. Der Zeuge Johann Österwalt gab beispielsweise offen zum Leumund der Trina Kesperbaum vor Gericht an, dass ein gemeines Gerücht über sie existiere, welches so woll außen mehr alß In dem dorff 1253 kursiere. Die Angst vor einem möglichen Hexereianschlag war auch nicht unbegründet. Lässt man noch einmal die quantitativen Ergebnissen der Niederen Gerichtsbarkeit für Land- und Viehbeschädigungen Revue passieren (27 Fälle), war die Gefahr deutlich höher, Opfer eines Hexereiverbrechens zu werden als eines „normalen“ Deliktes. Denn während es sich bei den „Normaldelikten“ um Einzelfälle handelte, die jeweils von einer Person ausgeführt wurden, konnte die Hexe mit einem Schadenszauber gleich mehrere Ländereien zerstören, das Leben von Tieren oder Menschen bedrohen. Der Alte Hinte gestand beispielsweise vor Gericht, im Jahr 1585 dem Meineke Stuffer etzliche Kühe mit einem einzigen Malefizium vergiftet zu haben. 1254 Zusätzlich sticht der Befund hervor, dass im Fall der „Normaldelinquenz“ Vergehen jeweils einem Einzeltäter und fast immer unterschiedlichen Personen zuzuordnen sind. Denn die Fallzahlen der Wiederholungstäter sind in den niedergerichtlichen Gerichtsakten äußerst gering. 1255 Aus einem völlig anderen Blickwinkel sind hingegen die Hexereiverbrechen zu bewerten: Eine Hexe praktizierte, meist über Jahrzehnte, wiederholt Schadenszauber. Im juristischen Sinn waren die Hexen somit Intensivtäter. Ferner ist zu betonen, dass die Hexe mit ihrem Schadenszauberanschlag in einem Zeitalter der begrenzten Ressourcen einen neuraligischen Punkt berührte. Denn bekanntlich war es ja das Kernziel der Hexen, ihren Mitmenschen ökonomisch immens 1251 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1252 Z. n. Falke: Kapuzinerkloster, S. 36. 1253 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 17.06.1658. 1254 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht vom 21.08.1601. 1255 Nach den bisherigen Untersuchungen können lediglich einzelne Familienmitglieder aus dem Dröppel-Geschlecht als Wiederholungstäter bezeichnet werden, da sie mehrfach deviant in Erscheinung traten. 296 10 Hexerei als Kriminaldelikt zu schaden, sie sogar zu arme[n] leuthe[n] zu machen oder wenn möglich ganze Gemeinden wirtschaftlich in den Ruin zu treiben. Darüber hinaus scheuten sie sich nicht, ihre Mitmenschen auch in körperlicher Hinsicht anzugreifen oder gar zu ermorden. In Anbetracht des in Fürstenberg vorherrschenden informellen Regelsatzes der kontrollierten Gewalt, mag dieser Handlungsakt einen ungeheuerlichen Normverstoß dargestellt haben. Wird zudem das Malefizium von seinen magischen Attributen „befreit“, erscheinen unter dem Deckmantel der Dämonologie, „reale“ Verbrechen: Der Schadenszauber wird zu einer Beschädigung von Vieh und Land (z. B. in Form der Lykanthropie), zu körperlichen Gewaltübergriffen (z. B. durch Besessenheit) wie der Schlägerei, zu versuchten, geglückten oder missglückten Morden und das Abzaubern zum Diebstahl. Selbst die Teufelsbuhlschaft bzw. die geschlechtlichen Vermischungen mit anderen dämonischen Gestalten und Teilnehmern auf dem Hexensabbat können als Sexualdelikte wie „Leichtfertigkeit“, Ehebruch, Sodomie (der Teufel in Gestalt eines Ziegenbocks) und Inzest betrachtet werden. Gerade das letztgenannte Deliktfeld erscheint erklärungsbedürftig, denn in den fürstenbergischen Hexenprozessakten existiert kein Hinweis, dass auf den nächtlichen Hexentreffen Inzest betrieben wurde. Diesem quellenkritischen Einwand kann jedoch der empirische Befund entgegengesetzt werden, der im genealogischen und prosopografischen Teil dieser Arbeit konstatiert wird und den die Einwohner als bekannt voraussetzten: der Vererbungsaspekt. Wie nachgewiesen wird, standen die Deüffelskinder teilweise in einem direkten Bluts- oder indirekten Verwandtschaftsverhältnis zueinander. Wenn ein Inquisit im Hexenprozess folglich zugab, sich auf dem Hexensabbat mit den anderen complices fleischlich vermischt zu haben, schwang im Geständnis das Vergehen der Blutschande mit. Schließlich tritt noch ein weiteres Kernelement des lokalen Hexenglaubens hervor, das in zeitgenössischen Gelehrtendiskursen theoretisch abgehandelt, jedoch in Fürstenberg scheinbar Realität geworden war: die im Kollektiv auftretende und agierende „Hexensekte“. Aus der Sicht der Gemeindemitglieder mag dieser Gruppenaspekt ein höchst gefährliches Potenzial in sich geborgen haben: Der sonst individuell begangene Schadenszauber konnte nur allzu leicht in einen im geheimen Kollektiv beschlossenen und geballten „Schadenszauberanschlag“ umschlagen. Diese „Anschläge“ finden ihre zugespitzte Form in den Aussagen der Malefikanten, die vor Gericht äußerten, die ganze Gemeinde Fürstenberg austilgen zu wollen, wie der zitierte Hexenkommissar Poelmann berichtete. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, wird Hexerei zu einem frühneuzeitlichen „Terrorakt“ par excellence. Es mag auch anhand dieser Ausführungen ersichtlich werden, warum die Hexerei das in Fürstenberg am meisten kriminalisierte und strafrechtlich verfolgte Kapitalverbrechen gewesen ist: Es erscheint schlicht als ein multiples Verbrechen mit vielfachen Auswirkungen auf seine soziale Umgebung. 10.1 Der lokale Hexenglaube 297 10.1.1.1 Der Gender- und Schichtenaspekt Das Hexereiverbrechen gilt als ein typisch weibliches Delikt. Die Gründe für die zeitgenössische Zuspitzung auf das weibliche Geschlecht konnten bisher noch nicht hinreichend geklärt werden, wobei sicherlich das misogyne Gedankengut der gelehrten Dämonologen, das insbesondere im Malleus Maleficarum akuminös hervortritt, wesentlich seinen Anteil dazu beigetragen haben mag. 1256 Dieses Kapitel soll und kann jedoch nicht der Ort für eine tiefer gehende Darstellung der Forschungsdiskussion über das „scheinbar Selbstverständliche“ sein 1257 - ihre sensibilisierende Funktion, die das Bewusstsein und den Blick auf die Geschlechterfrage in der Kriminalität im Allgemeinen und im Hexenverbrechen im Besonderen schärft, genügt für diese Arbeit. Mit anderen Worten ausgedrückt: Thematischer Schwerpunkt in diesem kurz angedachten (Teil-)Kapitel ist zunächst eine quantitative Querschnittsanalyse der geschlechtlichen Verortung der vermeintlichen Täter beim Hexereidelikt. Blickt man auf die quantitative Geschlechterverteilung der Malefikanten über den gesamten Prozesszeitraum, ergibt sich folgendes Bild: Insgesamt wurden 70 Frauen und 34 Männer strafrechtlich belangt. Demnach waren 67 % der verfolgten Personen Frauen. Mag die Gesamtzahl die prominente These stützen, dass es sich bei dem Hexereiverbrechen um ein typisch weibliches Deliktfeld gehandelt habe, eröffnet ein genauerer Blick auf die jeweiligen Verfolgungsphasen ein differenzierteres Bild (siehe Tabelle 9.4 auf S. 260). Lediglich zu Beginn der Hexenverfolgungen in Fürstenberg liegt ein deutlicher Verfolgungsschwerpunkt auf den Frauen. Allerdings brach diese geschlechtsspezifische Verfolgungskonzentration spätestens ab der zweiten großen Prozesswelle auf, und in den Reihen der Angeklagten befinden sich zunehmend auch Männer. Nur noch leicht tendenziell war das weibliche Geschlecht in den einzelnen Verfolgungsperioden zahlenmäßig stärker vertreten als der Mann. Die Gründe für die anfängliche Zuspitzung auf Frauen oder den Transfer des Hexereibegriffs auf beide Geschlechter können anhand des vorliegenden Materials nicht eruiert werden. Dieser grobmaschige Blick auf die Geschlechterverteilung im Hexereidelikt bietet zwar eine Spielfläche für Hypothesen, jedoch keinen Raum für eine sorgfältige Interpretation. Das Geschlechterungleichgewicht, so gering es auch sein mag, bleibt weiterhin ein Explicandum. Dieser - zugegeben - unbefriedigende Befund eröffnet jedoch die kritische Frage, ob eine geschlechtsspezifisch geprägte Dämonologie ab 1631 in Fürstenberg noch relevant war oder ob der Schwerpunkt eher auf einem anderen Akzent lag. Wird noch einmal Rekurs auf die genealogischen und prosopografischen Ergebnisse genommen, so sticht die Schichtzugehörigkeit der jeweiligen Malefikanten deutlich ins Auge - sämtliche Deüffelskinder waren der dörflichen Mittelbzw. Oberschicht zugehörig. Ihre quantitative Überrepräsentation in den Hexenprozessen lässt die 1256 Vgl. Krampl/ Behringer/ Schwerhoff: Hexe. 1257 Siehe hierzu Schwerhoff: Hexerei. 298 10 Hexerei als Kriminaldelikt Überlegung zu, ob das Hexereidelikt im Untersuchungsraum eher schichtenstatt geschlechtsspezifisch gekoppelt war. In logischer Konsequenz würde dies bedeuten, dass es sich nach dem lokalen Hexenverständnis um ein spezifisches Mittel- und Oberschichtendelikt handelte. 1258 10.1.2 Dem Teufel anhängen Über den Teufel in Hexenprozessen zu sprechen ist trotz dieses recht simpel erscheinenden Anspruchs kein leichtes Unterfangen: Ein Großteil der Forschungsliteratur zum Hexenthema zeichnet doch ein recht abstraktes und pauschales Bild vom Teufel: Eher stiefmütterlich behandelt, tritt er als Randfigur in den wissenschaftlichen Publikationen auf, obwohl er zentral für die Apostasie der Hexenmitglieder und für ihre kriminelle Karriere verantwortlich war: Kurz und fast gebetsmühlenhaft werden die Aussagen der Delinquenten über ihn aufgegriffen, in denen er stereotypisch als Vater aller Lügen bezeichnet wird, der mit Bocksfüßen, Hörnern auf dem Kopf und behaartem Körper auftritt. Wichtige Erkenntnisse und damit einhergehend ein weitergefasstes Verständnis vom frühneuzeitlichen Teufelsglauben liefern hingegen Studien, die sich mit der frühneuzeitlichen Volksmagie auseinandersetzen. Auf der Pionierarbeit von Stuart Clark 1259 basierend und in gewisser Affinität zu ihm, hoben vereinzelte Arbeiten die mentale Glaubensvorstellung von der realen Existenz des Teufels in der Frühen Neuzeit hervor und erweiterten den Blick von einer eschatologischen Sichtweise 1260 auf eine anthropologische. 1261 Verwiesen sei nur auf die frühneuzeitliche Vorstellung, man könne sich mit Hilfe magischer Formeln einen Dämon gefügig machen und für diverse Alltagssituationen zur Hilfe holen - der berühmte Teufel im Glas sei nur an dieser Stelle erwähnt. 1262 Erinnert sei auch an die sakral-profanen Elemente in einem Hexenprozess, die von 1258 Dieser Befund würde mit den Ergebnissen von Michael Frank für den lippischen Raum in der Frühen Neuzeit übereinstimmen. 1259 Clark: Thinking with Demons. 1260 Siehe hierzu Leppin, Volker: Art. „Teufelsglaube“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a4299000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 1261 Dabei macht insbesondere Rainer Beck quellenkritisch darauf aufmerksam, dass von „der“ Teufelsvorstellung nicht die Rede sein kann: In den Verhörlokalen tritt der Teufel stets als ein Konstrukt einer „triangulären Kommunikation“ auf, d. h. eines kommunikativen Austausches zwischen dem Dämon, der durch den Mund des Inquisiten spricht, dem Inquisiten selbst und dem Gericht. Die schriftliche Fixierung vom Teufel in Hexenprotokollen ist demnach eine Schnittstelle von pastoralen, dämonologisierten sowie volkstümlichen Teufelsvorstellungen und -überformungen. Je nach Perspektive stellen sich der Teufel, seine Äußerungen und Interventionen anders dar. Beck: Der Teufel im Verhörlokal, S. 378-384. Dennoch ist zu beachten, dass trotz der verschiedenen Gesichtspunkte und Interpretationsebenen ein gemeinsamer Interpretationshorizont vom Teufel bestand, auf dessen Basis erst ein Dialog zwischen Delinquent und Gerichtsstab zustande kommen konnte. 1262 Vgl. Ruff: Zauberpraktiken, S. 284-290. 10.1 Der lokale Hexenglaube 299 der Segnung des Torturwerkzeugs bis hin zum Exorzismus reichen und von einer Imagination eines realen und wirkmächtigen Bösen zeugen. 1263 Gleich diesen Arbeiten soll der Teufel nicht als eine fiktive Gestalt wahrgenommen, sondern die frühneuzeitliche Vorstellung von einem substanziellen dämonischen Wesen übernommen werden, das seinen festen Platz in der christlichen Anthropologie und Kosmologie einnahm. Vor allem die kriminalhistorische Perspektive auf das Hexenphänomen ist für dieses Kapitel richtungsweisend. Mit Hilfe dieser Methode verlieren der Teufel und seine Teufelsbündner ihren exotischen und imaginären Charakter: Der Teufel gilt nicht mehr nur als eine dämonische Ausgeburt des Geistes, er wird zum personalisierten Oberhaupt einer realen, kriminellen Bande, die die christlichen Werte und Traditionen regelrecht auf den Kopf stellte, indem sie die soziale Ordnung störte oder gar zu vernichten suchte. Auf Basis dieses Verständnisses vom Bösen, das sowohl bei den Gelehrten als auch beim einfachen Volk im 17. Jahrhundert vollständig internalisiert war, wird die Hexensekte zum Paradebeispiel einer Kontrakultur schlechthin, deren wesentliches Merkmal die Umkehrung des normativen und kulturellen Systems der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft ist. 1264 Aus kriminalsoziologischer Sicht ist es daher von besonderem Interesse, Altbekanntes in einem neuen Licht auszuwerten: Wie tauchten die Deüffelskinder in die kriminelle Bande der dämonischen Gegenwelt ein? Durch welchen Verhaltenskanon war eine Anhängerschaft bestimmt, und was bedeutete sie konkret für den Teufelsbündner? Diese Leitfragen sollen den Schwerpunkt der nächsten Ausführungen bilden. Einen solchen Blick auf die Topoi des elaborierten Hexenglaubens zu werfen, mag zunächst auf den modernen Betrachter befremdlich wirken. Jedoch bedarf es dieser Perspektive, um die Ängste und Sorgen der Zeitgenossen vor der Hexensekte ernst zu nehmen und zu verstehen. 10.1.2.1 Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft Bevor der wahrhaftige Teufel respektive sein dämonischer Handlanger in Erscheinung trat, 1265 musste eine Mittelsperson her, die bereits im Dienst der teuflischen Unterwelt stand. Der Mediator besaß das nötige Wissen, um den zukünftigen Teufelsbündner in das strenge Geheimwissen der Teufelsanrufung einzuweihen. Es war eine strikte Auflage für die Mitglieder der Hexensekte, dass sie die Anhängerschaft des Teufels vergrößern sollten, indem sie noch mehr Personen dazu verführten, vom „rechten Wege“ abzukommen und dem christlichen Glauben den Rücken zu kehren. Um jedoch eine gewisse Geheimhaltung zu garantieren, wurde der dämonische Wissensschatz 1263 Siehe hierzu Beck: Der Teufel im Verhörlokal und Dillinger: Magisches Gericht. 1264 Für eine kriminologische Definition einer „Subkultur“ bzw. „Kontrakultur“ siehe Trotha, Trutz von: Kultur, Subkultur, Kulturkonflikt, in: Kaiser, Günther/ Kerner, Hans-Jürgen/ Sack, Fritz/ Schellhoss, Hartmut (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg 3 1993, S. 338-345, hier S. 343 ff. und Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 166. 1265 In den Prozessakten wird kaum zwischen den Begriffen „Teufel“ oder „Dämon“ unterschieden. Aufgrund der fehlenden zeitgenössischen Differenzierungskriterien soll in diesem Kapitel die allgemeine Bezeichnung „Teufel“ beibehalten werden. 300 10 Hexerei als Kriminaldelikt offenbar nicht an jedermann weitergegeben. Nur diejenigen Personen schienen in Betracht zu kommen, deren Verschwiegenheit man sich gewiss sein konnte und die offenbar einen gewissen Hang zur Bösartigkeit besaßen. Die potenziellen Anwärter mussten folglich Menschen sein, zu denen die ausgewiesenen Hexen und Hexer ein längeres Vertrauensverhältnis hatten. Freunde, Verwandte und sogar Ehegatten scheinen daher die erste Wahl gewesen zu sein. So berichtete beispielsweise Meineke Evert im Juli des Jahres 1631, dass seine Ehefrau ihm das Zaubern gelehrt habe, damit ehr den ienigen so ihmen schaden zufügten, wiedder schaden thuen sollte 1266 . Weitaus dramatischer gestaltete sich der Fall bei dem bereits erwähnten Albert Sanders. Ihm legte der Hexenkommissar zur Last, dass er wiederholt seine Frau gefragt habe, ob sie des Teufels sein wolle. Wenn ja, solle sie ihm nachsagen oder nachsprechen. Als sie sich geweigert habe, das Teufelsgebet zu sprechen, habe er sogar des nachts seine fraw zwischen seine beine bekommen vnd ihren daumen genohmen vnd gesagt, sie sollte schweren, sie aber darauff geantwortet[: ] eß stünde dort ein degen[,] den solte er[,] inquisitus[,] nehmen vnd sie damit durchstechen[,] daß wolte lieber thun alß daß sie schweren thuen vnd deß teuffelß ewig seyn wolte 1267 . Die geeignetsten „Schüler“ für die Hexen und Hexer waren allerdings die eigenen Kinder und Enkelkinder. Denn ebenso wie das Lehren von Hexerei zum festen Lehrsatz der Hexensekte gehörte, war es ihre ausgewiesene Pflicht, die Nachkommen dem Teufel zu verschreiben und in das dämonische Hexenwesen einzuweihen. Die familiäre Mission der Teufelseinweihung konnte sogar solche Maße annehmen, dass der Sohn oder die Tochter regelrecht zur Hexerei gezwungen wurde. Ein Fallbeispiel hierfür bietet Liese Böddeker. Sie gab 1658 vor Gericht an, dass sie, als sie sich weigerte, das Hexenlaster von ihrer Stiefmutter zu erlernen und an andere weiterzugeben, diese sie ahn einem baum gebunden vndt gezwungen[,] daß sie die kunst Lehren müßen [...] 1268 . In der Regel war jedoch wenig Widerstand von der eigenen „Brut“ zu erwarten, da sie das „Hexenblut“ bereits in sich trug oder gar auf dem Hexensabbat von einem Dämon gezeugt worden sein sollte. In diesem Zusammenhang ist jedoch die Beobachtung interessant, dass die Hexen- Eltern - wie bei ihrer Wahl von Erwachsenen - offenbar selektiv bei der Teufelseinweihung ihrer Kinder vorgingen: Nicht alle Kinder einer „Hexenbrut“ wurden im Hexenwesen unterrichtet, lediglich die, die für das teuflische Treiben geeignet schienen. Dieses dem lokalen Hexenglauben inhärente Selektionskriterium mag auch unter anderem plausibel erklären, warum die Hexenkommissare nicht jedes Familienmitglied einer „Hexensippe“ für verdächtig hielten und auf deren komplette Ausrottung verzichtet wurde - wobei die kritische Frage in den Raum geworfen werden muss, ob eine Auslöschung tatsächlich das Ziel war. 1266 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Responsiones vom 08.07.1631. 1267 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 121 v . 1268 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Bekenntnis vom 19.07.1658. 10.1 Der lokale Hexenglaube 301 In dieser Feststellung wird ein wichtiger Hinweis geliefert, warum einerseits die Hexenverfolgungen generationsübergreifend verliefen, andererseits auch eine strafrechtliche Eingrenzung erfuhren und somit die Vernichtung gesamter Familien verhindert wurde: Die Teufelsweihe fand lediglich an ausgewählten Kindern und Erwachsenen statt. Ob ihr charakterliches Naturell oder sonstige Eigenschaften für das Hexenwesen prädestinierten, muss spekulativ bleiben. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Vorstellung von der generellen Vererbung des „Hexenblutes“ und einer selektiven Hexeneinweihung stellte keinen logischen Widerspruch dar: Obwohl eine gesamte Sippschaft mit dem „Hexenblut“ infiziert sein konnte, d. h., ihnen tendenziell eine Bereitschaft zum Hexenlaster nachgesagt wurde, schienen nur einige Kinder für die „Hexenwelt“ geeignete Kandidaten zu sein. Diese Vorstellung vom selektiven Lehren schaffte einen Toleranzraum für die Deüffelskinder: Trotz eines bestehenden Generalverdachtes musste die Gesellschaft erst qua Beobachtung eruieren, ob sie der Hexensekte beigetreten waren oder nicht. Die Hexeneinweihung durch Familienmitglieder bildete eines der zentralen Elemente des lokalen Hexenglaubens: An verschiedenen Stellen im Quellenkorpus kommt dieser tragende Aspekt deutlich zum Ausdruck. Zum einen geben über 90 % der Delinquenten an, das Hexenlaster von den Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln oder Geschwistern erlernt zu haben. Zum anderen spiegeln der Indizienkatalog, die Angaben der Inquisiten und Zeugen sowie das Verhalten von Verwandten eine tiefgehende und breite Rezeption dieser Verhaltensvorstellung von der Hexe und dem Hexer wider. Einige Beispiele seien kurz dargestellt. Wie bereits im vorausgegangenen Kapitel herausgearbeitet wurde, zählte es zum Standardrepertoire der strafrechtlichen Beweisführung in Fürstenberg, den vermeintlichen Delinquenten zu dessen elterlichen Abstammung und dessen Leumund zu befragen. In einigen Voruntersuchungen waren die Angeklagten strikt darauf bedacht, in ihren Responsiones jegliche Verbindung zu den verschrienen Elternteilen bzw. Verwandten abzustreiten. So antwortete der Angeklagte Albert Sanders, als er mit dem Hexenruf seiner Mutter konfrontiert wurde, dem Gericht mit den Worten: Ein sölches wehre ihme leidt genug, daß er sölches hören müße, sein Mutter möchte keine macht über ihn[,] inquisitus[,] gehabt haben, der Gott ließe alles bißweilen nit Zu. 1269 Mit ähnlichen Aussagen reagierten auch eine Reihe von anderen Deüffelskindern. In diesem Zusammenhang ist auch die Bemerkung des Vaters von Johann Möller interessant, der 1659 wegen Hexerei inhaftiert worden war. Seit Generationen im Verdacht der Hexerei stehend, bestätigte die ebenso angeklagte Magd Freda Sommers die allgemeinen Vermutungen, indem sie vor Gericht kundtat, Meineke Möller habe ihr das Hexereianlernen freimütig berichtet. Freda erzehlte daß vorm Jahr Im herbst [...] Meineke auß dem Wünnenbergischen felde recht auff dem Gollendalschen wege bey sie kommen vndt midteinander von vorhabender Inquisition zu reden angefangen, da er[,] Meineke[,] zu Ihr gesagt, daß brennen soll nuen wider angehen, wolte nicht hoffen, daß es Ihmen midt 1269 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 115 r . 302 10 Hexerei als Kriminaldelikt dreffen sölte, Maßen Ihm sein bule versprochen zu erhalten, hetteß auch seinem Eltisten Sohn Johänneken gelehrt, welches Ihm Nuen Leidt thäte [...] 1270 . In der Angst schwebend, sein Sohn Johann könnte nun ihn, den Vater, als Hexenlehrer bezichtigen, erschien Meineke vor Gericht und bat darum, seinen Sohn sprechen zu dürfen, um ihn zu fragen, wen er als Lehrmeister genannt habe. 1271 Ähnlich verhielt es sich im Fall der Elsche Budden, die 1686/ 87 der Hexerei bezichtigt und inhaftiert wurde. Als Elsche das letzte Mal im Kindbett lag, wurde sie von einem ihrer Besucher ermahnt: Gott bescheret dir viele Kinder, lerne Ihnen ja das Zaubern nicht! 1272 Es waren allerdings nicht nur die Erwachsenen, die ihren Kindern das Zaubern beibrachten. Auch die Kinder konnten unter ihresgleichen das „Hexenhandwerk“ weitergeben. Ein Beispiel hierfür ist von 1686 bekannt und handelt von dem Jungen Johann Wilm Bock. Wohl im kindlichen Übermut vergaß er das Schweigegebot und prahlte vor seinen Kameraden regelrecht mit seinen Hexenkünsten. Vor den anderen Jungen tönte er lauthals damit, Läuse zaubern zu können, und bot ihnen an, sie in dieser magischen Praktik zu unterweisen. Unter Zuschauerschaft grub er in Johann Henckels Hof drey kulen in die erde [...], vndt do zwey stecken genommen, selbige in eine kuhle gestecken, sich mit dem leib darauf gelehnet, also herum gangen, vnd gesagt, ich muß leuse machen [...]. Anschließend füllte er die Löcher mit Stroh. 1273 Unter der ständigen Wiederholung Ich muß leuse machen, habe er anschließend einen Stecken genommen und diesen auf den Kopf eines der herumstehenden Jungen geschlagen. Als die Stiefmutter des „bezauberten“ Jungen abends die Haare bürstete, war sie erstaunt über den erneuten Läusebefall auf seinem Kopf, da sie ihn bereits am Morgen gekämmt hatte. Vor dem Gericht berichtete die Stiefmutter Folgendes über den Vorfall: Als sie ihren Stiefsohn am Morgen die Haare abgesucht habe, habe sie von ihme die leuse vom kopff reine abgefangen, des abendts aber wider zugespehen, derselbe schon viel leuse, obschon des morgens die abgekämmet, [...], darüber sie sich verwundert[,] zu ihrem stieffsöhnnigen gesagt fragend, [...] [und dieser] geantworttet, daß hette der bockischen junge Johan Wilm in Jois Henckeln hoffe gethaen, welcher Ihm die leuse auff den kopff getentert 1274 . In einem früheren Fall von 1631 berichtete der Angeklagte Goert Nüthen von ähnlichen Magieunterweisungen. So habe er als Kind zusammen mit seinem Freund Lubbert Brilohn die Kühe gehütet und ihm angeboten, ihn in der Zauberkunst zu unterweisen. 1270 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 01.09.1659. 1271 [...] hierauff auff vielfaltigeß anhalten seineß vatterß Meinekenß[,] daß er bey seinem sohn kommen vndt den Lehrmeister wißen möchte, Ist solcheß auß gewißen erheblichen vrsachen zugelaßen vndt In Hr. Richterß stuben vor Ihme kommen laßen [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1272 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 17. 1273 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 73 r . 1274 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 68 v . 10.1 Der lokale Hexenglaube 303 Vor dem Richter entschuldigte Goert Nüthen dieses Verhalten mit den Worten, es sei ihm unbewusst gewesen. 1275 Sowohl von den Hexen als auch deren Kindern ging folglich die ständige Gefahr aus, dass sie andere, unschuldige Personen in den Bann der dämonischen Hexenkunst ziehen konnten, da das Hexerei-Lehren zum Verhaltenskodex der Hexensekte zählte. Kehrt man jedoch zum Ausgangspunkt zurück, dass die Hexeneltern insbesondere ihre eigenen Kinder dem Teufel weihten, mag dies in den Augen einer von christlich-theologischen Doktrinen geprägten Gemeinde als ein ungeheuerlicher und grausamer Akt erschienen sein: Hatten doch die Hexeneltern das Seelenheil ihres Nachwuchses und damit verbunden die Möglichkeit auf ein ewiges Leben nach dem Tod verwirkt. 1276 Das Ausmaß der Teufelsopferung wird vor dem Hintergrund des zentralen Stellenwertes der intensiv betriebenen Seelsorge im Leben des frühneuzeitlichen Menschen besonders deutlich. 1277 Die Motive für einen Pakt mit dem Teufel waren unterschiedlicher Natur: Als Kind war man einerseits dem Zwang der Eltern ausgesetzt, andererseits übte das Hexenwerk eine gewisse Faszination und Anziehungskraft auf die Kinder aus. Gretha Mentzen hatte beispielsweise im Alter von 14 Jahren mit einem Jungen aus der Vahlen-Familie gespielt, als dieser Küken gezaubert habe, welche so schöne gewesen[,] daß eß Ihr gelüstet vndt gefragt[,] wie er daß machte [...] 1278 . Für erwachsene Personen hingegen standen neben dem Faszinosum Hexerei auch eigennützige Beweggründe für den Beitritt in die Hexenwelt im Vordergrund. Ausführlich lassen sich diese in den frühen Hexenprozessprotokollen nachlesen, in denen sozusagen die Wegbereiter und Gründer der Hexengeschlechter die Anfänge ihrer „Hexenkarriere“ wiedergeben. Der Alte Hinte gab beispielsweise 1601 zu Protokoll, dass er die Hexenkunst gelehrt habe, damit er so seuerliche arbeit[,] als er bei Ir [sc. die Kesperbaumsche] vnd anderen thuen mußte[,] nit thuen dürfte [...] 1279 . Im Gegensatz dazu erlernte die Kleine Cordesche das Hexenlaster wegen bestehender Eheprobleme in der Behausung von Engel Brylen. Den Moment ihres Übertritts in die dämonische Welt schilderte sie mit den Worten: [...] die Zauberkunst auß mißmunde vnd dahero[,] das sie mit Ihrem Mahnne[,] seligen thießen [...][,] stets in Zanck vnd vnwillen gelebt vnd Ir Engellen solches geclagt, gelernet: mit diesen wortten von Engellen darbei gebracht, Ir sollet euch ewres Mahnes wiederwerttigkeit nicht weiter annehmen, oder dieser wegen in mißmut geraden, ich will euch woll eine kunst lernen, Ir sollet balt gestillet vnd mit Ihme in guden friede[n] kommen [...] 1280 . 1275 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 04.07.1631. 1276 Vgl. Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, München 12 2009. 1277 Vgl. Walter, Peter/ Möller, Christian/ Schneider, Johann: Art. „Seelsorge“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a3863000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 1278 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 05.07.1659. 1279 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 21.08.1601. 1280 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 04.09.1601. 304 10 Hexerei als Kriminaldelikt Andere wiederum traten der Hexensekte bei, um ihr Lebtag genug an Lebensnotwendigem oder Wünschenswertem zu haben. 1281 Besonders populär war die Hexerei wohl in Kriegszeiten. So gab Zenzing Buschmann an, er habe die Zauberkunst in Paderborn an der Westerstraße gelehrt bekommen, weil er nicht gerne midt dahin gewolt, den[n] er forchtsam gewesen, da Ihn dieser Cort angeredet[,] Er sollte sich nicht fürchten[,] wolte Ihmen Eine kunst Lehren, daß er sich nicht fürchte, sondern gehertzt werden vndt wol fortkommen könnte 1282 . Von der Warte des modernen Menschen aus betrachtet mögen die Beweggründe nachvollziehbar erscheinen - suchten die Personen doch mit Hilfe des Teufelspaktes ihren Alltag besser bewältigen zu können. Für die Zeitgenossen mag die Handlung der Teufelsbündner jedoch unbegreiflich, ja sogar irrational erschienen sein. Einerseits waren viele magische Praktiken ohne jeglichen dämonischen Aspekt oder erforderliche Apostasie bekannt, die ebenfalls dazu gedacht waren, dieselben genannten Bedürfnisse zu stillen. 1283 Andererseits war es ja in der Tat geläufig, dass der Teufel bzw. seine dämonischen Handlanger Väter aller Lügen waren, d. h., ihre Versprechen gegenüber ihren Anhängern nicht einhielten bzw. diese nur von kurzer Dauer waren. Denn bereits kurze Zeit nach Schließung des Teufelspaktes bekamen die neuen Sektenmitglieder seine täuschende Natur zu spüren: Nachdem der Geschlechtsverkehr (bulieren) vollzogen worden war, verwandelte sich das vom Dämon geschenkte Goldstück in einen Pferdeapfel oder sawdreck. Angesichts seines verschlagenen Charakters ist die Frage von besonderem Interesse, warum die vermeintlichen Delinquenten überhaupt den Entschluss gefasst hatten, sich dem Teufel zu verschreiben. Offenbar schwang nämlich beim Teufelspakt die zeitgenössische Vorstellung mit, dass eine erwachsene Person bewusst und damit vorsätzlich die Entscheidung traf, sich von dem christlichen Glauben abzuwenden und das Hexenhandwerk zu erlernen. 1284 Damit aber nicht genug. Denn der Eintritt in die Hexenwelt war nicht bloß ein Glaubensbekenntnis: Die künftigen Teufelsbündner wollten sich vorsätzlich von der sie umgebenden Lebenswelt bzw. dem Gemeindeleben mitsamt seinen Wertmaßstäben, sozialen wie rechtlichen Normen und Moralvorstellungen lossagen und sich der dämonischen Gegenkultur hingeben. Nicht Gott, Jesus, die heilige Jungfrau Maria oder die Heiligen sollten mehr Identifikationsfiguren sein, sondern der Teufel. Der Teufelspakt und die Teufelsbuhlschaft stellten demnach ein rites de passage dar, einen Übergangsritus, der zum einen die Aufnahme in die teuflische Gesellschaft markierte und zum anderen performativ mit einer Status- und Wesensveränderung der 1281 Mit diesen Worten gab Frya, Meineken Stuffers Frau, an, das Zauberlaster erlernt zu haben. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht 03.09.1601. 1282 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 07.08.1659. 1283 Vgl. Ruff: Zauberpraktiken. 1284 „Allgemein und noch weitergehend wurde in der Reformation das Wesentliche von Hexerei/ Zauberei in der freien Entscheidung für das Böse und gegen Gott gesehen.“ Schild, Wolfgang: Hexereiprozesse nach dem Ende der Verfolgung, in: Behringer/ Lorenz/ Bauer (Hrsg.): Späte Hexenprozesse, S. 257-272, hier S. 265. Siehe auch Kounine, Laura: Imagining the Witch. Emotions, Gender, and Selfhood in Early Modern Germany, Oxford 2018. 10.1 Der lokale Hexenglaube 305 Person einherging, indem ihr sozialer und christlicher Zustand tiefgreifend verändert wurde. Beide Topoi bildeten folglich eine klare Zäsur, die mit einer völligen Umwertung der paktierenden Person einherging - sowohl für sie als auch ihre Umwelt: 1285 Indem er oder sie sich der Hexenwelt zuwandte, wandte er bzw. sie sich von der bisherigen Gesamtordnung seiner/ ihrer Lebenswelt ab. Der Teufelsbündner war somit kein Mitglied seiner Gemeinde mehr, er wurde zu etwas Bedrohlichem, Unberechenbarem, da er nicht mehr die Werte seiner communitas teilte. Wie sah nun der Teufelspakt konkret aus? Nachdem künftige Sektenmitglieder drei Schritte zurückgegangen waren - ein typisches Inversionsmoment anspielend auf die Dreifaltigkeit, mit dessen Handlung symbolisch der Eintritt in die Gegenkultur unterstrichen wurde -, erschien der Teufel. Sein äußeres Erscheinungsbild, das ab der Verfolgungsperiode von 1631 ein starres Muster hatte (schwarz gekleidet, mit rötlichschwarzem Federhut), hatte zu Beginn der Verfolgung im Jahr 1601 noch ein breiteres Spektrum an Attributen aufgewiesen - ein Indiz für einen im Laufe der Jahre stark betriebenen Hexereidiskurs im Dorf, in dem der Teufel immer mehr ein menschliches Äußeres erhielt. In den ersten Geständnissen der Hexenprozessakten wies der Teufel noch merkwürdig anmutende körperliche Anomalien auf: Mit verdelte[n] halb groenen und gelben Kleidern, Händen wie eine Gans und schwarzer krene beschrieb ihn Gretha Bitterfeindes. Gretha, die Wilkesche, hingegen sagte aus, er habe Füße wie eine Gans und schwarze ungleichmäßige Hände, und Engel Brylen erschien der Teufel mit Federn an den Händen und mit Hundefüßen. 1286 Der Verweis auf seine tierischen Gliedmaßen war nicht nur seiner diabolischen Herkunft geschuldet, wie sie aus der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur der Dämonologie bekannt ist. Diese Kennzeichen scheinen auf älteren Vorstellungswelten von Naturgeistern zu beruhen, die in die dörfliche Rezeption der Hexenlehre eingeflossen sind. 1287 Der Etymologe Friedhelm Sauerhoff vermerkt zudem in seiner Arbeit, dass insbesondere Kobolden oft solche anatomischen Merkmale zugeschrieben wurden, weil man ihnen eine besondere Verbindung zu denjenigen Pflanzen nachsagte, die Blätter in Form von Gänsefüßen hatten. 1288 Auch die Namensgebung für den Teufel kannte zu Beginn des 17. Jahrhunderts einen größeren Variantenreichtum, als es in den folgenden Jahren der Fall sein sollte. 1285 Die Impulse für diese Betrachtungsweise des Teufelspaktes lieferte ein Vortrag von Barbara Stollberg-Rilinger zur 25. Paderborner Tagung: „Fragen der Regionalgeschichte“ der Universität Paderborn am 04. November 2017 mit dem Titel: Übergangsriten. Einführende Überlegungen. Siehe auch Stollberg-Rilinger, Barbara: Rituale (Historische Einführungen, Bd. 16), Frankfurt a. M. 2013. 1286 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnisse vom 12.08 und 23.08.1601. 1287 Diese Beschreibungen des Teufels sind keine fürstenbergischen Einzelberichte. Wilhelm Gottlieb Soldan berichtete in seinem Werk zu den Hexenverfolgungen von ähnlichen Teufelserscheinungen. Soldan, Wilhelm Gottlieb: Geschichte der Hexenprocesse. Aus den Quellen dargestellt, Stuttgart und Tübingen 1843, S. 224. 1288 Sauerhoff, Friedhelm: Pflanzennamen im Vergleich. Studien zur Benennungstheorie und Etymologie (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik - Beihefte, Bd. 113), Stuttgart 2001, S. 133 ff. 306 10 Hexerei als Kriminaldelikt Neben dem bekannten Namen Federbusch 1289 , Krupp-durch-den-Zaun, Rusch-ins- Feld und Krueckenberg nannte der Alte Hinte seinen Buhlen, der in weiblicher Gestalt erschienen war, fraw venus. Frya bezeichnete den Teufel als Hans Wechter und Gerdrut, die Stutmersche, als Barbara. 1290 Relikte eines personalisierten und nicht standardisierten Teufels finden sich auch noch vereinzelt in den Akten von 1631 und 1658. So nannte beispielsweise Goert Nüthen seinen Buhlen saphirken. 1291 Galt generell die Teufelsbuhlschaft als finales Element des Teufelspaktes, wurde dieses gängige Stereotyp bis 1700 um einen Aspekt erweitert, der einerseits die Gegenwelt symbolisierte, andererseits das nun unlösbare Verhältnis zum Teufel verdeutlichte und die Hexen an ihren Treueschwur erinnern sollte: In Analogie zum Taufbuch, das ein Sinnbild für die Aufnahme sowie Integration des neugeborenen Christen in die Gemeinde war, wurde nun auch dem künftigen Hexenmitglied ein Buch vorgesetzt, in das es mit Blut seinen Namen einschreiben sollte. Einer der ersten Berichte über dieses dämonische „Taufbuch“ ist in der Prozessakte der Freda Sommer zu finden, die berichtete, der deuffel [schreibe] In Ein buch so schwartz vndt die buchstaben Roht, tauffe die auch Inß teuffelß Nahmen wider vmb [...] 1292 . Um 1700 wurde der Ritus noch detailreicher ausgestaltet: Angela Vahlen beschrieb dem Gericht, dass ihr bluth gelaßen [wurde] auß dem mittel finger an der lincke[n] handt [...] mit einem spitzen dinge, alß ein suggel, vndt mit einer feder Ihr[en] Nahmen geschrieben in ein schwartz buch, so geschehen[,] als ob alda auffm stuell das buch gelegen 1293 . Mit der eigenhändigen Unterschrift in das schwarze Buch wurden auch hier der Eintritt in die Gegenwelt sowie die Umwertung des neuen Mitgliedes versinnbildlicht. Nach besiegeltem Teufelspakt war der Hexer bzw. die Hexe mit dem Teufel verheiratet. Magdalena Scheiffers 1294 berichtete dem Gericht, der Teufel wer itzo Ihr bräutigamb, sie solte hinführo nicht guts thun vnd Immerhin boeßes gedencken auch Ihme allein getrew seyn [...] 1295 . Er unterwies sie künftig in den dämonischen Künsten. Insbesondere die Kinder erhielten einen kleinen Teufel (Jüngling) an ihrer Seite, der mit ihnen aufwachsen sollte. 1296 Dieser Jüngling sollte sie in den dämonischen Werten unterrichten und ihre Bösartigkeit gegen die Christenwelt zementieren. Der Teufelspakt stellte somit einen unkündbaren Vertrag zwischen Teufel und Teufelsanbeter dar, der bis zum Lebensende des Teufelsbündners gelten sollte. 1289 Herkunft und Bedeutung des Namens konnten bisher nicht hinreichend geklärt werden. Ein Erklärungsansatz für den ähnlich klingenden Namen Federwisch ist nachzulesen bei Pohl, Herbert: Zauberglaube und Hexenangst im Kurfürstentum Mainz. Ein Beitrag zur Hexenfrage im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert (Hexenforschung, Bd. 3), Stuttgart 2 1998, S. 256 f. 1290 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnisse vom 21.08., 30.08. und 03.09.1601. 1291 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 04.07.1631. 1292 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 28.08.1659. 1293 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 114 v . 1294 Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei nicht, wie im Protokolle vermerkt, um Margaretha Scheiffer handelte, sondern Magdalena. Siehe hierzu Kapitel 11. 1295 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 129 r . 1296 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 114 v . 10.1 Der lokale Hexenglaube 307 Diese bis in den Tod anhaltende Verbindlichkeit verdeutlicht eine weitere Aussage der Inquisitin Magdalena Scheiffer. Sie berichtete vor Gericht, dass sie mit ihrem Bräutigam, dem Teufel, einen sicheren contract gemacht [hätte][,] welchen ein anderer bosen Geist geschrieben[,] so etwaß großer an statur geweßen. Sie habe diesen Vertrag mit ihrem Blut unterschrieben, wohe zu der bose feindt ihro die hand geführt vnterm versprechen[,] daß keinen anderen freyer haben wölte als vorgemelten bräutigam 1297 . Nach zeitgenössischer Vorstellung könnte dieser auf Lebenszeit bestehende Kontrakt lediglich durch die reinigende Kraft des Hexenprozesses aufgelöst werden, indem die Delinquenten ihre Hexenmitgliedschaft verrieten, ihre Sünden beichteten und sich somit erneut Gott zuwandten. 1298 Der Hexenprozess bot damit für die Teufelsanhänger die einmalige Chance, sich von dem Teufel loszusagen. 10.1.2.2 Hexensabbat Die kritische Betrachtung des Topos „Hexensabbat“ 1299 bietet eine probate Möglichkeit, die konspirative Hexensekte in ihrem innersten Kern, d. h. in ihrem normativen und strukturellen System, zu erfassen. Anhand der Aussagen der Delinquenten kann ein genaues Abbild der dämonischen Gegenkultur entworfen werden, die sonst für den außenstehenden Christen verschlossen geblieben wäre. Die Beschreibungen des Hexensabbats ermöglichten damit den Zeitgenossen einen sprichwörtlichen Blick durchs Schlüsselloch. Sein markantestes Merkmal war - so trivial die Hervorhebung auch zu sein scheint -, dass die einzelnen Teufelsbündner vf donner abent sich an einem geheimen Ort in 1297 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 131 r . 1298 Siehe hierzu Kapitel 13.1.2. 1299 Seit seinem Einzug in den dämonologischen Hexereidiskurs im Mittelalter beflügelte der Hexensabbat, dessen Stoff keinen Teilaspekt im Malleus Maleficarum bildete, die Fantasie der Zeitgenossen und lud zu zahlreichen Auseinandersetzungen ein: Der Apostasiegedanke sowie die sexuellen Ausschweifungen auf den abendlichen Treffen vf donner abent wurden zum Diskussionsgegenstand von Gelehrten, wie z. B. in Martin Delrios Disquisitionem magicarum und ein inspirierender Quell für Zeichnungen, Holzschnitte und gar erotische Gemälde. Zahlreiche Abbildungen sind zu finden bei Schild: Hexen-Bilder. Freilich war der frühneuzeitliche Mensch von der realen Existenz des Hexensabbats überzeugt und auch heutige Historiker nehmen die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit der Zeitgenossen ernst. Dennoch besteht der Forschungsschwerpunkt mehr auf dem Akzent der Spurensuche, wie z. B. die Entschlüsselung der realen Grundelemente der nächtlichen Zusammentreffen in altertümlichen Volksvorstellungen und -praktiken. Die weitverästelten und diversen Glaubensvorstellungen, die im Stereotyp „Hexensabbat“ kulminierten („Wilde Jagd“, Jenseitskontakt, Judenschule etc.), werden in diesem Kapitel nicht verfolgt - es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Unter dem Gesichtspunkt der thematischen sowie arbeitsökonomischen Eingrenzung soll auch auf eine tiefer gehende Diskussion ob der Frage eines realiter bestehenden, nichtchristlichen Kulttreffens verzichtet werden. Siehe hierzu die Monographie von Ginzburg: Hexensabbat. Eine kritische Stellungnahme zum Werk bezieht Graf, Klaus: Carlo Ginzburgs Buch „Hexensabbat“ - eine Herausforderung an die Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft, 1994, url: http: / / sammelpunkt.philo.at/ 340/ 1/ ginzbg.htm (Zugriff am 26. 02. 2018). Zur älteren Hexenforschung siehe Cohn, Norman: Europe’s Inner Demons. The Demonization of Christians in Medieval Christendom, London 1973. Des Weiteren Ginzburg: Die Benandanti. 308 10 Hexerei als Kriminaldelikt einem Kollektiv zusammenfanden. Vor dem zeitgenössischen Deutungshintergrund einer sich regelmäßig zusammenrottenden Hexengesellschaft erscheint m. E. eine gruppensoziologische Sicht auf den Hexensabbat am fruchtbarsten, um das lokale Hexenbild tiefendimensional zu erfassen. Es sei jedoch an dieser Stelle ausdrücklich betont, dass die Verfasserin nicht beabsichtigt, das Bild von einem de facto existierenden Hexensabbat nachzuzeichnen. Es soll lediglich die zeitgenössische Auffassung der nächtlichen Treffen plastisch analysiert werden. Aus soziologischer Sichtweise ist der Hexensabbat das zentrale gemeinschafts- und identitätsstiftende Element der Hexensekte. Hier wurde das Zusammengehörigkeitsgefühl durch gemeinsame Ziele gestärkt (Ausrottung der Christenheit) und die Werte der dämonischen Gegenwelt erneut verinnerlicht. Durch sein Erscheinen sowie die strikte Einhaltung der vorgegebenen Rituale offenbarte jedes Hexenmitglied zumindest nach außen hin seine Akzeptanz der dämonischen Ordnung. Es versicherte sich damit sowohl seiner Position in der Hexensekte als auch seines Selbst. Denn der Hexensabbat sollte über den Augenblick des Zusammentreffens hinaus ein Gefühl von Solidarität stiften. Die repetitiven und festen Schemata, wie der Flug, der Reigen, das Festmahl und das anschließende Bulieren dienten zum einen dazu, den Mitgliedern den dämonischen Normenkanon regelrecht einzuflößen, der einen Orientierungsfaden für die Handlungen der Hexen bilden sollte. Zum anderen war damit eine Atmosphäre der Erwartungshaltung geschaffen worden, an der soziale Kontrolle und sanktionierende Maßnahmen bei Nicht-Einhaltung der Regeln ansetzen konnten. Hier lag die besondere Wirkmacht des Hexentreffens: Die Anhänger mussten ihre Treue zum Teufel durch gewisse Handlungen außerhalb und innerhalb des Hexensabbats stets aufs Neue beweisen. Praktisch gestaltete sich der Hexensabbat in Fürstenberg wie folgt. Wie bereits angemerkt, zählte dieses markante Topos seit der ersten Verfolgungsperiode zum festen Bestandteil des dörflichen Hexenbildes. Stand das nächtliche Zusammenkommen an, rief der Teufel seine Anhänger in der Regel über die Zähne. 1300 Wie genau man sich diesen Vorgang vorstellen muss, wird in den Quellen nicht eingehender erläutert. Die Mitglieder gelangten auf verschiedenen Wegen zum Hexensabbat: Teilweise schmierten sie sich vor dem Hexenflug mit einer magischen Salbe ein und ritten auf einem Hund, einer Sau, einem Ziegenbock oder einer Mistgabel zum vereinbarten Treffpunkt. Andere wiederum wurden vom Teufel höchstpersönlich in einer Kutsche abgeholt - eine Geste der Hochachtung, da sich der Teufelsanbeter mit seinen bösen Taten besonders verdient gemacht hatte. 1301 Hier klingt bereits der hierarchische Aufbau der Hexensekte an, der im Verlauf des Kapitels noch ausführlicher behandelt wird. 1300 [...] ruffe Ihr der böse vndt vordere sie bey den großen Zähnen [...] Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage der Agatha Brielohn am 27.06.1659. Nachdem sich der Inquisit Zenzing Buschmann beispielsweise von den Banden des Teufels befreit hatte, seien ihm die Zähne ausgefallen, die er auch den Hexenkommissaren zeigte. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 11.08.1659. 1301 Magdalena Scheiffer berichtet sogar davon, dass sie von dem Teufel in einem verdeckten Wagen vor ihrer eigenen Haustür abgeholt worden sei. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 132 r . 10.1 Der lokale Hexenglaube 309 Zögerte jemand, zum Hexensabbat zu erscheinen, kam er zu spät oder war unwillig, teilzunehmen, bestrafte der Teufel diesen mit körperlicher Züchtigung. So berichteten die Angeklagten über die verschiedenen Verfolgungsperioden einvernehmlich hinweg, dass der Teufel oder sein oberster Tanzführer sie bei einer zeitlichen Verspätung mit einer glühenden Schweppe schlage. Liese Böddeker musste zum Beispiel für ihre widerstrebende Haltung harte Schläge vom Teufel einstecken. Sie sagte dem Gericht: Der oberste Tanzführer hette sie damit [sc. die Schweppe] geschlagen, weil sie nit wol mehr fordt kommen können, habe Ihr so weh gethaen, daß eß Ihr durch alle glider gangen [...]. Ferner habe sie der böse feindt, da er sie wider heimbführen wollen[,] zwey mal fallen laßen[,] auß vrsachen, daß sie seinen willen nicht mehr thuen können, vndt zwarne Einmahl von Beyers busche, da er sie In der Heßengrundt fallen laßen, von denen sie heimgehen müßen; Item Einmahl beym Eilerberge[,] da sie vmb Mitternacht heimbkommen vndt da Ihr Man sie gefragt[,] woh sie gewesen[,] daß sie so spät heimbkeme, hette sie zu dem gesagt, wehre zu Helmern gewesen vndt Grallen Jespern gemahnedt, welcheß sie aber gelogen vndt were wol 3. wochen bettlägerich gewesen 1302 . Dass der Teufel weder Zaudern noch Untreue seiner Anhänger tolerierte, wird besonders im Hexenprozess deutlich, der den Delinquenten die Möglichkeit bot, sich aus seinen Fängen zu befreien. Äußerst ungehalten reagierte er mit Drohungen und Schlägen, wenn sich die Hexe vor Gericht geständig zeigen wollte. Diese Wut rührte nicht nur von dem Wissen her, dass ihm sprichwörtlich eine Seele aus den Händen entschlüpfen könnte, sondern auch weil der Angeklagte im Moment seines Geständnisses vertragsbrüchig wurde - sprach er doch über die geheime Hexensekte und ihre Mitglieder vor Nicht-Eingeweihten und gab damit dem Justizpersonal das nötige Werkzeug in die Hand, die kriminelle Gesellschaft zu zerschlagen. Sich den Konsequenzen einer Aufkündigung bewusst, rechtfertigte Meineke Brielohn sein Schweigen mit den Worten: er dürffe es nicht sagen[,] auß furcht[,] dan Ihme die Hexen Oder deuffel schlagen würden. 1303 Meineke hatte demnach nicht nur Sanktionen vonseiten des Teufels, sondern auch vonseiten seiner complices zu fürchten. Mit derselben Angst reagierte auch der Junge Henrich Wilhelm Maeß 1694, dessen Fall den einzig bekannten Kinderhexenprozess in Fürstenberg darstellt. Der Junge bat die Gerichtsfronen, dass man bey den herren anhielte vnd möchte[,] daß man ihme helffen vnd er deß quelenß vom teufell befreyt werden möchte[,] der hette Ihme beym armb durch ein loch auß der gefengnüße mit wegnehmen wollen, er würde die handschrift doch woll selten von ihme wieder bekommen 1304 . Das freudige Tanzen und Springen fand an zwei verschiedenen Orten statt, die heute noch einigen Gemeindemitgliedern bekannt und sogar teilweise in topografischen Karten aus dem 18. Jahrhundert eingezeichnet sind. Der beliebteste Treffpunkt der 1302 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 19.07.1658. 1303 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 10.06.1659. 1304 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 95 v . 310 10 Hexerei als Kriminaldelikt Hexensekte war die sogenannte „Linde am Grasweg“. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich hierbei um die „Dalheimische Linde“, die sich außerhalb der Dorfgemarkung befand und an einem Knotenpunkt mehrerer Handelsrouten stand. 1305 Unter anderem führte einer dieser Wege zum westphälischen Hinrichtungsplatz auf dem Eilerberg, weswegen er im Volksmund auch „Galgenpfad“ genannt wurde (siehe Abb. 10.1 auf der nächsten Seite). Bedeutung und Funktion dieser Linde für die Gemeinde Fürstenberg können aus den vorliegenden Quellen nicht gänzlich entschlüsselt werden. Zu beobachten ist allerdings, dass in einer Karte von 1758 ihr Standort als einziger von fünf Linden verzeichnet wurde. Ca. hundert Jahre später, im Jahr 1869, wurde im Schatten dieses mächtigen Baumes eine Kapelle zu Ehren des hl. Antonius von Padua erbaut - ob nun in apotropäischer Absicht, bleibt zu spekulieren. Der zweite Tanzplatz war die sogenannte „Linde am Wasserplatz“. Aller Vermutung nach handelt es sich hierbei um die Linde am Antenberg, südöstlich vom Dorf gelegen, am oberen Wasserplatz. Alteingessesene Fürstenberger bestätigten, dass sich an dem genannten Ort tatsächlich ein Danzebaum befand, der bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts von vielen Hochzeitsgesellschaften besucht wurde. Um den steilen Hang hinauf zur Linde begehbar zu machen, war ein treppenartiger Fußpfad in den lehmhaltigen Boden geschlagen worden, der von der Gemeinde die „Hexentreppe“ genannt wurde - vermutlich in Anlehnung an den ehemaligen Tanzplatz der Hexen. 1306 Nachdem sich die Tanzgesellschaft vollständig versammelt hatte, stand das Hexenfest ganz im Zeichen eines Treuebekenntnisses zum Teufel und seinen Werten. In den symbolischen Inversionsmomenten bekräftigten die einzelnen Sektenmitglieder vor einer Öffentlichkeit ihren Eid und sagten sich erneut von der sozialen Ordnung der Christenwelt los. Ausdrucksvoll kommt dies im linksgeführten Reigen zum Ausdruck, der eine lokale Besonderheit aufweist: Von der ersten bis zur letzten Verfolgungswelle gaben die Angeklagten dem Richter einstimmig an, sie tanzten auf einer Linie aus knotten kaffen, die an zwei Bäume gebunden wurde und über dem Boden schwebte. 1307 Laut dem Rheinischen Wörterbuch handelt es sich bei dem Wort knotte-kaff um Samenkapseln des Flachses oder Hanfes. Indem die Hexen und Hexer auf diesen Hülsen, die vermutlich als Sinnbild für jegliche Art von samentragenden Pflanzen galten, rhythmisch und wiederholt traten, beteuerten sie symbolisch, die christliche Ordnung zu „zerquetschen“. Zum festen Bestandteil der dämonischen „Liturgie“ zählte auch der Treueschwur. Agatha Budden beschrieb ihn wie folgt: [...] müßen dem deuffel reverenty vndt Ehre thuen[,] vor ihm auff die knie fallen[,] anbeten[,] auff die Lincke backen undt vor den 1305 So z. B. der „Hers-“ oder auch „Hessenweg“, der nach Lippstadt und Holland führte. 1306 Bis in die 1960er-Jahre war dieser Pfad begehbar. Er wurde von der älteren Dorfjugend nach der „Sonntagsrunde“ genutzt, um erste Bande zum anderen Geschlecht zu knüpfen. Für diesen Hinweis möchte ich Herrn Bernhard Nolte herzlich danken. 1307 Als ein Beispiel von vielen sei die Aussage von Agatha Budden angeführt. Sie sagte aus, dass der böse Feind diese Linie ziehe, sey schwartz[,] werde Ein weinich boben Erden auff zwey schwarze stöcker gemacht. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 27.06.1659. 10.1 Der lokale Hexenglaube 311 1 2 3 4 1: Dalheimische Linde 2: Weg nach Dalheim 3: Grasweg 4: Fürstenberg Abbildung 10.1: Die „Dalheimische Linde“ auf einer Karte von 1758 hindern küßen[,] Im frühling vmb ostern [...] vnd sey der deuffel anzutasten hardt vndt Leidtlich vndt kalt wie Eiß[,] müßen auch Ihme anloben[,] trewe vndt holt zu sein. 1308 Anschließend sei ein Mahl eingenommen worden, von dem man nicht satt werden konnte und das auf einem Geschirr serviert wurde, das aus den Knochen eines Gauls gemacht worden war. 1309 Nach eingenommener Speise bulierten die Anhänger sowohl miteinander als auch mit dem Teufel und seinen Dämonen. Da es sich bei den Geschlechtspartnern um enge Blutsverwandte handelte, hier also Inzest betrieben wurde, mag es nicht verwundern, dass die Hexen häufig mit tatsächlichen Sexualdelikten in Verbindung gebracht wurden - ihre Hemmschwelle war in dieser Hinsicht herabgesenkt. Bedenkt man noch zusätzlich, dass der böse Feind und seine Geister häufig mit animalischen Attributen ausgestattet waren, war es nur noch ein kleiner Schritt, den Teufelsbündnern das Delikt der Sodomie zu unterstellen. Das Hexenwesen besaß demzufolge grundlegend einen subsidiären Charakter für sexuelle Abweichungen, was die zwangsläufige Überschneidung dieser beiden Deliktfelder sinnvoll erklärt. Neben den genannten Ritualen war es die Pflicht eines jeden Mitgliedes der Hexengruppe, sogenannte wahrzeichen vorzulegen, d. h., sie mussten jeweils einen Beweis für ihre Untaten erbringen. Diese Praktik sei am Fall von Freda Sommers illustriert. Während der Konfrontation mit Anna Grothen warf Freda ihr vor, sie sei auf dem Hexensabbat der Koch und hette zum Wahrzeichen vor vngefehr 6 wochen 1308 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 27.06.1659. 1309 So eine Beschreibung von Johan Möller. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 29.08.1659. 312 10 Hexerei als Kriminaldelikt [...] speck auß Dröppel Meineken hauß geholt [...] 1310 . Aus psychologischer Sicht betrachtet, sollte wohl das gegenseitige Wetteifern, wer wie viel Schadenszauber angewendet hatte, die Gruppendynamik mobilisieren und den Tatendrang der Hexen fördern. Besonders fleißige Anhänger lancierte der Teufel persönlich, indem er sie hierarchisch aufsteigen ließ und sie in gewichtige Ämter positionierte. Angesichts dieser Deutung wird evident, warum sowohl das Gerichtspersonal als auch die Deüffelskinder nie müde waren, zu betonen, wer Koch, Einschenker, Trommelschläger und Pfeiffer sei oder den Vortanz führe und am Tisch neben dem Teufel sitze: Es handelte sich hierbei um Personen mit bedeutenden Ämtern, die ihre „Karriereleiter“ und damit folglich ihren hohen sozialen Rang innerhalb der Hexengesellschaft widerspiegelten. Denn ohne diese Posten war freilich kein festlicher Hexensabbat möglich. Sie bildeten demzufolge den „Mittelbau“, der für die administrative Organisation zuständig war. Anspielend auf die hierarchische Struktur der Hexensekte betonte auch Greta Mentzen, dass sie die schlechteste unter den Hexen sei. Weil sie keinen Schadenszauber an irgendjemanden verübt habe, habe der Teufel sie oft geschlagen und sie an den untersten Platz am Tisch verwiesen. Ihre niedrige Stellung komme auch beim Tanzen zum Ausdruck - sie sei die Letzte im Reigen und werde zudem Rümelöpersche genannt 1311 - ein verächtlicher Begriff für ein verrufenes Weib. 1312 Gemessen an dem Regelkanon der Hexensekte, war diese Beleidigung auch durchaus zutreffend: störte sie doch durch ihre Passivität die teuflische Gesamtordnung. Die Aktivitäten der „Unholde“ leiten zum nächsten elementaren Aspekt des Hexenwesens über - dem Schadenszauber. Zwei Aussagen von Delinquenten liefern den Hinweis, dass der Hexensabbat auch als Plattform für einen kommunikativen Austausch genutzt wurde. In der Regel in Eigenregie tätig, beratschlagten und beschlossen die Hexer und Hexen auf ihren Zusammenkünften regelmäßig, gemeinsam Schadenszauber zu praktizieren. 1631 gestand beispielsweise Gölcke Schweins, vor 15 Jahren für das verheerende Unwetter verantwortlich gewesen zu sein. Den entscheidenden Impuls für diese Tat hätten ihr die complices geliefert. So berichtete Gölcke [...] aus sich selbsten, das sie[,] Göde[,] neben Goertt[,] den watermeister[,] noch den gemeinen brand, alß die leute widerumb [...] [zu] bawen [...] gewesen, das grewliche wetter gemacht [...]. hatt Göde berichtett[,] das sie midt ihren vnholden zuvorn hirüber Rahtgeschlagen[,] das viell, viell Raben vndt kreyen ihn der lufft zusammen kommen, [...] 1313 . Von gemeinsam geschmiedeten Plänen berichtete auch siebzig Jahre später Magdalena Scheiffer im Verhör. Sie gestand, 1310 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Protokoll vom 30.08.1659. 1311 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Protokoll vom 05.07.1659. 1312 Art. „Rümmel“, in: Rheinisches Wörterbuch, hrsg. v. Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier, Bd. 7, Sp. 598-601, url: http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz/ wbgui_py? sigle= RhWB&mode=Vernetzung&lemid=RR06401#XRR06403 (Zugriff am 27. 02. 2018). 1313 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Protokoll vom 05.07.1659. 10.1 Der lokale Hexenglaube 313 daß auffm letzten general dantzplatze beschloßen worden[,] waß für schaden oder boseß dieß jahr angestifftet werden sölle vndt daß vnter anderm die weiden vergifftet, darmitten daß viehe stürbe vndt noht vber kommen[,] hueten in brandt stecken solten[,] der heiliger Anthon von Padua vermochte viel bey Godt[,] wendete viel übel ab[,] sonderlich auch von dieser fürstenberg[,] weiln die novena jarlich gehalten wurde 1314 . Mit dem Hexensabbat war folglich die lokale Vorstellung verbunden, dass die Hexen sich gegenseitig zu neuen kreativen Untaten anspornten und diese schließlich im Kollektiv, also in „ geballter Form“, ausführten. 10.1.2.3 Schadenszauber Bezeichnenderweise geriet der Schadenszauber bzw. dessen strafrechtliche Verfolgung zu Beginn der ersten Verfolgungsperioden am intensivsten ins Blickfeld der örtlichen Justiz, der zu Recht als Kern des eigentlichen Deliktes bezeichnet werden kann. 1315 Ganz im Sinne der Carolina befragte das Gericht die Angeklagten akribisch nach Zeit, Ort, Umstand, Opfer und Folgen der jeweils praktizierten Malefizien. Der thematische Schwerpunkt im Hexenprozess verlagerte sich jedoch in den kommenden Jahren. Schließlich stand ab den Jahren 1658/ 59 nicht mehr der Schadenszauber im Fokus der Ermittlungen, sondern die „Zerschlagung“ des „Hexenringes“, der in der Gemeinde im Laufe der Jahre entstanden sei. Künftig galt es nur noch, die Deüffelskinder und deren Freunde juristisch zu verfolgen. Bis zum letzten Hexenprozess von 1703 sollte sich dieser Verfolgungsgedanke wie ein roter Faden durchziehen. Nun könnte vereinfacht auf den empirischen Befund zurückgegriffen werden, dass es sich bei dem Schadenszauber um ein multiples Verbrechen handelte, das körperliche Verletzung, Sachbeschädigungen und sogar Mord beinhaltete. Mit diesem Ergebnis könnte bereits ein klarer Schnitt gesetzt werden - verdeutlicht es doch auf evidente Weise, wie die Zeitgenossen unter einem Oberbegriff mehrere Deliktfelder zusammenfassten, die in ihrer geballten Form, gepaart mit dem Apostasie-Gedanken, zum Superverbrechen (crimen laesae maiestatis divinae) schlechthin wurden. Trotz dieser wichtigen Erkenntnis würde dieses Ergebnis lediglich an der Oberfläche des Hexenphänomens kratzen, das weitaus mehr Tiefgang zu bieten hat. Um das Profil des Schadenszaubers in seiner vollen Dimension und Schärfe erfassen zu können, muss in Fürstenberg auf die empirischen Ergebnisse der niedergerichtlichen Fälle zurückgegriffen und diese methodisch in Korrelation zum Malefizium gesetzt werden. Insbesondere die Beobachtungen zu den realen Gewaltdelikten, die das kriminelle Pendant zum fiktiven Schadenszauber bilden, sollen hier als Vergleichsparameter dienen. Zuvor seien noch einmal die wesentlichsten Ergebnisse aus dem analytischen Teil der Niedergerichtsbarkeit resümiert: 1. Gewalttätige Übergriffe zählten zu den regulären Konfliktregulationsmechanismen in der Gemeinde. Zum festen Repertoire der 1314 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 132 r . 1315 Vgl. Schwerhoff: Böse Hexen, S. 191. 314 10 Hexerei als Kriminaldelikt innerdörflichen Rügepraktiken gehörig, galten sie als ein legitimes Mittel, um sowohl Kinder zu züchtigen als auch deviante Erwachsene zurechtzuweisen. Gewalt war also als ein Retorsions- und Züchtigungsmittel gedacht, das kontrolliert eingesetzt werden sollte. 2. Gewalttätige Retorsionen unter Erwachsenen fanden breitere Anwendung in Vieh-, Land- und Sachbeschädigungen als im direkten körperlichen Angriff und zählten damit auch nicht zur Eigentumsdelinquenz. 3. Im Affekt angewendete Gewalt, wie z. B. bei Trinkgelagen, war in Fürstenberg nicht an der Tagesordnung. Der Gebrauch von Stich- oder Schusswaffen war strikt untersagt, und auch zweckentfremdete Gegenstände, wie beispielsweise beim berühmten Schlag mit dem Bierkrug auf den Kopf, waren äußerst selten im Gebrauch. Schließlich existierte 4. in der lokalen Vorstellung eine schmale, aber klare Grenzlinie zwischen potestas und violentia, die eine Gewaltanwendung stark reglementierte. Mittels dieser kategorischen Unterscheidung war ein innerdörflicher Normenkanon geschaffen worden, der Gewaltanwendungen kontrollierbar machte und Gewaltattacken größeren Ausmaßes verhinderte. Zudem ist zu betonen, dass die gewalttätigen Übergriffe 5. nur einen Konfliktregulationsmechanismus von vielen darstellten. Erinnert sei nur an die Beschickung, das „Aus-dem-Haus-Rufen“, die Wasserprobe, die Anzeige vor Gericht und die Konsultierung der Herren von Westphalen. Angesichts dieser historischen Befunde stellt sich die erkenntnisleitende Frage, was nun nach zeitgenössischer Ansicht das entscheidende Kriterium für die legitime Gewaltanwendung und den illegalen Gewaltakt mittels Schadenszauber war. Wo lag die soziale und rechtliche Differenz zwischen einerseits der Person, die einem Lamm das Bein entzweischlug, sodass es an seiner Verletzung verendete, und dem Mann, der mit seinem Wagen die Feldfrüchte zunichtemachte, also an der Existenzgrundlage seines Gegners rüttelte, und andererseits der Hexe, die mit einem vom Teufel gebrachten Kraut ihren Mitmenschen Schaden zufügte? Es sind drei elementare Charakteristika des Hexenwesens, die ihm „antisoziale“ Züge verliehen und die Hexe damit zum Paradebeispiel einer „bösen Person“ stilisierten: Zorn, Heimlichkeit und infolgedessen soziale Unkontrollierbarkeit. Zum besseren Verständnis sollen alle Punkte im folgenden Schritt näher ausgeführt werden. Die spezifische Eigenart der ersten verfolgten Hexen und Hexer ist ihr ablehnendes und feindschaftliches Gefühl gegenüber den Christenmenschen, das in ihren umfangreichen Schadenszauberpraktiken Ausdruck findet. Mit Hilfe des teufflischen krauts war den Hexen vom Teufel der Auftrag erteilt worden, allgemein Mensch und Tier zu schaden, jedoch sonderlich iren widerwertiggen 1316 . Der dämonische Generalbefehl der Schadenszauberausübung war in der Hexensekte folglich auch mit privaten Rachegelüsten fest gekoppelt. Diese Feststellung mag nicht weiter überraschen. Denn es war ja gerade eine Zentralfunktion des Hexensabbats, den Sektenmitgliedern durch bestimmte Rituale eine feindliche Grundgesinnung gegen die Christen zu indoktrinieren. In eben dieser 1316 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage der Gretha Bitterfeindes am 12.08.1601. 10.1 Der lokale Hexenglaube 315 Manier wurden auch die Nachfahren der Hexen, die Deüffelskinder erzogen - sei es von ihren Eltern oder dem dämonischen Jüngling. Bezeichnenderweise gaben die Deüffelskinder einstimmig an, den Teufelspakt bereits im Kindesalter geschlossen, den Schadenszauber allerdings erst im Erwachsenenalter angewandt zu haben. Mit dieser Beobachtung sind gleich zwei Erkenntnisse für diesen Zusammenhang gewonnen: 1. Offenbar bildete der Schadenszauber den Schlussstein einer jahrelangen „Vorbereitung“ auf ein Hexendasein und stellte damit zugleich einen Initiationsritus dar. Es war die Schadenszauberpraxis, die eine symbolische Zäsur zwischen einem passiven „Auszubildenden“ und einem aktiven sowie vollwertigen „Mitglied“ bildete. Denn mit ihrer Anwendung wurde die Satanstreue bzw. die Verinnerlichung satanischer „Werte“ offenkundig. Setzt man die Richtigkeit dieser Deutung voraus, handelte es sich bei der Ausübung des Malefiziums um einen bewussten Bekennungsakt zur Hexenlehre, ausgeführt von Personen, die nach strafrechtlicher Definition die geistige und körperliche Reife bereits erreicht hatten. 1317 2. Angesichts dieser Überlegungen stellt sich die berechtigte Frage, ob dieses lokale Verständnis vom Hexenwesen der ausschlaggebende Grund war, warum im gesamten fürstenbergischen Verfolgungszeitraum - abgesehen von einem Singularfall 1318 - keine Kinderhexenprozesse durchgeführt worden sind. Weder wurden die verschrienen Kleinkinder der „Hexensekte“ strafrechtlich belangt noch die sieben Kinder, denen 1686 nachgesagt wurde und teils auch von sich behaupteten, Läuse zaubern zu können. Schuf etwa diese markante Trennlinie zwischen passiv und aktiv, Auszubildender und Mitglied, Kind und Erwachsener einen sozialen wie rechtlichen Toleranzraum, der bereits für die Untersuchung des Deliktes „Diebstahl“ beobachtet wurde? Fehlte es den Hexenkindern im zeitgenössischen Sinn etwa an einem synn in bewusster bosheyt zu handeln? Freilich ist aufgrund fehlender Schriftstücke diese Überlegung mit Vorsicht zu genießen, jedoch ist das parallele Gerichtsverhalten bei Kinderbzw. Jugendtätern in beiden Deliktkategorien auffällig. 1319 Der unbändige Drang, ihren Mitmenschen zu schaden, verleitete die Hexen fast schon zu „kurzschlussartigen“ Reaktionen. Es bedurfte nur eines nichtigen Grundes, um ihren Zorn heraufzubeschwören. Einige Aussagen diverser Delinquenten seien zur Verdeutlichung aufgeführt. Gretha Bitterfeindes gab vor Gericht diverse Situationen an, in denen sie Malefizien angewandt habe: Der Melerschen aus Wünnenberg habe sie auf St. Martin das Fleisch vergiftet, weil diese versprochen hatte, ihren Sohn zu ehelichen, ihm dann aber die freynacht abgeschlagen habe. Hans Schmieds Sohn musste sterben, da er außerhalb gebüerlicher zeit dienst gangen war, und schließlich vergiftete sie Meineke Reuter mit einem Bier, auß vrsache[,] daß er andere Metchens lieber dan sie [...] gehabt habe. 1320 Im gleichen Tenor antwortete ihre Patin Gretha Arenken: Sie habe Witt Rappe einen Bullen vergiftet (vergeben), weil dieser stets 1317 Vgl. Maihold, Harald: Art. „Strafmündigkeit“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a4169000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 1318 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 78 r -101 v . 1319 Für detailliertere Ergebnisse siehe Kapitel 8.6. 1320 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnisse vom 12.08 und 17.08. 316 10 Hexerei als Kriminaldelikt von ihrem Trog gefressen habe. Streitereien zwischen den Kindern seien der Grund gewesen, warum Gretha Hermann Meyer ein Schwein vergiftet habe. Der Alte Hinte nannte ähnliche Beweggründe: So habe er Peter Klingenberg ein Pferd getötet, weil Peter nicht mehr mit ihm gemeinsam holzen wollte. Und Tönnies Steekelens Sohn habe er lahm gezaubert, vrsache[,] dz er Ihm schelmerey gethaen 1321 . Die Liste der Nichtigkeiten, weswegen sich die Hexen veranlasst sahen, Schadenszauber zu praktizieren, kann mit zahlreichen Beispielen fortgesetzt werden. Diese Aussagen vermitteln das allgemeine Bild von einer Hexe, deren charakterliche Grundeigenschaft ein aufbrausendes Wesen war. Diese Assoziation machte die Hexe für ihre Umgebung so gefährlich, dass jeglicher Umgang mit ihr dem sprichwörtlichen Spiel mit dem Feuer gleichkam. Harmlose Situationen konnten ihr fast schon cholerisch anmutendes Gemüt reizen und ihr eine Legitimationsgrundlage für die Anwendung von Malefizien geben. Die Angst vor ihrer Unberechenbarkeit lässt sich an einem Fallbeispiel zwischen Jost Stieker und Trina Klingenberg verdeutlichen. Die beiden Familien lagen schon längere Zeit im Zwist, sodass der Leinenweber Stieker sich gezwungen sah, nach Hoppeke zu Raban von Westphalen zu fahren und die Ortsobrigkeit um Rechtsbeistand zu bitten. Als er zusammen mit seiner Frau wieder nach Fürstenberg zurückfuhr, sah das Ehepaar, dass Trina sich mit ihren Kindern stritt. Jost Stiekers Frau war nicht in der Lage, Trina des Hauses zu verweisen, sondern sei Inß Hauß geeylet, weill sie so viel demehr Pein vndt quelung, wan sie dieße trinen ansichtich [...]. Jost Stieker versuchte, die verärgerte Trina mit den Worten zu beruhigen, sie solle sich doch ahn die kinder nicht kehren vndt die gewehren Laßen, würden sich wol wider vertragen. Trina entgegnete jedoch: Ey[,] du beseßener teuffel, Gott gebe[,] daß du noch so viel teuffel bey dich kriegst alß du haßt vndt die nicht von dier weichen [...]. Erschrocken über die Verfluchung erwiderte er, sie solte doch stillschweigen vndt nicht solche kreiterey midt den kindern haben[,] seiner frawen der doch bange gnug würde 1322 . Die Schadenszauberanwendung besaß jedoch noch einen weitaus tieferen symbolischen Gehalt, als es zunächst bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat. Sie kann zusätzlich als ein Sinnbild der bewussten Ablehnung der christlichen Gesamtordnung verstanden werden. Denn anstatt sich ausschließlich der angebotenen Bandbreite an sozialen und rechtlichen Konfliktregulationsmechanismen zu bedienen, nutzten die Hexen das Malefizium. So auch im Fall zwischen Thönies Reuter und dem Alten Hinte. Weil sich beide über den Verlauf einer Ackergrenze uneinig waren, habe der Alte Hinte Thönies ein Pferd vergiftet. Gretha Arenken tötete das Pferd von Hennecken Cordt, da dieses in ihrem Korn gehodet habe. Goert Nüthen, der Wassermeister, habe Henrich Dröppel 1630 ebenfalls ein Pferd vergiftet, weil Goert ihm Land zur Verfügung gestellt, Dröppel es aber nicht bestellt hatte. 1323 Mit unverhältnismäßiger Härte reagierten die Deüffelskinder in Alltags- und Konfliktsituationen, indem sie ihre „Gegner“ exzessiv an ihren neuralgischen Punkten 1321 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 21.08.1601. 1322 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage vom 21.05.1659. 1323 Ebd., Geständnis vom 04.07.1631. 10.1 Der lokale Hexenglaube 317 schädigten - entweder an deren Gesundheit und/ oder deren ökonomischer Existenzgrundlage. Damit überschritt die Hexe mit jeder Schadenszauberanwendung die Grenzen zwischen legitimer (potestas) und illegitimer Gewaltanwendung (violentia). Die Formen des Schadenszaubers fielen dabei unterschiedlich aus: Um Vieh zu vergiften, wurde das Teufelskraut, dessen Farbe von Rötlich bis Grau oder Schwarz reichte und etwa eine handtvoll maß, in den jeweiligen Viehtrog, der sich in den Häusern befand, geworfen. Teilweise streuten die Hexen es sogar an Plätzen aus, wo die Tiere zusammengetrieben wurden oder grasten. Davon berichtete beispielsweise Meineke Evert. Er sagte dem Richter, er habe das giftige Kraut vor seinem Haus an der Kuhtrift ausgestreut, weil hier der Hirte die Kühe hintreibe und auch pausiere. Die Kühe würden die Materie auflecken und binnen kurzer Zeit sterben. 