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Balladen-Stimmen

2011
978-3-7720-5173-9
A. Francke Verlag 
Jürg Glauser

Unter dem Begriff ,Vokalität' untersucht der vorliegende Band mit Schwerpunkt im differenzierten Korpus der skandinavischen Balladen (Folkeviser) zentrale Aspekte von Oralität, Stimme, Verschriftlichung und zeittiefer Überlieferung. ImMittelpunkt stehen zum einen stärker theoretisch orientierte Überlegungen zu den Kernkonzepten der Vokalitätsforschung, wie sie vor allem in der anglistischen und germanistischen Mediävistik entwickelt worden sind. Zum anderen gehen die mehr historisch ausgerichteten Beiträge Fragestellungen der Balladentransmission im Mittelalter und der frühen Neuzeit in Island, auf den Färöern, in Norwegen, Dänemark und Schweden nach.

A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 40 Unter dem Begriff ‚Vokalität‘ untersucht der vorliegende Band mit Schwerpunkt im differenzierten Korpus der skandinavischen Balladen (Folkeviser) zentrale Aspekte von Oralität, Stimme, Ver schriftlichung und zeittiefer Überlieferung. Im Mittelpunkt stehen zum einen stärker theoretisch orientierte Überlegungen zu den Kernkonzepten der Vokalitätsforschung, wie sie vor allem in der anglistischen und germanistischen Mediävistik entwickelt worden sind. Zum anderen gehen die mehr historisch ausgerichteten Beiträge Fragestellungen der Balladentransmission im Mittelalter und der frühen Neuzeit in Island, auf den Färöern, in Norwegen, Dänemark und Schweden nach. Jürg Glauser, geb. 1951. Studium der Nordistik und Germanistik in Zürich, Oslo, Uppsala, Kopenhagen. Promotion und Habilitation in Zürich. 1992-94 Professor für Nordische Philologie an der Universität Tübingen, seit 1994 Professor für das gleiche Fach an den Universitäten Basel und Zürich. Hauptarbeitsgebiete: Literaturen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Skandinavien, insbesondere Sagas und Eddas, isländische Literatur, Literaturgeschichtsschreibung. Publikationen u.a. Skandinavische Literaturgeschichte. Hg. von J. Glauser (2006); Island - Eine Literaturgeschichte (2011). Glauser (Hrsg.) Balladen-Stimmen Jürg Glauser (Hrsg.) Balladen-Stimmen Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen ISBN 978-3-7720-8173-6 106111 Nord. Phil. 40 - Glauser_106111 Nord. Phil. 40 - Glauser Umschlag 18.11.11 08: 33 Seite 1 Balladen-Stimmen 106111 Nord. Phil. 40 - Glauser_106111 Nord. Phil. 40 - Glauser Titelei 15.11.11 12: 08 Seite 1 Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser, Silvia Müller, Klaus Müller-Wille, Hans-Peter Naumann, Barbara Sabel, Thomas Seiler Beirat: Michael Barnes, François-Xavier Dillmann, Stefanie Gropper, Annegret Heitmann, Andreas G. Lombnæs Band 40 · 2012 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL 106111 Nord. Phil. 40 - Glauser_106111 Nord. Phil. 40 - Glauser Titelei 15.11.11 12: 08 Seite 2 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL Jürg Glauser (Hrsg.) Balladen-Stimmen Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen 106111 Nord. Phil. 40 - Glauser_106111 Nord. Phil. 40 - Glauser Titelei 15.11.11 12: 08 Seite 3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Schweizerische Gesellschaft für Skandinavische Studien Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8173-6 Titelbild: Bildmontage von Isabelle Ravizza unter Verwendung der Seite fol. 5v aus der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 112. Mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Heidelberg. 106111 Nord. Phil. 40 - Glauser_106111 Nord. Phil. 40 - Glauser Titelei 15.11.11 12: 08 Seite 4 Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................................... VII J ÜRG G LAUSER , Z ÜRICH / B ASEL Einleitung.......................................................................................................... 1 U RSULA S CHAEFER , D RESDEN Vokalität. -Ein -Blick -zurück -in -die -Zukunft.......................................................... 5 M IREILLE S CHNYDER , Z ÜRICH Gefangene -Stimmen -- -Geordnete -Körper. - - Die -Stimme -in -Texten -des -Mittelalters. - - Eine -Skizze ...................................................................................................... 21 J OSEPH H ARRIS , H ARVARD Eddische -Dichtung -und -die -Ballade. Stimme, -Vokalität -und -Performanz - unter -besonderer -Berücksichtigung -von -DgF - 1 .............................................. 39 S VERRIR T ÓMASSON , R EYKJAVÍK The -Function -of -Rímur -in -Iceland during -the -Late -Middle -Ages .......................................................................... 59 V ÉSTEINN Ó LASON , R EYKJAVÍK Die -Vokalität -der -isländischen -Volksballaden ................................................. 75 O LAV S OLBERG , B Ø I T ELEMARK Voices -of -Laughter -in -Norwegian -Ballads ....................................................... 93 VI V IBEKE A. P EDERSEN , K OPENHAGEN Die -dänischen -Volksballadenformeln -und -ihr -Auftreten -in -der handschriftlichen -Überlieferung -in -Königin -Sophias -Liederbuch.................. 107 O TTO H OLZAPFEL , F REIBURG IM BREISGAU Zwei -Stimmproben -im -Kontrast. - (I.) -DgF - 358, -eine -unterschätzte -klassische -Volksballade - um -1600, -und -(II.) -Selma -Nielsens -Lieder, -aus -einem -dänischen Repertoire -vom -Ende -des -19. -Jahrhunderts ................................................. 127 P IL D AHLERUP , K OPENHAGEN Die -Mehrstimmigkeit -der -Balladen............................................................... 143 T HOMAS S EILER , Z ÜRICH Prosopopoiia -und -Patriarchat. - Eine -ideologiekritische -Lektüre -der -Ballade - De -två -systrarna ...................... 161 S TEFAN H ESPER , B OCHUM Erlkönigs -Sohn. Die -Erlkönig--‐Ballade -als -Deutungsmuster -des -Nationalsozialismus - am -Beispiel -von -Michel -Tourniers -Roman - Der -Erlkönig ............................... 173 Register......................................................................................................... 189 Vorwort - Der vorliegende Band geht in seinem Kern zurück auf ein vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstütztes, zwischen 1999 und 2004 an der Abteilung für Nordische Philologie des Deutschen Seminars der Universität Zürich durchgeführtes Forschungsprojekt mit dem Titel „Transmission in den skandinavischen Literaturen der Frühen Neuzeit“. Im Rahmen dieses Projekts wurden unter anderem einige internationale Symposien durchgeführt, deren Vorträge - wesentlich überarbeitet und durch weitere Aufsätze ergänzt - nun gedruckt in rascher Folge hintereinander als Bände 40, 42 und 45 der Schriftenreihe Beiträge zur Nordischen Philologie (BNPh), A. Francke Verlag, Tübingen und Basel, herauskommen. Als erster der drei Bände erscheint die von Jürg Glauser besorgte Aufsatzsammlung Balladen-Stimmen. Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen der skandinavischen Balladentradition. Die anderen beiden tragen die Titel Jürg Glauser/ Anna Katharina Richter (Hrsg.), Text - Reihe - Transmission. Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800 und Jürg Glauser/ Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.), Rittersagas. Übersetzung, Überlieferung, Transmission. Während diese drei Sammelbände mit den Balladen, den Historienbüchern und den Rittersagas drei für die Transmissions-Thematik des Forschungsprojekts repräsentative, gattungsmäßig und historisch definierte Fallbeispielen behandeln, befasst sich das von Barbara Sabel und Jürg Glauser edierte Buch Text und Zeit. Wiederholung, Variante und Serie als Konstituenten literarischer Transmission, Königshausen & Neumann, Würzburg (2004), mit einigen zentralen theoretischen und methodologischen Aspekten des Projekts. Zwei unmittelbar aus dem Forschungsprojekt hervorgegangene Monographien sind die Zürcher Dissertationen von Barbara Sabel, Der kontingente Text. Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit, BNPh 36 (2003), und Anna Katharina Richter, Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit, BNPh 41 (2009). Der Band Jürg Glauser/ Barbara Sabel (Hrsg.), Skandinavische Literaturen der frühen Neuzeit, BNPh 32 (2002), weist ebenfalls thematische und chronologische Bezüge zum Forschungsprojekt „Transmission in den skandinavischen Literaturen der Frühen Neuzeit“ auf. Die drei Sammelbände Balladen-Stimmen, Text - Reihe - Transmission und Rittersagas, von denen der erste hiermit nach längerer Vorarbeit erscheint, verfolgen alle eine einheitliche Thematik, indem sie dem Phänomen von literarischer Transmission an konkreten Beispielen zeittief überlieferter Texte aus dem Spätmittelalter und der Frühneuzeit in Skandinavien nachgehen. Der vorliegende Band enthält lediglich eine kurze Einleitung. In gleicher Weise ist die Einleitung zum zweiten Band kurz gehalten. Dafür setzt sich die Einleitung zum Band über die altnordischen Rittersagas abschließend mit dem Transmissionskonzept in etwas ausführlicherer und grundsätzlicherer Weise auseinander. VIII Vorwort Finanziell wurden das Projekt „Transmission in den skandinavischen Literaturen der Frühen Neuzeit“ und die einzelnen Symposien in großzügiger Weise unterstützt von: Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Bern), Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Bern), Philosophische Fakultät der Universität Zürich, Freiwillige Akademische Gesellschaft (Basel), Max Geldner-Stiftung (Basel), Jubiläumsspende der Universität Zürich, Nordisk Ministerråd (Kopenhagen). Die Drucklegung dieses Bandes wurde durch einen Beitrag der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften ermöglicht. Allen diesen Institutionen gebührt ausdrücklicher Dank. Der Herausgeber dankt zudem Simone Bobst, Miriam Bertschi, Franziska Kreis, Julia Meier, Isabelle Ravizza, Anna Katharina Richter, Lukas Rösli und Herbert Wäckerlin, vor allem jedoch Barbara Sabel Bucher und Thomas Seiler für die Unterstützung bei der Herstellung dieses Bandes. Zürich, September 2011 Jürg Glauser Einleitung J ÜRG G LAUSER , Z ÜRICH / B ASEL Die Aufsätze des vorliegenden Bandes beschäftigen sich in unterschiedlicher Weise mit dem Thema ‘Vokalität’, und zwar vorwiegend als einem Phänomen, das sich an der Gattung der skandinavischen Ballade an historischen Fallbeispielen wie auch in stärker übergreifend-theoretischen Zusammenhängen besonders gut beobachten und analysieren lässt. Die Balladen (folkeviser / ballader), deren gattungsmäßiger Ursprung im mittelalterlichen Frankreich zu suchen sein dürfte und die laut Bengt R. Jonssons Forschungen im Lauf des 13. und frühen 14. Jahrhunderts im Rahmen der Übernahme höfischer Kulturmuster in den skandinavischen Norden vermutlich zuerst nach Norwegen und anschließend von dort in die anderen Länder gelangten, weisen nämlich eine Reihe von Aspekten auf, die sie für Analysen von Transmissionsphänomenen geradezu als prädestiniert erscheinen lassen. Als erstes kann darauf hingewiesen werden, dass die Balladen (im dezidierten Gegensatz zu den ‘Historienbüchern’, folkebøger / folkböcker) in Dänemark, Norwegen und Schweden eine lange und ausgesprochen differenzierte Forschungsgeschichte aufweisen. Nicht zuletzt in Dänemark erfuhren sie als Danmarks gamle Folkeviser durch die große von Svend Grundtvig initiierte, zwölfbändige Ausgabe eine bis heute andauernde Kanonisierung, wovon zahlreiche umfangreiche Projekte wie etwa Svøbt i mår. Dansk Folkevisekultur, 1-4 (1999-2002) zeugen. Diese intensive Beschäftigung mit den skandinavischen Balladen hat dazu geführt, dass im Vergleich zu anderen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gattungen hier die Editions- und Erschließungslage (zum Beispiel The Types of the Scandinavian Medieval Ballad, TSB) ausgezeichnet ist und viele Spezialstudien erlaubt. Ein weiterer Umstand, der das Korpus der skandinavischen Balladen für Transmissionsstudien interessant macht, ist ihre Überlieferungsdauer, die in Anlehnung an einen Begriff von Hildegard L.C. Tristram als „zeittief“ bezeichnet werden kann. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind die ältesten skandinavischen Balladen ins frühe 14. Jahrhundert zu datieren, auch wenn die handschriftliche Überlieferung erst bedeutend später einsetzt; die Gattung ist darauf im Medium des Drucks ein Phänomen der Renaissance und des Barockzeitalters, wird aber parallel bis ins 18., 19. und 20. Jahrhundert (semi-)oral und handschriftlich weitertradiert und bleibt bis in die Mitte des letzten Jahrhundert in vereinzelten Konstellationen lebendig, so dass sie auf eine rund sechshundertjährige Geschichte zurückblicken kann - ein Faktum, das übrigens die isländischen Rímur mit den Balladen teilen. Neben diesen langen Überlieferungs- und Umschreibungsprozess, der die zeitliche Dimension des Transmissionsphänomens eröffnet, treten zahlreiche, höchst aufschlussreiche mediale Aspekte des Oralen, Schriftlichen, Vokalen, Per- Jürg Glauser 2 formativen hinzu: Wie an kaum einer anderen Gattung lässt sich das von Ursula Schaefer entwickelte Konzept der für die mittelalterliche Literatur charakteristischen ‘Vokalität’ an den (skandinavischen) Balladen untersuchen, und diese könnten geradezu als Texte ‘zwischen den Medien’ - zwischen stimmlicher und (manuskriptbzw. druck-)schriftlicher Transmission - bezeichnet werden. Dabei ist die früher oft als „Zersingen“ abqualifizierte, für die Gattung spezifische textuelle Instabilität, die wohl mindestens teilweise auch eine Konsequenz der improvisierendem Vortragsperformanz war, unter transmissionshistorischen und thereotischen Gegebenheiten von besonderem Interesse. Die hier versammelten Beiträge nähern sich dem Phänomen der Transmission der Balladen von verschiedenen Ausgangspunkten her an. Einige Aufsätze gehen texttheoretisch vor und analysieren Vokalitätsphänomene als wichtige textinterne Elemente narrativer Performativität, während andere eher die Form konkreter Textlektüren haben. Zusammen ergeben sie einen abgerundeten und gleichzeitig weiterführenden Einstieg in das außerordentlich faszinierende Thema der ‘Balladenstimmen’. Der einleitende Beitrag von U RSULA S CHAEFER (Dresden) diente als eine der theoretischen Hauptgrundlagen des Symposiums und kann auch den vorliegenden Sammelband in sinnvoller Weise eröffnen. Er hält die verschiedenen Ansätze und Schwerpunkte in den Forschungsarbeiten zu Vokalität, New Philology und Mündlichkeit/ Schriftlichkeit gegeneinander und beleuchtet ihre unterschiedlichen Konsequenzen für die Mediävistik. M IREILLE S CHNYDER (Zürich) präsentiert in „Gefangene Stimmen - geordnete Körper“ an ausgewählten Textbeispielen des Mittelalters verschiedene Möglichkeiten von Diskursivierung der Stimme in einer von Schrift geprägten Kultur und die darin sich ausprägende Wahrnehmung der Stimme. Sie zeigt dies anhand theoretischer Überlegungen zur Stimme, wie sie in Texten mittelalterlicher Grammatiker, Theologen und Sprachtheoretiker ausgeführt werden, und an literarischen Beispielen der erzählten Stimme, etwa im Tristan, Willehalm oder Parzival, wo sie als Ausdruck der Identität und Erkennungsmittel der literarischen Figuren fungiert, und diskutiert Formen einer höfischen Ordnung der Stimmen. Der Aufsatz „Eddische Dichtung und die Ballade“ von J OSEPH H ARRIS (Harvard) schlägt den Bogen nach Skandinavien und zur Balladentransmission im Besonderen. Vornehmlich am Beispiel der Þrymskviða (Tord af Havsgård, DgF 1) aus der im 13. Jahrhundert niedergeschriebenen Lieder-Edda wird Fragen der Oralität und der Performanz nachgegangen, und mit Hilfe von Milman Parrys „Modell“ werden eddische Dichtung und Balladentradition in Skandinavien (wobei hier auch die englische Tradition - Child - miteinbezogen wird) zueinander in Beziehung gesetzt. Die beiden folgenden Beiträge von S VERRIR T ÓMASSON und V ÉSTEINN Ó LASON (beide Reykjavík) befassen sich mit Textbeispielen im Island des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bei S VERRIR T ÓMASSON wird die Funktion der bedeutenden Gattung der Rímur-Dichtung in Island im Spätmittelalter eingehend beleuchtet. Einleitung 3 V ÉSTEINN Ó LASON untersucht die (im Verhältnis zur übrigen skandinavischen Tradition) spät, nämlich erst im 17. Jahrhundert in Erscheinung tretenden isländischen Volksballaden und erörtert hier neben ihrer Beziehung zu „typisch-traditionell“ isländischen Gattungen wie etwa den Sagas oder den Rímur Phänomene der Vokalität und Performanz des Balladengenres, welche sich etwa im Einsatz von Kehrreimen bemerkbar machen, die in die Balladenstrophen eingeflochten sind. „Voices of Laughter“ in norwegischen Balladen ist das Thema von O LAV S OL- BERG s (Bø i Telemark) Artikel, der sich schon in seiner 1993 publizierten Dissertation ausführlich mit Phänomenen der Komik und des Lachens (und den Bachtin’schen Begriffen des Karnevalismus und des grotesken Realismus) in norwegischen Scherzballaden befasst hatte. Hier wird schwerpunktmäßig auf ein sehr prominentes Beispiel, das Draumkvedet, in verschiedenen Varianten eingegangen. Die reiche dänische Balladentradition ist das Thema der anschließenden zwei Beiträge von V IBEKE A. P EDERSEN (Kopenhagen) und O TTO H OLZAPFEL (Freiburg i.Br.). P EDERSEN analysiert an Beispielen aus Dronning Sophias visebog, einer bedeutenden adligen Liederhandschrift aus der Zeit 1584-1640er Jahre, die Formelsprache und die Funktionen von Formen der Wiederholung in dänischen Volksballaden, so in Ellen Ovesdatter (DgF 233) und Den spotske Brud (DgF 358). Letztere wird auch bei H OLZAPFEL im Hinblick auf die mündliche Überlieferung thematisiert und im Folgenden mit einer weiteren „Stimmprobe“ kontrastiert, nämlich mit der Darbietung von Volksballaden und „folkelige sange“ (am ehesten zu übersetzen mit ‘volkstümlichen, populären Liedern’) durch die dänische Sängerin Selma Nielsen (1887-1954), und verbindet damit auch Balladen- und Volksliedforschung. Ebenfalls mit dänischen Volksballaden, insbesondere mit der berühmten Ballade Elverskud (DgF 47), befasst sich P IL D AHLERUP (Kopenhagen), und zwar unter Fokussierung des Phänomens der Mehrstimmigkeit, indem sie die komplexe Struktur untersucht, die in der Balladendichtung in der kunstvollen Verflechtung von Erzählerstimme und Dialogstimmen besteht und auch Formen von Polyphonie innerhalb der Balladentransmission beleuchtet. T HOMAS S EILER (Zürich) untersucht in einer semiotischen Lektüre die Ballade De två systrarna (Den talende Strengeleg) und die Formen des hier zum Ausdruck kommenden kulturellen Wissens, etwa bestimmten patriarchalischen kulturellen Grundmustern, ausgehend von einer generellen Unterscheidung zwischen ‘Text’ vs. ‘Äußerung’. Abschließend unternimmt S TEFAN H ESPER (Bochum) einen Ausblick ins 20. Jahrhundert. Hesper analysiert Goethes berühmte Ballade vom Erlkönig als intertextuelle Folie für den Roman Le roi des aulnes von Michel Tournier von 1970 (dt. Der Erlkönig, 1972), der sich in der fiktiven Lebensgeschichte eines französischen Kriegsgefangenen bei der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und in einer fiktiven „Napola“ mit dem Nationalsozialismus und den Themen Gewalt und Verführbarkeit sowie dem „Erlkönig“ als mythische Figur auseinandersetzt. Dabei wird auch nach den Beziehungen des Erlkönig-Mythos und der Balladentradition zur Jürg Glauser 4 politischen Wirklichkeit des Nationalsozialismus gefragt und gezeigt, inwiefern Balladenmotive in Gegenwartsliteratur produktiv fortgeschrieben werden. Vokalität. -Ein -Blick -zurück -in -die -Zukunft * - U RSULA S CHAEFER , D RESDEN Kein anderer (Teil-)Band einer mediävistischen Zeitschrift ist wohl in den letzten Jahren so oft zitiert worden wie die Lieferung 65.1 der Zeitschrift Speculum des Jahrgangs 1990. Dieser Teilband mit dem Namen The New Philology versammelt eine Einleitung und fünf Artikel von Mediävistinnen und Mediävisten, die in der Folgezeit teilweise an der weiteren Etablierung eben jener New Philology mitgewirkt haben. 1 Im Rückblick erscheint es nun durchaus ironisch, dass der folgende Teilband (Nr. 65.2) mit Dennis H. Greens Artikel Orality and Reading: The State of Research in Medieval Studies beginnt. 2 Ironisch, denn im Jahr 1990 hätte man noch meinen können, dass die bis zu dem Zeitpunkt vorliegenden Ergebnisse mediävistischer Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung zu einem irreversiblen ‘Paradigmenwechsel’ führten. 3 Wie jedoch der Blick in die Forschung der folgenden Jahre zeigt, war es - zumindest an der Oberfläche - eben nicht die Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung, sondern die New Philology, an der sich die Mediävistik einerseits abarbeitete und mit der sie andererseits ihr methodisch-heuristisches Instrumentarium schärfte. 