1324 Das Gift, das Meineke Brielohn nutzte, war angeblich in seiner Wirkung so stark, dass das schwartze kraut die Tiere in der Mitte zerborsten ließ. 1325 Der Gebrauch des teuflischen Krauts stellte jedoch nicht die einzige Möglichkeit dar, Schaden an Mensch und Vieh zu verrichten. Oftmals geschah dies auch in Form eines Werwolfes, um die Schafe und Esel in Fürstenberg zu reißen. 1326 Der direkte Schadenszauber an Menschen war jedoch bei Weitem vielfältiger als bei den genannten Viehschädigungen: Der Alte Hinte beispielshalber legte die schwarze Materie vor der bleren doer, betrieb also einen Schwellenzauber. Teilweise wurde das Gift in Getränke oder Speisen gemischt, wie z. B. im Fall der Engel Hinte. Der Teufel brachte ihr Wurzeln, die sich an ihrem Hauszaun befanden. Die habe sie geschabedt vndt in warmen biere ihrem Bruder gegeben, der nach der Einnahme des Getränks ein Jahr lang geseucht [habe] vndt Endtlich daran gestorben sei. 1327 Zusätzlich konnte den vermeintlich widerwerttigen Schaden zugefügt werden, indem die Hexe ihnen die Besessenheit anzauberte. Diese Art von Schadenszauber war insbesondere in der Verfolgungsperiode von 1658/ 59 „beliebt“ und kann zugespitzt als Modeerscheinung bezeichnet werden, die durch Besessenheitsvorfälle im Hochstift Paderborn ausgelöst wurde. 1328 So gestand auch Margaretha Brielohn, sie hette binen schwester Marien den bösen geist beygebracht In supen, da sie den Ingesetzt vndt 1324 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 27.08.1631. 1325 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 10.06.1659. 1326 Erstaunlich wenige Lykanthropievorwürfe sind in den fürstenbergischen Hexenprozessakten vertreten. Meineke Brielohn wurde beispielsweise beschuldigt, sich in einen Werwolf zu verwandeln. Er widerrief allerdings diesen Anklagepunkt im zweiten Verhör und das Gericht ließ die Anschuldigung fallen. Sein Kamerad Peter Nottebaum sollte 1660 mit dem Vorwurf der werwolfferey konfrontiert, aber nicht strafrechtlich verurteilt werden. Die einzige Person, die in Fürstenberg als Werwolf hingerichtet werden sollte, war Friedrich Vahlen im Jahre 1700. 1327 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 15.07.1657. 1328 Für ausführliche Berichte über die Besessenheitsfälle im Hochstift Paderborn siehe Richter, Wilhelm: Die „vom Teufel Besessenen“ im Paderborner Lande unter der Regierung des Fürstbischofs Theodor Adolf von der Reck und der Exorcist P. Bernhard Löper S. J., in: Westfälische Zeitschrift - Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 51 (1893), S. 37-96 sowie Decker, Rainer: Die Päpste und die Hexen. Aus den geheimen Akten der Inquisition, Darmstadt 2 2013 und ders.: Die Hexen und ihre Henker. Ein Fallbericht, Freiburg, Basel und Wien 1994. 318 10 Hexerei als Kriminaldelikt Ihm daß zu Eßen geben wortzu sie der deuffel gezwungen 1329 . Die Symptome dieser Körperschädigung waren zahlreich: Die Opfer glaubten, dass ihnen etwas Lebendiges im oder auf dem Leib wäre, sodass sie sich im Elendt fühlten. Einige andere lagen erstarrt im Bett oder konnten nicht mehr ihren Arbeitstätigkeiten nachgehen, weil ihre Gliedmaßen steif wurden. 1330 Teilweise wurde sogar das Teufelskraut gezielt verwendet, um Personen eine körperliche Behinderung zuzufügen. Dies geschah meistens, indem die Materie vor die fußtoppen der Zielperson geworfen wurde. Ein Opfer von Henrich Wilhelm Maeß beklagte sich, seit der Berührung mit dem teuflischen Kraut nicht mehr gehen zu können und bettlägerig geworden zu sein. 1331 Überdies herrschte in Fürstenberg auch die Vorstellung vor, die Hexe könne mit Hilfe ihres bösen Blickes Mensch und Vieh Schaden zufügen. Ein Beispiel hierfür liefert der Fall der Elsche Budden von 1687. Als der Richter von diversen Personen auf die angeblichen Schadenszauberpraktiken der Elsche aufmerksam gemacht wurde, zitierte er mehrere Zeugen vor Gericht, die Auskunft über den Leumund der Beklagten geben sollten. Ihr Nachbar gab folgende Informationen über sie bekannt: Er habe sie in Verdacht, seine Schafe verhext zu haben, weil sie in seinen Stall geguckt habe. Detailliert berichtete er, dass die Lämmer vorhin frisch und gesundt gewesen, wie er, deponens aber were, nachdem inquisita davon gewesen, in den Stahl kommen, gesehen, daß die Lämmer gestanden, den Kopf in den Nacken und Schaum in den Mundt gehabt, deren er eins genohmen und lebendig in die Erde gegraben, das andere aber bis ahn den Abend lebet und gestorben 1332 . Wohl in der Absicht, die Auswirkung des bösen Blickes einzugrenzen und eine mögliche Übertragung auf weitere Schafe zu verhindern, hatte der Nachbar das toll gewordene Lamm lebendig vergraben. Diese apotropäische Abwehrmaßnahme belegt, dass die Gemeindemitglieder nicht unbedingt hilflos den dämonischen Praktiken gegenüber standen. Sie besaßen offenbar einen Wissensfundus an magischen Abwehrmitteln. Mit der Analyse des Schadenszaubers geht zwangsläufig auch die Frage nach dem Wetterzauber einher. Seit Behringers Studie über den südwestdeutschen Raum, in der er einen kausalen Zusammenhang zwischen Klimaanomalien und Hexenverfolgungen sah, 1333 wurde die Bedeutung der Hexe als Wetterzaubersche unmittelbar in den Fokus der modernen Hexenforschung gerückt. 1334 Ob in das 1329 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 27.06.1659. 1330 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage vom 22.07.1658. 1331 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 88 r . 1332 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 28. 1333 Aufgrund einiger kritischer Anmerkungen zur „Klimathese“ betont Rita Voltmer, dass Wolfgang Behringer offensichtlich missverstanden wurde. Denn eine zwingende Kausalität zwischen Klimaanomalien und den Hexenverfolgungen sei von ihm mitnichten behauptet worden. Die Wetterverschlechterung stelle lediglich einen weiteren Stressfaktor dar, der die Hexenverfolgungen begünstigte. Voltmer: Hexenjagden. 1334 Siehe hierzu die kritische Stellungnahme von Ströhmer, Michael: Zauberhafte Donnerwetter. Katastrophismus, Hexenangst und die Klimathese zur Kleinen Eiszeit, in: Paderborner Historische Mitteilungen 26 (2013), S. 5-38. 10.1 Der lokale Hexenglaube 319 fürstenbergische Hexenbild auch klimatologische Stereotype miteinflossen, ist folglich zu überprüfen. Bezeichnenderweise spielte der Wetterzauber in Fürstenberg eine äußerst marginale Rolle. Im gesamten Prozesszeitraum von über hundert Jahren sind lediglich zwei Fälle bekannt, in denen ein Wetterzauber praktiziert worden sein soll. Es handelt sich hierbei um den bereits erwähnten Fall von Gölcke Schweins, die vor Gericht gestand, zusammen mit Goert Nüthen 1615 das große Unwetter in Fürstenberg verursacht zu haben, sodass die Ziegel von den Dächern flogen. 1335 Der andere Wetterzauber sei von Meineke Brielohn ca. 1649 verursacht worden. Der Teufel wollte ihn in dieser Kunst lehren, welches aber der deuffel selbst gemacht von drey pfeiffen[,] welche er zusammengemacht [und] wovon daß wetter worden, so nach dem Meehrhoffe hinüber gezogen, aber keinen schaden gethan[,] sondern sey lauter Regen gewesen 1336 . In Anbetracht des eher rauen und kalten Klimas in Fürstenberg ist es verwunderlich, dass die Vorstellung von der Wetterhexe im lokalen Hexenbild keine Rolle spielte. Die meteorologischen Extremereignisse und Anomalien in der Frühen Neuzeit wurden offenbar eher als natürliches Charakteristikum des nordwestdeutschen Raumes betrachtet und nicht auf die Machenschaften einer dämonischen Kraft zurückgeführt. Zudem ist kritisch zu bedenken, dass das regionale Klima keinen Anbau des witterungsempfindlichen Weizens und Weins erlaubte wie in Behringers Fallbeispiel. 1337 Die üblichen Getreidesorten bildeten der wetterfeste Roggen, der Hafer und die Gerste, die ferner noch in Winter- und Sommerfrüchte unterschieden wurden. Aufgrund der bekannten klimatischen Verhältnisse hatten die fürstenbergischen Bauern zusätzlich ein gewisses Erfahrungswissen, um möglichst totale Ernteverluste bei Hagelschauern oder Kälteeinbrüchen eingrenzen zu können. Die knapp zweihundert Jahre alte Ortschronik gibt hierüber stellvertretend Auskunft: Im Jahr 1816 seien der Regen und der Wind so stark gewesen, dass die Winterfrüchte zum Theil umgesäet werden [mußten] [...] 1338 . Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Ackerboden im Sintfeld größtenteils aus kley landt besteht, einer tonigen Erde, die viel bewässert werden muss, damit die fruchtbare Bodengüte gegeben ist. Anstelle eines „verhexten Wetters“ bedienten sich die Hexen des Insektenzaubers, um Schaden an Obstbäumen und Feldfrüchten zu verursachen. Freilich kann ein großer Schädlingsbefall im Rückschluss als indirekter Indikator einer herrschenden Wetteranomalie in Fürstenberg gewertet werden. Jedoch ist die zeitgenössische Differenzierung hervorzuheben, dass die Hexe nicht mit dem meteorologischen Extremereignis konnotiert wurde, sondern mit dessen sekundären Folgen, dem Schädlingsbefall. So wird in den Hexenprozessakten von Fällen berichtet, in denen die 1335 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 28.06.1631. 1336 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 16.06.1659. 1337 Vgl. Dillinger, Johannes: Hexen und Magie. Eine historische Einführung (Historische Einführungen, Bd. 3), Frankfurt a. M. 2007, S. 79. 1338 Z. n. Nolte: Chronik, S. 26. 320 10 Hexerei als Kriminaldelikt Hexen die gefürchteten Mäuse, Schnecken und Raupen gezaubert hätten. 1339 Die Hexenmitglieder verursachten in der Form erhebliche Schäden an Obstbäumen und Feldfrüchten. Die Beschimpfung als schnagel- oder raupenmachersche war folglich aufgrund des Bedeutungsgehalts, die wirtschaftliche Existenz einer Gemeinde zu gefährden, ein schwerwiegender Vorwurf. 1340 In den Hexenprozessakten spiegelt sich jedoch auch diese Schadenszauberform - wie die Lykanthropie - äußerst selten wider. Lediglich zwei Personen wurden solche Schädigungen nachgesagt. 1341 Das schadenstiftende Wirken der Hexenmitglieder ging zudem weit über die teuflische Materie und Metamorphose hinaus: Das örtliche Verständnis von der Hexe war von der Vorstellung durchdrungen, dass nicht nur von den Hexen eine dämonische Strahlkraft ausging (böser Blick), sondern auch ihre mobilen und immobilen Besitztümer regelrecht kontaminiert waren. Ihren Ländereien, Höfen und Häusern wurde eine schädigende Wirkung nachgesagt, wenn diese mit Gegenständen von christlichen Gemeindemitgliedern in Berührung kamen. Die schädigende Kraft von Elsche Buddens Haus bekam ihr Nachbar zu spüren. Er hatte Elsche in Verdacht, seinen Hengst verhext zu haben. Er gab vor Gericht an, dass er zwar nicht gesehen habe, dass Inquisita das Pferd angerührt oder bei der Rollkarre gestanden habe, sondern nur daß sie auff und zu gangen wäre und daß die Rullekarr an der Ecken inquisitae Hausses gestanden habe. Schließlich sei der Hengst die Wände hochgesprungen und noch am selben Tag gestorben. 1342 Ein weiteres Beispiel liefert der Fall des Johann Caspar Saurhagen. Nachdem er 1702 hingerichtet worden war, verkauften die Herren von Westphalen einen Teil seines Landbesitzes, um die Gerichtskosten zu bezahlen. Entgegen dem gängigen Usus verlangte wohl der neue Käufer, dass nach ausgestelltem Kaufbrief und gehaltenem Weinkauf der Pastor komme und das erworbene Land segne. 1343 Selbst der Fußabtritt der Hexe war in der Gemeinde gefürchtet. Wie aus einer Urkunde von 1830 hervorgeht, war der Fußpfad, der zu den Gemüsegärten unterhalb des Dorfes führte, als „Hexenweg“ 1344 verschrien. Wahrscheinlich erhielt der Weg 1339 In der Ortschronik werden des Öfteren die von Nagetieren und Insekten verursachten Schäden an Feldfrüchten geschildert. Für das Jahr 1818 heißt es: [...] allein die Menge der Ungeziefer von Mäusen war so groß und zunehmend, daß sie jede Fruchtart auf dem Hallme beschädigten, der Roggen war nicht so giebig, wie man glaubte, und von der Gerste- und Hafer Aussaat wurde die Einsaat nicht wieder gewonnen; der Ausfall der Erndte war kaum mittelmäßig. Z. n. ebd., S. 29. 1340 Siehe hierzu LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 100 r . Ausführlich zitiert in Kapitel 8.4. 1341 Zum einen ist die Mutter von Zenzing Buschmann als raupenmachersche verschrien gewesen, weil einsmahlen auß deß speis viel rupen, alß ein kette lang herauß gekemmen, welches vor ein zauberwerk gehalten. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung des Jörg Uhrenken aus Helmern am 23.07.1659. Zum anderen bezichtigte Freda Sommers die große Anna als Mäuse- und Schneckenmacherin. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 22.08.1659. 1342 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 27 f. 1343 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 98 r . 1344 StA Wü. A 779, Urkunden der Gemeinde Fürstenberg, unfol. 10.1 Der lokale Hexenglaube 321 seinen gefürchteten Namen, weil er für die vermeintlichen Delinquenten die kürzeste Verbindung zwischen Gefängnis (Zehnthaus), Torturplatz und Scheiterhaufen bildete, also häufig von den angeklagten Hexen betreten worden ist (siehe Abb. 10.2 auf S. 322). Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sollte dieser Pfad nur mit einer Gebetsformel betreten werden. 1345 Ein weiteres charakteristisches Merkmal der Schadenszauberausübung war die Heimlichkeit. Die besondere Schwere dieses Vergehens wird deutlich, wenn die Ergebnisse aus den Kriminalfällen der „normalen“ Delikte herangezogen werden: Für gewöhnlich wurden die zurechtweisenden und sanktionierenden Maßnahmen bei einem angenommenen Fehlverhalten vor einem breiten Publikum angewandt: Erinnert sei an das „Aus-dem-Haus-Rufen“, die Aufforderung zur Wasserprobe, die Schlägerei auf der Straße oder bei einem Trinkgelage, das Totschlagen von Vieh genauso wie die Zerstörung von Gartenzäunen oder von Garten- und Feldfrüchten. Allen genannten Konfliktregulationsmechanismen ist der Öffentlichkeitscharakter gemein. Die Zweckmäßigkeit dieser publiken Zurschaustellung war nicht nur von der Intention geleitet, die Mehrheit der Zuschauer von seiner Position zu überzeugen oder den Kontrahenten bloßzustellen. In der vormodernen face-to-face-Gesellschaft übte die Öffentlichkeit eine soziale Kontrolle aus. Als Teil der öffentlichen Meinung und Träger des Wertesystems beurteilte sie, ob die Regeln des informellen Verhaltenskodex eingehalten wurden und ob die verbalen oder körperlichen Übergriffe gerechtfertigt waren. Das Publikum gab folglich seinen Zuspruch für gewisse Handlungen oder kritisierte sie als illegitim. Da die Hexe sich dieser Öffentlichkeit entzog und damit der Gemeinde die Möglichkeit vorenthielt, ihre soziale Kontrolle auszuüben, konnte sie ihre Malefizien ungehindert, hemmungslos und uneingeschränkt praktizieren. Regelmäßig widersetzte sie sich auch dem Verhaltensgebot, den Hausfrieden einer Person zu wahren. Denn ein Großteil der Schadenszauberanschläge fand direkt im Haus des Opfers statt, 1346 sprichwörtlich unter seiner Nase. Diese Heimlichkeit bot der Hexe zudem die Möglichkeit, eine Fassade aufrechtzuerhalten und ein Doppelleben in der Gemeinde zu führen, oder um es soziologisch zu erfassen: Die Hexensekte, hier in Gestalt der Deüffelskinder, konnte - heimlich zusammengerottet in einer Outgroup - ungestört in der Ingroup leben. Die vom Teufel verordnete Zwangsauflage, ihre Verbrechen im Verborgenen auszuüben, war ihr Garant, eine möglichst lange Zeit unentdeckt zu bleiben und damit den größtmöglichen Schaden in der Gemeinde anzurichten. 1345 Ich möchte mich herzlich bei Frau Monkos für diesen Hinweis bedanken. 1346 „Hausfriedensbruch galt als ein schweres Vergehen. Es wurde streng unterschieden zwischen einem Angriff auf den Hausherrn auf offener Straße oder in seinem Haus, zwischen Straßenraub oder Einbruch in ein Haus. Ein Schimpfwort, das von außen her ins Haus gerufen wurde, wog schwerer als eines von Angesicht zu Angesicht, denn es verletzte mit der Ehre des Hausherrn auch den Hausfrieden.“ Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Das Haus und seine Menschen 16.-18. Jahrhundert, Bd. 1, München 3 1999, S. 12. 322 10 Hexerei als Kriminaldelikt Abbildung 10.2: Topografische Karte von Fürstenberg um 1780. Privatbesitz Graf von Westphalen Schloss Fürstenberg: Die gestrichelte Linie markiert die Teile des „Hexenweges“. Der Verbrennungsplatz und vermutliche Folterplatz befanden sich rechts vom Pfad. 10.2 Zusammenfassung Die systematische Durchleuchtung des lokalen Hexenbildes, in der es um keine objektiv realistische Darstellung, sondern primär um eine subjektiv gefärbte Kollektivbeurteilung ging, hob ein wesentliches Charakteristikum hervor: Obwohl sich das frühneuzeitliche Verständnis von der Hexe im ständigen Fluss befand, verschiedene Akzentuierungen, Überformungen und Wertungen erfahren hatte, herrschte in Fürstenberg konstant eine Überzeugung vor: dass es sich bei den Hexen um Personen handelte, die nicht nur in Berührung mit dem Bösen kamen (Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Hexensabbat), sondern aufgrund ihrer blutsmäßigen Veranlagung (Deüffelskind) bereits vor dem eigentlichen Teufelsbündnis eine charakterliche Disposition zum Bösen bzw. Kriminellen mitbrachten. Dieser perfide Charakterzug der „Unholde“ war eine substanzielle Voraussetzung für die Einweihung in die geheime Hexensekte. Handelte es sich bei den „Auserwählten“ darüber hinaus um Kinder, wurde ihre kriminelle Veranlagung schließlich durch die elterliche Erziehung und dämonische Sozialisation (Buhle, Hexensabbat) ausgeprägt und verstärkt. Die repetitiven Rituale auf dem Hexensabbat sollten zudem zu einer Internalisierung der teuflischen Werte führen sowie den Hexenmitgliedern eine kollektive Identität geben. Wer jedoch ein anerkanntes Mitglied der Hexensekte sein bzw. bleiben wollte, war gezwungen, die Pflichten eines „Hexendaseins“ zu erfüllen und immer wieder unter Beweis zu stellen - sowohl die Abkehr von Gott als auch 10.2 Zusammenfassung 323 die Ablehnung der christlichen, sozialen und rechtlichen Gesamtordnung des Dorfes. Erfüllte man diese Bedingungen, konnten die Mitglieder sich der Gunst des Teufels sicher sein und in der sozialen Hierarchie der Hexensekte aufsteigen. Die höchste Ausdrucksform für ihre Identifikation mit den dämonischen Werten stellte die erfolgreiche Anwendung des Schadenszaubers dar, der im justiziellen Sinne eine komplexe Deliktkonstruktion aus mehreren Verbrechen darstellte und zugleich für die Hexen eine symbolische Zäsur bildete: Der Anwärter wurde erst mittels der Schadenszauberpraktiken zum vollwertigen Mitglied der Hexensekte und wandte sich damit endgültig von der christlichen Gesamtordnung und ihren Werten ab. Er handelte nun wider das sozial-moralische Wertesystem eines Gemeinwillens, der Solidar-, Not-, Hilfs- und Friedensgemeinschaft. Mittels des Malefiziums gelang es der Hexe, die sie umgebende Gesellschaft zu terrorisieren. Dabei kannte ihre Raserei keine Grenzen. Dass die Hexe zudem zuerst den Schadenszauber an ihrem eigenen Vieh, sozusagen an ihrer eigenen ökonomischen Existenzgrundlage, ausprobierte, markierte die vollständige Metamorphose von einem Christenmenschen zu einem Teufelsbündner. Exzessiv wandte die Hexe Malefizien gegen ihre widerwertiggen an, traf sie an ihren neuralgischen Punkten (ökonomische Grundlage, Gesundheit) und trachtete sogar nach deren Leben. Geringe Anlässe, die im gemeinsamen Zusammenleben zu den täglichen Alltagssituationen und -konflikten zählten, genügten für massive Schadenszaubereianwendungen. Die Mittel dazu waren dabei nicht nur auf das teuflische Kraut begrenzt: Sie reichten von der Herstellung von Schädlingen, dem bösen Blick bis hin zu einer dämonischen Ausstrahlungskraft, die selbst den Boden unter ihren Füßen kontaminierte. Die Hexe war folglich ein Wesen, von dem eine ständige Gefahr sowohl für das einzelne Individuum als auch für das Kollektiv ausging. Freunde, Land- und Hausnachbarn waren ebenso wenig vor ihr geschützt wie ihre Feinde. Nachbarschaftshilfen oder gar Speis und Trank von ihr anzunehmen, war daher stets ein Spiel mit dem Feuer. Kurzum: Mit krimineller Energie störte sie den inneren Frieden der Gemeinde. Die fürstenbergische Hexe war folglich ein Wesen, um es mit den Worten von Rainer Walz zu formulieren, das nicht ambivalent gedacht war, weswegen der Beitritt einer Person in die Hexensekte auch eine radikale Umwertung zur Folge hatte. 1347 Die Verbalinjurie „Hexe“ bzw. „Hexer“ war folglich die ultimative Universalbeleidigung für die Zeitgenossen: Sie enthielt den Devianz- und Delinquenzvorwurf par excellence. Vor dem Hintergrund dieser Deutungsfolie wird verständlich, warum die Zeitgenossen umgehend auf die Beleidigung reagieren mussten, wollten sie nicht als asozial abgestempelt und infolgedessen desintegriert werden. Ein besonders perfides Element des Hexenwesens, das ihnen erlaubte, ein Doppelleben zu führen, war die teuflische Auflage zur Heimlichkeit. Die Hexensekte bildete damit, soziologisch gesprochen, eine konspirative Outgroup mit eigenen Peergroup- 1347 „Die These wäre nun, daß der Hexenglauben umso weniger gefährlich ist, je mehr die Kraft, die den Zauber ermöglicht, als ambivalent gedacht wird [...].“ Walz: Relevanz der Ethnologie, S. 67. 324 10 Hexerei als Kriminaldelikt Elementen in einer Ingroup. 1348 Unkontrolliert und unentdeckt konnten die Hexen so jahrelang ihre dämonischen Taten ausführen. Die Dorfbewohner waren folglich gezwungen, Beweise zu sammeln, die den Verdacht bestätigten. Mit diesem Ergebnis ist zumindest für diesen Untersuchungsraum eine Antwort gefunden, warum viele als Hexen verschriene Personen jahrzehntelang im Hexengerücht standen, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden: Solange keine eindeutigen Beweise vorlagen, mussten die Gemeindemitglieder mühselig auf Beobachtungen zurückzugreifen. Denn willkürlich ausgerufene Denunziationen standen erwiesenermaßen in Fürstenberg unter Strafe. Diese Rechtsgrundlage schränkte die juristischen Handlungsmöglichkeiten der Ankläger erheblich ein. In den hier aufgeführten Aspekten wird auch die zeitgenössische Trennlinie zwischen Magie und Hexerei sichtbar: Die Alltagsmagie beinhaltete keinen Apostasie-Gedanken und auch keine Abwendung von der sozialen Gesamtordnung. Angesichts dieser Deutung wird ersichtlich, warum generell magische Praktiken bzw. Menschen mit magischen Fähigkeiten in Fürstenberg toleriert und anerkannt waren. Es sei nur auf Clara Brielohns Ehemann hingewiesen, der nach der Vergiftung seiner Frau durch Elsche Budden nach Schwickhausen gereist war, um ein Gegenmittel von einer „weisen“ Frau zu erhalten. 1349 Abschließend drängt sich die zeitgenössische Frage nach dem Status der Inquisiten auf, die geradezu ein modernes Politikum anschneidet: „Waren die Betroffenen demnach Verbündete, Spielbälle oder Opfer des Bösen? “ 1350 Die Antwort ist aus historischer Perspektive situationsabhängig und personengebunden. Resümierend kann angemerkt werden, dass das Mensch-Teufel-Verhältnis letztendlich allen drei Kategorien zugeordnet werden kann: Der Großteil der Angeklagten gab vor dem Gerichtspersonal an, den Teufelspakt freiwillig geschlossen zu haben, um ihre antichristliche und asoziale Gesinnung ausleben zu können. Dabei wurden die Hexen und Hexer auch vom Teufel instrumentalisiert, um sein Werk auf Erden zu vollbringen. Schließlich, wenn sie sich seinem Willen nicht mehr beugten oder sich von ihm gar lossprechen wollten, wurden sie zu seinem Opfer und waren körperlichen Drangsalierungen und psychischem Terror ausgesetzt. Mit dieser Feststellung wird zugleich die Kardinalfrage für diese Arbeit berührt: Was stellte die Hexe unmittelbar für die zeitgenössische Gesellschaft und ihr soziales Ordnungsgefüge dar? Aus kriminalhistorischer Perspektive konnte nachgewiesen werden, dass die Malefikanten Schwerstkriminelle, ja sogar Intensivtäter waren, die nicht nur der göttlichen Majestät, sondern auch der gesamten sozialen und rechtlichen Ordnung Hohn sprachen. Dass die Hexerei zudem von den eigentlichen kommunalen und herrschaftlichen Trägern der Gesamtordnung praktiziert wurde, von aktiven 1348 Behringer spricht vom „internal outsider“. Behringer, Wolfgang: Witches and Witch-Hunts. A Global History (Themes in History), Cambridge 2004, S. 144. Siehe auch Dillinger: Böse Leute, S. 229. 1349 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 63 r . 1350 Beck: Der Teufel im Verhörlokal, S. 370. 10.2 Zusammenfassung 325 Gemeindemitgliedern der sozialen Mittel- und Oberschicht, mag aus der Sicht der Fürstenberger als regelrechte „Verkehrung der Welt“ wahrgenommen worden sein. Folglich steht das Wort „Hexe“ - hier nicht aus etymologischer Sicht betrachtet, sondern basierend auf den empirischen Befunden der Analyse - stellvertretend für einen Menschen, der als Gefährder der Menschheit nicht mehr als solcher per definitionem erfasst werden konnte. Um die zeitgenössischen Wahrnehmungen, Gefühle, Einstellungen und Annahmen in Bezug auf die Hexe sowohl terminologisch als auch semantisch zu erfassen, bedarf es einer Verbindungslinie zwischen der historischen Kriminalitätsgeschichte und der Alteritätsforschung. 1351 Das gesellschaftliche Konstrukt „Hexe“ stellt unter diesem Deutungskonzept eine symbolisch, ideologisch und fiktiv gedachte Grenze zwischen „Ehre“ und „Unehre“, „Vernunft“ und „Wahnsinn“, „Gläubigkeit“ und „Ungläubigkeit“, „Norm“ und „Abnorm“ dar. 1352 Die Hexe war zu einem stilisierten Symbolbild des feindlich gesinnten Fremden erhoben worden, eines Unbekannten, der zudem in den „eigenen Reihen“ wohnte. Folglich handelt es sich bei dem Begriff „Hexe“ um ein kulturelles Konstrukt, das eine markante Linie zwischen „Außen“ und „Innen“, „Exklusion“ und „Inklusion“, dem „Eigenen“ und „Fremden“ zieht. Tatsächlich schneidet das Phänomen tiefer gehend auch die Dialektik von Selbst- und Fremdwahrnehmung an. Obwohl die vermeintlichen Hexen Nachbarn, Verwandte oder Freunde waren und in einer Gemeinde politisch, rechtlich und ökonomisch integriert sein konnten, waren sie den Gemeindemitgliedern doch letztendlich unbekannt und somit schließlich desintegriert. Heimlich sich dem Lebensraum der Christen entziehend, wandten sie sich den Werten einer Kontrakultur zu, die ihnen den Zutritt in die „normale“ Welt verschloss. Mit anderen Worten: Die Hexe wurde fremd und unterzog sich selbst einem Entfremdungsprozess. Umgewertet als durch und durch „böse Person“, war ein Fremdverstehen unmöglich gemacht. 1353 Das konstruierte Hexenbild zwang eine Gesellschaft förmlich zu einem gedanklichen Rückbezug auf die eigene kollektive Identität und damit zugleich zur aktiven Wahrung des eigenen Werte- und Normensystems, das durch die Hexe bedroht wurde. Als gefährliche, unbekannte „Fremde“ kategorisiert, war sie schließlich von einer Gemeinde auszugrenzen und aufgrund ihrer kriminellen „Karriere“ abzustrafen. Ihre strafrechtliche Verfolgung erfüllte dabei eine doppelte Funktion: Einerseits stellte die Strafverfolgung ein Bemühen dar, die Anhängerschaft der Teufel zu dezimieren und das Faszinosum Hexerei und seine Anziehungskraft durch Kriminalisierung einzugrenzen. Zudem sollte der „soziale Körper“ beschützt und bewahrt werden. Andererseits stellte der Hexenprozess für die Delinquenten eine Möglichkeit dar, sich durch ihr Geständnis vom Teufel loszusagen, wieder zu Gott zurückzukehren und in die christliche Gemeinde erneut integriert zu werden. 1351 Für den entscheidenden Impuls danke ich Herrn Prof. Dr. Frank Göttmann. 1352 Vgl. Hering Torres: Ausgrenzung. 1353 Vgl. Landwehr/ Stockhorst: Europäische Kulturgeschichte, S. 195. Teil IV „Infecti“ 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Den Opfern der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen „ein Gesicht zu verleihen“, ist ein grundlegendes Bedürfnis vieler Hexenforscher, um einer potenziellen Entpersonalisierung der vermeintlichten Hexen und Hexer entgegenzuwirken. Denn es liegt in der Verantwortung der Historiker die Menschen, die der Hexenjagd ausgesetzt waren, nicht zu einem bloßen Untersuchungsgegenstand verkommen zu lassen, sondern ihre traurigen Schicksale ernst zu nehmen und im kollektiven Gedächtnis als Monitum wach zu halten. Aus diesen Gründen war es auch für die Verfasserin wichtig, sich mit dem biografischen Hintergrund der Deüffelskinder eingehender auseinanderzusetzen. Diese Kapitel ist jedoch noch einem anderen Grund geschuldet. Denn einen essenziellen Bestandteil des lokalen Hexenbildes bildeten der transgenerative Vererbungsaspekt und die familiäre Sozialisation. Dieser dem örtlichen Hexenglauben inhärente „Kerngedanke“ kommt durch eine selektive Verfolgungspolitik der Ortsobrigkeit auf bestimmte Familien zum Ausdruck. Allein aus diesem Blickwinkel scheint eine genealogische Aufarbeitung der verfolgten Personen hinreichend begründet. Wird allerdings zusätzlich der Befund hinzugezogen, dass eine verwandtschaftliche Nähe zwischen den einzelnen Hexenfamilien bestand, muss der genealogische überdies um einen prosopografischen Ansatz erweitert werden. Es gilt folglich, annähernd die einzelnen Beziehungsgeflechte herauszuarbeiten. Das heißt, die „Einzeltäter“, die nicht aus einer „Hexensippe“ abstammten, werden in diesem Kapitel nicht ausführlich berücksichtigt. Der Rahmen dieser Arbeit würde sonst gesprengt werden. Dieser zweigleisige und sich zum Teil überlappende Zugang erweist sich in seiner Umsetzung schwieriger als zunächst erwartet und bedarf insbesondere hinsichtlich der prosopografischen Methode bzw. ihres Zugriffs 1354 einiger kritischer Vorüberlegungen. Die ersten Hürden beginnen bereits bei einer einheitlichen und verbindlichen Methodenbestimmung von Prosopografie. 1355 Aber auch in funktionaler Hinsicht 1354 Da es die prosopografische Methode nicht gibt, plädierten Bulst/ Genet für die Einführung des Begriffs „Zugriff“. Bulst, Neithard/ Genet, Jean-Philippe (Hrsg.): Medieval Lives and the Historian. Studies in Medieval Prosopography (Festschriften, Occasional Papers, and Lectures Medieval Institute Publications, Bd. 3), Kalamazoo 1986, S. 3 ff. Da hier nicht der Ort für eine weiterführende Diskussion sein soll, wird der Begriff „Methode“ weiterhin verwendet. 1355 An dieser Stelle sei lediglich auf den konkurrierenden Gegenbegriff „historische Personensuche“ hingewiesen. Ebd., S. 3 sowie Petersohn, Jürgen: Personenforschung im Spätmittelalter. Zur 330 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze wird in der Prosopografieforschung debattiert, welche Erkenntnismöglichkeiten und ziele sie bieten kann und wo ihr Grenzen gesetzt sind. Im Rahmen dieser Arbeit soll jedoch nicht tiefer auf die Problematik einer allgemein gültigen terminologischen und semantischen Definition eingegangen werden. Es soll lediglich der Hinweis genügen, dass Prosopografie als eine „collective biography“ es sich zum Ziel gesetzt hat, „[to describe] the material of characteristics a more or less homogenous group of persons by collecting ‚the largest possible bundle of material elements allowing us to describe an individual, and those spiritual elements which would enable us to go from person to personality are excluded‘“. 1356 Damit ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Hinweis für die signifikanten Merkmale der prosopografischen Methode geliefert, die in dieser Arbeit Berücksichtigung und Anwendung finden sollen: 1. Freilich hat die Prosopografie ein biografisch geprägtes Interesse. Jedoch widmet sie sich nicht in einer Art „Tunnelblick“ ausschließlich dem einzelnen Individuum, sondern der personellen „Gesamtheit“, zu der das Individuum in Beziehung gesetzt werden kann. 1357 In diesem Punkt grenzt sich der prosopografische Ansatz folglich von der Biografieforschung ab, die sich eher den außergewöhnlichen Personen zuwendet inklusive ihrer mentalen sowie psychischen Konstitutionen. 1358 Dieser Forschungsanspruch soll bestimmend für dieses Teilkapitel sein, in dessen Mittelpunkt sowohl die einzelnen Familiengeschichten als auch ihre Verwandtschaftsnetze in Relation zum Hexenphänomen stehen. Auf dieser Ebene können unter anderem sowohl Verfolgungskontinuitäten als auch -diskontinuitäten, aber auch soziale „Hexenkarrieren“ aufgezeigt werden. 2. Die zu untersuchende Zielgruppe muss ein signifikantes Merkmal aufweisen, das sie als homogene Gruppe kennzeichnet. Den Dreh- und Angelpunkt für den hier zu untersuchenden Personenkreis bilden zwei wesentliche Aspekte um den Untersuchungsgegenstand „Teufelskind“: zum einen der qua Geburt vererbte „Hexenruf“, der zum anderen durch soziale und interaktionistische Wechselbeziehungen ausgebildet werden konnte. Kurzum: Das ausschlaggebende Kriterium dieser Studie bildet das soziale Stigma, ein Deüffelskind zu sein, womit in diesem Zusammenhang nicht die bloße Beschimpfung und die damit verbundenen sozialen Ausgrenzungsmechanismen gemeint sind. Hinter dieser Beleidigung versteckt sich eher der zeitgenössische Gedanke, dass ein Kind von seinen Eltern in bewusster Absicht dem Teufel geweiht worden ist. Um diese Weihung überhaupt begehen zu können, mussten die Eltern ergo selbst dem Satan treu ergeben sein. Folglich war mit der Injurie Deüffelskind Forschungsgeschichte und Methode, in: Zeitschrift für Historische Forschung 2.1 (1975), S. 1-5. Zu den verschiedenen Definitionen der Teildisziplinen siehe Verboven, Koenraad/ Carlier, Myriam/ Dumolyn, Jan: A Short Manual to the Art of Prosopography, in: Keats-Rohan, K. S. B. (Hrsg.): Prosopography Approaches and Applications. A Handbook (Prosopographica et Genealogica, Bd. 13), Oxford 2007, S. 35-70, hier S. 37 ff. 1356 Ebd., S. 39. 1357 Bulst, Neithard: Zum Gegenstand und zur Methode von Prosopographie, in: Bulst/ Genet (Hrsg.): Medieval Lives, S. 1-16, hier S. 6. 1358 Vgl. hierzu Verboven/ Carlier/ Dumolyn: Prosopography, S. 37. 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze 331 nicht nur die einzelne und direkt verbal attackierte Person gemeint, sondern die Ehre ihrer gesamten Sippe peinlich tangiert. 3. Eine prosopografisch angelegte Arbeit hantiert mit großen Datenmengen, die über ein breit gefächertes Quellenkorpus nur vereinzelt und verstreut aufzufinden sind. 1359 Sie ist also wesentlich eine quantifizierende Forschung. 1360 Die benötigten Informationen zu sammeln, in einer Datenbank zu verwalten und anschließend auszuwerten, ist ein mühseliges Handwerk, bei dem teilweise nur spärliche Erkenntnisse ans Tageslicht gelangen. Aufgrund dieser häufig der fragmentarischen Quellenlage geschuldeten Hürde konstatieren Verboven/ Carlier/ Dumolyn lakonisch: „Prosopography is not always the best choice.“ 1361 Um dennoch zu verwertbaren Ergebnissen zu gelangen, bedarf es vorab eines gezielten und uniformen Fragekatalogs, der sich für den Analyseschwerpunkt dieser (Teil-)Studie aus folgenden Leitfragen zusammensetzt: 1. Wie lange stand die Familie bereits im Verdacht, Hexerei zu betreiben? 2. Wo sind die Familien sozial zu verorten und inwieweit waren sie in die Dorfgemeinde integriert? 3. Wie viele Familienmitglieder wurden strafrechtlich verfolgt? 4. Welche Familien schafften es, aus der Verfolgungstradition auszubrechen? 5. Welche Personen wurden verfolgt? Welche nicht? 6. Inwieweit bildeten die einzelnen Familien eine strategische Personalunion untereinander? Die Fragen und Interpretationen bezüglich sozialer oder rechtlicher Attributionen, Verhalten, Äußerungen etc. sollen zunächst in diesem Untersuchungsabschnitt ausgeklammert werden, da sie thematisch einem biografischen Schwerpunkt zuzuordnen sind. Dennoch sollen die Delinquenten in einem gesonderten Kapitel „zu Wort kommen“. 1362 Wendet man sich von den methodischen Vorüberlegungen ab und den quellentechnischen Hürden zu, müssen auch hier einige kritische Vorbemerkungen gemacht werden, die die inhaltliche Struktur dieses Kapitels erheblich bestimmen: Die Rekonstruktion verschiedener Familienzweige sowie ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen 1359 Ein arbeitstechnischer Aufwand, auf den gerade Arbeiten aus dem Mittelalter aufmerksam machen. Vgl. Jarnut, Jörg: Langobardische Prosopographie und langobardisches Namenbuch. Erfahrungen und Erwartungen, in: Geuenich, Dieter/ Haubrichs, Wolfgang/ Jarnut, Jörg (Hrsg.): Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuches des Frühmittelalters (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 32), Berlin 2002, S. 250-264 und Kümper, Hiram: Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Paderborn 2014, S. 293. 1360 Bulst: Zum Gegenstand, S. 2. 1361 Verboven/ Carlier/ Dumolyn: Prosopography, S. 46. 1362 Siehe hierzu Kapitel 13. 332 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze erweist sich als eine sprichwörtliche Sisyphusarbeit. Die vielfältigen und weitläufigen Beziehungslinien, die eine Familie innerhalb einer kurzen Zeit aufbauen konnte, sind schwerlich in ihrer Gänze vollständig aufzuarbeiten, sodass im ersten Teilkapitel eine Eingrenzung auf das „Urgestein“ bzw. den „harten Kern“ der Deüffelsfamilien erfolgen soll. Dass heißt, es wird auf diejenigen Familien ein besonderes Augenmerk gelegt, die eine „traditionsbehaftete“ Verfolgungskontinuität aufweisen. Erst in einem zweiten Abschnitt sollen die Personengruppen untersucht werden, die nur partiell von Hexenjagden betroffen waren, jedoch teilweise in enger Verbindung zu dem „Urgestein“ der „Hexensippen“ standen. Um die Verfolgungskontinuitäten bzw. -diskontinuitäten bildlich erfassen zu können, wird die Metapher der „konzentrische Kreise“ verwendet. Aufgrund des Fehlens von Tauf-, Heirats- und Sterbebüchern für den untersuchten Zeitraum ist eine lückenlose Konstruktion der Familiengenealogien nicht machbar. Daher wird auch auf die klassische Darstellung eines Familienstammbaums verzichtet. In vielen Fällen muss auf die simple Prämisse zurückgegriffen werden, dass Personen mit gleichen Nachnamen zu ein und demselben Familienstamm gehörten, da in den Quellen keine Anhaltspunkte für ausschlaggebende Differenzierungen vorhanden sind. Diese arbeitsökonomischen Einschränkungen schmälern jedoch nicht die Zielsetzung dieses Untersuchungsabschnittes, in dessen Mittelpunkt die summarische Darstellung einer traditionell anmutenden Verfolgungskonzentration auf gewisse Familien stehen soll. Eine weitere heuristische Schwierigkeit ergibt sich aus der frühneuzeitlichen Praxis der Nomenklatur. Bereits bei oberflächlicher Sichtung der Familiennamen wird eine große Spannbreite diverser Bezeichnungen offenbar, die auf körperliche Erscheinungen, Charaktereigenschaften, Berufe, Verwandtschaftsbeziehungen, Ehepartner, Patenschaften 1363 , Eltern, Wohnlage, Besitztum etc. basieren. 1364 Ihr zeitlich paralleles Bestehen zu den eigentlichen Nachnamen machen das Auffinden und die Zuordnung von Mitgliedern zu einem Familiengeschlecht mühevoll und teilweise unmöglich. Hinweise in den Quellen, wie senior und junior erfolgen häufig nur sporadisch. Um dennoch zu erkenntnisleitenden Ergebnissen zu gelangen, wurde das gesamte gesichtete Archivmaterial ausgewertet und komplementär aufeinander bezogen. Um dem Leser eine überschaubare Visualisierung der jeweiligen Verfolgungskontinuitäten und -diskontiunitäten innerhalb einer Familie präsentieren zu können, bedarf es einer strikten Trennung und isolierten Betrachtung der jeweiligen Familienzweige, obwohl aufgrund der weitreichenden Verbindungslinien qua Heirat selbstverständlich Überschneidungen vorliegen. Um der Übersicht und Zweckmäßigkeit willen enthalten die Tabellen für die einzelnen „Familiengeschichten“ Simplifizierungen: Die diversen Verfahrensschritte im Hexenprozess (Zeugenvernehmung, Konfrontation, gütliche Befragung, Hauptunter- 1363 Siehe Gestrich, Andreas: Art. „Patenschaft“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a3166000 (Zugriff am 28. 03. 2017). 1364 Vgl. hierzu Kohlheim, Rosa/ Kohlheim, Volker: Art. „Namengebung“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http : / / dx . doi . org / 10 . 1163 / 2352 - 0248 _ edn _ a2903000 (Zugriff am 28. 03. 2017). 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 333 suchung etc.) werden in den Tabellen nicht im Detail dargestellt, sondern vereinfacht mit dem Symbol β gekennzeichnet. Ebenso wird darauf verzichtet, die Verfahrenseinstellungen bzw. Freilassungen der Angeklagten mit einem Sonderzeichen zu versehen. Hingegen befinden sich ausführliche Informationen zu den einzelnen „Hexensippen“ in den jeweiligen Kapiteln. 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 11.1.1 Familie Grothen vulgo Richter Die Familie Grothen lebte nachweislich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in Fürstenberg. Laut dem Scheffel-Heuer-Register von 1595 bis 1602 leisteten ein Gerlach und Franz Grothen, von denen unbekannt ist, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zueinander standen, in dem angegebenen Zeitrahmen eine geringe Kornabgabe an die Herren von Westphalen. Franz Grothen lieferte beispielsweise insgesamt 10 Scheffel Korn. 1365 Damit belegte er von insgesamt 149 bzw. 162 abgabepflichtigen Personen den 70. Platz. Aus diesem Befund sollte allerdings nicht der voreilige Schluss gezogen werden, dass Franz Grothen zur sozialen Unterschicht zählte. Zieht man die oben gewonnen Erkenntnisse über die lokalen Gepflogenheiten heran, sind die Zahlen mit einer gewissen Vorsicht zu deuten. Denn es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Franz Grothen in dem hier dokumentierten Zeitraum als westphälischer Samtrichter tätig war. 1366 Diese Beobachtung relativiert die erste Annahme über seine Sozialverortung erheblich. Denn lediglich Personen aus der Mittelbzw. Oberschicht wurden in die herrschaftlichen Ämter berufen, weil es nur dieser Sozialklasse aus ökonomischer Sicht möglich war, diesem gelegentlich zeitintensiven Posten nebenberuflich nachzugehen. Ferner ist zu beachten, dass allen westphälisch bedienten von der Ortsobrigkeit das Privileg der Abgabenerleichterung eingeräumt worden war. Angesichts dieser Ergebnisse ist davon auszugehen, dass Franz Grothen zur höheren Sozialklasse zählte. 1367 Diese Beobachtung wird ferner durch das Argument der „Groth’schen“ Heiratspolitik gestützt. So war beispielsweise sein Sohn Hans mit der Witwe von 1365 Unter der Kornabgabe soll zusammenfassend die Heuer bezüglich Roggen, Gerste, Hafer und Raufutter erfasst werden. Vgl. LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 492 v und 493 r . 1366 Im Juni bzw. Juli 1631 wurde eine nachrichtungh verfasst, in der Franz Grothen mit seinem Rufnamen aufgeführt wird. So heißt es in dem Dokument Frans grothen, oder Richters frans. Die im Jahr 1601 verurteilten Hexen und Hexer nannten ihn bereits Richter Frantz. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Die Geständnisse vom alten Hinten (12.08.1601), Gretha Arenken (17.08.1601) und die Große Trine (21.08.1601). 1367 Laut den Schadenszauberangaben der „ersten“ verfolgten Hexen und Hexer kann zusätzlich entnommen werden, dass Franz Grothen sowohl im Besitz mehrerer Kühe und mindestens eines Pferdes war. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussagen der Gretha Bitterfeindes, Gretha Arenken, des Alten Hinten und der Großen Trine. 334 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Meinolff Osterwalt (Österwalt), Klara Knollen, verheiratet. 1368 Alle Kinder des Franz Grothen sollten jedoch in bedeutende Familien Fürstenbergs einheiraten, wie z. B. Vahlen, Budden, Schlunß und Voß, 1369 die eindeutig zur Mittelbzw. Oberschicht zählten. Es ist aus dem Quellenmaterial nicht zu erfahren, welche Qualifikationen Franz Grothen für die Wahl in das Richteramt prädestinierten. Denn die wenigen vorhandenen Quellen für diesen Zeitraum schweigen sich darüber aus, inwieweit das westphälische Samtgericht bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts professionalisiert war. Daher bleibt es fraglich, ob Franz Grothen „lediglich“ ein Laienrichter oder akademisch ausgebildet war. Aus den Hexenprozessakten von 1601 ist nur zu entnehmen, dass er offenbar bei vielen Dorfbewohnern nicht sonderlich beliebt gewesen war. 1370 Erst für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts geben die Kataster von 1672 und 1684 konkrete Auskünfte über den Umfang des familiären Landbesitzes. Ein Jost Grothen besaß 25,5 Morgen und sein Sohn Johann Jost Grothen 1371 21 Morgen Land. 1372 Diese Angaben verifizieren die oben aufgeworfene Mutmaßung von der Verortung der Familie Grothen in die Mittelschicht. Allerdings scheinen einige Familienangehörige temporär Not gelitten zu haben. Dies belegt eine von Kersting Dickhoff aus Rietberg im Jahr 1664 eingereichte Klage. Darin beschwerte er sich vor Gericht, dass ihm vnterschiedtliche Leute alhier Zur Fürstenberg, denen er auff guten glauben Pferde zu borge gethaen vndt damit in Ihrer Noht gerettedt hette, noch Geld schuldig wären. 1373 Unter den Schuldnern befand sich auch Jost Grothen, der offenbar in diesem Jahr keine eigenen Pferde besaß, um sein Land zu pflügen. Ob diese finanziellen Engpässe durch den Dreißigjährigen Krieg, verschiedene Seuchenzeiten oder durch die Feuersbrunst, die Ende Oktober 1658 das Dorf ergriffen hat, 1374 verursacht wurden, muss offenbleiben. Wiederholt waren die Grothens in bedeutende kommunale und obrigkeitliche Ämter gewählt worden. So wurde beispielsweise 1668 Dietherich Grothen als waßerher in Gegenwart sämtlicher westphälischer Beamter beeidet, 1375 und Jost Grothen gelang sogar der Schritt in das Schöffenamt. 1376 Weder hat das Hexenstigma noch 1368 Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 387, S. 53. 1369 Im Jahr 1646 ließ Gödde Voß, Witwe des Johann Grothen, eine Obligation in Höhe von 20 Rthl. aufsetzten. PfA Fü., St. Marien, Bestand III, 310, fol. 13 ff. 1370 Siehe hierzu Kapitel 9.1.2. 1371 Die verwandtschaftliche Nähe ergibt sich aus einer Klageschrift der Gretha Meyer. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 63 r-v , 84 r-v . 1372 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 11 v . 1373 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 12 v . 1374 In einer Korrespondenz zwischen dem Richter Johann Sauren und den Hexenkommissaren Ende Oktober 1658 verkünden die Rechtsgelehrten, dass sie gerne die Prozesse im kommenden Frühling 1659 aufnehmen würden, die wegen vorpassirter Brandtzeit [...] [und] anietzo wegen eingefallener wintter Zeit unterbrochen werden mussten. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1375 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 56 r . 1376 Siehe hierzu LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 219 v . Im Archivmaterial wird auch ein Nachtwächter namens Thönies Richter erwähnt, der zuweilen auch Ruhestörungen anzeigte. So lautet der Eintrag vom 25.09.1665: Erschien dorffs Nachtwächter Thönies Richter 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 335 die Zugehörigkeit des Wirts Dietherich Grothen zur protestantischen Konfession, der in einem Dokument vom Ortspastor als Häretiker bezeichnet wurde, 1377 die politische oder ökonomische Integration der Familie innerhalb der Gemeinde gefährdet. Ihr Rechtswissen und ihre soziale Stellung im Dorf machten sie sogar bis 1700 zu geschätzten Zeugen bei Kauf- oder Verkaufsabschlüssen. 1378 Gravierende Verhaltensauffälligkeiten, die eine markante Devianz der Grothens widerspiegeln würden, lassen sich in den Akten der Niederen Gerichtsbarkeit nicht finden. Eine Ausnahme bildet der Brotdiebstahl von Johann Jost Grothen, der mit einer 24. stündigen incerceration abgestrafft wurde. 1379 Ein augenscheinlich anomales Verhalten bei Jost Grothen, der den Zaun von Peultertz’ Frau willentlich mit einem Karren umfuhr, sie als Hure beleidigte und zusätzlich drohte, sie mit einem Stein zu erschlagen, 1380 entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine gängige Form der dörflichen Konfliktregulationsmechanismen. Weil Jost Grothen gemäß den hiesigen Rechtsgepflogenheiten legal handelte, ging das Gericht gegen ihn auch nicht strafrechtlich vor. 1381 Bezeichnenderweise ist aus den niedergerichtlichen Aufzeichnungen erstaunlich wenig über die Familie Grothen zu erfahren. Außer einem Rechtsstreit zwischen Jost Grothen und Gretha Meyer um drei Morgen Land 1382 sowie einem Erbschaftszwist zwischen Emanuel Grothen und seiner Schwägerin, Johann Jost Grothens Witwe, 1383 sind die Grothen-Mitglieder in den niedergerichtlichen Prozessakten nicht namentlich vertreten. 1384 Obwohl die vorhandenen Gerichtsprotokolle auf kein ausgeprägtes Devianzverhalten der „Grothensippe“ im formellen Sinne schließen lassen, verweisen sie doch folgerichtig auf ihre rechtliche Position und ihre offensichtliche Selbstwahrnehmung im Dorf: Weder beschnitt das fürstenbergische Gericht die Familienangehörigen in ihren justiziellen Handlungsräumen, noch sahen sie sich trotz ihres Geburtsmakels in ihrer sozialen Position geschwächt wie ihr partiell aggressives Auftreten gegenüber Injurianten nahelegt. vndt zeigete ahn, wie das Meineke schmett [...] vmb Mitternacht[,] da die Leut Im Ersten schlaff gewesen, Einen solchen tumult vndt geschrey In seinem hause angefangen[,] daß die Nachbarn gantz erschrocken Nackt herauß gelauffen, vndt nicht anders vermeindt es wehr fewernoht vorhanden, vndt alß Ihmen deßwegen gütlich besprochen[,] waß er für Eingeschrey vndt tumult führte, auff Ihn zugeschlagen[,] auch gantz ungestümmer weise Ihme gescholten vndt geschmehet, baet das zu bestraffen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 40 v . Es ist jedoch nicht sicher zu eruieren, ob er zu der Familie Grothen gehörte. 1377 DiözesA Pb., Acta 150, fol. 66 v . 1378 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 66 v , 87 r . 1379 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 158 r . 1380 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 25 v . 1381 Der Fall wurde eingehend im Kapitel 8.4 erörtert. 1382 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 84 r-v . 1383 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 223 v . 1384 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 49 r und 253 v . Ferner existiert in den Akten noch eine Klage von Johann Dröppels Tochter Catharina, die gegen Meineke Dörrens Tochter vor Gericht ging, weil sie das Gerücht verbreitete, Catharina habe Unzucht mit Dietherich Grothen getrieben. Das Gericht verfolgte die Angelegenheit nicht weiter. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 69 r . 336 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Angesichts dieser Befunde mag es verwundern, dass die Familie über hundert Jahre lang des Hexenlasters wegen strafrechtlich verfolgt wurde. Damit liefert die Familie Grothen ein bemerkenswertes Beispiel einer jahrzehntelangen Verfolgungskontinuität. Bereits bei der ersten großen Verfolgungswelle im Jahr 1601 waren einzelne Familienangehörige in den Reihen der Hexenprozessopfer vertreten. Begonnen hatte der sprichwörtliche Teufelskreislauf mit der Hinrichtung von Gretha Butterfeindes, 1385 die auch „Buttergretha“ genannt wurde. Zusammen mit ihren zwei Schwestern Anna, der Borchartschen und Ilse, der Glomschen sowie ihrer Patin Gretha Arndt (Arenken) vulgo Reuter wurde sie wegen nachgewiesener Hexenverbrechen hingerichtet. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei der Buttergretha um die Mutter des Franz Grothen. Das Gerücht um ihre Familie scheint jedoch älteren Ursprungs zu sein. So kursierte beispielsweise vor 1600 die Fama in der Gemeinde Fürstenberg, dass Franz Grothens Tochter Trine, die jetzt mit dem Bruder des Tellermachers 1386 verheiratet war und im Nachbardorf Meerhof wohnte, [...] Iren eignen kindern mit nahmen Menecken Cordt und friederich [das Zaubern] gelert 1387 habe. Mit dieser Angabe weitet sich sogar der Kreis der Verfolgten, die mit der Familie Grothen qua Heirat verwandt waren, aus: Im selben Monat wie die Buttergretha wurde auch die Große Trine, des Tellermachers Frau und damit eine Schwägerin von Trine Grothen, als Hexe hingerichtet. 1388 Die Verdachtsmomente wurden noch verstärkt, weil Franz Grothen Greta heiratete, die aus dem Nachbardorf Essentho stammte und aus einem zauber geschlegt daselbst entsprossen war. 1389 Mit den ersten Hexenverfolgungen erhielt auch das Hexengerücht um Greta Grothen einen neuen Nährboden, als sie am 05. September 1601 von Johann Schenß’ Frau Trina als Tanzgenossin besagt wurde. 1390 Trotz der sich verdichtenden Indizien sollte kein Inquisitionsprozess gegen sie eröffnet werden. Auch Grothens Tochter Elsche, die Buddesche, blieb von den Hexereianschuldigungen nicht verschont: Es bleibt anzunehmen, dass im Jahr 1602 ein Prozessverfahren gegen sie angestrebt, die Anklage jedoch aufgrund eines Schreibens der Juristischen Fakultät Ingolstadt wieder fallengelassen wurde. 1391 Im Jahr 1631 keimte das Gerede um die mala fama der Familie Franz Grothen erneut auf - höchstwahrscheinlich, weil bereits einige Verwandte der Gretha Grothen 1630 im Nachbarort Wünnenberg wegen erwiesener Hexerei hingerichtet worden waren: 1385 Eine Schreibvariante des Namens ist Bitterfeindes. 1386 Die Familie Tellermacher zählte laut dem Scheffel-Heuer-Register zur gehobenen Mittelschicht. Im Jahr 1598 leistete ein Johann Tellermacher eine Abgabe in Höhe von 34 Scheffel. LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 521 v . 1387 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage des Trouvelus Plumpe am 24.08.1601. 1388 Dass es sich bei der großen Trine und Trina Grothen um zwei verschiedene Frauen handelt, belegt ein Indizienkatalog gegen die Familie Grothen von 1631. Die Töchter des Franz Grothen, Trina und Enneke (Anna), werden als Berüchtigte namentlich aufgeführt, d. h. Trina war zu diesem Zeitpunkt noch nicht hingerichtet worden. ebd. 1389 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog gegen Elsche Budden, ca. Juli 1631. 1390 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog gegen Elsche, die Buddesche. 1391 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 26.07.1631. 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 337 ihre Schwester Edeling und ihr Bruder Tigges. 1392 Gleich mehrere Familienmitglieder sollten in den Strudel der Hexereibezichtung geraten: Franz Grothen, seine Söhne Johann und Hans sowie seine Töchter Elsche, Anna (Enneke) und Trina. Lediglich gegen Elsche, die Buddesche, wurde ein Strafverfahren eröffnet. Allerdings konnte sie die Einleitung des Hauptverfahrens mittels eines bestellten Advokaten verhindern und eine Freilassung durch die Aufbietung von Bürgen erzielen. Ganz im Sinne der Redensart hatte das fürstenbergische Gericht noch „eine Rechnung“ mit den verbliebenen Kindern des Franz Grothen offen. Im Zuge der dritten großen Verfolgungswelle im Jahr 1658/ 59 wurde gegen Anna (Enneke), verheiratet mit Henrich Vahlen vulgo der Beckersche, ein Hexenprozess eröffnet. Ausschlaggebend für die Initiierung des Strafverfahrens war die Besagung von der 1658 hingerichteten Engel Möller. Diese gab im Verhör an, die Hexerei in Thönies Grothen (Groneken) Haus gelernt zu haben. Der Verdacht wurde durch den Umstand erhärtet, dass das Patenkind von Anna Grothen, Liese Böddeker, im selben Jahr wegen Hexerei an einem kleinen Jungen und an dem Kind der Clara von Westphalen hingerichtet worden war. 1393 Die Indizienkette verlängernd kam hinzu, dass eine Cousine von Anna Grothen, Gretha Mentzen vulgo die Beckersche, 1394 im Verdacht stand, ebenfalls eine Hexe zu sein. Gretha Mentzen war eine Enkelin der 1601 hingerichteten Gretha Butterfeindes und ebenso wie ihre Mutter mit dem Hexenlaster betopet 1395 . Während ihre Cousine Gretha Mentzen am 5. Juli 1659 das Hexereidelikt gestand und drei Tage später enthauptet wurde, weigerte sich Enneke Grothen in insgesamt zwei Inquisitionsprozessen (1658 und 1659) ein „Paterpeccavi“ auszurufen. Aufgrund ihrer „Halsstarrigkeit“ wurde sie aus der Haft entlassen und des Gerichtsbezirks verwiesen. Auf vielfältiges Bitten ihres Mannes Henrich Vahlen hin durfte sie schließlich mit der Erlaubnis der Herren von Westphalen 1663 nach Fürstenberg zurückkehren. In der letzten Verfolgungswelle sollte erneut ein Grothen ex officio angeklagt werden, ein Hexer zu sein. Es handelt sich hierbei um Johann Grothen vulgo Johann Huffs. Er war der Sohn von Anna Schlunß (vulgo Enneke Huffs) und Johann Sagenschneider. 1396 Die stark zerstörte Prozessakte besteht lediglich aus dem Indizienkatalog. Dem 1392 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog gegen Elsche, die Buddesche, am 26.07.1631. Elsche Buddens Advokat bestritt allerdings die verwandtschaftliche Nähe zu den hingerichteten Personen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Anwaltsschreiben, ca. Juli/ August 1631. 1393 Nachdem Liese Johann Höppers Sohn ein Stück Käse gegeben habe, sei er kurz danach krank geworden. Der Junge sei mehrfach auf den Boden gefallen, habe sich sein Hemd und Tuch entzwei gerissen und sich Dreck auf das Haupt und die Schultern geschmiert (gekleiet). Erst nach der Verabreichung eines bestimmten Gegenmittels konnte er die giftige Materie von sich speien und anschließend genesen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog. 1394 Ihr Mann war Hermann Schnittker. Bei dem Rufnamen „Mentzen“ handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Berufsbezeichnung; eventuell war der Mann als Steinmetz tätig. 1395 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog gegen Gretha Mentzen. Die verwandtschaftliche Nähe zu der Familie Grothen ergibt sich aus einer Marginalie. In einem weiteren Indizienkatalog wurde ergänzend unter dem ersten Anklagepunkt hinzugefügt: [...] quia die Buttergretha ist verbrandt, die mutter damit befemet gewesen, wie auch sie. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog gegen verschiedene Personen. 1396 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 137 v . 338 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Inquisiten wurde hauptsächlich zur Last gelegt, dass er ein Familienmitglied der Grothens sei und eine verwandtschaftliche Nähe zu Anna Grothen, der Beckerschen, hatte. So heißt es im 7. Anklagepunkt: Wahr[,] daß alle groten[,] so der besagten beckerschen [verwandt] gewesen[,] deß Zauberlasters von geschlechte zu ge[schlechte] woll von mans alß frawen seithen berucht[iget] [gewe]sen seyn. 1397 Zudem seien seine Mutter und ihre Schwester Lieseke Huffs von hingerichteten Personen denunziert worden. Insbesondere der Bruder seiner Großmutter Catharina, Jost Grothen, wurde des Öfteren als Zauberer ausgerufen, der dem Schöffen Hermann Böddiker innerhalb von neun Wochen neun Pferde vergiftet haben soll. Obwohl die Quelle aufgrund ihres schlecht erhaltenen Zustands abrupt abbricht, ist anzunehmen, dass der Inquisit schließlich wegen erwiesener Hexerei hingerichtet wurde. Tabelle 11.1: Familie Grothen Zeit Fälle 1601 Gretha Butterfeindes † ; Ilse, die Glomsche † ; Anna, die Borchartsche † ; Gretha Arndt (Arenken) vulgo Reuter † ; Gretha Grothen α ; Trine Grothen α (Meerhof); Mutter der Gretha Mentzen α 1602 Elsche Grothen vulgo Budden β 1630 Edeling † (Wünnenberg) 1 ; Tigges † (Wünnenberg) 1 1631 Franz Grothen α ; Hans Grothen α ; Johann Grothen α ; Trine Grothen α ; Anna (Enneke) Grothen α ; Gretha Grothen α ; Elsche Grothen vulgo Budden β 1658/ 59 Anna (Enneke) Grothen β ; Gretha Mentzen † ; Johann Jost Grothen α und seine Mutter Gölcke α 1700-1703 Johann Grothen vulgo Huffs β ; Jost Grothen α Legende: † Hinrichtung α Denunziation β Prozess 1 Über die verwandtschaftliche Nähe liegen widersprüchliche Aussagen vor. 1397 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 137 r . 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 339 11.1.2 Familie Vahlen Die Familie Vahlen 1398 zählte in der Frühen Neuzeit zu den bedeutendsten Geschlechtern in Fürstenberg. 1399 Nicht nur ihr beträchtlicher Landreichtum, der sie an die Spitze der bäuerlichen Oberschicht beförderte, sondern auch ihre Besetzung bedeutender politischer Dorfämter verlieh ihnen eine gewisse Autorität im Dorf. Bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts muss ihr Landbesitz einen beeindruckenden Umfang bemessen haben: Curdt, Meinolf und Kerstink Vahlen leisteten kontinuierlich in dem verzeichneten Zeitraum von sieben Jahren die höchsten Kornabgaben. 1400 Ein Blick in die Flurbücher bestätigt ihren Reichtum: In den Jahren 1672 und 1684 ist die Familie Vahlen unter den zehn größten Landbesitzern in Fürstenberg vertreten. 1401 Dass einige Familienmitglieder im Vergleich zu ihren Verwandten deutlich weniger an Grundbesitz hatten, mag der von wohlhabenden Gemeindemitgliedern favorisierten Anerbenpraktik geschuldet sein. 1402 Dennoch bleibt zu betonen, dass diese nicht weniger soziale Dignität besaßen als ihre reicheren Blutsverwandten. 1403 Ihr wirtschaftlicher Reichtum ist jedoch nicht nur anhand der Kataster und Scheffel- Heuer-Register nachweisbar. Ein Erbvertrag von 1699 illustriert zusätzlich ihr opulentes Vermögen. Als sich Henrich Vahlen 1699 mit Engel Fleckenkamp verheiraten wollte, musste er zuvor seinen Kindern aus erster Ehe ihren Erbanteil auszahlen. Sein Haus wurde mit einem Wert von 120 Reichstalern veranschlagt und maß eine beträchtliche Hofgröße. In seinem Besitz befanden sich zudem zwei Pferde. 1404 1398 Strikt voneinander zu trennen sind die ähnlich geschriebenen Familiennamen „Vahlen“ und „Wahlen“. Die Familie Wahlen ist nachweislich seit 1657 in Fürstenberg wohnhaft und ging dem Schmiedehandwerk auf dem Klingenberg nach. Der erste Quellenbeleg für ihre Existenz findet sich in den Hexenprozessakten, weil sich die Tochter von Jacob Wahlen besessen gestellt hatte. 1686 wurden unter anderem die Kinder von Johann Caspar Wahlen verdächtigt, Läuse zu zaubern. Die Hexereivorwürfe sollten jedoch durch die eingereichte Klage seiner Frau, Gretha Scheiffer, und einer minutiösen Aufklärungsarbeit des Gerichts zerstreut werden. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. Siehe auch Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 65 r -66 v . 1399 Ein Johann Fritze Vahle erbaute 1729 in der Straße Kesselbach 7 ein Haus mit der Inschrift: O du heilige Antonius, sei doch bei Gott unser Fürsprecher, daß dieses Haus möchte behütet werden vor Feuersbrunst, und was mir und diesem Hause sonst noch schädlich sei. Z. n. Nolte, Bernhard/ Nolte, Natalia: Vom Adelsdorf zur Gemeinde. Fürstenberg 1800-1918, Fürstenberg 1986, S. 243. 1400 Beispielhaft LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 491 r und 494 r . 1401 Thönies Vahlen besaß 1672 65,5 Morgen Land. Henrich Vahlen senior zählte im Jahr 1684 mit 68 Morgen Land ebenfalls zu den Großbauern. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, 3 v und 15 r . 1402 Beispielhaft sei hier LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 65 r-v erwähnt. Von landesherrlicher Seite hingegen sollte nur noch das Anerbenrecht praktiziert werden, dass die Versplitterung und Theilung von Ländern verbot. Hochfürstlich-Paderbornische Landes- Verordnungen, S. 116. 1403 Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass soziale Würde lediglich an der Größe des Grundbesitzes gekoppelt ist. Aufgrund der Anerbenpraxis war eine Benachteiligung der übrigen Geschwister, die nicht als Alleinerben bestimmt worden waren, in puncto Landvererbung zwangsläufig. Dennoch beförderte der gute Ruf ihres Familiennamens sie weiterhin in gemeindliche und westphälische Ämter. Ein illustratives Beispiel hierfür bietet der bereits erwähnte Johann Papen. 1404 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 82 r -83 r . 340 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Der Wohlstand der Familie spiegelt sich zusätzlich in den Hexenprozessakten wider. Agatha Brielohn denunzierte erst im zweiten peinlichen Verhör ihre Verwandte Margaretha Vahlen vulgo Brielohn als Tanzgenossin. Ihre Entschuldigung, warum sie sich erst jetzt an ihre Komplizin Margaretha erinnere, begründete sie mit den Worten, sie habe vermutet, der Richter vndt die andern würden wohl davor handeln[,] daß sie geldt gebe, baet Ihr daß zu verzeihen 1405 . Auf ihr monetäres Vermögen spielte auch der Richter Johann Sauren an, als er Margaretha des Hexereiverdachts wegen in ihrem Haus aufsuchte. Er riet ihr, wen Ihr bange wehre, daß sie solte verbrant werden, ein testament [zu] machen. 1406 Die stetige Wiederwahl der einzelnen Familienmitglieder in wichtige kommunale und obrigkeitliche Positionen verdankten sie nicht nur ihrem beachtlichen Grundbesitz, sondern auch ihren umfangreichen Kenntnissen im hiesigen Gewohnheitsrecht und in der normativen Strafrechtspflege. Ohne näher auf die Person des Kerstink Vahlen einzugehen, die bereits an anderer Stelle eingehend gewürdigt wurde, 1407 soll hier lediglich auf sein Richteramt in den Hexenprozessen von 1601 erneut verwiesen werden. Seine Amtsposition als Gerichtsvorsitzender ist einer der ältesten Belege für die politische Autorität der Familie im Dorf. Ob Kerstink Vahlens Amtserhebung den Ausgangspunkt ihres sozialen und politischen Aufstieges bildete oder er selbst ein Glied in einer langen Kette traditionsreicher Familienpolitik war, kann aufgrund fehlender Schriftzeugnisse nicht beantwortet werden. Jedoch sollte es in den kommenden Jahrzehnten weiteren Familienmitgliedern gelingen, die Familientradition fortzusetzen und die soziale Position des Vahlen-Geschlechts zu stärken. So hatten beispielsweise Henrich Vahlen vulgo der Beckersche und Johann Vahlen nachweislich 1657 das Schöffenamt inne. 1408 Henrich Vahlen agierte zusätzlich als Mediator (Beschicker) in Streitfällen 1409 und war 1665 im Amt eines verordnete[n] accise vffhebers (Steuerbedienter) tätig, d. h., er war für die exekution (Pfändung) zuständig, was ihm hönische schmehwortte von einigen Dorfmitgliedern einbrachte. 1410 Ebenso zählte Friedrich Vahlen, ein direkter Verwandter von Henrich Vahlen und offenbar ein Namensvetter des am 23. November 1700 hingerichteten Friedrich Vahlen, 1702 zum Schöffenkollegium. Zum festen „Stamm“ der Gemeinheit zählend, trug die Familie Vahlen bedeutend zum Bestand, aber auch gleichzeitig zur Gestaltung des dörflichen Zusammenlebens 1405 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., unfol. Aussage am 27.06.1659. 1406 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. 25.06.1659. Die Aussagen scheinen bei oberflächlicher Betrachtung den Verdacht einer exzessiv betriebenen Güterkonfiskation in Hexenprozessen zu bestätigen, mittels derer sich die Obrigkeit bereichert habe. In der subjektiven Wahrnehmung der einzelnen Dorfmitglieder mag dieser Vorwurf durchaus berechtigt gewesen zu sein, hatte aber nichts mit der realiter betriebenen Gerichtspraxis in Fürstenberg zu tun. Im Gegenteil: Die Herren von Westphalen waren darauf bedacht, die Prozesskosten moderat zu verteilen. Siehe hierzu Kapitel 9.2.7. 1407 Siehe hierzu Kapitel 9.1.2. 1408 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., S. 22.07.1657. 1409 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog gegen Trina Kesperbaum am 17.07.1657. 1410 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 29 v . 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 341 bei. So befindet sich z. B. Henrich Vahlens Unterschrift wiederholt in Kollektivsuppliken von 1653/ 54, die an den paderbornischen Landesherrn gerichtet waren. In diesen Bittschriften bemühte sich die Gemeinheit um die fürstbischöfliche Erlaubnis, ein eigenständiges Pastorat in Fürstenberg gründen zu dürfen. 1411 Als das Anliegen schließlich von landesherrlicher Seite gewährt wurde, willigte Henrich Vahlen ein, zwei Morgen Land an den bestellten Pastor abzutreten, damit dessen Dotierung gewährleistet werde. 1412 Damit ist der Hinweis geliefert, dass Henrich Vahlen katholischen Glaubens war. Als ein Mitglied der fürstenbergischen Gemeinheit wandte sich auch Thönies Vahlen am 10. September 1674 an die Herren von Westphalen. In einer Kollektivschrift baten die Gemeindemitglieder die Adelsherren um die Ausstellung eines Kredites in Höhe von 737 Reichstalern, weil das Dorf Fürstenberg wegen vorgangene kriegs vndt anderer beschwerden dermassen hart getroffen sei, sodass viele Einwohner hoch verschuldet seien. Zudem habe der Fürstbischof eine verderbliche militarische execution angedroht, wenn die Abgabepflicht nicht erfüllt werden sollte. 1413 Derselbe Thönies Vahlen wurde zudem 1665 als potenzieller Kandidat für das Amt des Dorfvorstehers aufgestellt, weil die beiden vorherigen Amtsinhaber Henrich Dröppel und Jesper Schmett nuhnmer Ein zeitlang dorffsvorstehern gewesen [seien], deßen Erlaßen vndt andere ahn Ihren Platz angeordnet werden möchten 1414 . Trotz seiner hervorragenden Referenzen wurde nicht Thönies Vahlen, sondern sein Verwandter Thönies Reuter von der Dorfgemeinde als Dorfvorsteher gewählt. Thönies Vahlen sollte jedoch vier Jahre später in diese Position aufgenommen werden. 1415 Ähnlich wie die Familie Grothen wurde auch das Familiengeschlecht der Vahlens namentlich kaum in den „normalen“ Bagatell- und Kriminaldelikten erwähnt, sodass keine Hinweise für ein auffälliges, anomales Verhalten im rechtlichen Sinne für Familie Vahlen existieren. 1416 Außer einer vor Gericht eingegangenen Injurienklage, mittels derer die im Dorf kursierenden Hexereivorwürfe erfolgreich abgewehrt wurden, 1417 deutet nichts auf ihre Abstammung aus einem Hexengeschlecht hin. Dass dieser Vorwurf jedoch latent an der Oberfläche des kollektiven Gedächtnisses mitschwang, verdeutlichen die Hexenprozessakten, die eine über hundertjährige Verfolgung der Vahlen-Familie bezeugen. Bereits im Zuge der ersten großen Verfolgungswelle 1601 waren die Vahlens indirekt von den Hexengerüchten betroffen. Ihre engen verwandtschaftlichen Bindungen zu der Familie Brielohn (Brylen) und Reuter, die zu diesem Zeitpunkt erste Opfer der Hexenjagd zu verzeichnen hatten, 1418 sollten zwar Verdachtsmomente aufkeimen 1411 DiözesA Pb., Acta 150, fol. 28 r . 1412 DiözesA Pb., Acta 150, fol. 30 r . 1413 PfA Fü., A 1, Urkunden und alte Akten, unfol. 1414 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 33 r . 1415 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 114 r . 1416 Außer zwei verzeichneten Landstreitigkeiten sind keine weiteren Konflikte mit Personen aus der Vahlen-Familie bekannt. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 10 v und 67 r . 1417 Siehe hierzu Kapitel 8.4.3. 1418 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnisse vom 17.08. und 23.08.1601. 342 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze lassen, jedoch noch nicht in eine juristische Strafverfolgung münden: Sowohl Meineke Vahlens als auch Kerstink Vahlens Ehefrau befanden sich unter den Besagten. Insbesondere letztere, Maria Brielohn, wurde wiederholt von den Inquisiten als Hexe bezeichnet. 1419 Ob diese Denunziationen als indirekter Racheakt gegen den Richter Kerstink Vahlen gewertet werden können, bleibt zu spekulieren. Von größerer Bedeutung in diesem Untersuchungszusammenhang ist jedoch der Befund, dass bereits eine Blutsverwandte der Maria Brielohn, Engel Brielohn, als Hexe hingerichtet worden ist. Die Männer aus dem Vahlen-Geschlecht blieben von Hexereibeschuldigungen weitestgehend verschont, wurden aber in den Aussagen der Delinquenten mehrfach als Opfer eines Schadenszauber-„Anschlages“ angegeben. So seien Offel, Cordt, Thönies und Kerstink Vahlen zu unterschiedlichen Zeiten mehrere Pferde und eine Kuh vergiftet worden, weil sie offensichtlich die Nachbarschaftshilfe verweigert hätten. 1420 Das Hexengerücht um die Familie Vahlen gewann 1631 aus verschiedenen Richtungen neuen Nährboden. Im Fokus des juristischen Interesses stand Johann Vahlen vulgo Behlen, der bereits 1629 von Hermann Richter 1421 sowie von dem 1630 hingerichteten Meinike Mümmels aus Wünnenberg besagt worden war. Zudem kam belastend die Denunzierung von der 1601 hingerichteten Wilkeschen hinzu, die Johann Vahlens Tante mütterlicherseits, Enneke Reuter, Ehefrau des Thönies Reuter, als Hexenkomplizin angab. 1422 Mit diesem Hinweis ist auch eine Verbindung zu der hingerichteten Gretha Arndt vulgo Reuter geliefert. Kernpunkt der Anklage und ausschlaggebend für die Initiierung eines offiziellen Hexenprozesses ex officio bildete jedoch das Gerücht, Johann habe Christoffer Unckel vulgo Veckel derartig viele Tiere vergiftet, dass dieser wegen Armut aus Fürstenberg habe wegziehen müssen. Auch seine als sonderbar charakterisierte Gemeinschaft mit Meinike Reuter fiel erheblich ins Gewicht der Anklage, da dieser nächste Blutsverwandte geschwinde und auf unnatürliche Weise krank geworden und schließlich verstorben sei. Johann Vahlen dementierte die vorgeworfenen Anklagepunkte und stellte eine Bürgschaft in Höhe von 500 Reichstalern, bevor die Hauptuntersuchung eingeleitet wurde. Trotz weiterer diverser Besagungen von geständigen Hexen und Hexern sowie einer Konfrontation mit dem später hingerichteten Johann Diethrich vulgo Israel wurde kein neues Verfahren gegen ihn eröffnet. Insbesondere die Jahre 1658 und 1659 sollten sich für die Familie Vahlen als fatal erweisen: Zum einen wurde die Frau von Henrich Vahlen, Anna (Enneke) Grothen, zweimal des Hexereidelikts wegen angeklagt, jedoch, weil sie die Tortur ohne Ablegung eines Geständnisses ausgestanden hatte, aus der Haft entlassen und schließlich aus 1419 Die Kleine Cordesche, Agatha Plumpen und die Wilkesche gaben Maria Brielohn als Tanzgenossin an. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1420 Besonders die Angaben der Wilkeschen stechen von den übrigen Aussagen heraus. Wiederholt habe sie die Pferde von Thönies und Cordt Vahlen vergiftet, weil sie es unterlassen hatten, ihr Bier zu verkaufen oder Korn bzw. Gras von ihren Feldern zu holen. 1421 Vgl. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 28.07.1631. 1422 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 10.07.1631. 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 343 dem Gerichtsbezirk verbannt. Obwohl sich ihr Mann nachdrücklich für ihre Rückkehr nach Fürstenberg einsetzte, trug er auch erheblich zur Verdachtsbestätigung bei. Während des peinlichen Verhörs habe er des Öfteren gebeten, in die Stube des Schöffen Levin Thelen eintreten zu dürfen mit dem Begehr, seine Frau zu ermahnen, daß sie sich nicht mehr solte Peinigen Laßen, sondern waß sie wüßte[,] [sollte sie] gütlich von sich sagen [...]. Er wolle sie auch ihrer Frage erinnern, wan einer In seiner Jugendt zu solchem Laster geriete vndt Lehrte, ob der auch könte seelich werden, wanß ihm leidt thätte, worauff er[,] der beker[,] ihr geandtwortet[: ] Ja, sie aber herjegen zu ihm gesagt, sie wolte denselben, welcher sie in Ihrer Jugent zum fall gebracht hette, an Jenem tage vor dem Gestrengen Gerichte Gotteß verklagen, vndt solches von ihm fordern. Henrich Vahlen beendete seinen Besuch mit der Bitte, dass das Gericht seine Frau zu einem Bekenntnis bringe solle, damit sie möchte zur Erden kommen. [...] Man sollte gewiß hören, daß sie es In der Jugent würde gelehrnet haben 1423 . Zum anderen wurden Henrich Vahlens Bruder Thönies sowie dessen zweite Ehefrau Clara Schlunß 1424 und seine aus erster Ehe stammenden Tochter Margaretha der Hexerei bezichtigt. Ein Prozess wurde allerdings lediglich gegen Margaretha angestrebt, deren Mutter bereits 1631 als Hexe inhaftiert, jedoch wegen herrschender Kriegsunruhen aus der Haft entlassen wurde und anschließend verstarb. Margarethas Mann Dietherich Österwalt vulgo Wittkop kann jedoch als wesentlicher Initiator für den Hexenprozess gegen seine Frau angesehen werden, weil er den Richter darum bat, seine Ehefrau näher zu inspizieren: [...] er möchte Ihme den gefallen thuen, nach seiner frawen komen, vndt vernehmen, waß Ihr sein möchte, sie stellet sich so wunderlich ahn, alß wan sie endtweichen sölle 1425 . Die Verdachtsmomente gegen Margaretha Vahlen waren so stark, dass ein Inquisitionsprozess eröffnet wurde. Nach einem annähernd zweiwöchigen Prozess gestand Margaretha schließlich, eine Hexe und für die Raupenplage von 1657 verantwortlich gewesen zu sein. Sie habe die Raupen mittels schwarzer Materie gemacht und auf die Bäume gestreut. Ferner habe sie auch mit einer Suppe den bösen Geist bei der Schwester ihrer Nachbarin Bina eingegeben. 1426 Das Hexengerücht traf fast dreißig Jahre später, in der letzten großen Verfolgungswelle in Fürstenberg, erneut die Familie Vahlen. Unter den sieben Kindern, die angaben, Läuse zaubern zu können, befand sich auch Friedrich Vahlens Sohn Thönies. Dieser leugnete den Vorwurf und wurde nicht weiter rechtlich belangt. Jedoch sollte ein weiterer Verwandter namens Friedrich, 1427 der Bruder der hingerichteten Margaretha Vahlen, 1700 wegen nachgewiesener Lykanthropie hingerichtet werden. Geht man 1423 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage vom 16.07.1658. 1424 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Besagung des Meineke Brielohn am 11.06.1659. 1425 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog contra Margaretha Vahlen. 1426 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 27.06.1659. 1427 Ob es sich bei Friedrich Vahlen um den Vater von Thönies Vahlen handelt, kann anhand des Quellenmaterials nicht validiert werden. 344 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze von der Annahme aus, dass Friedrich Vahlen bei der Hinrichtung seiner Schwester im Jahr 1659 ca. zwanzig oder dreißig Jahre alt war, zählte er zum Zeitpunkt seines Hexenprozesses ca. sechzig bis siebzig Jahre. Neben dem Vorwurf der Lykanthropie wurde ihm zusätzlich vom Fiskal zur Last gelegt, dass die gantze parentele vndt verwandtschaft mit diesem Zauberlaster inficirt sei 1428 - eine Anschuldigung, die auch die Enkelin von Margaretha Vahlen, Angela (Engel) Vahlen, 1702 traf, die sich für ihre mit dem Hexenlaster behaftete Familiengeschichte vor Gericht entschuldigte. 1429 Ob Angela wegen erwiesener Hexerei hingerichtet wurde, ist aus dem verbliebenen Aktenmaterial nicht bekannt. Tabelle 11.2: Familie Vahlen Zeit Fälle 1601 Meineke Vahlens Frau α ; Kerstink Vahlens Frau Maria Brielohn α ; Enneke Reuter α 1629/ 1630 Johann Vahlen vulgo Behlen α 1631 Johann Vahlen vulgo Behlen β 1658/ 59 Henrich Vahlens Frau Anna (Enneke) Grothen β ; Thönies Vahlen vulgo Brielohn α ; Thönies Vahlens Frau Clara Schlunß α ; Margaretha Vahlen vulgo Brielohn † ; Friedrich Vahlen vulgo Brielohn α 1660/ 1662 Thönies Vahlens Frau Clara Schlunß β 1686 Friedrich Vahlens Sohn Thönies α 1700 Friedrich Vahlen † 1702 Angela (Engel) Vahlen β Legende: † Hinrichtung α Denunziation β Prozess 11.1.3 Familie Brielohn Der Familie Brielohn ein Sozialprofil zu geben, erweist sich aufgrund der unzureichenden Quellenüberlieferung als äußerst problematisches Unterfangen. Nur wenige Quellen geben Auskunft über ihre ökonomische oder politische Position im Dorf, sodass in diesem Fall methodisch stark auf Deduktionen zurückgegriffen werden muss, um der Familie einige Konturen zu verleihen. Zudem ist die Frage hinsichtlich ihres Rufbzw. Familiennamens nicht eindeutig zu klären. Es besteht nämlich die berechtigte Vermutung, dass für die „Brielohn-Sippe“ verschiedene Bezeichnungen parallel bestanden, die je nach Situation unterschiedlich verwendet wurden. Diese 1428 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 109 r . 1429 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 124 r . 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 345 Annahme wird durch einen näheren Blick in das gesichtete Archivmaterial bestätigt. Denn obwohl die Familie Brielohn nachweislich bis 1700 in Fürstenberg wohnte, sind ihre Namen weder in den Flurbüchern noch in den übrigen Quellen vertreten. Da es an einschlägigen Quellen fehlt, die entsprechende Aufschlüsse über ihre Doppelnamen liefern würden, muss die Suche auf den Begriff „Brielohn“ beschränkt werden. Es ist nicht zu eruieren, ob sich der Familienname „Brielohn“ von ihrem ursprünglichen Heimatort „Brilon“ herleitet oder auf ihren Landbesitz, den sogenannten „Brielon-Wiesen“, die an der Aa gelegen waren, 1430 anspielt. Die erste dokumentierte Erwähnung der Familie Brielohn findet sich in den Scheffel-Heuer-Registern von 1595 bis 1602. Die Abgabenverzeichnisse liefern erste Hinweise sowohl über deren Familienumfang als auch deren ökonomische Verortung: Nicht weniger als fünf Männer mit dem Namen Brielohn werden aufgeführt, 1431 aus deren Naturalleistung der Schluss gezogen werden kann, dass sie zur Mittelschicht gehörten. Eine nähere Betrachtung ihrer Heiratspolitik verstärkt diese Vermutung, denn es bestand ein enges Beziehungsgeflecht zu den Familien Vahlen, Voß und Budden, die zur Mittelbzw. Oberschicht zählten. So heiratete z. B. Kerstink Vahlen eine Maria Brielohn. Dieser Familienverbund sollte nachweislich bis in die 1650er-Jahre bestehen, der in dem Doppelnamen „Vahlen vulgo Brielohn“ zum Ausdruck kommt. Konkrete Aussagen über den Landbesitz der Familie lassen sich nicht machen, da ihr Name in den vorhandenen Flurbüchern nicht verzeichnet ist. Lediglich Meineke Brielohns Landabgabe für das angestrebte Pastorat im Jahr 1654 lässt das vorsichtige Resümee zu, dass die Brielohn-Familie zu diesem Zeitpunkt ausreichend Grundbesitz besessen hat. 1432 Fragen bezüglich ihrer politischen Karriere im Dorf können ebenfalls nur unbefriedigend beantwortet werden, da wiederum nur indirekte Hinweise im Quellenmaterial vorliegen. Für Meineke Brielohn ist belegt, dass er Schulß Meineke gerufen wurde. Es ist jedoch nicht sicher zu eruieren, ob er diesen Beinamen erhielt, weil der Familienzweig mütterlicherseits in diesem Amt tätig war 1433 oder Meineke selbst die Position des Schultheißen temporär innehatte - sozusagen in familiärer Tradition. Legt man diesem Befund ergänzend die historischen Ergebnisse frühneuzeitlicher Heiratsmuster zugrunde, nämlich primär der Erhalt bzw. die Steigerung der sozialen Position, 1434 wird die Vermutung tragfähig, dass auch die Familie Brielohn wichtige Positionen in den dörflichen oder obrigkeitlichen Ämtern inne hatte. Denn ihre Anverwandten, die 1430 Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 381, S 50 f. 1431 Namentlich werden Peter, Meineke, Lubbert, Johann (Jost) und Henrich Brielohns Erben erwähnt. LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 492 v , 494 v und 495 v . 1432 DiözesA Pb., Acta 150, fol. 30 r . 1433 Seine Mutter wurde Gretha Schulß gerufen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. Juni 1659. 1434 Ehmer, Josef/ Schröter, Wilko: Art. „Heiratsmuster, europäisches“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1655000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 346 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Familien Vahlen, Budden und Voß, 1435 waren ebenfalls in der kommunalen Politik tätig. Beispielsweise stellte sich Thönies Budden, Onkel des Meineke Brielohn, 1665 als Kandidat für das Amt des Dorfvorstehers auf; ebenso Meinekes Anverwandter Berent Jost Voß, der ein Jahr zuvor als accise vffheber tätig war 1436 . Spätestens ab den 1680er-Jahren legen einige Indizien die Vermutung nahe, dass die Familie Brielohn bzw. einige ihrer Mitglieder einen sozialen Abstieg erlebt hatte. Einen ersten Hinweis liefert die Heirat zwischen Clara Brielohn und Stoffel Huistknecht. 1437 Laut dem Kataster von 1672 besaß Stoffel Huistknecht lediglich vier Morgen Land. 1438 Das zweite Indiz liefert der Fall Peter Brielohn. Als der Junge Johann Wilm Bock 1686 beschuldigt wurde, einen Laib Käse gestohlen zu haben, gab er zunächst an, den von Peter Brielohns Jungen bekommen zu haben. Diese Antwort erschien Tepelers Frau, die Zeuge des Diebstahls war, wenig glaubwürdig, weil die ja keine kühe [hetten] 1439 und sich wohl auch keinen Käse leisten konnten. Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass einige Bedenken bezüglich dieser Deutung vorliegen. Eine andere Interpretation für diese Befunde erscheint m. E. treffender: Offenbar war Clara Brielohn aufgrund des hiesigen Anerbenrechts zwar in wirtschaftlicher Hinsicht, nicht aber bezüglich ihrer Dignität benachteiligt. Einige Mitglieder der Familie Huistknecht, die in der Gemeinde offenbar noch einen zweiten, heute unbekannten Rufnamen hatte, müssen mindestens zur Mittelschicht gezählt werden, da ein Hermann Huistknecht mit einer Anna Vahlen verheiratet war. 1440 Im Fall des Peter Brielohn ist darauf hinzuweisen, dass er im Jahr 1686 ein Mann im fortgeschrittenen Alter gewesen sein muss. Eventuell hatte er bereits sein Erbe seinen Kindern vermacht und sich auf sein Altenteil zurückgezogen. Es überrascht wenig, dass entsprechende Erwähnungen der Familie Brielohn in den niedergerichtlichen Protokollen ebenso wie bei den bisherigen Familienrecherchen spärlich ausfallen. Lediglich für Meineke Brielohns Tochter Elsche ist 1668 eine Injurienklage dokumentiert. Ihr wurde vorgeworfen, eine kinderverbringersche zu sein. Jedoch konnte Elsche mit Hilfe rechtlicher Unterstützung den Vorwurf abwehren und eine Versöhnung mit der Injuriantin erzielen. Bezeichnenderweise liefert dieser kurze Zwischenfall die Beobachtung, dass offensichtlich auch den Kindern von Meineke Brielohn ein gewisser Verruf im Dorf anhaftete. So deuteten beispielsweise die vor Gericht gerufenen Zeugen an, Eß hette Niemandt Mehr über seiner schwester zu thuen gehabt alß schulß Ennekerin dochter, deren das sie viel verbracht, die solte es für den dag gebracht haben so wol alß seine schwester 1441 . 1435 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 33 v . 1436 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 31 v . 1437 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 63 r . 1438 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 4 r . 1439 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 68 r . 1440 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 268 r . Hermann Huistknecht war 1690 von Johann Scheiffer senior adoptiert worden. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 215 r . 1441 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 81 r-v . 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 347 Sprichwörtlich von der Pike auf haftete das Hexenstigma an der Familie Brielohn: Das erste Opfer der Hexenverfolgungen war Engel Brielohn, die am 23. August 1601 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Ein Blick in die Hexenprozessakten offenbart zusätzlich, dass auch Freunde und Verwandte von ihr bei der ersten großen Verfolgungswelle hingerichtet worden sind: Die Tochter der im selben Jahr hingerichteten Frya, Meineke Stüwers (Stuffer) Frau, war beispielsweise mit Jost Brielohn verheiratet. Ebenso prägte offenbar eine freundschaftliche Bindung das Verhältnis zwischen Engel Brielohn und der gleichfalls exekutierten Kleinen Cordesche, die Engel als ihre Lehrmeisterin angab. Dem Richter gestand die Kleine Cordesche, dass sie das leidige Zauberlaster im Haus der Engel gelernt habe, nachdem sie ihr berichtet hatte, dass sie mit ihrem Manne stets im Streit lebe. 1442 Neben Engel wurde ihre Verwandte Maria Brielohn, Ehefrau des Richters Kerstink Vahlen, als Hexe besagt. Zusätzlich gaben die verurteilten Hexen und Hexer an, mehreren Familienmitgliedern aus diversen Anlässen Schadenszauber zugefügt zu haben. So war Meineke Brielohn beispielsweise ein Schwein und Jost Brielohn ein Pferd vergiftet worden. 1443 Im Jahr 1631 sollte das Hexengerücht um die Familie Brielohn neu entfacht werden. Gegen Lubbert Brilohn war ein Hexenprozess eröffnet worden. Lubbert bezichtigte seinen Freund und späteren Inquisiten Goert Nüthen als seinen Lehrmeister. Er sagte aus, er habe ihm in der Kindheit die Hexerei beigebracht, als sie beide gemeinsam die Kühe gehütet hätten. 1444 Auch Meineke Brielohns Witwe Trine geriet in das Hexengerücht, weil ihre Mutter bereits als Hexe verbrannt worden und ihr Ehemann bis zu seinem Tod von ihrer mala fama überzeugt war. 1445 Der gegen sie angestrebte Hexenprozess wurde jedoch unterbrochen und die vom Fiskal erhobenen Vorwürfe fallen gelassen, nachdem sie gemeinsam mit der Buddeschen einen Brief an den Kommissar aufgesetzt und einen Defensor konsultiert hatte. 1446 Es bleibt spekulativ, ob es sich möglicherweise bei der genannten Trine um Margaretha Brielohns Mutter gehandelt hat. Die wenig vorhandenen Hinweise sprechen jedoch für diese Annahme, da Margaretha 1659 zur Last gelegt wurde, dass ihre namentlich nicht erwähnte Mutter als Hexe verschrien war und kurz vor dem Hessischen Krieg eingezogen wurde. Diese sei aber wegen des Krieges relegirt, gleichwoll hernacher bey wehrenden kriegs trubeln verstorben 1447 . Schließlich denunzierte auch Margaretha Brielohn ihre Mutter als Hexen-Lehrmeisterin. Ebenso wurde Greta, die Frau von Tias Brielohn, von Meineke Evertt als Hexe denunziert. 1448 1442 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht der Kleinen Cordesche am 04.09.1601. 1443 So die Aussagen der Stutmerschen und Wilkeschen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1444 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog contra Goert Nüthen am 01.07.1631. 1445 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog contra Trine, Meineke Brielohns Witwe am 10.07.1631. 1446 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., demütige Bitte an den Hexenkommissar, 24. Juli 1631 sowie Replik des Fiskals auf die Defensionales der Elsche Grothen und Trine Brielohn, undatiert. 1447 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog. Siehe hierzu Kapitel 11.1.2. 1448 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 28.07.1631. 348 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Der Verdacht gegen die Familie Brielohn wurde sicherlich durch ihre Verwandtschaft zu der Familie Voß erhöht. Als im Juni 1631 gegen Elsche Vogels ein Strafverfahren eröffnet wurde, erklärten sich ihr Sohn Johann Stüwer vulgo Vogels, Thomas Voß und Johann Koch bereit, für sie eine Bürgschaft in Höhe von 200 Reichstalern zu hinterlegen. 1449 Elsche Vogels wurde seit 1601 das böse Zaubergerücht nachgesagt. Die Indizien gegen sie verhärteten sich, weil Meineken Stüwers Frau, Trina Rinschen, sie beschuldigte, ihr Vieh und ihre Molke verhext zu haben. Zudem wurde ihr zur Last gelegt, mit Zauberschen Persohnen gemeinschafft gehabt zu haben und mit denen umbgangen zu sein. 1450 Bezeichnenderweise war es auch ein Friedrich Voß, der der berüchtigten Grete Hinten zur Flucht aus dem Gefängnis riet, woraus ein gemeiner leumuth entstand. 1451 Die Abstammung von einem Hexengeschlecht sollte auch Meineke Brielohn, der mit Enneke Voß verheiratet war und auch Meineke Voß genannt wurde, 1452 1659 zum Verhängnis werden. Wie im Fall der Margaretha erhob die örtliche Hexenjustiz gegen ihn den Vorwurf, dass seine Mutter, Gretha Schulß vulgo Brielohn, des Hexenlasters wegen berüchtigt gewesen sei. Ebenfalls wie seine Anverwandte bezichtigte er seine Mutter im gütlichen Verhör als Lehrmeisterin. So habe Meinekes Mutter ihm die Hexenkunst beim Feuer gelehrt, indem sie ihm einen Apfel gegeben habe, den er im Namen des Teufels habe essen müssen. 1453 Neben seiner Herkunft von „Hexenart“ klagte der Fiskal ihn zusätzlich wegen vermuteter Werwölferei an. Dieser Anklagepunkt wurde jedoch auf Bitten des Inquisiten aus dem Indizienkatalog gestrichen. Meinekes Hexenprozess sollte allerdings zusätzlich für seine Base, Agatha Brielohn vulgo Budden, fatal enden. Im Verhör bekannte Meineke, mit seiner Tante Inzest getrieben zu haben. Diese habe ihn zum ersten Mal vff den balken, dem Dachboden, verführt, als er ca. zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sei. Als Zeichen ihrer „Liebschaft“ hette [Agatha] ihm ein bant wie Liberey gegeben, [das] weiß [gewesen] [und] sey nicht lange vff dem huet geblieben [...] 1454 . Dieser schwerwiegende Inzestvorwurf sollte für das Gericht das sprichwörtliche Zünglein an der Waage sein, um gegen Agatha Brielohn einen Hexenprozess einzuleiten. Agathas Reputation im Dorf war bereits ein Jahr zuvor ins Wanken geraten, als ihre Patin Liese Böddeker als Hexe hingerichtet worden ist. Liese Böddeker gab vor Gericht an, auf Wunsch von Agatha ihre Lehrmeisterin geworden zu sein, als diese sie gefragt habe, ob sie etwas von ihrer berüchtigten Stiefmutter gelernt habe. Sie habe die Frage bejaht und sich Agatha mit den Worten zugewandt: wiltu eß auch lernen[,] so will Ich dier Etwaß geben, Agatha gesagt[,] Ja[,] wan Ich waß davon haben kann - eine Aussage, die 1449 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Freilassungsbescheid vom 17.07.1631. 1450 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 25.06.1631 Insbesondere die Freundschaft zu Meinike Mümmels, der 1630 im Nachbarort Wünnenberg als Hexer verbrannt wurde, galt als sonderbar. Auch gegen ihren Vater, der alte Vogel, wurde ein Inquisitionsprozess eröffnet. Der Ausgang des Verfahrens ist jedoch unbekannt, weil die Prozessakte verloren gegangen ist. 1451 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog. 1452 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Johann Sauren vom 10.04.1660. 1453 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage am 10.06.1659. 1454 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 10.06.1659. 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 349 Agatha im Verlauf des Inquisitionsverfahrens bestätigen sollte. Sie gestand vor dem Richter, dass Liese ihr im Hof ihres Vaters Peter Brielohn das Zaubern gelehrt und sie anschließend im Spieker mit dem erschienenen Teufel buliert habe. Nach vollzogenem Geschlechtsverkehr habe Agatha besorgt ihre Patin gefragt: O Liesa[,] dieß hadt Ja wohl niemand gesehen, worauff die geandtwortet[,] Nein, daß könne sonst niemandt sehen 1455 . Zusammen mit ihrem Neffen Meineke wurde Agatha am 01. Juli 1659 mit dem Schwert enthauptet, anschließend wurden ihre Körper verbrannt. Dreißig Jahre später sollte die Familie Brielohn erneut mit den Hexereiverbrechen in Zusammenhang gebracht werden, jedoch diesmal nicht als Täter, sondern als Opfer. Leidtragende war in diesem Fall Clara Brielohn, die ihre Verwandte Elsche Budden vor Gericht anklagte, sie vor neun Jahren vergiftet haben zu wollen. Nach der Geburt ihres Sohnes sei Elsche an ihr Bett getreten und habe ihr eine Suppe gebracht, nach deren Verzehr ihr ganz übel vmbs hertz [wurde], vndt so sehr von sinnen kommen, daß durch andere im bett gehalten werden müßen vndt die leute heuffig zu [ihr] gelauffen. Clara habe den „Schadenszauberanschlag“ nur überlebt, weil ihr damaliger Mann nach Schwickhausen gereist sei, um dort eine weise Frau aufzusuchen, die ihm ein Heilmittel gegeben und noch die warnenden Worte hinzufügt habe: nicht allein, wan Er seine fraw lebendig wider sehen wollte, zu eilen, sondern auch demnach nicht weit von Ihr zu gehen 1456 . Nach der Einnahme des Medikaments sei von ihr schließlich eine stinkende Materie abgegangen und sie sei endlich wieder genesen. Die Indizien gegen ihre Verwandte Elsche Budden waren so schwerwiegend, dass ein Jahr später ein Hexenprozess gegen sie geführt wurde. Während Clara Brielohn 1686 noch als Opfer von Hexerei aufgetreten war, wurde sie ca. 1700 bzw. 1701 selbst als Hexe hingerichtet, wie aus dem Indizienkatalog gegen den Inquisiten Stoffel Hencken hervorgeht. Welche Anklagepunkte der Fiskal gegen sie erhob, ist nicht bekannt, da die Akte nicht erhalten geblieben ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit mag ihr jedoch vorgeworfen worden sein, aus einem traditionsreichen Hexengeschlecht abzustammen. 1455 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog contra Agatha Budden. 1456 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 72 v . 350 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Tabelle 11.3: Familie Brielohn Zeit Fälle 1601 Engel Brielohn † ; Maria Brielohn α 1631 Lubbert Brielohn β ; Meineke Brielohns Witwe Trine β ; Gretha Brielohn vulgo Schulß α ; Tias Brielohns Frau Greta α 1658/ 59 Margaretha Vahlen vulgo Brielohn † ; Friedrich Vahlen vulgo Brielohn α ; Agatha Brielohn vulgo Budden † ; Enneke Brielohn α ; Meineke Brielohn † ; Thönies Vahlen vulgo Brielohn α 1686 Peter Brielohn α 1700/ 01 Clara Brielohn † Legende: † Hinrichtung α Denunziation β Prozess 11.1.4 Familie Budden Ähnlich wie bei der Familie Brielohn stößt man bei der Rekonstruktion des Sozialprofils der Familie Budden auf dieselben quellentechnischen Schwierigkeiten und Hürden. Denn außerhalb der Hexenprozessakten hält das untersuchte Archivmaterial kaum verwertbare Auskünfte über sie bereit. Die augenscheinlich karge Überlieferung ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass es sich bei dem Begriff „Budde“ in der Vormoderne nicht um einen Familiennamen, 1457 sondern entweder um eine Berufsbezeichnung oder einen Spottnamen handelte. Laut dem Duden leitet sich der Name nämlich von dem mittelniederdeutschen Wort „budde“ her, das ein „offenes Faß [oder] Bottich“ beschreibt und mit dem hochdeutschen Begriff „Böttcherei“ wiedergegeben werden kann. 1458 In welcher Weise nun der Name von den Zeitgenossen gebraucht wurde, geht aus den Quellen nicht hervor. Weil es an einschlägigen Dokumenten mangelt, die eine erweiterte Forschung der Familie Budden erlauben würde, 1459 muss der genealogische und prosopografische Untersuchungsrahmen auf den Suchbegriff „Budden“ beschränkt bleiben. 1457 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist der Name „Budden“ als Hausname belegt. Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 266. 1458 Kohlheim, Rosa/ Kohlheim, Volker: Familiennamen. Herkunft und Bedeutung von 2000 Nachnamen, Berlin 2005, S. 159. 1459 Einen möglichen Hinweis liefert die Angabe von Agatha Brielohn vulgo Budden, dass ihr Schwager Henrich Clauß sei. Es scheint sich allerdings dabei nicht um den Bruder ihres Ehemanns zu handeln, sondern um den Ehemann ihrer Schwester Enneke. 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 351 Nachweislich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert lebte ein Adam Budden in Fürstenberg. 1460 Gemessen an den Roggen- und Haferabgaben, die auch grobe Rückschlüsse auf seinen Landbesitz erlauben, zählte Adam Budden zur sozialen Mittelschicht 1461 - eine Behauptung, die für die Familie Budden auch noch für die Mitte des 17. Jahrhunderts aufrechterhalten werden kann. Denn dank ihres ausreichenden Grundbesitzes war Thönies Budden in der Lage, durch Landschenkung die Gründung des Pastorats in Fürstenberg zu unterstützen. 1462 Ihre soziale Verortung wird ferner durch die familiäre Heiratspraxis untermauert: Eine Tochter von Franz Grothen, Elsche, war mit einem Budden verheiratet und wurde künftig die Buddesche genannt. Ebenso bestand ein enges Beziehungsnetz zu der Familie Brielohn. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts waren die Buddens qua Heirat mit der prestigeträchtigen „Scheiffer-Sippe“ verwandt, die sowohl einen beachtlichen Grundbesitz 1463 hatte als auch bedeutende Ämter in der Gemeinde bekleidete, wie z. B. die Stellung des Zehntsammlers, des Provisors und Dorfvorstehers. 1464 Auf Basis dieser verwandtschaftlichen Verknüpfungen überrascht der Befund wenig, dass auch die Budden-Familie in der dörflichen Kommunalpolitik aktiv war. So wurde beispielsweise im Jahr 1665 Thönies Budden als Kandidat für das Amt des Dorfvorstehers aufgestellt, jedoch nicht von der Mehrheit der wahlberechtigten Dorfbewohner gewählt. 1465 Dass der Name „Budden“ in der Gemeinde mit einem gewissen sozialen Ansehen verbunden war, belegen ferner die niedergerichtlichen Akten. Nachdem Henrich Scheiffer Elsche Budden geehelicht hatte, nannte er sich künftig nur noch Scheiffer-Budden. 1466 Außerhalb der Hexenprozessakten tritt die „Budden-Sippe“ nicht aktenkundig in Erscheinung. Lediglich am 25. Oktober 1668 verzeichnete der Gerichtsschreiber, dass das Pferd von Hans Gößen zu Thülen, welches er des Abends hinter seinem Hof an einer Linde angebunden habe, am nächsten Morgen verschwunden war. Nun habe er das Pferd bei Thönies Budden wiedergefunden, dem es vorgeblich ins Haus gelaufen sei. Nach einer genauen Beschreibung des Hengstes bat der rechtmäßige Eigentümer um Rückgabe. 1467 Der Name „Budden“ trat zum ersten Mal 1601 im Zusammenhang mit dem Hexereidelikt auf. Der Inquisit Trouvelus Plumpe denunzierte Adam Budden sowie 1460 Neben dem Scheffel-Heuer-Register wird während des Schnadzugs von 1603 eine Wiese von Adam Budden aufgeführt. Bruns: Dokumente, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, Quelle A 373, S. 49. 1461 Im Jahr 1599 leistete Adam Budden eine Abgabe in Höhe von 20 Scheffeln. LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 519 v . 1462 Designatio agrorum ad pastoratum Fürstenbergensen donatorum et donandorum: [...] Tonnies Budden 1 Morgen [...]. DiözesA Pb., Acta 150, fol. 30 r . 1463 Die Familie Scheiffer besaß im Schnitt 40 Morgen Land und zählte damit zur Oberschicht der Gemeinde Fürstenberg. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 4 r . 1464 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 203 v und 229 r sowie PfA Fü., A 1, Urkunden und alte Akten, unfol., Supplik vom 10.09.1674. Ferner PfA Fü., St. Marien, Bestand III, 310, fol. 21 und 27. 1465 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 33 v . 1466 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 71 r , 87 v . 1467 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 78 r . 352 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze dessen Schwestern Gertrud und Trine als Tanzgenossen. 1468 Ebenso der Hexerei verdächtig galt die Buddesche aus Wünnenberg, über die jedoch keine weiteren Verwandtschaftsangaben existieren. 1469 Die Buddens sollte jedoch unweigerlich mit dem „Hexenruf“ assoziiert werden, als Elsche Grothen in die Familie einheiratete. Mit diesem Ehebündnis war gewissermaßen der „Grundstein“ für die Hexenverdächtigungen innerhalb dieser Familie gelegt worden. Bekanntermaßen war Elsche Grothen vulgo Budden in den ersten beiden großen Verfolgungswellen angeklagt worden, eine Hexe zu sein, sodass der Verweis an dieser Stelle genügen soll. 1470 Zudem geriet auch ihre jüngste Tochter, die nach ihrer Mutter benannt wurde, 1631 in den Verdacht der Hexerei, weil sie von dem geständigen Inquisit Goert Nüthen als Tanzgenossin besagt worden ist. 1471 Das „Hexenimage“ sollte weiter einzementiert werden, als sich die Familie Budden qua Heirat mit der Familie Brielohn verband. So heiratete Thönies Budden Peter Brielohns Tochter Agatha. Mit dieser Ehe mögen auch die letzten Zweifel an einer „Hexensippschaft“ der Budden-Familie zerstreut worden seien. Sowohl der Alte Budden als auch Thönies Budden, seine Frau und seine Tochter wurden als Hexe und Hexer denunziert. Jedoch wurde nur Thönies Frau, Agatha Brielohn vulgo Budden, zusammen mit ihrem Neffen Meineke Brielohn wegen erwiesener Hexerei am 01. Juli 1659 hingerichtet. In den folgenden Jahrzehnten sollten sich die Hexereivorwürfe wie ein „roter Faden“ durch die Familiengeschichte der Budden ziehen. Ab 1686 standen die Tochter der Agatha, Elsche Budden, 1472 Ehefrau des Henrich Schäfer sowie ihre Tochter Catharina (Cathi) im Fokus des Hexereigerüchts. Dem mettgen wurde vorgeworfen, die Enten und Gössel von Johann Grothens Frau, Anna Margaretha Forth, vergiftet zu haben. Den Vorwurf wies Catharina aber mit der Begründung von sich, ihre Mutter habe die Enten gefüttert. 1473 Der Hexereiverdacht war damit auf ihre Mutter gelenkt worden, gegen die zwar 1686 ein Strafverfahren angestrebt, aber erst 1687 eingeleitet wurde. 1474 Elsche Budden wurde vom Fiskal angeklagt, aus einem Hexengeschlecht zu stammen, weil sie von ihrer wegen erwiesener Hexerei 1659 hingerichteten Mutter, Agatha Brielohn vulgo Budden, von Jugend an erzogen worden sei. 1475 Ferner wurden ihr diverse Mordversuche mittels Schadenszauber zur Last gelegt. Unter den „Anschlagsopfern“ befanden sich ihre Verwandte Clara Brielohn, ihr Schwager Meineke Scheiffer, ihre Schwägerin Grethe sowie deren Schwester Gerdrut und zuletzt der Schäfer der Herren von Westphalen. Ihre favorisierte Methode soll die Vergiftung mittels kontaminierter Trink- und Speisemittel gewesen sein. So habe sie Gerdrut 1468 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht vom 24.08.1601. 1469 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht der Frya am 03.09.1601. 1470 Siehe hierzu Kapitel 11.1.1. 1471 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Denunziation des Goert Nüthen. 1472 Elsche wurde bereits 1659 von Freda Sommers und Johann Möller als Hexe besagt. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1473 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 75 r . 1474 Es bleibt anzunehmen, dass gegen Catharina Budden vulgo Scheiffer eine Voruntersuchung eingeleitet wurde. 1475 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 14. 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 353 Scheiffer, nachdem diese Elsche Budden ein Laken gebracht habe, zum Dank ein Ei gegeben. Als Gerdruts Mutter es anschließend in der Pfanne braten wollte, befand sie es für nicht recht, hatt [...] es wider in den dop gerechoet, vndt andern gezeiget, [...] zwey spindeln genommen vndt die zwey in dem ey befundene lebende theile damit von einander gezogen, so bald aber selbige loßgelaßen, hetten sich die zwey theile wider beyeinandern gezogen [...]. [Hätten] Elschen budden [es] dohmahlen vorgehalten, hatt sie zur antwortt geben, sie hetten rocken gedroschen, da möchten die hüner junge meuse gefreßen haben 1476 . Während Gerdrut durch die Achtsamkeit ihrer Mutter vor einem „Hexereianschlag“ verschont blieb, traf es ihren Schwager härter: Auf der Hochzeit von Elsche Budden hatte er eine Kleinigkeit getrunken und nach gehaltenem Tanze einen Schwächeanfall erlitten, sodass er immer wieder auf die Bank niederfiel. Meineke verließ daraufhin die Hochzeitsgesellschaft, gestützt von seiner Frau, da er nicht selbstständig gehen konnte. Kurz darauf war er ernsthaft krank geworden. In seiner Pein habe er geklagt und geschrien über große angst am hertzen vnd wunderheit des haupts, die augen verstöret gehabt, bißweilen raselndt vnd unsinnig worden, also 30. Wochen in solchem wesen theilß geseuchet, theilß stielgelegen vnd [schließlich] gestorben 1477 . Ähnliche körperliche Symptome beschrieben auch die anderen Vergiftungsopfer von Elsche Budden. Aufgrund der Schwere der nachgesagten Verbrechen wurde gegen sie das peinliche Verhör eröffnet. Weil sie aber eine Schwangerschaft vortäuschte, sah das Gericht zunächst von der Marter ab. Erst nach erfolgter Leibesvisitation durch zwei erfahrene Hebammen wurde die Folter angewandt, nachdem sichergestellt worden war, dass eine Gravidität ausgeschlossen ist. Insgesamt wurde Elsche Budden zweimal der peinlichen Befragung unterzogen, jedoch aufgrund ihrer Hartnäckigkeit, d. h. ihrer Weigerung, ein Geständnis abzulegen, von der Tortur entlassen und der Prozess abgebrochen. 1478 Obwohl sie der Todesstrafe entgangen war, galt Elsche Budden bis zu ihrem irdischen Ableben im Dorf weiterhin als Hexe, wie es Prozessakten aus der Verfolgungszeit von 1700 bis 1703 andeuten. Bis zur letzten Hexenjagd sollten auch ihre Kinder sowie Enkelkinder von dem Hexenstigma gezeichnet sein. So wurde der Hexereiverdacht gegen Elsche Buddens Tochter Catharina Budden vulgo Scheiffer erneut aufgegriffen und ein Hexenprozess gegen sie eröffnet, der schließlich mit ihrer Hinrichtung endete. 1479 Ebenso sollten ihre Schwestern Margaretha Stroeth und Magdalena Scheiffer 1480 1476 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 76 r . 1477 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 70 v . 1478 Vgl. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 31 f. 1479 Die Prozessakte von Catharina Scheiffer ist nicht erhalten geblieben. Ein Hinweis über ihren Hexenprozess findet sich im Indizienkatalog contra Stoffel Hencken. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 127 v . 1480 Es ist anzunehmen, dass der Gerichtsschreiber sich beim Verfassen der Anklagepunkte vertan hat: Magdalena wird im Indizienkatalog fälschlicherweise Margaretha genannt, in der Urgicht hingegen korrekt Magdalena. Dass es sich hierbei um ein und dieselbe Person handelt, bele- 354 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze in den Strudel der Hexereianklagen geraten. 1481 Wie eine Marginalie am Einband der Prozessakten verrät, war bereits 1687 gegen Margaretha eine Voruntersuchung eingeleitet, jedoch wieder abgebrochen worden. 1482 Offensichtlich herrschte über sie das Gerücht, zusammen mit ihrer Mutter Elsche Kindern die Hexerei zu lehren. Es handelt sich dabei um den bereits kurz beschriebenen Fall der sieben Kinder, die von sich behaupteten, Läuse mittels einer magischen Praktik zaubern zu können. Neben diesem Anklagepunkt wurden ihr ein Suizidversuch sowie die Absicht, ihr eigenes Haus in Brand zu setzen, zur Last gelegt. Nach einem abgelegten Geständnis wurde Margaretha wie ihre Schwester Magdalena hingerichtet. 1483 Ferner wurde eine Elsabein Stroeth, bei der es sich höchstwahrscheinlich um die Tochter von Margaretha Stroeth 1484 handelte, 1485 1701 wegen praktizierter Hexerei von Rechts wegen exekutiert. Ein Jahr später sollte ihr Ehemann, Stoffel Hencken, dasselbe Schicksal ereilen. Neben dem Anklagepunkt, Nachfahre einer „Hexensippe“ zu sein, wurde er beschuldigt, die der Zauberei verdächtigte Elsabein Stroeth geheiratet zu haben. 1486 Die letzte bekannte Trägerin des „Hexenmals“ in der Familie Budde sollte Elsche Buddens Enkelin, Angela Scheiffer, sein, die 1701 wegen nachgewiesener Hexerei hingerichtet wurde. Ihre Selbstbezichtigung, im Alter von neun Jahren das Zauberlaster leider von Ihres vatter Mutter deß Henrichen Scheiffers Wittiben gelehrnet 1487 zu haben, war ausschlaggebend für ihre Verurteilung als vermeintliche Hexe. gen einige überstimmende Punkte in den Aussagen (bspw. „Kutsche“, „Kaiserin/ Königin“, „Bräutigam“). Höchstwahrscheinlich kam der Protokollant bei den angeklagten Geschwistern durcheinander. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, 129 r-v und 131 r-v . 1481 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, 124 v und 129 r-v . 1482 Lediglich die Prozessakte der Elsche Budden ist erhalten geblieben. Für Hermann Hinte liegt die Zeugenbefragung, die Einleitung der gütlichen Quaestio und die Responsiones des Angeklagten vor. Es bleibt anzunehmen, dass, nachdem 1686 die Hexengerüchte wieder zunahmen, das fürstenbergische Gericht den Anzeigen nachging und zumindest eine Voruntersuchung gegen die beschuldigten Personen ex officio einleitete. 1483 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 104 r und 107 v . 1484 Am 31. März 1728 war das Haus von Jokabob Vierkiendts und Anna Margaretha Stroth in der Kirchstraße 5 fertig gestellt worden. Aufgrund der Namensähnlichkeit ist zu vermuten, dass es sich bei Anna Margaretha um die Tochter von Margaretha Stroth (Stroeth) gehandelt hat. Die Hausinschrift lautet: Im Namen der allerheiligsten Dreifaltigkeit haben wir dieses Haus wiederaufbauen lassen. Z. n. Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 248. 1485 Ihre Prozessakte ist leider nicht erhalten geblieben, sodass für diesen Fall keine näheren Informationen vorliegen. In den Akten der Niederen Gerichtsbarkeit wird jedoch eine Anna Elisabeth Lauffkötter erwähnt, die von ihrem Vater, Franz Stroeth, den Brautschatz erhält. Es bleibt vorsichtig zu vermuten, dass es sich bei Anna Elisabeth um die genannte Elsabein Stroeth handeln könnte. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 54 r-v . 1486 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 127 r . 1487 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 113 v . 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 355 Tabelle 11.4: Familie Budden Zeit Fälle 1601 Adam Budden α ; Trine Budden α ; Gertrud Budden α 1602 Elsche Grothen vulgo Budden β 1631 Elsche Grothen vulgo Budden (Mutter) β ; Elsche Budden (Tochter) α 1658/ 59 Thönies Budden α ; Thönies Buddens Tochter α ; der Alte Budden α ; Agatha Brielohn vulgo Budden † 1686/ 87 Elsche Budden β ; Catharina Budden vulgo Scheiffer β ; Margaretha Stroeth β ; Engel Scheiffer β 1700-1702 Catharina Budden vulgo Scheiffer † ; Angela Scheiffer † ; Margaretha Stroeth † ; Elsabein Stroeth † ; Magdalena Scheiffer † Legende: † Hinrichtung α Denunziation β Prozess 11.1.5 Familie Hinte vulgo Möller Zu einem alten Hexengeschlecht mit traditionsreicher Verfolgungslinie kann die Familie Hinte gezählt werden. Bereits 1659 lautete einer der vom Fiskal erhobenen Anklagepunkte gegen Johann Hinte, dass Inquisitus’ vatter vndt [deren] samtblicheß herkom[men] deß Zauberlasterß berüchtigedt vndt verdechtich gewesen [sei] wie noch 1488 . Von 1601 bis 1687 sollten mehrere Familienmitglieder wegen Hexerei angeklagt und verbrannt werden. Trotz ihrer vom „Hexenstigma“ geprägten Familiengeschichte, die sich minutiös anhand der Hexenprozessakten nachzeichnen lässt, erweist sich eine ausführliche Rekonstruktion ihres sozialen, wirtschaftlichen und politischen Profils als fast unmöglich. Wie bei den bereits behandelten Familien stellt ihr Nachname, bei dem es sich vermutlich um einen Ruf- oder Spottnamen handelte, den Historiker vor gewisse Schwierigkeiten. Denn bei der Bezeichnung „Hinte“ handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Präposition, die zwecks flüssigerer Aussprache von „hinten“ bzw. „hinter“ auf „hinte“ verkürzt wurde. Worauf sich diese Ortsangabe bezog, ob nun auf ihre Ländereien und Wiesen oder ihren Wohnsitz, muss offenbleiben. Nachweislich ab 1631 erhielt die Familie den Zusatznamen „Möller“. Die Vermutung, mit dieser Information nähere Hinweise über den Personenkreis der Familie Hinte erfahren zu können, muss allerdings negiert werden, da mehrere Familien in Fürs- 1488 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog. 356 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze tenberg die Berufsbezeichnung parallel trugen. 1489 Dennoch ist mit diesem Hinweis ein entscheidender Wink über ihre ab diesem Zeitpunkt ausgeübte Berufstätigkeit und ihre ökonomische Position im Dorf gegeben. Ab wann und für wie lange die Hintens das Müllergewerbe betrieben, ist anhand der Quellen nicht zu eruieren. Es kann lediglich die schlichte Behauptung getroffen werden, dass sie offenbar ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Privileg der Mühlen-Gerechtigkeit nicht mehr innehatten. 1490 Über welche Mühle sie zudem die Gerechtigkeit besaßen, muss unbeantwortet bleiben. Dennoch können allein aus dieser Marginalie einige zuverlässige Aussagen über ihre Position innerhalb der Dorfgemeinde getroffen werden: Aufgrund der herrschenden Mühlenordnung und des Mühlenzwanges in der Frühen Neuzeit standen die Dorfmitglieder in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu dem Müller, der weitestgehend durch seine gesicherte Tätigkeit und seine von ihm eingezogenen Metzen zur Mittelbzw. Oberschicht gezählt wurde. 1491 Diese allgemeine auf Literatur gestützte Darstellung wird durch den lokalen Befund untermauert, dass nach dem Dahinscheiden von Meineke Hinte vulgo Möller seine Witwe im Jahr 1672 noch 41 Morgen Land besaß. Seine Söhne Hermann und Ebert hingegen, offenbar durch das Anerbenrecht wirtschaftlich benachteiligt, sollten 1684 lediglich 15 Morgen bzw. 10 Morgen Land nachweisen können. 1492 Trotz Hermann Möllers offensichtlicher Armut besaß er ein Wohnhaus im Wert von 42 Reichstalern und zählte Personen aus der Mittel- und Oberschicht zu seinen nächsten Anverwandten und Nachbarn. 1493 Mit Hermann sollte ein weiterer Spitzname in die Familie Hinte hineingetragen werden: Schwarte. Dieser Spitzname erfüllte höchstwahrscheinlich den Zweck einer schlichten und kurzen Charakterisierung seiner Persönlichkeit, da die „Schwarte“ üblicherweise eine dicke Haut beschrieb, wie es heute noch von der „Speckschwarte“ bekannt ist. 1494 Der Spitzname lässt allerdings noch eine alternative Interpretation zu. Laut dem Zedler bezeichnet die „Schwarte“ den ersten Teil der Baumrinde, die zuerst 1489 So lässt sich beispielsweise ein Ludowig Möller, dessen Eltern Caspar Möller und Maria Schäffer waren, nicht der Familie Hinte zuordnen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 12 r-v . 1490 Nachweislich hatte ab 1663 Engelbracht Bangen die Mühlen-Gerechtigkeit über die Zinsdorfer Mühle inne. Dieses Privileg gab er jedoch 1665 auf, als er nach Oberalme zog und dort nun als Müller tätig war. Hermann Storck sollte sein Nachfolger werden. Die Familie Bangen war auch in Stadtberge als Müller beschäftigt. Für die Oberste Mühle waren 1665 Thönies Rinschen und ab 1691 Ferdindt Weßel zuständig. Vgl. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 13 r , 40 r , 42 r , 64 r und 233 r . Für einen kurzen, aber informativen Gesamtüberblick zur Geschichte der Zinsdorfer Mühle siehe Krus, Horst-D.: Das vielfältige Wünnenberger Gewerbewesen in Vergangenheit und Gegenwart, in: Heimatbuch Wünnenberg, hrsg. v. d. Stadt Wünnenberg, S. 429-476, hier S. 436. 1491 Vgl. Bleidick, Dietmar: Art. „Mühle“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a2833000 (Zugriff am 28. 03. 2017). 1492 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 10 v und 17a r . 1493 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 84 v . 1494 Vgl. Art. „Schwarte“, in: Krünitz, Johann Georg (Hrsg.): Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft, url: http: / / www.kruenitz1. uni-trier.de (Zugriff am 13. 02. 2017). 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 357 abgeschnitten und im Bergwerk zu „allerhand Beschlagen, Decken und Fußstegen“ 1495 gebraucht wurde. Da Hermann Schwarte zudem in den niedergerichtlichen Akten als Höteker 1496 bezeichnet wird, ein niederdeutscher Begriff für das Hüttenwesen, liegt die Vermutung nahe, dass der Spitzname auf sein Handwerk verweist. Mit diesen spärlichen Verweisen ist die wirtschaftliche, politische und soziale Verortung der Familie Hinte abgeschlossen. Inwieweit sie nach ihrer Tätigkeit als Müller innerhalb der Dorfgemeinschaft aktiv waren, kann nicht beantwortet werden. Hermann und Ebert Hinte sollten lediglich in zwei Fällen Erwähnung in den Akten der Niederen Gerichtsbarkeit finden, die jedoch kein Zeugnis für ein auffällig deviantes Verhalten sind. So klagte beispielsweise am 19. Mai 1665 Henrich Stoimel von Haaren, dass Meineke Möllers Söhne ihm im Wünnenbergischen Felde nicht allein Midt Ihren 4 Pferden Rollkarren Egeden vndt Pflügen die Linsen verdorben [...][,] sondern Ihmen auch[,] alß sie deshalber besprochen[,] für Einen schelm gescholten vndt midt steinen auff Ihme zugeeilt [...] 1497 . Weil diesem aggressiven Verhalten allerdings ein Streit zwischen den beiden Parteien vorausgegangen war und Möllers Söhne sich somit der üblichen Konfliktregulationsmechanismen bedient hatten, wurde der Fall strafrechtlich nicht weiterverfolgt. Auch als Meinekes Bruder Hermann drei Jahre später Berent Lörniags Frau ins Gesicht geschlagen und sie als Flachsdiebin ausgerufen hatte, blieb sein körperlicher Übergriff ohne rechtliche Konsequenzen. 1498 Das erste Verfolgungsopfer der Hexenjagd war der Alte Hinte, der 1601 als Hexer hingerichtet wurde. Er gab an, das Zauberlaster von Elsa Kesperbaum vor rund dreißig Jahren erlernt zu haben. 1499 Bezeichnenderweise handelte es sich bei seiner Lehrmeisterin vermutlich um eine Verwandte von Trina Kesperbaum, gegen die von 1657 bis 1662 mehrfach wegen des Hexenlasters inquiriert und die schließlich wegen ihrer Hartnäckigkeit des Gerichtsbezirks verwiesen werden sollte. Nach seinen eigenen Angaben waren der ausschlaggebende Grund für seine „Hexenkarriere“ einige schelmereyen, die man gegen ihn begangen hatte. So hätten ihm verschiedene Personen unrechtmäßig den Hafer abgemäht, das Korn verdorben und Land abgeackert. Den Schlussstein dieser Schmähungen bildete das Zerwürfnis mit seinem „Spannfreund“ Peter Klingenberg, der mit ihm keinen gesellschaftlichen Umgang mehr pflegen wollte - vermutlich weil das Hexengerücht um seinen Freund zu groß geworden war. 1631 sollte seine Tochter Grete, die bereits 1601 von Agatha Plumpe und Meineke Stuffers Frau Frya besagt worden war, strafrechtlich verfolgt werden. Wie aus einer Zeugenbefragung von 1658 hervorgeht, war das Hexengerücht um Grete 1631 verstärkt worden, als diese sich - aus Furcht vor einem drohenden Hexenprozess - unter einer Wanne versteckt hatte. Auf Anraten von Friedrich Voß plante sie sogar ihre Flucht 1495 Art. „Schwarte“, in: Zedler (Hrsg.): Grosses vollständiges Universallexicon 35, Sp. 1896-1897, url: https: / / www.zedler-lexikon.de/ index.html? c=blaettern&seitenzahl=962&bandnummer= 35&view=100&l=de (Zugriff am 17. 12. 2017). 1496 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 75 v . 1497 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 35 r . 1498 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 75 v . 1499 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht vom 21.08.1601. 358 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze aus dem Gefängnis. Die Zeugen gaben ferner an, dass sie sich gegenüber ihrem Mann verdächtig verhalten habe, da sie ihn bat, ihr beim Entkommen zu helfen. Sie sprach: Hermann[,] helff mier dießmahl davon, Ich will dier wider helffen, solt in allen Erken genug haben 1500 . Nach der Interpretation der Zuhörer habe sie mit dieser Bemerkung indirekt gestanden, magische Fähigkeiten zu besitzen. Als die Wächter Grete jedoch den weg abschnitten und wieder ins Gefängnis brachten, erhob das Gerichtspersonal neue Vorwürfe gegen sie. Da sie aber angab, schwanger zu sein, wurde die Anklage fallengelassen und eine caution gestellt. 1501 Kurze Zeit später wurde das Verfahren wieder aufgenommen, weil Grete von vielen gescholden, daß alles aber mit stilschweigen verantworttet vnd bestettiget habe. 1502 Der Ausgang des Prozesses ist unbekannt. Wie aus dem Einband des Konvoluts aus Brenken hervorgeht, wurde neben Grete Hinte auch ihre Tochter Engel wegen vermuteter Hexerei am 28. Juli 1631 denunziert und mit dem geständigen Hexer Meineke Evertt konfrontiert. Allerdings erfolgte nach der Besagung kein Strafprozess. Knapp dreißig Jahre später sollte Engel, jetzt verheiratet mit Meineke Böddeker, erneut wegen des Hexenlasters näher in den Blick genommen werden. Aus dem Indizienkatalog geht hervor, dass gegen ihren Vater bereits 1621, also zehn Jahre vor der großen Verfolgungswelle von 1631, eine Denunziation vorlag. Über den weiteren Verlauf ist nichts bekannt, da die Akte nicht erhalten geblieben ist. Das Hexengerücht um Engel Hinte wurde 1657 aktualisiert, als die Besessenen in Fürstenberg sie als Hexe ausriefen. Zudem sei im Dorf schon lange bekannt, dass sie den Lorck habe. Als Engel schließlich gestand, in Thönies Grothens Haus das Zauberlaster erlernt zu haben, wurde sie am 05. Juli 1658 als Hexe hingerichtet. Dasselbe Schicksal ereilte ein Jahr später ihren Neffen Johann, den Sohn ihres Bruders Meineke Hinte vulgo Möller, dem nachgesagt wurde, eine enge Beziehung zu seiner Tante Engel gehabt zu haben. Nach mehrfacher Besagung durch Agatha Brielohn, Zenzing Buschmann und Freda Sommer wurde schließlich gegen ihn ein Verfahren am 29. August 1659 eröffnet. Nach kurzer Folter gestand er, das Hexenlaster erlernt zu haben, damit aus ihm ein ansehenlicher kerl 1503 werde. Sein Wunsch nach einem schöneren Erscheinungsbild scheint nicht grundlos gewesen zu sein: Denn in den Denunziationen der Hexen und Hexer heißt es stets über Meineke Hintens Sohn, der dickoppe oder der mit dem dicken Kopfe. Diese Angaben lassen den Rückschluss auf eine körperliche Deformation zu. Als seinen Lehrmeister gab Johann seinen Vater an, der ihm das Hexen unter einem Apfelbaum gelehrt habe. Jedoch begann er in seinen Aussagen zu schwanken, als sein Vater das Gerichtspersonal darum bat, daß er bey seinem sohn kommen vndt den Lehrmeister wißen möchte. Ist solcheß auß gewißen erheblichen vrsachen zugelaßen vndt In Hr. Richterß 1500 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage von Hans Schetter am 18.06.1658. 1501 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 07.05.1631. 1502 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. Mai 1631. 1503 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 359 stüben vor Ihme komme laßen, da dan der sohn gesagt[: ] hertzlicher vatter vndt zu wanckeln angefangen, sagendt daß Mettgen hette daß gesagt, darauff hette erß auch gethaen, Item hetteß auff der straßen gehört 1504 . Schließlich nannte Johann seine Tante Engel als Lehrmeisterin und ließ seinen Vater aus der Denunziationsliste streichen. Das Gericht gewährte ihm diesen Wunsch. Nach seinem Geständnis wurde er des Zauberlasters für schuldig erkannt und verbrannt. Johanns Denunziation war jedoch nicht aus der Luft gegriffen. Wie eine Hexenprozessakte gegen seinen Bruder Hermann aus dem Jahr 1687 belegt, war ihr Vater seit geraumer Zeit im Dorf als Werwolf verschrien. Ihm wurde nachgesagt, Er hette ein stück vom zerrißenen Eßel annoch in seinem halße [stecken], vermutlich weil er sich häufig räusperte oder einen geschwollenen Kehlkopf hatte. 1505 Trotz der Lykanthropie- Vorwürfe wurde gegen ihn kein Hexenprozess eingeleitet. Anders verhielt es sich bei seinem Sohn Hermann. Er wurde angeklagt, sowohl von väterlicher Seite als auch durch die Familienlinie seiner Mutter von einem Hexengeschlecht abzustammen. Seine Mutter stamme ursprünglich aus Radlinghausen und sei dort für eine Hexe gehalten worden. Zudem sei Hermann, nachdem er von seinem Hexengerücht erfahren habe, zweimal flüchtig gewesen. Weitere Informationen sind dem Protokoll nicht zu entnehmen, da es lediglich als Fragment erhalten geblieben ist. Es bleibt allerdings anzunehmen, dass Hermann Möller nicht wegen des Zauberlasters verurteilt, sondern der Auftakt zum Hexenprozess nach der Befragung der Zeugen und des vermeintlichen Delinquenten abgebrochen wurde. Mit Hermann Möller vulgo Schwarte brechen die Gerichtsaktivitäten gegen die Hinte-Familie ab. In der letzten großen Verfolgungswelle von 1700 bis 1703 sollte kein Mitglied der Hinte-Familie mehr in den Reihen der Hexenprozessopfer vertreten sein. Tabelle 11.5: Familie Hinte vulgo Möller Zeit Fälle 1601 Der Alte Hinte † ; Grete Hinte α 1621 Ehemann der Grete Hinte α 1631 Grete Hinte β ; Engel Hinte β 1658/ 59 Engel Hinte † ; Meineke Hinte vulgo Möller α ; Grete Hinte, Meineke Möllers Frau α ; Johann Hinte vulgo Möller † 1687 Hermann Hinte vulgo Möller vulgo Schwarte β Legende: † Hinrichtung α Denunziation β Prozess 1504 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Protokoll vom 01.09.1659. 1505 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 77 r . 360 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze 11.1.6 Familie Schweins Aus welcher beruflichen Tätigkeit, welchen charakteristischen oder anatomischen Merkmalen sich der Nachname „Schweins“ 1506 herleitete, ist aus dem untersuchten Quellenmaterial nicht ersichtlich. Vermutungen, ob sie den Beruf des Metzgers oder Schweinezüchters ausübten, würden zwar plausible Erklärungen für ihre Namensgebung liefern, müssen jedoch aufgrund mangelnder Beweise ins Reich der Spekulationen verbannt werden. Lediglich aus einer Randbemerkung von 1701 geht hervor, dass ein Johann Schweins als Zimmermann und schatilgers tätig war. 1507 Die ersten Angaben über die Familie Schweins befinden sich im Scheffel-Heuer- Register von 1595 bis 1602. Insgesamt werden hier vier Familienmitglieder genannt: Thönies, Johann, Jost und Hans Schweins. Gemäß ihrer Kornabgaben an die Herren von Westphalen zählten sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts zur sozialen Mittelschicht. 1508 Jedoch sollte die Familie achtzig Jahre später zu Großbauern aufsteigen, wie ein Blick in die Flurbücher bestätigt: 1684 besaß Henrich Schweins insgesamt 40,5 Morgen Land und war damit nahezu auf derselben Besitzebene wie die Familie Vahlen und Schäfer angesiedelt. In Anbetracht ihres Landreichtums ist es nicht verwunderlich, dass sie im Dienst der Herren von Westphalen tätig waren: So war beispielsweise Johann Schweins senior 1658 in das Amt des Zehntsammlers gewählt 1509 und ein Johann Schweins junior, vermutlich sein Sohn, 1693 zum Schöffen ernannt worden. 1510 In zahlreichen Bescheinigungen für Landverkäufe werden sie zudem als Zeugen genannt oder selbst als Verkäufer erwähnt. 1511 Ihr wirtschaftlicher Wohlstand kommt indes noch an anderer Stelle zum Ausdruck, nämlich durch ihre innerfamiliäre Heiratspolitik. Exemplarisch sei hierfür das Verwandtschaftsnetz zur Familie Hencken herangezogen. Nachweislich ab den 1650erbzw. 1660er-Jahren bestand ein verwandtschaftliches Band zwischen den Schweins und Hencken, 1512 als Goerdt Hencken die Tochter des Hermann Schweins, Anna, geehelicht hatte. 1513 Weitere Beziehungslinien der Schweins-Familie lassen sich zu 1506 Die Familie Schweins ist nicht zu verwechseln mit der Familie „Vierfueß“, die mit der Familie Schweins verwandt war. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 199 r . 1507 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 94 r . 1508 Johann Schweins leistete 14 Scheffel an Korn und Thönies bis zu 8 Scheffel. Beispielhaft LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 497 v und 499 v . 1509 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung am 22.07.1658. 1510 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 44 r . 1511 Hierzu nur eine kleine Auswahl an Quellenverweisen: LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 47 r , 66 v , 73 r und 81 v etc. 1512 Die Witwe von Goerd Hencken hatte im Jahr 1684 45 Morgen Land zu verzeichnen. 1513 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 42 r . 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 361 den Stüwers, Böddekers, Neukirchs und Wegeners 1514 nachzeichnen. 1515 Zumindest die drei erstgenannten „Sippen“ konnten in ihrer Familiengeschichte Angehörige nachweisen, die in obrigkeitlichen Diensten tätig waren: Henrich Stüwer und Hermann Böddeker hatten beispielsweise 1658/ 59 das Schöffenamt inne, und Henrich Neukirch besetzte zu Beginn der 1630er-Jahre die Position des Gerichtsvorsitzenden in Fürstenberg. Obwohl in den vorliegenden Gerichtsprotokollen keine näheren Angaben zur politischen Karriere der Familie Wegener auffindbar sind, gehörte sie nachweislich zur sozialen Oberschicht: Mit 75,5 Morgen Landbesitz waren sie in der Rangliste der Familie Henckel dicht auf den Fersen. 1516 Mit diesen groben Verwandtschaftsangaben ist allerdings eine Rekonstruktion der Beziehungslinien dank ausreichender Hinweise im Quellenkorpus noch nicht erschöpft. Bei einer näheren Betrachtung der Hexenprozessakten werden weitere Verwandtschaftsbeziehungen zu den übrigen Deüffelskindern sichtbar: Mit den Familie Brielohn, Budden und Schlunß waren Bindungen qua Heirat vorhanden, 1517 und zu der Familie Hinte bestand zumindest ein Nachbarschaftsverhältnis. 1518 Da die ersten beiden Familien bereits in den vorhergegangenen Kapiteln eingehend erörtert wurden, soll an dieser Stelle der Verweis auf ihre Zugehörigkeit zur sozialen Mittel- und Oberschicht genügen. Dieser Befund gilt nebenbei bemerkt auch für die Familie Schlunß, deren Landvermögen sich im ausgehenden 17. Jahrhundert auf 58 Morgen belief. 1519 Von den genannten Familienzweigen sei der Konnex zur Familie Brielohn kurz hervorgehoben: Bezeichnenderweise fängt deren Verwandtschaftsnetz unmittelbar nach der Hinrichtung von Meineke Brielohn an. So heiratete Kersting Schweins die Witwe des Meineke Brielohn, Enneke Schulß, und erkannte deren gemeinsame Tochter Elsche offiziell als Stieftochter an. 1520 Wie bei den vorherigen Untersuchungen zu den Deüffelskindern ist auch für die Schweins-Familie der Befund festzuhalten, dass sie in den Akten der Niedergerichtsbarkeit nicht auffallen. Neben dem bereits erwähnten Streitfall zwischen Thönies 1514 Im Jahr 1631 sollte ein Hexenprozess gegen Trine, Meineke Wegeners Frau eröffnet werden. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatiertes Schreiben des Fiskals. Ebenso wurden Christoff Wegener 1671 und Johann Wegeners Frau Trina 1687 mit dem Hexengerücht strafrechtlich konfrontiert. Jedoch liegen zu den Fällen keine einzigen Akten vor, sodass auf eine Rekonstruktion der Familiengeschichte verzichtet werden muss. Allerdings sticht auch hier der transgenerative Vererbungsgedanke deutlich hervor. 1515 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 266 r . 1516 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 11 v . 1517 Thönies Schweins war 1686 mit Clara Stüwer verheiratet, die eine Schwester der Elisabeth Koch war. Damit ist auch eine Verbindungslinie zur Familie Budden geschaffen worden, denn von Elisabeth ist aus den Hexenprozessakten bekannt, dass sie die Schwägerin und gleichzeitig ein Opfer eines Schadenszauberanschlages von Elsche Budden war. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 76 r . Zu den nächsten Anverwandten der Elisabeth Wegener zählten auch Mitglieder der Familie Schweins. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 266 r . 1518 Hermann Möllers Hausstätte lag zwischen Jacob Schmidts und Caspar Schweins Haus. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 268 r . 1519 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 12 r . 1520 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 81 r . 362 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Schweins und Johann Springer wegen eines beschädigten Gartens 1521 sind keine nennenswerten Vorfälle aus ihrer Familiengeschichte bekannt, die einen Hinweis auf ein ausgeprägtes Devianzverhalten geben würden. Selbst der vor Gericht ausführlich behandelte Konflikt zwischen den genannten Parteien kann nicht zum abweichenden Verhalten gezählt werden, da sich die Handlungen im Rahmen der innerdörflichen Konfliktregulation bzw. -eskalation bewegten. Außer diesem verzeichneten Vorkommnis erging gegen Johann Schweins junior eine Klage wegen Widersetzlichkeit, keine Einlieger anzuheuern oder bei sich wohnen zu lassen, 1522 und 1706 reichte Elsabein Freitag wegen bestehender Erbschaftstreitigkeiten bei Gericht eine Klage gegen Jost Schweins vulgo Schlunß ein. 1523 Mit diesen Beispielen endet auch die namentliche Erwähnung der Familie Schweins in den „normalen“ Prozessakten. 1601 wurde die Familie Schweins zum ersten Mal in Verbindung mit dem Hexenlaster gebracht. Dies betraf die angeheiratete Ilse Bremer und ihre Tochter Göcke, teilweise in den Akten auch Gölcke geschrieben. Die Denunziation ging von Frya Stuffer aus und bildete damit den Grundstein für weitere Denunziationen. Während Mutter und Tochter in der ersten Verfolgungswelle von einem Strafverfahren verschont blieben, wurde 1631 Gölcke Schweins, die auch mit dem Beinamen „Becker“ gerufen wurde und ergo auch mit der Familie Vahlen verwandt war, 1524 der Hexerei halber ex officio angeklagt. Während der Voruntersuchung gab Gölcke bereitwillig zu, dass ihre bereits verstorbene Mutter gezaubert und ihr Vater sich über ihr Dahinscheiden gefreut habe. Den Vorwurf, selbst eine Hexe zu sein, lehnte sie zunächst strikt ab, stimmte jedoch im Laufe des Verfahrens den vom Fiskal erhobenen Anklagepunkten zu und gab ihre Mutter als Lehrmeisterin an. Auf Basis ihres Geständnisses wurde sie von Rechts wegen zum Tod durch Enthauptung verurteilt. Ausschlaggebend für den Schuldspruch war eine Aussage der Gölcke, die nicht Bestandteil des Indizienkataloges war und die sie aus sich selbsten heraus gemacht habe. Gölcke bezichtigte sich folglich selbst der Hexerei, als sie dem Richter angab, zusammen mit dem angeklagten Goert Nüthen für das verheerende Unwetter verantwortlich gewesen zu sein, das hieselbsten vor 15. Jahren viell wieder auffgebauter heuser, abgeworffen vndt zu nicht gemacht vndt woll vber 1000 Rthlr. schaden zugewant 1525 . Mit der Hinrichtung Gölckes sollten die Hexereivorwürfe nicht abbrechen. Der Inquisit Johann Diethrich vulgo Israel 1526 beschuldigte die Frau von Jesper Schweins, die Geschirrutensilien für das Bankett auf dem Hexensabbat zu verwahren. Zusätzlich gab er die bereits hingerichtete Gölcke Schweins als seine Lehrmeisterin an. Im Verlauf des Verfahrens widerrief Israel seine Denunziation bezüglich Jesper Schweins’ Frau 1521 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 16 r-v . 1522 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 33 r . 1523 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 259 v . 1524 Henrich Vahlen wurde auch der Becker genannt. 1525 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht vom 28.06.1631. 1526 Es bleibt zu spekulieren, ob Johann Diethrich jüdischen Glaubens war oder ihm lediglich ein klischeehaftes jüdisches Verhalten nachgesagt wurde. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 10.07.1631. 11.1 Fallbeispiele - der „innere Ring“ 363 und dessen Stieftochter. Das Gericht erlaubte die Revokation und stellte der Familie Jesper Schweins ein Schriftstück aus, das ihnen ihre Unschuld attestierte. 1527 In der Verfolgungswelle von 1631 sollte jedoch ein weiteres Mitglied der Schweins-Familie hingerichtet werden. Es bleibt die vage Vermutung, dass es sich bei dem Hingerichteten um den Ehemann oder zumindest um einen nahen Verwandten der Gölcke Schweins handelte, der zusätzlich den Beinamen Boddeker (Böddeker) trug. Gemeint ist der Fall des Meineke Böddekers, der laut einer Klageschrift seiner hinterbliebenen Kinder auch Meineke Schweins genannt wurde. 1528 Der nähere Prozessverlauf und die im Protokoll erhaltenen Beschuldigungen können hier nicht näher ausgeführt werden, da die Akte nicht vollständig erhalten geblieben ist. Im Aktenkonvolut ist lediglich der Fragekatalog für die Collectores enthalten, der jedoch nicht viele Informationen für eine fundierte Rekonstruktion des Prozessgeschehens enthält. Lediglich seine sonderbare Gemeinschaft zu dem verdächtigen Goert Nüthen hob der Fiskal als Anklagepunkt hervor, da er diesen 6. jahr vnten [in] seinem[,] Meinekens[,] keller gelegen vndt beherbergett habe. 1529 Meineke Böddekers vulgo Schweins’ Hinrichtungsdatum ist unbekannt. 1530 Die Verfolgung sollte 1658 fortgesetzt werden. Dieses Mal richtete sich der Hexereiverdacht gegen eine weitere Gölcke Schweins, bei der es sich höchstwahrscheinlich um die Tochter der 1631 hingerichteten Gölcke Schweins handelt und die nach ihrer Mutter benannt worden war. Allerdings verstarb Gölcke vor der Prozesseröffnung. Die Verdachtsmomente gegen sie wogen allerdings so schwer, dass das Gericht trotz ihres Dahinscheidens eine Zeugenbefragung post mortem durchführte, um Gewissheit über ihre mala fama zu erlangen. Ausschlaggebend für die Erhärtung des Verdachts war eine wort wexellung zwischen Gölcke und Henrich Kestorffs Frau. Kestorffs Frau hatte Gölcke auf Grieb (evtl. Greif) von Westphalens Hofe wegen noch ausstehender Geldschulden angemahnt. Gölcke erwiderte darauf, dass es unglücklich geldt sei. Diese Aussage interpretierte Kestorffs Frau als einen Ehrangriff, weswegen sie die Beleidigung mit dem entsprechenden Satz parierte: [...] würde ihr etwas Vbels nachgegeben [werden], da könte sie, vndt das geldt nicht[s] zu, das wehre sonst von ihrem geitz [ein] dorff geschrey [...]. Auf diese Bemerkung hin fingen die beiden Frauen an, sich gegenseitig Maul klappen zu versetzen. Jedoch bemerkte Kestorffs Frau alsbald, dass ihre beiden Arme ganz kraftlos wurden und an ihrem Körper schlaff herunterhingen. Diese Gelegenheit habe Gölcke genutzt, um ihre Kontrahentin vnter[zu]bekommen. Erst nachdem einige Zeit verstrichen war, konnte eine Magd die beiden „Streithennen“ voneinander losreißen. Neben dieser eigentümlich anmutenden Situation hatte Henrich Kestorff die verstorbene Gölcke im Verdacht, seine Pferde 1527 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Protokoll vom 30.07.1631. 1528 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief an die Herren von Westphalen, undatiert. 1529 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Fragekatalog vom 12.07.1631. 1530 Der am Einband des Quellenkonvolutes HS 117 verzeichnete Vermerk „12.07.1631“ bezieht sich auf den Prozessbeginn und nicht auf das Hinrichtungsdatum. 364 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze im Wert von 700 Reichstalern verhext zu haben, welche wunderbärliche krangheiten an sich gehabt, vndt sie zu arme leuthe gemachet 1531 . Auch ein Caspar Schweins, Sohn des Hermann Schweins, wurde von einigen Dorfbewohnern als höchst verdächtig eingestuft. So riefen Johann Dröppel und seine Frau Caspar als Hexer aus und scheuten auch nicht davor zurück, fremde[n] leute[n] ihre Meinung kundzutun. Nachdem Hermann Schweins eine Supplik bei den Adelsherren einreichte, wurden die Beklagten mit einer vierzehntägigen Gefängnisstrafe in speisung waßer vndt brot verurteilt. 1532 Die nächsten Verfolgungsopfer aus der Familie Schweins sollten in der letzten Hexenprozesswelle von 1700 bis 1703 zu verzeichnen sein. Erwähnt wird die Tochter der Gölcke Schweins, Anna, die bereits 1659 von Freda Sommer zusammen mit ihrer Mutter als Mölkentouversche besagt worden war. 1533 Außer dem Hinrichtungsjahr 1700 ist über den Prozessverlauf nichts in Erfahrung zu bringen, da die Akte nicht erhalten geblieben ist. Eine durch den Zahn der Zeit äußerst angegriffene Randbemerkung des Richters, die sich in der Prozessakte von Johann Grothen befindet, lässt die Vermutung zu, dass weitere Mitglieder der Familie Schweins in den Verdacht der Hexerei gerieten - ein Caspar und eine Engel Schweins werden namentlich erwähnt, wobei Caspar Schweins, Sohn des Caspar Schweins und der Magarete Heerdes, als Inquisitus bezeichnet wird. 1534 Jedoch liegen auch für diese Fälle keine weiteren Prozessakten vor. Für das Jahr 1702 ist allerdings nachzuweisen, dass der Sohn von der zwei Jahre zuvor hingerichteten Anna Schweins, Stoffel Hencken, dasselbe Schicksal wie seine Mutter ereilen sollte. Neben seiner Abstammung aus einem Hexengeschlecht wurde ihm zur Last gelegt, dass von mütterlicher Seite her seine Großmutter Gölcke Schweins bereits 1631 mit dem Hexenruf behaftet gewesen sei. 1535 Ausschlaggebend und als äußerst verwerflich betrachtete das Gericht seine Heirat mit Elsabein Stroeth, Enkelin der Elsche Budden, die 1701 als Hexe hingerichtet worden war. Stoffel Hencken sollte ein Jahr später ebenfalls als Hexer enthauptet werden. 1536 1531 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 13.07.1659. 1532 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Supplik des Hermann Schweins, ca. August 1658. 1533 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Denunziationen vom 22.08. und 28.08.1659. 1534 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 137 r . 1535 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 127 r . 1536 Nach fünf Jahren der Witwenzeit gab Elisabeth Wegener, zweite Ehefrau des als Hexer hingerichteten Christoff (Stoffel) Hencken, dem Gericht bekannt, dass sie gedenke, sich neu zu verheiraten. Zwecks Auszahlung des Erbes an die Kinder aus erster Ehe wurden deren negsten anverwandten dem Richter angegeben, darunter auch ein Jost Schlunß. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 265 v . 