4 Wenn mir nun die Gelegenheit gegeben wird, mich noch einmal zum ‘Phäno- * Beim vorbereitenden Züricher Arbeitstreffen zu diesem Band im Frühjahr 2001 habe ich nicht nur medial, sondern auch konzeptionell bewusst einen mündlichen Überblick über das Konzept Vokalität gegeben. Mein schriftlicher Beitrag folgt deshalb einem anderen Aufbau und ist notwendigerweise expositorischer konzipiert. - Ich möchte hier noch einmal die Gelegenheit nehmen, mich für die Einladung nach Zürich und nun zu diesem Band herzlich zu bedanken. - Einige der hier vorgetragenen Gedanken habe ich inzwischen auch diskutiert in: Mediengeschichte als Geschichte der europäischen Sprachen, Kulturen und Literaturen. In: Der geteilte Gegenstand: Beiträge zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Philologie(n). Hg. von Ursula Schaefer. Frankfurt a. M. etc.: Peter Lang Verlag 2008, S. 61-78. 1 Es handelt sich dabei - in der Reihenfolge des Bandes - um Stephen G. Nichols, Siegfried Wenzel, Suzanne Fleischman, R. Howard Bloch, Gabrielle M. Spiegel und Lee Patterson. 2 Green, Dennis H.: Orality and Reading: The State of Research in Medieval Studies. In: Speculum 65.2 (1990), S. 267-280. 3 Den Begriff ‘Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung’ benutze ich hier und im folgenden als Kürzel für solche Forschungen, die sich aus den unterschiedlichsten disziplinären Interessen mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit im weitesten Sinn befassen (schließe dabei aber ausdrücklich die ‘écriture-Frage’ im Sinn Derridas aus); zur Diskussion um die Benennung dieses Forschungsensembles s. u. 4 Zu nennen sind hier beispielsweise die Sammelbände Busby, Keith (Hg.): Toward a Synthesis? Essays on the New Philology. Amsterdam: Atlanta 1993; Gleßgen, Martin Dietrich und Franz Lebsanft (Hg.): Alte und neue Philologie. Beihefte zu Editio 8. Tübingen: Niemeyer 1997 und Tervooren, Helmut und Horst Wenzel (Hg.): Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologe 116. Berlin: Schmidt 1997; vgl. auch Schaefer, Ursula: Von Schreibern, Philologen und anderen Schurken: Bemerkungen zu New Philology und New Medievalism in den USA. In: Mediävistik als Kulturwissenschaft. Ursula Schaefer 6 men der Vokalität’ zu äußern, führte bestenfalls blinde Nostalgie hinter den Befund zurück, dass in den letzten zehn Jahren der New Philology alle Aufmerksamkeit gehörte. Eifersüchtig-pikiert könnte man fragen: Was hat sie, die New Philology, was die Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung nicht hat? Eine kurze Introspektion fördert zwei auf der Hand liegende Antworten zutage. Erstens: die ‘andere’ hat einen wesentlich schmissigeren Namen. Zweitens: sie hatte Cerquiglini - und damit den Skandal. Was den Namen angeht, so sind die Dinge wohl gelaufen. Ich selbst habe versucht, den Begriff ‘medial approach’ zu lancieren, 5 aber das ist ein doch sehr zaghaftes Angebot, deutlich in den Schatten gestellt durch einen Begriff, der die stattliche Reihe New Criticism und New Historicism fortsetzt. Ebenso ungeeignet zur Lieferung eines Etiketts sind tastende Versuche wie ‘the orality problem’ oder ‘das Problem der Mündlichkeit’. 6 Neue wissenschaftliche Paradigmen mögen tatsächlich nicht zuletzt dadurch entstehen, dass eine Gruppe von Forschern sich eines bestimmten Problems bewusst wird und dieses dann anderen bewusst macht, aber ‘Problematisierung’ ist nur der erste Schritt in ein wissenschaftliches Programm. 7 Bliebe noch, auch nicht wesentlich attraktiver, „das Paradigma ‘Kommunikation und Medien’“, eine Paraphrase, die Aleida und Jan Assmann 1990 formuliert haben. 8 Abgesehen davon, dass auch dies alles andere als griffig ist: um ‘Kommunikation’ und ‘Medien’ geht es ganz zentral auch in der New Philology. Fazit: die Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung wird wohl auch in der nächsten Zukunft weiter label-los bleiben, und schon dies ist - nicht nur forschungsgeschichtlich - aussageträchtig. Darauf wird man, vielleicht nach weiteren zehn Jahren, noch einmal zurückkommen müssen. Von anderem Rang als die Benennungsfrage ist jenes Skandalon, mit dem, damals noch unetikettiert, eine neue Philologie - besser vielleicht: eine andere als die ‘traditionelle’ Philologie - auf die wissenschaftliche Bühne trat. Es war das Erscheinen von Bernard Cerquiglinis Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie im Hg. von Hans-Werner Goetz. Das Mittelalter: Perspektiven mediävistischer Forschung 5.1 (2000), S. 69-81. 5 Zum Beispiel in Schaefer, Ursula: The Medial Approach: A Paradigm Shift in the Philologies? In: Written Voices, Spoken Signs. Tradition, Performance, and the Epic Text. Hg. von Egbert Bakker und Ahuvia Kahane. Cambridge, MA: Harvard University Press 1997, S. 215-231. 6 Schaefer, Ursula: Das Problem der Mündlichkeit. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1994, S. 357-375. 7 Das gilt - nicht nur meiner Meinung nach - in großem Maß für die New Philology, deren durchaus berechtigte Kritik an der ‘traditionellen’ Philologie oftmals, in den Worten Bumkes, „mit übertriebener polemischer Schärfe“ geführt wird; Bumke, Joachim: Die vier Fassungen der ‘Nibelungenklage’: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 1996, S. 55. 8 Assmann, Aleida und Jan Assmann: Einleitung. Schrift - Kognition - Evolution: Eric A. Havelock und die Technologie kultureller Kommunikation. In: Havelock, Eric: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim: VCH Acta Humaniora 1990, S. 1-35, hier S. 3. Vokalität. Ein Blick zurück in die Zukunft 7 Jahr 1989. 9 Die Éloge betrat die Szene im modisch postmodernen Gewand und vollzog - auf offener Bühne - den Vatermord. Applaus von der anderen Atlantikseite war garantiert, denn in den amerikanischen Literatur-Departments hatte in den Achtzigern der Dekonstruktivismus/ Poststrukturalismus Platz gegriffen. 10 Da bot die Éloge den Mediävisten die Gelegenheit, Fragen der folgenden Art mit einem couragierten und engagierten „Nein! ! “ entgegenzutreten: Have medieval studies become irrelevant? Do medievalists speak a (conservative) language of their own, addressing antiquarian concerns of interest to no one but themselves? Or, if there is indeed a breach between medievalists and their colleagues in other fields of the humanities, is it the creation of the modernists, cultivating theoretical elaborations and ignoring history? 11 Stackmann hat in seinem Aufsatz Neue Philologie? von 1994 vermerkt, aus den Beiträgen in Speculum 65.1 spreche die Befürchtung, „die mediävistischen Disziplinen könnten in den amerikanischen Universitäten immer weiter an den Rand des Fächerspektrums gedrängt werden“. 12 Am Rand des Randes droht der Abgrund, institutionell: die Abschaffung. Diese extrinsische Motivation ist mit Sicherheit eine Erklärung für diesen vehementen ‘Theorieschub’ in der amerikanischen Mediävistik. Das aber kümmert wissenschaftshistorisch mittelfristig ebenso wenig wie beispielsweise die Erkenntnis, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ‘modernen’ Philologien an deutschen Universitäten eingerichtet wurden, weil man die Notwendigkeit sah, (im höheren Staatsdienst verbeamtungsfähige) Lehrer für Schulen in Französisch, Englisch - und nicht zuletzt auch in Deutsch - wissenschaftlich auszubilden, und ‘wissenschaftlich’ hieß damals eben ‘philologisch’. Bleibt der rückblickende Befund, dass bei diesen ungleichen Ausgangsbedingungen die New Philology einfach obsiegen musste. Dies wird ein Stück weit relativiert, wenn man beispielsweise Bumkes Einschätzung der „Diskussion über eine ‘Neue Philologie’ und eine ‘Neue Mediävistik’“ liest: „In dieser Diskussion geht es um eine kritische Überprüfung der Aufgaben und Methoden der Mittelalter-Philologie angesichts der neueren Forschungen über Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Mittelalter […]“. 13 Tatsächlich fließen Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung und Dekonstruktivismus/ Poststrukturalismus in Cerquiglinis Éloge von 1989 ineinander, denn in seiner Invektive auf die ‘alte (mediävistische) Philologie’ bezieht Cerquiglini - implizit und manchmal auch explizit - selektiv Forschungsergebnisse ein, die der Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung zuzurechnen sind. Im selben Zug demonstriert er aber auch, weshalb der Dekonstruktivismus/ Poststrukturalismus 9 Cerquiglini, Bernard: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris: Éditions du Minuit 1989. 10 Ich bin mir vollkommen bewusst, dass die Etikettierung ‘Dekonstruktivismus/ Poststrukturalismus’ sehr stark vereinfacht. 11 Wenger, Luke: Editor’s Note. In: Speculum 65.1 (1990), o. S. 12 Stackmann, Karl: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1994, S. 398-427, hier S. 398. 13 Bumke, Die vier Fassungen, S. 55. Ursula Schaefer 8 und die Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung zutiefst unverträglich sind, und zwar dort, wo es um den Begriff der Textualität geht: Ce qu’a désigné l’approche renouvelée des manuscripts, ce qu’ont perçu confusément les idolâtres de l’oral, ce que nous montre la technique informatique: notre conception de la textualité est en jeu. 14 Es lohnt schon, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, wer alles zu diesen „Götzendienern des Mündlichen“ gehört, die dann aber - nach Cerquiglini - doch nur „konfus“ den Begriff vom Text ‘ins Spiel gebracht’ und ‘auf’s Spiel gesetzt’ haben, unpreziöser ausgedrückt: die uns den Begriff vom Text als Produkt der Schriftlichkeit vor Augen geführt haben. 15 Da sind die grundlegenden historisch-anthropologischen Untersuchungen von Jack Goody (auf den sich Cerquiglini auch ganz deutlich bezieht 16 ), die weitreichenden erziehungswissenschaftlichen Arbeiten von David R. Olson, sprachwissenschaftliche Überlegungen beispielsweise von Wallace Chafe und Deborah Tannen, die psycho-sozialen Forschungen Aleksandr Lurijas, aus Historikersicht die Beiträge von Michael T. Clanchy und Brian Stock und nicht zuletzt die zusammenfassenden Arbeiten von Walter J. Ong, SJ. 17 Sie alle verdeutlichen, dass wir unseren Textbegriff nicht unkritisch auf alles projizieren dürfen, was uns schriftlich überliefert ist. Dazu gehören aber auch noch weitere Forschungen, die hier kurz zu diskutieren sind, um den Weg zum Konzept der Vokalität nachzuzeichnen. Jede historische ‘Textwissenschaft’, die das Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Problem als für ihre Gegenstände relevant erkennt, steht vor dem unentrinnbaren Dilemma, dass sie es - ob ediert oder im Manuskript - mit Geschriebenem zu tun hat. Die grundsätzlichen Erwägungen von Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben hier heuristische Hilfestellung geleistet, indem sie präzis zwischen Medium und Konzeption unterscheiden: 18 einerseits ist - wenn Schrift zur Verfügung steht - prinzipi- 14 Cerquiglini, Éloge, S. 12; Hervorhebung von mir. Wen genau Cerquiglini mit den idolâtres de l’oral meint, gibt er - durchaus passend zu seinem postmodernen Gestus - nicht preis. Das gilt auch für die kurz zuvor gemachten Bemerkungen, mit denen er auf die Mündlichkeitsforschung losgeht: „Est-ce à dire que l’écrit lui-même est en cause? On pourrait le croire, par la faveur nouvelle dont jouit l’oralité. Le tapage en ce domaine est si tonitruant, se donne si complaisamment un brevet d’avantgarde, que l’on tiendrait pour bien négligeable et insignifiante l’attention apportée aux révolutions de l’écrit“, S. 11. Deshalb dann auch seine deutliche Abgrenzung: „On ne prendra pas ici la défense de l’oral, du corps, de la voix“, S. 11. Einer der so Geschmähten scheint der „oraliste“ Paul Zumthor zu sein, wie wir später sehen werden. 15 Genauere Ausführungen hierzu enthält Schaefer, Ursula: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. ScriptOralia 39. Tübingen: Narr 1992, Kapitel I. 3 „Poetische Kommunikation in der Vokalität“, S. 43-58. 16 Cerquiglini, Éloge, S. 36-38, dokumentiert in Anm. 14 (S. 120) mit dem allgemeinen Verweis auf die französischen Übersetzung von The domestication of the savage mind von 1977 (Übers. von 1979). 17 Ich nenne die einschlägigen Arbeiten in der Bibliographie. 18 Koch, Peter und Wulf Oesterreicher: Sprache der Nähe, Sprache der Distanz: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Vokalität. Ein Blick zurück in die Zukunft 9 ell jede sprachliche Äußerung entweder im phonischen oder im graphischen Medium realisierbar. Dabei handelt es sich um eine exklusive Dichotomie. Andererseits kann man jedem dieser Medien idealtypisch Versprachlichungsstrategien zuordnen, das heißt, es gibt ‘konzeptionell mündliche’ und ‘konzeptionell schriftliche’ Äußerungen. Die konzeptionelle Unterscheidung ist wieder einerseits graduell, es gibt also ‘mündlichere’ und ‘schriftlichere’ Äußerungen, andererseits können diese Äußerungen - bei solchen an den konzeptionellen Polen meist mit hohen Verständlichkeitsverlusten - in das jeweils andere Medium übertragen werden. Die zuerst einmal sprachwissenschaftliche Unterscheidung zwischen Konzeptionalität und (physischer) Medialität erlaubt es, im Weiteren den Begriff der Konzeption zu historisieren und davon auszugehen, dass konzeptionelle Schriftlichkeit selbst der Entwicklung unterliegt. 19 Anders gesagt: wenn das Mittelalter als lange Zeit des Übergangs von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit verstanden wird, haben wir damit zu rechnen, medial Schriftliches vorzufinden, das ‘konzeptionell eher mündlich’ ist. Dies integriert sich in die noch wesentlich weiterreichende „Relativitätstheorie der Medien“, die, wie Aleida und Jan Assmann es ausgedrückt haben, besagt, „Sinn, Erfahrung, Wirklichkeit“ seien „abhängige Variablen der Medien“. 20 Für die Befassung mit dem Mittelalter hat diese Einsicht dramatische Konsequenzen, denn „das Problem des Verstehens fremden Denkens“ (Assmann/ Assmann) 21 löst sich sich nun nicht mehr alleine dadurch, dass wir die jeweiligen ‘Erwartungshorizonte’ auszeichnen, weil wir erst einmal klären müssen, von welcher Basis aus sich diese Horizonte entfalten. Hier setzt die berechtigte Kritik der New Philology ein, wenn sie unser Augenmerk darauf lenkt, dass die Philologen - im Bild gesprochen - diese Horizonte mit Text-Konstrukten des 19. Jahrhunderts eher verbaut als erhellt haben. Und hier liegt dann auch ein wirklich gravierendes Versäumnis der Mündlichkeit/ Schriftlichkeit- Forschung. In ihrem kritischen Diskurs wird das Konstrukthafte der Philologen- Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43; dieser Artikel bildete eine wichtige Grundlage für den Freiburger DFG-Sonderforschungsbereich 321 „Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (1985-1996), dem ich selbst angehörte. Einen Überblick über die Arbeit dieses Sonderforschungsbereichs gibt der Band Raible, Wolfgang (Hg.): Medienwechsel. Erträge aus zwölf Jahren Forschung zum Thema ‘Mündlichkeit und Schriftlichkeit’. ScriptOralia 113. Tübingen: Narr 1998. 19 Dies gilt auch für die Bereitstellung von Versprachlichungsstrategien; vgl. Oesterreicher, Wulf: Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Hg. von Ursula Schaefer. ScriptOralia 53. Tübingen: Narr 1993, S. 267-292 und Oesterreicher, Wulf: Sprachwandel, Varietätenwandel, Sprachgeschichte: zu einem verdrängten Theoriezusammenhang. In: Varieties and Consequences of Literacy and Orality - Formen und Folgen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit: Franz H. Bäuml zum 75. Geburtstag. Hg. von Ursula Schaefer und Edda Spielmann. Tübingen: Narr 2001, S. 217-248. - Es kann in der Geschichte der konzeptionellen Schriftlichkeit in einer Kultur durchaus Brüche geben, wie wir beispielsweise aus dem Übergang vom Altenglischen zum Mittelenglischen wissen. 20 Assmann/ Assmann, Einleitung, S. 2; Aleida und Jan Assmann bezeichnen so das Ergebnis der Arbeiten des Gräzisten Eric A. Havelock. 21 Assmann/ Assmann, Einleitung, S. 3. Ursula Schaefer 10 Texte zwar durchaus erkannt und implizit problematisiert, die mediävistische Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung hat jedoch nicht aktiv deren ‘Dekonstruktion’ betrieben. Das hat sie, salopp gesagt, nicht nötig, weil ihr Ansatz allemal davon ausgeht, dass der (edierte) Text in mehreren Hinsichten nicht mit dem Erkenntnisobjekt identisch ist. Es drängt sich die Parallele zwischen der frühen Oral-Formulaic Theory und der New Philology auf: die eine wie die andere verstrickt sich in der ‘Produktionsfrage’. Der Unterschied ist aber - zumindest aus der nicht-poststrukturalistischen Sicht - ein gravierender: während die eine versuchte, der mittelalterlichen dichterischen ‘Produktion’ näherzukommen, befasst sich die andere vorrangig mit der editorischen Textproduktion des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und damit vorrangig mit sich selbst. Dabei gehen die mediävistische Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung und die New Philology doch gemeinsam von einer Beobachtung aus, die der Historiker Brian Stock so formuliert hat: 22 […] from about the second half of the eleventh century, a widespread transformation began to take place. Oral traditions did not simply decline, although that happened to some degree as the force of the written word became progressively stronger. Instead, they realigned themselves so as to be able to function in relation to a reference system based upon texts. As a consequence, about this time, a new hermeneutic environment emerged in Western Europe. Its characteristic feature was that it was at once both oral and written. 23 Stock drückt sich hier zwar sehr allgemein aus, tatsächlich hat er aber die Entwicklung im französischen Sprachraum im Blick. Ich erwähne dies hier, weil das Verhältnis von Volkssprache (und damit auch der mündlichen Tradition und deren Verschriftlichung) zur Schriftsprache Latein ein ganz anderes war als das zwischen den germanischen Sprachen und dem Latein. Diese Differenz im Auge behaltend bleibt der Befund des „new hermeneutic environment“ zusammen mit der Vermutung, dass die ‘alten’ hermeneutischen Bedingungen hier noch hineinragen müssen. Da wir nun einmal mit nichts anderem arbeiten können als mit dem, was schriftlich auf uns gekommen ist, müssen wir weiter vermuten, dass dieses (medial) Schriftliche symptomatisch von diesen Bedingungen zeugt, weil es in ihnen entstanden ist und rezipiert wurde. Der springende Punkt ist hier, dass Produktion und Rezeption insofern auseinandertreten, als, vereinfacht gesagt, erstere schon - mehr oder weniger rudimentär - den Bedingungen der Schriftlichkeit, letztere aber noch in starkem Maß den Bedingungen der Mündlichkeit unterstellt war, und dies keineswegs zuletzt aufgrund dessen, dass das Schriftliche fast ausschließlich aural rezipiert wurde. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dieses Schriftliche nicht so sehr in der Perspektive der Produktion, sondern vielmehr der Rezeption zu sehen. 22 Cerquiglini bezieht sich auch auf Stock; Éloge, S. 36 und Anm. 12 (dort allerdings nur allgemein auf die gesamte Monographie The Implications of Literacy von 1983). 23 Stock, Brian: History, Literature, and Medieval Textuality. In: Yale French Studies 70 (1986), S. 7-17, hier S. 10. Vokalität. Ein Blick zurück in die Zukunft 11 Bis dies endlich erkannt wurde, hatte die literarhistorische Mediävistik vor allem in den USA geraume Zeit damit verbracht, mehr oder minder erfolgreich die Forschungsergebnisse von Parry und Lord zur Formelhaftigkeit auf die volkssprachliche Dichtung zu übertragen. 24 Da das Kriterium der Formeldichte dabei im Vordergrund stand, arteten solche Anstrengungen oft in bloßes Rechengeschäft aus, das für viele Außenstehende wenig attraktiv erscheinen musste, denn es ging hier in erster Linie darum, anhand der Formeldichte zu entscheiden, ob ein Gedicht mündlich komponiert war oder nicht. 25 Die Wendung der literarhistorisch-mediävistischen Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung hin zu rezeptionsorientierten Fragestellungen verdanken wir in allererster Linie den Arbeiten von Franz H. Bäuml. Repräsentativ hierfür ist sein Artikel Varieties and Consequences of Medieval Literacy and Illiteracy aus dem Jahr 1980. 26 Als Lösung des scheinbaren Paradoxes der Formelhaftigkeit schriftlicher Dichtung, das sich beispielsweise für das Nibelungenlied stellt, formulierte Bäuml eine funktionale „Third Theory“ der Formelhaftigkeit. Während die erste ‘Theorie’ Formel (und Thema) als „essential elements of oral composition“ ausgemacht hatte und daraufhin eine zweite ‘Theorie’ die Formelhaftigkeit als „textual symptoms of this (oral epic) type of composition“ interpretierte, 27 versteht die dritte ‘Theorie’ Formelhaftigkeit in geschriebenen Texten als „reference of the written text to the oral tradition“. 