11.2 Fallbeispiele - der „mittlere Ring“ 365 Tabelle 11.6: Familie Schweins Zeit Fälle 1601 Ilse Bremer α ; Gölcke (Göcke) Schweins α 1631 Gölcke Schweins vulgo Becker † ; Jesper Schweins Frau α und seine Stieftochter α ; Meineke Böddeker vulgo Schweins † 1658/ 59 Gölcke Schweins β ; Anna Schweins α ; Caspar Schweins α 1700-1703 Anna Schweins † ; Stoffel Hencken vulgo Schweins † ; Caspar Schweins β ; Engel Schweins α Legende: † Hinrichtung α Denunziation β Prozess 11.2 Fallbeispiele - der „mittlere Ring“ 11.2.1 Familie Schlunß Der wohl bekannteste Sprössling aus dem Familienzweig der Schlunß ist der Barockbaumeister Johann Conrad Schlaun (∗ 1695, † 1773), der im 18. Jahrhundert eine gewisse Berühmtheit in Westfalen erlangte und dessen architektonischen Werke bis heute Bewunderung erregen. 1537 Weitaus weniger Bekanntheit erlangten hingegen seine Verwandten aus Fürstenberg. Im Gegensatz zum prominenten Architekten waren sie als Ackermänner tätig und nur entfernt mit Johann Conrad Schlaun durch verwandtschaftliche Bande verknüpft. Bereits zum Ausgang des 16. Jahrhunderts tritt die Familie Schlunß namentlich in den Quellen in Erscheinung. Genannt werden ein Meinolf (Menollf ) und Manuel Schlunß, die laut ihren Getreideabgaben an die Obrigkeit zur unteren Mittelschicht gezählt werden können. 1538 Ihr wirtschaftlicher Status sollte sich jedoch im Laufe des 17. Jahrhunderts zu ihren Gunsten verbessern: Besaßen sie 1672 noch 48 Morgen Land, konnten sie 1684 ihr Kapital auf 58 Morgen ausweiten und zählten damit zur Oberschicht in Fürstenberg. 1539 Ihr Landreichtum spiegelte sich auch in ihrem Hausbesitz wider: Im Jahr 1699 besaßen sie eine Wohnstätte mit einem Gesamtwert von 100 Reichstalern. 1540 Ihre Sozialzugehörigkeit zur Oberschicht wird an ihren Aktivitäten im Rahmen der Dorfpolitik ersichtlich: Jost Schlunß wurde 1665 mehrheitlich von der Gemeinde und unter Zustimmung der Herren von Westphalen in das 1537 Vgl. Nolte, Margret: Johann Conrad Schlaun 1695-1773. Ein Beitrag zur Familiengeschichte des Barockbaumeisters, in: Westfälische Zeitschrift - Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 130 (1980), S. 192-244. 1538 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 3 v . 1539 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 12 r . 1540 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 76 r . 366 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Amt des Dorfvorstehers gewählt. Zwanzig Jahre später sollte ihm Jost Wilm Schlunß, vermutlich sein Sohn, folgen. 1541 Trotz ihres materiellen Wohlstandes werden sie namentlich nicht als Donatoren für die Errichtung des Pastorats in den 1650er-Jahren genannt. Im Zusammenhang mit dem Befund, dass sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts gerade einmal zur unteren Mittelschicht gezählt werden können, ist zu vermuten, dass erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine beträchtliche Vermehrung ihres Landbesitzes erfolgte. In den Akten der Niederen Gerichtsbarkeit tauchen sie, abgesehen von diversen Kaufverträgen, Beglaubigungen, kleinen Erbschaftsstreitigkeiten sowie Vormundschaften, namentlich nicht nennenswert auf. 1542 Wie bei den übrigen Deüffelskindern ist ihnen im strafrechtlichen Sinne kein Devianzverhalten nachzuweisen: Zu Beginn des Jahres 1669 zeigten die Schütterer beispielsweise an, dass Jost Schlunß’ Stoppe unbeabsichtigt drei Zehntschöbe zunichte gemacht habe. 1543 1686 ließ die Frau des Oberwachtmeisters durch den Küster bei Gericht anzeigen, dass sie von Pickardt Schlunß ein Kalb kaufen wollte. Weil dieser aber gedachte, es selbst aufzuziehen, lehnte Pickardt den Handel ab. Indessen habe sie aber erfahren, dass Pickardt das Kalb ahn andere auß dem dorffe verkauft habe. Da sie sich einerseits um das Vieh betrogen fühlte, andererseits Pickardt Schlunß sein Wort nicht gehalten hatte, meldete sie den Vorfall bei Gericht. 1544 Neben diesen Bagatellen wird in den Hexenprozessakten ein Vorfall zwischen Emanuel Schlunß und Johann Papen kurz angeschnitten. Dem Anschein nach handelte es sich dabei um eine von Emanuel Schlunß ausgesprochene Beleidigung gegen Johann Papen. Er beschimpfte ihn als Zauberer und Werwolf. Johann, dessen Ehre es nicht erlaubte, diese Schmähworte ohne Verteidigung dahinstreichen zu lassen, zeigte ihn bei Gericht an. Der Richter sperrte Emanuel Schlunß im Zehnthaus ein, obwohl der Angeklagte sich mit den Worten entschuldigt hatte, er sei voll gewesen, hette ers gesagt, daß were ihm leidt 1545 . Bei der geschilderten Injurie handelte es sich jedoch um einen Einzelfall. Zu ihrem engeren Heiratskreis zählten neben den Familien Plattvoet, Sagenschneider, Droppel, Scheiffer und Reuter 1546 auffallend viele „Hexenfamilien“: so z. B. die Familien Vahlen, Grothen und Brielohn. Die direkte Verbindung kann erfreulicherweise dank eines erhalten gebliebenen Geburtsscheines anschaulich illustriert werden. So reichte am 23. Juni 1688 Annelsche Schlunß ein Dokument beim Gericht ein mit der Bitte, aus Fürstenberg wegziehen zu dürfen. Der genaue Wortlaut lautete wie folgt: 1541 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 33 v und 161 r . 1542 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 202 r , 259 v und LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 58 v , 60 r etc. 1543 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 82 r . 1544 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 175 v . 1545 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Anzeige vom 30.07.1663. 1546 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 169 r und LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 64 r . 11.2 Fallbeispiele - der „mittlere Ring“ 367 Erschiene Annelsche Schlunß[,] Hartman Voßes Ehefraw zum Meerhoffe[,] anzeigendt, wan nach In willenß daselbst nuhmer sich heüßlich Niderzusetzen vndt zu bawen, deßwegen Einigen schein geburt vndt Ehelichen herkommenß von Nöhten, so baet solches vmb die gebühr mittzutheilen. Ihr vatter Ist gewesen Pickardt schlunß, Ein schäffer. Ihre Mutter catharina grothen, der großvatter Johan schlunß[,] auch ein schäffer die großMutter. 1547 Die Verbindung zur Vahlen-, Brielohn- und Grothen-Familie war durch eine Heirat zwischen Clara Schlunß, Tochter des Zacharias Schlunß, und Thönies Vahlen vulgo Brielohn, Bruder des Henrich Vahlen, geschlossen worden. Das verwandtschaftliche Band zwischen den Familien wurde ferner durch gemeinsame Arbeitsdienste bekräftigt: So wird z. B. Clara Schlunß in den Hexenprozessakten häufiger der beckerschen magdt genannt. 1548 Eine geschäftliche Vertragsbeziehung bestand zudem zu der Buddenbzw. Schäfer- Familie: Am 24. März 1699 reichte Jost Schlunß eine Klage gegen seinen Bruder Johann Wilm Schlunß bei Gericht ein: Der Grund für den Konflikt waren noch ausstehende Zahlungen, die er auch in güte von demselben nicht erhalten könnte 1549 . So habe sein Bruder bey Engelbracht scheiffer vulgo budden 2. Jahr gedienet und verdienet im ersten Jahr 9. rthlr. und andern 11. rthlr. solches hette sein bruder all genoßen, und Ihme nichts davor refundirt [...]. Schließlich konnte Johann Wilm Schlunß zu einer Rückzahlung bewogen werden. Die Familie Schlunß wurde zum ersten Mal im Jahr 1601 im Zusammenhang mit dem Hexenlaster genannt. Gretha Butterfeindes gab an, Meineke Schlunß’ Frau auf dem Hexensabbat gesehen zu haben. 1550 Allerdings blieb diese Anschuldigung ohne weitere strafrechtliche Konsequenzen - ein Hexereiverfahren wurde gegen sie nicht eingeleitet. Zu erneuten Hexengerüchten um vereinzelte Mitglieder der Schlunß-Familie sollte es in den Jahren von 1659 bis 1662 kommen, jedoch ohne Initiierung eines Hexenprozesses von Rechts wegen. Das „Hexengeschrei“ begann mit Clara Schlunß, Enkelin der Elsche Budden und Magd bei ihrer Großtante, die Beckersche (Anna Grothen), die bereits von mehreren hingerichteten Personen als Hexe denunziert worden war. Ein neues Aufflammen des Hexereiverdachtes entstand jedoch mit dem Gerücht, Clara habe Inzest mit dem Sohn ihrer Großtante, der Beckerschen, getrieben und sei infolgedessen schwanger geworden. Ferner wurde ihr vorgeworfen, das Kind heimlich verbracht, also abgetrieben zu haben. Um Gewissheit über den Sachverhalt zu erlangen, befragte das Gericht mehrere benachbarte weiber, ob sie die Angeklagte mit einem großen 1547 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, 29 r . Es bleibt zu spekulieren, ob mit der Bezeichnung schäffer der Beruf oder die verwandtschaftliche Nähe zu der Familie Scheiffer gemeint war. Letztere Annahme scheint wahrscheinlicher, weil Pickhardt Schlunß gemäß dem Kataster von 1684 mit 58 Morgen Land zur Oberschicht zählte. 1548 Zenzing Buschmann bezeichnete sie am 01.08.1659 in seiner Denunziation in dieser Form. Ebenso Freda Sommers am 28.08.1659. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1549 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 76 r . 1550 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht der Gretha Bitterfeindes am 12.08.1601. 368 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze vngewöhnlichen leib gesehen hätten und dieser plötzlich kleiner geworden sei. Ob sie ihnen bleich und schwach erschienen sei? Sunsten auch vorhin einige fleißliche leichtfertige geberden vndt sonderlich extraordinari familiarität mit dem vermeinten thätter gehabt[? ] Und schließlich die bedeutende Frage, ob man verspürt habe, dass sie eine Person sei, gegen die man sich des verdachts zu versehen habe 1551 . Neben dem Vorwurf des Aborts galt sie der Hexerei wegen als höchst tatverdächtig, da sie von einem Hexengeschlecht abstammte. Denn ihre Großmutter war eine Schwester der Anna Grothen vulgo die Beckersche, womit ein begründeter Verdacht gegen Clara bestand. Ihr Vater Zacharias Schlunß und ihr Schwager Henrich Vahlen versuchten noch vergeblich, eine Klage gegen unberechtigte Verleumdungen einzureichen. Weil sie allerdings von zwei hingerichteten Personen denunziert worden war, musste das Gericht nach Bestimmung der Carolina den Vorwürfen nachgehen. Trotz aller Indizien, die augenscheinlich gegen die Unschuld der Angeklagten sprachen, und obwohl Clara sogar ein Geständnis abgelegt hatte, wurde die Abtreibung nicht in Zusammenhang mit dem occultis circumstantibus delicti gebracht und gegen sie kein Strafverfahren wegen Hexerei eröffnet. Jedoch sei sie wegen nachgewiesener geburtß abtreibungh und gestandenem Inzests (Blutschande) [...] mitt ruthen außzustreichen vndt deß gerichtß auff ein Zeittlangh zu relegiren von rechtenß wegen 1552 . Zwei Jahre später nahmen die Hexengerüchte offenbar erneut um Clara Schlunß zu. Das Justizpersonal leitete eine Voruntersuchung ein, um die Haltbarkeit der Vorwürfe zu überprüfen. Die Anklage wegen vermuteter Hexerei wurde zwar fallengelassen, jedoch hat es den Anschein, dass Clara erneut wegen nachgewiesener Abtreibung verurteilt wurde. 1553 Im Jahr 1663 sollten weitere Hexenanschuldigungen im Dorf über ein angeheiratetes Familienmitglied der Schlunß kursieren: Dieses Mal traf es die Stieftochter von Jost Schlunß, Catharina Kempers, die von Henrich Stüwer bezichtigt wurde, ihn mittels eines mit Kröten (Hülken) verschmutzten Bieres vergiftet haben zu wollen. Auch wenn Henrich Stüwer später seinen Vorwurf 1554 mit der Entschuldigung: solte gescholden haben, dafür behuete Ihn Gott, wüßte von den leüthen nicht[s], alß alles gute 1555 vor Gericht zurücknahm, wurde der Hexereiverdacht nach über zwanzig Jahre von Neuem gegen Catharina aufgegriffen. Offenbar konnte sie jedoch die Anklagepunkte mit ihren Responsiones zurückweisen, sodass keine Hauptuntersuchung eingeleitet worden ist. 1556 Weitere dreizehn Jahre später flammte das Hexengerücht um Catharina neu auf. Dieses Mal wurde der Hexereivorwurf mit weiteren 27 Anschuldigungen gekoppelt. 1551 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Antonius Bergh vom 20.04.1660. 1552 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Beschluss des Antonius Bergh. 1553 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Wilhelm von Westphalen am 02.03.1662. 1554 Der Gerichtsschreiber vermerkt, dass es sich bei dem Vorwurf um keine Injurie gehandelt habe. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Bescheid vom 30.07.1663. 1555 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Klage vom 30.07.1663. 1556 Siehe hierzu den Einband von HS 117. 11.2 Fallbeispiele - der „mittlere Ring“ 369 Wie bei den anderen Fallbeispielen legte das Gerichtspersonal auch ihr den „Abstammungsmakel“ zur Last: Weil ihr Stiefvater sich mit der verschrienen Greta aus Hegensdorf verheiratet hatte, stand auch Catharina aufgrund ihrer Familienzugehörigkeit latent unter Hexereiverdacht. 1557 Neben dem genealogischen Aspekt bestätigte Catharinas Heirat mit einem Mann aus der Schlunß-Linie den Verdacht: Sie ehelichte Jost Schlunß, Bruder des hingerichteten Johann Wilm Schlunß, 1558 der vermutlich 1700 oder 1701 vom Gericht als Hexer verurteilt wurde. 1559 Aus der Akte des Johann Grothen geht ebenfalls hervor, dass seine Mutter Anna Schlunß vulgo Huffs und ihre Schwester Lieseke Huffs als Hexen denunziert wurden. Neben dem familiengeschichtlichen und dem konjugalen Band zur Hexenfamilie wurde Catharina Schlunß vulgo Kepper 1560 ferner zur Last gelegt, dass aus ihrer Wohnstätte des Nachts ein heller Schein ausgegangen sei, und obwohl die Hühner im Haus mit einem geschrey herumgeflogen, sei sie nicht aufzuwecken gewesen. 1561 Zudem beschuldige sie ihre Stieftochter, kein Bier mehr brauen zu können. 1562 Insgesamt wurden über zwanzig Zeugen zum Fall der Catharina Schlunß vulgo Kepper befragt. Schließlich erklärte das Gericht die Inquisitin des Hexenlasters für schuldig, woraufhin sie hingerichtet wurde. 1563 Tabelle 11.7: Familie Schlunß Zeit Fälle 1601 Meineke Schlunßes Frau α 1659 Clara Schlunß α 1660/ 62 Clara Schlunß β 1687 Catharina Schlunß vulgo Kempers β 1700-1703 Johann Wilm Schlunß † ; Catharina Schlunß vulgo Kempers † ; Anna Schlunß vulgo Huffs α ; Lieseke Huffs α Legende: † Hinrichtung α Denunziation β Prozess 1557 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 138 r-v . 1558 Aus einer Supplik an das westphälische Samtgericht geht hervor, dass beide Brüder waren. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 76 r . 1559 Die Prozessakte des Johann Wilm Schlunß ist nicht erhalten geblieben. Seine Verurteilung geht lediglich aus einer Randbemerkung des Indizienkatalogs gegen Stoffel Hencken hervor. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 127 v . 1560 In zweiter Ehe war Catharina mit einem Jasper Kepper verheiratet. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 138 r . 1561 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 139 r . 1562 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 139 r . 1563 Außer dem Indizienkatalog liegen keine weiteren Dokumente über den Verlauf und Ausgang des Prozesses vor. Ihre Hinrichtung wird lediglich als Marginalie in einem anderen Prozessfall erwähnt. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 127 v . 370 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze 11.2.2 Familie Saurhagen Für die Familie Saurhagen ist in den untersuchten Quellen kaum etwas über ihre wirtschaftliche oder soziale Position in der Gemeinde Fürstenberg zu erfahren. Wird die Suche auf das Stichwort „Saurhagen“ beschränkt, geht aus dem ausgewerteten Archivmaterial lediglich hervor, dass die Familie an der Schwelle zum 17. Jahrhundert in Fürstenberg ansässig war. Im Scheffel-Heuer-Register von 1595 bis 1602 ist ein gewisser Hermann Saurhagen (Surhagen) verzeichnet, der gerade einmal eine geringe Summe von fünf bis sieben Scheffel Getreide an die Obrigkeit leistete. 1564 Mit diesem Befund wären die Saurhagen augenscheinlich zur dörflichen Unterschicht zu zählen. Wird die Vermutung als richtig vorausgesetzt, scheint die Familie im Laufe der Jahrzehnte zur Mittelschicht aufgestiegen zu sein. Explizite Erwähnungen sind in den Katastern von 1672 und 1684 zu finden, in denen ihr Landbesitz mit 17 bzw. 18,5 Morgen Land verzeichnet ist. 1565 Zusätzlich dokumentiert eine Schätzung des Hauses von Johann Caspar Saurhagen von 1705 ihren Wohlstand. Die Schöffen veranschlagten den Sachwert der Wohnstätte mitsamt Miststätte, Keller und anliegendem Garten auf 65 Reichstaler. Die Höhe des Gesamtwertes wurde dabei wesentlich durch die Gartengröße bestimmt, weiln der garte 84. füße lang, vnd 47. breit [ist], [vnd] wan ein creutzfuß zu einen Rthlr. gerechnet würde, machte der garte[n] sechtzig drey Rthlr., der keller auch noch etzliche Rthlr. werth 1566 . Weitere Informationen, wie Angaben über die Ausübung von Ämtern oder Schenkungen an den Pfarrer etc., sind in den Quellen nicht überliefert. In den Gerichtsakten tauchen die Saurhagens in diversen Fällen als Zeugen bei Verkäufen, als Landnachbarn oder Augenzeugen in Unfallberichten auf 1567 - sporadische Hinweise, die zumindest den groben Rückschluss auf eine soziale Integration der Familie Saurhagen innerhalb der Gemeinde erlauben. Über ihre verwandtschaftlichen Bindungen liefern die niedergerichtlichen Akten keine Angaben. Ebenso liegen im Aktenband keine Informationen über ein markantes Devianzverhalten der Familie im strafrechtlichen Sinne vor. Lediglich die allgemein gehaltenen Bemerkungen des Gerichtsschreibers aus den Jahren 1670 und 1688, dass der Sohn des seligen Johann Arndt Saurhagen, Johann Caspar, die noch ausstehenden Schulden und Brüchte zahlen soll, weist auf eine eingereichte Klage gegen ein Familienmitglied hin. 1568 Die Lücke hinsichtlich des Familien- und Verwandtschaftsnetzes der Familie Saurhagen kann jedoch dank einer unscheinbaren Bemerkung, die sich in einer Hexenprozessakte befindet, zumindest partiell gefüllt werden und wirft gleichzeitig einen 1564 Beispielhaft LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 520 v . 1565 1672 sollte ein Johann Arndt Saurhagen (Soehagen) 17 Morgen Land und zwölf Jahre später ein Johann Ebert Saurhagen 18,5 Morgen Land besessen haben. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 4 v und 9 r . 1566 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 253 r . 1567 Eine kleine Auswahl an Schriftstücken befindet sich im LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 56 r , 60 v , 64 r , 70 r , 80 r etc. Ferner siehe LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 268 v . 1568 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, 186 r und 123 r-v . 11.2 Fallbeispiele - der „mittlere Ring“ 371 differenzierteren Blick auf deren zuvor konstatierte Schichtzugehörigkeit: Als gegen Johann Caspar Saurhagen 1702 ein Hexereiverfahren eröffnet wurde und zur Tortur geschritten werden sollte, bekannte er, das Zauberlaster von der sehl. stein Metzi grethen[,] deß hans henrichen sanders fraw, Anna Margaretha surhagen, seines sehl. vatters schwester [...] 1569 erlernt zu haben. Mit Johanns Aussage ist ein wichtiger Hinweis über die verwandtschaftliche Nähe der Familie Saurhagen zu den berüchtigten Deüffelskindern geliefert: Denn offenbar lag ein Teil der genealogischen Wurzeln des Johann Caspar Saurhagen bei dem Grothen-Geschlecht bzw. deren Familienangehörigen. Ob es sich bei seiner Tante, Anna Margaretha Saurhagen, um eine Tochter der hingerichteten Gretha Mentzen handelte, muss spekulativ bleiben - die starke Namensähnlichkeit spricht jedoch für die Richtigkeit der Annahme. Werden die Quellen zudem zwischen den Zeilen und gegen den Strich gelesen, bestätigt sich der oben genannte Verdacht: Nachweislich ab 1668 wird in den niedergerichtlichen Dokumenten die Familie mit dem Doppelnamen „Saurhagen-Arndt“ 1570 aufgeführt. Mit diesem Beinamen ist eine Verbindung zu der am 17. August 1601 hingerichteten Gretha Arndt (Arenken) geliefert, die bekanntlich eine Patin der ebenfalls verurteilten Hexe Gretha Butterfeindes war. Gretha Arndt zählte zur gehobenen Mittelschicht, da sie mit Hans Reuter verheiratet war, der im Jahr 1595 30 Scheffel Getreide an die Herren von Westphalen leistete, sein Verwandter Johann Reuter sogar 44 Scheffel 1571 . Die Beziehung zu der Familie Reuter scheint die Familie Saurhagen-Arndt über Jahrzehnte gepflegt zu haben: Als Thönies Reuters Pferd durch die Unachtsamkeit eines Knechts überfahren wurde, trat Johann Arndt Saurhagen als Zeuge für seinen Verwandten auf, damit ihm Schadensersatz zugesprochen wird. 1572 Mit diesem wichtigen Fingerzeig scheint die anfängliche Klassifizierung der Familie Saurhagen zur Unterschicht zumindest partiell hinfällig und muss korrigiert werden: Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ist nachweislich ein Familienzweig der Saurhagen der unteren Sozialklasse zugehörig. Dieser Befund scheint jedoch nicht für alle Familienmitglieder treffend zu sein. Auch hier ist wieder zu überlegen, ob im Fall des Hermann Saurhagen das lokale Anerbenrecht zu seiner Sozialposition führte. Die empirischen Befunde werden durch zusätzliche Hinweise in den Quellen gestützt, die erst im Licht dieser genealogischen und prosopgrafischen Verhältnisse an Logik gewinnen. So drohte Albert Sanders, Sohn der Anna Margaretha Saurhagen, in Bernd Buschmeyers Haus, dass über Fürstenberg bald ein Unglück hereinbreche 1573 . Über die Äußerung entsetzt, schlug ihn Stoffel Grothen, sein Verwandter, mit der Hand ins Gesicht. Vermutlich handelte Stoffel Grothen aus der Furcht heraus, die Familie könnte aufgrund dieser Bemerkung mit weiteren Hexenprozessen konfrontiert werden. Die mit dem Hexenstigma belastete Familiengeschichte der Saurhagens mag auch 1569 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 118 v . 1570 Beispielhaft LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 52 r und LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 20 r . 1571 LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., 491 v und 493 r . 1572 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 71 v . 1573 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 120 v . 372 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze einer der Gründe gewesen sein, warum Albert Sanders’ Großmutter Alheit (Alke) von den Besessenen 1657 geschlagen wurde, die sie mit dieser Handlung als Hexe kennzeichneten. 1574 Alheit Saurhagen war auch Opfer mehrerer Denunziationen in den Verfolgungswellen von 1658/ 59 - Agatha Budden, Zenzing Buschmann und Johann Möller hatten sie als Tanzgenossin am Hexensabbat besagt. Die Saurhagens sollten allerdings erst in den letzten Jahren der großen Verfolgungswelle von 1700 bis 1703 wegen vermuteter Hexerei strafrechtlich belangt werden. Den Auftakt bot der Hexenprozess gegen Johann Caspar Saurhagen. Bei einer vom Hexenkommissar später durchgeführten Befragung des Delinquenten bezüglich seiner Eucharistie-Kenntnisse fiel der lokalen Hexenjustiz auf, dass der Inquisit nichten mahl gewußt [habe][,] gebührender weise das Zeichen des heiligen Creutz zu machen, vndt alß umb gebett der kirchen gefraget worden, hat nicht zu antwortten gewußt oder wollen [...] 1575 . Johann Caspar wurde am 31. Juli 1702 wegen erwiesener Hexerei hingerichtet. Beinahe ein Jahr später geriet sein Neffe, Albert Sanders, in die Mühlen der Hexenjustiz. Ihm wurde ausdrücklich zur Last gelegt, mütterlicherseits aus einer „Hexensippe“ zu stammen. In den gegen ihn aufgeführten Inditionalen wird besonders betont, dass er bis zum Tod seiner Mutter im Jahr 1683, also bis zu seinem 33. Lebensjahr, bei ihr gelebt habe, obwohl sein Vater seine Ehefrau öffentlich für seine Lahmheit und Verkrüppelung verantwortlich gemacht habe. Zum Zeitpunkt des Hexenprozesses muss Albert folglich über fünfzig Jahre gewesen sein. 1576 Als Eingeständnis seiner Schuld wurde zusätzlich Alberts Fluchtversuch aus dem Zehnthaus gewertet, indem er die schlößer zerbrochen, sich gelöset vndt oben auffm balcken 1577 versteckt hatte. Zuvor war Albert insbesondere durch seine gesellschaftlich inakzeptablen Angewohnheiten aufgefallen, die er offenbar als Soldat im Krieg erlernt hatte. So klagte ihn der Fiskal mit den Worten an: wahr [daß] inquisitus ein liederliches[,] gottloeßes vnd desperat ärgerlich leben führe in freßen[,] sauffen[,] äußig gehen[,] sich schier bey einem Jeden worth dem teuffel ergebe 1578 . Albert Sanders wies diese Vorwürfe mit der Begründung zurück, dass das soldaten leben einem so an[hinge], wehre ein angewohntes werck 1579 . Wie der Prozess gegen ihn ausging, ist nicht bekannt. 1574 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 119 v . 1575 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 117 v . 1576 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 120 r . 1577 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 121 v . 1578 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 120 v . 1579 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 115 r . 11.2 Fallbeispiele - der „mittlere Ring“ 373 Tabelle 11.8: Familie Saurhagen vulgo Arndt Zeit Fälle 1601 Gretha Arndt (Arenken) vulgo Reuter † 1658/ 59 Alheit Saurhagen α ; Anna Margaretha Saurhagen α ; Gretha Mentzen † (? ) 1700-1703 Anna Margaretha Saurhagen α ; Johann Caspar Saurhagen † ; Albert Sanders β Legende: † Hinrichtung α Denunziation β Prozess 11.2.3 Familie Böddeker Der Name „Böddeker“, bei dem unklar ist, ob er auf die Wüstung „Böddeken“ als Herkunftsort oder auf das in der Nähe zu Fürstenberg liegende Kloster Böddeken verweist, taucht in dem Scheffel-Heuer-Register von 1595 bis 1602 gleich mehrfach auf: Ein Michel, Henrich, Meinhart und Jost lebten zum Ende des 16. bzw. zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der Gemeinde Fürstenberg und zählten laut Abgabeverzeichnis zur Mittelschicht. 1580 Diese wirtschaftliche Position sollten sie auch noch in den kommenden Jahrzehnten beibehalten, wie die zeitgenössischen Flurbücher nahelegen: Ihr Landbesitz maß zwischen 22,5 und 24,5 Morgen Land. 1581 Über ihr Wirken und Schaffen innerhalb der örtlichen Dorfpolitik liegen zwar nur spärliche Informationen vor, die jedoch eindeutig ihre soziale Integration widerspiegeln: So war ein Johann Jost Böddeker für den Obristwachtmeister tätig, 1582 Rembert Böddeker stand als Schäfer im Dienst des Wilhelm von Westphalen, 1583 und Hermann Böddeker war im Schöffendienst tätig. 1584 Ein gewisser Hans Böddeker wurde aktenkundig, weil er der Witwe von Kallenberg, geborene Westphal, ein krankes Pferd verkauft hatte. Als das Pferd schließlich zehn Tage nach dem Verkauf verstorben war, klagte die Westphalin bei Gericht, Hans solle ihr Restitution leisten, da der Handel nicht rechtens gewesen sei. Diverse Zeugen wurden daraufhin vor Gericht geladen, die die gesundheitliche Konstitution des Tieres beschrieben. Obwohl Hans Böddeker das Pferd gerühmet habe, daß es ein guet Pferdt [sei] auch für alle Mängel guet zu sein versprochen, sei es doch für gänzlich vntauglich befunden worden: Man habe es kaum ein tag Oder drey vor den Pflug treiben können[,] auch Etliche tage 1580 Beispielhaft LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 491 r , 497 r , 497 v und 499 v . 1581 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, 5 r und 12 v . 1582 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 151 r . 1583 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 19 r . 1584 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 77 r . 374 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze selb sechst vor den wagen, do hetten sie ihn Müßen stehen laßen vndt nicht mehr fortt bringen können 1585 . Zudem habe es am gesamten Körper Knoten und Würmer gehabt. Hans Böddeker, dessen Reputation wegen der Anschuldigungen in Gefahr war, stellte vor Gericht Gegenzeugen auf, die beglaubigten, dass das Pferd erst durch die Knechte der Westphalin in einen solch schlechten Gesundheitszustand gebracht worden sei: So sei das Maul des Tiers entzweigerissen, schwarz und faulig gewesen. Die Witwe bestand jedoch auf der Richtigkeit ihrer Aussage, und Hans Böddeker wurde gerichtlich aufgefordert, ihr ein anderes Pferd zu geben oder das Geld für das verstorbene zurückzuzahlen. In nicht weiter nennenswerten Delikt- und Konfliktfällen tauchen die Namen diverser Böddekers auf: So wurden beispielsweise Hermann und Henrich Böddeker zwei Gänse und ein Schwein gestohlen. 1586 Zu einem handfesten Streit kam es zwischen Rembert Böddeker und Jost Wegener, bei dem sich beide Kontrahenten schließlich Eier an die Köpfe schlugen, 1587 und zuletzt wird in den Protokollen von Hans Böddekers Tochter berichtet, die die Köchin des seligen Elmerhaus von Westphalen Im vorbey gehen als weißäugige Maer beschimpft hatte. Trotz gerichtlicher Vorladung, erschien Böddekers Tochter nicht, und der Fall wurde rechtlich nicht weiterverfolgt. 1588 Im Vergleich zu den bisher untersuchten „Hexensippen“ hat die Familie Böddeker die geringste Anzahl an Denunziations- und Verfolgungsopfern zu verzeichnen. Dieser Befund ist angesichts ihrer Verwandtschafts- und Freundschaftsverhältnisse bezeichnend, denn obwohl die Böddekers in enger Beziehung zu den Hexenfamilien standen, gerieten sie nicht in den Kreis des „harten Kerns“ der Verfolgten. Beispielsweise bestand eine direkte Heiratsbindung zu der Familie Hinte, da Engel Hinte mit einem Meineke Böddeker verheiratet war. Zu der Familie Brielohn ist zumindest eine freundschaftliche Beziehung nachweisbar, die zwischen Liese Böddeker und Agatha Brielohn sowie Margaretha Brielohn bestand. Liese und Agatha müssen seit ihrer Jugend, nachweislich zu Hertzog Christians Zeiten, Freundinnen gewesen sein - ein Verhältnis, das auch in den Hexenprotokollen in der gängigen Lehrer-Schüler-Beziehung zum Ausdruck kommt: So sagen beide Frauen unabhängig voneinander und übereinstimmend aus, dass Liese die Lehrmeisterin von Agatha sei. 1589 Das Freundschaftsverhältnis zwischen den Familien Böddeker und Brielohn wird noch an anderer Stelle deutlich: Als Liese wegen starker Verdachtsmomente eine Zeitlang inhaftiert wurde, begrüßte Margaretha Brielohn sie nach ihrer Freilassung und reichte ihr Nahrung. Diese Gabe war als Willkommensgruß und gleichzeitig als Stärkung nach der kargen Mahlzeit im Gefängnis gedacht. 1590 Eine ebenso starke Verbindung bestand zu der Familie Grothen, denn Anna Grothen war die Patin von Liese Böddeker. Dass die beiden Frauen wohl ein recht gutes 1585 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 8 r -9 v . 1586 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 155 r-v und 221 v . 1587 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 19 v . 1588 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 101 v . 1589 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage der Agatha Brielohn, ca. Juni 1659. 1590 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 15.07.1658. 11.2 Fallbeispiele - der „mittlere Ring“ 375 Verhältnis zueinander hatten, belegt Lieses anfängliche Weigerung ihre Gevatterin im Gericht als Tanzgenossin zu bezichtigen. Erst nach Verschärfung der Tortur denunzierte sie Enneke und zeigte sich auch bereit, mit ihrer Patin konfrontiert zu werden. Sie begegnete ihr mit den Worten: [...], daß sie sie wegen der vielen gutthaten vndt Gevatterschaft nicht außagen wollen, [...]. 1591 Trotz ihrer offenkundigen Beziehungen zu den Deüffelskindern sind lediglich zwei Hinrichtungsfälle aus der Böddeker-Familie bekannt. Der erste Hexenprozess war 1631 gegen Meineke Böddeker vulgo Schweins geführt worden. Knapp dreißig Jahre später sollte ein Strafverfahren gegen Liese Böddeker eingeleitet werden, die bereits in den 1630er-Jahren als berüchtigte Hexe im Dorf bekannt war und auch dem geständigen Hexer Meineke Evertt gegenübergestellt wurde. 1592 Ausschlaggebend für die Initiierung eines Hexenprozesses von Rechts wegen war die vermeintliche Vergiftung eines kleinen Jungen. Dieser hatte sich nämlich nach dem Verzehr von einem Stück Käse, das Liese ihm gegeben hatte, so übel gefühlet, dass er auf die Erde niedergefallen sei, seinen Kopf, seine Achseln und seine Schultern mit Lehm „eingekleiet“ habe. Er zerriss sogar sein Hemd und Tuch vor Schmerzen. Seine Mutter konnte den Jungen nur noch mit Hilfe von Driakel retten, von dem er sich zweimal erbrach, sich anschließend ins Bett legte, alß wen er toedt gewesen vndt biß an den andern Morgen [schlief] 1593 . Schließlich genas das Kind wieder vollends. Wegen dieses Vorfalls wurde Liese inhaftiert und gütlich befragt. Jedoch schaffte es Liese, die Anklagepunkte mittels ihrer Responsiones zu entkräften, sodass das Gericht sie wieder freiließ. Ein paar Tage späte bestätigte jedoch ein weiterer Vorfall den Anfangsverdacht der Hexenkommissare, dass gegen Liese Böddeker ein Hexenprozess eingeleitet werden muss. Dem Richter war beyläuffig berichtet worden, dass die Witwe des Elmerhaus von Westphalen sie beschuldigte, vor 18 Jahren für den plötzlichen Tod ihres neugeborenen Kindes verantwortlich gewesen zu sein. Nach diesem neuen dringenden Tatverdacht wurde der Gerichtsschreiber Christoph Hibigen nach anmeldung de[s] Ehrengruß zu Clara von Westphalen gesandt, um sie nach dem konkreten Tathergang zu befragen. Es stellte sich heraus, dass Liese bei der Westphalin war, um in den schweren Zeiten des Dreißigjährigen Krieges nach etwas Öl zu fragen. Liese sei gebeten worden, indessen in der Küche zu warten, wo auch die Amme mit dem frisch[en] vndt gesundt[en] Kind gesessen habe. Kurze Zeit später sei die Amme mit dem Kind in die Stube zur Witwe gelaufen und habe geschrien: O[,] daß kindt[,] O[,] daß kindt ist toedt vndt sie[,] die fraw wittibe[,] erschrocken hertzu [ge]lauffen [...]. Liese, die nun in den Küchengang getreten sei, habe die hände zusamengeschlagen vndt gesprochen[,] O[,] Laßt mich bey daß kindt, Eß ist nicht toedt. Man habe sie jedoch zurückgestoßen und nicht in die Stube lassen wollen. Da habe sich Liese umgewandt, die hände zusamengeschlagen vndt gesprochen, O[,] Eß ist nuen zu spät[,] daß kindt ist nuen toedt, sie wehre aber keinmahl In die stube kommen, daß sie hette sehen können[,] ob daß kindt toedt 1591 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Konfrontation am 24.07.1658. 1592 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog des Meineke Evertt. 1593 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage vom 18.06.1658. 376 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Oder lebendich wehre [...] 1594 . Ihre Worte und Gebärden sowie ihre Abstammung von einem Hexengeschlecht 1595 ließen nach Meinung der Rechtsgelehrten und des Gerichtsapparates keine Zweifel mehr zu: Liese wurde peinlich verhört und nach ihrem Geständnis als letzte der Böddeker-Familie auf dem Scheiterhaufen am 27. Juni 1658 verbrannt. Tabelle 11.9: Familie Böddeker Zeit Fälle 1631 Liese Böddeker β ; Meineke Böddeker vulgo Schweins † ; Curt Meineke Böddeker α 1658 Liese Böddeker † Legende: † Hinrichtung α Denunziation β Prozess 11.3 Fallbeispiele - die „Außenringe“ Die in diesem Teilkapitel dargestellten Fälle zählen streng genommen nicht zum definierten Kreis der Deüffelskinder. Denn sie weisen nicht das entscheidende Alleinstellungsmerkmal einer jahrzehntelangen und generationsübergreifenden Verfolgungskontinuität bzw. -diskontinuität wie bei den oben untersuchten Fallbeispielen auf. Bei den hier vorgestellten Personen handelt es sich um Singularfälle, d. h., sie wurden „lediglich“ in einer Hexenprozesswelle Opfer der Verfolgung. Und dennoch haben diese „Einzelfälle“ tatsächlich mit den Deüffelskindern einen gemeinsamen Koeffizienten, wenn das Kriterium einer transgenerativen Verfolgungstradition gelockert und schlicht auf die lokale Vorstellung von der Vererbung des „Hexenblutes“ reduziert wird. Kurzum: In diesem Kapitel sollen 1. einzelne Personen vorgestellt werden, denen eine Abstammung von einem Hexengeschlecht nachgesagt wurde, und 2. mehrere Mitglieder einer Familie, denen das Hexenlaster seit Generationen nachgesagt wurde, aber die einzigen verfolgten „Hexen-Vertreter“ darstellen. Freilich können sich beide Kriterien überlappen. Zur besseren Überblicksdarstellung soll jedoch diese strikte idealtypische Trennung beibehalten werden. 1594 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage der Clara von Westphalen, Gemahlin von Elmerhauß von Westphalen am 03.07.1658. 1595 Obwohl im Indizienkatalog dieser Punkt nicht explizit aufgeführt wird, berichten die vor Gericht geladenen Zeugen, dass Liese Böddeker einem Hexengeschlecht entsprossen sei. So meinte Johann Koch, der zum Zeitpunkt der Befragung ca. siebzig Jahre alt war, dass ihre Stiefmutter wegen des Zauberlasters inhaftiert worden sei. Diese Aussage revidierte er später und ließ sie durch die Information ersetzen, ihr Großvater sei als Hexer verbrannt worden. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 18.06.1658. 11.3 Fallbeispiele - die „Außenringe“ 377 Einschränkend sei noch an dieser Stelle hinzugefügt, dass dieses ergänzende Teilkapitel lediglich dazu dient, den Vererbungsaspekt, der offenbar ein elementarer Bestandteil des fürstenbergischen Hexenbildes war, deutlich herauszukristallisieren. Aufgrund dieser methodischen Eingrenzung wird auf eine ausführliche soziale, politische und wirtschaftliche Verortung der vorgestellten Personen verzichtet. 11.3.1 Einzeltäter 11.3.1.1 Goert Nüthen Als am Ersten des Monats Juli im Jahr 1631 die Voruntersuchung gegen Goert Nüthen, den Wassermeister von Fürstenberg, 1596 eingeleitet wurde, waren er und seine Familie bereits seit über dreißig Jahren für das Zauberlaster berüchtigt gewesen. Ergo stammte Goert nach Meinung des Hexenkommissars aus einem Hexengeschlecht - ein Vorwurf, der ihm bereits im Dorf öffentlich ins Gesicht gesagt wurde. So habe ihm Johann Wilms Frau vorgehalten, dass Goert, sein Bruder Hermann sowie seine Mutter in den Bekenntnissen anderer hingerichteter Zauberer im alten prothocoll von 1601 stehen würden. Trotz des seit drei Jahrzehnten hartnäckig bestehenden Hexengerüchts sollte Goert als einziger aus der Nüthen-Familie verfolgt und schließlich als Hexer verbrannt werden. Nun könnte aus diesem Befund der voreilige Schluss gezogen werden, dass das Hexengerücht um die Mitglieder der Familie Nüthen, die nachweislich noch im 18. Jahrhundert in Fürstenberg lebte, 1597 mit der Hinrichtung von Goert Nüthen abgeebbt sei. Diese logische Schlussfolgerung ist jedoch unzutreffend: Das Hexengerücht 1596 Die Gemeinde Fürstenberg und die Herren von Westphalen waren bereits nachweislich ab dem 16. Jahrhundert durch Wasserleitungen hinreichend mit Wasser versorgt worden. Aufgrund ständiger Verstopfung der Rohre durch Schlamm oder Kröten sowie ihrer Herstellung aus Holz, die entweder schnell marode oder undicht waren, wurden von der Gemeinde ein Wassermeister und ein Wasserherr eingesetzt. Ihre Hauptaufgaben bestanden darin, die Wasserleitungen instand zu halten und damit die Wasserversorgung der Gemeinde zu gewährleisten. Die Vereidigung eines Wasserherren ist in den Akten der Niederen Gerichtsbarkeit erhalten geblieben. So heißt es in einem Dokument von 1668: Ist ahn Jost huneken Platz alß beneben Dietherich Grothen bestelter waßerher angeordnet Frantz schmett, welcher In Jegenwart sämbtlicher Hr. Westphalen bedienter stipulato Manu solches trew vndt fleißig zu beobachten, angelobt. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 56 r . Auch Jost Huesknecht wurde 1664 in das Amt berufen, musste es jedoch wegen fehlendem Geldvermögen wieder niederlegen: Alß Jacob huesknecht der Waßermeister sich beschwehrt[,] daß er wegen vnvermögenheit, solches nicht Lenger verwalten könne, Ihmen deßen Nuhmehr zu erlaßen, angegeben vndt also seinen dienst auffgekündigedt. So Ist heute dato ahn deßen statt wieder angesetzt steffen Fleckenkamp, In Jegenwart sämbtlicher Hr. Hr. Westphalen bediente, auch der dorffs vorstehern Thönies Ludowicht Jun: vndt Cordt schmetts auch auß der Gemeinheit, Henrich Neukirch Sen: , Hermann Papen, Meineke dröppel, Christopff Wegener vndt Henrich dröppel, maßen er daß trewvndt fleißig zu verwahren vndt daran nichts zu verseumen midt handt vndt Mundt angelobt. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 20 r . Siehe Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 115-120. 1597 Vgl. Schulte: Die Familien, S. 306. 378 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze um die Familie Nüthen, die zur gehobenen Unterschicht zählte, 1598 sollte über die nächsten Jahrzehnte hartnäckig bestehen bleiben. Denn in der Hexenprozesswelle von 1658/ 59 kam es zu erneuten Denunziationen gegen sie. Dabei fällt besonders ins Auge, dass ihr Name häufig in einem Atemzug mit der Familie Brielohn genannt wird. So geben mehrere Inquisiten einstimmig gegenüber dem Richter an, dass Hermann Nüthen gemeinsam mit Margaretha Brielohn auf dem Hexensabbat tanze. In anderen Ausführungen heißt es sogar, er tanze mit Meineke Brielohns Tochter. 1599 Diese ständigen repetitiven Verweise können als Indikator für eine verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehung zwischen den Familien Nüthen und Brielohn gedeutet werden. Freilich muss aufgrund des Fehlens einschlägiger Quellenhinweise diese Vermutung hypothetisch bleiben. Jedoch gab Goert Nüthen im Verhörlokal an, gemeinsam mit Lubbert Brielohn die Kühe gehütet zu haben. 1600 Zumindest zwischen den Familien Sanders und Nüthen muss eine freundschaftliche Beziehung bestanden haben. In einem Protokoll vom 23. März 1685 erwähnte Sanders Frau gegenüber dem Gerichtsschreiber, dass sie in Nüthens Hause Brot backe. 1601 11.3.1.2 Trina Klingenberg Gegen keine Person wurde so häufig ein Strafurteil abgefasst wie gegen Trina Klingenberg, Frau des Adam Kesperbaums. In einem Zeitraum von sechs Jahren wurde sie insgesamt fünfmal wegen vermuteter Hexerei angezeigt, was wiederum zu drei Prozessverfahren führte. Begonnen hatten die öffentlichen Vorwürfe gegen sie 1657, die ein Jahr später noch einmal forciert wurden, als Jost Stieker 1602 , der Leinenweber, sie verdächtigte, seiner Frau die Besessenheit angehext zu haben. Die beiden Familien hatten bereits vor dieser Klage ein angespanntes Verhältnis zueinander und gerieten wegen der Kinder häufig in Streit. Trotz dieser auftretenden Konflikte hielten die Elternteile zumindest die nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft untereinander ein. Als Jost Stiekers Frau beispielsweise Trina frische Laken bringen wollte, gab diese ihr zum Dank Speis und Trank. Wieder zu Hause angelangt, fühlte sie sich kurze Zeit später unwohl. Ihr Mann beschrieb ihr Verhalten mit den Worten: hette [...] sich so seltzsam angestalt[,] welcheß vffm stell [sc. Stuhl] sitzend In acht genommen vndt gefragt[,] waß Ihr wehr[,] ob sie kalt geworden[,] daß sie friere, sole sich wermen 1598 In den Flurbüchern ist der Landbesitz von Hermann Nüthen gerade einmal mit 16 Morgen angegeben. Zwölf Jahre später sollte der Umfang sogar auf 13,75 Morgen schrumpfen. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 5 v und 9 v . Die soziale Stellung bestätigt auch ein Dokument von 1694, in dem ein Caspar Nüthen als Zeuge im Prozessfall gegen den Jungen Henrich Wilm Maeß erwähnt wird. Bevor seine Beobachtungen im Protokoll aufgenommen wurden, gab er sein Alter und seine berufliche Tätigkeit an. Er sei ein Tagelöhner und Ackermann. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 98 r . 1599 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Denunziationen von Freda Sommers, Gretha Mentzen, Margaretha Brielohn und Agatha Brielohn. 1600 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1601 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 158 r . 1602 Sein offizieller Name war Manuel Coderich. Mit dem Verweis auf seine handwerkliche Tätigkeit wurde er jedoch „Jost Stieker“ gerufen. 11.3 Fallbeispiele - die „Außenringe“ 379 [...] 1603 . Bis Mitternacht sollten die Symptome sichtlich schlimmer werden. Seine Frau habe ihn aus dem Schlaf geschrien, weil ihr etwas Lebendiges mal auf dem rechten Knie, dann wieder auf der linken Schulter sitze. Dieses Elend habe sich von Tag zu Tag gemehrt und sei auch deutlich der Beklagten anzusehen gewesen, wie der Gerichtsschreiber vermerkte. Neben dieser Anklage wurde Trina zwei Jahre zuvor durch Caspar Schmett aus Atteln belastet, der in Fürstenberg als Knecht tätig war. Ebenso wie Jost Stiekers Frau behauptete er, dass er sich nach dem Verzehr eines gekochten Breis in Trinas Behausung, elend gefühlt habe. Sein gesundheitlicher Zustand sei plötzlich so miserabel gewesen, dass er nicht aus dem Haus habe gehen können und mit einer Bahre hätte herausgetragen werden müssen. Weil er glaubte, sein Tod stehe ihm bevor, habe er den Pastor für die letzte Beichte zu sich rufen lassen. Dieser habe ihm jedoch etwas auß der Apotheca verabreicht und kurz nach Einnahme des Medikaments sei von ihm viel stinkende Materie abgegangen und Beklagter sei schließlich wieder genesen. 1604 Die Anschuldigungen gegen Trina Klingenberg vulgo Kesperbaum, die aus der sozialen Unterschicht stammte, 1605 fußten auf jahrelangen Gerüchten, die seit Beginn der Hexenverfolgungen um ihre Familie bestanden. Da eine ihrer Verwandten 1601 vom alten Hinte als Lehrmeisterin angegeben worden war, 1606 stand auch Trina im Verdacht, von „Hexenart“ abzustammen. 1607 Ihre Verheiratung mit Adam Kesperbaum mag zusätzlich dazu beigetragen haben, die erhobenen Vorwürfe gegen sie zu verstärken. Denn auch seine Familie wurde 1601 beschuldigt, Mitglied der Hexensekte zu sein. 1608 Obwohl die Verdachtsmomente gegen Trina Kesperbaum schwer wogen und sie im Strafprozess mehrfach der Tortur unterzogen wurde, gestand sie das Hexenverbrechen nicht. Wiederholt wurde sie vom Gericht zum öffentlichen Stäupen verurteilt und des Gerichtsbezirks verwiesen. Sie brach jedoch immer wieder ihre geschworene Urfehde, indem sie heimlich in das Dorf zurückkehrte. 1609 Trina Kesperbaum sollte die einzige in ihrer Familie sein, gegen die überhaupt ein Hexenprozess eingeleitet wurde. Im Jahre 1687 - vermutlich handelt es sich hierbei um ihre Tochter oder eine nahe Verwandte - sollte eine Voruntersuchung gegen Gertrud Kesperbaum, Johann Hoppers Witwe, eingeleitet werden, weil sie im Verdacht stand, das Hexereidelikt zu begehen. Allerdings wurde die Anklage gegen sie wieder fallen gelassen. 1610 1603 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung der Zeugen vom 07.08.1659. 1604 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage des Caspar Schmett aus Atteln am 22.07.1657. 1605 Im Kataster von 1672 wird der Besitz von Adam Kesperbaums Erben mit 10 Morgen Land wiedergegeben. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 6 v . 1606 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht des Alten Hinten am 12.08.1601. 1607 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog contra Trina Kesperbaum, undatiert. 1608 Gretha, die Wilkesche und Trouvelus Plumpe denunzierten das Ehepaar. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1609 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Anotnius Bergh vom 20.04.1660. 1610 Die Akte selbst ist nicht erhalten geblieben. Lediglich ein Namensverzeichnis über alle die in Fürstenberg geführten Hexenprozesse am Einband des Konvolutes führt ihren Namen auf. 380 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze 11.3.1.3 Zenzing Buschmann Während der 1658/ 59 geführten Inquisition gegen die Hexen erfuhren die Hexenkommissare vom bestehenden Hexengerücht des Gastwirtes Zenzing Buschmann, 1611 der ursprünglich aus Helmern stammte. Indem Informationen über ihn eingeholt wurden, brachten die externen Rechtsgelehrten in Erfahrung, dass er von berüchtigten Eltern gezeugt worden sei, bevohr er sein domicilium vndt wohnung hirhin transferirt habe. Aufgrund dieser starken Verdachtsmomente baten die Kommissare die hiesige Obrigkeit um Erlaubnis, im Nachbarort Helmern die Ältesten über dessen Eltern zu befragen, denn Ohn zweiffel [würden] die Elteßten deß orts darab wißenschafft tragen. Die Genehmigung wurde ihnen erteilt und die Kommissare befragten in Helmern Zeugen, die im Alter von siebzig bis achtzig Jahren waren. Während der Zeugenbefragung bestätigte sich zunehmend der Verdacht, dass Zenzing aus einem Hexengeschlecht stammte: Seine Mutter sei in Helmern beschuldigt worden, eine Raupenmacherin zu sein, denn einsmahlen auß dem speich[er] viel raupen, alß ein kette lang herauß gekrochen, welches vor ein zauberwerck gehalten 1612 . Trotz dringenden Tatverdachts war es jedoch zu keinem Hexenprozess gegen sie gekommen. Aber nicht nur seine Abstammung von einem Hexengeschlecht machte ihn tatverdächtig, sondern auch seine Kameradschaft zu dem berüchtigten Meineke Brielohn und zu Peter Nottebaum. 1613 Zudem war Zenzing in der Gemeinde für seine böse natur, Ergerlichen handel vndt wandelß von Jugendt auff gewesen, wie noch [...] bekannt. Er habe z. B. seiner seligen Mutter Einßmahl [in] nächtlicher weill eine kuh außm stall gestollen bey seinem menlichen alter, daß geldt verpancketirt vndt versoffen, die Mutter aber Noht leiden laßen 1614 . Damit habe er bewusst gegen die Fürsorgepflicht der Kinder für die Eltern verstoßen. Ferner warf ihm der Fiskal vor, selten im Hause Gottes gewesen zu sein, sondern zu den höchst Hl. Zeiten so tag vndt nacht midt Offendtlichen Scandalo freßen vndt sauffen zuggebracht zu haben. 1615 Den Schlussstein der Bestätigung bildete allerdings ein Streit zwischen ihm und seinem Freund Peter Nottebaum. Aufgrund noch ausstehender Schulden gerieten die beiden in einen solchen Zwist, dass Zenzing das Schwert von dem Scharfrichter begehrte, um damit eigenhändig Peters Kopf abzuschlagen. Dieses Verhalten konnte vonseiten des Gerichtsapparates nicht toleriert werden. Zenzing schaffte es im Verhörlokal nicht, sich mit seinen Aussagen, die größtenteils auf seinen Trunkenheitszustand verwiesen, von dem schlechten Verdacht zu purgieren. Das Gericht eröffnete einen Hexenprozess gegen ihn, der über drei Wochen andauern sollte. Schließlich wurde er am 14. August 1659 zuerst enthauptet und sein Leichnam anschließend verbrannt. 1611 In den Rechnungsbeständen wird wiederholt erwähnt, dass die Schützen bei Zenzing Buschmann Bier getrunken haben. Er selbst wird auch als Wirt bezeichnet. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1612 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 23.07.1659. 1613 In den Gerichtsprotokollen werden sie als cameraden bezeichnet. Vgl. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog gegen Gretha Mentzen. 1614 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog contra Zenzing Buschmann. 1615 Der Pfarrverweser Johann Stamm schrieb über Zenzing Buschmann: Hi sequentes non communicant: Censing Buschmeyer cum uxore Gret Meyers [...]. DiözesA Pb., Acta 150, fol. 66 r . 11.3 Fallbeispiele - die „Außenringe“ 381 11.3.1.4 Peter Nottebaum Der Fall des Peter Nottebaum vulgo Schantz, der der sozialen Mittelschicht entstammte, 1616 liefert ein Paradebeispiel für die soziale Vererbung des Hexenstigmas. Obwohl er vonseiten der lokalen Justiz nicht angeklagt wurde, von „Hexenart“ abzustammen, bildete der Prozess gegen ihn den Auftakt dazu, dass das „Hexenimage“ nun auch seiner Familie nachgesagt wurde. Auf mehrfache Denunziationen von Gretha Mentzen und Zenzing Buschmann hin wurde gegen ihn am 23. Juni 1659 ein Hexenprozess eingeleitet. Peter weigerte sich standhaft, ein Geständnis abzulegen, obwohl er durch die von ihm selbst geforderte und vom Gericht bewilligte Wasserprobe als Hexer überführt worden war. Sein hartnäckiges Schweigen missfiel allerdings der Obrigkeit deutlich, die forderte, ihn so lange inhaftieren zu lassen und mit Wasser und Brot zu tractiren, bis Jenem der Eifrige Mhuet entfelt [...] 1617 . Wie bereits ausführlich an anderer Stelle erörtert, handelten die Herren von Westphalen damit gegen den Ratschlag der Hexenkommissare Wilhelm Steinfurt und Antonius Bergh, die die Freilassung des Angeklagten gefordert hatten, weil dieser sich von dem Tatverdacht purgiert hatte. 1618 Über vier Monate sollte Peter Nottebaum im Gefängnis inhaftiert bleiben, bis er schließlich am Ersten des Monats Dezember von den Adelsherren begnadigt wurde. 1619 Im Herbst 1660 geriet er erneut in den Strudel der Hexereibezichtigung. Kinder verbreiteten im Dorf das Gerücht, beim Holzsammeln im Wald einen Nackende[n] Man gesehen zu haben. Sie konkretisierten ihre Angabe und gaben an, dass der unbekleidete Mann Peter Nottebaum gewesen sei. Mit dem expliziten Verweis auf seinen entblößten Zustand implizierten die Kinder, dass sie Peter gesehen hatten, als er gerade eben die werwollferey praktizieren wollte, bei der man sich bekanntlich vorerst seiner Kleidung entledigen musste. Folglich dürfte ihnen bekannt gewesen sein, dass Peter Nottebaum 1659 nicht nur wegen vermeintlicher Hexerei, sondern auch Lykanthropie inhaftiert worden war. Nach einer ausführlichen Befragung eines kleinen Mädchens und einer Jugendlichen sprachen die Hexenkommissare Bergh und Steinfurt Nottebaum von den Beschuldigungen frei, da eine nackende erscheinung kein ausreichendes Indiz für eine Inhaftierung darstellte. 1620 Annähernd dreißig Jahre später sollte sein Sohn Conrad das Hexenverbrechen nachgesagt werden. Er habe sich verdächtig gemacht, weil er einem kranken Kind richtig beten lehren wollte, was in Bezug zu seinem familiären Hintergrund als ein Euphemismus für das Anlernen teuflischer Praktiken gewertet wurde. 1621 Obwohl ein dringender Tatverdacht gegen ihn bestand, konnte Conrad Nottebaum nicht verhört werden, da er nicht mehr in Fürstenberg ansässig war. Das Rechtsverfahren gegen 1616 1672 besaß er ein Landkapital in Höhe von 29,5 Morgen Land. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. 5 v . 1617 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Caspar Ludowig von Westphalen vom 07.10.1659. 1618 Siehe hierzu Kapitel 9.1.1. 1619 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urfehde des Peter Nottebaum vom 01.12.1659. 1620 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Antonius Bergh vom 18.04.1660. 1621 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 74 r . 382 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze seinen Vater stellt somit den einzigen Fall eines Hexenprozesses innerhalb der Familie Nottebaum dar. 11.3.2 Einzelne Familien 11.3.2.1 Familie Plumpe Über die Familie Plumpe sind nur äußerst spärliche Informationen im untersuchten Quellenmaterial vorhanden, sodass nur ein schemenhaftes Bild von ihr gezeichnet werden kann. Zum Ende des 16. Jahrhunderts lebte ein Dietherich Plumpe zusammen mit seinen Kindern, einen namentlich nicht erwähnten Sohn 1622 und seiner Tochter Agatha 1623 in Fürstenberg. Zusätzlich wird ein mit ihm verwandter Trouvelus Plumpe in den Akten erwähnt. Ihr Nachname weist darauf hin, dass sie das Amt des Wassermeisters ausübten und laut dem Abgabeverzeichnis der Mittelschicht zugehörig waren. 1624 Über Trouvelus Plumpe ist zusätzlich zu erfahren, dass er gebürtig aus Ostorp stammte und ca. um 1585/ 86 nach Fürstenberg gezogen war. 1625 Ob diese Angabe auf alle Mitglieder der Plumpe-Familie zutrifft, es sich also um Zugezogene handelt, ist nicht bekannt. Die Familie Plumpe scheint in Fürstenberg keinen guten Leumund gehabt zu haben: Ausnahmslos alle Delinquenten denunzierten die Plumpe-Familie als Teilnehmer auf dem Hexensabbat. Die Gründe für die übereinstimmende Besagung sind nicht ermittelbar. Lediglich Henrich Schmetts Frau macht die Angabe, dass sie Trouvelus Plumpe vor vielen Jahren einen Gaul vergiftete, weil sein Sohn sie geschlagen habe. 1626 Und in den Schadenszauberanschlägen der Gretha Butterfeindes tritt Diethrich Plumpen als ihr Handlanger auf, der vergiftete Milch an die Opfer weiterreichte. 1627 Mehr ist allerdings über die Familie Plumpe aus den Akten nicht in Erfahrung zu bringen. Jedoch muss das Hexengerücht um diese „Sippe“ derart stark gewesen sein, dass Trouvelus und Agatha Plumpe nach einem Prozessverfahren des Hexenverbrechens für schuldig erkannt und 1601 verbrannt worden sind. Die übrigen Familienmitglieder werden in den künftigen Protokollen nicht mehr namentlich erwähnt. 11.3.2.2 Familie Weßel-Kröger Das Hexengerücht um die Familie Weßel-Kröger zog breite Kreise: Es reichte über die Gemarkungsgrenzen von Fürstenberg hinaus bis in die Herrschaft Büren hinein. Begonnen hatten die Verdächtigungen mit dem Alten Weßel-Kröger, der als Hexer 1622 Diese Information geht aus der Schadenszauberangabe von Schmett Henrichs Frau hervor. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1623 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht von Gretha, die Wilkesche. 1624 Beispielhaft LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 491 v . 1625 Die ungefähre Angabe ergibt sich aus Trouvelus Aussagen über seine Schadenszauberanschläge. Bis 1585/ 86 fügte er demnach Personen in Ostorp Schaden zu. Nach dieser Zeitangabe benannte er Mitglieder aus der Gemeinde Fürstenberg als seine Opfer. 1626 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1627 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 11.3 Fallbeispiele - die „Außenringe“ 383 verschrien war. Laut den Angaben des Scheffel-Heuer-Registers zählte seine Familie zur untersten sozialen Schicht. Gerade einmal 1,5 Scheffel Hafer konnte er an die Herren von Westphalen abgeben. 1628 Andere Getreidefrüchte wie Gerste und Roggen scheint er gar nicht angebaut zu haben. Die Gerüchteküche um Weßel-Kröger verdichtete sich post mortem, nachdem er einen Meineid geleistet hatte und kurz danach auffm fürstenbergische[n] geholtz [...] vnversehens umbkommen [sei] 1629 . Dieser Vorfall, der sich für Jahre im kollektiven Gedächtnis der Gemeinde einbrennen sollte, wurde als eine sofortige Strafe Gottes für seine begangene Normverletzung und als bekräftigendes Indiz für seinen schlechten Leumund gewertet. Fortan waren nun seine Kinder von dem Hexenstigma betroffen. Sein Sohn Meineke, der als Schweinehirte für Caspar Vreis von Westphalen tätig war, zog im jungen Mannesalter aus Fürstenberg fort und avancierte zum Schlüter auf dem Gut Volbrexen in der Adelsherrschaft Büren. Sein Ruf als Deüffelskind war jedoch auch in Büren bekannt. Als man dort in den Herrschaftsgebieten Ringelstein, Weiberg (Webergh) und Barkhausen (Barckhußen) gegen die „Unholde“ vorging, wurde Meineke insgesamt von 13 Personen als Hexer besagt. Infolge seiner mala fama wurde er aus seinem Dienst auf dem Gut entlassen, und Meineke zog nach Fürstenberg zurück. Aber auch hier war sein Leumund nicht vergessen, und es bestand der dringende Tatverdacht gegen ihn, dass er zusammen mit seinem ebenso berüchtigten Kumpan Marcus einen Mord an einem Jungen verübt haben sollte. Der Junge mit dem Namen Dietherich Stallgeckers sei von den beiden ins Wasser der Fischerei geworfen worden und dort hätten sie ihn ersauffe[n] lassen, weil das Kind ihr Angebot abgeschlagen habe, die Hexerei zu erlernen. 1630 Aufgrund dieser starken Indizien leitete das Gericht gegen Meineke am 27. Juni 1631 einen Hexenprozess ein. Meineke bestätigte die Richtigkeit des Hexengerüchts, indem er von seinem Vater berichtete, der teuffel [sei] [ihme] vffer[m] leib geturtzelt. Zudem gab er an, das Hexenlaster von einer Jüdin, der Jerusalemschen, die auf dem Leiberg wohnte, erlernt zu haben. Nach einmaliger Wankelmütigkeit, einem Ausbruch aus dem Gefängnis und erneuter Gefangennahme, wurde der Prozess gegen ihn fortgesetzt. Schließlich gestand er seine Schuld und wurde am 05. Juli 1631 geköpft und anschließend auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Fast zeitlich parallel zu Meinekes Hexenprozess wurde ein Strafverfahren gegen seine Schwester Elsche eingeleitet. Ebenso wie ihr Bruder wurde sie wegen ihrer Abstammung aus einem Hexengeschlecht angeklagt. Zudem beschuldigte sie der Fiskal, dass seit dreißig Jahren ein Hexengerücht über sie kursiere. Bereits bei der 1628 Beispielhaft LA NRW Abt. Westf., Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3., fol. 495 r . 1629 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage der Collectores am 23.06.1631. 1630 [...] demnegst sich zugetragen, das ein donnerwetter entstanden [sei] vndt derselbe iunge midt Meineken vndt Marcus auff die fischerei gehen müssen, aber denselben genannten Jungen ausgelassen vndt versoffen sei, dar midt man solche angebottene lehr nicht mogte zu dage kommen, sei dohmahlen wie noch praesumitlich das genante beide Zauberer ihmen ihns wasser geworffen vndt ersauffet haben. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage der Collectores am 26.06.1631. 384 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze Voruntersuchung legte Elsche ein Geständnis ab und gab vor dem Richter ihren persönlichen Grund für die Erlernung des leidigen Hexenlasters an: [...] auß vrsachen daß sie Woll arbeiten [be]kommen 1631 sollte. Mit dieser recht kurzen Aussage gibt Elsche einen kleinen Einblick in ihre wirtschaftliche Position, die - wie bereits eingangs erwähnt - miserabel gewesen sein muss. Am 3. Juli wurde ihr das peinliche Halsgericht verkündet. Mit der Exekution der beiden Geschwister war die Verfolgungslinie innerhalb der Familiengeschichte Weßel-Kröger beendet. 11.3.2.3 Familie Hammerschmitt Die Familie Hammerschmitt, bestehend aus den vier Geschwistern Anna, Henrich, Jost und Ludowig, kam gebürtig aus Calle (Kalle) im westfälischen Sauerland, zog von dort aus nach Köln und schließlich nach Fürstenberg. Hier lebten sie nachweislich seit den späten 1620er-Jahren. Über ihre wirtschaftliche Position und dorfpolitischen Aktivitäten oder ihren sozialen Status ist nichts bekannt - keine einzige Quelle gibt hierüber Auskunft; lediglich ihre Namensbezeichnung „Hammerschmitt“ lässt die berechtigte Vermutung zu, dass sie im Schmiedehandwerk tätig war. Allein ihre Hexenverbrechen sind in den Hexenprozessakten gut dokumentiert. So ist zu erfahren, dass ihre Großmutter mit dem Hexenlaster stark berüchtigt gewesen war und ihr Vater, Ludowig, am 22. September 1628 in Calle als Hexer hingerichtet worden ist. Den Geschwistern Anna und Ludowig wurde ebenfalls das schändliche Teufelswerk nachgesagt. Jedoch kam es offensichtlich zu keinem Hexenprozess gegen sie. In den Jahren 1629 und 1642 gerieten Anna und Ludowig, deren Fall von dem Richter zu Calle mit den Worten de veneficio valde diffamati beschrieben wurde, erneut in den Strudel der Hexereibezichtigung. Aber auch zu diesen Zeitpunkten wurde kein Hexenprozess gegen die Geschwister eingeleitet. Trotz ihres Umzuges sollte ihr Ruf als Deüffelskinder in Fürstenberg weiter fortbestehen. Ins Visier der lokalen Hexenjustiz gerieten nun hingegen deren Brüder Jost und Henrich Hammerschmitt im Jahr 1658. Die Prozessakte über Jost ist leider nicht erhalten geblieben. Lediglich die Rechnung über die Prozesskosten sowie der Hinrichtungsbeschluss der Hexenkommissare Antonius Bergh und Wilhelm Steinfurt bezeugen den Fall. So heißt es in der Urteilsverkündung vom 17. Juli 1658, dass Jost Hammerschmitt durch die Hand des Scharfrichters am stocks voerst strangulier[t] vnd demnächst im Rauch des fewers verbrannt werde. 1632 Mit dieser Bemerkung ist ein wichtiger Hinweis geliefert, dass Jost offenbar nicht nur wegen des Hexenverbrechens hingerichtet worden ist. Wie aus einem Brief des Hexenkommissars hervorgeht, wurde er zusätzlich des schändlichen Lasters der Sodomie wegen verurteilt. Verstreute Hinweise über Jost sind jedoch noch in der Hexenprozessakte seines Bruders Henrich enthalten, der vier Wochen nach dessen Tod wegen dringenden Hexereiverdachts inhaftiert werden sollte. So 1631 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Responsiones der Elsche Weßel-Kröger am 28.06.1631. 1632 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief der Hexenkommissare vom 17.07.1658 an den Samtrichter Johann Sauren in Fürstenberg. 11.4 Zusammenfassung 385 heißt es ferner in der Hexenprozessakte, dass Jost wegen seiner engen Beziehung zu seiner verschrienen Großmutter in das Hexengerücht geraten war. Nach Aussage des Henrich habe sie Jost großgezogen und ihn auch die Hexenkunst gelehrt. Aufgrund seines familiären Hintergrundes sollte schließlich auch Henrich Hammerschmitt, der mit Catharina Nottebaum verheiratet war, vom fürstenbergischen Gericht wegen Hexerei angeklagt werden. Überraschenderweise gestand er jedoch nicht das Hexenlaster, sondern Sodomie und Blutschande. Sein Geständnis legte er zuerst vor den Wachen ab, die ihn ermahnt hatten, in Güte zu bekennen. Äußerst detailreich schilderte er ihnen, wie er vor dreißig Jahren im Sauerland mit einem Pferd, einem Muttertier, bestialische Unzucht getrieben habe, indem er einen baum vff 2. zwey zweille beume gelegt[,] darauff gestiegen vndt solche bestialitet vollenführt. Desgleichen habe er zwei Schafe, die seinem Vater gehört hätten, im Stall auff den Rücken gelegt[,] [damit] er deßen abkommen 1633 . Neben diesen Untaten gestand er zusätzlich, die Töchter seines Sohnes mehrfach missbraucht zu haben, die ältere einmal, die jüngste dreimal. Dieses Bekenntnis wiederholte er auch vor den Kommissaren und dem Richter, die zunächst von dem Hexereiverdacht nicht ablassen wollten und Henrich weiterhin foltern ließen, damit er sein Hexenwerk gestehe. Trotz mehrfach gegebener Bedenkzeit sowie angewandter Tortur blieb er bei seiner Aussage beständig: [...] von der Zauberey Oder waß deren anhengig wüßte er nicht, wolte daß sonst gerne sagen vndt nicht verschweigen, weill er wüßte[,] daß er einen schmeelicheren toedt alß die Zauberey midt sich führte verdienet hette [...]. 1634 Schließlich schenkte ihm das Gericht Glauben und ließ von den Hexereivorwürfen ab. Henrich Hammerschmitt wurde wegen praktizierter Sodomie und begangenen Inzests am 22. August 1658 hingerichtet. 11.4 Zusammenfassung Angesichts der historischen Befunde wird das „überwölbende Dach“ des fürstenbergischen Hexenglaubens offenkundig: die Vorstellung von einer transgenerativen Vererbung des „Hexenblutes“, das gleich einer Erbkrankheit - so der bereits zitierte Institoris - bei den „Hexensippen“ eingewurzelt sei. Es ist schon eine fast pathologische Sichtweise auf die Hexenkinder, indem insbesondere deren „infiziertes“ Blut hervorgehoben wurde. Aus diesen Gründen versahen auch die Hexenkommissare die Deüffelskinder häufig mit dem zeitgenössischen Attribut infectus bzw. infecta. Ethnologische Studien wiesen bereits mehrfach auf diesen zentralen Aspekt des Hexenglaubens in afrikanischen Ländern hin. 1635 Dies mag auch der entscheidende Hinweis sein, warum die Opferzahl im Verlauf des Untersuchungszeitraumes nicht sank, sondern beinahe konstant blieb: Es galt, die Nachfahren, also die Erben des „Hexenblutes“, auszulöschen. Damit war ein grundlegender Kausalzusammenhang 1633 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 17.08.1658. 1634 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 20.08. 1658. 1635 Vgl. hierzu Walz: Magische Kommunikation. 386 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze zwischen den früheren und den späteren Hexenverfolgungen geschaffen worden 1636 mit dem Ziel, daß greuliche abscheuliche Hexenlaster[,] [das] theils [bey] Menschen eingewurtzelt 1637 sei, auszurotten. Tritt man jedoch näher an den Personenkreis der Verfolgungsopfer heran, wird das vermeintlich strikte Paradigma der Vererbung aufgebrochen und ein höchst fein abgestuftes Hexenbild sichtbar, das den differenzierten Blickwinkel und Interpretationsraum der Zeitgenossen offenbart: Zumindest in puncto Verfolgungskontinuität weisen die einzelnen Hexenfamilien unterschiedliche Kriterien auf, die eine kategoriale Abstufung erkennen lassen. Infolgedessen gleichen die Deüffelskinder - metaphorisch gesprochen - konzentrischen Kreisen. Es existiert z. B. - um bei diesem Vergleich zu bleiben - ein „Innenring“, der den „harten Kern“ der „Hexensippen“ darstellt. Diese Familien sind fast schon traditionsgemäß mit dem Hexenruf behaftet und einer teilweise hundertjährigen Verfolgungskonzentration und -kontinuität ausgesetzt gewesen. Zum Teil standen fünf Generationen vor Gericht, angeklagt, Schadenszauber zu betreiben. Es handelt sich bei dieser Kategorie von Hexenfamilien im kriminalistischen Sinne um Intensivtäter. Der „mittlere Ring“, der sich gerade durch Verfolgungsdiskontinuitäten auszeichnet, erscheint daher eher im Licht eines gelegentlichen Mehrfachtäters. Zu guter Letzt bleibt der „Außenring“, der in den Fällen von Einzeltätern bzw. einzelnen Familien zum Ausdruck kommt. Wo, so lautet die entscheidende Frage, setzten also die Gemeinde und das Gericht die wesentlichen Unterscheidungskriterien? Warum scheinen einige „Familienkreise“ infizierter als die anderen? Diese Fragen werden umso akuter, als nicht alle Familienmitglieder einer „Hexensippschaft“ dem strafenden Arm der Jurisdiktion übergeben wurden, sondern nur einzelne Personen aus ihren Reihen. Im Zusammenhang mit diesen empirischen Befunden drängt sich regelrecht das forschende Bedürfnis auf, eine mögliche Erklärung für die familien- und personenspezifischen Verfolgungen in der naheliegendsten Vermutung zu suchen: Besteht etwa eine Kausalität zwischen Devianz und Hexenverfolgungen? Mit anderen Worten: Legten die Verfolgungsopfer ein anomales Verhalten an den Tag, sodass sie regelrecht ein Verfolgungsbegehren gegen sich selbst evozierten? Diese Hypothese ruft das in der Hexenforschung bekannte Theorem von der Kontrollfunktion der Hexenprozesse für abweichendes Verhalten auf den Plan. Einzelne Studien setzten sich bereits - wie eingangs erwähnt - mit dieser speziellen Frage auseinander, wobei hier die prominenteste kurz in diesem Zusammenhang aufgegriffen werden soll. Rainer Walz betont, lediglich die Latenz der Funktion anzunehmen. Wie er in seinem lippischen Untersuchungsraum nachgewiesen hat, fiel ein markant abweichendes Verhalten bei den Hexenprozessopfern nicht so sehr ins Gewicht der 1636 „In welchem Maße der ‚Hexenwahn‘ in das kollektive Gedächtnis des Dorfes eingegangen war, zeigte sich ein oder zwei Generationen später in der unverhohlenen Art und Weise, ja Brutalität, mit der man die Nachfahren der Opfer immer wieder an das Schicksal ihrer Eltern oder Großeltern erinnerte.“ Gersmann: Injurienklagen, S. 252. 1637 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Kundgebung vom 18.06.1658. 11.4 Zusammenfassung 387 Indizienkataloge. 1638 Vice versa müsse die These überprüft werden, ob der Hexenglaube eher der Kontrolle von schwacher Devianz gedient habe. Allerdings - so räumt Walz ein - sei eine Überprüfung dieser These insofern kaum möglich, weil nicht nachgewiesen werden könne, ob die verfolgten Frauen wegen der Gefahr ihres Gerüchts ihr Verhalten geändert hätten. 1639 Weitestgehend stimmen die Ergebnisse zu den fürstenbergischen Deüffelskindern mit denjenigen Verfolgungsopfern aus dem lippischen Raum überein: Überwiegend legten sie keine Verhaltensauffäligkeiten an den Tag, die ein Indiz für eine kriminelle „Karriere“ wären, geschweige denn Desintegrationserscheinungen: Die „Hexensippen“ waren sowohl politisch als auch in rechtlichen Belangen ein fester Bestandteil der fürstenbergischen Gemeinde und in den kommunalen wie obrigkeitlichen Diensten fest eingebunden. Ihre Rechtsfähigkeit war nicht beschädigt, sodass sie weiterhin am öffentlichen Leben teilnehmen konnten. Es zeichnet sich sogar ein recht homogenes Bild von ihnen ab, das sogar einen gewissen Typus von Verfolgungsopfern illustriert: Ausnahmslos alle „Hexensippen“ sind der Mittelbzw. Oberschicht zuzuordnen. Sie waren keine randständigen Personen in einer sozial schwachen Position. 