28 Dies hat Bäuml 1987 noch einmal im Blick auf die Klage prägnant auf den Punkt gebracht: […] it is clear that the traditional dichotomy literacy/ orality cannot be maintained for the Middle Ages. The tertiary theory, the recognition that written „imitations“ of oral texts are necessarily commentaries on orality, that pseudo-oral texts necessarily refer to oral texts, and that they just as necessarily refer - at least implicitly - to literacy, can 24 Lord, Albert: The Singer of Tales. Cambridge, MA: Harvard University Press 1960 fasst die Arbeiten von Parry und Lord bis dato zusammen. Den besten Überblick zur Übernahme dieser Forschungsergebnisse gibt immer noch Foley, John Miles: The Theory of Oral Composition. History and Methodology. Bloomington/ Indianapolis: Indiana University Press 1988; s. dazu auch Green, Orality and Reading, S. 272. - Ein rezeptionsorientierter Ansatz wurde in den USA beispielsweise entworfen von Nichols, Stephen G.: A Poetics of Historicism? - Recent Trends in Medieval Literary Study. In: Transformation and continuity. Hg. von Paul Maurice Clogan. Medievalia et Humanistica New Series 8. Cambridge: Cambridge University Press 1977, S. 77-101. Interessant ist hier, dass Nichols auch eine ‘oral-formulaic’ Vorvergangenheit hat mit der bereits 1961 publizierten Monographie Formulaic Diction and Thematic Composition in the Chanson de Roland. Chapel Hill: University of North Carolina Press. 25 S. dazu Foley, The Theory, passim; dieses rein formale Vorgehen machte die frühe Phase der Anwendung der Oral-Formulaic Theory durchaus anschlussfähig zum damals noch dominanten New Criticism. 26 Bäuml, Franz H.: Varieties and Consequences of Medieval Literacy and Illiteracy. In: Speculum 55 (1980), S. 237-265. 27 Bäuml, Franz H.: Medieval Texts and the Two Theories of Oral-Formulaic Composition: A Proposal for a Third Theory. In: New Literary History 16 (1984/ 85), S. 31-49, hier S. 33. 28 Bäuml, Medieval Texts, S. 42. Ursula Schaefer 12 help to elucidate the complex relationships between orality and medieval written texts. 29 Dass Bäuml hier den Begriff ‘Text’ in einem sehr weiten Sinn benutzt, sollte nicht stören. Bedeutsam ist, dass er mit der folgenden Prämisse das scheinbare Paradox der Gleichzeitigkeit von Mündlichem und Schriftlichem, Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufgelöst hat: […] once the functions of these stereotypes [i.e. die Formeln] are no longer associated exclusively with oral composition, but also with reception, the theory [i. e. die Oral-Formulaic Theory] is extended to apply to certain aspects of written transmission. 30 Wenn ich zurückschaue, waren es Zeilen wie diese, die mich darin bestärkt haben, das scheinbare mediale Dilemma auch terminologisch aufzulösen, und dazu bot sich eben der Begriff Vokalität an. Und weil ich es immer noch nicht anders sagen würde, hier noch einmal die dazu grundlegenden Erwägungen: Dieser Begriff [von dem, was kommuniziert wurde] muß zum einen der Tatsache Rechnung tragen, daß auf der Senderseite Schriftliches vorliegt, das auf der Empfängerseite hörend aufgenommen wird. Wie - den gelungenen Kommunikationsakt vorausgesetzt - das Schriftliche gestaltet sein muß, um hörend rezipiert und auch verstanden zu werden, bzw. wie der hörend Rezipierende das Schriftliche versteht, kann schon aus diesem Grund mit einem Textbegriff, der Schreiben und Lesen, vokale Vermittlung und Hören nicht unterscheidet, kaum erfaßt werden. Es ist deshalb erneut zuerst zu trennen zwischen schriftlichem und mündlichem Diskurs. 31 Der Begriff Vokalität nimmt also erstens ausdrücklich seinen Ausgang von der Problematisierung des Textbegriffs, zweitens hebt er bewusst auf die Alterität der kommunikativen Bedingungen des Mittelalters ab und betont dabei drittens die Rezipientenseite, die Seite der Sinnermittlung. Dass dieses Konzept anscheinend recht brauchbar ist, zeigt seine kurze Rezeptionsgeschichte. 32 Nun habe ich mehrfach hervorgehoben, dass ich den Begriff Vokalität von Paul Zumthor entliehen habe, der in seiner Monographie La lettre et la voix von 1987 vorschlägt, den Begriff oralité durch vocalité zu ersetzen. 33 Als ich 1988/ 1989 an meiner Habilitationsschrift arbeitete, war dies die terminologische Lösung. 29 Bäuml, Franz H.: The Theory of Oral-Formulaic Composition and the Written Medieval Text. In: Comparative Research on Oral Traditions: A Memorial for Milman Parry. Hg. von John Miles Foley. Columbus, OH: Slavica Publishers 1987, S. 29-45, hier S. 42. 30 Bäuml, The Theory, S. 37. 31 Schaefer, Vokalität, S. 43. 32 So bei Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang: Die Welt des Nibelungenlieds. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 26; vgl. auch Heinzle, Joachim: Rezension zu W. Raible (Hg.). Medienwechsel. Erträge aus zwölf Jahren Forschung zum Thema ‘Mündlichkeit und Schriftlichkeit’. Mit einem Namen- und einem umfangreichen Sachregister (ScriptOralia 113). Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 128 (1999), S. 451-455, hier S. 454. 33 Zumthor, Paul: La lettre et la voix. De la „littérature“ médiévale. Paris: Éditions du Seuil 1987, S. 21. Vokalität. Ein Blick zurück in die Zukunft 13 Zu dem Zeitpunkt war der folgende ‘Ideologieverdacht’ - Cerquiglini hebt hier seinen eigenen Begriff variance gegen Zumthors mouvance ab - noch nicht in der Welt: Cette expression [i.e. variance] se distingue du beau terme de mouvance créé par Paul Zumthor […]. Cette notion [i.e. Zumthors mouvance] en effet, qui a suivi l’évolution toujours plus „oraliste“ de la réflexion zumthorienne, en vient à désigner les effets du nomadisme de la voix, de la voix concrète et originaire, sur des textes dont l’écriture n’est plus perçue que comme seconde et réductrice. Sommé de faire entendre une voix originale, l’écrit est mis en doute, d’une façon qui n’est pas sans rappeler le geste qui fonda la philologie […]. 34 Die heuristische Nähe dieser Begriffe ist augenfällig. Die Distanz, die Cerquiglini ausmacht, ist ideologischer, man möchte sagen: ‘religiöser’ Natur. Zumthor gehört - so befindet Cerquiglini - zu den unverbesserlichen „Götzendienern des Mündlichen“, 35 zu den Phonozentrikern, die, wie Derrida das ausgedrückt hat, an die „proximité absolue de la voix et de l’être, de la voix et du sens de l’être, de la voix et de l’idéalité du sens“ glauben. 36 Es sei dahingestellt, ob Zumthor tatsächlich um das Goldene Kalb der Oralität tanzt, statt den Bund einzugehen, dessen Urkunde mit dem Finger Gottes geschrieben wurde. Ich jedenfalls gehe mit dem Folgenden nicht von der „proximité absolue de la voix et de l’idéalité du sens“ aus: In der Vokalität herrschten die semiotischen Bedingungen der oral/ auralen Kommunikation, die ihrerseits wiederum in einer ihr eigenen Weise das Verbale unlösbar mit der außersprachlichen Welt verknüpfen. Sinnermittlung kann in der Oralität/ Vokalität nur in der Welt erfolgen. 37 Selbstverständlich ist ‘Welt’ hier der problematische Begriff, und da hilft es wahrscheinlich nicht, wenn ich mich darauf zurückziehe, mit „Sinnermittlung in der Welt“ nur das umzuformulieren, was beispielsweise Deborah Tannen 1982 - im Anschluss an David R. Olson - in die Formel gepackt hat: „[…] in an oral tradition […] ‘the meaning is in the context’. In contrast, in literate tradition, ‘the meaning is in the text’“. 38 Ich sortiere noch einmal meine eigenen Prämissen: (1) Der Begriff Vokalität ist zwar insofern ‘phonisch orientiert’, als er die besonderen medialen Bedingungen des Mittelalters zum Ausdruck bringen soll. Dabei geht es per se jedoch nicht darum, eine ontische Relation zwischen Stimme und Signifikat zu unterstellen, sondern um die Frage, wie unter diesen historischen Bedingungen Sinn vermittelbar und ermit- 34 Cerquiglini, Éloge, S. 120, Anm. 19. 35 Siehe oben. 36 Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris: Éditions de Minuit 1967, S. 23. 37 Schaefer, Vokalität, S. 92. 38 Tannen, Deborah: The Oral/ Literate Continuum in Discourse. In: Spoken and Written Language. Exploring Orality and Literacy. Hg. von D. Tannen. Norwood, NJ: ABLEX 1982, S. 1- 16, hier S. 2; sie bezieht sich auf den Artikel: Olson, David R.: From Utterance to Text. The Bias of Language in Speech and Writing. In: Harvard Educational Review 47 (1977), S. 257- 281. Ursula Schaefer 14 telbar ist. (2) Dabei verstehe ich unter ‘historischen Bedingungen’ im gegebenen Zusammenhang zum einen den Umstand der ‘hybriden Situation’, in der auch Schriftliches über die Stimme vermittelt und damit über das Hören rezipiert wurde; zum anderen vermute ich aufgrund der ‘Relativitätstheorie der Medien’, dass Vermittlung wie Rezeption anderen Bedingungen als jenen folgen, die wir aus der voll entfalteten Schriftlichkeit kennen. (3) Sinn wiederum ist nichts Vorgegebenes, das sich beipielsweise aus der „proximité absolue […] de la voix et du sens de l’être“ ergibt. Vielmehr verstehe ich unter Sinn das, was sich im Rahmen der gegebenen kommunikativen Bedingungen über den vorhandenen Wissensbeständen als solcher konstituiert. Mit Berger und Luckmann: „Knowledge about society is […] a realization in the double sense of the word, in the sense of apprehending the objectivated social reality, and in the sense of ongoingly producing this reality.“ 39 Mein Verständnis von ‘Welt’, ‘Wirklichkeit’, ‘Kontext’ ist hier also wissenssoziologisch, weil ich meine, dass im Mittelalter Sinnvermittlung und Sinnermittlung weder nach dem Diktat des invariablen Texts noch nach dem der Derridaschen différance verlaufen. Weiter scheint mir - und da herrscht wohl auch Einigkeit mit Cerquiglini - der mediale Umbruch des 11. und 12. Jahrhunderts durchaus dramatisch im Blick auf die weitere Entwicklung von Encodierungs- und Decodierungsstrategien. Doch bereits beim ersten Einrücken der Schriftlichkeit in die Volkssprache treten die beiden Strategien potentiell auseinander. Man sollte also einerseits nicht davon ausgehen, dass Encodierung und Decodierung immer kongruent sind, und muss andererseits vermuten, dass auch im Medium der Schrift mündliche Encodierungsstrategien weiter genutzt werden. 40 Mit Berger und Luckmann gesprochen werden unter diesen Verhältnissen auch im Medium der Schrift Strategien der „sprachlichen Objektivierung“ verwendet, die man - auf der Produktionsseite - schon hinter sich lassen könnte. Die Formelhaftigkeit ist eine solche Strategie, und mit diesem Begriff kann verallgemeinert werden, was Berger und Luckmann unter anderem als typisch für die „zweite Legitimierungsebene“ sehen, nämlich Sprichwörter, moralische Maximen und Spruchweisheiten, die sinnvermittelnd als „highly pragmatic [schemes], directly related to concrete actions“ funktionieren. 41 Diese Beobachtung deckt sich mit Befunden der Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung, und zwar einmal auf allgemeiner Ebene in der Fest- 39 Berger, Peter L. und Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. Harmondsworth: Penguin 1971 [erste amerikanische Aufl. 1966], S. 84. 40 In Vokalität, Kap. 2 habe ich auch den (lateinischen) monastischen Schulbetrieb, der stark ‘stimmlich’ orientiert war, der ‘Vokalität’ zugeordnet. Dies klammere ich hier bewusst aus, ebenso wie die Memoria. Hier bedürfte es sicherlich noch weiterer Forschungsanstrengungen. 41 Berger/ Luckmann, Social Construction, S. 112; in Teil II von Vokalität habe ich auf dieser Basis die in der altenglischen Dichtung omnipräsente Gnomik analysiert, die dort ein ‘genreunabhängiges’ Phänomen ist, im dem ein hohes Sinnvermittlungspotential steckt. - Der Sprachwissenschaftler Makkai hat Sprichwörter u. ä. als „kulturell-pragmatische Institutionen“ bezeichnet; Makkai, Adam: Idiom Structure in English. The Hague: Mouton 1972, S. 169. Vokalität. Ein Blick zurück in die Zukunft 15 stellung: „in oral tradition the meaning is in the context“; zum zweiten im speziellen Blick auf Formeln, die, wie Tannen sagt, „function as wholes, as a convenient way to signal knowledge that is already shared“. 42 Diese besondere pragmatische Funktion des formelhaften Ausdrucks ist anscheinend transhistorisch. Auch wir benutzen Formeln in hochpragmatischen Situationen wie die der verbalen Begrüßung, die uns mit dem Gegenüber auf dem ‘Gemeinplatz’ versammelt, von dem aus weitere Interaktionen vonstatten gehen können. Die gesprochene Sprache kann weiter so funktionieren, obgleich wir ansonsten weitgehend jene Sinnwelt bewohnen, in der wir davon ausgehen, dass unsere Wissensbestände in Texten sozusagen ‘ausgelagert’ aber doch immer wieder zugänglich sind. Diese ‘Auslagerung des Wissens’, mit Havelock: die Trennung zwischen „Wissendem“ und „Gewusstem“, 43 beginnt im Mittelalter in großem Maß im 12. Jahrhundert. Und davon, dass man erst lernt, mit diesem Instrument zu hantieren, zeugen beispielsweise die ‘Fälschungen’ dieser Zeit. 44 Im Zug des Übergangs der Wissenssicherung in der kollektiven Erinnerung hin zur Verschriftlichung des Wissens gibt man dem eben eine schriftliche Form, was als ‘kollektiv Erinnertes’ verstanden wurde - oder auch nur, was man als solches gerne verstanden haben möchte. Texte waren noch nicht gänzlich als geschlossene Sinneinheiten konstituiert, und mit dem „renewal of evidence“ (Clanchy) 45 vollzog man fürs erste nur einen medialen Wechsel. Der Hinweis auf die Fälschungen des 12. Jahrhunderts zeigt aber auch, dass wir die Frage nach dem Übergang von der ‘mündlicheren’ zur ‘schriftlicheren’ Sinnkonstituierung nicht auf volkssprachliche Dichtung beschränken sollten. Es gibt durchaus auch andere Felder, in denen im Mittelalter der Rekurs auf vorgängig ‘geteiltes Wissen’ geraume Zeit dominiert. Dies gilt beispielsweise für das Rechtsverständnis des früheren Mittelalters. So wird in der Epoche bei Rechtsstreitigkeiten, wie Hanna Vollrath beobachtet, „die Auskunft darüber, was rechtens war, beim mündlichen Weistum und nicht beim schriftlichen Rechtstext“ gesucht, 46 es musste öffentlich 42 Tannen, Oral/ Literate Continuum, S. 1; weitere Überlegungen zur Pragmatik der Formelhaftigkeit habe ich ansatzweise dargelegt in Schaefer, Ursula: The Pragmatics of Formulaic Diction: Interfaces Between Historical Linguistics, Literary Studies, and Cognitive Linguistics. Anglistentag 1997 Giessen - Proceedings. Hg. von R. Borgmeier, H. Grabes und A. H. Jucker. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1998, S. 67-74. 43 Havelock, Eric A.: The Muse Learns to Write. Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present. New Haven/ London: Yale University Press 1986, S. 114. 44 Vgl. hierzu Clanchy, Michael T.: From Memory to Written Record. England 1066-1307. 2 Aufl. Oxford: Blackwell Publishers 1993, S. 318-327; zu solchen Fälschungen zählt Clanchy nicht nur Rechtsdokumente, sondern beispielsweise auch die Historia regum Britanniae des Geoffrey von Monmouth. 45 Clanchy, From Memory, S. 322. 46 Vollrath, Hanna: Rechtstexte in der oralen Rechtskultur des früheren Mittelalters. In: Mittelalterforschung nach der Wende 1989. Hg. von Michael Borgolte. Beiheft zur Historischen Zeitschrift Nr. 20. München: Oldenbourg 1995, S. 319-348, hier S. 334. Ursula Schaefer 16 gefunden werden aus dem „Wechsel von Frage und Antwort“. 47 Weil dieses Prinzip das vorherrschende ist, kann in der Umkehrung dem, was vielleicht erst als ‘geteiltes Wissen’ etabliert werden muss, dadurch Autorität verliehen werden, dass es in der - in mehreren Hinsichten - ‘tradionellen’ Weise dargeboten wird. Wenn im Altenglischen nicht nur im Beowulf, sondern auch im Bibelepos Exodus der Erzähler mit einer Variante der Formel „Hört! Wir haben (durch Fragen) erfahren“ anhebt, sind beide Epen gleichermaßen in eine Sinnwelt integriert. 48 Ich hatte vor über zehn Jahren vorgeschlagen, all dies unter den Begriff der Vokalität zu fassen und glaube auch heute noch, dass dieses Konzept sehr weit trägt. Dass ich hier in meinem Rückblick die New Philology einbezogen habe, sollte nicht nur „the other“ identifizieren, um an dessen Konturen entlang das „self“ zu konstruieren. Heute zu versuchen, den einen Ansatz gegen den anderen auszuspielen, wäre allemal töricht. Ohne Zweifel hat der Strang der New Philology, der sich mit der Geschichte der philologischen Fächer auseinandersetzt, Interessantes geleistet. 49 Darüber hinaus hat die New Philology unseren Blick für die Denaturiertheit der ‘Text’- Editionen geschärft. Dies selbst offensichtlich nicht in ausreichendem Maß expliziert zu haben - auch dies muss noch einmal festgehalten werden - ist ein echtes Versäumnis der Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung. Dennoch sollte es nicht darum gehen, New Philology und Mündlichkeit/ Schriftlichkeit-Forschung in ein exklusives Verhältnis zu setzen, denn beide haben - wenn auch auf unterschiedlichen Wegen - entscheidend dazu beigetragen, uns der medial bedingten Prämissen bewusst zu werden, mit denen wir uns unseren Gegenständen nähern. Hinter den problematisierten Textbegriff wird man nicht mehr zurückkönnen, und wenn dies der gemeinsame Nenner ist, auf den sich die historischen ‘Text’-Wissenschaften im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geeinigt haben, sollte man dies - aus allen Perspektiven sine ira - als großen Gewinn ansehen. Im Ensemble der Wissenschaften ist es nun einmal die differentia specifica der Geisteswissenschaften, dass sie sich die Bewegung durch den hermeneutischen Zirkel erlauben dürfen. Insofern ist auch die Rede von den ‘Paradigmenwechseln’ in unseren Disziplinen eigentlich kontraproduktiv. Gott sei Dank mögen nämlich „Sprachlaute“, bestimmt aber nicht die Mediävistinnen und Mediävisten „mit der 47 Vollrath, Rechtstexte, S. 339. Ähnliches finden wir bei der lateinischen Geschichtsschreibung. So bezieht sich beispielsweise Beda zwar ausdrücklich auf schriftliche Quellen, aber auch auf „fideli innumerorum testium, qui haec scire uel memenisse poterant“ („[…] die verlässliche Aussage unzähliger Zeugen […], die das wissen oder sich daran erinnern konnten […]“); Venerabilis Bedae Historica Ecclesiastica Gentis Anglorum - Beda der Ehrwürdige, Kirchengeschichte des englischen Volkes. Hg. und übers. von Günter Spitzbart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, lat. S. 18/ dt. S. 19 (‘Praefatio’). 48 Beowulf beginnt mit: Hwæt we […] gefrunon („Hört! Wir […] haben (durch Fragen) erfahren“; Z. 1f.), Exodus mit Hwæt we gefrugnan […] („Hört! Wir haben (durch Fragen) erfahren […]“; Z. 1); das ae. Verb frignan ist urverwandt mit dtsch. fragen; s. dazu Schaefer, Vokalität, S. 133-154. 49 S. dazu beispielsweise den Band Bloch, R. Howard und Stephen G. Nichols (Hg.): Medievalism and the Modernist Temper. Baltimore/ London: The Johns Hopkins University Press 1995. Vokalität. Ein Blick zurück in die Zukunft 17 Präzision preußischer Grenadiere alle genau dieselbe Bewegung“ vollziehen. 50 Das ist weder in den USA noch bei uns so. Sie können sich aber darauf einigen, dass manche heuristischen Wege erfolgsversprechender sind als andere. Der Begriff Vokalität sollte und soll einen solchen Weg weisen. Literaturverzeichnis Editionen Spitzbart, Günter (Hg. u. Übers.): Venerabilis Bedae Historica Ecclesiastica Gentis Anglorum - Beda der Ehrwürdige, Kirchengeschichte des englischen Volkes. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982. Monographien Berger, Peter L. und Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. Harmondsworth: Penguin 1971 [erste amerikanische Aufl. 1966]. Bumke, Joachim: Die vier Fassungen der ‘Nibelungenklage’: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 1996. Cerquiglini, Bernard: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris: Éditions du Minuit 1989. Clanchy, Michael T.: From Memory to Written Record. England 1066-1307. 2. Aufl. Oxford: Blackwell Publishers 1993 [1. Aufl. 1979]. Derrida, Jacques: De la grammatologie. Paris: Éditions du Minuit 1967. Foley, John Miles: The Theory of Oral Composition. History and Methodology. Bloomington/ Indianapolis: Indiana University Press 1988. Goody, Jack: The Domestication of the Savage Mind. Cambridge: Cambridge University Press 1977. Havelock, Eric A.: The Muse Learns to Write. Reflections on Orality and Literacy from Antiquity to the Present. New Haven/ London: Yale University Press 1986. Lord, Albert: The Singer of Tales. 