1640 Im Gegenteil: Aufgrund ihres Landbesitzes standen sie teilweise an der Spitze innerdörflicher Abhängigkeitshierarchien, indem sie für viele Gemeindemitglieder Erwerbsmöglichkeiten anboten. Zudem bildeten sie in ihren gemeindlichen bzw. westphälischen Ämtern nur allzu häufig ein Scharnier und Sprachrohr zwischen Dorfgemeinde und Obrigkeit, deren jeweilige Interessen sie vertraten. Zumindest die Akten der Niederen Gerichtsbarkeit legen dieses Bild über die Deüffelskinder nahe, die in dieser Querschnittsanalyse mehrheitlich berücksichtigt wurden. Geht man jedoch hypothetisch von der Prämisse aus, dass die Hexenverfolgungen nicht willkürlich irgendwelche Personen trafen - und diese Annahme wird allein durch die hier dargelegten Familienchroniken gestützt sowie durch die besondere Eigenlogik der Denunziationen -, sondern nach einem mehr oder weniger strengen Muster verliefen, gilt es, den Begriff der Devianz, den Walz im Übrigen keiner näheren semantischen Bestimmung unterzieht, genauer in den Blick zu nehmen. „Devianz“ ist, wie die Sozialwissenschaften betonen, eine relationale Kategorie, die nur sinnvoll in Bezug auf bestimmte Normen zu definieren sei. 1641 Diese können sowohl rechtlich-formeller Natur sein als sich auch in nicht unbedingt schriftlich fixierten, gesellschaftlichen Verhaltensregeln äußern. Klammert man zunächst das heimliche Hexenverbrechen aus, das den Delinquenten unterstellt und im rechtlichreligiösen Sinne zu den schwerwiegenden Kriminaldelikten gezählt wurde, und nähert sich der zeitgenössischen Definition von Devianz auf der Ebene eines ungeschriebenen 1638 Vgl. Walz: Magische Kommunikation, S. 304. 1639 Ebd. 1640 Ob es nun diese sozialökonomisch starke Position war, die sie angreifbarer für Hexereibschuldigungen machte, ist anhand des vorliegenden Quellenmaterials nicht überprüfbar. 1641 Vgl. Schwerhoff, Gerd: Art. „Devianz“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0745000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 388 11 Des Teufels Kinder - eine prosopografische und genealogische Skizze sozialmoralischen Verhaltenscodex, sticht bei den Deüffelskindern ein deutliches Indiz für eine gravierende Anomalie heraus, die zunächst unscheinbar auf den heutigen Betrachter wirkt: ihre verwandtschaftliche und teilweise freundschaftliche Nähe zueinander, die ihren Ausdruck in transitiven Bindungen findet. Das heißt, in dieser Untersuchung werden nicht nur einzelne tragische „Familiengeschichten“ sichtbar, sondern es treten Kollektivbiografien zutage, die das strukturelle Netzwerk sowie die Verwandtschafts- und Verschwägerungsgrade der Deüffelskinder darstellen. Freilich sind die lokalen Ehegesetze und positiven Heiratsregeln der jeweiligen Region zu beachten, die sich primär an den Zielen materieller, sozialer und politischer Zukunftssicherung der Familie orientieren. 1642 Jedoch sind gerade eben diese Allianzen unter den Deüffelskindern von der örtlichen Justiz kriminalisiert worden. Dieses charakteristische Merkmal der vermeintlichen Delinquenten sticht neben ihrer Abstammung förmlich aus den Hexenprozessakten heraus, in denen ihre Beziehungen zueinander stets im Indizienkatalog hervorgehoben werden. In den Augen vieler Gemeindemitglieder mögen diese personellen Bindungen wesentlich der Erhärtung des Verdachts eines bestehenden crimen maleficarum Vorschub geleistet haben. So ergab sich für die Gemeinde ein Bild von einer sich zusammenrottenden Hexensekte, das der Lehre des malleus maleficarum einen Realitätsgehalt verschaffte. Unterstellt man die Richtigkeit dieser Interpretation, würde dies gleich mehrere Anknüpfungspunkte für noch weitere zu leistende Analysen im Rahmen kriminalhistorischer Überlegungen bedeuten: 1. Die Vorstellung von einer im Kollektiv auftretenden Hexensekte war bereits zu Beginn der fürstenbergischen Hexenverfolgungen vollständig ausgeprägt - entweder bildete sie einen wesentlichen Bestandteil eines lokalen, uralten Hexenglaubens, oder die Propaganda des „Hexenhammers“ war bereits zu diesem Zeitpunkt gänzlich rezipiert, adaptiert und verinnerlicht worden. Ungeachtet des Ursache-Wirkungsprinzips gilt es folglich, den fürstenbergischen Hexenglauben noch im Detail zu dechiffrieren. 2. Offenbar herrschte in der Gemeinde die Vorstellung, dass von den „kontaminierten“ Nachkommen der Hexer und Hexen eine virulente Gefahr ausging, die eine soziale Beziehung zu ihnen, ungeachtet welcher Art, problematisch gestaltete. Mitnichten soll mit dieser Behauptung suggeriert werden, dass die Deüffelskinder ausschließlich nur in lokale „Hexensippen“ einheiraten konnten. Ein Blick in die Verwandtschaftsbeziehungen belegt ja gerade ein ausgedehntes Beziehungs- und Heiratsnetz auch zu den „normalen“ Ortsfamilien. Jedoch fällt ihre enge Bindung zueinander ins Auge, die die Vermutung einer schwierigeren Heiratsanbahnung zwischen Berüchtigten und Unberüchtigten unterstreicht. In logischer Konsequenz würde dies bedeuten, dass die Deüffelskinder in irgendeiner Form von der Gesellschaft etikettiert worden sind. Um diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, muss abschließend das Quellenmaterial nach eventuellen gesellschaftlichen Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsmechanismen untersucht werden. 3. Die Frage, 1642 Vgl. Ehmer/ Schröter: Heiratsmuster, europäisches sowie Lanzinger, Margareth: Art. „Partnerwahl“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352- 0248_edn_a3158000 (Zugriff am 27. 03. 2017). 11.4 Zusammenfassung 389 warum lediglich einzelne Nachfahren aus Hexengeschlechtern und nicht deren ganze „Sippe“ verfolgt wurden, konnte anhand des bisherigen Analysequerschnitts noch nicht hinreichend beantwortet werden. Um zu möglichen Antworten zu gelangen, werden im folgenden Abschnitt die „Teufelskinder“ auf der biografischen bzw. personalen Ebene untersucht. Teil V „Hexen-Machen“ 12 Die historische Fabrikation [...] ihr wolt mich zur hexen machen [...]. 1643 Dieses Zitat stammt nicht etwa von einem bereits vorgestellten Deüffelskind, sondern von Caspar Dröppels Ehefrau, die im Streit mit Engel Voetländer lag. 1644 Der Fall ist in diesem Zusammenhang von besonderem Belang, weil er das zentrale Leitthema dieses Kapitels anschneidet: das interaktionistische Wechselspiel des Hexen-Machens, an dessen Ende das Produkt „Hexe“ hätte stehen können. Bewusst wird hier der Konjunktiv verwendet, denn nicht jeder Etikettierungsprozess artete zwangsläufig aus in eine soziale Stigmatisierung und Ausgrenzung oder endete gar in einen strafrechtlichen Hexenprozess. 1645 Desgleichen scheiterte der Diffamierungsversuch auch im Fall von Caspar Dröppels Ehefrau. Das kurze Zitat eröffnet allerdings noch ein anderes Themenfeld, das bei oberflächlicher Betrachtung der Quelle nicht zu vermuten wäre: das Phänomen sozialer Schuldsignaturen. 1646 Aus der Quellenpassage lassen sich gleich mehrere Aspekte ableiten, die für den soziologisch-analytischen Teil dieser Studie essenziell und thematisch wegweisend sind: 1. Offenbar war man nicht nur ein/ e Hexe/ r bzw. Deüffelskind qua Geburt, sondern konnte zusätzlich durch gewisse soziale und rechtliche Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsvorgänge zu einer solchen Person gezielt „ gemacht“ werden. 2. In Fürstenberg lag offenbar ein gewisses Repertoire an Etikettierungsmechanismen vor, die 3. speziell bei der Stigmatisierung von vermeintlichen Hexen verwendet wurden. 4. Diese formellen und informellen Labeling-Vorgänge waren sowohl Anklägern als auch Beklagten bekannt und konnten 5. von den „Tätern“ bewusst instrumentalisiert werden, um zunächst eine soziale Ausgrenzung des „Opfers“ zu bewirken, die in einer strafrechtlichen Verfolgung münden konnte. Diese Feststellungen leiten zu einem gezielten Dialog zwischen empirischen Befunden und dem theoretischen Deutungsansatz der neueren Devianzsoziologie über, mit denen das Hexenphänomen soziologisch erfasst werden soll. Der Erklärungsansatz des Labeling Approach soll dabei tiefere Einblicke in die sozialen und rechtlichen Prozesse des zeitgenössischen Hexen-Machens liefern, das uns gegenwärtig so fern entrückt zu sein scheint. Folglich liegt der inhaltliche Schwerpunkt dieses Kapitels auf den sogenannten „sozialen Reaktionen“, den Etikettierungsprozessen. Die obersten Leitfragen sollen hierbei lauten: Wie waren die sozialen Reaktionsmuster im frühneuzeitlichen Fürstenberg beschaffen? An welches (abweichende) Verhalten knüpften die 1643 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 232 r . 1644 Siehe hierzu Kapitel 8.5. 1645 Siehe hierzu Kapitel 8.4. 1646 Zum Begriff siehe hierzu Lipp: Stigma und Charisma, S. 60-65. 394 12 Die historische Fabrikation Etikettierungen an oder wurden sie lediglich zugeschrieben? Waren Relativierungen und Rücknahmen der Stigmata möglich, und von wem wurden sie ausgeführt? Aufgrund des hohen theoretischen Abstraktionsniveaus des Labeling Approach entstehen einige Schwierigkeiten, den Ansatz „Eins-zu-Eins“ auf das konkrete empirische Material zu übernehmen. Ob dieses Einwurfes seien einige kritische Anmerkungen vorab angestellt: In der historischen Praxis nach einer möglichen Interdependenz zwischen Stigmatisierung und Devianz zu fragen, berührt das berühmte „Henne-Ei- Problem“: Es ist schier unmöglich, anhand des vorliegenden Quellenmaterials zu bestimmen, ob erst durch das abweichende Verhalten eine Stigmatisierung erfolgte oder umgekehrt - ein Punkt, der im Übrigen auch im devianzsoziologischen Diskurs dem Labeling Approach zur Last gelegt wurde. 1647 Die Problematik kann jedoch weitestgehend relativiert werden, wenn nicht die Frage: „Was war zuerst da? “ im Fokus der Untersuchung steht, sondern der Blick auf das Wechsel- und Zusammenspiel von beiden Ebenen fällt sowie ihre referenziellen Auswirkungen aufeinander. 1648 In diesem Zusammenhang ist noch auf einen weiteren Einwand hinzuweisen: Die Überblicksdarstellung an Exklusionsmechanismen kann freilich nicht generationsübergreifend für die je einzelnen „Hexensippen“ oder für ihre Nachfahren geschlossen skizziert werden - es mangelt hier schlicht an einer dichten Quellenüberlieferung. Die Stigmatisierungen werden sowohl den Akten der Niederen Gerichtsbarkeit als auch den Hexenprotokollen entnommen und in gebündelter Form in einer Zusammenschau betrachtet. Auf diese Weise können die Dimensionen an sozialen wie rechtlichen Etikettierungen offen dargelegt werden, die dem Leser einen Eindruck vermitteln, welchen psychischen Druckmitteln die jeweiligen Deüffelskinder ausgeliefert waren. Ein weiteres Transferproblem entsteht durch den Befund, dass der von Lemert bezeichnete „Aufschaukelungsprozess“, d. h. die systematische und zeitlich dichte, sukzessive Abfolge von Aktion und Reaktion, sich auf Basis der Quellenlage nicht linear nachzeichnen lässt, geschweige denn gezielt für eine „Hexensippe“ bzw. eine Person. Die Zusammenschau der einzelnen Etikettierungen mag zwar den Eindruck erwecken, dass die Deüffelskinder kontinuierlichen Ausgrenzungsvorgängen ausgeliefert waren, die soziale Realität zeichnet allerdings ein anderes Bild: Offenbar lag ein differenziertes Spektrum an Exklusionsmechanismen vor, die sowohl von temporärer als auch dauerhafter Wirkung sein konnten. Hinzu kommt ein gewisser zeitgenössischer Sinn für Pragmatismus, der auch stark stigmatisierten und sozial marginalisierten Personen, so z. B. aufgrund ihres hohen sozialen Status, einen gewissen Toleranzraum und bestimmte Integrationsmöglichkeiten innerhalb der Gemeinde Fürstenberg zubilligte. Inwieweit die Deüffelskinder ein Paradebeispiel für eine solche ambivalente und von Spannungen durchzogene Haltung darstellten, soll noch im Laufe dieses Kapitels herausgearbeitet werden. 1647 Vgl. Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 276-279. 1648 Damit ist die kritische Frage hinfällig, ob die Wahrnehmung der Nonkonformität der Angeklagten nicht Voraussetzung, sondern erst Ergebnis des Zuschreibungsprozesses der Hexerei ist. Vgl. Schwerhoff: Crimen, S. 21. 12.1 „Kontrollagenten“ 395 Zusätzlich ist anzumerken, dass eine pauschale Klassifizierung in temporäre bzw. dauerhafte Stigmatisierung nicht ausreichend ist, um das Phänomen der Etikettierungsprozesse in Gänze zu erfassen. Die inhärente Selektionslogik beim Labeling Approach macht darauf aufmerksam, dass eine weitere Abstufung zu beachten ist: die Differenzierung von allgemeinen Stigmata und solchen Schuldzuweisungen, die speziell auf gewisse Gruppen oder Personen zugeschnitten wurden. Von besonderem Interesse in diesem Interpretationszusammenhang sind natürlich die Etikettierungen, die gesondert für die Deüffelskinder gebraucht wurden, und ihre Wirkmacht auf deren sozialen Status. Um eine logische Struktur und daraus folgernd eine bessere Lesbarkeit zu garantieren, wurde auf folgende Schlagworte des Labeling-Ansatzes zurückgegriffen, die allerdings keine zwingend aufeinander aufbauende Reaktionsabfolge implizieren sollen - sie dienen lediglich als Orientierungspunkte, um den Methodentransfer analytisch greifbar zu machen. 1. „Agenten“; 2. (primäre und sekundäre) „Devianz“ und schließlich 3. die „soziale Reaktion“. 12.1 „Kontrollagenten“ Eine partielle Darstellung der treibenden Kräfte in einem Hexenprozess erfolgte bereits in Kapitel 9.1. Jedoch bedarf es noch einiger ergänzender Ausführungen, um einen möglichst flächendeckenden Gesamtüberblick über die in der Neuen Devianzsoziologie sogenannten Kontrollagenten bzw. „Wächter“ zu erhalten. Denn letztere geben am Ende den Ausschlag, was als soziale Abweichung eingestuft und damit von der Gesellschaft als normfixiert wahrgenommen wurde. 1649 Ihre tragende Rolle beim sozialen und rechtlichen Stigmatisierungs- und Marginalisierungsvorgang lädt dazu ein, das soziologische Verständnis der „Kontrollagenturen“ an dieser Stelle kurz Revue passieren zu lassen und in einen gezielten Dialog mit den historischen Befunden zu setzen. Unter den klassischen Vertretern des Labeling Approach herrscht der Konsens, dass die sogenannten „Agenten“ konstitutiv für die Qualität von Devianz sind. Im Gegensatz zu den „Regelsetzern“, wie Becker es formulierte, sind die „Agenten“ die „moralischen Kreuzritter“ der Normanwendung, sozusagen der verlängerte, exekutive Arm der Normbzw. Regelsetzer. 1650 Um wen es sich bei dem amorph gehaltenen Begriff „Agent“ konkret handelt, wird in der einschlägigen Literatur nicht näher eingegrenzt, da schlichtweg jede Person, ungeachtet ob durch eine institutionelle Einrichtung amtlich eingesetzt oder nicht, ein „Agent“ sein kann. In ihrem Selbstverständnis fühlen sich die „Regeldurchsetzer“, d. h. die „Agenten“, dazu verpflichtet, für das Wohlergehen („welfare“) einer Gemeinde zu sorgen und auf die Einhaltung der lokal geltenden Normen und Werte zu achten sowie abweichendes 1649 Vgl. Lipp: Stigma und Charisma, S. 63. 1650 Becker: Außenseiter, S. 145. 396 12 Die historische Fabrikation Verhalten mit Hilfe von informellen sowie formellen Sanktionen zu bestrafen. 1651 Diese „Regeldurchsetzer“ sind maßgeblich für den Definitionsprozess von sozialen und rechtlichen Richtlinien sowie deren Verinnerlichung zuständig. Sie repräsentieren folglich das gesellschaftliche Ordnungssystem und setzen durch sanktionierende Handlungen eine symbolische Trennlinie zwischen Konformität und Abweichung, was ihnen eine gewisse Machtposition zuteilwerden lässt. Wie Erikson vermerkt, sind die „Agenten“ die zentralen Autoritäten, die mittels öffentlicher „Zeremonien“ nonkonformes Verhalten etikettieren und somit maßgeblich für den Prozess einer innergesellschaftlichen Statusveränderung des Abweichlers verantwortlich sind. Diese „Kontrollagenten“ vergeben die Labels jedoch nicht nach einem einheitlichen Bewertungsschema, sondern selektiv und individualistisch. Obwohl Lemert kritisch mittels eines zehnteiligen Fragenkatalogs darauf aufmerksam macht, dass der Kontrollbereich dieser „Agenten“ noch schärfer herausgearbeitet werden müsse, ebenso ihre Wirkmächtigkeit und Abhängigkeit von übergeordneten Kontrollinstanzen bzw. ihre Stellung zur Gesellschaft, 1652 wurde der Gedankenimpuls einer feineren Ausdifferenzierung von den hier berücksichtigten Labeling-Theoretikern nicht weiterverfolgt. In diesem Zusammenhang soll allerdings der kritische Einwand bei der analytischen Ausarbeitung der „Kontrollagenten“ weitestgehend Berücksichtigung finden. Soweit der theoretische Ansatz, dessen Plausibilität nun im konkreten Untersuchungsraum überprüft werden soll. Dazu bedarf es zunächst eines „Herauszoomens“ von der personellen Ebene auf einen allgemeinen und gestrafften Blick auf die rechtlich-politische sowie soziale Struktur der fürstenbergischen Gemeinde. Für die Erhaltung und Stabilisierung der sozial-moralischen Ordnung, der sogenannten „verhaltensleitenden Codes“, die in der Regel auf überkommene Vorstellungen von Wahrheit, Gerechtigkeit sowie Gemeinwohl basieren und zugleich negative Referenzen des Nicht-sein-Sollens bestimmen, 1653 war die westphälische Ortsobrigkeit verantwortlich. Es war ihre ureigenste Aufgabe als Schutz- und Schirmherren über Fürstenberg, für die Wahrung geltender Normen und Normalität innerhalb der Gemeinde zu sorgen und deren Verbindlichkeit zu garantieren. Bezogen auf das lokale Hexenphänomen verschärften sie die geltenden Normen ex negativo durch dessen strafrechtliche Verfolgung. Doch legen die untersuchten Quellen die These nahe, dass einem gerichtlichen Ausufern der Hexenprozesse durch eine obrigkeitliche Rationalität Einhalt geboten wurde. Denn eine exzessive Folter kam nicht zum Einsatz, den Angeklagten wurden weitgehende Verteidigungsmöglichkeiten eingeräumt und Denunziationen kritisch nachgegangen. 1651 „These agencies are [...] collectively sanctioned as bearing immediate responsibility for the manipulation of outcast and handicapped persons and groups. Ostensibly, these agencies have devised programs which serve the needs of both society and persons falling within their province of treatment or jurisdiction.“ Lemert: Pathology, S. 68. 1652 Ebd., S. 71. 1653 Hering Torres: Soziale Wertesysteme. 12.1 „Kontrollagenten“ 397 Im täglichen Miteinander bildeten die kommunalen und herrschaftlichen Amtsinhaber die institutionellen „Kontrollagenten“. Sie waren sowohl für die Sicherung der ökonomischen Versorgung zuständig als auch für die Aufrechterhaltung der sozialmoralischen Ordnung, weshalb sie in den niedergerichtlichen Akten auch als „Rüger“ in Erscheinung treten. Im Zusammenhang mit der Hexenthematik ist jedoch insbesondere die Bedeutung der Schöffen und der Richter hervorzuheben, die in den Hexenprozessakten stets als Kontroll-, Denunziations- und Rechtsprechungsorgane agieren. Sicherlich darf nicht unbeachtet bleiben, dass auch die kleinsten Zahnräder in der Maschinerie „Hexenprozess“ mitwirkten, wie bereits oben (Kapitel 9) erörtert wurde. Jedoch sind die Rollen der Schöffen und der Richter am ehesten im ausgewerteten Archivmaterial greifbar. Die Schöffen waren verpflichtet, einerseits selbst gegen die vermeintlichen Delinquenten Zeugnis abzulegen, andererseits Amtskollegen und Dorfmitglieder zu ermutigen, Beobachtungen, die auf das Hexenlaster schließen ließen, eidlich vor Gericht zu denunzieren. Sie konnten auch entscheidend den Meinungsbildungsprozess der externen Doctores beeinflussen, da sie mit der Aufgabe betraut waren, dem gesamten Verfahrensablauf von der Voruntersuchung bis hin zum Rechtsurteil beizuwohnen. Ob sie allerdings die treibende Kraft bei Denunziationen von berüchtigten Personen waren, bleibt fraglich. Denn einschränkend ist hinzuzufügen, dass den westphälischen Bediensteten trotz ihrer „Machtposition“ weder von der Obrigkeit noch der Gemeinde ein uneingeschränkter Handlungsraum zugestanden wurde. 1654 Behält man die kategoriale Unterscheidung in formelle und informelle „Agenten“ bei, so müssen im Zuge der erstgenannten noch die von auswärts bestellten Spezialisten in Hexensachen, die Hexenkommissare, genannt werden. Auf Basis ihrer langjährigen Praxiserfahrungen sowie ihres umfangreichen juristischen Fachwissens zum Hexenphänomen legten die Rechtsgelehrten fest, welche anomalen Verhaltensweisen als Indiz für das Hexen gewertet werden konnten. Zwar mangelte es ihnen in Fürstenberg an strafrechtlichen Befugnissen, und sie nahmen lediglich den Platz von 1654 Insbesondere in Fällen der Blutgerichtsbarkeit beharrten die erbberechtigten Junker auf das ihnen allein zugebilligte Recht der strafrechtlichen Urteilsfindung und störten sich selbst nicht an gegensätzlichen Meinungen hochgelehrter Hexenkommissare. Lediglich bei Bagatelldelikten räumten die Adelsherren dem Gerichtsapparat einen größeren Entscheidungsfreiraum ein, der zwar teilweise arbiträr erscheinen mag, aber doch auf geltenden Gewohnheitsrechten basierte. Nicht zu vergessen oder gar zu unterschätzen ist der Aspekt, dass mit dem herrschaftlichen Dienst ein gewisses „Amtsethos“ sowie eine hohe Erwartungshaltung sowohl von der Gemeinde als auch der Obrigkeit einhergingen, die den Handlungsraum der Bediensteten zumindest in idealtypischer Hinsicht kontrollieren und einschränken sollten. Erinnert sei an den Schöffen Levin Thelen, der sich offenbar aufgrund seines politischen und rechtlichen Status einige Handlungsfreiheiten herausnahm, die nicht mit dem Amtshabitus vereinbar waren. Sein Gebaren als großer herre erregte den Unmut einiger Dorfgenossen, wobei sich Meineke Dröppels Frau nicht davor scheute, seine Tür mit Unrat zu beschmieren. Inwieweit die Schöffen das sprichwörtliche Zünglein an der Waage waren, indem sie ihre Amtspflichten allzu ernst nahmen und/ oder aufgrund von Profitgier die Hexenprozesse sublim vorantrieben, muss spekulativ bleiben. 398 12 Die historische Fabrikation Beratern ein, dennoch waren sie konstitutiv am Definitions- und Etikettierungsprozess von vermeintlicher Devianz beteiligt. Nicht zu unterschätzen sind auch die Collectores, die eigens für den Zweck der Indiziensammlung bzw. -bestätigung gegen berüchtigte Personen in der Prozesswelle von 1631 eingesetzt wurden. Nachdem sie gegen einige Personen Verdachtspunkte vor Gericht angezeigt hatten, erstellte der Richter nach ihren Angaben den Indizienkatalog, den die Collectores abschließend mit einem Eid bekräftigen mussten. Ob die Einführung dieses Amtes als hinreichendes Indiz für eine mangelnde Denunziationsbereitschaft vonseiten der Dorfbewohner oder für einen Intensivierungsbedarf der fürstenbergischen Hexenverfolgung zu deuten ist, ist nicht zu beantworten. Auch kann m. E. für Fürstenberg nicht die Aussage getroffen werden, dass es sich bei den Collectores um einen dörflichen Ausschuss gehandelt hat, wie Eva Labouvie es für bestimmte Gegenden im saarländischen Raum nachweisen konnte 1655 - ihre Erwähnung in den Quellen ist zu sporadisch. Auf informeller Ebene ist selbstverständlich die gesamte Gemeinde, ungeachtet ihrer Alters- oder Schichtenzugehörigkeit, als kollektiver „Kontrollagent“ zu nennen. Aufgrund ihres dichten Sozial- und Kommunikationsraumes lagen hier die gesellschaftsbestimmenden Elemente Solidarität, Interaktion und soziale Kontrolle dicht beieinander. Im dörflichen Sozialgefüge partizipierten alle Einwohner - bewusst oder unbewusst - an der sogenannten „teilnehmenden Beobachtung“, die nicht nur die „öffentliche Meinung“, sondern auch das Handeln und Verhalten der Gemeindemitglieder prägte. 1656 Auch für Fürstenberg ist nachweisbar, dass deviantes Verhalten durch Rügebräuche sanktioniert wurde. Übliche Sanktionen stellten der Fenstereinwurf, das allgemeine Gerücht, die öffentlichen Verbalinjurien, Sachbeschädigungen, körperliche Übergriffe und die Konsultierung des Gerichtes dar. Die soziale Kontrolle war folglich ein integraler Bestandteil der frühneuzeitlichen Gesellschaft und sollte als Garant für die Aufrechterhaltung des Normen- und Wertesystems dienen. Gleichzeitig war damit eine Verhaltenskonformität geschaffen, die einerseits mit einer Erwartungshaltung dem Gegenüber einherging, andererseits Verhalten gewissermaßen vorhersagbar machte. 1657 An dieser regelrechten Beobachtungspflicht knüpften schließlich auch die fürstbischöflichen Policeyordnungen mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die bestehende Vergeltungstheologie an und erhoben alle Gemeindemitglieder zu Beobachtern. 1658 Inwieweit der Aufruf zur „teilnehmenden Beobachtung“ vom „ gemeinen Mann“ internalisiert wurde und als ein entscheidender Hebel für die Denunziationsbereitschaft beim crimen maleficarum diente, kann quantitativ und qualitativ an den Quellen nicht ermessen werden. Ebenso wenig 1655 Vgl. Labouvie: Hexenwerk. 1656 Vgl. Troßbach/ Zimmermann: Geschichte des Dorfes, S. 185 ff. 1657 Vgl. Hering Torres: Soziale Wertesysteme. 1658 Wiederholt forderte der Landesherr seine Untertanen dazu auf, beobachtetes abweichendes Verhalten ihrer jeweiligen Ortsobrigkeit anzuzeigen. Vgl. Hochfürstlich-Paderbornische Landes- Verordnungen, S. 129 und 186. 12.1 „Kontrollagenten“ 399 kann beantwortet werden, welche persönlichen Motive, ob Neid, Missgunst oder Nachbarschaftskonflikte, 1659 die entscheidenden Katalysatoren für die Initiierung von Hexenprozessen bildeten. Denn weder liegen für den Untersuchungsort gemeinschaftliche Kollektivsuppliken an die Herren von Westphalen vor, noch geben die Hexenprozessakten ausreichend Auskunft über die Denunzianten. 1660 Dennoch legen die Prozessakten die vorsichtige Vermutung nahe, dass die westphälische Obrigkeit erst dann offiziell in das Dorfgeschehen eingriff, wenn das Hexengerücht im Dorf seinen Höchstpunkt erreicht hatte. Besonders im Kontext der Hexenverfolgungen von 1658/ 59 ist noch eine weitere Form der „informellen Agenten“ hervorzuheben: die „Besessenen“. Das 16. und 17. Jahrhundert gelten gemeinhin als „Goldenes Zeitalter“ für die Besessenheit, in denen sie fast epidemisch auftrat 1661 und wovon schließlich auch das Hochstift Paderborn nicht verschont blieb. 1662 Wird in der Hexenforschung vielfach über die Ursachen dieses Phänomens und dessen Symptome diskutiert, 1663 soll in diesem Zusammenhang vor allem dessen sozialkontrollierende Funktion besondere Beachtung finden. Als Anfang Mai 1656 die ersten Besessenheitsfälle im Paderborner Umland, in der Landstadt Brakel, auftraten, griff kurz darauf auch in Fürstenberg die besagte Manie um sich. Nach Errichtung des Pastorats in Fürstenberg berichtete am 16. Juni 1658 der Pfarrverweser Johann Stamm auftragsgemäß den paderbornischen Generalvikar über die Lage der Besessenen in Fürstenberg. Zu diesem Zeitpunkt wütete das Phänomen bereits seit einem Jahr in der Gemeinde, was zu einigen Unruhen und Tumulten unter den Dorfbewohnern geführt hatte. Ebenso wie den Gottesdienst würden sie auch die Gemeindemitglieder in ihren Häusern stören und beständig umherlaufen (continue movens). 1664 1659 Insbesondere die Arbeit von Walter Rummel macht am Beispiel seines Untersuchungsraumes über die unterschiedliche Motivationslage für Denunziationen aufmerksam. Rummel: Bauern. 1660 Im Gegensatz zu dem Nachbarort Essentho. In einer Gemeinschaftssupplik vom 26.09.1648 heißt es: Alß die Einwöhnern Zu Eßentho, ambts Wünnenberges, so wohl durch ihre Vorstehern, vndt den Westphälischen frohnen daselbst, Ins gemein, alß auch ihrer etzliche in Particulari, bey den sämbtlichen herren droßten vndt Pfandts Einhabern zum Wünnenberge; meinen Hoch[-] vndt Groesgepten. Herren; sich beklagen Laßen, wie eines theils schier allezeit scheldungen vndt schmehungen, der Hexerey halber, in Ihrem dorff verlieffe; andern theils aber Ihrer etzlichen die Pferde vhrplötzlich hinfielen, [...] vndt dabey vff ein Oder zwey Personen etzliche Verdächtige anzeigung geben wolten. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1661 Vgl. Waardt, Hans de/ Schmidt, Jürgen Michael/ Midelfort, H. C. Erik/ Lorenz, Sönke/ Bauer, Dieter R. (Hrsg.): Dämonische Besessenheit. Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens (Hexenforschung, Bd. 9), Bielefeld 2005, S. 7. 1662 Für ausführliche Berichte über die Paderborner Manie siehe Richter: Die „vom Teufel Besessenen“ sowie Decker: Die Päpste und die Hexen. 1663 Die Erklärungsansätze reichen von geistiger Gemütskrankheit wie Melancholie über natürliche und unnatürliche Einwirkungen von Magnetismus oder des Teufel bis hin zur Einnahme von Halluzinogenen etc. Siehe hierzu Midelfort, H. C. Erik: Natur und Besessenheit. Natürliche Erklärungen für Besessenheit von der Melancholie bis zum Magnetismus, in: Waardt/ Schmidt/ Midelfort/ Lorenz/ Bauer (Hrsg.): Dämonische Besessenheit, S. 73-88. 1664 DiözesA Pb., Acta 150, fol. 38 r . 400 12 Die historische Fabrikation Obwohl der hiesige Pfarrverweser im Beisein des Gerichtspersonals Exorzismen an den Betroffenen durchgeführt hatte, deren „Leiden“ sich schließlich als fingiert herausstellten, 1665 ebbte die Zahl der Besessenen in Fürstenberg nicht ab. Die Gemeindemitglieder waren weiterhin davon überzeugt, es handle sich um eine echte Besessenheit. Bis 1659 behaupteten einige Frauen, vom bösen Feind ergriffen worden zu sein, 1666 und standen ihren Paderborner „Vorbildern“ in Nichts nach: 1667 Neben einem unflätigen Benehmen gaben die obsessae in aller Öffentlichkeit an, ihnen sei etwas Lebendiges in den Leib gefahren, sodass sie allerhand körperliche Leiden hätten, wie z. B. kraftlose und taube Arme. 1668 Laden diese Befunde zu vertiefenden Untersuchungen der Volksmagie und insbesondere der Dämonenvorstellungen ein, muss doch in diesem Analysekontext der Akzent auf eine andere spannende Beobachtung gelegt werden. Es handelt sich um das scheinbar paradoxe Selbstverständnis der Besessenen, die erst dank ihres Opferstatus 1665 Ein Auszug aus dem Originaldokument über die Besessenheit sei an dieser Stelle erwähnt: Am 22. August 1659 trat Clara Scharpechten vor Gericht, weil sich ihre Tochter Freda Sommer angestellt habe, als ob sie mit dem bösen feindt beseßen gewesen sei. In Gegenwart des Pastors, Kommissars, Richters, Jacob Blindens und Christoph Hibigens ist sie zur Rede gestellt worden, Ob eß eine Rechte beseßenheidt Oder nicht gewesen sei. So sagte das Mädchen: Eß wehre Ihme ein schlucken ankommen, wüßte aber von keiner beßenheit. Sie wurde gefragt, wie sie zu solchem Schlucken gekommen sei oder wie sie es gemacht habe. Ebenso das blecken, so deß Nachtß in seines herren Johan voetländers hause gethaen, welcheß gelautet[,] alß wan ein hauffen jachthunde darein gewesen, daß auch sein herr vndt fraw darüber erschrocken [...]. Sie solle es jetzt wiederholen. Freda antwortete, sie könne es nicht, wisse auch nichts davon. Sie wurde ferner gefragt, ob sie denn auch bei Verstand gewesen sei, als es so geschluckt oder gebleckt habe. Sagte, ja, wisse wohl, was es getan habe. Daraufhin habe der Herr Pastor das Mädchen angesprochen, ob es das Vater-Unser und den Englischen grueß beten könne und die zehn Gebote kenne. Antwortete ebenso mit Ja, könne zwar beten, Im übrigen aber wüßte nicht viel davon, sagendt sein Mutter hette eß kein beten gelehrt, besondern waß es davon könte[,] daß hette es bey den Jenigen gelernet da eß gedienet. Als der Pastor nun einige Gebete und Exorzismen gebraucht hatte, befand man, dass man nicht die geringste beseßenheit ahn Ihme abmerken Oder erspüren können. Nach diesem Befund wurde Freda ernstlich ermahnt und bedroht, auszusagen, wie es nun das Schlucken gemacht habe. Wenn sie nicht gestehe, werde Ihme sonst ein anderer schimpff begegnen. Darauf habe das Mädchen öffentlich gezeigt vndt gleich den beseßenen zu schlucken vndt den kopff hinter sich zu schlagen angefangen. Als man nach der Ursache fragte, warum sie sich so angestellt habe, bat es um eine Stunde Bedenkzeit. Der Wunsch wurde ihr bewilligt und um ein Uhr Nachmittag war sie wieder in die Richterstube gebracht und erneut gefragt worden, warum es sich besessen angestellt habe. Sie gestand, es aus sich selbst gethaen [zu haben], daß eß nicht arbeiten wöllen [...]. Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1666 Unter den „Opfern“ befand sich auch die bereits erwähnte Frau des Jost Stiekers, die behauptete, von Trina Kesperbaum besessen gemacht worden zu sein. 1667 Fürstbischof Dietrich Adolf v. d. Recke habe sich in einer Urkunde vom 17. April 1657 wie folgt über die Besessenen in Paderborn geäußert: Zum großen Schaden für unsere Stadt Paderborn ist es in der Umgegend und anderswo bekannt geworden, wie sehr [...] [die] Besessenen, welche nach dieser unserer Stadt laufen und daselbst wie Tobende sich benehmen und gebärden, in nicht minder jammervoller als gefährlicher Weise aufgeregt, verwirrt, bedrängt und erschüttert worden ist, indem weder in den Kirchen die Sicherheit und Ruhe während des Gottesdienstes, noch in den Wohnungen und auf den öffentlichen Straßen [...] der gute Name, die Sicherheit von Leib und Leben ungefährdet blieb. Z. n. Richter: Die „vom Teufel Besessenen“, S. 42 f. 1668 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Protokollbericht vom 22.07.1658. 12.1 „Kontrollagenten“ 401 zu fundierten „informellen Agenten“ wurden: Als durch Hexerei Geschädigte trugen sie einen Dämon im Körper, der sie zum einen zu auffälligem, deviantem Verhalten verleitete, zum anderen dazu befähigte, ein Werkzeug Gottes zu sein, indem sie nun die getarnten Hexen mit Gewissheit entlarven konnten. So berichtete der Augenzeuge und Jesuitenpater Löper über die Paderborner Besessenen, dass ihr häufigster Ausruf folgender gewesen sei: Gott will Gerechtigkeit, Gott gebraucht uns als seine Werkzeuge; Die Menge der Zauberer und Hexen wächst gewaltig, ihre Bosheit muß bestraft werden. Gott befiehlt uns, so zu rufen: Nicht eher werden wir weichen, als die Obrigkeit die Gottlosen verbrennt. An kirchlichen Exorcismen hat es nicht gefehlt, es fehlt auf der Seite derjenigen, welche der Gerechtigkeit nicht ihren Lauf lassen, welche die Zauberer verteidigen. [...]. 1669 In der Rolle als „Hexenaufspürer“ sahen sich auch die Fürstenberger Besessenen, die entscheidend für die Initiierung der dritten großen Verfolgungswelle (1658/ 59) in der Gemeinde verantwortlich waren. Auf öffentlicher Straße, in der Kirche oder in den Häusern der Einwohner schrien sie die Namen berüchtigter Personen heraus, die vornehmlich aus „Hexensippen“ stammten oder bereits 1631 strafrechtlich verfolgt, jedoch wegen herrschender Kriegsunruhen wieder aus den Prozessen entlassen worden waren. Im Fall der Engel Hinte gab der Zeuge Hans Schetter an, dass die Besessenen sie als Hexe ausgerufen hätten, und im Fall des Albert Sanders erinnerte sich der Fiskal, dass seine Großmutter sogar von denen beseßenen geschlagen worden sei. 1670 Hartnäckig forderten die Besessenen die Hinrichtung der bisher von strafrechtlicher Verurteilung verschonten Deüffelskinder, und zwangen damit die Obrigkeit regelrecht zum Handeln - denn sie waren davon überzeugt, dass sie erst durch den Tod der Deüffelskinder vom Dämon befreit werden würden. 1671 Mit einem Brief wandte sich der von den Adelsherren beauftragte Richter Johann Sauren an den Hexengelehrten Conrad Rose aus Lippstadt und leitete die Korrespondenz mit den Worten ein: Nachdem wir, bei dieses fürstenthumbs stehendem vbel, auch leider hiesiges vnsers orts nicht verschont, sondern auch mit der eüßerlich scheinende[n] beseßenheit an etzlichen personen auch heimbgesuchet worden seyn[,] dahero [haben wir uns] entschloßen[,] gegen die hexen vnd vnholden zu inquiriren [...] 1672 . Diese nur skizzierte Darstellung der diversen „Kontrollagenten“ auf allen Ebenen verdeutlicht das personelle Geflecht aus formalisierter Sozialkontrolle und herrschaftlicher 1669 Z. n. Richter: Die „vom Teufel Besessenen“, S. 41. 1670 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 119 v . 1671 Eine Vorstellung, die selbst die Deüffelskinder mit den Besessenen teilten. Engel Hinte gab beispielsweise im Verhör an, dass sie dem Mettgen Gerdruet, so in belen thönieses hauß zur herberge gewesen, vndt vom bösen feindt beseßen, alß Ihr daßelbe im vergangenen herbst brawen helffen, den bösen feindt in warmen biere beygebracht vndt Eingegeben, wehre gewiß vndt wahr, würde, wan sie toedt, davon erlediget werden. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 17.07.1658. 1672 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Korrespondenz vom 10.05.1658. 402 12 Die historische Fabrikation Sozialdisziplinierung, das die besondere Dynamik der Hexenprozesse erst wirkmächtig machte und ein latentes Verfolgungsklima begünstigte. 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ Zieht man die bereits konstatierten Ergebnisse aus der genealogischen und prosopografischen Untersuchung für dieses Teilkapitel noch einmal heran, mag es auf den ersten Blick obsolet erscheinen, bei den Deüffelskindern überhaupt von einem abweichenden Verhalten im engeren Sinne zu sprechen: Außerhalb der postulierten Deliktkonstruktionen in den Hexenprotokollen sind ihre Namen in den niedergerichtlichen Dokumenten für die „realiter“ begangenen Vergehen im Vergleich zu manch anderen Zeitgenossen 1673 zahlenmäßig unterrepräsentiert. Man sucht sie vergeblich in den Bereichen der schweren Delikte, wie exzessive Gewaltanwendungen, Diebstahl und Verbalinjurien. 1674 Treten die Hexenkinder dennoch aktenkundig in Erscheinung, so bewegten sie sich im Rahmen der sozialen Konfliktregulationsmechanismen, die teilweise aufgrund eines konkurrierenden Normenpluralismus Devianz zu einer Frage des Standpunktes werden ließen. Exemplarisch sei nur an die vor Gericht eingegangene Klage von Peultertz’ Frau am 29. September 1664 erinnert, in der sie Jost Grothen beschuldigte, er habe ihr mutwilliger Weise den Zaun kaputt gefahren, sie für eine Hure gescholten und sei mit Steinen auf sie zugeeilt, um sie ihr an den Kopf zu werfen. 1675 Entgegen der Auffassung der Klägerin sah das Gericht in diesem Verhalten kein strafrechtliches Vergehen und ließ die Sache auf sich beruhen. Selbst eindeutige Verhaltensanomalien wie die Blasphemie und das Fluchen gehörten nicht - wie zu vermuten wäre - zu den symptomatischen Handlungen der Hexen und Hexer. 1676 Anders hingegen verhielt es sich mit dem Deliktfeld der sexuellen Abweichung: Keine andere Gruppe wurde häufiger wegen leichterer oder schwerer sexueller Übertretungen sanktioniert als die bekannten Deüffelskinder. 1677 Ob sie sich nun tatsächlich in diesem von einem markanten Normendissens durchzogenen Delikt devianter verhielten als die anderen, „normalen“ Gemeindemitglieder oder das Gericht aufgrund ihres Hexenrufes 1673 Als besonders verhaltensauffällig trat die Familie Dröppel (auch „Droppel“ oder „Drüppel“ geschrieben) im 17. Jahrhundert in Erscheinung. 1674 Eine Ausnahme bildet der Fall des Jost Grothen, der erwiesenermaßenn ein Laib Brot gestohlen hatte. 1675 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 25 v . 1676 Zu den bekannten Fluchern gehörten Trina Kesperbaum, Zenzing Buschmann, Johann Caspar Saurhagen und sein Neffe Albert Sanders. 1677 Erinnert sei nur an Elsche Vogel und ihre Schwester Edling, die wegen Leichtfertigkeit mit dem Ausstreichen bestraft wurden. Margaretha Brielohn kam wegen begangenen Ehebruchs ins Gerücht und ihrer Freundin und Nachbarin Bina wurde Promiskuität nachgesagt. Margarethas Schwägerin Clara Schlunß wurde des Ehebruchs und Aborts überführt. Das Gerücht eine Kinderverbringersche zu sein, wurde der Tochter von Meineke Brielohn, der vor Gericht den Inzest mit seiner Tante Agatha gestanden hatte, nachgesagt. Ebenso in Verruf geriet Meinekes Freund Henrich Hammerschmitt, der wegen nachgewiesener Sodomie hingerichtet wurde. 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ 403 schneller geneigt war, an der „Hexenbrut“ ein strafrechtliches Exempel zu statuieren, muss dahingestellt bleiben. In Summa liegt allerdings das Ergebnis vor, das bereits Rainer Walz für den lippischen Raum festhielt: Die verfolgten Personen traten in ihrem abweichenden Verhalten nicht mehr hervor als andere Gemeindemitglieder, teilweise sogar gar nicht. 1678 Ohne den Verweis auf ihre vermeintliche Devianz in den Hexenprozessakten verschwinden die Deüffelskinder regelrecht in der Masse der Konformität. Nach diesem kurzen Abriss stellt sich die entscheidende Frage, inwieweit der elementare Baustein der Labeling-Theorie, die attribuierte „Devianz“, überhaupt für unseren Untersuchungsraum nutzbar ist und vor allem ob sie einen nützlichen Zugang zum besseren Verständnis für das Hexenphänomen bietet. Um den theoretischen Ansatz mit den empirischen Befunden in einen fruchtbaren Dialog zu bringen, sollen folgende Leitgedanken das verbindende Scharnier für die scheinbar unversöhnlichen Elemente sein: 1. Wird Devianz nicht mehr als objektive Größe und streng als rechtlich-formeller Normbruch angesehen, sondern um eine weitaus offenere, informelle Definitions- und Deutungsebene erweitert, ergibt sich ein weites Spektrum an Abweichungsformen und -möglichkeiten, die im jeweiligen personellen und situativen Kontext zu erschließen sind und auch temporäre „Konjunkturformen“ von Devianz inkludieren. Abweichendes Verhalten ist in diesem Sinne „lediglich“ als eine Enttäuschung von Erwartungen zu definieren, 1679 welche nicht ausschließlich anhand „harter Fakten“ gemessen werden kann. 2. Kombiniert man diese semantisch breiter gefasste Begriffsbestimmung von Devianz mit Lemerts Stufenmodel, kann plausibel erklärt werden, warum die Zeitgenossen bzw. „Kontrollagenten“ die Deüffelskinder trotz offensichtlicher Konformität dennoch als deviant empfanden. Seine Unterscheidung in primärer Seins- und Verhaltensdevianz auf der einen und sekundärer Karrieredevianz auf der anderen Seite hebt die Bedeutung der sozialen Wahrnehmung und Deutung im Rollenkontext des abweichenden Individuums als wesentliche Kernelemente im Stigmatisierungsprozess des Hexen-Machens besonders hervor. 1680 Für das weitere konzeptionelle sowie methodische Vorgehen bedeutet das, sich den sozialen Denkmustern zu widmen, mit denen die Deüffelskinder assoziiert wurden. Denn es waren gerade diese Gedankenverbindungen, die offensichtlich die Perzeption sowie Bewertung ihres Verhaltens in ihrer unmittelbaren Umgebung und sogar über die lokalen Dorfgrenzen hinaus beeinflussten. 1678 Walz bezieht seine Aussage primär auf das weibliche Geschlecht. Da er besonders der Frage nachzugehen versucht, warum im Raum Lippe eine deutliche Verfolgungskonzentration auf der Frau lag. Walz: Magische Kommunikation, S. 282. 1679 Walz definiert ebenfalls Devianz als eine asymmetrische Enttäuschung von Erwartungen. Da jedoch - wie er selbst konzediert - die Konflikttypen, die er in asymmetrische und symmetrische einteilt, zwar theoretisch, aber nicht praktisch nachweisbar sind, soll auf dieses Attribut in dieser Arbeit verzichtet werden. Ebd., S. 269. 1680 Siehe hierzu Albrecht, Günther: Stigmatisierung, in: Kaiser/ Kerner/ Sack/ Schellhoss (Hrsg.): Kriminologisches Wörterbuch, S. 495-500, hier S. 498. 404 12 Die historische Fabrikation Zuerst zum zweiten Punkt, der erkenntnisleitend für den ersten ist. Um Lemerts Ansatz der primären Devianz aufzugreifen, bedarf es eines gezielten Rückgriffs auf das hier erarbeitete Hexenbild in Fürstenberg. Substanziell lag dem zeitgenössischen Verständnis von der Hexe ein - im soziologischen Sinne gesprochen - höchst ätiologisches und pathologisches Verständnis zugrunde, dessen generationsübergreifender Aspekt sich in gewissen traditionellen Verfolgungskonzentrationen auf bestimmte Familien niederschlug: Aufgrund der lokalen Glaubensvorstellung von einem „infizierten Blut“, wurde den Deüffelskindern eine tendenzielle Disposition für teuflische Eigenschaften nachgesagt. Ihre niederträchtigen Neigungen verstärkten und forcierten sie mit der Hilfe eines Buhlen sowie der repetitiven Rituale des Hexensabbats. Schließlich lebte die Hexe ihre kriminelle Energie mit Schadenszauber aus. Der Begriff ist folglich - wie so oft schon in der Literatur betont - ein Sinnbild der Perhorreszierung, eine Abbreviatur „an menschlicher Verworfenheit“ 1681 . Oder mit den Worten von Rainer Walz: „Je mehr die Hexe als eindeutig böse und unmenschlich gedacht ist, [...] umso stärker überwiegt die Devianz.“ 1682 Legt man nun im nächsten Schritt über die empirischen Belege die Interpretationsschablone des Labeling Approach, kann plausibel das scheinbare Paradoxon der attribuierten Devianz trotz offensichtlicher Konformität aufgelöst werden: Bei dem Verdacht bzw. der Nachrede, ein Deüffelskind zu sein, schwingt stets die Vorstellung einer primären Devianz qua Geburt mit. Es handelt sich hierbei nicht um eine realiter wahrgenommene Verhaltensabweichung, sondern um eine imaginierte, da die Nachfahren aufgrund ihrer Abstammung und durch die Erziehung berüchtigter Eltern als potenzielle Anwärter und Träger des Hexenglaubens galten. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Aufgrund ihres „infizierten Blutes“ war die soziale fama der „Teufelskinder“ ab initiio negativ von der Gesellschaft konstituiert. Dieses Gerücht respektive die primäre attribuierte Devianz, die der „Hexensippe“ sprichwörtlich in die Wiege gelegt worden war, führte nun zu einer sensibilisierten Wahrnehmung des Deüffelkindes durch die Allgemeinheit. Mittels dieser sozial konstruierten „Brille“ konnten selbst harmlose und kleine Verhaltensabweichungen von der Norm als Bestätigung für die bereits angenommene Devianz gewertet werden. Das als unangemessen empfundene Verhalten musste dabei nicht zwangsläufig rechtlich-formeller Natur sein, sondern konnte sich auf der informellen Ebene, d. h. der gesellschaftlichen Verhaltens- und Moralregeln, befinden. Der inhärente Vererbungsgedanke im lokalen Hexenbild, der zu einer veränderten Sicht- und Deutungsweise der Gemeinde auf die infecti führte, konstituierte letztendlich den entscheidenden Multiplikator für ein über hundert Jahre bestehendes latentes Verfolgungsklima. Den sprichwörtlichen Schlussstein des interaktionistischen „Aufschaukelungsprozesses“ bildete hierbei der Hexenprozess. Dabei führte das Etikett Deüffelskind nicht nur zu einer veränderten Wahrnehmung des sozialen Umfeldes. Darüber hinaus inkludierte das Hexenstigma eine Verhaltens- 1681 Schwerhoff: Böse Hexen, S. 188. 1682 Walz: Relevanz der Ethnologie, S. 71. 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ 405 veränderung der gesellschaftlichen Mehrheit gegenüber der gelabelten Person, deren radikalste Form die vollständige soziale Ausgrenzung war. Schließlich fand ein sozialer Umwertungsprozess statt, in dem die vermeintliche Hexe das Recht auf Integration innerhalb der Gemeinde verwirkt hatte. Sie war die fleischgewordene Symbolisierung des Bösen schlechthin, 1683 bei der sogar jeglicher Körperkontakt zu vermeiden war (Berührungstabu). Wird der Etikettierungsansatz nun in seiner logischen Konsequenz weiter ausgeführt, ist die Folge der informellen Ausgrenzung eine Einschränkung des Handlungsraums des etikettierten Individuums, sodass ihm als Ausweg schließlich nur ein „Abdriften“ in eine kriminelle Karriere bleibt, die in der Devianzsoziologie als sekundäre Devianz bezeichnet wird. Ein Circulus vitiosus war geschaffen worden, vor dessen Hintergrund auch das Verfolgungsinteresse auf Seiten der Obrigkeit geweckt werden konnte. Dieses Erklärungsmodell, das den sozialen Transformationsprozess eines Individuums durch gesellschaftliche Ausgrenzungsmechanismen genauer in den Blick nimmt, ist in der Hexenforschung bereits unter anderen Vorzeichen eingeführt worden. Zu erwähnen ist an dieser Stelle Rainer Walz’ Habilitationsschrift, dessen Gedankengebäude später Barbara Gross für den Untersuchungsraum Minden übernahm und weiter ausdifferenzierte. Das grundlegende Stichwort, das ein äquivalentes Synonym zur primären attribuierten Devianz bildet, ist in diesem Kontext die autokatalytische „Hexereiverdächtigung“, die im Zuge von Klatsch, Gerede oder konkreten Konfliktsituationen hinter vorgehaltener Hand oder vis-à-vis einer Person vorgeworfen wurden. Die Hexengerüchte konnten dabei einen infamierenden Makel bilden, „weil sie latent immer vorhanden blieben und situativ wieder aktualisiert und virulent werden konnten“ 1684 . Insbesondere im Falle von Krisen- und Konfliktsituationen bestand die Möglichkeit, dass lang bestehende Hexengerüchte erneut aufgegriffen und aktualisiert wurden. Rainer Walz hob dabei den autopoietischen Charakter von Hexereiverdächtigungen hervor: Das heißt, der betroffenen Person wurde aufgrund ihres schlechten Leumunds eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil und ihr Verhalten künftig und auch retrospektiv im Licht des Anfangsverdachtes gewertet. Eine doppelte und oft hintereinander geschaltete Attribution war die Folge. 1685 Hinzu trat eine Verengung des Handlungsraumes der Beschuldigten, wie es das prominente Theoriekonzept der „Paradoxen Kommunikation“ eindrucksvoll darlegt. 1686 Die hinreichenden Verdachtsmomente bildeten nun einen nahrhaften Boden für die „status degradation“, mittels derer eine Person systematisch und radikal umgewertet werden konnte und die somit einen wirksamen Hebel für Mobilisierungsversuche zur Ausrottung der Hexe darstellte. 1687 Im Hinblick auf das von der Ethnologie und Kommunikationstheorie inspirierte multiperspektivische und -kausale Erklärungsmodell der „Magischen Kommunikation“ 1683 Vgl. Dillinger: Böse Leute, S. 229 ff. 1684 Gross: Hexerei in Minden, S. 242. 1685 Walz: Die autopoietische Struktur der Hexenverfolgungen, S. 43 f. 1686 Ders.: Magische Kommunikation, S. 518. 1687 Ders.: Relevanz der Ethnologie, S. 66 f. 406 12 Die historische Fabrikation lautet nun die entscheidende Frage an dieser Stelle: Welchen Erkenntnisgewinn kann der Labeling Approach leisten? Neben dem Verweis, einen genauen Blick auf den interaktionistischen „Aufschaukelungsprozess“ zu werfen sowie Stigma und Devianz in einem größeren wechselwirkenden Zusammenhang zu betrachten, liefert er einen entscheidenden Impuls für das Differenzierungsmoment bei der Verteilung von Attributionen und ihrer sozialen Durchschlagskraft. Um das Deutungspotenzial und sein hermeneutisches Novum besser nachvollziehen zu können, muss an dieser Stelle ein knapper Rückgriff auf die „Binsenweisheiten“ der einschlägigen Forschungsliteratur erfolgen. 12.2.1 Differenzierungslogik Bekanntlich konnte sich die „[...] Attribuierung von Verdachtsmomenten [...] - fast beliebig - gegen jede Frau (und oft auch jedermann) richten“ 1688 . Die Hexereibeschuldigungen oder -vorwürfe 1689 erhielten ihren dynamischen Zündstoff durch ihre Selbstreferenzialität und multifunktionelle Flexibilität: Die charakteristische Verbindungsmöglichkeit zwischen zweckrationalen und wertrationalen Motiven machte den Hexenprozess sowohl für individuelle als auch dem Gemeinwohl geschuldete Interessen attraktiv. 1690 Da die Hexereibezichtigung stets den Vorwurf der Unehre implizierte, enthielt sie einen potenziellen radikalen Entehrungsmakel, dessen dramatische Sprengkraft eine wirkungsvolle Verteidigung nur schwer möglich machte 1691 und sich in starken Entsolidarisierungen äußern konnte. 1692 Trotz der potenziellen Durchschlagskraft von Hexereibezichtigungen ist bisher noch keine befriedigende Antwort auf die Frage gefunden worden, wann ein Hexengerücht nicht in einen Hexenprozess mündete. So konzediert Rainer Walz für den lippischen Untersuchungsraum, dass einige Personen über Jahrzehnte im Hexengerücht stehen konnten, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden. 1693 Auch Gersmann weist für das Fürstbistum Münster Fälle nach, in denen das Hexengerücht erfolgreich und wirksam von den Betroffenen abgewehrt werden konnte, indem sie vor Gericht Injurienklagen einreichten. 1694 Auf Grundlage dieser Ergebnisse, räumt der Kriminalitätshistoriker Gerd Schwerhoff jüngst ein, dass „die Alltagslogik, nach der sich Beleidigung und 1688 Schwerhoff: Böse Hexen, S. 198. 1689 Idealtypisch lassen sich zwar beide Begriffe trennen, nicht aber in der sozialen Praxis. Es ist daher für den heutigen Historiker kaum zu unterscheiden, welche Form der Verbalinjurie letztendlich gewählt wurde. 1690 Schwerhoff: Böse Hexen, S. 194 f. 1691 Gross: Hexerei in Minden, S. 346. 1692 Gersmann: Injurienklagen, S. 243. 1693 Walz: Magische Kommunikation, S. 233. 1694 Gersmann: Injurienklagen. Gersmann schließt mit folgender Konklusion: „Das geeignete Mittel dazu [sc. um das Hexengerücht abzuwenden, S. M.] boten entweder Wasserproben oder Injurienklagen, die im günstigsten Fall für den Kläger mit dem Widerruf der Schmähung, mithin der öffentlichen Rehabilitation endeten. [...] Von Catharina Prümers einmal abgesehen, fand in keinem Fall eine Umwandlung des Injurienverfahrens in einen Hexenprozess statt.“ Ebd., S. 269. 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ 407 Bezichtigung ausdifferenzierten, [...] nach meiner Meinung noch zu wenig untersucht [worden ist] [...]“ 1695 . Bezeichnenderweise lässt sich mit dem Ansatz des Labeling Approach eben dieses Forschungsdesiderat aufgreifen. Die Labeling-Theoretiker betonen ja, dass Stigmatisierungsprozessen eine Differenzierungslogik innewohnt, die es im jeweiligen Untersuchungszusammenhang zu berücksichtigen gelte. Denn je nach Person und Zeit können die gleichen Verhaltensweisen von den „Kontrollagenten“ entweder als abweichend oder konform definiert werden. Um die verschiedenen Bewertungskriterien bei der Label-Vergabe zu entschlüsseln, müsse der personelle und situative Rollenkontext des ins Etikettierungsvisier geratenen Individuums berücksichtigt werden. Insbesondere da der vermeintliche Abweichler einen erheblichen Einfluss auf den Verlauf und die Wirkmacht der Stigmatisierungsvorgänge nimmt. Der Sozialstatus der jeweilig betroffenen Person muss daher in die „Deutungsbilanz“ mit einfließen. Bezogen auf das Hexenphänomen erlauben die genannten Überlegungen einen Perspektivwechsel: Mit der Frage nach der Selektionslogik wird gleichzeitig auch die Frage nach den Toleranzräumen angeschnitten. Inwieweit schufen soziale und moralische Verhaltensregeln, Rechtsnormen sowie -praktiken einen Toleranzraum für die Angeklagten, welcher den Hexenglauben zu ihren Gunsten flexibel machte und Hexereiverdächtigungen bzw. die primäre attribuierte Devianz qua Geburt relativierte? Viele Hinweise, die Auskunft über die lokale Differenzierungslogik geben, klangen bereits verstreut in dieser Arbeit an und sollen an dieser Stelle in einem Überblick noch einmal zusammengetragen werden. Ohne Zweifel ist die Fürstenberger Hexenpolitik von einer hohen Differenzierungslogik gekennzeichnet. Bereits ein erster Blick auf die schematischen und quantitativen Darstellungen der jeweiligen Verfolgungsopfer 1696 legt die Vermutung nahe, dass die Ortsobrigkeit nicht darauf bedacht war, alle „Hexensippen“ mittels eines Strafprozesses auszurotten. Dabei mag doch ausgerechnet der für Fürstenberg eruierte Hexenglaube die Notwendigkeit geboten haben, die „infizierten“ Hexenfamilien gänzlich auszulöschen. Die lokale Prozessführung und Verfolgungspraxis zeichnen jedoch ein weitaus zurückhaltenderes Bild im Umgang mit den „üblichen Verdächtigen“ und geben der Annahme Raum, dass gezielt gegen einzelne Familienangehörige aus der „Hexenbrut“ vorgegangen wurde. Es sei daran erinnert, dass die Injurienprozesse, selbst die, die den Vorwurf der Hexerei thematisierten, nicht mit den Hexenprozessen zeitlich zusammenfielen. 1697 Folglich besaß der Hexereivorwurf offenbar kaum Wirkmacht, wenn er gegen Personen ausgesprochen wurde, die nicht aus den Hexengeschlechtern stammten. 1698 Zusätzlich differenzierten die Gerichtsbeamten in Hexenprozessen erheblich zwischen glaubwürdigen und unglaubwürdigen Denunziationen, wie eine quantitative Auswertung der Bezichtigungen in den Prozesswellen 1695 Schwerhoff: Crimen, S. 13. 1696 Siehe hierzu Kapitel 11. 1697 Dieselben Ergebnisse liegen auch im münsterländischen Raum vor. Vgl. Gersmann: Injurienklagen. 1698 Siehe hierzu Kapitel 8.4.3. 408 12 Die historische Fabrikation von 1601 und 1658/ 59 eindrucksvoll belegt. 1699 Angesichts dieses Befundes stellt sich die berechtigte Frage, ab wann eine Bezichtigung respektive Injurie erst an Glaubwürdigkeit gewann. Die Frage nach den zeitgenössischen Differenzierungskriterien bei der Attribuierung von Stigmata wurde offenbar de facto von dem Sozialstatus der Deüffelskinder dominiert, wie ein genauerer Blick in die Quellen offenbart. Denn trotz ihres familiären Abstammungsmakels waren sie in die Gemeinde integriert. Ihren bedeutenden Positionen in den kommunalen und herrschaftlichen Diensten verdankten sie es nicht zuletzt, dass die idealtypischen Forderungen an die Christenmenschen - absolute Kontaktvermeidung und sofortige Liquidierung der Hexen und Hexer - erheblich eingeschränkt sowie die eigentlich starren Verhaltensgebote im Umgang mit den Berüchtigten relativiert und aufgelockert wurden. In erster Linie waren deren Landbesitz, die sich daraus eröffnenden Möglichkeiten zu politischen Laufbahnen sowie ihre taktische Heiratspolitik ein Garant für eine erfolgreiche bzw. tolerierte Inklusion innerhalb der Gemeinde. Ihr Landreichtum, der ihr ökonomisches Geschick, ihre kalkulatorischen sowie verwaltungstechnischen Fähigkeiten demonstrativ verdeutlichte, ließ sie an die Spitze der sozialen Hierarchie avancieren und machte sie für die kommunale Infrastruktur unabkömmlich. Sie stellten sowohl Arbeitsplätze als auch die nötigen Arbeitsgeräte sowie Vieh für die prozentual stark vertretenen Angehörigen der unteren Mittel- und Unterschicht zur Verfügung. Ihre ökonomische Potenz verhalf ihnen nicht zuletzt, in bedeutende Ämter gewählt zu werden, die sie familienstrategisch über mehrere Generationen besetzten. Sie waren in kommunalen, herrschaftlichen „Spitzenpositionen“ und niederen Diensttätigkeiten vertreten - ein indirekter Hinweis darauf, dass ihr Fachwissen von der Gemeinde geschätzt wurde. Ihre politische Machtstellung verstanden sie zudem durch geschickte Heiratspolitik zu sichern: Ein ausgedehntes Netzwerk zu den anderen Hexengeschlechtern, aber auch zu Familien, die noch ohne den Makel des Hexenrufes waren, band sie in feste Verwandtschaftsbeziehungen ein, sodass sie keine Minderheitsposition in Fürstenberg belegten. Der Querschnitt ihres Sozialprofils liefert den wichtigen sozialen Hintergrund, der den Stempel des Hexengerüchts bzw. der primären Devianz abschwächte und soziale wie rechtliche Barrieren für willkürliche oder impulsive Hexereibezichtigungen respektive Stigmatisierungen setzte. Ihr gehobener Sozialstatus auf der einen und ihre weitläufigen Beziehungen auf der anderen Seite boten ihnen politischen Rückhalt und kollektiven Schutz vor vorschnellen Etikettierungskampagnen und Entsolidarisierungen. Insbesondere unter den Hexenfamilien herrschte ein großer Zusammenhalt, was nicht zuletzt durch eine ständige Erneuerung der Heiratsverbindungen zum Ausdruck kam. 1700 Selbst in Zeiten der Hexenverfolgungen verhielten sich die meisten von 1699 Siehe hierzu Kapitel 9.2.5. 1700 Vgl. hierzu Kapitel 13.1.1. 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ 409 ihnen solidarisch untereinander. Einige Beispiele sollen hier zur Illustration genügen. So bestellten die in der zweiten großen Verfolgungswelle von 1631 angeklagten Elsche Budden und Meineke Brielohns Witwe gemeinsam einen Verteidiger. 1701 Als Clara Schlunß wegen Hexerei, Inzest und Schwangerschaftsabbruch vor Gericht angeklagt wurde, erschienen ihr Vater Zacharias Schlunß und ihr Schwager Henrich Vahlen gemeinsam vor Gericht, um gegen die Gerüchte zu protestieren, Akteneinsicht einzufordern und bekannt zu geben, dass sie einen Defensor konsultieren würden. 1702 Und Margaretha Brielohn überreichte ihrer Verwandten und Nachbarin Liese Böddeker, die nach ihrer ersten Untersuchung wegen Hexerei aus dem Zehnthaus wieder freigelassen wurde, zur Stärkung Kalb[s]fleisch in einem zinnen becken über den zaun [...] 1703 . Zudem - und dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen - waren die Hexenfamilien aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen in den westphälischen Diensten, insbesondere im Schöffen- und Richteramt, bestens mit ihren Rechten und der hiesigen Gerichtspraxis vertraut. Sie besaßen folglich nicht nur in monetärer und politischer Hinsicht einen Vorteil, sondern auch ihr Rechtswissen mag verbale und soziale Schmähung bis zu einem gewissen Grad eingedämmt haben, da ihre Erfolgschancen bei einer vor Gericht eingereichten Injurienklage groß waren. Erinnert sei hier an die Injurienklage von Friedrich Vahlen, die plastisch hervorhebt, wie ein Deüffelskind in dritter Generation das Recht auf seiner Seite wusste, und selbst Gegner, die noch in privater Runde ihre Hexereibezichtigungen laut herausriefen, trauten sich nicht, ihn öffentlich vor Gericht anzuklagen. Selbst der Injuriant musste schließlich vor dem Richter einräumen, dass er vom Cläger nichteß böses [wisse], sondern hielte Ihn für einen Ehrlichen Mann[,] worauff dem andern die handt geben vndt also [versöhn]lich verglichen [...] 1704 worden sind. Ebenso erfolgreich wehrte Meineke Brielohns Tochter Enneke die mala fama ab, indem sie vor Gericht eine Klage einreichte. Als ihre Kontrahentin regelrecht vor Gericht „einknickte“, weigerte sich Enneke, eine Entschuldigung von ihr zu akzeptieren. 1705 Die hier angeführten Fälle sind insgesamt zwei von lediglich drei bekannten Injurienprozessen mit Hexereibezichtigungen, die gegen die Deüffelskinder geführt worden sind. Die äußerst niedrige Anzahl ist ein markantes Indiz dafür, dass die Gemeindemitglieder doch gehemmt waren, sie mittels Beleidigungen öffentlich zu stigmatisieren. Ob allein ihr gehobener Status und ihr Rechtswissen, das sie erfolgreich einsetzten, ausschlaggebend für eine gewisse Zurückhaltung war oder auch eine gewisse Angst vor den Racheakten der „Hexenbrut“ herrschte, kann nicht beantwortet werden. Alle drei Aspekte schließen sich jedoch nicht aus, sondern mögen eine gewisse Reserviertheit begünstigt haben. 1701 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1702 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierte Revisionsschrift, ca. 1660. 1703 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 15.07.1658. 1704 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 152 r . 1705 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 81 r . 410 12 Die historische Fabrikation Diese Beispiele belegen eindrucksvoll, wie sehr das idealtypische Moment von der Vernichtung der „bösen Leute“ an die Grenzen der täglichen Umgangspraktiken stieß. „Rationaler Pragmatismus“ scheint hier der angemessene Begriff zu sein, um zumindest annähernd die dahinterstehende Logik der Differenzierungspraktiken zu erhellen. Man wollte es sich schlichtweg „in guten Zeiten“ mit den Deüffelskindern, die Müller, Schöffen, Nachtwächter, Zehntsammler, Dorfvorsteher etc. sowie Arbeitgeber und Geldverleiher waren und Arbeitswerkzeug, ihre Arbeitskraft, Vieh und Fachwissen zur Verfügung stellten, nicht verscherzen - sie spielten eine zu wichtige Rolle im dörflichen Ressourcentransfer. 1706 Des Weiteren war stets die latente Gefahr gegeben, im Fall von Stigmatisierungen nicht nur einem Hexenkind gegenüberzustehen, sondern einer gesamten „Hexensippe“. Angesichts dieses „symbolischen Kapitals“ war ein gewisser Toleranzraum für die Teufelskinder geschaffen worden, der ihnen auch weiterhin erlaubte, in der Gemeinde integriert zu sein, reguläre Konfliktregulationsmechanismen in Anspruch zu nehmen und sogar einen gewissen Rechtsschutz zu genießen. Dies verdeutlichen einerseits klar die Beleidigungsklagen, andererseits würde dieser Umstand auch die vergleichsweise „humane“ Verfahrenspraxis in den Hexenprozessen erklären, die den Delinquenten weiträumige Verteidigungsmöglichkeiten einräumte. In Hinblick auf das zweigleisige Strafrecht in der Frühen Neuzeit wäre es zu kurzsichtig, die recht moderate Behandlungsform der Delinquenten im Hexenprozess - man denke an das abgemilderte Strafurteil der Enthauptung - nur auf die Haltung einer gemäßigten Obrigkeit zu reduzieren. Der Sozialstatus der Angeklagten wurde gemäß der zeitgenössischen Strafpraxis mit in die Waagschale der dörflichen Hexenpolitik gelegt. Dass das Stichwort „Pragmatismus“ durchaus treffend den Kern der Differenzierungslogik beschreibt, belegt die erhalten gebliebene Prozessakte über den Fall Goert Nüten. Trotz seines Hexengerüchtes, das mit seinen Eltern Einzug in Fürstenberg gehalten hatte, war er über Jahrzehnte ein anerkanntes Mitglied in der Gemeinde. Goert war sich allerdings bewusst, dass er seine Integration nicht etwa einer humanen Einstellung oder gar Mitleid zu verdanken hatte, sondern seinen Fähigkeiten als Wassermeister. So wird im 13. Anklagepunkt vom Fiskal eingeräumt: Jedoch zu letzt wahr, das ehr wegen der wasserleitung zulengst wieder alhir hin kommen vndt anhero tolerirt sei. 1707 Anhand dieses kleinen, aber wegweisenden Quellenausschnittes wird besonders deutlich, dass der Versuch der „status degradation“ mittels Stigmatisierungen immer eine Frage des bewussten Kalkulierens und Abschätzens war, einer, so könnte man zugespitzt formulieren, „Etikettierungsökonomie“, in der verschiedene Faktoren das Für und Wider einer Marginalisierung bestimmten. Mit diesem Hinweis wäre die Frage aufgegriffen, ob Hexereibezichtigungen tatsächlich generell in ungehemmter und willkürlicher Form gegen Personen ausgesprochen werden konnten oder auch ihnen gewisse soziale und/ oder rechtliche Barrieren gesetzt waren. Die Anzahl der Hexenprozesse sowie die quantitative Erhebung der 1706 Diese Hemmschwelle mag in Krisenzeiten überschritten worden sein. 1707 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog, undatiert, ca. Juni/ Juli 1631. Siehe hierzu auch Ströhmer: Wasserleitung. 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ 411 Verbalinjurien sprechen für die letztgenannte Annahme. Im Analyserahmen der Beleidigungsprozesse kristallisierte sich in dieser Arbeit heraus, dass in den niedergerichtlichen Akten gerade einmal 70 Injurienfälle in knapp fünfzig Jahren offiziell vor dem Lokalgericht verhandelt wurden. Die niedrigen Zahlen sprechen eher für einen informellen Verhaltenskodex, der das tägliche Miteinander reglementierte und auch in Krisensituationen forderte, Zurückhaltung in puncto vorschnelle Beleidigungen zu wahren - insbesondere was den Hexereivorwurf betraf. Dass es sich hierbei nicht lediglich um ein Phänomen sozial-moralischer Natur handelte, sondern dieses auch durch rechtliche Normen gestützt wurde, belegt eine bereits erwähnte Supplik von 1645. In dieser Bittschrift erinnert der Kläger unter Rückbezug auf die Heilige Schrift, die Carolina und die hiesige Strafpraxis die Obrigkeit daran, dass niemand von seinen Neben Christen ahn seinem guten Nahmen vnd Leumuth heimblich oder öffentlich injuriert, gescholten oder geschmäht werden dürfe. 1708 Wer diesem göttlichen Gebot und der Rechtsordnung zuwider handle, habe gröblichst gesündigt, excedirt vnd gehandelt [...] 1709 . Das Äußern von gegenstandslosen Verbalinjurien im Allgemeinen und Hexereibezichtigungen im Speziellen stand unter Strafe. Damit waren zumindest auf rechtlicher Ebene der Willkürlichkeit öffentlicher Beleidigungen und Bezichtigungen gewisse Schranken gesetzt worden, die die informellen „Kontrollagenten“ förmlich zu einer „Beweisschuld“ handfester Indizien zwangen, wenn sie nicht selbst deviant in Erscheinung treten wollten - eine auf dem mittelalterlichen Akkusationsprinzip basierende Rechtsforderung, der zumindest für das heimliche Delikt der Hexerei schwerlich nachzukommen war. Wurden im Affekt oder aus Niedertracht gegenstandslose Beleidigungen ausgesprochen, ging das Gericht mit diversen Strafen gegen den Täter bzw. Abweichler vor. Für kein anderes Deliktfeld konnte eine so hohe Gerichtsaktivität nachgewiesen werden wie für die verhandelten Verbalinjurien. Der hier konstatierte Befund unterstreicht die These, dass die obrigkeitlichen Bemühungen, den inneren Frieden zu wahren, durch ungebremste Beleidigungen erheblich gestört werden konnten. 1710 Wann, so lautet die spannende Frage, konnte nun der Kläger seiner Hexereibezichtigung eine Aura von Glaubwürdigkeit verleihen und einem vermeintlichen Abweichler erfolgreich den Status einer persona non grata geben? Ab welchem Zeitpunkt wurde ein Deüffelskind tatsächlich als Hexe wahrgenommen, obwohl selbst der lokale Hexenglaube einen inhärenten Selektionsvorgang implizierte und der „Gendefekt“ als alleiniges Desintegrationskriterium nicht genügte? Einen möglichen Hinweis liefert die Arbeit des eingangs erwähnten Soziologen Kitsuse, der eine Gruppe von Probanden befragte, an welchen Merkmalen sie eine homosexuelle Person erkennen würden, auch wenn diese sich nicht direkt über ihre sexuellen Neigungen äußere. Seiner Auffassung nach würden Konzeptionen von Devianzvorstellungen täglich und situativ ausgehandelt, indem nach indirekten oder direkten Indikatoren bzw. „Beweisen“ qua 1708 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 28.06.1645. 1709 Adels. A Brenk., HS 117, unfol. 1710 Siehe hierzu Kapitel 8.4. 412 12 Die historische Fabrikation Beobachtung gesucht werde, die die Annahme einer Verhaltensabweichung bestätigten. Dabei würde die „social audience“ auf ein Repertoire von Indizien zurückgreifen, die unmissverständlich die Homosexualität verraten würden und jedem bekannt seien („which everyone knows“). Unscheinbare Handlungen, die im objektiven Sinne nicht als deviant bezeichnet werden können, werden nun vor der Folie „Abweichung“ entweder in aktuellen Situationen oder aus der Retrospektive ex post uminterpretiert. Legt man diese Überlegungen, die in groben Ansätzen die These von der latenten Funktion von Hexereiverdächtigungen aufgreifen, dem Hexenphänomen zugrunde, wird die Frage nach den Differenzierungsmechanismen und der erfolgreichen Zuschreibung von Etiketten schließlich auch zu einer Verhaltens- und Charakterfrage der Angeklagten. Mit anderen Worten: Die primäre Devianz, d. h. das Gerücht qua Abstammung, kam dann ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurück - das insbesondere in Zeiten von Krisensituationen wirkmächtig aktiviert werden konnte -, wenn an den Deüffelskindern Verhaltensauffälligkeiten beobachtet worden waren, die gemeinhin als kennzeichnend für die Hexe galten. Demnach herrschte die Meinung vor, dass die Hexe sich durch einen gewissen Habitus verriet, der den christlichen und gesellschaftlichen Verhaltensvorstellungen widersprach. Folglich lag der Schwerpunkt im fürstenbergischen Hexendiskurs auf der binär kodierten Frage „Täter(in) oder nicht? “, zu der eng verbunden die Anschlussfrage nach der Zurechnungsfähigkeit stand. 1711 Wie bei der Erörterung des lokalen Hexenglaubens offengelegt werden konnte, stand die Willensfreiheit des Menschen, d. h. sich bewusst für das Böse zu entscheiden, in der Tat im Vordergrund des Hexenbildes. Zusätzlich sei darauf hingewiesen, dass im zeitgenössischen Hexenglauben die Vorstellung dominierte, dass selbst die Anhänger der Hexensekte sowohl bei Erwachsenen als auch bei ihren Kindern differenzierten, wen sie aufgrund seiner charakterlichen Eigenschaften in die Hexenwelt einweihten. Entscheidendes Kriterium bildete wohl - hypothetisch zugespitzt - die persönliche Wesensart des Auserwählten. Diese Interpretation bietet m. E. auch den entscheidenden Schlüssel, um die Differenzierungsbzw. Zuschreibungslogik plausibel machen zu können: Denunziationen, Stigmatisierungen, Marginalisierungen - ungeachtet, auf welcher persönlichen Motivlage sie basierten - konnten erst erfolgreich an- und durchgesetzt werden, wenn die Beschuldigungen an einem Verhaltenshabitus oder Charaktereigenschaften anknüpften, die symptomatisch für „die“ Hexe waren. Das Label, ein Deüffelskind zu sein, konnte somit von einer personenspezifischen Attribution auf eine verhaltensspezifische ausgedehnt werden. Auf Basis dieser Überlegungen wäre Lemerts Stufenmodel zu erweitern: von einer primären attribuierten Daseinsdevianz (Deüffelskind) zu einer primär wahrgenommenen Verhaltensdevianz. Die hier aufgestellte These wird durch die Beobachtung gestützt, dass unter Zeitgenossen die allgemeine Auffassung herrschte, die Hexe hinterlasse trotz ihrer Bemühungen, sich zu tarnen und ihre Verbrechen in aller Heimlichkeit zu begehen, stets Spuren, die dem Christenmenschen offenbarten, dass hier Hexenwerk praktiziert 1711 Gegensätzlicher Meinung ist hier Schwerhoff: Böse Hexen, S. 192 und 199. 