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Gefangene -Stimmen -- -Geordnete -Körper. - Die -Stimme -in -Texten -des -Mittelalters. Eine -Skizze - M IREILLE S CHNYDER , Z ÜRICH Die Forschungen zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Vokalität und Textualität haben in den letzten Jahrzehnten immer neu die Grenzen gesucht, die eine orale Kultur von einer schriftlichen Kultur trennen, die mündliche Kommunikation und schriftliche Kommunikation unterscheiden, die vielleicht Aufschluss geben könnten darüber, wie Klänge und Stimmen die nur schriftlich überlieferten Sprachgebilde begleitet, gefärbt und ergänzt haben könnten, ja, wie vielleicht sie selber in den Texten noch ihre Spuren hinterlassen haben. Dabei geht man in der Regel davon aus, dass die physische Präsenz, die die Wahrnehmung der Stimme fordert, die aber in den Texten nicht mehr nötig ist, zu einer Abstraktion des Sprachlichen geführt habe, einer „Exkarnation“, um einen Begriff von Aleida Assmann zu brauchen. Im Folgenden soll die Frage gestellt werden, inwiefern nicht gerade die in der Schrift überlieferten Stimmen erst die enge Bindung an den Körper ermöglichten, inwiefern der Stimme nicht erst in der Schriftkultur ein Körper gegeben wurde. Es soll hier denn weniger um die Stimme der Texte gehen, als um die Stimme in einer durch Texte geformten und überlieferten Kultur: Was sind das für Stimmen und wie begegnen sie uns? 1 Es interessieren also die verschiedenen Möglichkeiten der Diskursivierung der Stimme in einer von Schrift geprägten Kultur und die darin sich ausprägende Wahrnehmung der Stimme. Sucht man Stimmen in Texten des Mittelalters, ist zu unterscheiden zwischen der im Text thematisierten Stimme, reflektiert und benannt, und der in den Texten verschriftlichten Stimme, der Vokalität der Texte. Zwei verschiedene Dinge, zwei verschiedene Ebenen, zwei methodisch verschieden anzugehende Bereiche, die aber vielleicht zum Schluss mehr miteinander zu tun haben, als auf den ersten, methodisch-theoretischen Blick angenommen. In einem ersten Schritt geht es mir also darum zu fragen, wo und in welchen Zusammenhängen überhaupt von Stimme geredet wird, wie sie definiert wurde und in welchen Kontexten sie thematisiert ist, um dann, in einem zweiten Schritt, die Frage nach den Stimmen der Texte zu stellen. 1 Es fällt auf, dass in der theoretischen Reflexion die Stimme sich erst über die Schrift so richtig mit dem Körper verbindet, zumindest mit dem Körper, von dem die Rede ist: dem gegliederten. So kann man sagen, dass die Stimme im Moment, in dem sie Thema wird, schon in die Schrift verkörperte Stimme ist, oder auf diese hin gesehen ist. Mireille Schnyder 22 Besprochene -Stimmen 1. - Stimmen -in -theoretischen -Texten Für die Zeit des Mittelalters gibt es hauptsächlich zwei Bereiche, in denen die Stimme zum Objekt theoretischer Überlegungen werden musste, wobei beide Bereiche eine weltliche und eine religiöse Seite haben, die eng ineinander verflochten sind: Gesang und Sprache. a) - Der -Körper -der -Stimme Gesang und Sprache sind beides ‘Künste’, die mit dem Material der menschlichen Stimme arbeiten und darauf angewiesen sind. Entsprechend beginnen die Grammatiken in der Regel mit einem Kapitel zur ‘Stimme’ (vox). 2 Darin wird vox definiert als geschlagene, gestoßene Luft (aer ictus), die das Ohr des Hörenden berührt und so den Klang überträgt. 3 Wichtig ist dabei, dass die Luft, die man sich korpulent und dicht vorstellt (corpulentus et spissus) 4 , erst durch das Schlagen zu vox wird. Stimme hängt somit nicht nur von der Luft ab, sondern auch von der Bewegung. Entsprechend können nur Lebewesen eine Stimme im eigentlichen Sinn haben. 5 Beim Menschen wird das Schlagen der Luft durch die Zunge verursacht, wobei nicht irgendwelche Luft getroffen wird, sondern diejenige, die sich in der den Mund mit dem Herz verbindenden „Arterie“ befindet 6 ; eine Vorstellung, die Herz und Stimme in einen sehr direkten und bedeutungsschweren Bezug setzt. Soll nun mit dieser durch die Zunge geschlagenen Luft gesprochen werden, muss der konfuse Klang der vox gegliedert werden (vox articulata). Und diese artikulierte Stimme ist es, die die Grammatiker, Theologen und Sprachtheoretiker in erster Linie interes- 2 Der Abschnitt Der Körper der Stimme lehnt sich an das entsprechende Kapitel an in: Schnyder, Mireille: Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200. Historische Semantik 3, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 50-54. 3 Zwei Beispiele für viele: Donatus: „Vox est aer ictus sensibilis auditu, quantum in ipso est.“ Ars Grammatica. Probi Donati Servii qui feruntur de arte grammatica libri. Hg. von Heinrich Keil. Unveränd. reprogr. Nachdr. Grammatici Latini 4. Hildesheim (Leipzig): Olms 1961 (1864), De voce, S. 367; Priscianus: „Philosophi definiunt, vocem esse aerem tenuissimum ictum vel suum sensibile aurium, id est quod proprie auribus accidit.“ Institutionum grammaticarum libri XVIII. Hg. von Martin Hertz. GL 2. Hildesheim: Olms 1961, lib.1, De voce, S. 5. 4 Remigius von Auxerre: Commentum Einsidlense in Donati artem maiorem. Hg. von Hermann Hagen. GL 8 (Supplement Anecdota Helvetica). Hildesheim: Olms 1961, De voce, S. 220. 5 Isidor definiert: „Vox est aer spiritu verberatus, unde et verba sunt nuncupata. Proprie autem vox hominum est, seu inrationabilium animantium. Nam in aliis abusive non proprie sonitum vocem vocari, ut ‘vox tubae infremuit’ […]“. Etymologiarum sive originum libr XX. Hg. von W. M. Lindsay. 2 Bde. Repr. Oxford: Oxford University Press 1957, lib. III, xx, 1f. Die Spezifizierung der menschlichen Stimme (vox humana) gegenüber anderen Stimmen stellte ein eigenes, v. a. theologisches Problem dar, auf das hier nur am Rand eingegangen werden wird. 6 „Ictus id est percussus. A quo? plectro linguae, idest reuolutione. Vbi? in arteriis, idest in uiis spiritus. Arteriae autem sunt os compaginatum a gutture usque ad cor.“ Remigius von Auxerre, Commentum Einsidlense, De voce, S. 219f. Gefangene Stimmen - Geordnete Körper 23 siert. Denn die Sprache ist es, die den Menschen auszeichnet und ihn vom Tier unterscheidet, das auch Stimme hat, aber nicht artikulieren kann. Wenn von voces die Rede ist, sind die Sprachlaute gemeint, dann auch die verschiedenen Sprachen, die verschiedenen „Zungen“. 7 Artikulierte Stimme ist nun aber in der Theorie der Grammatiker auch schreibbare Stimme. Vox articulata und vox literata werden in ein gegenseitiges Definitionsverhältnis gebracht, so dass sie schließlich zusammenfallen: artikuliert heißt schreibbar, schreibbar heißt artikuliert. 8 Das kann so weit gehen, dass in etymologisierenden Deutung vox articulata ganz direkt an den Schreibakt gebunden wird, indem erklärt wird, dass sie nach „den kleinen Gelenken, mit denen die Feder oder das Schreibrohr gehalten werden, wenn die Stimme schriftlich geformt wird“ benannt sei. 9 Es ist die Sprache, die die Stimme in den Körper bindet, die ihr einen Körper gibt. Sie ist es, die die Stimme zum Abbild des Menschen macht, da sie sich „in der Art des menschlichen Körpers“ aus einzelnen Gliedern zusammensetzt. 10 Und sie ist es, die, als geschriebene und in Schrift gegliederte Laute, ein körperhaftes Ganzes aus verschiedenen Teilen zusammensetzt; ein Satz lässt sich in Wörter, diese sich in Silben, dann Buchstaben teilen, bis diese, als kleinste, nicht mehr weiter teilbare ‘Atome’ - oder eben ‘Elemente’ -, die Elemente evozieren, aus denen sich natürliche Körper zusammensetzen. Ein Gedanke, der immer wieder aufgenommen wird, wenn auch meistens mit dem Hinweis, dass ‘Element’ eigentlich nicht der Buchstabe, sondern nur der Laut genannt werden könne, nicht das Zeichen, sondern die Sache. 11 Der Buchstabe ist erst Möglichkeit (potestas), die in der Aussprache, wenn 7 Die Zunge ist, zusammen mit den anderen Sprechwerkzeugen (Lippen, Zähne, Gaumen, Rachen), an der Stimmbildung und Artikulation maßgeblich beteiligt. So kann Abaelard so weit gehen, dass er die vox von anderen Geräuschen (wie dem Husten) dadurch unterscheidet, dass an diesen die Zunge nicht beteiligt ist: „Est autem vox Boethio teste ‘aëris per linguam percussio, quae per quasdam gutturis venas, quae arteriae vocantur, ab animali profertur’. Quod autem dixit ‘percussio aëris’, est tale, ac si diceret exsistere per aëris percussionem, et est definitio data per causam sicut illa quam ponit Victorinus: dies est sol lucens super terram, hoc est quod exsistit gratia solis lucentis. Et similiter <vox> gratia percussionis aëris, id est sonantis ex percussione per linguam. Nam et tussis licet per easdem arterias procedat, quia tamen nulla impressione linguae formatur, vox non est.“ Petrus Abaelard: Glossen zu Peri hermenias. Peter Abaelards philosophische Schriften. Hg. von Bernhard Geyer. Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 21. Münster: Aschendorff 1919-33, S. 307-503, hier: S. 335. 8 Auch wenn wahrgenommen wird, dass es mehr Laute als Buchstaben gibt, existiert die Idee eines vom Buchstaben gelösten Lautwerts nicht - höchstens hat ein einzelner Buchstabe mehrere Werte. Vgl. dazu Irvine, Martin: The Making of Textual Culture. ‘Grammatica’ and Literary Theory 350-1100. Cambridge: Cambridge University Press 1994, S. 96, 98, 101. 9 „Articulata, uox dicitur uel ab articulis idest paruis artubus, quibus penna tenetur vel calamus, dum uox formatur litteralis.“ Remigius von Auxerre, Commentum Einsidlense, De voce, S. 220. 10 „seu potius ab artubus idest membris suis, uidelicet litteris syllabis et partibus, quibus instar corporis humani perficitur.“ Remigius von Auxerre, Commentum Einsidlense, De voce, S. 220. 11 Vgl. u. a.: Alcuin: Grammatica. Patrologia Latina 101, Sp. 855A; Priscianus, Institutionum, De littera, S. 6f.; Remigius von Auxerre, Commentum Einsidlense, De littera, S. 222. Zu der stoischen Tradition, die dahintersteht, vgl. Irvine, Textual Culture, S. 100. Mireille Schnyder 24 sie sich in einer Stimme verkörpert, bewegende Kraft (vis) wird. 12 Denn der Buchstabe ist ja doch nur „Zeichen der Stimme“ (signum vocis). 13 Die Körperlichkeit der Stimme ist nicht nur im Verweis auf Luftkörper und Elemente fassbar, sondern auch in dem körperlich messbaren einzelnen Laut selber, dem Höhe/ Tiefe, Breite und Länge zugeschrieben werden. 14 Und hat Remigius durch den Vergleich mit dem aus einzelnen Gliedern zusammengesetzten menschlichen Körper die Anthropomorphisierung der vox articulata impliziert, wird auch im Zusammenspiel der einzelnen Laute eine Analogie zum Menschen gesehen. Dabei wird aber nicht mehr nur der Körper bedacht, sondern die notwendige Verknüpfung von Seele und Körper in der Lebenswelt: wie der Körper sich nicht ohne Seele bewegen kann, können sich die Konsonanten nicht ohne Vokale bewegen. 15 b) - Das -natürliche -Instrument Es ist aber nicht nur die zum Sprachkörper gegliederte Stimme, die die Theoretiker interessiert, sondern auch die modulationsfähige Stimme, vor allem als Mittel des Gotteslobs. Die Modulationsfähigkeit der Stimme ist dazu da, Gott in allen Tönen zu loben. Und in diesem Zusammenhang trifft man auf Differenzierungen der Qualität der Stimmen. Isidor nennt unter anderem: „liebliche Stimmen“, die „fein und dicht, klar und hell“ sind, „deutliche Stimmen“, die man weithin hört, „feine Stimmen“, die „keinen Atem haben, wie bei den Kindern, Frauen und Kränkelnden“ und „fette Stimmen“, „wenn viel Atem gleichzeitig ausgestoßen wird, wie bei den Männern“. Die perfekte Stimme ist aber für ihn „hoch, lieblich und klar: hoch, damit sie das Sublime erreicht, klar, damit sie die Ohren füllt, lieblich, damit sie den Seelen der Hörer schmeichelt.