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ 413 worden ist. Die Hexerei war immer - im kriminologischen Sinne - ein Verbrechen mit Unterschrift. Es sei nur kurz ins Gedächtnis zurückgerufen, dass Unglücksfälle schnell der Hexe zugerechnet werden konnten, da dem Zufall wenig Gewicht eingeräumt wurde. 1712 So lieferte z. B. der plötzliche Tod von gesundem Nutzvieh 1713 die ersten Hinweise für einen Schadenszauber, wobei der konsultierte Abdecker oder Scharfrichter die endgültige Gewissheit gab, wenn sich im Leib des Kadavers, insbesondere im Herzen allerley gifftige formen, von schlangen, Kröten, Ja Gößeln [...] 1714 befanden. Auch die Todesart war für Hexereiverdächtigungen entscheidend, so z. B., wenn die Tiere unvermittelt in der Leibesmitte zerborsten sind. Es ist dabei wichtig, zu betonen, dass die genannten Merkmale, die das Hexenwerk kennzeichneten, eine markante Grenze zu den üblichen Tierkrankheiten setzten und die lokale Bauerngemeinde sehr wohl zwischen natürlichen und unnatürlichen Symptomen unterschied. So wurde es nicht als Hexerei angezeigt, als Elmerhaus Dröppels Schafe doll geworden waren und das Gericht ihm unter Strafe befahl die dollen schaffe so fort todt zu schlagen, vndt tieff gnug in die erden zu graben [...] 1715 . Dieselben Unterscheidungskriterien wurden offenbar auch bei den Menschen angewandt. Das erste Anzeichen für eine Hexerei war geliefert, wenn eine Person eben noch gesund auf einer Hochzeit tanzte und nach eingenommenem Trunk plötzlich krank wurde. 1716 Der wohl endgültige Beweis für einen Schadenszauberanschlag war erbracht, wenn nach der Einnahme von Gegenmitteln dem Kranken wortwörtlich „von unten und oben“ eine schwarze Materie von bößen gestanckes abging. 1717 Ein ungewöhnlich langes Siechtum und Anschwellen des Körpers galten auch als verdächtig, nicht aber zwingend als Hexenwerk. Die hier angeführten Beispiele sollen zur Illustration genügen. Mit welchen Verhaltensweisen verriet sich nun eine Person ihrer Umgebung als Hexe? In der Forschungsliteratur wird häufig ein zänkisches Wesen als typisches Merkmal der Hexe angeführt. Für Fürstenberg sind lediglich zwei Frauen für dieses Verhalten bekannt: Liese Böddeker, die ein vnnütz weib midt der Maulen 1718 sei, und Trine Klingen- 1712 „Man glaubte z. B. daran, daß Unrecht sich im Rahmen eines moralisch geordneten Kosmos rächte, gleichgültig ob dieser christlich oder magisch verstanden wurde. Die Bereitschaft, Unglück als Strafe bzw. Rache zu verstehen, war immer vorhanden.“ Walz: Der Hexenwahn, S. 161. 1713 Dies berichtete der Nachbar von Elsche Budden. Er gab vor Gericht an, dass die Lämmer vorhin frisch und gesundt gewesen, wie er, [...] aber were, nachdem inquisita davon gewesen, in den Stahl kommen, gesehen, daß die Lämmer gestanden, den Kopf in den Nacken und Schaum in den Mundt gehabt, deren er eins genohmen und lebendig in die Erde gegraben, das andere aber bis ahn den Abend lebet und gestorben. Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 28. 1714 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Klageschrift der Gemeinde Essentho an die Herren von Westphalen, 26.09.1648. 1715 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 226 r . Elmerhaus Dröppel versuchte zwar, die ausgebrochene Schafseuche als Hexenwerk zu deklarieren, hatte aber damit vor Gericht keinen Erfolg. 1716 Wie im Fall des Meineke Scheiffers, Schwager der Elsche Budden. Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 70 r-v . 1717 Diverse Fälle von Vergiftungen sind im genealogischen und prosopografischen Teil aufgelistet. 1718 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage des Johann Wegeners am 18.06.1658. 414 12 Die historische Fabrikation berg, die wegen ihres vielen Streitens und Zankens der gantzen Gemeinde Jung vnd alt 1719 viel Ärger (Ergernüß) bereite. Dass diese Charakterzüge zwar mit der Hexe assoziiert werden konnten, letztendlich aber nicht als ausschlaggebendes Indiz galten, belegen mehrere Akten der Niedergerichtsbarkeit, in denen Männer und Frauen äußerst streitsüchtig auftraten. Verwiesen sei nur auf Meineke Dröppels Frau, die Levin Thelens Haustür mit Kot und Unrat beschmierte, weil sie mit ihm persönlich im Streit lag. 1720 Ihr wurde die Hexerei nicht strafrechtlich zur Last gelegt, was wiederum die Bedeutung der Zurechnungsfrage hervorhebt, die offenbar abhängig vom Situations- und Personenkontext war. Welche unmissverständlichen Indizien gaben folglich nach Auffassung der Zeitgenossen die Identität einer Hexe preis? In der folgenden Zusammenschau sollen die empirischen Belege, die „Altbekanntes“ aus der Hexenforschung aufgreifen, im Licht einer in Fürstenberg realiter wahrgenommenen Devianz untersucht werden. 12.2.2 Bestätigungen Ein solides Argument, das nach zeitgenössischer Ansicht als luzider Beweis für die Entlarvung einer Hexe galt, war ihr Habitus. Dabei standen sowohl ihre a) verbale als auch b) nonverbale Kommunikation, wie z. B. ihre Körpersprache, unter strenger Beobachtung. Anhand mehrerer Indizien, die bereits in der Carolina erwähnt werden, glaubten die Zeitgenossen, die Tarnung einer Hexe entlarven zu können. Denn im Artikel 44 Von zauberey gnugsam anzeygung werden folgende Indizien als Erhärtung des Verdachts genannt: Item so jemandt sich erbeut andere menschen zauberei zu lernen, oder jemands zu bezaubern bedrahet vnd dem bedraheten dergleichen beschicht, auch sonderlich gemeynschafft mit zaubern oder zauberin hat, oder mit solchen verdechtlichen dingen, geberden, worten vnd weisen, vmbgeht, die zauberey auf sich tragen, vnd die selbig person des selben sonst auch berüchtigt, das gibt eyn redlich anzeygung der zauberey, vnd gnugsam vrsach zu peinlicher frage. Einige Beispiele seien in diesem Kapitel vorgestellt. 12.2.2.1 Verbale Indizien In etlichen Prozessakten wurde den vermeintlichen Delinquenten vorgeworfen, verdechtige wörter mit ihren Weggenossen, d. h. mit anderen Deüffelskindern, gesprochen zu haben. Die lokale Vorstellung von einer tatsächlich existierenden Hexensekte, wie sie der Malleus Maleficarum propagierte, wird an dieser Stelle besonders evident. Die Gemeinschaft der „Hexensippen“ wurde offenbar potenziell als gefährlich eingestuft, da stets zu befürchten war, die Hexen könnten gemäß dem dämonischen Verhaltenskanon neue Verbrechen gegen die Christenheit „aushecken“. 1719 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 20.09.1662. 1720 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 105 r . 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ 415 Während die verdächtigen Gespräche unter den Deüffelskindern in den Indizienkatalogen nicht konkretisiert und lediglich abstrakt gehalten werden, sind hingegen ihre öffentlich herausgeschrienen Äußerungen wortgetreu wiedergegeben. Mehrere solcher Fälle lassen sich hierzu finden. Weil Trina Kesperbaum z. B. über das um ihre Person kursierende Hexengerücht verärgert war, schrie sie 1657 einigen Dorfbewohnern zu, sie wolle noch das Hexenwerk lernen und den Leuten, die ihr solches nachsagten, die Ackerländer vergiften. Schockiert über solche Drohungen, hätten die vorbeigehenden Personen schnell ein Kreuz geschlagen. 1721 Mit der gleichen Vehemenz sprach sie auch gegenüber den Herren von Westphalen. Sie verfluchte die Gerichtsherren mit den Worten: wan sie gebrandt würde[,] solte ihr gantzes Guth der sämptlichen Heren Westphalen verfollen 1722 . Als zwei Jahre später das Gerichtsurteil zu ihren Ungunsten ausfiel, zeigte sie dasselbe renitente und aggressive Verhalten: Nach öffentlicher Verlesung des Schuldspruchs, habe Trina sich umgedreht und daß dorff in äschen gewünscht vndt Insonderheit daß Zehndt hauß für ein teuffelshauß gescholten 1723 . In gleicher Weise sprach auch fast ein halbes Jahrhundert später Albert Sanders eine verhängnisvolle Drohung über die Gemeinde Fürstenberg aus. Als er vernommen hatte, er stehe im Hexengerücht, habe er zu verschiedenen Zeiten an diversen Orten denen hiesigen fürstenbergischen eingeseßenen gedräwet vnd gesaget‚ Kindes Kind solte vber Ihn schreyen ehender der rocke abgeschnitten würde[,] solte man was newes in der fürstenberg sehen[,] das Zehendthauß soll kein Zehendthauß bleiben 1724 . Desgleichen hatte sein Onkel Johann Caspar Saurhagen ein Jahr zuvor dem bestehenden Hexengerücht einen neuen Nährboden gegeben, als er im Zorn drohte, das ganze Dorf Fürstenberg niederzubrennen. 1725 Aber auch weniger provokante Worte konnten im Rollenkontext der Deüffelsinder als eher unfreiwillige „Enttarnung“ gewertet werden. Weil der im Hexengerücht stehende Peter Schantz sich nicht von seinem ebenso stark berüchtigten Kumpanen Zenzing Buschmann abgrenzte, war für die „social audience“ der eindeutige Beweis geliefert worden, dass er sich zur Hexensekte bekannte. Zum Verhängnis wurden ihm dabei die Worte, die er während eines Streites Zenzing an den Kopf warf, als dieser ihm mit dem Scharfrichter drohte. Er sagte: warumb wiltu mier den kopff abhawen, du bist so guet alß Ich, vndt Ich so guet alß du. 1726 Für einen ehrenvollen Christenmenschen, der auf seine Reputation bedacht war, galt es offensichtlich als ein schwerwiegender Regelverstoß, sich sowohl in sozialer als auch charakterlicher Hinsicht mit einem Deüffelskind gleichzustellen. Diese Interpretation scheint auch im Fall der Margaretha Stroeth gegeben zu sein. Als sie gehört hatte, dass die Herren von Westphalen in der Gemeinde erneut gegen 1721 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 17.06.1658. 1722 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Beleidigungsklage vom 17.07.1657. 1723 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenaussage 21.05.1659. 1724 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 120 v . 1725 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 116 r . 1726 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 23.06.1659. 416 12 Die historische Fabrikation das Hexenlaster vorgingen, fragte sie den Gerichtsfronen Hermann Böddeker: [...] warumb die Herren sie so frageten [...] vnd vorhin wißen[,] was vor Zaubers alhir in fürstenberg zu finden, warumb die nicht angegriffen, die doch noch ärger alß sie [...] seien. 1727 Verdächtig machte sich wiederum Trina Kesperbaum 1662, als sie mit ihrer Tochter über die Hexenfamilie Grothen sprach. Der Gerichtsdiener, der das Gespräch mit angehört hatte, gab den genauen Wortlaut dem Protokollschreiber wieder. So habe Trina, als Hermann Schnittkers und Gretha Mentzens gemeinsame Tochter von einem erfolgreichen Verkauf ihrer Laken ins Dorf zurückkehrt war, gesagt: Ja dochter[,] die haben mehr von Ihrer zauberey alß wier haben. 1728 Als ein indirektes Eingeständnis, der Hexensekte zugehörig zu sein, wurden die Äußerungen von Enneke Grothen gewertet, die sie gegenüber ihrem Ehemann Henrich Vahlen gemacht hatte. Vor Gericht bekannte er, seine Frau habe zu ihm gesagt, sie wolle denselben[,] welcher sie in Ihrer Jungent zum fall gebracht hette[,] an Jenem tage vor dem Gestrengen Gerichte Gotteß verklagen, vndt solches von ihm fordern 1729 . Ebenso als verdächtig wurden Ennekes Worte gegenüber den Gefängniswächtern gedeutet. Sie informierten umgehend den Richter über die neuen Verdachtsmomente. So berichteten sie, dass sie von der Angeklagten ein ständiges Seufzen vernommen hätten. Auf die Frage, warum sie so stöhne, habe Enneke geantwortet: Eß bedaueten sie die hübschen vndt feine[n] Leute so bey Ihr deß ortß herumb wohneten, welche sie besagen solte vndt müßte, gleich wolte sie damit andeuten, daß selbige des Lasters auch schuldich weren. 1730 Als eine potenzielle Verführung zum Hexenlaster wurde auch eine Äußerung von Peter Schantz’ Sohn Conrad gewertet, der einem kranken Kind offenbar eine magische Praktik zwecks Vermehrung von Nahrung lehren wollte. Conrad Schantz habe es mit den Worten angeredet: kom ferdinändchen mit mir hinter das schab, Ich will dich beßer betten lernen alß Cläreke, so bekommst du allezeit etwaß im dorff zu eßen. 1731 12.2.2.2 Nonverbale Indizien Wie sehr die nonverbale Kommunikation als aussagekräftiges und den Verdacht erhärtendes Indiz für ein Hexen-Dasein sowohl von den Dorfbewohnern als auch vom Gerichtspersonal gesehen wurde, sollen die folgenden Beispiele belegen. Hierbei ist erneut auf die bereits mehrfach erwähnte Trina Kesperbaum hinzuweisen: Ihrem Nachbar Dethart Sommer war 1656 zur düngel-Zeit ein Pferd gestorben, was zu Verzögerungen oder gar zur Einstellung der notwendigen Düngearbeiten auf dem Feld führte. Seine Subsistenz war folglich bedroht. Als all seine Nachbarn ihm gegenüber ihr Mitleid bekundeten und ihn wegen seines Unglücks bedauerten, hätte hingegen diese Klingenberges trina aber am düngelwagen gestanden vndt deßen gelachet[,] alß wan 1727 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 106 v . 1728 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 20.09.1662. 1729 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 16.08.1658. 1730 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 16.08.1658. 1731 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 74 r . 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ 417 sie gekitzelt worden wäre. 1732 Offenbar galt mangelnde Empathie bei (unberechtigten) Unglücksfällen als Regelverstoß gegen den gängigen Moral- und Verhaltenskodex und wurde als Indiz für ein bösartiges Wesen ausgelegt. Zudem machte sich Trina selbst verdächtig, für das Verenden des Tieres verantwortlich zu sein. Im Gegensatz zu Trina wurde im Fall des Henrich Hammerschmitt ihm nicht die bewusste, sondern die unbewusste Körpersprache zum Verhängnis und als ein Schuldeingeständnis interpretiert. Innerhalb der rechtlichen Voruntersuchung legte ihm der Richter die Akte seines bereits wegen Hexerei und Sodomie hingerichteten Bruders vor - wohl um die darin enthaltenen gegen ihn gerichteten Anklagepunkte vorzulesen. Als Henrich den Aktenband sah, sei er gantz erbleicht, vndt derogestalt gezittert vndt sich vor forcht geschüttelt, dz dessen schuld fast darauß abzunehmen gewesen 1733 . Dasselbe Angstverhalten wurde auch im Fall der Anna Grothen beobachtet. So heißt es im Hexenprotokoll, dass, als ihre Verwandte Margaretha Brielohn inhaftiert wurde, sie eine solche Angst überkam, dass sie nicht gewußt[,] woh sie bleiben oder sich verbergen sollen. 1734 Ähnlich verhielt es sich im Fall von Margaretha Brielohn. Als sie erfahren hatte, dass viele ihrer Verwandten im Verdacht der Hexerei standen und einige schließlich auf dem Schafott hingerichtet werden sollten, beobachtete ihr Ehemann, dass sie sich wunderlich anstelle, alß wan sie entweichen sölle. Margaretha selbst beichtete dem Pastor ihren unruhigen Zustand, da ihr wehr[,] alß wen sie gedrieben würde[,] wegzugehen und sie eine große Beklemmung in sich verspürt habe. 1735 Die Angst vor einem Hexenprozess verleitete auch viele Angeklagte entgegen den sozialen und rechtlichen Statuten, die Flucht zu ergreifen oder sich vor dem Gerichtspersonal zu verstecken, was ebenfalls einem Schuldeingeständnis gleichkam. Denn das gesellschaftliche und normative Diktum lautete, wer ein reines Gewissen habe, brauche auch nicht das Strafverfahren zu fürchten, das die römisch-rechtliche Möglichkeit zur purgatio bot. Als 1631 ein Rechtsverfahren gegen Engel Hintens Mutter eingeleitet werden sollte, versteckte sie sich bei ihrem Nachbarn unter einer Wanne, bis man sie schließlich entdeckte. 1736 Freda Schweinß gab vor Gericht an, dass Margaretha Brielohn verlitten Donnerstags auff Hl. Leichnambs fest flüchtich gewesen vndt Im hoppen hoffe geseßen sein vndt sich verhüldt gehabt, daß man sie nicht [er]kennen söllen 1737 . Über vierzig Jahre später machte sich auch Albert Sanders des crimen maleficarum stark verdächtig, weil es ihm gelungen war, sich im Zehnthaus von seinen Fesseln zu befreien, indem er die Schlösser aufbrach und sich auf dem Balken versteckte. 1738 Für noch mehr Tumult sorgte aber der Vorfall um Meineke Brielohn, der 1659 gleich 1732 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. 1658. 1733 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. August 1658. 1734 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. August 1659. 1735 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. Juni 1659. 1736 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 18.06.1658. 1737 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. Juli 1659. 1738 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 121 v . 418 12 Die historische Fabrikation dreimal flüchtig wurde. Als er vernahm, dass gegen seine Tante, Agatha Brielohn, Indizien gesammelt wurden, vndt er[,] Meineke[,] darüber zur information citiert, [war] er nicht erschienen, sondern Ohne Einig gegeben vrsach flüchtigen fuß gesetzt [...]. Nachdem er glaubte, er stünde nicht mehr im Verdacht der Hexerei, und ins Dorf zurückkehrte, nahm er einige Zeit später erneut „Reißaus“, weil schaumburgische Abgesandte ins Dorf gekommen waren, von denen die Dorfbewohner meinten, es seien Hexenkommissare. So soll er [sc. Meineke] deß abendts über die zaune gesprungen sein, wie solcheß im dorff ein gemeine sage worden. Noch ärger trieb es Meineke nach seiner Verhaftung. Nach dem zweiten peinlichen Verhör war er zurück in das Gefängnis gebracht worden. Des Nachts floh er aus dem maroden Gebäude, wurde jedoch zwei Tage später in Essentho wider ertapt vndt den 15. Juny sontag morgens von dem Fürstl. Frohnen da selbst midt bey sich habende schützen auff westphälische fürstenbergische schnaat gelieffert, allwere von fürstenbergische schützen empfangen vndt wider Einbracht worden 1739 . Als markantes Zeichen eines schlechten Gewissens, das sowohl den Dorfbewohnern als auch dem Gerichtspersonal signalisierte, dass die Beschuldigungen nicht zu Unrecht erhoben worden seien, galt die Nicht-Verteidigung im Dorf. Auffallend häufig wurde den Verdächtigten dies zur Last gelegt. Neben dem bekannten stillschweigen dokumentieren die fürstenbergischen Hexenprozessakten auch ungewöhnliche Verhaltensweisen, wenn die Teufelskinder mit dem Hexenruf konfrontiert wurden. Ein paar Beispiele von vielen seien angeführt. Als 1687 Hinten Möller beschuldigt wurde, er fliege des Nachts zum Hexensabbat, habe er daraufhin lauthals gelacht, sich aber nicht vom Vorwurf freigesprochen. 1740 Ähnlich reagierte auch Meineke Brielohn. Auf Henckel Cordts’ hausbören, also einer öffentlichen Feier, wurde besagter Meineke für einen Werwolf ausgerufen. Anstatt seine Ehre und Reputation durch Widerruf, Aufforderung zur „Kampfwasserprobe“, Retorsion etc. wiederherzustellen, gab Meineke dem Beschuldigenden die Hand darauf - er bestätigte also den Vorwurf. 1741 Noch provokanter reagierte Zenzing Buschman - sowohl in verbaler als auch nonverbaler Hinsicht: Als ihm zu Ohren kam, er sei im Hexengerücht, habe er sich vor Jost Berents Haus, in dem sich der Scharfrichter befand, auf einen stuell auff Offener straße nidergesetzt vndt den scharffrichter, so Im selbem hauß gewest, zum Offteren midt vollem halse zu geruffen, wan er ein Zauberer, so soll er Jetzt kommen vndt Ihme den kopf herunter hawen 1742 . Dieses Fehlverhalten stand im eklatanten Widerspruch zum gesellschaftlich fest verankerten Ehren-Agon. Wie lässt sich dieses falsche Verhalten 1743 sinnvoll deuten? Gerade die Deüffelskinder mussten in Anbetracht ihrer vermeintlichen Abstammung von einem Hexengeschlecht stets von der Annahme auszugehen, dass es sich bei Hexereibeschuldigungen potenziell um konkrete Bezichtigungen handelte. Vor dem Hintergrund ihrer teils 1739 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 11.06.1659 und 16.06.1659. 1740 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 77 r . 1741 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 24.07.1659. 1742 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. Juli 1659. 1743 Walz: Magische Kommunikation, S. 347. 12.2 Das Stigma „Teufelskind“ 419 über Generationen bestehenden „befleckten“ Familienehre dürfte keine Unsicherheit über ihr Gerücht bestanden haben. 1744 Das Verhalten der Teufelskinder scheint fragwürdig, weil sie mit ihrem Schweigen bzw. ihrer provokanten Nicht-Verteidigung das Verdachtsmoment der primären Devianz bestätigten und bekräftigten und so erst einen Hexenprozess evozierten. Will man der „Hexenbrut“ nicht gerade Unempfindlichkeit gegenüber ehrmindernden Angriffen, insbesondere gegenüber der nicht zu verschmertztenden ultima iniuria, unterstellen, 1745 muss auf Basis des Rollenkontextes der Deüffelskinder nach einer anderen plausiblen Deutung für ihr Benehmen gesucht werden. Diese Frage soll bestimmend für das Schlusskapitel sein. Das markanteste Charakteristikum einer Hexe, das beinahe alle Teufelskindern gemeinsam hatten und aus Sicht der Fürstenberger ihre wahre Identität offenbarte, war ihre ständige Kontaktsuche zu Gleichgesinnten. Beinahe jede Prozessakte beinhaltet den Vorwurf an die Deüffelskinder, mehr die Gesellschaft von verdächtigen Personen aufgesucht zu haben als von frommen. Es handelt sich dabei um ein vollwertiges Hexereiindiz, wie es in Artikel 44 der Carolina beschrieben wird und die volkstümliche Weisheit „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ aufgreift. 1746 Möchte man also ein signifikantes Devianzverhalten der „Hexensippen“ nachzeichnen, so ist es offensichtlich ihr Bedürfnis, ein gemeinschaftliches oder gar freundschaftliches Verhältnis untereinander zu pflegen. So sind in den Hexenprotokollen die immer wiederkehrenden Formeln zu lesen, der Angeklagte habe sich umso verdächtiger gemacht, weil er mit hingerichteten und inhaftierten Personen eine geraume Zeit von Jahren große gemeinschafft gehabt habe. 1747 An anderer Stelle heißt es, die Beschuldigte sei aufgrund ihrer täglichen Konversation mit der verschrienen „Hexenbrut“ suspekt. 1748 Stoffel Hencken wurde 1702 seine eheliche Bindung zu Elsabein Stroeth zur Last gelegt, 1749 und Angela Vahlen, die mit einer anderen berüchtigten Frau am Wasserplatz saß, wurde zugerufen: Eß sitzen alda 2 zusamen[,] deren eine so gut alß die ander[e] 1750 . Diese für die Zeitgenossen als handfest geltenden „Indizien“ liefern den entscheidenden Hinweis, dass auch rationaler Pragmatismus seine Grenzen hatte: Zwar waren die Deüffelskinder in politischer und ökonomischer Hinsicht vollständig innerhalb der Gemeinde integriert, allerdings war vonseiten der „normalen“, d. h. unberüchtigten Personen der soziale Umgang mit ihnen offensichtlich eingeschränkt: Wurden noch Respektbekundungen und Höflichkeitsformeln, Nachbarschaftshilfe und aktive 1744 Walz argumentiert, dass viele Frauen die Situation völlig falsch einschätzten, wenn sie sich über ihr eigenes Gerücht nicht sicher waren. Ebd., S. 339. Die Beschuldigten hätten sich noch auf einer anderen Kommunikations- und damit Interpretationsebene befunden. 1745 Vgl. Schwerhoff: Verordnete Schande? , S. 177. 1746 Siehe hierzu auch Ströhmer: Rezeption, S. 90 ff. 1747 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog contra Bina, Engelbracht Tilmans Frau, ca. Juni 1659. 1748 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog contra Trina Kesperbaum am 20.08.1659. 1749 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 127 r . 1750 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 123 r . 420 12 Die historische Fabrikation Teilnahme an Trink- und Essgesellschaften sowie Hochzeits- und Tauffeiern oder Beerdigungen, die streng genommen unter pflichtgemäße Respektbekundungen gezählt werden können, gegenüber den Deüffelskindern praktiziert, waren hingegen freundschaftliche Umgangsformen und Beziehungen zu ihnen offensichtlich verpönt. Der tägliche Umgang mit ihnen erforderte somit von den unberüchtigten Gemeindemitgliedern einen schwierigen Balanceakt von Einhaltung der „Benimmregeln“ und Distanzwahrung zu vollführen - insbesondere vor dem Hintergrund des lokalen Hexenglaubens, dass die potenziellen Hexen wegen ihres impulsiven Wesens nicht verärgert werden sollten. Wie sehr diese Verhaltenserwartungen einen unberüchtigten Menschen in persönliche Konfliktsituationen bringen konnte, belegt folgender Quellenauszug. Als Jost Storks Ehefrau der berüchtigten Trina Klingenberg Laken ins Haus gebracht hatte, setzte ihr Trina zum Dank Essen vor. Als sie die Mahlzeit aber nicht gerne zu sich nehmen wollte, fragte sie Trina in einem unterschwelligen Ton: sie würde Ja woll nicht thuen alß der ander [ein] schelm vndt dieb so In der welt wehr, vndt sie midt bösen argwohn bezichtigen, darauff hette sie geandtwortet[,] Nein, da hette sie kein gedancken auff gehabt[,] wan sie fromb solte Ihrendthalben wol fromb bleiben, vmb deßwillen wolte sie Eben Ihre kost nicht verschmehen, vndt also ein seuck butter vndt brot genommen [...]. 1751 Wie aus der Prozessakte weiter zu erfahren ist, erkrankte wenig später Josts Ehefrau und galt seitdem als besessen. Der hier dem Leser präsentierte Quellenausschnitt eröffnet weit mehr als das scheinbare Dilemma im täglichen Umgang mit der „Hexenbrut“: Er weist die Tür zu einer Vorstellungswelt und Verhaltenspraxis gegenüber „ gelabelten“ Personen. Damit ist eine weitere wesentliche Komponente des Labeling Approach angedeutet, die direkt ins Fahrwasser der zeitgenössischen Stigmatisierungsformen und -praktiken führt. 12.3 „Soziale Reaktionen“ Wesentliches Kernelement des Labeling Approach ist die „soziale Reaktion“. Sie wird in der Neuen Devianzsoziologie als maßgebend für das Auftreten von kriminellem Verhalten in der Gesellschaft angesehen. Möchte man sich an eine semantische Definition des Konzepts „soziale Reaktion“ wagen, könnte es auf die folgende Formel heruntergebrochen werden: Im Gegensatz zur Ätiologie wird nicht nach den Ursachen von Devianz geforscht, sondern nach dem Modus. Grenzverhalten wird als Produkt eines dynamischen Interaktionsprozesses zwischen Machtinstanzen und vermeintlichen Abweichlern verstanden. Bildhaft gesprochen, handelt es sich hierbei um einen „Verteilungskampf“ von sozial-moralischen Einfluss, in dem von den informellen und formellen „Kontrollagenten“ Schuldsignaturen für anomale Verhaltensweisen symbolisch zugeschrieben werden und diese somit eine Form der Sozialkontrolle ausüben. 1752 1751 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog contra Trina Kesperbaum am 01.08.1659. 1752 Mit ähnlichen Worten Lipp: Stigma und Charisma, S. 61. 12.3 „Soziale Reaktionen“ 421 Im näheren Blickfeld steht die selektive Vergabe von Stigmata durch das soziale oder rechtliche Umfeld auf bestimmte Verhaltensweisen von Akteuren, die in all ihren Erscheinungsformen, Ausprägungen sowie Verdichtungs- und Verfestigungsvorgängen untersucht werden. Der Terminus „Stigmatisierung“ wird also in Form einer Diskreditierung gebraucht. 1753 Die bisher eruierten Ergebnisse, die anhand konkreter Beispiele erläutert wurden, machen allerdings die Grenzen des Konzepts deutlich: Die Vielfalt der Etikettierungsmöglichkeiten in jeweils unterschiedlichen Bereichen erfordert einen differenzierten Blick auf ihre funktionelle Wirkmacht und benötigt daher die Einbeziehung von intervenierenden Variablen. 1754 Ein historisches Äquivalent zu den „sozialen Reaktionen“ sind die vormodernen „Ehrenstrafen“. Da diese einen wichtigen Bezugsrahmen für eine adäquate Einordnung der fürstenbergischen Stigmatisierungsvorgänge bilden, sollen hier einige Ergebnisse aus der historischen Forschungsliteratur kurz aufgegriffen werden. Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft ging nicht gerade „zimperlich“ mit abweichendem Verhalten um: Das Spektrum reichte von wortwörtlichen Ehrabschneidungen, wie den berühmten Schandmalen im Gesicht, bis hin zu den informellen Rügebräuchen, worunter der Charivari der bekannteste sein dürfte, 1755 Schmähschriften und -gedichten sowie rechtlich verhängten Ehrenstrafen, wie dem Pranger oder dem „Steine-Tragen“. 1756 Die überlieferten Strafen setzten gerade am neuralgischen Punkt und wesentlichen Element zeitgenössischer Gesellschaftsordnung an, nämlich der Ehre. Mit Hilfe der Diffamierungen sollte das gesellschaftliche Ordnungsgefüge bekräftigt und gleichzeitig Devianz öffentlich als verachtenswertes Verhalten etikettiert werden. Resümierend fasst Gerd Schwerhoff die Funktion von Stigmatisierungen mit den Worten zusammen: „ Für alle sichtbar wurde hier eine Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen ehrlich und unehrlich abgesteckt. Vor der dunklen Folie der öffentlichen Verächtlichmachung wurde der eigene ehrliche Status bekräftigt - und seine Er- 1753 Vgl. hierzu Goffmann, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung geschädigter Identität, Frankfurt a. M. 12 2012, S. 11. 1754 Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens, S. 263 ff. 1755 In der Nacht vom Donnerstag, dem 23. auf Freitag, den 24. März - unbedeutender Straßenkrawall, ein Charivari für den Forstmeister und Amtmann Langheld. An der Scheune des ersteren ist in derselben Nacht Feuer angelegt, was vom Nachtwächter X. Schewe und dem Jos. Schiller v. Werner gesehen und ausgelöscht wird - es war nur eine leere Demonstration. Am Freitag, 24. März - Große Aufregung unter einzelnen Gemeindemitgliedern [...]. Äußerliche Ruhe bis zur Nacht, wo eine Rotte junger Burschen dem Forstmeister abermals eine Katzenmusik bringt, die Planken zerstört etc. Dieser hatte vorher mit seiner Familie das Haus verlassen, sich in den Antenberg geflüchtet und, nachdem sie hier in unbeschreiblicher Angst von 8 bis 12 Uhr zugebracht, nach Stadtberge begeben. In derselben Nacht flüchteten auch der Amtmann Langheld u. der Oekonom Georg Langheld. Letzterer machte sich in seinem wie gewöhnlich zerlumpten Anzuge in Holzschuhen auf einem Pferde davon. Z. n. Nolte/ Nolte: Adelsdorf, S. 55. 1756 Siehe hierzu Groebner: Das Gesicht wahren. Ebenso Rublack, Ulinka: Anschläge auf die Ehre. Schmähschriften und -zeichen in der städtischen Kultur des Ancien Régime, in: Schreiner/ Schwerhoff (Hrsg.): Verletzte Ehre, S. 381-412. 422 12 Die historische Fabrikation haltung durch die implizite Drohung, nicht vom rechten Weg abzukommen, angemahnt.“ 1757 Als Mahn- und Abschreckungsbeispiel gedacht, waren die Ehrenstrafen folglich ein probates Mittel der innerdörflichen Sozialkontrolle und herrschaftlichen Sozialdisziplinierung. Diese Sanktionen konnten eben so erfolgreich sein, weil sie an ein gesellschaftlich konstruiertes und konstituiertes Schamgefühl ansetzten. Implizieren die Ehrsanktionen idealtypischerweise ein starres Schwarz-Weiß-Paradigma von „Ehre/ Unehre“, relativierte die Alltagsrealität die Schlagkraft des Stigmas. In seinem Aufsatz von 1993 mit dem provokanten Titel: Verordnete Schande? macht wiederum Schwerhoff explizit darauf aufmerksam, dass der Begriff der Ehrlosigkeit nicht scharf konturiert und der Ehrverlust als präzise umrissenes Element nur schwer zu erfassen sei. 1758 Vielmehr würden sich hinter den Begriffen eine Vielzahl von Differenzierungen und weite Spektren von Ehrdefinitionen verbergen. Nicht immer waren rechtlich erwirkte Schandprozesse oder soziale Demütigungen darauf ausgelegt, nachhaltig entehrend zu wirken oder einen sofortigen gesellschaftlichen Ausschluss zu erzielen. Stigmatisierungsvorgänge sind vielmehr doppelbödigen Deutungsgehalts: Sie etikettierten unrechtmäßiges Verhalten und boten gleichzeitig einem reuigen Abweichler nach Verbüßung seiner Strafe die Möglichkeit, wieder in die Gesellschaft reintegriert zu werden. Werden unter diesem Gesichtspunkt die sozialen und formellen Sanktionen betrachtet, stellen sie eine Form der Versöhnungszeremonie dar, wie es z. B. von der historischen Forschung für die multifunktionelle Prangerstrafe nachgewiesen wurde - eine These, die auch für Fürstenberg belegbar ist. 1759 Ehrsanktionen und Ausgrenzungen gingen folglich nicht immer Hand in Hand. Damit ist ein Hinweis für die graduellen Abstufungen von Ehrabschneidungen geliefert, 1760 die auf verschiedene Arten die Dignität einer Person berührten und auf diese einwirkten, wenn überhaupt: Wurden Stigmatisierungen als unrechtlich empfunden oder nicht akzeptiert, konnten in solidarischen Verbünden das symbolische Kapital mobilisiert und attribuierte Etiketten wirkungslos werden. Zudem ist nicht verbürgt, wie häufig auf der sozialen wie rechtlichen Ebene Ehrenstrafen vorgenommen wurden. Es stellt sich auf Basis dieser relativierenden Wirkmacht von „Labels“ die spannende Frage, wann Etikettierungen tatsächlich unehrlich machten? Ehrsanktionen waren folglich flexibel, kontext- und personengebunden. Vor allem sind sie so reichhaltig und differenziert wie die Sprache der 1757 Schwerhoff: Verordnete Schande? , S. 188. 1758 Ebd., S. 160. 1759 In Fürstenberg kam der Pranger als Schandinstrument in Deliktfällen wie Diebstahl, Abtreibung, Ehebruch, Leichtfertigkeit und Meineid zum Einsatz. 1760 In der Enzyklopädie der Neuzeit wird im Artikel „Ehrverlust“ die Ehrantastung in drei Kategorien unterteilt: Ehrlosigkeit, Anrüchigkeit und Verächtlichkeit. Hofer, Sibylle: Art. „Ehrverlust“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http : / / dx . doi . org / 10 . 1163 / 2352 - 0248_edn_a0851000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 12.3 „Soziale Reaktionen“ 423 Ehre, 1761 in der stets folgende binär kodierte Formeln mitschwingen: formell/ informell, temporär/ nachhaltig, allgemein/ speziell, direkt/ indirekt und grundlegende Distanzierung versus situativ ausgehandelte Annäherung. Während den Zeitgenossen die verschiedenen Abstufungen, Funktionen und Auswirkungen der diversen Etikettierungen bekannt waren, sind sie aus den Prozessakten und der Retrospektive nur schwerlich nachzuzeichnen. Insbesondere weil hier ein Bereich eröffnet und untersucht wird, der sich zumeist unter der Oberfläche schriftlich fixierter Wortführung befindet. Es ist damit zu rechnen, dass so manche sozialen Marginalisierungen kaum ihren Weg ins Protokoll fanden: sei es die Vermeidung von Blickkontakt, Berührungsängste, körperliche Abwendungen, räumliche Distanzierungen, plötzliches Schweigen, wenn eine berüchtigte Person den Raum betrat, Tuscheln etc. In der Tat spiegelt sich in diesen kritischen Anmerkungen das paradoxe Phänomen der Deüffelskinder wider. Ihr Sozialstatus, ihre politische und ökonomische Machtstellung waren ausreichende Argumente, um gegen öffentliche Schmähungen wie die Verbalinjurie oder den Makel ihrer Abstammung vorzugehen. Zudem ließen sie sich nicht in eine Randposition drängen, sondern bauten durch taktische Ehebündnisse eine - um es mit einem soziologischen Begriff zu fassen - Peergroup mit einer eigenen „Hexenehre“ auf, mit der nach außen hin symbolisch demonstriert werden konnte, dass sie ihr (primäres) Stigma bzw. dessen soziale Auswirkungen nicht akzeptierten. Nicht zuletzt obsiegte der rationale Pragmatismus über die strikten Umgangsformeln und -verbote mit infamierten Personen, obwohl damit freilich „Blindflecke“ in der sozialen Ordnung geschaffen worden waren. Dennoch bot der personelle Zusammenschluss offenbar keinen absoluten Schutz vor Hexenprozessen. Vielmehr legt die bisherige Untersuchung den Schluss nahe, dass die Deüffelskinder mit einem bewussten oder unbewussten Grenzverhalten als Reaktion auf Stigmatisierung und Marginalisierung die Hexenprozesse erst evozierten. Hier liegt m. E. auch das entscheidende Moment für den in der Hexenforschung oft erwähnten Transformationsprozess von einem ehrbaren Gemeindemitglied zu einer verachtenswerten und hinrichtungswürdigen Hexe: War der Verdacht mittels „unmissverständlicher“ Indizien erst erhärtet, wurde das Hexengerücht aktualisiert, um wiederum auf die sozialen Entscheidungs- und Meinungsbildungsprozesse im Dorf einzuwirken. Aufgrund der potenziellen und virulenten Gefahr, die von der Hexe ausging, war das kollektive Interesse geweckt worden, sie durch Etikettierungen sozial auszugrenzen. Diese „zweiten“ Stigmatisierungen bildeten die entsprechenden Weichenstellungen und den legitimen Rahmen für das herrschaftliche Eingreifen in das Geschehen, an dessen Schluss das Sozialdisziplinierungsinstrument „Hexenprozess“ stand. Dieser „Aufschaukelungsprozess“, wie in der Neuen Devianzsoziologie die Abfolge von Aktion und Reaktion genannt wird, stellt m. E. einen bedeutenden Erkenntnisgewinn für das Phänomen des interaktionistischen Hexen-Machens dar, dem sich im Folgenden detailliert gewidmet wird. Es handelt sich hierbei um eine Zusammenschau 1761 Schwerhoff: Verordnete Schande? , S. 163. 424 12 Die historische Fabrikation von Einzelfällen an Stigmatisierungen, die das ganze Spektrum an sozialen und rechtlichen Ausgrenzungsmechanismen veranschaulichen sollen. Aufgrund der Fülle an Ausprägungen der diversen Ehrsanktionen muss auf eine simple Kategorisierung zurückgegriffen werden, damit der Forschungsgegenstand greifbar bleibt. Die aus dem Labeling Approach bekannte Typisierung in informelle und formelle „Reaktionen“ soll dabei den Orientierungsfaden bilden, obwohl die theoretischen und idealtypischen Trennlinien zwischen den beiden Kategorisierungen in der Praxis häufig miteinander verknüpft waren. Soweit sie sich eruieren lassen, sollen die obigen Binär-Kodierungen im Analyserahmen berücksichtigt werden. 12.3.1 Informelle Etikettierungen 12.3.1.1 Gemeinschaft und Geselligkeit Während sich die Deüffelskinder relativ ungehindert in den politischen und wirtschaftlichen Bereichen der Dorfgemeinde bewegen konnten, waren ihnen hingegen aufgrund ihrer Abstammung im Sozialraum gewisse Schranken gesetzt. Diese Form der Stigmatisierungen erschwerte eine erfolgreiche Integration in den nachbarschaftlichen und freundschaftlichen Sozialverbänden unberüchtigter Gemeindemitglieder erheblich und konnte zu langfristigen oder gar dauerhaften Marginalisierungen führen. Wie die Prozessakten im Umkehrschluss nahelegen, war von der Majorität im Dorf eine soziale Annäherung oder gar tiefer gehende Bindung zu den „Hexensippen“ zeitweise stark verpönt und unerwünscht. Lediglich die geltenden Respekt- und Höflichkeitsbekundungen sowie strategische Überlegungen konnten Distanzierungsversuche relativieren. Die soziale Kontaktvermeidung wird in vielen Bereichen der täglichen Umgangsformen spürbar, die radikale Formen annahmen, wenn das Hexengerücht von der Gemeinde als bestätigt angesehen wurde. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert der Fall von Gölcke Schweins, die seit einigen Jahrzehnten als Hexe verschrien war und zum Zeitpunkt der dritten großen Verfolgungswelle von 1658/ 59 noch vor Prozessbeginn verstarb. Als Gölcke, wie sie gemeinhin gerufen wurde, Henrich Kestorffs Frau wegen einiger Geldschulden angemahnt hat, gab Kestorffs Frau als Antwort zurück, es handle sich um unglücklich geldt. Mit dieser Aussage brachte Kestorffs Frau das geliehene Geld unmittelbar mit dem Ruf der Geldgeberin in Zusammenhang und deutete damit unverhohlen an, dass Münzen aus Hexenhand nicht rechtens erworben sein könnten. Gölcke geriet über diese Unverfrorenheit in Zorn und habe geschrien, wan sie einen gutten freundt alhier hette gehabt, den hette sie verhoffet an ihr zu finden [...] 1762 . Das Gefühl der Isolation und sozialen Ausgrenzung aus den „normalen“ Freundschaftsverbänden wird hier besonders deutlich. Weitere Einschränkungen des sozialen Handlungsraumes waren beim Verschenken von Essen oder dem Tragen von Kleidungsstücken gegeben. Mehrere Begebenheiten seien kurz geschildert. Als am Ostersonntag im Jahr 1658 die seit Jahrzehnten berüchtigte Liese Böddeker mit anderen Frauen auff der Mißten gesessen, um die 1762 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 13.07.1659. 12.3 „Soziale Reaktionen“ 425 ersten warmen Sonnenstrahlen zu genießen, habe sie Trina Höppers Sohn mit den Worten zu sich gerufen: komb söhnchen[,] ich habe guten käse[,] will dir einen geben. Seine Mutter habe aber Lieses Gabe nicht Leiden wollen vndt [das] Kinde von Ihr abgeruffen. Offenbar beharrte jedoch der Junge auf den Käse. Seine Mutter gab schließlich seinem Drängen nach mit der Ermahnung, er solle, bevor er das Milchprodukt esse, ein Kreuz darüber schlagen, um die schädigenden Wirkungen der vermeintlichen Hexe Liese abzuwehren. 1763 Mit ähnlichen Worten ermahnte die Wölffesche ihren Sohn 1687, als ein erneutes Hexengerücht gegen die „üblichen Verdächtigen“ aufkam. Sie sagte zu ihrem Kind: wan Ihm einer ein butterbrodt gebe, so würde Erß nehmen, sie wolte Ihn gewarnet haben [...]. 1764 Neben „kontaminierten“ Lebensmitteln, die jedoch mit Hilfe von apotropäischen Formeln „ gereinigt“ werden konnten, galten auch die Kleidungsstücke der Hexe als „verunreinigt“. Als Beispiel soll noch einmal der Fall der Liese Böddeker dienen. Bevor sie den Jungen zu sich gerufen hatte, wollte sie dessen Mutter Trina necken, indem sie versuchte, ihre Haube auf deren Kopf zu setzen. Trina habe sich aber so sehr gegen die Handlung gewehrt, bis kurz danach ein starker Wind von der stedde wehte und ihre eigene Kopfbedeckung wegblies. 1765 Diesen Vorfall interpretierte Trina als magische Reaktion der als Hexe verschrienen Liese. Als hoch verseucht galten auch die Kleidungsstücke, die mit Vieh in Kontakt kamen, das offenbar durch Schadenszauber umgekommen war. Dies belegt der Vorfall mit Elsche Buddens Tochter Catharina, die Vogelvieh vergiftet haben soll. Ein der Situation beiwohnender Junge nahm die zwei noch lebenden Enten mit seinem Hut auf, um sie heimzutragen. Seine Mutter verbot ihm jedoch, die Kopfbedeckung weiterhin zu tragen. Das Kind gab vor Gericht an, es habe den Hut, nicht mehr brauchen dörffen, weiln darein nicht wie sonsten gemeine materie von den Enten kommen [...] 1766 . Galt das Hexengerücht als erwiesen, wahrten auch die Herren von Westphalen einen gewissen räumlichen Abstand zu den infamierten Personen. Zwei Marginalien aus den Hexenprozessakten geben über die spezifische Verhaltensform der Ortsobrigkeit Auskunft. Insbesondere der Drost Westphalen und seine Gemahlin waren darauf bedacht, Abstand zu der bereits genannten Gölcke Schweins zu wahren, gegen die 1631 ein Hexenprozess eingeleitet wurde. Im fünften Anklagepunkt wurde ihr vorgeworfen, die Heuer-Pacht verhext zu haben. Anlass für diesen Verdacht gab der Umstand, dass die Pacht bei der Besichtigung durch die Adelsherren lediglich ein fuist dick groß war, im Verlauf des Tages jedoch aufquoll. Daraufhin bezichtigten der herr drost wie auch [die] drostinne sie mit der Zauberei [...] vndt demnach niemalen mehr Pachtheuer von ihr holen, vndt vmb gefahr halber ahnnehmen mögen 1767 . In den herrschaftlichen Räumlichkeiten der Fürstenburg war wiederum die Liese Böddeker nicht gern gesehen. Als sie sich erbot, das Neugeborene der Westphalin zu retten, 1763 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 25.04.1658. 1764 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 66 r . 1765 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 25.04.1658. 1766 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 75 v . 1767 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. Juni 1631. 426 12 Die historische Fabrikation kam die adelige Schwiegermutter in die Küche, erzürnt über die Anwesenheit der Liese, und sagte: man solte solche verdechtige weiber von der küchen laßen [...] 1768 . Mit großer Abneigung und Verachtung begegneten viele Gemeindemitglieder auch der Elsche Budden und ihrer Tochter Margaretha Stroeth. So heißt es in einem Indizienkatalog vom 11. November 1700: [...] das im gantzen dorffe fürstenberge fromme Christen einen abschaw vndt widerwillen geschopffet mit ihro vndt ihrer Mutter vmbzugehen 1769 . Eine der radikalsten Formen der sozialen Marginalisierung, die die ökonomische Existenzgrundlage der Deüffelskinder bedrohen konnte, war der Ausschluss aus der dörflichen Solidargemeinschaft. Neben der rechtlichen und politischen Organisation des alltäglichen Lebens stellte die gegenseitige Hilfe beim Ressourcentransfer oder in Notsituationen eine der konstitutiven Elemente der Dorfgemeinde dar. 1770 Insbesondere in den Hexenprozessakten von 1601 manifestieren sich zahlreiche Formen der sozialen Ausgrenzung im Bereich der Nachbarschaftshilfe. Am schlimmsten traf es die Delinquentinnen Gretha, die Wilkesche, und Engel Brylen. Vor Gericht gaben beide Inquistinnen mehrfach an, Schadenszauber begangen zu haben, weil bestimmte Gemeindemitglieder sie nicht mehr wirtschaftlich unterstützen wollten: angefangen bei der Verweigerung von Lebensmitteln wie Brot, Käse, Weizen und Roggen bis hin zu Nägeln oder Flickzeug für Schuhe. Gretha, die entweder bereits im fortgeschrittenen Alter war oder eine körperliche Behinderung hatte, war auf die Nachbarschaftshilfe besonders angewiesen, da sie nicht mehr selbst die Feldfrüchte von ihren Ackerflächen auf dem Gras- oder Eilerweg holen konnte. Jedoch wurde ihr auch diese Unterstützung versagt. 1771 Noch in der letzten Verfolgungswelle von 1700 bis 1703 lässt sich diese extreme Form ökonomischer Marginalisierung in den Prozessakten nachweisen. Ausgerechnet im Bereich der schweren Feldarbeit waren mehrere Hände und Pferde vonnöten, um sie bewältigen zu können. Aber Jobst Lauffkötter wollte nicht mehr länger seinem Verwandten Friedrich Vahlen zuspahnen, weil dieser mit dem Hexengerücht öffentlich konfrontiert worden war, sich aber nicht regelkonform verteidigt hatte. Der Schimpf über ihn nahm derartige Ausmaße an, dass kein frommer mensch mit inquisito vmbgehen wolle, sondern scheueten Ihn vnd wolt[en] keinen trunck mit Ihme thuen 1772 . Friedrich Vahlen war folglich nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht von der Gemeinschaft ausgeschlossen, sondern auch aus den gemeinschaftsstiftenden Trinkgelagen verbannt worden. 1768 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 03.07.1658. 1769 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 107 v . 1770 Vgl. Troßbach, Werner: Art. „Dorf“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0796000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 1771 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urgicht von Gretha, die Wilkesche am 23.08.1601. 1772 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 111 v . 12.3 „Soziale Reaktionen“ 427 12.3.1.2 Schul- und Spielgesellschaften Die Vielzahl an Literatur über Kinderhexenprozesse legt offen, dass die kleinen Sprösslinge keineswegs von der Hexenthematik der Erwachsenen ausgeschlossen waren. Vielmehr erlauben die Studien den Schluss, dass die Kinder nicht nur passiv dem Gesprächsstoff der „Größeren“ lauschten, sondern ihn auch aktiv an Altersgenossen weitergaben. Resultat dieser elterlichen und gesellschaftlichen Unterweisungen war eine Überformung des Hexenbildes mit dämonischen Schreckensgestalten und Gespenstern sowie persönlichen Erfahrungen und Fantasiegebilden, an deren Ende sozusagen ein eigener, der Vorstellungswelt der Kinder entsprechender Entwurf über die Imagination des Bösen stand. 1773 Darüber hinaus legen auch die Erziehungs- und Sozialisationspraktiken, die noch nichts von den pädagogischen Theorien des 20. Jahrhunderts kannten, die Vermutung einer bewusst gesteuerten Einbeziehung der Kinder ins brisante Hexenthema nahe: Die Hexe diente zusätzlich als erzieherisches Instrument, als Abschreckungsgestalt, die von dem rechten Weg abgekommen war und anschließend in einer feierlichen Prozession den Händen des Scharfrichters übergeben wurde. Wie bei jeder frühneuzeitlichen Gemeinschaft sollten auch die Kinder in Fürstenberg an der Hinrichtungszeremonie teilnehmen, wie noch ein Augenzeugenbericht aus dem 18. Jahrhundert für die Abstrafung eines Diebstahls mitteilt. 1774 Erziehung und Sozialisation prägten somit die Wahrnehmung über die Deüffelskinder und später den Umgang mit ihnen. Ein kurzer Fall sei an dieser Stelle geschildert, der von den pauschalen Beschreibungen wegführt und ein helleres Licht auf die Schulung der Kinder über das lokale Hexenbild wirft. Als illustratives Beispiel sei der bereits kurz angeschnittene Fall von Peter Schantz erneut herangezogen. 1775 1659 war er wegen vermuteter Hexerei und „Werwolferei“ inhaftiert worden, musste jedoch aufgrund seiner erfolgreichen purgatio wieder freigelassen werden. Knapp ein Jahr später sollte Peter erneut aktenkundig in Erscheinung treten. Ihn hatte ein neunjähriges Kind wegen vermeintlicher Lykanthropie angezeigt. Während der Vater des Kindes noch versuchte, dessen Aussagen zu bagatellisieren, es sogar bedrohte, stillzuschweigen, daß niemandt davon gewahr würde und vor Gericht angab, es kenne Peter Schantz nicht recht, beharrte das Mädchen auf seinen Angaben. Es habe Peter Schantz nackend gesehen, ohne Schuhe, Strümpfe und Hut. Mit dieser Beschreibung griff das Kind auf die allgemeine Vorstellung zurück, dass man sich vor der Metamorphose zunächst seiner Kleidung entledigen müsse, bevor die magische Salbe auf die Haut aufgetragen werde. Mit dieser kurzen Schilderung ist ein wichtiger Hinweis geliefert, dass das Mädchen offenbar über das Gerücht von Peter Schantz genauestens informiert war, ebenso darüber, anhand welcher Indizien Hexerei und Werwolferei zu erkennen sind. Als Teil 1773 Siehe hierzu die interessante Studie von Beck: Mäuselmacher. 1774 Zur heilsamen Einschüchterung mußten die Schulkinder von Fürstenberg der Exekution beiwohnen, bei welcher Gelegenheit eine mahnende Ansprache gehalten wurde. Es haben die Eltern des Agenten Schmidt in Haaren erzählt, daß sie als Schulkinder hingeführt seien. PfA Fü., A 18, Manuskript, unfol. 1775 Vgl. Kapitel 11.3.1.4. 428 12 Die historische Fabrikation der „social audience“, fühlte sich das Kind offenbar verpflichtet, seine Beobachtungen trotz elterlicher Ermahnungen und Einschüchterungsversuche öffentlich bekannt zu geben. 1776 Da es jedoch nach den rechtlichen Maßstäben der Carolina kein düchtiger Zeuge war - so begründeten die externen Hexenkommissare ihre Entscheidung -, wurden seine Anschuldigungen für eine erneute Prozesseröffnung nicht zugelassen. 1777 Der Ausschnitt verdeutlicht anschaulich, wie sehr das Hexenthema auch in die Kinderwelt Einzug gehalten hatte, indem die „Sprösslinge“ die Erwachsenen imitierten. In diesem Zusammenhang ist ihre Rolle als aktive Akteure am Stigmatisierungsprozess von Bedeutung, die lediglich anhand von zwei Marginalien in den Prozessakten zum Ausdruck kommt. Der erste Beleg findet sich in einem Indizienkatalog von 1631. Als das Hexengerücht um Goert Nüthen seinen höchsten Grad erreicht hatte, griffen mehrere Kinder seine infamia auf, verstärkten und manifestierten sie, indem sie gleich den Erwachsenen ihm nachliefen und ihn öffentlich verschrien. So heißt es im 5. Punkt der Anklage: Wahr dieser goertt ein solches Zaubergerücht gehabtt, das ihmen die kinder auffer strassen dafür ausgeruffen. 1778 Diffamierungen wurden jedoch von den Kindern nicht nur gegenüber berüchtigten Erwachsenen, sondern auch gegenüber ihresgleichen ausgesprochen. Über diese Praktik berichtet der Fall der Trina Klingenberg. Als Trina stark ins Gerede kam, schlossen die anderen Kinder ihre Nachkommen von Kinderspielen aus. Sie weigerten sich sogar, in der Schule neben ihnen zu sitzen, und hißen daß Ein Igelkindt. Voller Empörung über dieses Benehmen schrie Trina die Eltern an, ihre Kinder für dieses unflätige Benehmen zu schlagen (stupen). 1779 Jedoch handelte der Nachwuchs völlig im Sinne der unberüchtigten Eltern, wie das folgende Beispiel belegt. Gemeint ist der Vorfall von 1686, als das Gerücht in Fürstenberg umging, sieben Kinder vom Klingenberg könnten zaubern. Bezeichnenderweise ermahnte Henrich Schweins Frau Engel, die selbst einem Hexengeschlecht entstammte, eine andere Mutter mit folgenden Worten: [...] sie solle die kinder woll waren, daß dieselbe nicht bey böse gesellschafft kämen, [...], auch gleichfalß Zu der wolfschen gesagt, sie solte Ihr söhnegen waren. 1780 Den Kindern wurde folglich ausdrücklich verboten, mit infamierten Kindern gesellschaftlichen Umgang zu pflegen. Ob dieses Verbot lediglich temporärer Natur war und sich an den Konjunkturen eines Hexengerüchts orientierte oder dauerhaft galt, ist aus den Quellen nicht zu eruieren. Allerdings handelt es sich bei der geschilderten Situation um keinen Einzelfall, sondern um eine übliche Alltagspraxis im Umgang mit unliebsamen Personen. Erinnert sei nur an das „Aus-dem-Haus-Werfen“, wenn aufgrund eines Fehlverhaltens kein Kontakt mehr mit einem gewissen Menschen erwünscht war. Während es sich hierbei 1776 Nicht zu missachten ist freilich auch der psychologische Aspekt. Das Kind war mit seiner Aussage im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und konnte sich sowohl gegenüber seinesgleichen als auch gegenüber den Erwachsenen hervorheben. 1777 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 07.10.1660. 1778 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 01.07.1631. 1779 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 17.06.1658. 1780 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 65 v . 12.3 „Soziale Reaktionen“ 429 allerdings um individuelle Konfliktsituationen handelte, neigte man bei den Deüffelskindern offenbar schneller dazu, ein Generalverbot auszusprechen. Diese Situation ist zumindest für die Kinder von Hermann Schweins dokumentiert. 1658 verfasste er eine Supplik an die Herren von Westphalen, weil Johann Dröppel seinen Sohn zuvor beschuldigt hatte, seiner Tochter die Besessenheit in einem Trank zugefügt zu haben. Empört vermerkt er, dass deßen also mein sohn [...] auch sonsten öffentlich vnd heimblich[,] bevorab wan fremde leute alhir kommen, sich gelüsten laßen, gedachten meinen sohn, hin vnd wider mit gesparter warheit gantz freventlich zu diffamiren, zu schmehen vnd in specie herauß gestürtzet[,] Er wehr [es] nicht wehrt[,] das Er in ihr hauß keme[,] auch meine kinder für deüffelskinder außgeschrien vnd deßen gantz keinen scheuw tragen 1781 . 12.3.1.3 Heirat Obwohl die Deüffelskinder finanziell und erbstrategisch eine vorteilhafte Eheverbindung darstellten, 1782 galten sie unter Familien ohne Verfolgungshintergrund aufgrund ihrer anrüchigen Reputation bei der Partnerwahl als unattraktiv. Einerseits war eine Heirat stets mit der latenten Gefahr einer Übertragung des „Hexenimages“ verbunden, die ab dem Zeitpunkt der Hochzeit der Familienehre einen dauerhaften „Stempel“ aufdrückte und damit folglich eine Ehrschmälerung darstellte. Andererseits schwebte bei einer Eheschließung mit der „Hexenbrut“ das sprichwörtliche Damoklesschwert über dem Haupt der einheiratenden Familie: Äußerungen und Verhaltensweisen konnten nun im Licht der Hexerei gewertet werden, womit nicht nur der symbolische Handlungsraum eingeengt wurde, sondern auch das Verfolgungsrisiko potenziell stieg. Zudem war bei einem engeren Kontakt zu den vermeintlichen Hexen stets die Bedrohung einer „Infektion“ gegeben, da sie nach zeitgenössischer Auffassung ihr „Hexenwissen“ gemäß dem teuflischen Verhaltenskanon an andere Personen weitergeben sollten. War hingegen einer der Ehepartner nicht gewillt, sich der Hexensekte anzuschließen, konnte er selbst Opfer von Zaubereianschlägen durch den anderen werden, wie es im Fall des Henrich Sanders geschehen war. Er hatte seine Frau im Verdacht, ihn lahm gezaubert und infolgedessen zum Krüppel gemacht zu haben, solches rund außgesagt vnd darauf beständig gestorben 1783 . Dieses Risikobündel schreckte offenbar viele „ehrenhafte“ Familien von einer Heirat mit den Hexenkindern ab - eine kalkulierte Überlegung, die noch rund sechzig Jahre nach Beendigung der Hexenverfolgungen in Fürstenberg in die Eheanbahnungen miteinfloss und die Dauerhaftigkeit des Hexenstigmas qua Geburt erneut 1781 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Bittschrift, nicht entzifferbares Datum, ca. August 1658. 1782 Frühneuzeitliche Eheschließungen waren in der Regel arrangierte Ehen, in denen der Sozialstatus des Partners und ein ausreichender Nahrungsstand wesentliche Kriterien für eine Eheverbindung darstellten. Siehe hierzu Ehmer/ Schröter: Heiratsmuster, europäisches. 1783 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 119 v . 430 12 Die historische Fabrikation unterstreicht . Über diese gängige Praxis berichtete ein unbekannter Chronist zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Er schrieb: Noch in jüngeren Zeiten vor 30-40 Jahren wurden die Namens Genossene als abstammende Familien von Hexen für verächtlich gehalten, und als solche angesehen, die betittelte Thomas Familie, welche von dieser Anschuldigungen frei geblieben, und den Rang behaupten wollte, nahm immer Bedacht darauf nie aus der gegenseitigen so genannten Hilleken Familie sich anzuheirathen, diese ehrlose Gedenkungs Art ist gescheidert, und verdient der Nachwelt zum Muster eines besseren Gefühls bekannt gemacht zu werden. 1784 Überwog dennoch der zweckrationale Pragmatismus das oben erwähnte Risiko - denn die Aussicht auf eine Stabilisierung der sozial-ökonomischen Lage oder gar ein Aufstieg muss einigen Familien äußerst verlockend erschienen sein -, versuchten die eingeheirateten Partner häufig, ihre Handlungen vor den Augen der Gemeindemitglieder zu rechtfertigen. Henrich Scheiffer, Ehemann der 1687 als Hexe inhaftierten Elsche Budden, gab an, seine Frau habe ihn zu Ihrer Liebe bezaubert, sintemahlen Ihme öffters und von verschiedenen Leuthen die vorgehabte Heirath wohlmeinentlich mißrathen mit Vermeldung der Uhrsachen, daß sie nemlich eine Hexe wehre, Er auch sich öffters darauf verlauten lassen, daß von ihrer Heirath abstehen wolle, aber vergebens 1785 . Trotz aller finanziellen und politischen Vorteile sorgte eine Verheiratung mit einer berüchtigten Person unter den „ehrenhaften“ Verwandten für manche Verdrießlichkeit, wie es die Äußerung von Jost Rentrup zum Ausdruck bringt. Der dicke Cipß aus Essentho, offensichtlich ein Blutsverwandter der Familie Grothen, rief nach der Heirat von Anna Grothen und Henrich Vahlen Jost Rentrup überschwänglich zu, dass er ihn nun Schwager nennen dürfe. Missmutig antwortete Jost: [...] waß schwager die schwagerschafft[,] möchte von Zauberey herkommen [...] 1786 . Mit einem ironischen Unterton reagierte auch der Stiefvater von Henrich Vahlen auf deren Eheverbindung. Der Schöffe Levin Thelen berichtete 1659 dem Richter, dass auf Jost Neukirchs hausbören der Stiefvater neben ihm auf der Bank gesessen habe. Als er den Söhnen von Anna Grothen Bier einschenkte, habe er laut ausgerufen: ah sehet[,] sein daß nit feine kinder, Ist eß nit groß schaden [? ] Er [sc. Levin Thelen] hette Ihme aber nit fragen dürfen[,] warumb er die kinder also beklagte[,] also beide stillgeschweiget. 1787 Aber auch innerhalb der Ehe versuchten die unberüchtigten Partner, sich offenbar von ihren vermeintlichen hexerischen Lebensgefährten zu distanzieren, insbesondere wenn das Hexengerücht bestätigt schien und öffentlich aktualisiert wurde. So habe der Vater von Gölcke Schweins, als er vernahm, dass seine als Hexe berüchtigte Frau verstorben war, sich deßen erfrewet 1788 . Auch der bereits erwähnte Henrich 1784 Z. n. Nolte: Chronik, S. 17. 1785 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 26 f. 1786 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung der Schöffen am 21.07.1658. 1787 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung der Schöffen am 21.07.1658. 1788 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog contra Gölcke Schweins am 26.06.1631. 12.3 „Soziale Reaktionen“ 431 Scheiffer war bei der Festnahme seiner Frau durch die Holzwächter und Schützen darauf bedacht, öffentlich zu verkünden, dass ihr Ruf ihm unbekannt gewesen sei. 1789 In Anbetracht der sozialen Schranken, die bei einer Eheanbahnung zwischen Hexenfamilien und ehrbaren Familien gesetzt waren, wird die über mehrere Generationen bestehende verwandtschaftliche Nähe zwischen den Deüffelskindern zu einem Explicans: Der Makel, ein „Teufelskind“ zu sein, schränkte die Chancen auf dem Heiratsmarkt ein, sodass sie vornehmlich auf Familien zurückgreifen mussten, die denselben Makel aufwiesen. Dieses Unterfangen erwies sich als doppelbödig: Einerseits stieg mit dem familiären Bündnis das Risiko erheblich an, den Verdacht der Hexerei zu bestätigen, da entgegen dem moralischen Verhaltenskodex gehandelt wurde; andererseits schufen sie eine Personalunion, die sich untereinander Schutz und Solidarität bot. Unter der Interpretationsfolie der Ausgrenzungsprozesse im Heiratsbereich drängt sich die These auf, dass es sich bei den Eheschließungen der diversen Hexenfamilien um eine bewusst gesteuerte Heiratspolitik handelte, die selbst noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts kriminalisiert werden sollte. Im Indizienkatalog gegen Stoffel Hencken, der selbst aus einem berüchtigten Hexengeschlecht stammte, heißt es, er habe sich umso mehr verdächtig gemacht, als er sich an deß Zauber lasters verdächtige persohn Elsabein stroth verheyrathet [hat] [...] 1790 . 12.3.1.4 Bestattungen Ein zentraler Bereich dauerhafter Stigmatisierungen war der soziale Ausschluss der Hingerichteten und ihrer Angehörigen von der zeitgenössischen Funeral- und Sepulkralkultur. Der Vollzug der Todesstrafe durch Enthauptung mit anschließender Körperverbrennung stellt damit eine Schnittstelle zwischen formeller und informeller Ausgrenzung dar. Um die soziale Tragweite der Hinrichtungspraktik angemessen zu erfassen, bedarf es einiger kurzer Anmerkungen zu den frühneuzeitlichen Umgangsformen mit den Toten. Die Thematik „Tod“ berührte und berührt noch in heutiger Zeit eine Fülle von Kulturtätigkeiten, die eng verbunden mit bestimmten Vorstellungswelten und religiösen Praktiken waren. Angeschnitten seien nur die Punkte „Trauer“, „Totengedächtnis“ und „Bestattung“. Da der frühneuzeitliche Totenkult häufig von der Vorstellung „einer Übergangszeit zwischen Leben und Tod [geprägt war], in der die Leiche bzw. die in ihrer Nähe weilende Seele des Toten noch aktiven Einfluss auf die Lebenden haben kann“ 1791 , kamen der Totenfürsorge und Totenwache eine besondere Bedeutung zu. Sie waren nicht nur wichtiger Bestandteil volksmagischer und religiöser Totenriten, in denen der Seele eine sichere Jenseitsreise garantiert werden sollte, sondern repräsentierten zugleich den gesellschaftlichen Status der Verstorbenen. Der Tod stellte folglich nicht nur eine Frage nach dem Umgang mit dem physischen Leib dar. Insbesondere das 1789 Vgl. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 27. 1790 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 127 r . 1791 Schäfer, Daniel/ Thiede, Werner: Art. „Tod“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a4348000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 432 12 Die historische Fabrikation Themenfeld „Trauer“ ist hierbei in erster Linie auf dem Feld der Repräsentation anzusiedeln, das in einem „spezifischen Spannungsverhältnis zwischen Gefühl und Inszenierung, zwischen Privatem und Öffentlichem“ stand. 1792 Von großer Bedeutung waren dabei die Dorfgemeinde, Zünfte, Bruderschaften und/ oder die nachbarschaftlichen Verbände, die einerseits den Hinterbliebenen ihr Beileid bekundeten und den Verstorbenen ihre letzte Ehre erwiesen; andererseits ihre Rolle als Träger der Totenfürsorge in einem ausgeprägten Zeremoniell bekräftigten. Entsprechende Visualisierung des gesellschaftlichen Sozialstatus des Verstorbenen boten auch die kirchlichen Trauerriten mit öffentlichen Gebeten, Fürbitten und Seelenmessen. Diese zeremoniellen Akte symbolisierten zum einen die Solidargemeinschaft zwischen Lebenden und Toten, zum anderen die perpetuierte Zugehörigkeit des Verstorbenen zur Gemeinde. 1793 Des Weiteren prägten sie nachhaltig das Totengedächtnis (Memoria) und hoben affirmativ die Integration der Nachfahren in der Kommune hervor. Der „Ahnenstolz“ bildete folglich einen wichtigen Teil für die Familienidentität. Vor dem Hintergrund des frühneuzeitlichen Totenkults wird die soziale Stigmatisierung sowohl für die als Hexen Hingerichteten als auch für deren Hinterbliebene besonders evident: Während dem Individuum durch die Hinrichtung des Körpers von Rechts wegen symbolisch der Ausschluss aus der christlichen Gemeinde vor Augen geführt wurde, ja sogar sein Andenken aus dem Gedächtnis verbannt werden sollte (Damnatio memoriae), wurde auch den Nachfahren eine dauerhafte Schuldsignatur verliehen und deren Verbundenheit zur Gesellschaft infrage gestellt. Somit erklärt sich die nachhaltige Wirkung des Stigmas nicht nur durch den Vererbungsaspekt, sondern auch durch die strafrechtliche Hinrichtungspraxis, die die „Hexenfamilien“ eines der zentralen Elemente des christlichen Lebens „beraubte“: die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Lediglich zwei Randbemerkungen in den Aktenbeständen geben das soziale Ausmaß dieser Stigmatisierung wieder. Das erste Beispiel liefert ein Gespräch zwischen dem Schöffen Levin Blinden und Elsche Erlmeyer von 1702. Es verdeutlicht eindrucksvoll, dass der Tod einer hingerichteten Hexe entgegen dem Verhaltenskanon der Totentrauer Freude hervorrief. Während beide Gesprächspartner wohl über die aktuellen Hexenverfolgungen debattierten, vermerkte Elsche, daß[,] wan anna Catharina Neukirchen weg wer, daß man alß dan kühnlich sagen konte[,] daß eine Hexe weg were [...] 1794 . Die mangelnde Empathie für die verurteilten Personen wird noch an anderer Stelle deutlich. So schlossen einige Dorfmitglieder Wetten ab, wer als Nächster auf dem Scheiterhaufen brennen werde. 1795 1792 Reichelt, Mareike: Art. „Trauer“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a5021000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 1793 Marshall, Peter: Art. „Bestattung“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0432000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 1794 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 128 v . 1795 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Responsiones vom 24.07.1659. 12.3 „Soziale Reaktionen“ 433 Um den Toten zumindest im engsten Familienkreis eine Bestattung und damit einhergehend den Angehörigen eine Memoria zu ermöglichen, griff die Familie Vahlen- Brielohn zu einem ungewöhnlichen Mittel. Als im Verhörlokal Angela Vahlen über ihre fast fünfzig Jahre zuvor hingerichtete Großmutter Margaretha Vahlen vulgo Brielohn befragt wurde, gestand sie dem Richter, sie nicht persönlich gekannt zu haben. Sie habe aber woll gehört, daß ihre großMutter in herren händen gewesen wegen dieses Zauberlasters, endtlich gestorben, vndt nit auffm kirchhoff, sondern im huisgarten begraben worden unter[m] fenster 1796 . Offenbar hatten die Familienangehörigen heimlich vom bewachten Hinrichtungsplatz die Asche der verbrannten Margaretha eingesammelt und ihre sterblichen Überreste in der Nähe des Hauses begraben. 12.3.2 Formelle Etikettierungen 12.3.2.1 Hexenprozess Die justizielle Verfolgungspraxis vermeintlicher Hexen besaß in mehrfacher Hinsicht etikettierende und marginalisierende Elemente von temporärer, aber auch nachhaltiger Wirkung auf den Sozialstatus des Delinquenten und seiner Angehörigen. Zunächst ist zu bedenken, welche Auswirkungen ein Hexenprozess auf der sozialen Ebene der Perzeption hatte: Das zuvor angenommene Hexengerücht, dem trotz aller vorliegenden (indirekten) Bestätigungen der letzte Funke Gewissheit fehlte, wurde schließlich durch das rechtliche Eingreifen der Obrigkeit zu einer sozialen Tatsache. Folglich galt der Hexenprozess, der einer Person das denkbar abscheulichste Verbrechen der Christenheit zur Last legte, zumindest in der sozialen Praxis per se als infamierend, auch wenn der letzte, unumstößliche Beweis, das Geständnis der Angeklagten, fehlen mochte und infolgedessen das Gericht deren Freilassung anordnete. Das Beispiel von Peter Schantz sei an dieser Stelle zur Illustration noch einmal herangezogen. Peter, dessen Halsstarrigkeit auf Anordnung der Herren von Westphalen durch eine mehrmonatige Haftstrafe regelrecht „zermürbt“ werden sollte, konnte sich in rechtlicher Hinsicht vom schlechten Leumund purgieren, indem er keinerlei Aussagen zum Hexereidelikt machte. Weil die „Königin des Beweises“ fehlte, musste er nach der Carolina wieder freigelassen werden. 1797 Die Gemeinde war jedoch weiterhin von seiner Schuld überzeugt, sodass ein Jahr später weitere Hexereianklagen am Gericht eingingen, die jedoch auf Rat der Hexenkommissare zu keiner erneuten Prozessinitiierung führten. 1798 1796 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 124 r . 1797 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urfehde des Peter Schantz vulgo Nottebaum am 01.12.1659. 1798 Auszug aus dem Brief des Hexenkommissars Antonius Bergh an den Richter Johann Sauren: Da die beiden Zeuginnen in ihren Aussagen in puncto Tag, Zeit, Worte sowie Aussehen von Peter Schantz übereinstimmen und der Beklagte schon einmal wegen Zauberei sowie werwollferey verdächtig gewesen war, sei die Indizienlage ausreichend für die Eröffnung der Inquisition. Jedoch habe sich der Angeklagte nach Artikel 20 CCC purgiert und eine nackende erscheinung sei nicht für die Einleitung eines Prozesses genug. Folglich sei Peter Schantz mit der Captur 434 12 Die historische Fabrikation Obwohl die lokale Rechtsgrundlage und Verfahrenspraxis so manches Hinrichtungsurteil abwendeten, konnten die Adelsherren, die in einigen Prozessfällen von der Schuld des Angeklagten überzeugt waren, Schuld-Signaturen trotz rechtlicher Purgierung verleihen, indem sie Freilassungen mit Ehrenstrafen koppelten. 1799 Dies belegt eine Supplik des Henrich Vahlen an die Obrigkeit. Seine Frau Anna (Enneke) Grothen war insgesamt zweimal wegen des Hexenlasters inhaftiert und gegen sie ein Strafprozess eingeleitet worden. In den beiden Prozessen weigerte sich Enneke, ein Geständnis abzulegen, und musste auf Basis des kaiserlichen Reichsstrafrechts freigelassen werden. Da dennoch solch vngezifer gemeinhin als gefährlich in der Gemeinde galt, 1800 beschlossen alle erbberechtigen Westphälinge, Anna (Enneke) Grothen durch den Scharfrichter auszusteüpen und des Gerichtsbezirkes zu verweisen. Dabei nahmen sie durchaus in Kauf, dass die Schandstrafe Enneke, aber auch gleichzeitig deren Kinder und Freunde schmähte. 1801 Mit dieser Aussage ist ein wichtiger Hinweis geliefert, dass der Gerichtsbann eine doppelte und nachhaltige Entehrungswirkung hatte. Als besonders schmählich galt einerseits der Gang aus dem Gerichtsbezirk, der durch die Büttel bewacht und von der Dorfgemeinde mit Hohn und Spott verfolgt wurde. Um seine Frau und Familie vor dieser Schande zu bewahren, bat Henrich Vahlen die Obrigkeit demütigs[,] das ich sie selber mögte weg bringen, damit Meinen armen kindern der schimpff nicht widerfahren mögte 1802 . Andererseits galt der Gerichtsbann per se als entehrend. So bat drei Jahre später Henrich um die Begnadigung seiner Frau. Wiederum richtete er sich an die Gerichtsherren. Diesmal mit der Bitte, sie wieder in sein hauß auff vndt annehmen zu dürfen, er werde auch dafür Sorge tragen, dass sein weib im hauße verbleiben vndt Niemandt scandaliren solte 1803 . Eine Schandstrafe erfuhr auch Elsche Budden im Jahr 1687, nachdem die Hexerei- Anklage gegen sie fallen gelassen worden war. Der Entlassungsbescheid wurde auszu verschonen. Es sei ohnehin fraglich, ob das ältere Mädchen gesehen habe, dass Peter vor dem Geschrei ein Werwolf war oder wegen einer anderen vrsach halber die kleider außziehen können. Zudem sei rechtlich einzuwenden, dass die qualitet deß zeugen (Art. 30 CCC) für eine glaubhafte Anzeige vonnöten sei. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 18.04.1660. 1799 Dass die Herren von Westphalen tatsächlich von der Schuld der Angeklagten überzeugt waren und nicht etwa dem Willen der Hexenkommissare nachgaben, belegen die Korrespondenzen der Westphälinge, die sie mit dem örtlichen Richter, aber auch untereinander betrieben. Im Fall von Peter Schantz, Trina Kesperbaum und Anna (Enneke) Grothen lag der persönliche Wunsch der Obrigkeit vor, die Angeklagten hinrichten zu lassen. Allerdings legten die vermeintlichen Unholden kein Geständnis ab, sodass eine legitime Verurteilung auf der Basis des geltenden Rechts unmöglich schien. Um dennoch ihre Schuld „nach außen“ hin zu demonstrieren, verurteilte man sie zu arbiträren Schandstrafen. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 05.10.1659. 1800 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 05.10.1659. 1801 [...] Alß dan auch anna Grothen ihre Indicia abermal per torturam Elidirt ob die vermöge vrtheil außzusteüpen vnd zu verweisen, oder aber iuxta supplicam odiectam vmb der kinder vnd freunde damit zu verschonen erga Cautionem zu erlaßen sei. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief des Johann Sauren an die Westphalen vom 02.09.1659. 1802 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Brief, ca. 1659. 1803 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Brief vom 30.07.1662. 12.3 „Soziale Reaktionen“ 435 drücklich mit der Auflage verbunden, künftig fromm- und ehrlicher Leute Gesellschaft oder Zusammenkunft zu meiden [...] 1804 . Die entehrende Wirkung des Hexenprozesses wird noch anhand zweier weiterer Verfahrenspraktiken deutlich, die nicht eindeutig in den Quellen erwähnt, jedoch in der Forschungsliteratur allgemein bekannt sind. Zum einen ist die berühmte Berührung durch den Scharfrichter zu nennen, die in Kapitel 9.1.7 eingehender behandelt wurde und hier keiner näheren Erläuterung mehr bedarf. Zum anderen stellte das Haare- Abschneiden sowohl im Hexenprozess als auch außerhalb des Rechtsverfahrens eine Demütigung für den Angeklagten dar. Um die Macht des Teufels auf den Delinquenten zu verringern, der bekanntlich auch in den Haupthaaren sitzen konnte, war das Scheren eine Präventivmaßnahme und sollte die Angeklagten schneller zu einem Geständnis bewegen. Simultan symbolisierte das Haare-Abschneiden eine Entindividualisierung des Trägers. Insbesondere wenn der Aspekt beachtet wird, dass in der Frühen Neuzeit die Haartracht Auskunft über den sozialen Status einer Person gab. 1805 Wurden die vermeintlichen vnholde aufgrund des fehlenden Geständnisses aus einem Strafverfahren entlassen, so war noch für die Öffentlichkeit das charakteristische Stigma des Hexenprozesses, der kahl geschorene Kopf, lange Zeit sichtbar und konnte auch nicht durch Kopfbedeckungen gänzlich versteckt werden. Seine stigmatisierende Durchschlagskraft entfaltete der Hexenprozess zusätzlich durch seinen Sonderstatus, den er in der fürstenbergischen Gerichtspraxis einnahm. Trotz des lokalen Rechtsmodus, der verfahrenstechnisch eher einer Mischform aus ordinären und extraordinären Modi entsprach, d. h. dem Angeklagten weiträumige Verteidigungsmöglichkeiten gewährte und exzessive Folteranwendungen vermied, stellen die Hexenprozesse die einzig nachweisbaren „Massenhinrichtungen“ in der herrschaftlichen Sanktionspraxis in Fürstenberg dar. Mit Nachdruck verfolgten die Adelsherren das Hexenverbrechen in der Gemeinde und trugen somit unweigerlich zu seiner stilisierten Perhorreszierung als höchstes Offizialdelikt bei. Ein Vergleich mit anderen Bagatell- und Strafdelikten betont hierbei noch einmal die Sonderposition des crimen maleficarum: Das Hexenverbrechen war das am meiste kriminalisierte Vergehen in der fürstenbergischen Geschichte. Zusätzlich ist zu beachten, dass die Hexenverfolgung im Laufe der rechtlichen Ahndungsgeschichte eine Zuspitzung auf bestimmte Familiengruppen erfuhr. Das Individualverbrechen „Hexerei“ wurde somit zu einem typischen Kollektivverbrechen bestimmter Familien mit seinen „üblichen Verdächtigen“. Die selektive Etikettierung qua Hexenprozess erhielt somit ihre dauerhafte Stigmatisierungskraft. 1804 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 30 f. 1805 Vgl. Gareis, Iris: Art. „Haar“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http : / / dx.doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a1548000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 436 12 Die historische Fabrikation 12.3.2.2 Hexenweg und Zehnthaus Nur kurz sei an dieser Stelle auf die bereits detailliert behandelten sozialen Diffamierungen verwiesen, die mit dem Gang zum Zehnthaus und der Inhaftierung darin verbunden waren. Vor dem rechtlichen Untersuchungsschritt, der Befragung (Quaestio) des Angeklagten anhand von gesammelten Indizien wurde die verdächtige Person zunächst durch die herrschaftlichen Wächter oder Schützen abgeholt und im Zehnthaus verwahrt. Dieser strafprozessuale Schritt war vonnöten, um Fluchtversuche der Inquisiten möglichst zu verhindern. Das marode Lagergebäude 1806 war zumindest zeitweise für Strafzwecke zu einem Gefängnis umfunktioniert worden. Während die Inhaftierung selten als rechtliche Sanktionierung eingesetzt wurde - sie fand nur sporadisch Anwendung auf dem Deliktfeld der Verbalinjurie oder bei Zahlungsverzug von Schulden -, zählte sie zum festen Bestandteil eines Hexenprozesses. Es erscheint daher nicht verwunderlich, dass noch Jahrhunderte später der festgetrampelte Pfad zum Zehnthaus im Volksmund „Hexenweg“ genannt wurde, der nur mit einer Segensformel betreten werden sollte, da er zuvor durch Hexen kontaminiert worden sei. 1807 Der Gang zum Gefängnis stellte dabei eine schimpfliche Prozession dar, bei der die Deüffelskinder öffentlichem Spott und Häme ausgesetzt waren. Erinnert sei nur an den Zwischenfall mit Elsche Budden im Jahr 1687. Als sie von den Bütteln zum Gefängnis gebracht wurde, schrie ihr Mann, die Hände zusammenschlagend, wiederholt aus vollem Halse: [...], o, wie schleppen sie mit Dir herum, ich hättte nicht vermeint, daß ich eine solche Frau an Dir hätte [...]. 1808 Die Inhaftierung selbst galt in Fürstenberg, wie anderswo auch, als ein Schandmal. Als zum Beispiel Johann Dröppel wegen unbezahlter Schulden inhaftiert werden sollte, widersetzte er sich dem Vollzug. Mit viel Weh und Geschrei konnte der Gerichtsfrone ihn festnehmen, der dennoch weiterhin renitent blieb. Während der gesamten Festnahme habe Johann gerufen, dass man ihn lieber totschießen oder ihm den Kopf abhauen solle, als ihn in das Zehnthaus zu bringen. 1809 Der temporär entehrende Charakter des Gefängnisaufenthalts rührte nicht nur von seinem Öffentlichkeitscharakter her, da vor den Augen sämtlicher Gemeindemitglieder die soziale und/ oder rechtliche Verfehlung des Angeklagten offenbar gemacht wurde. Er bedeutete auch für die Familienangehörigen den zeitweiligen Verlust einer wichtigen Arbeitskraft. Verwandte oder Freunde mussten nun den personellen Ausfall ersetzen, um den ökonomischen Fortbestand ihrer Familie weiterhin zu garantieren, was eine zusätzliche Belastung darstellte. Vermutlich zogen sich die Gefängnisinsassen den Ärger einiger Gemeindemitglieder aus dem Verwandtschafts- und Freundeskreis zu, womit wiederum die Inhaftierung eine doppelte Attribution zur Folge hatte. Formelle und informelle Stigmatisierungen liefen bezüglich der Haftstrafe Hand in Hand. 1806 Siehe hierzu Kapitel 9.2.2. 1807 Vgl. Kapitel 10.1.2.3. 1808 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 27. 1809 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. 142 v . 12.3 „Soziale Reaktionen“ 437 12.3.2.3 Güterkonfiskation Eine ökonomische und damit einhergehend soziale wie politische Stigmatisierung, von der insbesondere die Angehörigen der hingerichteten Personen betroffen waren, stellte die Begleichung der Gerichtskosten durch Güterkonfiskation dar. Wie bereits oben ausführlicher dargelegt wurde, diente die herrschaftliche Beschlagnahmung des immobilen Besitzes der Delinquenten zur Teildeckung der hohen Prozessausgaben, die für die Adelsherren eine Belastung darstellten. Selbstverständlich trafen die Kosten auch die Familienangehörigen schwer, obwohl die Ortsobrigkeit um eine angemessene und moderate Verteilung der finanziellen Ausgaben bemüht war. Diese „moderate“ Kostenverteilung wird schließlich daran sichtbar, dass sich Deüffelskinder über Generationen in der Mittel- und Oberschicht halten konnten und eben nicht durch die Hexenprozesskosten in die Armut getrieben wurden. Jedoch hatten die Verwandten zusätzlich, während des laufenden Verfahrens, die ökonomische Versorgung der inhaftierten Angehörigen monetär zu tragen. Meines Erachtens lag jedoch der neuralgische Punkt bei der Kostenverteilung noch an einer anderen Stelle, welche bisher in den Überlegungen der Hexenforschung wenig Berücksichtigung fand: Obwohl das fürstenbergische Samtgericht darauf bedacht war, die Familienangehörigen nicht „überflüssig“ mit den Prozessausgaben zu belasten, griff doch insbesondere die Praxis der Güterkonfiskation in den Sozialstatus der jeweiligen Familien und damit eng verwoben in ihr Sozialprestige ein. Die obrigkeitliche Anordnung, einen Teil des Ackerlandes, der Wiesen und gelegentlich Häuser der Delinquenten zu pfänden und anschließend an Interessenten zu verkaufen, verringerte den Landbesitz der Betroffenen zumindest temporär. Ernteerträge und das für das Vieh benötigte Futter wurden zudem kurzfristig gemindert. Nicht zu vernachlässigen ist auch das persönliche Schmachgefühl, wenn Gemeindemitglieder, Nachbarn oder Freunde die gepfändeten Immobilien erwarben. 1810 Vor dieser Deutungsfolie wird auch Albert Sanders’ Reaktion verständlich, der nach der Hinrichtung seines Onkels sein Image als Deüffelskind instrumentalisierte und einen Fluch über die Gemeinde Fürstenberg aussprach. Als er selbst wegen Hexerei angeklagt wurde, fragte das Gericht gezielt nach seinen Beweggründen für seine Malediktion. Er antwortete: Er hätte zwar [...] dergleichen wörther außgeredet, aber nit auß bößem hertzen, sondern nur auß meinung, daß alßdan würde die surhagen güter 1810 Die Veräußerung der Ländereien von dem 1702 hingerichteten Johann Caspar Saurhagen sind in einem Kaufbrief vom 01.08. desselben Jahres dokumentiert. In diesem heißt es: In p[rä]sentia Everd wulff und friederichen Tehlen et Gerhard koch kauffe ludolph wigerdes von oistrup vor seinen schwiegersohn Jost bernd langen zum Meerhoffe des hingerichteten Johan Caspar saurhagen vier morgen landes hinten auffer kortike beym immenbusche beneben herman nacher Meerhoff hin, und dißeits nacher hörning fürstenberg hin caspar koch, auff dreeß schöler schießendt vor 27 Rhtlr. Hirvon ist 1 Rthlr. vor gänge und kauffbrieff und weinkauff einbehalten. Item vor Hr. Pastor 2 Rthlr.; der roggen auff den 4 morgen hatt m[eister] Everd wulff und henrich gosen ohne besichtigung und aestimations kosten auff gekaufft[,] vor 12 Rthlr. und heur. LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. 98 r . 438 12 Die historische Fabrikation überkommen durch solches bedrawen. 1811 Offenbar wollte Albert Sanders Interessenten von dem Kauf abschrecken und so den Familienbesitz sichern. 12.4 Zusammenfassung Das Deutungskonzept des Labeling Approach verdeutlicht eindrucksvoll die komplementären und aufeinander einwirkenden Kräfte, die dem Hexengerücht erst seine dynamische und autokatalytische Sprengkraft gaben: Auf der ersten Ebene treten die informellen und formellen „Agenten“ als wesentliche Katalysatoren im interaktionistischen Wechselspiel und Aufschaukelungsprozess des Hexen-Machens in Erscheinung. Ihre „sozialen Reaktionen“ auf vermeintlich abweichendes Verhalten beeinflussten und sensibilisierten die Wahrnehmung von Nonkonformität erheblich und schufen damit erst einen Nährboden für misstrauisches Belauern. 1812 Dieser Befund fußt freilich auf den „Schultern eines anderen Zwerges“ und stellt damit ein altbekanntes Resultat vorheriger Forschungsleistungen zum Hexenphänomen dar. Der Labeling Approach eröffnet jedoch eine weitere Perspektive, die die Frage nach den treibenden Kräften im Hexenprozess von einer mikrostrukturellen personellen Ebene auf eine makrostrukturelle Stufe erhebt. Mit Hilfe dieses soziologischen Ansatzes konnte herauskristallisiert werden, dass die soziale „Genese“ der Hexe nicht nur eine Frage nach den (Schuld-)Anteilen der Obrigkeit, der Kirche und gar des „ gemeinen Mannes“ ist. Die „Erzeugung“ des vermeintlich „Anderen“, hier die perhorreszierte Hexe, ist quasi gesellschaftsimmanent. 1813 Ihre radikale „Andersartigkeit“ repräsentierte das diametrale Gegenstück zum „Eigenen“ und diente daher u. a. der Vergewisserung des eigenen Selbst und des eigenen sozio-kulturellen Zusammenhangs. 1814 Kurz: Die binärkodierte Struktur von Gesellschaftsnormen beinhaltet bereits die Definition von Abweichung und den Umgang mit ihr. Die Stufenleiter sozialer Deklassierung ist folglich systeminhärent und dient im weitesten Sinne dazu, die bestehende Gesellschaftsordnung zu bekräftigen und zu stabilisieren. Dieses Schlüsselverständnis der frühneuzeitlichen Kultur ist m. E. ein wichtiger Erkenntnisschritt, um das Hexenphänomen tiefendimensional zu erfassen. Auf Basis dieses Interpretationszugangs wird die Frage aufgeworfenen, ob nicht das überwölbende Dach der Hexenverfolgungen tatsächlich die Funktion einer kommunalen sozialen Kontrolle und herrschaftlichen Sozialdisziplinierung erfüllte, um deviantes Verhalten ex negativo einzudämmen. Welche Form der Kontrollagenten - die soziale oder institutionelle - nun die höhere Wertposition bei der Verteilung von Labels hatte und welche persönlichen Motive das entscheidende Movens für Stigmatisierungen bildeten, ist in diesem Zusammenhang 1811 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 120 v . 1812 Walz: Magische Kommunikation, S. 307. 1813 Vgl. Göttmann: Räuber, S. 80. 1814 Gareis, Iris: Art. „Alterität“, in: Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, url: http: / / dx. doi.org/ 10.1163/ 2352-0248_edn_a0118000 (Zugriff am 23. 03. 2017). 12.4 Zusammenfassung 439 nicht von tragendem Belang. Angesichts des theoretischen Kerngerüsts des Labeling Approach und der fundamentalen Ergebnisse der Hexenforschung ist auch eine präzise Beantwortung dieser Fragen nicht wünschenswert. Eher als das Untersuchen der persönlichen oder formellen Motive der jeweiligen „Agenten“ ist hier die Erkenntnis ihrer Funktion im Zuschreibungsprozess von tragender Bedeutung: Während die informelle Ebene sozusagen die entsprechende Weichenstellung für die Initiierung eines Hexenprozesses bildete, war es die formelle Stufe mitsamt ihrer rechtlichen Durchschlagskraft, die die soziale Konstruktion des Hexenverbrechens erst zu einer sozialen Tatsache werden ließ. 1815 Übereinstimmend mit dem Erklärungsmodell der „Magischen Kommunikation“ konnten auch für diesen Untersuchungsrahmen mittels Lemerts soziologischem Stufenmodel der primären und sekundären Devianz der selbstreferentielle Charakter und die besondere Eigendynamik von Hexengerüchten bestätigt und noch feiner ausdifferenziert werden. Die zeitgenössische Wahrnehmung der Deüffelskinder durch ihre unmittelbare Umgebung war wesentlich von dem Kernelement des lokalen Hexenglaubens, dem Vererbungsaspekt, geprägt und begründete damit die latente Funktion des Hexereiverdachts, der in Zeiten von Krisensituationen aktualisiert werden konnte. Diejenigen Verhaltensweisen, die objektiv betrachtet, in keinem Zusammenhang mit dem eigentlichen Vorwurf standen, wurden im Licht der primären Devianz gewertet und als Bestätigung des Anfangsverdachts gesehen. Mit anderen Worten: Qua Geburt waren die Deüffelskinder bereits potenziell der Gefahr von Stigmatisierungen und damit einhergehend von Kriminalisierungen ausgesetzt. Selbst „kleinere“ Verhaltensanomalien, die sich auf der Ebene des Unscheinbaren oder der Sozial-Moral und nicht auf der Stufe der „harten“ Normbrüche abspielten, konnten als Indiz für das Hexenlaster dienen und gaben dem Hexengerücht neue Nahrung. Die Einschränkung konformer Verhaltensmöglichkeiten war nicht nur die Folge, sondern verlieh dem interaktionistischen „Aufschaukelungsprozess“ zusätzlich seinen besonderen Zündstoff. Mittels dieser Interpretationsfolie kann das scheinbare Paradoxon der erfolgreichen Attribution von Devianz bei offensichtlicher Konformität plausibel erklärt werden. Ist mit diesem Erklärungsmodell aufgezeigt worden, warum in Fürstenberg ein familienspezifischer Hexereiverdacht vorherrschte, kann es hingegen nicht ausreichend die personenspezifischen Verfolgungen begründen. Diese Feststellung leitete über in das Forschungsdesiderat der zeitgenössischen Differenzierungslogik von Hexereiverdächtigungen, die der Etikettierungsansatz mit dem jeweiligen Rollenkontext der berüchtigten Personen sinnvoll zu deuten versucht. Der Sozialstatus der Deüffelskinder, ihr Landbesitz, ihre politische sowie kommunale Position und ihr ausgedehntes Verwandtschaftsnetzwerk mit anderen „Hexensippen“ (Outgroup) trugen mit Sicherheit dazu bei, dass die Kerngesellschaft eine kalkulierte „Stigmatisierungsökonomie“ betrieb. 1816 1815 Vgl. hierzu Lipp: Stigma und Charisma, S. 62 f. 1816 In seinem Werk Witches and Witch-Hunts: A Global History bezeichnet Behringer die Hexen als „internal outsiders“. Behringer: Witches and Witch-Hunts, S. 144. 440 12 Die historische Fabrikation Ein gewisser zweckorientierter rationaler Pragmatismus relativierte die idealiter geforderte Perhorreszenz der berüchtigten Personen. Nicht zu vergessen sind auch die zivilrechtlichen Barrieren, die das Gericht hinsichtlich unbegründeter Diffamierungsversuche bzw. Verleumdungen setzte: Um nicht selbst deviant und damit straffällig in Erscheinung zu treten, musste der Angeklagte seine Vorwürfe auf unbezweifelbare Tatsachen aufbauen. Waren die Anschuldigungen unberechtigt, griff der Gerichtsapparat sanktionierend ein. 1817 Allein diese lokalen Resultate geben den Impuls, die Idee kritisch zu überdenken, dass mit einer gewissen Hemmungslosigkeit alles behauptet werden konnte, weil das Hexenverbrechen sich dem Blick der „normalen“, christlichen Personen entzog. 1818 Wann allerdings einer Person das Label „Hexe/ r“ vergeben und erfolgreich durchgesetzt wurde, schien abhängig von dem Charakter bzw. (Folge-)Verhalten der stigmatisierten Person zu sein. Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass der Charakterfrage auch im lokalen Hexenglauben eine tragende Bedeutung zukam. 1819 Mit anderen Worten: Das Hexenverbrechen musste vor dem Deutungshintergrund der Zeitgenossen der beschuldigten Person zuzutrauen gewesen sein. Entsprechende Bestätigungen lieferten dabei den Anklägern offenkundige Verhaltensweisen der Deüffelskinder, die symptomatisch für die Hexen waren. Es herrschte folglich die allgemeine Vorstellung, dass eine Hexe trotz ihres Versuches sich zu tarnen, als solche anhand „stichhaltiger“ Indizien entlarvt werden konnte: Verdächtige Worte, mangelnde Empathie bei Unglücksfällen, Fluchtversuche vor der Justiz und eine Körpersprache, die als Eingeständnis gewertet werden konnten. Als das ultimative Charakteristikum der Hexe galt ihre stete Kontaktsuche zu anderen Gleichgesinnten. Dieser Vorwurf war allen verfolgten Personen gemeinsam und galt als höchster Ausdruck ihres anomalen Charakters. Diese Feststellung führte direkt in das Gewässer der „sozialen Reaktionen“. Die Deüffelskinder waren einer Vielzahl von formellen sowie informellen Stigmatisierungen und Marginalisierungen ausgesetzt, die zwar terminologisch strikt voneinander trennbar sind, in der Praxis allerdings eher eine Mischung darstellen. 1820 Quellenkritisch muss angemerkt werden, dass ein linear und kumulativ verlaufender Etikettierungsprozess nicht für bestimmte Personen, sondern lediglich pauschal nachgezeichnet werden konnte. Dennoch geben diese Einzelaussagen einen vertiefenden Einblick über die Dimensionen der dörflichen Etikettierungsvorgänge, denen das „Hexenkollektiv“ ausgesetzt sein konnte. Ein weiteres, der desolaten Quellenlage geschuldetes Problem war die Beantwortung der Frage nach den unterschiedlichen Abstufungen und diversen Wirkungsformen der angewandten Schuldsignaturen, die zwar den Zeitgenossen bekannt waren, sich jedoch im Aktenmaterial nicht schriftlich niederschlagen. 1817 Siehe hierzu das Kapitel 8.4.2. 1818 Schwerhoff: Böse Hexen, S. 202. 1819 Vgl. hierzu das Kapitel 10.1.2.1. 1820 Vgl. Schwerhoff: Crimen, S. 14. 12.4 Zusammenfassung 441 Trotz dieser methodischen Hindernisse verdeutlicht die Überblicksdarstellung diverser Etikettierungsvorgänge eindrucksvoll die Reichweite sozialer und rechtlicher Schuldsignaturen, denen die „Hexenbrut“ temporär oder nachhaltig ausgesetzt war. Viele von den Labels fanden speziell nur bei ihnen Anwendung und stellen ein Unikum im gesamten Untersuchungsmaterial dar. Erwähnt seien nur die Vermeidung freundschaftlicher Beziehungen zu ihnen oder der Ausschluss vom frühneuzeitlichen Totenkult. Die informellen wie formellen Stigmatisierungen illustrieren den schmalen Grat zwischen sozialer Akzeptanz und völliger Exklusion. Die „sozialen Reaktionen“ erwecken den Eindruck, dass die Deüffelskinder lediglich in der Gemeinde toleriert worden sind und in Fürstenberg ein latentes Verfolgungsklima herrschte, das bei vermeintlichen Bestätigungen an die Oberfläche trat und neue Nahrung erhielt. Diese These führt geradewegs zum letzten Bauelement des Etikettierungsansatzes - die so genannte „Selffulfilling Prophecy“. Im Zentrum der Untersuchung steht die hypothetische und äußerst simple Frage, ob und wenn ja, inwieweit die Schuldsignaturen das zuvor attribuierte Devianzverhalten manifestierten und stabilisierten, sodass der Berüchtigte sich der ihm zugewiesenen Rolle annahm. 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ Trotz seiner offensichtlichen Plausibilität erweist sich die praktische Anwendung des theoretischen Gedankengangs der „Selffulfilling Prophecy“ auf das Hexenphänomen als schwierig. Die Verwertungsgrenzen in Hinblick auf Gerichtsakten scheinen insbesondere bei der (Teil-)Rekonstruktion des hier verwendeten Schlüsselaspekts „Identität“ evident: Der Mangel an Ego-Dokumenten lässt es an Einblicken in innere „Seelenzustände“ aus erster Hand fehlen, womit in diesem Untersuchungszusammenhang die Verwendung des Begriffs „Identität“ inadäquat und das Konzept einer durch Fremdeinwirkung verursachten Verhaltens- und Identitätsveränderung vermeintlich unbrauchbar erscheint. Zudem liegt den Verhörprotokollen das Inquisitionsverfahren zugrunde, d. h., die Angeklagten waren einem psychischen und physischen Druck ausgesetzt, sodass der Historiker sich zusätzlich mit der bekannten Methodenproblematik „konkurrierender Wahrheiten“ auseinandersetzen muss. Auf Basis dieser erheblichen Einwände wies die Hexenforschung zu Recht bisher sozialpsychologische Erklärungszugänge zu den europäischen Hexenverfolgungen weitestgehend zurück. 1821 Und dennoch: Trotz aller quellenkritischen und methodischen Einwände scheint der Interpretationsansatz der „Selffulfilling Prophecy“ als ein weiterer fruchtbarer Zugang zu den fürstenbergischen Hexenverfolgungen nicht gänzlich unbrauchbar. Folgende empirische Argumente geben hierbei meiner These Raum: An erster Stelle sind die hier skizzierten biografischen Hintergründe der Deüffelskinder zu nennen: angefangen von dem dauerhaft entehrenden Makel, ein Hexenkind zu sein, bis hin zu den sozialen sowie rechtlichen Stigmatisierungen und Marginalisierungen, die eine Einengung der konformen Handlungsmöglichkeiten zur Folge haben konnten. Zudem sollte nicht die „highly traumatic“ 1822 Wirkmacht von Labels unterschätzt werden - insbesondere wenn der sozial-psychologische Befund berücksichtigt wird, dass das Handeln, Denken und Fühlen eines jeden Menschen zumindest partiell von einem grundlegenden Akzeptanz- und Anerkennungsbedürfnis durch Dritte gesteuert 1821 „So oder so ist bei jedem Versuch, die Äußerungen der Inquisiten als Ausdruck subjektiven Sinns oder subjektiver Befindlichkeiten zu lesen, Vorsicht geboten. Dies nicht, weil sie keine Psyche gehabt hätten, sondern weil sie mit ihren Äußerungen nicht zwingend beabsichtigt haben müssen, Richtern (oder Historikern) einen unverstellten Einblick in ihr Innenleben zu gewähren.“ Beck: Der Teufel im Verhörlokal, S. 380. 1822 Lemert: Pathology, S. 76. 444 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ wird. 1823 Jüngere psychologische Untersuchungen weisen zudem explizit auf die emotionalen und psychischen Folgen von sozialen Ausgrenzungen und Isolationen für die gelabelten Individuen hin. Denn einerseits können gesellschaftliche Exklusionsmechanismen das „neuronale Alarmsystem“ im Gehirn 1824 einer sozial zurückgewiesenen Person aktivieren, d. h. der emotionale Schmerz ist gleichzusetzen mit einem real empfundenen körperlichen Schmerz. 1825 Andererseits werden in der Psychologie neuerdings die epigenetischen Auswirkungen einer innerfamiliären Traumatavererbung erforscht und diskutiert. 1826 Folglich ist nicht auszuschließen, dass die generationsübergreifenden Verfolgungserfahrungen innerhalb einzelner Hexenfamilien die Selbstwahrnehmung der Betroffenen erheblich beeinflusst und geprägt haben. Zumindest lässt sich aus den protokollierten Handlungen und überlieferten Äußerungen einiger Deüffelskinder erschließen, dass sie sich ihres Hexenrufes durchaus bewusst waren: Erinnert sei an Albert Sanders, der sein Hexenimage instrumentalisierte, um die konfiszierten Familiengüter wiederzuerlangen, Trina Kesperbaum, die ihre Gegner mit Flüchen einschüchterte, oder Meineke Brielohn, der mehrfach „Reißaus“ nahm, als er glaubte, wegen seines Hexengerüchts strafrechtlich belangt zu werden. Aber auch vereinzelte Verhaltensweisen der Hexennachfahren verdeutlichen ein vorhandenes Ichbewusstsein über die eigene soziale Position innerhalb der fürstenbergischen Dorfgemeinde. Einen tieferen Einblick liefert wiederum der Fall Meineke Brielohn. Als er erfuhr, dass das Hexengerücht über ihn im Dorf rapide zunahm, verkündete er, er wolle sich im Schafstall, dem offiziellen Torturplatz, einen Ölberg errichten und dort wie der Christus zum kreutz kriechen 1827 . Wohl in der Absicht, sich öffentlich als Opfer unberechtigter Anschuldigungen zu inszenieren, verglich sich Meineke mit Jesus Christus, der im Garten Gethsemane am Ölberg seine letzten freien Stunden vor seiner Gefangennahme verbrachte. Ein eindrückliches Beispiel für die außenstehende Fremddeutung eines Schuldbewusstseins berüchtigter Personen liefert die Aussage der Dorfschweinischen gegenüber Jobst Wegeners Frau, deren Familie seit 1631 mit dem Hexengerücht belastet war. 1828 Die Dorfschweinische warf ihr vor, daß verdechtig wer vnd die leuthe nicht recht ansehen thäte 1829 . Auch 1823 Siehe hierzu das in der Sozialpsychologie breit rezipierte, aber nicht unkritisch übernommene Modell der „Bedürfnispyramide“ nach Abraham Harold Maslow. 1824 Es handelt sich dabei um den vorderen cingulären Cortex im Gehirnbereich, abgekürzt auch „ACC“ genannt. 1825 Siehe hierzu die Arbeit von Eisenberger, Naomi I./ Lieberman, Matthew D./ Williams, Kipling D.: Does Rejection Hurt? An fMRI Study of Social Exclusion, in: Science 302.5643 (2003), S. 290-292. 1826 Vgl. Gapp, Katharina/ Jawaid, Ali/ Sarkies, Peter/ Bohacek, Johannes/ Pelczar, Pawel/ Prados, Julien/ Farinelli, Laurent/ Miska, Eric/ Mansuy, Isabelle M.: Implication of sperm RNAs in transgenerational inheritance of the effects of early trauma in mice, in: Nature Neuroscience 17 (2014), S. 667-669. 1827 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 17.06.1659. 1828 Über die Familie Wegener ist keine einzige Gerichtsakte erhalten geblieben. Es ist lediglich bekannt, dass die Wegeners nachweislich bis 1701 für verdächtig gehalten wurden. 1829 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 128 v . 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ 445 die 1658 hingerichtete Engel Hinte war sich ihres Familienrufes bewusst: Nachdem das Gerichtspersonal sie mit ihrer „infizierten“ Abstammung konfrontierte, gab sie unverhohlen an, sey hinder Ihr her geredt 1830 worden. Und auch der Fall der Angela Vahlen gewährt einen kurzen Einblick in ihre Selbstwahrnehmung: Mit scheinbarer Selbstverständlichkeit antwortete sie am 19. August 1702 dem Richter, dass sie sehr wohl wisse, daß ihre verwandtschafft bösen nahmens sei. 1831 Diese Anhaltspunkte rechtfertigen m. E. eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Frage nach der sozialpsychologischen Wirkmächtigkeit zugeschriebener „Hexenrollen“. Die Sprechakte werden dabei nicht isoliert betrachtet, sondern als Teil eines kommunikativen, aber vor allem vor dem Hintergrund eines sozialen Geschehens analysiert. 1832 Ein derartiger Zugriff knüpft an das bereits zum Teil behandelte Verhältnis zwischen Alterität und Identität an, das sich „über Selbst- und Fremdbilder und die damit korrespondierenden Muster der Wahrnehmung und der Deutung von Wirklichkeit“ erschließt. 1833 . Während im III. und IV. Teil dieser Studie nach dem Bild gefragt wurde, welches sich die Obrigkeit und Gemeinde von den Deüffelskindern machten oder welche Verhaltensweisen sie ihnen attribuierten, soll in diesem Abschnitt nach dem komplementären Gegenstück gefragt werden: dem Eigenbild und Selbstverständnis der als Hexen verschrienen Personen. Wie Frank Göttmann für die Erforschung des Selbstbildes von Räuberbanden kritisch einräumt, soll auch in dieser Arbeit der nicht unproblematische Begriff „Identität“ lediglich als heuristisches Instrument dienen. 1834 Mit der Verwendung des Terminus nimmt die Verfasserin keinesfalls für sich in Anspruch, das Innenleben der Angeklagten vollständig und erhaben über jeden Zweifel erfassen zu können - zu sehr verschwimmen die Linien von Selbstinszenierung, Instrumentalisierung, Außenwahrnehmung, das Bedürfnis, Erwartungshaltungen zu befriedigen etc. Die Frage soll daher auch nicht lauten, wer die Deüffelskinder in ihrem tiefsten Identitätskern tatsächlich waren - ein solches Unterfangen wäre auch schlicht unmöglich -, sondern wie sie sich nach außen hin, also für die breite Öffentlichkeit, ab einem gewissen Zeitpunkt darstellten. Die Wahl dieser Interpretationsmöglichkeit eröffnet m. E. einen neuen, dynamischen und bilateralen Teilaspekt der autopoietischen Struktur des Hexengerüchts und lenkt den traditionellen Blick von den Anklägern auf die Opfer: Er verweist auf die Kehrseite der Medaille, indem die Frage eröffnet wird, inwieweit soziale und rechtliche Stigmatisierungen referenziell auf den Beschuldigten einwirkten. 1835 Mit 1830 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Responsiones am 17.06.1658. 1831 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 124 r . 1832 Auf diese Weise können zumindest ansatzweise die Kritikpunkte, die mit jeder sozialpsychologischen Analyse der Hexenprotokolle einhergehen, relativiert werden. 1833 Inspirierend für den skizzierten Zugriff war der Aufsatz von Göttmann: Räuber, S. 64. 1834 Vgl. ebd., S. 80. 1835 Walz greift insofern diesen Gedankengang auf, indem er schreibt: „Die Interaktionsrituale wurden stark von reflexiven Erwartungszusammenhängen getragen: Die Berüchtigte erwartete die Erwartung anderer, z. B. daß diese nach einer Drohung ein Unglück erwarteten, und suchte sie zu widerlegen.“ Walz: Magische Kommunikation, S. 347. 446 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ dieser Fragestellung wird ein weiterer Zugang zu den europäischen Hexenverfolgungen geboten. Untersuchungsgegenstand sind im Folgenden Berichte von oder über die Hexenkinder, in denen sie sich selbst thematisierten oder thematisiert wurden. Selbstverständlich finden nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch diejenigen Handlungen Berücksichtigung, die die Subjektinhalte ihres Handlungsträgers manifestierten. 1836 Die in Foltersituationen aufgezeichneten Aussagen der Delinquenten werden aufgrund der erwähnten Methodenproblematik selbstverständlich als solche gekennzeichnet, um den Leser auf die erhöhte Gefahr der Verzerrung aufmerksam zu machen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen zwei konkrete Fragestellungen: 1. Inwieweit organisierten die Deüffelskinder ihr Leben um die ihnen zugewiesene Rolle? Entwickelten sie erfolgreiche Abwehrstrategien, um der handlungseinschränkenden Wirkmächtigkeit sozialer Stigmata entgegenzuwirken? 2. Gibt das untersuchte Archivmaterial Beispiele preis, die nicht nur Rückschlüsse auf ein mögliches Ichbewusstsein hinsichtlich der eigenen Sozialstellung im Dorf zulassen, sondern auch Einblicke in eine eventuell vorliegende Akzeptanz des Hexenimages gewähren? Sicherlich ist kritisch einzuwenden, dass eine Zuschreibung vonseiten Dritter nicht zwangsläufig ihre Akzeptanz bzw. Internalisierung vonseiten der Hexe auslöste. Insbesondere weil nicht abzuschätzen ist, inwieweit die Stigmatisierungsvorgänge auf sozialer Ebene linear, in einem kumulativen Verdichtungsprozess verliefen oder stockend mit zeitweise langfristigen Pausen. 13.1 „Hexenkarrieren“(? ) 13.1.1 Abwehrstrategien Die soziale Deklassierung, die mit dem nachhaltig wirkenden Stigma Deüffelskind zwangsläufig einherging, verurteilte die Nachfahren zumindest in sozio-kultureller Hinsicht dazu, auf einem schmalen Grat zwischen tolerierter Inklusion und nachhaltiger Exklusion zu wandern. Insbesondere auf dem Gebiet der Ehepraktiken waren sie an den sozialen Rand gedrängt worden, womit eine symbolische Grenze zwischen Ingroup und Outgroup konstruiert worden war. Diese soziale Schnittstelle erwies sich allerdings nicht als statisch: Dank ihrer wirtschaftlichen und politischen Position im Dorf konnte die „Hexenbrut“ zumindest teilweise die symbolische Trennlinie aufheben; diese konnte auch durch einen zweckrationalen Pragmatismus vonseiten der unberüchtigten Gemeindemitglieder aufgelockert werden. Dennoch muss die Gefahr eines abrupten und völligen sozialen Ausschlusses allgegenwärtig gewesen sein: Erinnert sei nur an die Aussage des Chronisten, dass sich weit bis in das 18. Jahrhundert hinein noch einige Familien weigerten, in die berüchtigten Hexenfamilien einzuheiraten. 1836 „Pointiert gesprochen, macht alles Handeln mit den Inhalten, die es verfolgt, verdeckt oder offen sich selbst zum Thema; es bringt implizit die Identität des Trägers, des Handlungssubjekts, zum Ausdruck [...].“ Lipp: Stigma und Charisma, S. 20. 13.1 „Hexenkarrieren“(? ) 447 Lediglich vor dem Deutungshintergrund eingeschränkter Heiratsmöglichkeiten lässt sich hinreichend erläutern, warum die berüchtigten Familien weiterhin untereinander ein intensives Gemeinschafts- und Heiratsnetzwerk pflegten, obwohl ja gerade jenes Verhalten und Handeln gesellschaftlich verpönt und durch die Obrigkeit kriminalisiert worden war. Ihr sozialer Zusammenschluss beinhaltete das virulente Risiko, ihren sozialen Makel gesellschaftlich zu zementieren. Zwar konnten sie in diesem Punkt auf der einen Seite immerhin einer sozialen Ausgrenzung weitestgehend entgegenwirken, sodass man zugespitzt von einer „taktischen“ Lösungsstrategie sprechen könnte, sich dem mehrheitsgesellschaftlichen Druck zu widersetzen; jedoch verstärkten sie auf der anderen Seite damit zugleich ihre deviante Position im Dorf. Dass ihr personeller Zusammenschluss keineswegs eine Verlegenheitslösung darstellte, die auf einem durch die Kriegsjahre bewirkten Bevölkerungsrückgang basierte, wird anhand des Datenmaterials aus den Katastern manifest: Laut den zeitgenössischen Registern lebten in dem Zeitraum von 1672 bis 1684 zwischen 92 und 113 1837 Familien in Fürstenberg, von denen der Großteil zur sozialen Mittelschicht (44 % bis 62 %) gehörte und ein geringerer Prozentsatz zur Oberschicht (13 % bis 17 %). In Anbetracht dieser Zahlengröße und -verhältnisse wäre eine „Neuorientierung“ auf andere, unberüchtigte heiratsfähige Personen potenziell möglich gewesen. Auf Grundlage dieser quantitativen Auswertung kann die These 1838 formuliert werden, dass die „Hexensippen“ vor dem Hintergrund eingeschränkter Heiratsmöglichkeiten eine bewusst gesteuerte Heiratspolitik betrieben. Setzt man hypothetisch die Richtigkeit dieser Deutung voraus, eröffnet sich der Forschung ein Perspektivwechsel, der die Kehrseite des interaktionistischen Wechselspiels des Hexenmachens anschneidet und die weitverbreitete Meinung von einer passiven, ja sogar ohnmächtigen Opfergruppe gelabelter Hexenkinder widerlegt. Vielmehr zeichnet sich das Bild einer aktiven und vor allem sich wehrenden „Hexensippe“ ab. Ob nun bewusst oder unbewusst - die ausschlaggebenden Handlungsmotive lassen sich schwerlich eruieren - evozierten die berüchtigten Personen gerade mit jenem Verhalten die Hexenverfolgungen. Diese Gedankengänge laden zu einer näheren experimentell ausgerichteten Auseinandersetzung ein, die mit dem Phänomen einer „kollektiven Hexensippe“ einhergeht. Kollektive Zusammenschlüsse, ungeachtet auf welchem gemeinsamen Movens sie basieren, konstituieren zwangsläufig eine kollektive Identität, indem gerade eben die einvernehmlichen Merkmale, Handlungsmotive und -ziele zum Antrieb des sozialen Zusammenschlusses erhoben werden. 1839 Unübersehbar einte die „Hexensippen“ ihr gemeinsamer Abstammungsmakel und die damit verbundenen rechtlichen wie sozialen Etikettierungs- und Marginalisierungsvorgänge. Übereinstimmende Erinnerungs- und Erfahrungsräume, wie der Verlust eines als Hexe hingerichteten Familienmitglieds sowie der Ausschluss aus gemeinschaftsstiftenden Praktiken in der Gemeinde, 1837 LA NRW Abt. Westf., Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514. 1838 Letzte Zweifel können nicht ausgeräumt werden, da es an einem Heiratsregister für den hier behandelten Untersuchungszeitraum fehlt. 1839 Vgl. Landwehr/ Stockhorst: Europäische Kulturgeschichte, S. 198 ff. 448 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ schufen vermutlich ein eigenes Gemeinschaftsgefühl. Gleichzeitig bot die personelle Vereinigung einen gewissen Schutz vor impulsiven Übergriffen, z. B. vor verbalen Attacken oder vorschnellen Attributionen: Die „Ettikettierer“ hatten schlichtweg zu befürchten, nicht nur der beschuldigten Einzelperson, sondern einer ganzen Gruppe gegenüberzustehen. Dieser solidarische Zusammenschluss in Streitsituationen stellte auch für die „normalen“ Dorfbewohner ein probates Mittel dar, um die Kontrahenten in fehdeartigen „Kämpfen“ zum Schweigen zu bringen, wie ein tiefer gehender Blick in die Akten der Niedergerichtsbarkeit belegte. 1840 Mit dieser Interpretation wäre zumindest eine weitere plausible Erklärung geliefert, warum die „Hexensippen“ auf dem Deliktfeld der Verbalinjurie kaum vertreten waren. Erste Hinweise für eine sich de facto formierende Peergroup aus Deüffelskindern, die mit einer gruppenspezifischen Sozialisation sowie einem solidarischen Verhaltenscode auffiel, liefern folgende Quellenbeispiele. Erwähnt sei zunächst die zeitgenössische Vorstellung, dass die Weitergabe des geheimen Hexenwissens an die Nachkömmlinge in erster Linie durch deren Eltern, Paten oder gar Spielgefährten tradiert würde. Diesen Glauben bestätigten ja gerade die Delinquenten, indem sie ihre engsten Verwandten als Lehrmeister angaben. 1841 Der Zusammenhalt der Hexenfamilien wird insbesondere in persönlichen Krisensituationen deutlich: Erinnert sei nur an Henrich Vahlen und Zacharias Schlunß, die vor Gericht klagten, um einen drohenden Hexenprozess gegen Clara Schlunß abzuwenden. 1842 Elsche Budden und Meineke Brielohns Witwe konsultierten gemeinsam vor Verfahrensbeginn einen Anwalt, um die vom Fiskal erhobenen Beschuldigungen zu entkräften. 1843 Der Mann von Engel Hinte, Meineke Böddeker, wollte seiner Frau helfen, als er vernommen hatte, dass die Herren wollen anstasten Laßen. So habe er zu ihr gesagt: Wan du die kunst kanst, so gehe hinweg, darauff sie geandtwortedt, so hastu allezeit bey mier gethaen vndt mich so geringe gehalten 1844 . Ebenso verhalf Henrich Vahlen seiner Frau Anna Grothen nach der Verbannung wieder in den Gerichtsbezirk eintreten zu dürfen. 1845 Es war auch diese Anna, die zusammen mit Trina Kesperbaum beschloss, den Gerichtsbann zu missachten und unerlaubterweise, Ohne von hiesigen Gerichtsherren Westphalen Erhalteneß geleide 1846 in das Dorf zurückzukehren, um bei ihrem Mann zu leben. Weitere Fälle von Solidarität liefern die Hexenprozessakten von 1658/ 59. So überreichte Margaretha Brielohn der wieder auf freien Fuß gesetzten Liese Böddeker Kalbsfleisch, damit sie sich nach dem Gefängnisaufenthalt körperlich stärken konnte. Gleichzeitig ermahnte Margaretha ihre Freundin Liese mit den Worten, sie müßte 1840 Siehe hierzu Kapitel 8.4.1. 1841 Vgl. hierzu Kapitel 10.1.2.1. 1842 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Injurienprozess, ca. April 1660. 1843 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Brief des Defensors an den Richter Henrich Neukirch. 1844 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 15.07.1658. 1845 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., beispielhaft die Supplik vom 30.07.1662. 1846 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Akteineintrag vom 08.04.1660. 13.1 „Hexenkarrieren“(? ) 449 daß gedültich Leiden[,] solte stillschweigen [...] 1847 . Als Liese das zweite Mal wegen des Verdachts der Hexerei gerichtlich belangt wurde, weigerte sie sich, ihre Patin Anna (Enneke] Grothen zu denunzieren. Nach angewandter Tortur bezichtigte Liese sie schließlich doch. Bei der Gegenüberstellung räumte sie gegenüber ihrer Gevatterin ein: [...] hette sich Ihrendthalben hardt streichen laßen, daß sie sie wegen der vielen gutthaten vndt Gevatterschaft nicht außagen wollen [...]. 1848 Johann Hinte beharrte darauf, den Namen seines Vaters aus der Denunziationsliste streichen zu lassen und besagte hingegen seine Tante. 1849 Ebenso im Licht der Solidarität und des Bemühens, ihre Verwandte vor einem potenziellen Hexenprozess zu bewahren, kann auch das Verhalten der Margaretha Stroeth, Enkelin der Elsche Budden, gewertet werden. Sie beharrte auf ihrer Aussage, allein der Teufel habe sie das Hexenlaster gelehrt, obwohl gemeinhin bekannt war, dass ihre Familie seit fünf Generationen als „Hexensippe“ verschrien war. Sie räumte ein, zwar zum Teufelstanzplatz zu fliegen, könne aber den orth vnd complices nicht nahmhafft machen, sondern es lieffe alles durcheinander wie der staub in der sonne[; ] es gienge alda so verwirret ab[,] daß sie es nicht könte begreiffen [...] 1850 . Unbedingter Zusammenhalt schien das oberste Gebot der zusammengeschlossenen „Hexensippen“ zu sein, die sich auch nicht davor scheuten, diesen unter Hinzunahme von Drohungen durchzusetzen. So habe Margaretha Brielohn zusammen mit Gretha Mentzen bei einer Zusammenkunft in ihrem Haus der eben eingetroffenen Lisa Böddeker gedroht, wenn sie etwas über ihre „wahre“ Identität der Obrigkeit verraten sollte, würden sie Ihr eine dörnere wippe durch den hindern Oder arß ziehen 1851 . Und Meineke Brielohn weigerte sich im Verhörlokal zunächst irgendetwas über die Hexensekte preiszugeben, weil er befürchtete, dass ihn die Hexen schlagen würden. 1852 Neben diesen indirekten Hinweisen liefert das Quellenmaterial zusätzlich auch direkte Indizien für einen geheimen Verhaltenskodex, der nur für die Ohren eingeweihter Mitglieder bestimmt war. Wiederholt tauchen in den Hexenprozessakten die Selbstbekenntnisse der Delinquenten auf, sie hätten untereinander einen Pakt geschlossen, sich nicht gegenseitig zu beklaffen. So gewährte der geständige Zenzing Buschmann, Freund des Meineke Brielohn und Peter Nottebaum, dem Gericht einen Einblick in die Welt der Deüffelskinder, wenn er sagte: [w]ie diese alhier zur Fürstenberg [...] ein pactum gemacht vndt sich zusamen verbunden[,] nicht zu bekennen[; ] [...] damit[,] weiln Ihrer so viel, die Justitz dadurch auffgehoben vndt gehemmedt werden möchte [...]. 1853 Johann Möller, Neffe der Engel Hinte, bekannte 1659 ebenfalls gegenüber dem Richter, er wolle seine Verwandten nicht verraten, weil denuncianten einen Bund 1847 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung vom 15.07.1658. 1848 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Konfrontation vom 27.07.1658. 1849 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung am 01.09.1659. 1850 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 106 r . 1851 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. Juni 1659. 1852 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Geständnis vom 10.06.1659. 1853 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Aussage vom 08.08.1659. 450 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ gemacht gehabet, daß einer dem andern nicht beklaffen sollte und wollte [...] 1854 . Desgleichen entschuldigte sich Freda Sommer, Nachbarin der Trina Kesperbaum, mit der Aussage vor Gericht, sie habe die vergangen[en] [Personen, S. M.] nicht besagt vndt verschwiegen, wehr die vrsach[,] daß sie Ein den andern nicht zu besagen gebeten vndt versprochen 1855 . Das Bemühen, die lokale Strafjustiz durch Nicht-Gestehen zu sabotieren, ist ebenfalls ein in den Hexenprozessakten häufig erwähntes Motiv. Neben der bereits zitierten Aussage des Zenzing Buschmann wurde auch Elsche Budden zur Last gelegt, die westphälische Jurisdiktion aushebeln zu wollen. Laut Zeugenberichten habe sie damit in der Gemeinde geprahlt, den Herren ihr Gericht matt [zu] leggen 1856 . Dreißig Jahre zuvor sollen auch Enneke Grothen und Peter Schantz ähnliche Worte geäußert haben. Beide, zur selben Zeit inhaftiert, prahlten vor ihrem Mithäftling, sie bekänten nicht, dan sie [haben] sich midt dem deuffel so starck verbunden, daß wan man Ihn[en] die bollen, Ja ein glidt Nach dem andern ablösete, würden sie doch nicht bekennen 1857 . Schließlich gelang ihnen ihr Vorhaben: Weil sie sich als halsstarrig erwiesen und kein Geständnis ablegten, mussten sie gemäß der örtlichen Verfahrenspraxis, die streng an der Carolina ausgerichtet war, wieder freigelassen werden. Neben kollektiver Abwehrstrategien entwickelten offenbar einige Familien ihre persönlichen Methoden, um der sozialen Exklusion entgegenzuwirken. Um dem Ausschluss aus dem Totenkult entgegenzusteuern, sammelte die Familie Vahlen vulgo Brielohn beispielsweise die sterblichen Überreste der als Hexe verbrannten Margaretha Vahlen auf und vergrub die Asche im Hausgarten unter dem Fenster ihres Hauses. 1858 Diese Feststellung führt direkt zur nächsten Frage, ab wann die Deüffelskinder nicht mehr ihre erprobten Abwehrstrategien anwandten, sondern durch Verhaltensanomalien zu verstehen gaben, dass sie ihren Hexenruf bewusst annahmen. 13.1.2 Selbstzuschreibungen und Autogenese In jüngster Zeit wird in der Hexenforschung das Kuriosum der Nicht-Verteidigung von Angeklagten hauptsächlich mittels der Interpretationsfolie der Paradoxen Kommunikation erklärt. Das Quellenzitat aus Walz’ Habilitationsschrift: [...] ie mehr man den dreck trette, ie weiter er flöße 1859 verdeutlicht evident die Ausweglosigkeit, die das Hexengerücht für die Verdächtigten scheinbar schuf: Zwar forderten die zeitgenössischen Juristen und/ oder Dorfbewohner idealtypisch eine offizielle/ gerichtliche Verteidigung der Beschuldigten, doch scheiterte das geforderte Verhalten häufig in der Praxis an den sozialdynamischen Prozessen innerhalb der Gesellschaft. Nicht zu 1854 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 25. 1855 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., zweite Befragung der Freda Sommer vom 28.08.1659. 1856 Z. n. Rautert: Aus authentischer Quelle, S. 25. 1857 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., freiwilliges Geständnis des Zenzing Buschmann gegenüber dem Gerichtsschreiber vom 11.08.1659. 1858 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 124 r . 1859 Z. n. Walz: Magische Kommunikation, S. 336. 13.1 „Hexenkarrieren“(? ) 451 vernachlässigen sind auch die rechtlichen Schranken oder die emotionale Disposition der Angeklagten, die eine erfolgreiche Verteidigung schier unmöglich machten: Angst, Fehleinschätzung der Kommunikationssituation (Beschimpfung oder Bezichtigung? ), mangelnder Rückhalt durch Verwandte, geringe Erfolgschancen vor Gericht, eine nicht ausreichende Beziehung zur Obrigkeit oder die trügerische Gewissheit, sich der Evidenz seines guten Rufes gewiss zu sein, sind nur einige der zahlreichen und plausiblen Gründe für die Nicht-Verteidigung, die in der Hexenforschung als Argumente vorgebracht werden. Die „Selffulfilling Prophecy“ legt allerdings noch eine weitere Deutungsvariante für das offensichtliche Fehlverhalten der Angeklagten nahe: die persönliche Akzeptanz des attribuierten Images. Diese Verhaltensinterpretation scheint m. E. aus mehreren Gründen am ehesten für die hier analysierten Fallbeispiele plausibel zu sein: Die Deüffelskinder konnten sich ja gerade wegen ihres Sozialstatus, ihrer guten Beziehungen zu der Obrigkeit, ihres erworbenen Rechtswissens, der größtenteils akkusatorisch orientierten Verfahrenspraktik bei Verbalinjurien etc. ihrer Erfolgschancen vor Gericht gewiss sein - wie auch exemplarisch erwiesen wurde. In der Tat spiegeln sich ihre erfolgreichen Abwehrstrategien in den personenspezifischen Verfolgungen wider, obwohl die gesamte Hexenfamilie unter Generalverdacht stand. Zu beachten sind auch die Verfolgungsdiskontinuitäten innerhalb einer „Hexensippe“. 1860 Besonders deutlich zeigte sich der Zusammenhalt der einzelnen Hexenfamilien vor Gericht. Zu bedenken ist ferner, dass die Hexereibeschimpfung aufgrund ihres Abstammungsmakels stets die Gefahr der Beschuldigung beinhalten konnte. Eine Unsicherheit hinsichtlich der Kommunikationsebene war aufgrund ihres Geburtsmakels ergo völlig ausgeschlossen. In Anbetracht dieser Befunde erscheint es äußerst merkwürdig, dass die Deüffelskinder nur allzu häufig dem geforderten Verhaltenskanon nicht nachkamen. Wiederholt taucht in den Hexenprozessakten der Vorwurf gegen einige vermeintliche Delinquenten auf, sie hätten sich nicht rechtmäßig verteidigt, sondern die Scheltworte vngeantworttet hingehen laßen 1861 . Dabei galt nach zeitgenössischer Ansicht der Hexereivorwurf als die ultimative Schmähung, die nicht unverteidigt verschmerttzt werden konnte. So wurde beispielsweise Grete Hinte zur Last gelegt, dass sie von vielen [Personen] gescholden [worden ist], daß alles aber mit stilschweigen verantworttet vnd bestettiget [habe][...][,] von vielen in böser bezicht gehalten[,] daß sie denen mit dieser teuffelßkunst schaden gethaen haben solte[,] Immaßen darab ein gemeiner lage vnd leumuth [geworden] ist 1862 . Desgleichen wurde Meineke Brielohn 1659 auf Johann Peters haußbören öffentlich in gegenwartt aller geladenen geste vor einen offenbaren werwolff gescholten. Im Gegensatz zu manch anderen Beschuldigten reagierte Meineke affirmativ auf die Bezichtigung: Er wollte Johann Peter sogar die Hand reichen vndt der wörther in der 1860 Vgl. Kapitel 11.1. 1861 Beispielhaft bei Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog gegen Meineke Brielohn am 01.07.1659. 1862 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 07.05.1631. 452 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ zeit ja [ge]stendig sein. 1863 Der bereits bekannte Zenzing Buschmann bekräftigte auch sein Hexengerücht, indem er sich in aller Öffentlichkeit seines Wamses entledigte, sich auf der Straße auf einen Stuhl setzte und dem Scharfrichter wiederholt zurief, er solle ihm jetzt den Kopf abhauen. 1864 Sein Kamerad Peter Schantz verteidigte auf Anraten von Meineke Brielohn ebenfalls nicht seine Ehre, weil Eben daßelbe ihm auch [geschehe] 1865 . Ebenso auffällig verhielt sich rund vierzig Jahre später Friedrich Vahlen, dem sogar angedroht wurde, existenzielle Hilfeleistungen zu verweigern, wenn er sich nicht verteidige. Geradeheraus fragte ihn sein Kamerad Jost Laufkötter, ob er sich in Anbetracht der Hexereivorwürfe denn nicht rechtfertigen wolle, die leuthe sagten[,] daß er ein wolff gewesen vnd in den Garden erdoppet worden [...]. Weil Friedrich weiterhin schwieg, rieten ihm Jost Laufkötters Frau und Mutter, er solte mit teuffels vnd hexen nicht lenger zuspahnen[,] biß sich inquisitus verthetiget 1866 . Trotz dieser Ermahnung entschied sich Friedrich Vahlen, weiterhin kein Wort über seine Ehre zu verlieren. Er scheute sich sogar davor, durch das Dorf zu gehen - vermutlich weil er sich seines Rufes bewusst war. 1867 Einen weiteren Grund zur Verwunderung geben die Selbstdenunziationen der Angeklagten, die sich immer wieder in den Hexenprozessakten finden lassen. Rainer Walz untersuchte das Phänomen auf der Ebene des Dorfes und begründete das eklatante Fehlverhalten der Berüchtigten, mit dem sie ihre festgefahrene Situation regelrecht zementierten oder gar einen Hexenprozess evozierten, mit dem reflexiven Mechanismus der „Erwartenserwartung“ 1868 . Für strafrechtliche Verhörsituationen wird in der Hexenforschung das berechtigte Argument des psychischen und physischen Leidensdrucks der Delinquenten als Erklärungsmodell herangezogen. Das Verhältnis von Angst und Erwartungsdruck ist in diesem Zusammenhang der richtungsweisende Deutungsansatz, dem Rainer Beck mit seinem Erklärungsansatz der „Paradoxen Verteidigung“ eine größere Tiefendimension verleiht. 1869 Das Autogenese-Konzept eröffnet allerdings einen weiteren hypothetischen Interpretationszugang zum Phänomen der Selbstzurechnung, die uns aus heutiger Sicht paradox erscheinen mag: der Drang der Delinquenten, sich selbst als Hexen zu erkennen zu geben. Vor dem biografischen Hintergrund der Deüffelskinder mag diese Verhaltensoption aber nicht verwundern: Jahrelange Erfahrungen mit Stigmatisierungen und Marginalisierungen mögen unwiderruflich auf ihre Identität eingewirkt und diese geprägt haben, wodurch sie schließlich ab einem gewissen Zeitpunkt selbst von ihrem Hexen-Dasein überzeugt waren. 1863 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. Anfang Juni 1659. 1864 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. Mitte/ Ende Juli 1659. 1865 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 24.07.1659. 1866 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 111 v . 1867 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 111 r . 1868 Vgl. Walz: Magische Kommunikation, S. 347. 1869 Vgl. Beck: Der Teufel im Verhörlokal. 13.1 „Hexenkarrieren“(? ) 453 Unter diesem Aspekt lässt sich plausibel erklären, warum die Angeklagten die ihnen zugebilligten Rechtsräume nicht mehr nutzten, von ihrem Schweigen im Verhörlokal nicht mehr Gebrauch machten oder darauf verzichteten, einen Defensor zu bestellen. Denn nicht zu unterschätzen ist die zeitgenössische Vorstellung von der tief greifenden Reinigungskraft des Hexenprozesses als probates Exorzismusinstrument: Der Strafprozess bot den vermeintlichen Delinquenten die Möglichkeit, sich aus den Fängen des Teufels zu befreien und als geläuterte Menschen ins ewige Reich Gottes einzutreten. Vor dieser Deutungsfolie erscheinen die freiwilligen Todeswünsche der Delinquenten nicht mehr länger irrational: Engel Hinten bat inständig das Gerichtspersonal nach ihrem Geständnis, ihr auff baldest vom leben zum toedt [zu] verhelffen, da sie nun ihre Seele zu Gott befehlen könne. 1870 Liese Bödeker drückte nach der Urteilsverkündigung herzlich die Hände der Hexenkommissare, weil sie nun auß des deuffels banden erretet vndt erlediget sei und ihr ewiges Seelenheil zuteilwerde. 1871 Und Meinike Kröger sagte dem Gericht unverhohlen, dass er etwaß sagen wollen[,] daß er des lebens abkehren; Wehre noch Gott einen thodt schuldigh [...] 1872 . In Anbetracht der Quellenzitate kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die genannten Delinquenten den Hexenprozess auch instrumentalisierten, um sich selbst zu bestrafen. Angesichts des psychologischen Mechanismus der „Verinnerlichung“ lassen sich auch freiwillige Geständnisse, d. h. Selbstbezichtigungen ohne Torturanwendung oder belastende Aussagen, sinnvoll erklären. Gölcke Schweins gestand 1631 aus sich selbsten, wie der Gerichtsschreiber vermerkte, zusammen mit Goert Nüthen das verheerende Unwetter von 1615/ 16 gezaubert zu haben. Elsche Kröger gestand noch an ihrer Hausschwelle den Bütteln, daß Stimschen Elsa ihr die leidige Zauberkunst vor langer Zeit über 30 Jahren gelert 1873 habe. Der schon oft zitierte Meineke Brielohn rannte nach seinem Gefängnisausbruch des Nachts zu seiner Frau ans Hausfenster, um ihr zu erzählen, wer zaubern könte, vndt mit diesen formalibus gesagedt, deß beckerß Magdt Cläreke schlunses Ist Ebenso so guet alß ich, die führe Ich ab vndt zu dem dantze 1874 . Besagter Meineke Brielohn war es auch, der vor Gericht angab, mit dem Teufel kommunizieren zu können. Im laufenden Verhör bemerkte der Hexenkommissar, dass Meineke sich in Ein vndt andern winkel vmgesehen[,] alß wen er da etwaß sehe, darauff Hrr. Commisarius gefragt, wie er sich so vmbgesehen, waß er sehe; Darauff er geantwortet, sey der böse feindt gewesen, der an die Nase gekloppet, sollte nicht reden; Maßen er deß zeigte 1875 . Sein Kamerad Zenzing Buschmann erzählte dem Gericht, dass der Teufel während der vollzogenen Wasserprobe auf dem Berg gestanden sei, Ihm gewincket[,] sich standhafftich zu halten 1876 . Freda Sommer berichtete über 1870 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urteilsverkündigung vom 05.07.1658. 1871 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Urteilsverkündigung vom 20.07.1658. 1872 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Protokoll vom 01.07.1631. 1873 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Indizienkatalog vom 28.06.1631. 1874 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., undatierter Indizienkatalog, ca. April 1660. 1875 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung vom 10.06.1659. 1876 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung vom 01.08.1659. 454 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ den Vater von Johann Hinten, Meineke, dass er während eines Gespräches über die inquisition zu ihr gesagt habe: daß brennen soll nuen wider angehen, wolte nicht hoffen, daß es Ihmen midt dreffen sölte, Maßen Ihm sein bule verprochen[,] [ihn] zu erhalten[; ] hetteß auch seinem Eltisten Sohn Johänneken gelehrt, welches Ihm Nuen Leidt thäte. 1877 Sein Sohn Johann Hinte entschuldigte sein anfängliches Leugnen der Anklagepunkte damit, dass er es nicht hätte tun dürfen, weil der Teufel ihm auffm kopff geseßen vndt eß nicht Leiden wollen. 1878 Zwei weitere Prozessfälle erweisen sich als besonders drastische Beispiele einer Verinnerlichung des attribuierten Hexenrufes, die hier ausführlich dargestellt werden sollen. Der erste Fall handelt von Angela Vahlen, deren Familie nun schon in fünfter Generation angeklagt worden war, eine dorfbekannte „Hexensippe“ zu sein. Da sie wusste, dass ihre Verwandtschaft einen bösen Ruf habe, aber sich nicht erinnern konnte, darmit unterbegriffen zu sein, war sie eifrig bemüht, ihrer „wahren“ Identität als Hexe auf die Spur zu kommen. Wiederholt gab sie dem Richter an, sich nicht darauf besinnen zu können, auf dem Hexensabbat gewesen zu sein. Darumb wolte [sie] Hr. Pastor [ein] tuch geben, daß selbiger das ambt der meß halte, [...] daß, wan etwas deßgleichen an ihr verborgen, von sich geben könte, thäte bitten, ein sölches effectuiren zu lassen. 1879 Nachdem ihr das Haar vom Haupt geschoren und die Tortur eingeleitet war, schrie sie wiederholt: [...] scher du lehdiger teuffel, gehe von mir [...] weit weg, wan du bey mir bist. Da Angela davon überzeugt war, dass der Teufel ihr Erinnerungsvermögen trübe, gab sie dem Gericht entschuldigend an, sie köntes noch nit wißen; sie mögte so eine persohn seyn sonsten wehr hirzu nit gelanget, [...] weich von mir du verfluchter geist [...] vnd haue ab in alle ewigkeit, scheuch wech von mir, ach bittet alle für mich. Als die Tortur aufgrund ihrer Vergesslichkeit beendet wurde, wendete sie sich erneut mit der Bitte an den Richter, dass der Pastor ihr eine Messe lesen solle, damit sie zur Erkenntnis kommen möge vnt es müßte ein kumm geist [sein][,] der ihro wehre, vnt sei der lehdige sathan fester mit also verfeßelt[,] bittet alle, daß mir gott die wahre erkentnüß geben sole. Als der Scharfrichter sie bat, sich die Strümpfe anzuziehen, weigerte sich Angela Vahlen mit der Begründung, diese seien daran hinderlich, dass sie bekennen könne. Erneut spie sie aus und sagte: weich weg von mir, o Jesu komb mit deiner gnad, sie wolte sich von hertzen bekehren, könte es nit erkennen [...]. 1880 Das zweite Beispiel liefert der Strafprozess von Margaretha Stroeth aus dem Jahr 1701. Margaretha war die Tochter der Elsche Budden, die 1687 wegen Hexerei inhaftiert worden war. Auch ihre Familie konnte auf eine lange Verfolgungstradition zurückblicken. Margaretha war allerdings ins Visier der Strafjustiz geraten, weil sie verhaltensauffällig geworden war. Der Gerichtsfrone Hermann Böddeker wiederholte als Zeuge vor Gericht einige Äußerungen Margarethas, die seines Erachtens den Verdacht der Hexerei bzw. die Gemeinschaft zu anderen Hexenmitgliedern be- 1877 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung vom 01.09.1659. 1878 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Befragung vom 29.08.1659. 1879 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 123 v . 1880 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 126 r . 13.2 Zusammenfassung 455 stätigten. Während eines Gespräches zwischen den beiden, das wohl kurz vor den Hexenprozessen stattfand, habe sie den Gerichtsfronen gefragt, warumb die Herren [sc. Hexenkommissare] sie so frageten, [...] vnd vorhin wißen[,] was vor Zaubers alhie in fürstenberg zu finden, warumb die nicht angegriffen, die doch noch ärger alß sie [...] seien. Margaretha Stroeth korrigierte die Aussage des Böddekers: Die anderen Personen könnten nicht ärger sein, dan sie were die ärgerste, vnd könte nicht glauben[,] das Gott Ihr begangene sünde würde verzeihen, [...] dan sie hette solche sünde gethaen[,] die gott nicht würde vergeben [...] 1881 . Sich ihrer Schuld und ihres Hexenimages bewusst, denunzierte sie sich mit deutlichen Worten und ohne Anwendung der Tortur selbst, eine Hexe zu sein. Sie gestand, viel unter dem Teufel gelitten zu haben, der ihr geraten habe, sie sole sich im schüren busche an Einem baum selbsten auff hangen, da ihre Sünden so groß seien, dass ihr dieselben nicht vergeben werden könnten. Weil sie allerdings den Selbstmord nicht begehen wollte, habe der leidige Satan ihr so schwehre pressiones und Gedanken gemacht, dass sie davon überzeugt gewesen sei, er stehe hinter ihr und wolle ihr den Hals zerbrechen. Weiterhin habe sie der Teufel gedrängt, ihr Haus anzuzünden. Als sie es tun wollte, regte sich ihr christliches Gewissen aber dennoch und infolgedessen hätte sie den Brand nicht ausführen können. Daraufhin habe ihr dämonischer Gefährte sie so beängstigt vnd gepüelet, dass sie nicht mehr schlafen könnte vnd solcheß keinem Menschen klahgen weniger hülffe oder trost suchen dürffen. Weiterhin klagte Margaretha dem Gericht, sie lebe nun schon seit dreißig Jahren mit dem Teufel. Der beschwere ihr derart das Gemüt, dass sie nielmahlen [von hertzen] lüstig sein können, sondern ihro alle Zeit im sin vnd gedancken gelehgen[,] sie würde in alle Ewigkeit verdammet werden [...] 1882 . Inständig bat sie den Richter, da ihr die ganze Zeit der Hexensabbat im sinn stehe und sie infolgedessen keine Ruhe habe, ihr den Tod zu gewähren. Sie habe ihr Leben verwircket, auch nicht lenger zu leben verlangte[; ] pathe[,] daß man möchte ihr recht an thuen vnd vom leben helffen, dan sie könnte in der boßheit nicht lenger leben. 1883 13.2 Zusammenfassung Der Mechanismus der „Selffulfilling Prophecy“ eröffnet die Interpretationsmöglichkeit, vermeintlich paradoxe und das Hexenstigma bekräftigende Verhaltensweisen sinnvoll zu deuten. Gibt man dem Konzept trotz aller berechtigten Kritikpunkte innerhalb eines hypothetischen Gedankenexperiments Raum, eröffnet sich ein offensichtlicher Kausalzusammenhang zwischen einerseits fremdeinwirkenden Schuldzuweisungen bzw. den dadurch entstandenen Einschränkungen des sozialen Handlungsraums und andererseits teilweise provokanten, ja sogar die Hexenverfolgungen evozierenden Verhaltensweisen der Deüffelskinder. 1881 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 106 v . 1882 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 104 v . 1883 Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb., Acta 102, fol. 106 r . 456 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ Zunächst bleibt festzuhalten, dass sich die „Hexenbrut“ fallweise ihrer Sozialposition sowie des Hexengerüchts im Dorf durchaus bewusst war. Erinnert sei an die Aussage von Angela Vahlen, die dem Richter offen darlegte, dass sie von dem bösen Ruf ihrer Familie wisse. Neben einem partikular nachweisbaren Ichbewusstsein um ihr eigenes Hexengerücht gibt das ausgewertete Archivmaterial zusätzlich Hinweise, dass sich die berüchtigten „Hexensippen“ trotz ihres Geburtsstigmas - oder gerade deswegen - neue Handlungsstrategien eröffneten, um einer Einschränkung des sozialen Handlungsraums weitestgehend entgegenwirken zu können. Die „Teufelskinder“ fügten sich somit nicht passiv ihrem Schicksal, sondern handelten aktiv dagegen. Dabei ist nicht zu ermessen, ob es sich um eine bewusste, aus der Not geborene Abwehrreaktion oder um eine unbewusste, aus einem natürlichen Überlebensinstinkt heraus entstandene Lösungsstrategie handelte. Zu erwähnen sind ferner die engen verwandtschaftlichen Beziehungsnetze der „Hexensippen“ und deren gesellschaftlicher Umgang untereinander, obwohl gerade jene Verhaltensweisen in der Gesellschaft verpönt und von der Obrigkeit kriminalisiert worden waren. Damit lieferten sie der im Malleus Maleficarum propagierten Lehre einer sich im Kollektiv formierenden Hexensekte, wie sie auch stellenweise in der Carolina und Bambergensis anklang, einen tatsächlichen Gehalt. 1884 Weiter sei auf ihre untereinander geschlossenen Geheimpakte in akuten Verfolgungssituationen verwiesen, bei denen sie sich schworen, sich nicht gegenseitig zu beklaffen. Diese ganz pragmatischen und überlebenswichtigen Abwehrstrategien mögen den Deüffelskindern zwar neue Handlungsräume eröffnet haben, zementierten aber gleichzeitig den Anfangsverdacht qua Geburt und erhöhten dementsprechend die Wachsamkeit der sie umgebenden Gesellschaft. Ein Teufelskreis war somit geschaffen worden. Zwar verstießen die „Hexensippen“ mit diesen ganz pragmatisch ausgerichteten Verhaltensweisen nicht gegen die formellen Richtlinien, jedoch gegen die gesellschaftlich informellen Verhaltensanforderungen - eine Devianz, die offenbar in der frühneuzeitlichen Gemeinde Fürstenberg schwerer wog als der Normbruch. Der Labeling Approach eröffnet jedoch noch eine weitere Interpretationskomponente hinsichtlich der Wirkmächtigkeit des „Hexenstigmas“, die indirekt das in der Hexenforschung nicht ganz unproblematische Feld der Selbstbezichtigung betritt. Während der Etikettierungsansatz theoretisch die Möglichkeit einer durch soziale Attributionen hervorgerufenen Identitätsveränderung der betroffenen Person nicht ausschließt und in diesem Zusammenhang sogar von einer Internalisierung spricht, wies bisher die Hexenforschung zu Recht sozialpsychologische Deutungsansätze weitestgehend zurück. Zu stark überwiegen die quellenkritischen und methodischen Einwände um das Thema „konkurrierende Wahrheiten“. Das analytische und methodische Dilemma hinsichtlich eines adäquaten Umgangs mit Selbstbeschuldigungen schlägt sich auch in der einschlägigen Forschungsliteratur nieder, in der das Problemfeld wiederholt nur mit allgemeinen Äußerungen angeschnitten wird. 1885 Lediglich 1884 Siehe hierzu Ströhmer: Rezeption, S. 90 ff. 1885 Siehe hierzu Kapitel 2.2.2. 13.2 Zusammenfassung 457 vereinzelte wissenschaftliche Beiträge wie Rainer Walz’ „Paradoxe Kommunikation“ 1886 oder Rainer Becks „Paradoxe Verteidigung“ setzen sich mit dem Phänomen auseinander. Das Resultat dieser allgemeinen Zurückhaltung ist allerdings nicht wünschenswert, denn es bleiben weiterhin viele Fragen ungeklärt. So konnte mit Hilfe der Erklärungsmodelle von Rainer Walz und Rainer Beck für den Untersuchungsraum nicht hinreichend begründet werden, warum einige Deüffelskinder die ihnen zugebilligten Rechtsräume nicht mehr nutzten oder ihre sozialen Abwehrstrategien nicht mehr anwandten. Gelgentlich schrien sie sogar ihre „wahre“ Identität heraus. Noch einmal sei das dramatische Beispiel der Margaretha Stroeth genannt: Seit fünf Generationen war ihre Familie bereits mit dem Hexenstigma behaftet und diversen Schuldsignaturen ausgesetzt. Offenbar konnte sie sich ab einem gewissen Zeitpunkt dem gesellschaftlichen Druck nicht mehr widersetzen. Margaretha bezeichnete sich selbst als die ärgerste unter allen Menschen, sie habe niemals von Herzen lustig sein können und habe schließlich ihr Haus niederbrennen und sich selbst an einem Baum erhängen wollen. Freilich handelt es sich bei dieser Selbstbezichtigung um einen Extremfall. Allerdings legen die Reaktionen einiger anderer Deüffelskinder indirekt nahe, dass auch bei ihnen eine Internalisierung ihres Hexenstigmas stattgefunden hat. So bat beispielsweise Angela Vahlen wiederholt das Gericht, ihr vom bösen Geist abzuhelfen, weil er ihr die Zunge versperre und sie doch endlich ihre Sünden bekennen wolle. Friedrich Vahlen weigerte sich, durch das Dorf zu gehen, weil er wusste, dass die Bewohner über ihn redeten und forcierte damit die Gerüchteküche. Meineke Brielohn erzählte des nachts seiner Frau, nachdem er aus dem Gefängnis ausgebrochen war, wen er beim Hexentanz tatsächlich gesehen habe. Liese Böddeker bat die Hexenjustiz inständig, dass sie sie aus den Fängen des Teufels erlösen möge. Vor allem aber ist das partielle Schweigen der Teufelskinder kennzeichnend, wenn sie mit dem Hexereivorwurf im Dorf konfrontiert wurden und damit erst dem Hexengerücht einen fruchtbaren Nährboden gaben. Sicherlich können und sollen die berechtigten Einwände im Umgang mit Selbstbezichtigungen nicht unberücksichtigt bleiben. Um annähernd die Vorbehalte entkräften zu können, wurden die Hexenprotokolle auch nicht isoliert, sondern in einem größeren Gesamtkontext betrachtet. Trotz aller berechtigten Vorsicht verweist die „Selffulfilling Prophecy“, ergänzt mit dem psychologischen Konzept der Autogenese, auf eine neue Interpretationsmöglichkeit. Vor dem Hintergrund der biografischen und sozio-kulturellen Eckdaten der Deüffelskinder erscheint der hier gewählte Deutungszugang einer möglichen Internalisierung der „Hexenrolle“ auch durchaus für das fürstenbergische Hexenphänomen legitim. Selbst scheinbar absurde und irrationale Verhaltensweisen, wie der Selbstbe- 1886 „Die Unsicherheit über die eigene Stellung im Dorf führte nicht selten dazu, daß die berüchtigten Frauen zufällige Äußerungen über Hexen oder Anspielungen, die vielleicht einer ganz anderen Person galten, vorschnell auf sich bezogen und damit ihre Situation verschlimmerten, im äußersten Fall den Prozess gar erst herbeiführten.“ Walz: Magische Kommunikation, S. 341. 458 13 „Hexe-Sein“ - die „Selffulfilling Prophecy“ strafungswille der Delinquenten, können mit Hilfe dieses Deutungszugangs plausibel erklärt werden. Obwohl dieser neue Erkenntniszugang für das Hexenphänomen bereits eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Labeling Approach auf weitere Untersuchungsräume berechtigt, verweist er folgerichtig auf einen weiteren elementaren Aspekt hin, der bisher weitestgehend von der Hexenforschung nicht beachtet wurde: Die Grenzen zwischen Tätern und Opfern sind fließend. Je nachdem welche Sichtweise eingenommen wird, - die der Ankläger oder der Angeklagten -, verlagert sich die Täterbzw. umgekehrt die Opferfrage. Mit dieser These sollen die Täter keineswegs exkulpiert werden. Um allerdings das interaktionistische Wechselspiel des Hexen-Machens in seiner vollen Dimension erfassen zu können, sollte die Forschung beide Perspektiven berücksichtigen, um nicht in eindimensionale Plattitüden zu verfallen. Denn das Hexenphänomen war, ist und bleibt ein bilaterales Phänomen. Teil VI Schluss und Ausblick 14 Gesellschaftliche Kainsmale Als im Nachbardorf Essentho plötzlich mehrere Pferde verstarben, in deren Herzen man nach einer Sektion durch den Wrasenmeister allerley gifftige formen von schlangen, Kröten, Ja Gößeln gefunden hatte, fiel der Verdacht sofort auf Cünna Fießel. Cünna war bereits seit ihrer Jugend mit dem Hexengerücht behaftet, weil sie von mütterlicher Seite aus einem „Hexengeschlecht“ stammte. Den „Stein des Anstoßes“ bildete jedoch ein Vorfall, der nachhaltig die Sicht der Essenthoer auf Cünna verändern sollte: Als eine arme Frau namens Einßgretha um eine milde Gabe bat, gab ihr Cünna ein mit Kröten verseuchtes Bier, was von den Dorfbewohnern als Vergiftungsversuch gedeutet wurde - denn bekanntlich wurden die besagten Amphibien dazu genutzt, um Schadenszauber zu praktizieren. Das wohl schwerwiegendste Moment aber, das erheblich zur Erhärtung des Verdachts beitrug, war, dass Cünna den Hexereivorwurf nie vehement abgestritten hatte. Im Gegenteil: Offensiv nutzte sie das Hexengerücht im Dorf, um ihre Gegner gezielt einzuschüchtern: So drohte sie beispielsweise mit einem Schwellenzauber, den sie sogar im Beisein des Hausherren durchführte. Im Laufe der Jahre sollten jedoch noch mehr Absonderlichkeiten im Hause der Cünna geschehen. Ein Ereignis, das der Gerüchteküche neue Nahrung gab, war eine Situation zwischen ihr und einem Metzger. Als der ortsansässige Schlachter seine Kuh von Cünna zurückholen wollte, die sie ihm unrechterweise entwendet hatte, sei plötzlich das Bein des Rindes endtzwey gebrochen, obwohl der Boden ebenerdig gewesen sei. Der westphälische Samtrichter Johann Sauren, der am 14. März 1650 für eine Zeugenbefragung eigens nach Essentho berufen worden war, fragte den Zeugen Thönies Krieger explizit, warum er den Beinbruch nicht als Unfall, sondern als Hexenwerk gedeutet habe. Thönies antwortete darauf: Weil diese Cünna vorhin ein böß gerüchte gehabt, vndt dieser Beinbruch auff gleicher Erden geschehen, habe solches nicht zum guten deuten, besondern vielmehr einen bößen argwohn darab nehmen können. 1887 Dieser Quellenausschnitt, der direkt in die „Drehscheibe“ wechselseitiger Wahrnehmungen und Zuschreibungen führt, weist exemplarisch in den analytischen Themenschwerpunkt dieser Arbeit: in die gesellschaftliche „Produktion“ und Entstehung eines Abweichlers respektive der Hexe. 1. Historische Befunde: Bevor der kriminalsoziologische Blick auf den interaktionistischen und bilateralen „Aufschaukelungsprozess“ von Stigmatisierung und Marginalisierung eröffnet werden konnte, galt es, sich zunächst den alltäglichen Mechanismen des frühneuzeitlichen Zusammenlebens im Dorf Fürstenberg zu nähern. 1887 Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Zeugenbefragung am 14.03.1650. 462 14 Gesellschaftliche Kainsmale Dieser Schritt war unabdingbar, um sukzessiv an die ineinander verschränkten Komponenten sozialer Determinanten zu gelangen. Diese bildeten die Grundvoraussetzung für die jeweils lokale Ausformung von Devianz und damit erst die Weichenstellung für eine (erfolgreiche) Verleihung von Schuldsignaturen. Denn der soziologische Interpretationsansatz des Labeling Approach fordert den Wissenschaftler geradezu auf, das stigmatisierte Individuum zunächst in seiner unmittelbaren Umgebung zu verorten. Aus diesen Gründen wurde der Leser auch nicht in medias res in den zu bearbeitenden Stoff der fürstenbergischen Hexenverfolgungen „hineingeworfen“. Schicht für Schicht wurde vorerst in einem mikroskopischen Verfahren, indem langsam an den Ort des Geschehens herangezoomt wurde, das kulturelle Gefüge des lokalen Untersuchungsraumes sichtbar gemacht. Mittels dieser methodischen Vorgehensweise war der sprichwörtliche Blick durch das Schlüsselloch möglich: Zutage trat ein feingliedriges Geflecht an zeitlich variablen und binär kodierten Größen: Devianz/ Norm, Inklusion/ Exklusion, Ehre/ Unehre, Strafe/ Toleranz. Aber auch personelle Verortungen und Selbstwahrnehmungen, teils konkurrierende Rechtsgewohnheiten und Normensets, Normalität und Konformität, soziale Wertesysteme und Gesellschaftsgefüge kamen ans Licht. Dieses hochkomplexe und multikausale Zusammenspiel mehrerer Faktoren auf verschiedenen Ebenen, die von den Zeitgenossen nicht immer bewusst wahrgenommen wurden, sondern auch en passant im Hintergrund wirksam waren, ermöglichte die Rekonstruktion sozialer und mentaler Milieus. Ein derart komplexes und komparatives Verfahren bot die Chance des Dialoges und Austausches mit verschiedenen Forschungsdisziplinen und machte erst den Theorientransfer eines kriminalsoziologischen „Überbaus“ auf das konkrete historische Beispiel möglich. Aufgrund dieser Interdisziplinarität sind die hier vorgestellten Kapitel auch nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern eher - metaphorisch gesprochen - als einzelne „Puzzleteile“, die in der Zusammenführung (annähernd) ein Gesamtbild ergeben. Denn das vormoderne Hexenphänomen ist stets als Teil eines größeren Ganzen zu betrachten. Zum Ausklang seien die wichtigsten Ergebnisse noch einmal rekapituliert. Das frühneuzeitliche Gemeinde- und Gesellschaftsprofil Fürstenbergs ist mit wenigen Worten grob umrissen: Das dicht besiedelte Großdorf, das topografisch in ein viel genutztes Wegenetz von Handelsrouten eingebunden war, organisierte sich weitestgehend autonom. Obschon die Fürstenberger in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Ortsobrigkeit, den westphälischen Patrimonialherren, standen, waren ihnen von den Adelsjunkern weitreichende Privilegien durch den „Bundbrief“ zugesichert worden. Dabei verzichteten die Herren von Westphalen auf die Einführung der Leibeigenschaft. Dieses Zugeständnis trug wesentlich dazu bei, dass die Rechtsposition der Einwohner gestärkt und im Laufe der Jahrzehnte weiter ausgebaut wurde. Zwar suchten die Adelsherren durch sogenannte „westphälische Bedienstete“ ihren Herrschaftsanspruch sowohl rechtlich als auch symbolisch zu demonstrieren, jedoch wurde diese nebenberufliche Amtstätigkeit von Ortsansässigen durchgeführt. Zudem lag eine starke Kollaboration zwischen den kommunalen und obrigkeitlichen Amtsträgern vor, die eher mit dem Begriff „Personalunion“ treffend bezeichnet ist. So waren zwar auf 14 Gesellschaftliche Kainsmale 463 formeller Ebene die Westphälinge die Schutz- und Schirmherren des Dorfes, auf informeller Ebene war es jedoch die kommunale Rechtsgemeinschaft, die wiederum in den Händen der dörflichen Elite lag. Diese war um die Wahrung sowohl der „moralischen Ökonomie“ als auch des örtlichen Regel- und Wertesystems bemüht, um einerseits den Gemeinwillen zu fördern und andererseits die Gemeindeidentität zu stabilisieren und zu stärken. Ein hoher „Autonomiegrad“, gepaart mit einer ebenso hohen „sozialen Kontrolle“, bilden die markanten Schlüsselwörter, die das fürstenbergische Gesellschaftsprofil angemessen charakterisieren. Die vormoderne Gemeinde zeichnet sich weder durch eine starke Affektivität noch durch eine ausgeprägte herrschaftliche Pönalisierungspolitik aus. Ein näherer Blick auf die Zahlen der verschiedenen Deliktsegmente und das örtliche „Straftribunal“ unterstreicht die oben genannte Typisierung der fürstenbergischen Kultur: Sowohl bei Verbalinjurien als auch bei Gewaltdelikten beherrschten sich die Dorfbewohner und folgten einem informellen wie formellen Regelsystem, das das tägliche Miteinander auch in Konfliktsituationen reglementierte - eine Beobachtung, die im Übrigen auch für die Deüffelskinder gilt: Sie treten in den niedergerichtlichen Akten kaum in Erscheinung. Selbst bei Hexereiattribuierungen ist aufgrund der empirischen und quantitativen Befunde zu vermuten, dass eine gewisse kalkulierte Beleidigungsbzw. Stigmatisierungsökonomie grundlegend die verbalen Ehrenhändel beherrschte und lenkte. Kennzeichnend für den Gerichtshabitus war ein hohes Maß an Differenzierungs- und Selektionslogik, die nicht nur die hiesigen Rechtsgewohnheiten berücksichtigte, um Justizirrtümer auszuschließen, sondern selbst den „üblichen Verdächtigen“, den Deüffelskindern, einen weiträumigen Rechtsschutz zuteilwerden ließ. Die Konsultierung der ambtshülff stellte insbesondere bei Hexereibeschuldigungen das probateste Abwehrmittel mit der höchsten Durchschlagskraft dar. Dieser Befund relativiert Walz’ Erklärungsmodell von der „Paradoxen Kommunikation“ zumindest für diesen Untersuchungsraum, sodass nach einer weiteren plausiblen Deutungsmöglichkeit gesucht werden muss. An dieser Gerichtsgewohnheit hielt - nebenbei bemerkt - selbst die lokale Hexenjustiz im Umgang mit dem Schwerverbrechen des crimen maleficarum fest, sodass der fürstenbergische Hexenprozess nicht gänzlich im Sinne eines processus extraordinarius geführt wurde. In der Tat herrschte zwar in Fürstenberg die Vorstellung vom Hexereidelikt als Sonderverbrechen (crimen exceptum) vor, nicht aber die Praxis des Sonderfalls „Hexenprozess“, da den Delinquenten weiträumige Verteidigungsmöglichkeiten eingeräumt und die Folter nicht exzessiv angewandt wurde. Die örtliche Verfahrensweise lässt sich daher am ehesten als eine Mischform aus beiden Verfahren - ordinär und extraordinär - beschreiben. 2. Hexen-Machen: Im völligen Kontrast zur moderaten Prozesspraxis beim Hexereidelikt stand, was die örtlichen Zeitgenossen mit dem Hexenverbrechen assoziierten: Die Hexen galten als „böse Leute“ - um es mit dem Titel einer Arbeit von Johannes Dillinger zu umschreiben -, weil sie nach frühneuzeitlichem Verständnis das Abbild einer ultimativen und radikalen Devianz darstellten. Denn durch ihren Eintritt in die „Hexenwelt“ wendeten sie sich nicht nur von Gott ab, sondern auch von den 464 14 Gesellschaftliche Kainsmale christlichen und gesellschaftlichen Wertmaßstäben. Gerade in einem Zeitalter der begrenzten Ressourcen war die Aufrechterhaltung eines moralischen und sozialen Ordnungsgefüges essenziell im täglichen Miteinander. Aber genau an diesem neuralgischen Punkt setzte die Hexe mit ihren Schadenszauberpraktiken an. Die Anwendung der Malefizien war dabei die höchste Ausdrucksform ihres Transformationsprozesses - sie war eine Gefährderin der Menschheit. Denn entgegen den hiesigen Wertmaßstäben wandten die Hexen das Malefizium unkontrolliert und repetitiv an, um einerseits den ihnen widerwerttigen den größtmöglichen ökonomischen und/ oder physischen Mehrfachschaden zuzufügen, andererseits um ihr Bekenntnis zum Teufel erneut zu bekräftigen und um auf der hierarchischen Stufenleiter der Dämonenwelt aufzusteigen. Aus kriminalistischer Perspektive stellt die Hexe daher eine schwerstkriminelle Mehrfachtäterin dar. Die Hexereiattribution beinhaltete demnach auch den Vorwurf eines Entfremdungsprozesses, mittels dessen eine symbolische Grenze zwischen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion markiert werden konnte. Die Hexereibeleidigung implizierte demnach das ultimative Feindbild. Aufgrund dieses inhärenten Alteritätsaspektes im lokalen Hexenglauben wurden soziale Dynamiken freigesetzt, die ein Fremdverstehen und damit jegliche Empathie für die Verdächtigten unmöglich machten. Die Hexe und der Hexer wurden schließlich nur noch als die Feinde empfunden, die es zu eliminieren galt. In Fürstenberg erhielt der Hexenglaube seine außerordentliche Sprengkraft aber nicht nur durch die Perhorreszierung der Hexe. Es war zusätzlich die Vorstellung von einer transgenerativen Vererbung einer gewissen „Hexenqualität“, die durch Sozialisation forciert werden sollte und den Nachfahren von hingerichteten Personen ein Geburtsstigma verlieh, das in der zeitgenössischen Bezeichnung Deüffelskind seinen Ausdruck findet. Mittels dieser Schuldsignatur, die nach dem Soziologen Lemert als „primäre Daseinsdevianz“ bezeichnet werden kann, wurden die „Hexenkinder“ stigmatisiert, herabgewürdigt, geschmäht und marginalisiert. Diese temporären und nachhaltigen Stigmatisierungsprozesse geschahen sowohl verbal als auch nonverbal und schränkten die konformen sozialen Handlungsmöglichkeiten der „Hexenbrut“ ein: Gemäß der Volksweisheit „Sag mir, mit wem du gehst, und ich sag dir, wer du bist“ war die Gemeinschaft zu ihnen generell verpönt und eine Heirat zwischen berüchtigten und unberüchtigten Familien nur ungern gesehen. Identitätsstiftende Momente wie Festlichkeiten oder Nachbarschaftszeremonien bei und von Deüffelskindern wurden zu einem Balanceakt, in dem die „normalen“ Gemeindemitglieder abwägen mussten, ob die Gaben bedenkenlos angenommen werden konnten, ohne vergiftet zu werden. Nicht zu vergessen ist auch, dass durch die Hexenprozesse die Familienidentität und insbesondere der Ahnenstolz der betroffenen „Sippen“ einen prägnanten Schandfleck erhalten hatten, der wie ein Damoklesschwert über deren Familiengeschichte schwebte und diese überschattete. Diese Vorbehalte schufen ein grundlegendes Misstrauensverhältnis gegenüber den Hexenfamilien, das latent im Bewusstsein der fürstenbergischen Dorfbewohner vorhanden war, aber insbesondere durch exogene Faktoren, wie beispielsweise Krisenzeiten, aktualisiert und verstärkt werden konnte. Träger dieser 14 Gesellschaftliche Kainsmale 465 sozialen und mentalen Verankerung waren auch die jüngsten „Sprösslinge“ in der Gemeinde, die das Gedankengut und die Verhaltensweisen ihrer erwachsenen Vorbilder verinnerlichten und kopierten. Das Ergebnis dieser endogenen sozialdynamischen Prozesse waren zusätzlich eine erhöhte Sensibilisierung und Wachsamkeit gegenüber den Deüffelskindern, wobei selbst kleinere Verhaltensabweichungen auf informeller Ebene, die rein objektiv betrachtet in keiner Verbindung zum eigentlichen Vorwurf standen, im Licht des attribuierten Stigmas negativ gewertet wurden. Aufgrund dieser scheinbar untrüglichen „Indizien“ glaubten die Zeitgenossen, die als Christin getarnte Hexe entlarven zu können. Damit sind Hexereiattributionen trotz ihrer multifunktionalen Anknüpfungspunkte nicht willkürlich „angeheftet“ worden: Die Stigmata konnten gerade deswegen erfolgreich vergeben werden, weil sie eben an einem vermeintlichen Devianzverhalten ansetzten, das sich zwar nicht auf der Ebene der „harten Fakten“ befand, aber auf der sozialmoralischen Ebene. In Anbetracht dieser Befunde stellt sich zudem die kritische Frage, welches Regelsystem in der frühneuzeitlichen Gesellschaft die größere Bedeutung hatte - das informelle oder formelle? Es war schließlich diese Eingrenzung sozialer, symbolischer und kommunikativer Handlungsräume, die die gelabelten Personen zunehmend in eine Abwärtsspirale drängten. Denn gerade der zentrale Baustein der „Selffulfilling Prophecy“ im soziologischen Etikettierungansatz weist auf die psychologischen Prozesse des stigmatisierten Individuums hin, das aufgrund der „sozialen Reaktionen“ förmlich gezwungen wird, sich mit dem ihm zugewiesenen „Image“ auseinanderzusetzen. Die vermeintliche Konsequenz dieser „Identitätserschütterung“ ist eine Verhaltens- oder Charakteränderung der berüchtigten Person. Bezogen auf die fürstenbergischen Deüffelskinder, bedeutet das also, dass sie entweder die Attribution offensiv, ja sogar partiell aggressiv nutzten, um sich neue Handlungsräume zu eröffnen, oder ihr Label als „Hexen“ annahmen. In beiden Fällen konnten diese von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Verhaltensweisen die Hexenprozesse evozieren. Diese Verhaltensentwicklungen verdeutlichen eindrucksvoll den potenziellen Teufelskreislauf im wechselseitigen Aufschaukelungs- und Eskalationsprozess gesellschaftlicher Schuldzuweisungen. In diesem Sinn beinhalten die frühneuzeitlichen Hexenprozesse tatsächlich eine Kontroll- und Stabilitätsfunktion ex negativo, indem das bestehende Gesellschaftsgefüge und dessen Ordnungssystem durch die Hexenjagd bestätigt und bekräftigt werden. Angesichts der fatalistischen Zwangsläufigkeit dieses sozialdynamischen und psychologischen Theorems mag es verwundern, dass die Hexenprozesse in Fürstenberg dennoch nicht massiv eingesetzt wurden, um die gesamten „Hexensippschaften“ auszurotten. Zu diesem kuriosen Befund gesellt sich zudem das vermeintliche Paradoxon, dass die Deüffelskinder trotz ihres „Geburtsmakels“ ökonomisch, politisch und (eingeschränkt) sozial im Dorf integriert waren, ihnen sogar weitestgehend auf rechtlicher und gesellschaftlicher Ebene Handlungsmöglichkeiten zugebilligt wurden. Die Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch ist mit folgenden Schlagwörtern schnell gegeben: Pragmatismus, Kalkül und Ökonomie lockerten in der Sozialpraxis das ideal- 466 14 Gesellschaftliche Kainsmale typische, starre Schwarz-Weiß-Paradigma von Ehre und Unehre auf und ließen somit eine erhebliche Grauzone entstehen. Aufgrund ihres hohen Sozialstatus und ihres engen Verwandtschaftsnetzes untereinander besetzten die Hexenfamilien bedeutende kommunale sowie obrigkeitliche Positionen. Ihr symbolisches und ökonomisches Kapital, um es mit dem soziologischen Konzept von Bourdieu zu benennen, war zu groß, als dass man sie vorschnell und übereilt hätte marginalisieren können. Mit diesem Erklärungsansatz lässt sich zumindest annähernd die alltägliche Differenzierungs- und Selektionslogik der Zeitgenossen bei Hexereiattributionen und Hexenverfolgungen deuten. 3. Verallgemeinerungsfähigkeit der Arbeit: Sicherlich stellt das frühneuzeitliche Fürstenberg in vielerlei Hinsicht einen exotischen Sonderfall dar - sei es in Bezug auf seine verfassungsrechtliche Stellung, der ortsobrigkeitlichen Strafrechtspflege und Hexenpolitik oder der verzeichneten Kriminalitätsrate. Jedoch sollen gerade diese „Ausreißer“ künftige Historiker*innen dazu einladen, sich mit den klassischen und teilweise „liebgewonnenen“ Deutungskonzepten der Historiografie erneut auseinanderzusetzen und diese zu überprüfen. Insbesondere der hier konstatierte Befund von der zeitgenössischen Vorstellung einer blutsmäßigen und somit transgenerativen Übertragung gewisser „Hexenqualitäten“ liefert einen wichtigen Impuls, tiefer gehend die Verwandtschaftsverhältnisse der Verfolgungsopfer in den Analysefokus zu nehmen. Angesichts dieser historischen Ergebnisse stellt sich zudem die berechtigte Frage, ob nicht gerade dieser vormoderne Gedanke von einer „Hexenvererbung“ ein entscheidendes Movens für die bisher noch wenig erforschten Hexenverfolgungen in den geistlichen Staaten Nordwestdeutschlands 1888 bildete. Denn bereits bei einem flüchtigen Blick in die Hexenprozessakten der Nachbardörfer Leiberg, Wünnenberg und Essentho deutet sich an, dass auch hier die vermeintliche „Hexengenealogie“ gewisser Familien und deren Kontakt zu anderen berüchtigten „Sippen“ eine tragende Rolle im Kampf gegen die „Unholde“ spielten - sowohl bei der Obrigkeit (Top-down) als auch bei den Untertanen (Bottom-up). 1889 Eine Überprüfung dieser Hypothese für andere Verfolgungsregionen wäre sicherlich reizvoll und würde das in der Hexenforschung bekannte Faktorencluster um eine weitere tragende Komponente bei der Entschlüsselung des frühneuzeitlichen Hexenphänomens ergänzen. Trotz der vorgestellten Nova beinhaltet dieses Werk auch „Altbekanntes“, indem ein Blick auf eine anthropologische Konstante dargeboten wird: Die in dieser Arbeit vorgestellte Deutung des frühneuzeitlichen Hexenphänomens öffnet dabei nicht nur ein neues Tor zur Vergangenheit, sondern auch zur Gegenwart. Denn die hier vorgestellten Sozialdimensionen und Dynamisierungsmomente von Zuschreibungen sind 1888 Vgl. Schwerhoff, Gerd: Hexenverfolgungen in der frühneuzeitlichen Germania Sacra, in: Schiersner, Dietmar/ Röckelein, Hedwig (Hrsg.): Weltliche Herrschaft in geistlicher Hand. Die Germania Sacra im 17. und 18. Jahrhundert (Studien zur Germania Sacra, Bd. 6), Berlin und Boston 2018, S. 297-328, hier insbesondere S. 298 und S. 302. 1889 Vgl. Adels. A Brenk., HS 117, unfol., Prozessakte der Anna Hennekens vom 27.07.1630 sowie von ihrem Sohn Franz Keggen, Geständnis von Liese, die Breckersche, ca. August 1631, Indizienkatalog gegen Trine Blomen, September 1630 sowie Piel Hendrich etc. 14 Gesellschaftliche Kainsmale 467 zeitlos, da sie gesellschaftsimmanent sind, indem sie konstitutiv für die Entstehung, Stabilisierung, aber auch Zerstörung eines Ordnungsgefüges verantwortlich gemacht werden können. 1890 Gerade der soziologische Blick auf die vormodernen Hexenverfolgungen macht den brisanten Stoff zu einem Scharnier zwischen der vergangenen und gegenwärtig erlebten Zeit, indem er einerseits ein vermeintlich irrationales Phänomen in das 21. Jahrhundert rückt und damit andererseits Verständnisbarrieren abbaut, aber auch Identifikationsmöglichkeiten bereithält. Denn die mentalen und emotionalen „Daseinslagen“ der Vorfahren werden sichtbar gemacht. Der Labeling Approach wirft dabei einen gesellschaftskritischen Blick auf Fundamentalphänomene und -probleme und versucht, substanzielle Spannungen im täglichen Zusammensein und Miteinander aufzudecken. Aus diesen Gründen wurde auch im Titel dieser Arbeit auf das Attribut „historisch“ verzichtet. Damals wie heute sind Stigmatisierungs- und Marginalisierungsvorgänge von Individuuen oder Gruppen allgegenwärtig. Jede Gesellschaft wies zu jeder Zeit viele polymorphe Ausschlussmodalitäten auf: sei es in Form von übergeordneten Kategorien wie Rassismus, Nationalismus, Fanatismus etc. oder in den „kleinen“ Bereichen wie Mobbing, Outgroups, Ingroups etc. Die Beispiele aus der Vergangenheit, aber auch der Gegenwart sind Legion. Hierin besteht auch meines Erachtens das große Verallgemeinerungspotenzial dieser Arbeit auf der Metaebene: Die hier erarbeiteten sozialdynamischen Faktoren lassen sich auf viele Themengebiete übertragen - sowohl auf die dunklen Kapitel der internationalen Geschichte als auch aktuell auf politische Debatten. Gerade im Hinblick auf die gegenwärtige globale „Trendwende“ zunehmender Radikalisierungen soll diese Studie eine kritische Selbstreflexion anregen. Damit werden die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen zu einem didaktischen Lehrmaterial, sozusagen einem „Kompass“, um auch gegenwärtige Gesellschaftsphänomene zu entschlüsseln. Denn um es mit den Worten der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zu sagen: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“ 1890 Siehe hierzu Ellerbrock, Dagmar/ Koch, Lars/ Müller-Mall, Sabine/ Münkler, Marina/ Scharloth, Joachim/ Schrage, Dominik/ Schwerhoff, Gerd: Invektivität - Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2.1 (2017), S. 2-24. Teil VII Verzeichnisse 15 Quellen und Literatur 15.1 Ungedruckte Quellen Diözesanarchiv des Erzbistums Paderborn (zit.: DiözesA Pb.) Acta 150, fol. (Korrespondenzen, Suppliken 1650 bis 1682) Allgemeines DII, Geistliche Regierung, Archidiakonats-, Send-, Gerichtsweisen I-VI, fol. (landesherrliche Sendgerichtsprotokolle) Visitationsakte XIII (landesherrliche Visitationen) Erzbischöfliche Akademische Bibliothek Paderborn (zit.: Erzbischöfl. Akad. Bibl. Pb.) Acta 102, fol. (Hexenprozessakten 1631 bis 1702) Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen (zit.: LA NRW Abt. Westf.) A 19578, Nr. 834 Fürstenberg (Karte von 1758) Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 458, fol. (Supplik der Stadt Wünnenberg 1661) Fstbst. Pb., Kanzlei Nr. 514, fol. (Kataster 1672, 1684) Fstbst. Pb., Patr. Nr. 22, fol. (Testamente, Landverkäufe, Rechnungen, Geburtsscheine, Gesellenbriefe 1630 bis 1703) Fstbst. Pb., Patr. Nr. 4, fol. (Protokolle der Nieder- und Kriminalgerichtsbarkeit 1653 bis 1710) Reichskammergericht F, Nr. 587, Bd. 3, fol. (Scheffel-Heuer-Register 1595 bis 1602) Pfarrarchiv Fürstenberg (zit.: PfA Fü.) A 1, Urkunden und alte Akten, unfol. (Rechnung 1718) A 114, unfol. (Korrespondenzen, Rechnungen, Suppliken, Geld- und Landübertragungen 1617 bis 1744) A 18, Manuskript, unfol. (Mitteilung des Agenten Schmidt in Haaren geb. aus Fürstenberg, vom 20.02.1891) St. Marien, Bestand III, 310 472 15 Quellen und Literatur Privatbesitz Graf von Westphalen Schloss Fürstenberg Topografische Karte von Fürstenberg um 1780 Karte „Tabula XIII“ von 1832 Privates Adelsarchiv Brenken (zit.: Adelsarch. Brenk.) HS 117, unfol. (Hexenprozessakten, Rechnungen, Korrespondenzen von 1601 bis 1664) Stadtarchiv Bad Wünnenberg (zit.: StA Wü.) A 779, Urkunden der Gemeinde Fürstenberg, unfol. (Vertrag vom 26.08.1830) Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Paderborn (zit.: AV Pb.) Cod. 150, fol. (Autormanuskript des Heinrich Anton Cosmann (∗ 1717, † 1780)) 15.2 Gedruckte Quellen Becker, Johann Nikolaus: Actenmäßige Geschichte der Räuberbanden an den beyden Ufern des Rheins. Zweyter Teil. Enthaltend die Geschichte der Brabäntischen, Holländischen, Mersener, Crevelder, Neußer, Neuwieder und Westphälischen Räuberbande; aus Criminal-Protocollen und geheimen Notitzen des Br. 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Privatbesitz Graf von Westphalen Schloss Fürstenberg; zur Verfügung gestellt von Herrn Bernd Nolte. . . . . . . 142 8.1 Quantitative Auswertung der Gerichtstätigkeiten von 1663-1709 bei „normalen“ Vergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 8.2 Quantitative Auswertung zivilrechtlicher und strafrechtlicher Tätigkeiten für einzelne Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 8.3 Gerichtliches Vorgehen bei Verbalinjurien von 1663 bis 1709 . . . . . 176 8.4 Quantitative Übersicht über die Vorwürfe, die das Zauberlaster und das Hexenverbrechen beinhalten (1669-1709) . . . . . . . . . . . . . . 186 9.1 Urteilsspruch in den Hexenprozessen von 1601-1703 . . . . . . . . . . 262 9.2 Topografische Karte von Fürstenberg um 1780. Privatbesitz Graf von Westphalen Schloss Fürstenberg. Der Punkt markiert die Verbrennungsstelle. Die umrandeten Stellen kennzeichnen die Wasserplätze . 284 10.1 Die „Dalheimische Linde“ auf einer Karte von 1758 . . . . . . . . . . 311 10.2 Topografische Karte von Fürstenberg um 1780. Privatbesitz Graf von Westphalen Schloss Fürstenberg: Die gestrichelte Linie markiert die Teile des „Hexenweges“. Der Verbrennungsplatz und vermutliche Folterplatz befanden sich rechts vom Pfad. . . . . . . . . . . . . . . . 322 17 Tabellenverzeichnis 7.1 Aggregierte Daten der Kataster von 1672 und 1684 . . . . . . . . . . 124 7.2 Landbesitz nach Dezilen aus den Katastern von 1672 und 1684 . . . . 126 7.3 Übersicht der erfassten dorffßfürsteherr von 1654 bis 1705 . . . . . . . 129 8.1 Landbesitzverhältnisse einzelner Opfer und Täter entnommen aus den Katastern 1672/ 84 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 9.1 Übersicht der amtierenden Richter von 1601 bis 1703 . . . . . . . . . 229 9.2 Übersicht über die in Hexenprozessen eingesetzten Schöffen . . . . . . 235 9.3 Übersicht einzelner fürstenbergischer Gerichtsschreiber von 1601 bis 1703 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 9.4 Gesamtanzahl der Hexenverfolgungen in Fürstenberg von 1601 bis 1703 260 9.5 Übersicht aller Denunziationen von 1601 . . . . . . . . . . . . . . . . 279 9.6 Übersicht aller Denunziationen von 1658/ 59 . . . . . . . . . . . . . . . 280 9.7 Gerichtskosten der Hexenprozesse von 1658/ 59 . . . . . . . . . . . . . 285 11.1 Familie Grothen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 11.2 Familie Vahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 11.3 Familie Brielohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 11.4 Familie Budden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 11.5 Familie Hinte vulgo Möller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 11.6 Familie Schweins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 11.7 Familie Schlunß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 11.8 Familie Saurhagen vulgo Arndt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 11.9 Familie Böddeker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 B.1 Kataster 1672 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 B.2 Kataster 1684 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Teil VIII Anhang A Quellenauszüge Die Transkriptionen der Quellenpassagen erfolgten weitestgehend in Anlehnung an die Originaldokumente. Lediglich wenn Verständnisschwierigkeiten durch Auslassungen von Wörtern oder durch die zeitgenössische Orthographie drohten, wurden Ergänzungen eingefügt und durch eckige Klammern kenntlich gemacht. Nr. 1: Prozessakte der Gretha Bitterfeindes, 1601 (HS 117 unfol., Brenken) Urgicht vom 12.08.1601: Erstlich[,] das Rock arendts Gretha[,] hieselbst so ir Pade gewesen[,] sie die kunst der zauberey vngefehr vor 30 Jahren, alß sie noch Magdt gewesen[,] in ihrem[,] arents Grethen hauße[,] wie sie bier darauff holen wollen[,] Zu lernen angebotten Vnd daneben vertrestung gedoen, sie solle von solcher kunst ihren vnd[er]halt haben [...]. Nachdem sie drei Schritte zurückgetreten sei, Gott und seinen Heiligen abgesagt habe, sei der Teufel erschienen, Fedderbusch genant in verdelten halb groen vnd braunen kledern vnd einem schwartzen hude mit großen schwartzen feddern vnd füßen wie ein ganntz [...][; ] habe der boese Ir boele [...] Ir einige Prenckelt kruet gegeben[,] Zween hande dieke [...], damit an menschen vnd viehe vnd sonderlich iren wiederwerttigen schaden zu thuen, wie sie dan dero zeit auf anreitzen des boesen vnd in seinem nahmen ihrem [...] vatter selig einen schwartzen bunten hunde im felde midt brodt vergeben, vnd darmit die kunst probirt. Zum anderen hab sie Elschen krantzes einen schwartz bunten ferken im stucklen brots vergifftet vnd die kunst endmal [...] probirt. Zum dritten hab sie einen armen Jungen, der aus Hegensdorf stammte, mit warmen Bier vergiftet, weil er ihr ein Messer gestohlen habe. Der Junge sei auch alsbald gestorben. Zum 4. habe sie ohngefehr vor Zween Jaren dem Richter hieselbst einen farben hund[,] so ihren hundt gebissen[,] in einem stueke broet vergeben[,] der stundtlich dort geblieben. Zum 5 bekanndt[,] das sie diß Jhar in ein stucke von Zween morgen im Ringelßbueke Ires eigenen Landes vorg[enanntes] teufflisch kruts gestreut habe, sodass das Korn verdorben sei, vnd dz Landt nur eiltel vnkrut drugen. Zum 6. hab vngefehr vor 24. Jaren einsmals der Elsche im Feld eine Kuh vergiftet, weil sie dachte, genannte Elsche habe ihr eine Kuh weggenommen. Zum 7. bekanndt, das sie die Melcherschen[,] Jetzo zum Wünnenberge wohnende[,] seinsmal vf St. Martini abendt Zu gaste geladen Vnd Ir ein stuecke fleisches, worauf sie das mehrge[nannte] kruts gestrewet vnd sie dann Zuvergifften in willens gehabt, aber es hette sie[,] die Melchersche[,] nur des fleisches ein weinig genutzet vnd der vergifftet mit gar nuer ein weinig ein bekommen[; ] davon sie in den negsten nachfolgenden 8. thagen geschwollen, welchs also vf beschehene erkundigung sich warhafftig befunden, 514 A Quellenauszüge vnd insonderheit das es dahero geschehen, das sie sich Ires shones Johannes eheliche zuvernehmen vnd die freyernacht abgeschlagen. Zum 8. vngefehr vor 3. Jaren hab sie Heneken Corde ein weiße[s] schwein vergifftet[,] in brode einge[ge]ben, vrsach[,] das Heneken frawe Ir verwisen[,] das sie gesagt[,] henckeln frawen schwester wehre vf der grundt Zu Atteln verbrandt. Zum 9. hab sie vor 5. od[er] 6. Jaren einen armen Mahnen beherberget[,] welcher Ihr darvon ein schloß von 6. G[roschen] entwendet, deßwegen sie Ihme vorge[nannte] theufflische kruts in milche eingeben[,] davon er stuntlich krank geworden vnd weg gegangen, wiße nicht worhin er gekommen sey, Zum 10. habe sie bey lebe Zeitten ires ehe Mans, den Hans Schmied, der ihr Knecht war, vergiftet, weil er außerhalb gebuerlicher zeit [...] dienste gangen [...]. Zum 11. habe Gretha ihren Mann vergiftet, vrsach [...] vf Adam Wostes Hochzeit [habe er sie] zu sich gefurdert vnd [...] [sie] geschlagen. Zum 12. hab sie vngefehr vor 14. Jaren Irer eigenen schwartzen kho vergifftet, auß vrsach[,] das sie dieselbe etzliche dage suchen müßen. Zum 13. bekandt[,] das sie Reutter thonies Meineken vor 30 Jaren Im hoppe hove[,] daselbst sie miteinander gezechet[,] zwischen Iren fingeren das theufflische kruets in ein glaß biere geworffen Vnd darmit vergeben[,] dz er 6. Jar vngefehr gequennen vnd volgents gestorven, [aus] vrsachen[,] das er andere Metchens lieber dan sie gehabt. Zum 14. habe sie anneken stoldreyers Im grauen Potte milche [Gift] gedan, [...]. Nr. 2: Prozessakte des Goert Nüthen, der Wassermeister, 1631 (HS 117 unfol., Brenken) Indizienkatalog vom 01.07.1631: 1. Seine Eltern seien für Zauberer gehalten worden; 2. Er selbst stehe in einem gemeinen bosen Zaubergerücht, seit er in Fürstenberg lebe; 3. Balthazar Huesknecht habe ihn vor vielen Jahren einen Zauberer gescholten; 4. Baltazar wollte mit ihm auf das Wasser gehen, aber Goert habe das abgeschlagen; 5. Wahr dieser goertt ein solches Zaubergerücht gehabtt, das ihmen die kinder auffer strassen dafür ausgeruffen; 6. Er habe sich nie wegen der Scheltungen und Zaubereischmehung verteidigt, sondern immer stillgeschwiegen, vndt sich niemahlen zu recht zu verthätigen vnterstanden, weiniger expurgirt. 7. Wahr, das ehr ihn seiner jugendt zwischen Sinstorff vndt der Ober mühlen bei der fürstenbergh midt Lubberten Brilohn die kühe gehüdett, das ehr daselbsten Lubberten Zaubern lehren wollen. 8. Daraus sei ein gemein leumuth vndt sage geworden, wie es heute noch umhergehe und Lubbert Brilohn solches noch gestendigh. 9. Er sei eine leichtfertige Person, die auch mit der eigenen Mutter Unzucht getrieben habe; er sei dabei erwischt und inhaftiert worden, vndt wan ehr nicht aus der gefengknus gebrochen, schon vor lengst sein recht erlangett hette. 10. Seine Eltern seien auch für Zauberer gehalten worden; 11. Er sei von Meineke Wessels denunziert worden, dass er der Fähnrich auf dem Tanzplatz sei; 12. Gölke Schweins habe ihn auch besagt und beschuldigt, das schrockliche wetter vor etzlichen iahren zur fürstenbergh gemacht [zu haben], darab die heuser zerfallen vndt A Quellenauszüge 515 wegh gebrochen. 13. Jedoch zu letzt wahr, das ehr wegen der wasserleitung zulengst wieder alhir hin kommen vndt anhero tolerirt sei. Urgicht vom 04.07.1631: Goert bekennt gutwillig, ohn peinlich angegriffen zu werden. Er habe die Kunst zuerst an einem Hund probiert mit einem schwarzen Zeug, das ihm sein Buhle Saphirken gegeben habe; Droppel Thönies habe er einen Gaul vor 24 Jahren auf dem Pellenberg vergiftet, weil ihm zwei Kühe beim Hüten durch gegangen seien und auf Droppels Feld Schaden verursacht hatten; deswegen habe ihn Droppel geschlagen. Sich selber habe er ein Kalb vergiftet sowie einen Gaul, weil ihme der teuffel mit einem gloeden schwepen dazu gezwungen habe. Gemeinsam mit Meineke Droppel habe er Heinrich Droppel letztes Jahr einen Gaul vergiftet, darüber sie beide gerahtschlaget[,] vrsach[,] das ehr goerten ein landt nicht zu nutzen gepflogget, bei dem hagedorn, ahn dem tweswege vndt droppel Meineken ein landt ahn der Eyler seitt abgenommen; dem Smalen habe er ein Pferd vor 20 Jahren vergiftet, weil er ihn geschlagen habe. Das Gift habe sein Buhle saphirken auf dem Misthaufen vor Smalens Haus gestreut. Das Gerichtspersonal fordert ihn auf, weitere Details über seine Schadenszauberpraktiken und Komplizen zu nennen. Goert gesteht, das ehr anfangs nicht hatt kemen [sc. bekennen] wollen[,] sagt ehr, habe ihm sein saphyrken verbotten, das ihme ihn dieser stunde, ihn dem busen gesessen, darnach auch ihn dem nacken. Der Tanzplatz sei bei der Sandkuhle auf dem Wasserplatz und an der Linde; wenn er gerufen werde, habe er sich mit schwarzer Materie den Kopf eingeschmiert, ob er es thuen mogen oder nicht. Er sei auf einem Ziegenbock mit Hörnern dahingeflogen, die ihm sein Buhle vor die Mohlen gebracht oder sunst da ehr seine herberge gehabtt habe. Die Tanzgesellschaft habe auf einer lienen von knutten kaffen bei der Sandkuhle rückwärts getanzt; diese Linie sei an dem Ende einer Eiche vnter heerr drosten Wilhelm Jobst Westphalen gottseligh lusthauße und das andere Ende an einer Eiche ihm hinter hoffe ahm Nüllberge gebunden gewesen. Der Obrist auf dem Tanzplatz heiße Federbusch, den sie mit gnediger heer haben ansprechen müssen; man habe ihn auf das Gesäß geküsst vndt so einer zu spätt auff den dantzplatz kommen, hatt ehr [einen] geschlagen midt glowigen streichen. Auf dem Hexensabbat wehe eine Fahne mit einem schwarzblauen und gelben Zeichen, auf dem eine Krähe oder Rabe gewesen sei. Nr. 3: Prozessakte der Liese Böddeker, 1658 (HS 117 unfol., Brenken) Das erste Geständnis vom 15.07.1658: Ihre Mutter habe ihr die Zauberkunst gelehrt und sie gezwungen, daß sie die [auch] Lehren müßen, im Hof bei Griepshagen unter einem Apfelbaum, weil sie nicht genug gethan habe; Liese sei drei Schritte zurückgetreten und habe Gott und Jesus verleugnet. Schließlich sei der Teufel in Mannsgestalt gekommen, mit dem sie sich geschlechtlich vermischt habe, der Geschlechtsakt sei aber kalt wie Eis gewesen. Nach dem Beischlaf habe ihr der Teufel einen Dukaten gegeben, den sie ihrer Mutter zur Verwahrung gegeben 516 A Quellenauszüge habe. Ihr Buhle heiße Releke und sei zuletzt vor sieben Wochen bei ihr gewesen. Der Tanzplatz der Hexensekte sei auf dem Eilerberg, auf der Körtige und an der wünnenbergischen Linde; Liese komme dahin den Ersten Donnerstag[,] [um] Im newen lichte zu tantzen, wehre weiß Laken gespreedt vndt darunter Linnen[,] worauff sie Lincks herumb tantzen[,] waß sie Eßen vndt trincken sey wie windt vndt waßer, sie sey schüßelwescherin[,] müße die becken waschen vndt wider beysetzen in einen korb [...]. Nachdem sie ihre Tanzgenossen besagt und den Schadenszauber bekannt hatte, berichten die Wächter (wahrerß), dass Liese zu ihnen gesagt habe, dass sie vor ungefähr acht Jahren in Dietherich Wittkops Haus in der Spinnstube gewesen sei und Bina, Gretha Mentzen, Diehterich und seine Frau Margaretha Brielohn hätten zu ihr gesagt, sie solte stillschweigen vndt nichtes Melden[,] woh sie gewesen, wofern sie daß thuen würde, wolten sie Ihr einen hagewiependorn durch den hindern ziehen; Im gleichen alß sie Liese wegen deß zeugen[,] deme sie den Käse geben[,] im Zehendthauße geseßen vndt wider darauß kommen vndt Nach haußgangen, hette ihr Diethrichs fraw Margretha kalbfleisch in einem zinnen becken über den Zaun gereicht vndt gesagt[,] sie müßte daß gedültich Leiden[,] solte stillschweigen, nach dem dieses Liesen vorgehalten[,] sagte die Ja[,] daß wehre wahr. Das zweite Geständnis vom 19.07.1658: Liese beschreibt den Teufelstanzplatz genauer. Der oberste Tanzführer habe eine glühende Schweppe, der sie treibe und hette sie damit geschlagen, weil sie nit wol mehr fordt kommen können, habe Ihr so weh gethaen, daß eß Ihr durch alle glider gangen; Sie müssten vor dem obersten Teufel Niegen vndt bugen vndt Rückwertz große Reverenty anthuen; Zusätzlich müssten die Hexen und Hexer dem Teufel opffern Recht Natürlich guet geldt, vngefehr vmb festabendt vndt Meytag; Liese habe ihm ein halbkopstücke uff einen schwartzen thuech so dartzu außgespreedt geopfert, habe es aber nur dieses eine Mal getan und sonst kein Geld geben wollen. Der Teufel verspreche ihr, sie zu erhalten[; ] solches sey aber erlogen, dan den vorigen abendt, alß sie des andern Morgens angegriffen, wehre der böse feindt vor der thuer auff der Mißten bei sie kommen vndt Ihr versprochen, wan sie schoen würde angegriffen, wolte er sie erhalten, daß sie Ihrem Man woll wider heimbkommen solte, Maßen sie daß daraufff den Morgen Ihrem Manne zugeruffen, Heinemann, Ich will [als] eine fromme fraw auch wider heimbkommen, aber der deuffel hette Ihr daß alß ein faß der lügen, fürgelogen vndt sie betrogen wie ein schelm. Wenn die Hexengesellschaft auf dem Tanz esse, werde eine Tafel auf boben Erden gemacht, die rund sei und mit blauen Teppichen belegt, die Leuchter würden bläulich scheinen. Der Teufel warte mit seinen Gesellen, habe schwarze samtene Kleider an und hette große schwartze gläntzende augen; das Essen werde mit einer Kutsche gebracht, die von sechs oder acht Rappen gezogen werde. Nach gehaltenem Mahl vermische sich jeder mit jedem geschlechtlich. Der Geschlechtsakt sei kalt und nicht natürlich sowie stinkend; sagte weiter[,] daß sie der böse feindt, da er sie wieder heimbführen wollen[,] zwey mall fallen [ge]laßen [hat][,] auß vrsachen[,] daß sie seinen willen nicht mehr thuen können, vndt zwarer Einmahl von Beyers busche, da er sie A Quellenauszüge 517 In der Heßengrundt fallen laßen[,] von demen sie heimgehen müßen; Item Einmahl beym Elerberge da sie vmb Mitternacht heimbkommen, vndt da Ihr Man sie gefragt[,] woh sie gewesen[,] daß sie so späet heimbkeme, hette sie zu dem gesagt, wehre zu Helmern gewesen vndt Grallen Jespern gemahnedt, welcheß sie aber gelogen, vndt were wol 3. wochen bettlägerich gewesen. [...] Verkündung des „Endlichen Rechtstages“ am 20.07.1658: Liese hat in Gegenwart des Hexenkommissars Antonius Bergh, des Gerichtsschreibers Christoph Hibigen und der Schöffen Jacob Blinden und Levin Thelen ihre Aussage noch einmal bestätigt. Sie wolle darauf leben und sterben, habe auch keinem Menschen Unrecht getan noch jemanden aus Hass oder Neid besagt; Sie wolle nun das hl. Sakrament empfangen und am Jüngsten tage die Hrrn. Commissarien vndt daß gantze gericht deßhalber, daß Ihr kein vnrecht geschehen, Noch denen so sie besagt geschehen würde, vor Gott verandtworten vndt vertretten, Maßen zu deßen bestettigung einem Jeden die handt geben, midt contritem hertzen die handt gedrücket vndt sich bedanket, daß sie durch deren Embsigen fleiß Nuhnmehr auß des deuffels banden erretet vndt erlediget, vndt dabey gebeten, daß wier alle, wie auch der Hrr. pastor auff Morgen vff der cantzell öffentdtlich für sie bitten wolten, damit sie Gott wiederum zu Gnaden auff vndt annehmen, dabey erhalten vndt die Ewige säligkeit geben möchte, worauff dem Hrr. pastor vmb sie zu trösten [...] erlaubt. Nr. 4: Prozessakte des Meineke Brielohn, 1659 (HS 117 unfol., Brenken) Indizienkatalog, undatiert, ca. Anfang Juni 1659: 1. Sei von Cordt Henckel auf Johann Peters haußböhren für ein Werwolf gescholten worden; darauf habe Meineke gesagt: deßen solle er Ihme die handt geben, welches er auch gethaen, midt dem anhang[,] weil Ihme daß gantze dorff für einen wehrwolff hielte, alßo hielte er Ihme auch dafür, darüber der diffamatus nicht geklagt. 2. Als Meinekes Frau Enneke Levin Thelen bei Flachsarbeiten geholfen habe und deß Morgenß Eßenß Zeit worden, habe sie öffentlich gesagt, sie müsse Heim zu ihrem Teufel von Mann und was zu Essen geben; 3. So soll auch seine Mutter[,] Gretha Schulß[,] mit dem Zaubergerücht behaftet sein; 4. Sei von der hingerichteten Hinte Engel am 18.06.1658 denunziert worden; 5. Es sei auch ein Dorfgeschrei entstanden, als viele Esel im Dorf von Wölfen zerrissen worden seien; er sei damit auch beschuldigt worden, habe es aber niemals verteidigt; 6. Als über seine Tante Agatha Brielohn Indizien gesammelt wurden vndt er Meineke darüber zur information citiert, er nicht erschienen, sondern Ohne Einig gegeben vrsach flüchtigen fuß gesetzt. Dieses Verhalten sei offenkundig; 7. Als schaumburgische Abgesandte nach Fürstenberg gekommen waren und die Dorfbewohner meinten, es seien die Hexenkommissare, soll er deß abendts über die Zaune gesprungen sein, wie solcheß im dorff ein gemeine sage worden. 518 A Quellenauszüge Geständnis vom 10.06.1659: Auf Befehl des Hexenkommissars Antonius Bergh examinieren die Schöffen Levin Thelen und Jacob Blinden sowie der Gerichtsschreiber Christoph Hibigen Meineke Brielohn und drängen ihn, in Güte zu bekennen. Ohne Anwendung der Tortur bekennt er, dass seine Mutter ihm das Zauberlaster beigebracht habe, als er noch minderjährig war; sie habe ihm am Feuer etwas zu Essen gegeben, welches er im bösen Namen habe essen sollen. Nach dem Mahl habe sie ihm links auf die Stirn ein Kreuz im bösen Namen gemacht und er habe drei Schritte zurücktreten und Gott verleugnen müssen. Seine Mutter habe ihn ermahnt, allen Leuten Mißgünstig [zu] sein vndt nichtes gutes [zu] gönnen, so solte er sein Lebtag kein Noht haben [...]. Danach sei der böse Feind in Menschengestalt auf der Diele erschienen, alß wanß eine Jungffer wehre, welchem er anhangen sollen, wehr auch ein gespenst kommen[,] alß wan eß voll Katzen auff der delle. Nach dieser Aussage tritt der Rechtsgelehrte an Meineke heran und ermahnte ihn, noch einmal gütlich zu bekennen. Meineke antwortet wie zuvor: Es sei seine Mutter beim Feuer gewesen; sie habe ihm einen Apfel gegeben, den er in Teufelsnamen habe essen müssen; er sei zu diesem Zeitpunkt ungefähr sieben Jahre alt gewesen. In solchen fragen hadt er sich in Ein vndt andern winkel vmgesehen[,] alß wen er da etwaß sehe, darauff Hrr. Commisarius gefragt, wie er sich so vmbsehe, waß er sehe; Darauff er geantwortet, sey der böse feindt gewesen, der an die Nase gekloppet, solte nicht reden, Maßen er deß zeigte. Danach werden ihm die Augen zugebunden und gefragt, wie sein Buhle heiße, sagt: Agatha hette ihm ein bant wie Liberey gegeben, weiß[,] sey nicht Lange vff dem huet geblieben[,] vngefehr ein halben tag[,] sey vngefehr 10 oder 12 Jahr alt gewesen[,] alß er zum Erßten mal bulirt, so Ihm vffm den balken dartzu angereitzt. Er sei auf auf einem schwarzen Gaul zum Hexensabbat gepflogen, der ihm sein Buhle gebracht habe. Nach seinen Aussagen zum Schadenzauber und getanen Denunziationen wird er noch einmal Ernßtlich erinnerndt vndt angemahnt. Meineke antwortet dem Hexenkommissar, er dürffe es nicht sagen[,] auß furcht[,] dan Ihmen die Hexen Oder deuffel schlagen würden. Weil die Hexengelehrten erkennen, dass keine gütliche Ermahnung mehr helfen oder früchten wollen, sei Meineke Bedenkzeit bis zum nächsten Nachmittag gegeben worden. Nr. 5: Prozessakte der Margaretha Stroeth, 1700 (Acta 102, Erzbischöfl. Akad. Bibl. Paderborn) Urgicht vom 18.11.1700, fol. 104: 1. Margaretha habe das Zauberlaster im Alter von zehn Jahren erlernt, Gott abgeschworen und sich dem Teufel zugewandt; 2. Sie habe sich seit dieser Zeit dem Teufel verschrieben und schändliche sodomitische sünde begangen und so die göttliche Majestät beleidigt. 3. Inquisitin habe teilweise sich selbst und ihren Nächsten Schaden zugefügt; 4. Dennoch habe ihr die ganze Zeit im sinn vnd gedancken Gott vorgestanden und sie habe Vieles nicht tun wollen. 5. Sie habe viel unter den Teufel gelitten, der ihr geraten habe sie sole sich im schüren busche an Einem baum selbsten auff hangen, da sie so große Sünden begangen habe, die ihr nicht A Quellenauszüge 519 vergeben werden könnten. Diese Gedanken hätten sie in große Verzweiflung gebracht; 6. Den Selbstmord habe sie nicht tun wollen und sei davon geeilt; 7. Der Teufel habe ihr so schwehre pressiones und Gedanken gemacht, dass sie geglaubt habe, er stehe hinter ihr und wolle ihr den Hals zerbrechen; 8. Habe ihr auch der Teufel iungst befohlen, ihr Haus in Brand zu setzen; 8. Als sie es habe tun wollen, aber dennoch nicht ausführen können, habe der Teufel sie so beängstigt vnd gepüelet, dass sie nicht hätte schlafen können vnd solches keinem Menschen klahgen[,] weniger hülffe oder trost suchen dürfen. 10. Sie habe es dennoch endlich der Agata Bauernburg, die bei ihr gewohnt habe, erzählt; 11. Margaretha habe mit dem Teufel dreißig Jahre in vnzucht vnd großen sünden gelebt. Die Sünden hätten ihr derart das Gemüt beschwert, dass sie niemahlen [von hertzen] lüstig sein können, sondern ihro alle Zeit im sin vnd gedancken gelehgen[,] sie würde in alle Ewigkeit verdammet werden [...].; 12. Wahr, dass Gott sie aufgrund ihrer Reue in das himmlische Reich aufnehme. Nr. 6: Prozessakte der Magdalena Scheiffer, ca. 1700-1703 (Acta 102, Erzbischöfl. Akad. Bibl. Paderborn) Urgicht, undatiert, fol. 129-130: 1. Habe das Zauberlaster erlernt, als sie noch klein war vnd in die schule gangen vnd eben lesen können. Sie sei in der Stube von ihrer leiblichen Mutter zur Zauberei verführt worden, indem sie Gott und seinen Engeln abgesagt und sich dem Teufel mit Leib und Seele ergeben habe; 2. Danach wäre ihr der Teufel in Gestalt eines Jungen in schwarzen Kleidern erschienen und ihre Mutter habe gesagt[,] er wer itzo Ihr bräutigamb, sie solte hinführo nicht[s] gutes thun vnd Immerhin boeßes gedencken[,] auch Ihme allein getrew seyn und habe mit ihm Unzucht treiben müssen; 3. Habe alle Zeit auf dem Tanzplatz erscheinen müssen, wohin der Teufel sie in eine Kutsche gefahren habe, alwo sich mit dem teuffel und Ihrem mitgespielen lustig gemacht vnd allerhand gotteslasterunge [und] auch sodomitische sunde begangen. Nach dem Tanz habe sie ihr Buhle in einer Kutsche nach Hause zurückgebracht; 4. Sie sei alle Zeit ihrem Buhlen treu ergeben gewesen, dahero sie auch vor Zehn Jahren von demselben Zur Königin gecrönt worden. 5. Habe dem Gericht all ihre Komplizen namentlich genannt, so gar auch Ihren König [...]. Nr. 7: Prozessakte des Johann Grothen, ca. 1700-1703 (Acta 102, Erzbischöfl. Akad. Bibl. Paderborn) Undatierter Indizienkatalog, fol. 137: [...] 6. Wahr, dass Inquisiti Großmutter Catharina und ihr Bruder Jobst Grothen mit der Beckerschen Grothen verwandt gewesen seien; 7. Wahr daß alle groten[,] so der besagten beckerschen ver[wandt] gewesen[,] deß Zauberlasters von geschlechte zu ge[schlechte][,] woll von manß alß frawen seithen[,] beruch[tiget] [gewes]en seyn. 8. Wahr, dass seiner Mutter Schwester, Lieseke vulgo Huffs Lieseke (Enneke), siebenmal von den hingerichteten Personen besagt worden sei [...]; 10. Inquisitus selbst sei auch von sieben Personen denunziert 520 A Quellenauszüge worden; 11. Sein Großvater Piccard Schlunß und seine Großmutter Catharina Grothen, Jobst Grotens Schwester, seien der Hexerei halber verdächtigt gewesen und Hermann Böddeker, Vater des Hans Böddeker, habe Inquisitus in Verdacht gehabt, ihm mehrere Pferde vergiftet zu haben; 12. Dieser Verdacht sei durch seine Abstammung von einem Hexengeschlecht verstärkt worden; [...] 14. Seine Großmutter, sein Großvater und auch der Bruder der Großmutter, Jobst Grothen, seien der Zauberei halber verdächtig gewesen. B Kataster 522 B Kataster Tabelle B.1: Kataster 1672 Name Kley Grudt und Wiesen Kämpe Garten Summe an Land Wildland Kohlhof Land (ohne Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. u. in Mg. in Mg. gardt Jacob Blinden 46,0 28,0 8,0 1,0 83,0 Levin Thelen 60,0 17,0 1,5 1,0 79,5 Dietherich Osterwalt Erben 30,0 36,0 3,0 2,0 71,0 Tonnieß Vahlen 26,0 32,0 6,0 1,5 65,5 Jaspar Schmett = Johan Henkel 21,0 31,0 2,0 3,0 57,0 Johan Gotschalck 22,0 30,0 3,0 1,5 56,5 Christoff Wegener 28,0 16,0 2,0 0,5 2,0 48,0 Meiniken Dröppel 26,0 19,5 2,0 0,5 48,0 Jobst Schlunß 20,0 24,0 2,0 2,0 48,0 Meinike Ludiken 20,0 25,0 2,0 1,0 48,0 Herman Papen 17,0 26,0 2,0 2,0 47,0 Hanß Jorgen Schiller 17,0 26,0 2,0 2,0 47,0 Jobst Kuyidt 20,0 22,0 2,0 0,5 44,5 Christoff Hibigen 20,5 19,0 3,0 0,5 1,0 43,5 Johan Papen 15,0 25,0 2,0 1,0 43,0 Tonnies Ruter 15,5 23,0 3,0 1,5 43,0 Engelbracht Scheiffer 22,0 16,0 1,0 2,0 41,0 Meiniken Mollers Wittib 15,0 23,0 2,0 1,0 41,0 Heinrich Vahlen Erben 17,0 20,0 2,0 0,5 1,0 40,0 Johan Huniken Wittib 16,0 20,0 2,0 0,5 1,0 39,0 Heinrich Droppel W. 16,0 21,0 2,0 0,5 39,5 Fortsetzung auf nächster Seite B Kataster 523 Tabelle B.1 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name Kley Grudt und Wiesen Kämpe Garten Summe an Land Wildland Kohlhof Land (ohne Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. u. in Mg. in Mg. gardt Cesting Schweins Erben 14,0 20,0 2,0 1,5 37,5 Ludowich Droppel 27,0 8,0 1,0 0,5 36,5 Berent Joß Voß 15,0 17,0 1,0 2,0 35,0 Heinrich Schweins Erben 8,0 24,0 2,0 1,0 35,0 Tonnies Ludewich 16,0 17,0 1,0 1,0 35,0 Henrich Friedrich Herdeh Erben 15,0 16,0 2,0 1,5 34,5 Engelbracht Telman 15,0 15,0 2,0 2,0 34,0 Caspar Voß 12,0 18,0 2,0 1,5 33,5 Jobst Ruter 12,0 16,0 3,0 2,0 33,0 Heinrich Stufer 12,0 16,0 3,0 2,0 33,0 Jaspar Koch senior Wittib 10,0 20,0 1,0 1,0 32,0 Cesting Meyer 6,0 24,0 1,0 1,0 32,0 Caspar Henniken 14,0 15,0 2,0 1,0 32,0 Johan Konnigesbeck 13,0 15,0 2,0 1,0 31,0 Heinrich Scheiffer 13,0 15,0 2,0 1,0 31,0 Peter Nottebaum 14,0 14,0 0,5 1,0 29,0 Frederich Tonsor 7,0 20,0 1,0 0,5 28,5 Caspar Blinden 12,0 14,0 1,0 1,0 28,0 Jaspar Koch jun. 11,0 14,0 2,0 1,0 28,0 Johan Heinrich Tepeln 9,0 17,5 1,0 27,5 Friederich Scheiffer 17,0 8,0 2,0 0,5 27,5 Hanß Schetter 8,0 18,0 1,0 27,0 Fortsetzung auf nächster Seite 524 B Kataster Tabelle B.1 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name Kley Grudt und Wiesen Kämpe Garten Summe an Land Wildland Kohlhof Land (ohne Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. u. in Mg. in Mg. gardt Levin Blinden 11,0 15,0 1,0 27,0 Johan Caspar Wahlen 9,0 15,0 2,0 1,0 27,0 Dieverich Schutten 10,0 14,0 1,0 1,0 26,0 Christian Strodt 8,0 16,0 1,0 0,5 25,5 Josias Schmelberg Wittib 15,0 8,5 1,0 1,0 25,5 Ebert Wulff 15,0 8,0 1,0 1,0 25,0 Heinrich Thomaß 7,0 17,0 1,0 25,0 Franz Schimpff 7,0 14,0 4,0 25,0 Heinrich Neukirch Jun. 13,0 10,0 1,0 1,0 25,0 Zagarias Schlunß Erben 10,0 10,0 3,0 0,5 1,0 24,0 Meinike Boddiker 10,0 12,0 1,0 0,5 1,0 24,0 Johannes Ruter 6,0 16,0 1,0 0,5 1,0 24,0 Stoffel Schomacher 5,0 17,0 1,0 1,0 24,0 Heinrisch Schluters Wittib 9,5 14,0 0,5 24,0 Adam Wegener 10,0 12,0 1,0 0,5 23,5 Caspar Koch 5,0 15,0 2,0 1,0 23,0 Ludowich Buschmeyerß Erben 6,0 15,0 2,0 23,0 Diederich Weckens Wittib 7,0 14,0 1,0 0,5 22,5 Johan Hoppen Wittib 7,0 14,0 1,0 0,5 22,5 Meinike Dornn Wittib 7,0 13,0 2,0 0,5 22,5 Jorgen Jungeblodt 6,5 13,5 1,0 1,0 22,0 Johan Koster 6,0 13,5 1,0 1,0 21,5 Fortsetzung auf nächster Seite B Kataster 525 Tabelle B.1 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name Kley Grudt und Wiesen Kämpe Garten Summe an Land Wildland Kohlhof Land (ohne Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. u. in Mg. in Mg. gardt Ludowich Thomaß 10,0 11,5 21,5 Heinrich Neukirch sen. 9,0 10,5 0,5 1,0 21,0 Cordt Wecker 5,0 15,0 1,0 21,0 Jost Hunike 6,0 10,0 2,0 2,0 20,0 Daniel Tonsor 5,0 14,0 1,0 20,0 Tomaß Viehuß 11,0 7,0 1,0 0,5 19,5 Johan Scheiffer sen. 6,0 10,0 2,0 1,5 19,5 Heinrich Scheifer Junio 8,0 11,0 0,5 19,5 Johan Nolten Wittib 7,0 10,0 1,0 1,0 19,0 Jaspar Schweins 6,0 12,0 1,0 19,0 Jaspar Groten Wittwe 8,0 8,0 2,0 1,0 19,0 Joahn Vodtlender 10,0 7,0 1,0 18,0 Tonnies Bockeln Erben 4,0 12,0 1,0 0,5 17,5 Johan Droppel 5,0 10,5 1,5 0,5 17,5 Gerhardt Storck 7,0 8,5 1,0 1,0 17,5 Jacob Jungeblot 6,0 9,0 1,0 1,0 17,0 Johan Arent Soehagen 6,0 10,0 1,0 17,0 Johan Henckeln 6,0 10,0 1,0 17,0 Steffen Fleckenkamp 4,0 10,0 1,0 1,0 16,0 Jobst Wegener 5,0 11,0 16,0 Marten Bielefeldt 7,0 7,0 1,0 1,0 16,0 Jacob Schmeders Wittib 2,0 12,5 1,0 0,5 16,0 Fortsetzung auf nächster Seite 526 B Kataster Tabelle B.1 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name Kley Grudt und Wiesen Kämpe Garten Summe an Land Wildland Kohlhof Land (ohne Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. u. in Mg. in Mg. gardt Herman Nüten 7,0 7,5 1,5 16,0 Johan Osterwalt W. 5,0 9,0 1,0 0,5 15,5 Jacob Stromer 5,0 10,0 15,0 Johan Scheiffer jun. 5,0 9,0 0,5 14,5 Viedt Mollers Wittib 5,0 9,0 14,0 Herman Sudthoff/ Judthoff 3,0 10,0 1,0 14,0 Heinrich Clauß 11,0 1,3 1,0 13,3 Franß Schmett 3,0 8,0 1,0 1,0 13,0 Meinike Bangen 2,5 8,5 1,0 0,5 12,5 Steffen Wanß 4,0 6,5 1,0 0,5 12,0 Johan Koch sen. 5,0 6,0 1,0 12,0 Johan Schmeders Wittib 5,0 6,5 0,5 12,0 Johan Clauß 4,0 6,0 1,0 0,5 11,5 Johan Peters 2,0 8,0 1,0 0,5 11,5 Borries Möllers Erben 4,0 6,0 1,0 11,0 Jaspar Erlameyer 4,0 6,0 1,0 11,0 Wilm Schmett 4,0 6,0 1,0 11,0 Johan Schweins Erben 4,0 4,5 2,0 0,5 11,0 Greta Meyers Erben 5,0 6,0 11,0 Heinrich Kroger 3,5 5,0 1,0 1,0 10,5 Jobst Erlanmeyer 4,5 6,0 10,5 Herman Godden 3,0 6,0 1,0 10,0 Fortsetzung auf nächster Seite B Kataster 527 Tabelle B.1 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name Kley Grudt und Wiesen Kämpe Garten Summe an Land Wildland Kohlhof Land (ohne Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. u. in Mg. in Mg. gardt Hanß Letticus 4,0 6,0 10,0 Heinrich Wulff 5,0 5,0 10,0 Adam Kesperboms Erben 6,0 4,0 10,0 Marten Wegener 3,0 5,0 1,0 1,0 10,0 Cordt Kiefen 3,0 4,0 1,0 1,0 9,0 Heinrich Scheiffer sen. 3,5 5,5 9,0 Tonnies Platfuß 3,5 5,0 0,5 9,0 Johannes Papen 5,0 3,5 8,5 Johan Gerdt Schulten 3,0 3,5 0,5 1,0 8,0 Lubbert Schweins 3,0 4,0 1,0 8,0 Johan Hopper 2,0 6,0 8,0 Jobst Neukirch 8,0 8,0 Johan Jost Bodiker 3,0 3,0 0,5 1,0 7,5 Michel Topf 2,0 4,0 1,0 0,5 7,5 Jorgen Hopper 3,0 4,0 0,5 7,5 Reinhart Trompeter 6,0 1,5 7,5 Meinike Schmettt 5,5 1,0 0,5 7,0 Diederich Keller 1,5 5,5 7,0 Tonnies Papen Wittib 2,0 5,0 7,0 Tonnies Schweins 3,0 4,0 7,0 Garlag Mennen Wittibe 4,0 3,0 7,0 Johan Walters 2,0 5,0 7,0 Fortsetzung auf nächster Seite 528 B Kataster Tabelle B.1 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name Kley Grudt und Wiesen Kämpe Garten Summe an Land Wildland Kohlhof Land (ohne Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. u. in Mg. in Mg. gardt Cordt Finnen 2,0 3,0 1,5 6,5 Tonnieß Hußknecht Erben 2,0 3,0 1,0 6,0 Jacob Wahlen Erben 3,0 1,5 1,0 5,5 Tonnies Richter 2,0 2,0 1,0 0,5 5,5 Herman Richters 4,0 1,0 5,0 Joachem Schmett 5,0 5,0 Cordt Feinde Getz Erben 2,0 3,0 5,0 Stoffel Hußknecht 3,0 1,0 4,0 Johan Sprenger 3,0 1,0 4,0 Johan Schweins Jun. 4,0 4,0 Hanß Heinrich Gockeln 1,0 1,0 1,0 3,0 Steffen Wietfelt 3,0 3,0 Hans Kobely 3,0 3,0 Lodewich Manuell 2,0 2,0 Diederich Kempers Wittib 2,0 2,0 Heinrich Bodekers Wittwe 2,0 2,0 Herman Prangen 1,0 1,0 2,0 Paul Tertz 1,0 1,0 Johan Füstes Erben itzo 0,0 Tabellenende B Kataster 529 Tabelle B.2: Kataster 1684 Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Johan Jost Blinden 49,5 57,5 3,5 10,5 121,00 Caspar Drüppel 29,5 54,0 11,0 1,5 7,5 103,50 Johannes Henckeln 18,0 52,0 5,5 3,0 8,0 86,50 Ludowig Wegener 33,0 31,0 5,0 6,5 75,50 Friederich Thelen 20,5 45,5 3,0 1,0 2,0 0,25 Mg. 72,00 Johan Gottschalck 10,0 47,5 1,5 2,5 8,0 3,50 Mg. 69,50 Henrich Vahlen Sen. 10,5 43,5 4,0 2,5 7,5 0,50 Mg. 68,00 Thönieß Luodwig 2,0 46,0 7,0 2,0 3,5 60,50 Ewerd Wulff 3,5 52,5 1,0 3,5 1,00 Mg. 60,50 Herman Höring 11,5 41,0 3,5 2,0 1,0 59,00 Pickhard Schlunß 11,5 39,0 3,0 4,5 58,00 Gerhard Koch 8,0 39,0 5,0 1,5 4,0 57,50 Hanß Jürgen Schillers W. 16,0 24,5 12,5 2,0 55,00 Elmerhaus Sauren 5,5 39,0 5,0 1,0 1,0 51,50 Johannes Voglen 5,5 38,0 2,0 5,0 50,50 Meineke Dröppel 13,0 28,0 1,5 5,0 47,50 Johan Papen Senior 5,0 25,0 11,0 1,0 3,5 45,50 Friederich Vahlen 3,0 33,0 1,5 1,5 5,5 44,50 Henrich Scheiffer 2,0 37,5 2,0 3,0 44,50 Johan Kieß 8,3 34,0 0,5 42,75 Ludowig Drüppel 9,5 29,5 1,0 1,5 1,0 42,50 Fortsetzung auf nächster Seite 530 B Kataster Tabelle B.2 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Herman Papen 10,0 28,5 1,5 2,0 3,00 gardt 42,00 Levin Blinden 3,0 36,0 1,0 2,0 42,00 Jesper Kepper 37,5 1,5 3,0 42,00 Johan Volmer 13,5 24,5 1,0 2,5 41,50 Henrich Schweins 10,0 25,5 2,0 1,0 2,0 40,50 Christian Königsbeck 7,0 30,5 2,0 1,0 40,50 Wilm Otto Landaw 10,5 19,0 5,5 3,0 38,00 Henrich Kalbes 10,0 19,5 7,0 0,5 1,0 1,00 gardt 38,00 Ludowig Buschmeyer 4,0 29,0 1,5 0,5 3,0 38,00 Johan Claus junior 4,0 28,5 1,0 3,5 37,00 Johan Henrich Redeker 1,5 29,5 2,0 0,5 3,0 36,50 Frans KüterRüter (? ) 3,5 26,0 2,5 1,5 2,0 35,50 Thiederich Schüren 3,0 27,5 3,0 1,0 1,0 35,50 Fritz Tonsor 26,0 2,0 6,0 34,00 Johan Dröppel 21,0 8,5 1,5 2,0 33,00 Johan Scheiffer Schulte 7,0 17,5 4,0 1,5 2,0 32,00 Friedrich Schweins 2,5 25,0 2,0 1,0 1,0 31,50 Christoph Hibigen 6,0 12,0 10,0 2,0 1,5 1,50 Mg. 31,50 Berend Jost Voß 7,0 20,5 2,0 1,0 30,50 Burchard Schmiedt 6,0 13,5 7,5 1,5 2,0 30,50 Henrich Henneken 17,0 10,5 1,0 2,0 30,50 Thiederich Voß 6,0 17,0 0,5 6,0 29,50 Fortsetzung auf nächster Seite B Kataster 531 Tabelle B.2 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Daniel Tonsor 3,0 14,5 10,0 0,5 1,5 29,50 Jost Schlunß 3,0 23,5 1,0 2,0 29,50 Johannes Reuter 24,0 3,0 1,5 1,0 29,50 Peter Nuttebaum 20,0 4,5 3,0 1,5 29,00 Johan Wilm Schlunß 8,5 14,5 1,0 4,0 28,00 Jost Wegener senior 4,5 17,0 3,0 1,0 2,0 27,50 Jesper Scheiffer 10,0 10,5 1,5 5,0 27,00 Johan Wilm Neukirchen W. 7,5 17,5 2,0 27,00 Johan Caspar Wahlen 3,0 20,0 2,0 0,5 1,5 27,00 Caspar Vierfoet 1,5 18,0 6,0 1,0 26,50 Johan Köster 3,0 19,0 2,0 1,0 1,0 26,00 Henrich Storcken sen. 4,5 16,5 1,0 3,5 25,50 Stefan Fleckenkamp 4,0 14,5 3,0 1,5 2,5 25,50 Friedrich Freitag 1,5 20,5 2,5 1,0 1,00 Mg. 25,50 Jost Grothen 15,0 8,5 1,0 1,0 25,50 Johan baptista Werner 6,5 15,5 1,0 1,0 1,0 25,00 Johan Scheiffer sen: 4,0 10,5 5,0 1,0 4,0 24,50 Gerdt Storck 21,5 0,5 2,5 24,50 Thönies Wietfelt 20,0 3,0 1,0 24,00 Hartman Mertins 5,5 16,5 1,0 23,00 Jost Schlüter 4,0 17,5 1,0 0,5 23,00 Johan Scheiffer W. 21,5 1,0 0,5 23,00 Fortsetzung auf nächster Seite 532 B Kataster Tabelle B.2 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Johan Blinden 8,0 9,5 0,5 5,0 1,50 gardt 23,00 Johan Schimpf 6,0 12,0 4,0 0,5 22,50 Caspar Henniken W. 5,0 6,5 8,0 1,0 2,0 22,50 Meineke Bödiker 15,0 6,0 0,5 1,0 22,50 Henrich Vahlen Junior 7,0 10,0 5,0 0,50 Mg. 22,00 Burckhard Koch 5,0 13,0 2,0 0,5 1,5 22,00 Thönies Rinschen 2,0 15,8 3,0 1,0 21,75 Frans Schimpff 4,0 13,0 2,0 2,5 21,50 Hariß Jurgen Deken 3,0 18,0 0,5 21,50 Johan Scheiffer 2,0 17,5 1,0 1,0 21,50 Thönieß Hagen 1,0 8,0 10,0 1,5 1,0 21,50 Henrich Stüwers W. 8,0 3,0 7,0 3,0 21,00 Johan Jost Grothen 3,5 13,5 1,0 3,0 1,00 Mg. 21,00 Steffan Gans 2,0 16,5 1,5 1,0 0,25 Mg. 21,00 Stoffel Schomacher 8,0 11,0 1,0 1,0 21,00 Meineke Meyer 15,0 3,0 1,0 2,0 21,00 Johan Isenborg 3,0 14,5 3,0 20,50 Thönies Möller 15,5 5,0 20,50 Johan Henrich Bödiker 9,5 9,5 1,0 0,5 20,50 Ludowi Wolff 3,0 13,5 1,0 3,0 20,50 Liborius Tröster 5,0 12,8 1,0 1,8 20,50 Johan Osterwalt 11,0 6,0 1,0 2,0 20,00 Fortsetzung auf nächster Seite B Kataster 533 Tabelle B.2 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Johan Höpper 10,0 8,5 1,5 20,00 Thönieß Schweinß 1,5 14,0 1,5 1,5 1,5 20,00 Jacob Strömer 3,5 14,0 1,0 1,0 19,50 Jost Schmelter 2,0 14,5 1,0 2,0 19,50 Thönies Kemper 3,0 13,5 0,5 2,0 19,00 Jost Wegener jun. 14,0 2,0 1,0 2,0 19,00 Johan Voetländer 8,3 6,0 3,5 1,0 18,75 Henrich Vahlen 3,0 14,0 1,5 18,50 Johan Ebert Saurhagen 2,0 7,0 7,5 1,0 1,0 18,50 Johan Grohten 1,0 16,5 0,5 0,5 18,50 Jacob Koch 15,0 1,0 1,0 1,5 18,50 Herman Bödiker 11,5 4,0 1,5 1,0 18,00 Jacob Schlüter 2,0 13,0 0,5 2,0 17,50 Frans Schmiedt 1,5 6,0 7,5 1,0 1,0 17,00 Thönies Krick 1,0 6,0 2,5 1,5 6,0 17,00 Herman Claus 14,0 1,5 1,0 0,5 17,00 Engelbracht Scheiffers w. 10,5 5,0 1,0 16,50 Kersting Schimpf 3,5 9,5 1,0 2,5 16,50 Thiederich Keller 15,5 1,0 16,50 Engelbracht Scheifferß Erben 4,0 9,5 2,0 1,0 16,50 Ludowig Thomaß 2,0 14,0 16,00 Gördt Hencken W. 11,5 4,5 16,00 Fortsetzung auf nächster Seite 534 B Kataster Tabelle B.2 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Johan Voß 11,5 2,5 1,0 1,0 16,00 Cordt Finnen 9,0 2,0 2,0 2,0 1,0 16,00 Levin Valen 4,5 10,0 0,5 1,0 16,00 Jost Neukirchen 13,0 2,5 15,50 Franz Gödden 1,5 12,5 1,3 15,25 Herman Möller 3,0 11,0 1,0 15,00 Hanß Letticus W. 1,0 13,5 0,5 15,00 Stoffel Daniel 14,0 1,0 15,00 Thönieß Papen W. 7,5 5,5 1,0 1,0 15,00 Johan Jost Sauren 7,5 6,5 1,0 15,00 Johan Henrich Tepeln 1,5 12,0 1,0 14,50 Adam Meyer 1,5 8,0 4,0 1,0 1,00 Mg. 14,50 Jörgen Kröger 3,0 6,5 2,0 1,5 1,0 14,00 Ludowig Jungebloht 1,0 13,0 14,00 Jost Louiffkötter 12,5 0,5 1,0 14,00 Caspar Voßeß W. 3,0 9,0 1,0 0,8 13,75 Henrich Nüten 9,0 3,0 0,5 1,0 13,50 Thönieß Plottfoet 11,0 1,5 1,0 13,50 Jost Scholandt 10,5 1,0 1,0 1,0 13,50 Stoffel Koch 9,0 4,0 0,5 13,50 Berendt Jost Vort 3,5 2,0 6,0 0,5 1,0 13,00 Johan Scheiffer Peisch 3,0 9,5 0,5 13,00 Fortsetzung auf nächster Seite B Kataster 535 Tabelle B.2 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Ludowig Schmelter 3,0 9,5 12,50 Kesting Hilleken 12,0 0,5 12,50 Johan Claus Senior 10,5 1,0 0,5 0,5 12,50 Adam Schimpff 2,0 6,5 2,0 0,5 1,0 12,00 Thönies Küter Rüter 4,0 4,5 1,0 1,0 1,0 11,50 Herman Schmiedt 8,5 3,0 11,50 Jost Erlmeyer 11,0 11,00 Johan Sprenger 9,0 1,0 1,0 11,00 Otto Sagenschnieken 1,5 8,5 0,5 10,50 Thiederich Österwalt 1,0 9,0 0,5 0,50 gardt 10,50 Johan Sagenschneider 7,0 1,5 2,0 10,50 Thönieß Richters 9,0 1,0 0,5 10,50 Johan Jost Küten 2,0 7,0 1,0 10,00 Burckhard Höpper 1,5 8,0 0,5 10,00 Meineke Schmiedt 5,5 2,0 0,5 2,0 10,00 Ewerd Möller 8,0 1,0 1,0 10,00 Pickard Möller 3,0 5,5 0,5 1,0 10,00 Thönies Wahlen 3,0 6,5 9,50 Caspar Blinden W. 1,0 7,0 0,5 0,8 9,25 Gretha Thomaß 3,0 6,0 9,00 Johan Vitius 1,0 6,5 1,5 9,00 Johannes Papen Junior 7,0 2,0 9,00 Fortsetzung auf nächster Seite 536 B Kataster Tabelle B.2 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Jost Wulff 7,5 1,0 8,50 Jörgen Scheiffer 8,0 0,5 8,50 Johan Gerd Schulten W. 7,0 1,0 0,5 8,50 Jacob Horstmanß W. 7,5 1,0 8,50 Berend Höring 7,0 0,5 1,0 8,50 Johannies Balven Erben 4,5 3,8 8,25 Thiederich Hilleken 1,0 7,0 0,50 Mg. 8,00 Staffel Wietfelt 7,0 1,0 8,00 Henrich Wietfelt 8,0 8,00 Eward Scheifferß W. 5,0 2,0 1,0 8,00 Maria Österwalt 4,0 4,0 8,00 Alhard Freytags Erben 2,0 4,0 1,0 1,0 8,00 Hanß Henrich Hueßknecht 1,0 4,5 1,0 1,0 1,00 Mg. 7,50 Jost Göddiken Böddiken? 4,5 2,0 1,0 7,50 Herman Koritzer 3,0 4,5 7,50 Niclaus Kicke 7,0 7,00 Adam Wegenerß Erben 5,0 2,0 7,00 Johan Jost Bödiker 6,0 1,0 7,00 Johan Arndeß 3,8 1,5 1,5 6,75 Anna Margretha Saurhagen 4,0 2,0 0,5 6,50 Herman Schwarten 5,0 0,5 1,0 6,50 Marcus Bruno 4,5 1,0 1,0 6,50 Fortsetzung auf nächster Seite B Kataster 537 Tabelle B.2 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Alkeid Koch 3,5 1,0 0,5 1,0 6,00 Henrich Lauffmom 4,0 1,5 5,50 Johan Witsteineß Erben 5,5 5,50 Jost Huneken W. 3,5 1,0 1,0 5,50 Ludowig Manuel 3,0 1,5 1,0 5,50 Thönies Ludeker 4,0 1,0 5,00 Henrich Voßebein 2,0 2,5 0,5 5,00 Adam Henrich Wegener 3,5 0,5 1,0 5,00 Johan Peterß 5,0 5,00 Levin Papen 1,5 3,0 4,50 Jost Thiederich Voß 1,5 2,0 0,5 4,00 Gerhard Schweinß 1,5 2,0 0,5 4,00 Johan Wietfelt 1,5 2,0 0,5 4,00 Johan Jost Hibigen 2,0 2,0 1,00 gardt 4,00 Johan Rabe Menge W. 2,0 2,0 4,00 Elisabeth Koch 1,0 1,0 0,5 0,5 3,00 Meineke Bungen 3,0 3,00 Agreta Schlüterß 2,5 2,50 Johan Hoppenheupt 2,0 2,00 Henrich Kösters 2,0 2,00 Catharina Rüterß 2,0 2,00 Johannies Balven W. 2,0 2,00 Fortsetzung auf nächster Seite 538 B Kataster Tabelle B.2 - fortgesetzt von vorheriger Seite Name 1. 2. 3. Gärten Wiese Kämpe Summe an Klasse Klasse Klasse Land gutes mittel unbe- (ohne Land bautes Kämpe) in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. in Mg. Henrich Hundertmark 1,5 1,50 Wilm Fischer 1,0 1,00 Thiederich Lesten 0,5 0,50 Tabellenende Band 18 Mathis Leibetseder Die Hostie im Hals Eine ›schröckliche Bluttat‹ und der Dresdner Tumult des Jahres 1726 2009, 200 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-208-8 Band 19 Sarah Bornhorst Selbstversorger Jugendkriminalität während des Ersten Weltkriegs im Landgerichtsbezirk Ulm 2010, 374 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-249-1 Band 20 Mark Häberlein, Christian Kuhn, Lina Hörl (Hg.) Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250-1750) 2011, 220 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-254-5 Band 21 Päivi Räisänen Ketzer im Dorf Visitationsverfahren, Täuferbekämpfung und lokale Handlungsmuster im frühneuzeitlichen Württemberg 2011, 370 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-255-2 Band 22 Jan Willem Huntebrinker »Fromme Knechte« und »Garteteufel« Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert 2010, 452 Seiten, 54 s/ w Abb., Broschur ISBN 978-3-86764-274-3 Band 23 Ulrike Ludwig, Barbara Krug-Richter, Gerd Schwerhoff (Hg.) Das Duell Ehrenkämpfe vom Mittelalter bis zur Moderne 2012, 372 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-319-1 Band 24 Alexander Kästner Tödliche Geschichte(n) Selbsttötungen in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken (1547-1815) 2011, 688 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-320-7 Band 25 Albrecht Burkardt, Gerd Schwerhoff (Hg.) Tribunal der Barbaren Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit 2012, 452 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-371-9 Band 26 Matthias Bähr Die Sprache der Zeugen Argumentationsstrategien bäuerlicher Gemeinden vor dem Reichskammergericht (1693-1806) 2012, 316 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-397-9 Band 27 Christina Gerstenmayer Spitzbuben und Erzbösewichter Räuberbanden in Sachsen zwischen Strafverfolgung und medialer Repräsentation 2013, 386 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-403-7 Konflikte und Kultur Herausgegeben von Carola Dietze, Joachim Eibach, Mark Häberlein, Gabriele Lingelbach, Ulrike Ludwig, Dirk Schumann und Gerd Schwerhoff www.uvk.de : Weiterlesen Band 28 Alexander Kästner, Gerd Schwerhoff (Hg.) Göttlicher Zorn und menschliches Maß Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften 2013, 218 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-404-4 Band 29 Andreas Flurschütz da Cruz Zwischen Füchsen und Wölfen Konfession, Klientel und Konflikte in der fränkischen Reichsritterschaft nach dem Westfälischen Frieden 2014, 460 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-504-1 Band 30 Nina Mackert Jugenddelinquenz Die Produktivität eines Problems in den USA der späten 1940er bis 1960er Jahre 2014, 338 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-559-1 Band 31 Maurice Cottier Fatale Gewalt Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne Das Beispiel Bern 1868-1941 2017, 248 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-719-9 Band 33 Suphot Manalapanacharoen Selbstbehauptung und Modernisierung mit Zeremoniell und symbolischer Politik Zur Rezeption europäischer Orden und zu Strategien der Ordensverleihung in Siam 2017, 288 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-809-7 Band 34 Moritz Glaser Wandel durch Tourismus Spanien als Strand Europas, 1950-1983 2018, 392 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-826-4 Band 35 Eva Keller Auf Bewährung Die Straffälligenhilfe im Raum Basel im 19. Jahrhundert 2019, 304 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-892-9 Band 36 Patrick Berendonk Diskursive Gerichtslandschaft Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten im 18. Jahrhundert 2020, 264 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-7398-3074-2 Band 38 Franz-Josef Arlinghaus, Peter Schuster (Hg.) Rang oder Ranking Dynamiken und Grenzen der Vergleichs in der Vormoderne 2020, 134 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-914-8 www.uvk.de Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. : Weiterlesen Konflikte und Kultur »Teufelskinder« - so wurden in Fürstenberg, einer Kommune im Hochstift Paderborn, die Nachfahren aus einem Hexengeschlecht genannt. Mittels dieses Etiketts war eine ideologische und symbolische Grenze zwischen den »normalen«, unbescholtenen Dorfbewohnern und denjenigen Familien gezogen worden, die das Hexenstigma trugen. Ihre vermeintliche Abstammung von »Hexenart« führte dabei zu verschiedenen informellen sowie formellen Stigmatisierungen und Marginalisierungen, die nicht nur das sprichwörtliche Damoklesschwert über deren Häupter schweben ließen, sondern auch einen ganz eigenen sozialpsychologischen Teufelskreis schufen: Förmlich gezwungen, sich stets mit dem attribuierten Hexenimage auseinanderzusetzen, nahmen einige Teufelskinder ihr Label als »Hexe« an. Das Ergebnis von Zuschreibung und Verinnerlichung war fatal: Nicht weniger als neun Familien standen teilweise über fünf Generationen immer wieder vor Gericht, angeklagt, mit dem »Hexenblut« infiziert zu sein. In diesem Buch werden ihre Geschichten erzählt. Im Mittelpunkt der Analyse steht dabei die historische Rekonstruktion ihres »Hexendaseins«, das wesentlich durch ihren sozialen Lebensraum geformt und zugleich von ihnen geformt wurde. Das Eintauchen in ihre Welt lässt dabei so manche Parallele zu heutigen Sozialphänomenen offenbar werden. ISBN 978-3-7398-3095-7 www.uvk.de