“ 16 Dabei wird die Stimme als natürliches Instrument den artifiziellen Instrumenten entgegengestellt, letztlich ihnen übergeordnet. Jacobus von Lüttich begreift Zunge, Zähne, Gaumen, Lunge und Luftröhre als klangerzeugende Bestandteile der vox humana und zählt, in Abgrenzung zu den instrumenta artificialia, die Stimme zu den 12 „Vis verbi est, qua cognoscitur quantum valeat. Valet autem tantum quantum movere audientem potest.“ Augustinus: De Dialectica. Transl. with introduction and notes by B. Darrell Jackson. Synthese Historical Library 16. Dordrecht und Boston: Kluwer Academic Publ. 1975, VII, S. 100. 13 Remigius von Auxerre, Commentum Einsidlense, De littera, S. 221. Vgl. auch Augustinus, De Dialectica, V, S. 88. 14 „nam si aer corpus est, et vox, quae ex aere icto constat, corpus esse ostenditur, quippe cum et tangit aurem et tripertito dividitur, quod est suum corporis, hoc est in altitudinem, latitudinem, longitudinem, unde ex omni quoque parte potest audiri. praeterea tamen singulae syllabae altitudinem quidem habent in tenore, crassitudinem vero vel latitudinem in spiritu, longitudinem in tempore.“ Priscianus, Institutionum, De littera, S. 6. 15 „Vocales sunt sicut animae, consonantes sicut corpora. Anima vero et se movet et corpus. Corpus vero immobile est sine anima.“ Alcuin, Grammatica, Patrologia Latina 101, Sp. 855B. 16 Vgl. Isidor, Etymologiarum, lib. III, xx. Gefangene Stimmen - Geordnete Körper 25 [instrumenta] naturalia. 17 Und Ambrosius vergleicht den Körper des Menschen mit einem Instrument, die Seele aber mit der Stimme: Wenn das Instrument kaputtgeht, bleibt noch der Gesang. 18 Interessant ist dieser Vergleich deshalb, weil er auf die Vorstellung einer nicht in die Welt artikulierten Stimme, einer körperunabhängigen vox rekurriert, der die Zeit nichts anhaben kann. Und Abaelard, Boethius zitierend, definiert den Unterschied der natürlichen Stimme zu der artifizierten, d. h. artikulierten und bezeichnenden Stimme so, dass die vox naturalis die Möglichkeit des Bezeichnens ist, die Bezeichnung selber aber durch Setzung geschieht, so wie die Bewegung dem Menschen natürlich ist, das Springen aber Kunst. 19 Entsprechend ist die vox humana da, wo sie nicht gegliedert ist, wo sie noch keine Gestalt hat, allgemeinverständlich. Die babylonische Verwirrung betrifft nur die vox articulata, die Teil menschlicher ‘Kunst’ ist. Dadurch wird die Stimme (vox humana) zum eigentlich ‘natürlichen’ Ausdruck. Erst ihre Gliederung, ihre spezifische Verkörperung diversifiziert sie unter den Menschen. Eine These, die ihre Zuspitzung bei Abaelard findet, der die Unterschiede nur noch in den von Menschen gesetzten voces et litterae sieht. In der Möglichkeit zu dieser Differenzierung, d. h. der Möglichkeit, ein rationales Sprachsystem zu schaffen, liegt aber auch eine Auszeichnung des Menschen. 20 Denn das Tier kann seine Stimme nicht zu einem Zeichensystem gliedern. Auch wenn die menschliche Stimme vor ihrer Artikulation Naturlaut ist wie die Tierlaute, hat sie aber, im Gegensatz zu diesen, die Möglichkeit, bezeichnend zu sein. 21 Und dadurch hat der Mensch die Möglichkeit, über die Sprache (vox articulata) seinen stimmlichen Ausdruck zu ordnen und beherrschen. 22 17 Speculum Musicae, lib. I.15. Vgl. Tammen, Björn R.: Musik und Bild im Chorraum mittelalterlicher Kirchen. Berlin: Reimer 2000, S. 288, Anm. 16. Zu den verschiedenen Klassifikationstraditionen von vox vgl. Franz Müller-Heuser: Vox humana. Ein Beitrag zur Untersuchung der Stimmästhetik des Mittelalters, Kölner Beiträge zur Musikforschung 26. Regensburg: Gustav Bosse 1963 S. 4-6. 18 Ambrosius: De Jacob et vita beata I, viii, 39. Patrologia Latina 16, Sp. 614; CSEL, xxxii, 2, 30- 31. (Zitiert nach: McKinnon, James: Music in Early Christian Literature. Cambridge: Cambridge University Press 1987, S. 129). 19 „‘Sicut enim omnium artium naturaliter sumus susceptibiles, eas tamen non naturaliter habemus, sed doctrina accipimus, ita vox quidem naturaliter est, sed non naturaliter significat’, sed positione et sicut ‘moveri homini naturale est, saltare vero quorundam artificum est, ita quoque possibilitas significandi et ipsa vox naturalis est, significatio vero per impositionem est’.“ Petrus Abaelard, Glossen, S. 307-503, hier: S. 372. 20 Entsprechend ist die Art der Bezeichnung der Sprachen als Ausdruck des Intellekts dieselbe, auch wenn die Zeichen selber sich unterscheiden. Vgl. Petrus Abaelard, Glossen, S. 307-503, hier: S. 323 und 324. 21 „Naturales quidem voces, quas non humana inventio imposuit sed sola natura <contulit>, naturaliter <et non> ex impositione significativas dicimus, ut ea quam latrando canis emittit, ex qua ipsius iram concipimus. Omnium enim hominum discretio ex latratu canis eius iram intelligit, quem ex commotione irae certum est procedere in his omnibus quae latrant. Sed huiusmodi voces quae nec locutiones componunt, quippe nec ab hominibus proferuntur, ab omni logica sunt alienae. Eas igitur solas oportet exsequi quae ad placitum significant, hocest secundum voluntatem imponentis, quae videlicet prout libuit ab hominibus formatae ad humanas locutiones constituendas sunt repertae et ad res designandas impositae, ut hoc vocabulum ‘Abaelardus’ mihi ideo collocatum est ut per ipsum de substantia mea agatur.“ Petrus Mireille Schnyder 26 Die nicht in Sprache gegliederte Stimme gilt also als natürlicher Ausdruck, als unwillkürlich, d. h. nicht den künstlichen, vom Menschen gemachten Sprachgesetzen unterworfen und damit auch nicht im Zeichennetz der Sprachlaute gefangen. Dadurch ist die Stimme kein signum datum, vom Menschen gesetztes Zeichen, sondern ein natürliches Zeichen (signum naturalium), unwillkürlich und absichtslos (sine voluntate atque ullo appetitu significandi). 23 Es ist der Verstand des Menschen, der die Stimme bändigt und formt, der sie in eine Ordnung bringt, die ihrerseits Ausdruck der ratio ist. Insofern die Artikulation in die Sprache, die Gliederung der Stimme zu einer Gestalt, Ausdruck menschlichen Verstandes ist, gehört es zur Aufgabe des Menschen, mit dem Mittel der Sprache Herr über die Stimme zu sein. 24 Enstprechend können die ungegliederte Stimme, die nicht verständliche Stimme und die Sprachlosigkeit Zeichen von einem Verstandesdefizit sein. In diesem Zusammenhang ist die von Beda berichtete Heilung eines Stummen durch den Bischof von Hexham aufschlussreich: Nachdem dem vollkommen stummen Knaben durch ein Kreuzeszeichen die Zunge gelöst und so - mit Gottes Hilfe - eine Stimme gegeben wurde, führte ihn der Bischof Schritt für Schritt in die Sprache, als der in die zeitliche und vergängliche Welt hineinartikulierten Stimme ein, indem er ihm einen Elementarkurs in Grammatik erteilte. 25 Interessant ist dabei weniger die mirakulöse Heilung als ihre Zweistufigkeit. Ist die vox - von Gott - gegeben, muss sie noch - durch menschliche Anleitung - articulata werden, bevor der Knabe geheilt ist. Stimme ist auch hier auf ihre Artikulation hin konzipiert. Und wenn Isidor den Stummen definiert: „Stummer [heißt er], weil seine Stimme keine Rede ist, nicht einmal Stöhnen“ 26 wird der Stumme darin nicht nur aus der Sprachwelt als der Welt artikulierter Stimme ausgeschlossen, sondern es wird ihm grundsätzlich die Stimme abgesprochen, auch die unartikulierte, aber noch als vox humana erkennbare Stimme. 27 In der Stummheit, als dem vorstimmlichen Zustand, wird die Sprache selber verschwiegen. Deshalb kann im geistlichen Kontext derjenige, der das Gotteslob verschweigt, als „stumm“ bezeichnet werden, da er das wahre Wort, „ohne das die menschliche Beredsamkeit stumm ist“, 28 nicht kennt. Erst die Gotteserkenntnis gibt eine vox humana als Möglichkeit der Sprache. Entsprechend kann heilsgeschichtlich die Stummheit auf das Schweigen der Menschen vor der Inkarnation gedeutet werden: Die Heilung des Taubstummen durch Christus (Mk 7,35) ist das Abaelard: Dialectica. Hg. von Lambertus M. de Rijk. 2. Aufl. Assen: Van Gorcum 1970, III, 1, S. 114. Vgl. ebenso: Petrus Abaelard, Glossen, S. 340. 22 Auf die Diskussion darüber, wie und ob die menschliche Stimme, auch wenn sie unartikuliert ist, von den Tierstimmen abzugrenzen ist, kann hier nicht eingegangen werden. 23 Augustinus: De doctrina christiana. Hg. von J. Martin. Corpus Christianorum Series Latina 32. Turnholt: Brepols 1961, II, i,2-ii,3, S. 32f. 24 Vgl. Petrus Abaelard, Dialectica, I, 3, 1, S. 111 und S. 324. 25 Zitiert bei: Irvine, Textual Culture, S. 276f. 26 „Mutus, quia vox eius non est sermo, nisi mugitus[…]“. Isidor, Etymologiarum, X, S. 169. 27 Isidor nennt mit Bedacht das Stöhnen als ein nur der vox humana zugeschriebenes Geräusch. 28 „[…] Verbum, sine quo muta est humana eloquentia.“ Augustinus: Sermones ad populum, II, de tempore. Sermo 188: In Natali Domini, v. PL 38, Sp. 1004. Gefangene Stimmen - Geordnete Körper 27 Bild für die Heilung der seit Adam im verlorenen Gotteslob zur Stummheit verdammten Menschheit. Folgerichtig haben im religiösen Diskurs die Heiden und Ketzer keine menschliche Stimme, geschweige denn eine vox articulata: Sie stöhnen nicht, sie jammern nicht, sondern ihre Stimmen sind die Stimmen von Tieren. Sprachlosigkeit und Sprechunfähigkeit sind also auch Stimmlosigkeit im Sinne einer Absenz der vox humana und werden in diesem Sinnzusammenhang zu Zeichen der Sündhaftigkeit. 29 Es sind Dämonen, die den Stummen am Wort hindern (Lk 11,14), 30 und die gefesselte Zunge (vincula lingua, Mk 7,35) wird durch Christus erst ins Wort erlöst; so wie dem für seinen Widerspruch gegen den Engel mit Stummheit geschlagenen Zacharias (Lk 1,20) durch den Christus ankündigenden Johannes die Sprache wieder gegeben wird. 31 Die Natürlichkeit der Stimme hatte nur auf ihre Artikulationsmöglichkeit hin eine Bedeutung 32 und wurde vor allem da Thema, wo die Stimme (vox) zur Gefahr wurde für das (herrschende) Sprachsystem (vox articulata), in das hinein sie durch den Verstand gebändigt werden muss. Deutlich wird das auch da, wo die Qualität der Stimme am intensivsten beobachtet und reflektiert wird: in der Musik. Klar wird hier zwischen himmlischer und teuflischer Musik unterschieden, wobei der Gesang der Engel sich unter anderem durch Lautstärke und Einstimmigkeit (una voce) charakterisiert, der Teufelsgesang aber durch Dissonanz und Ähnlichkeit mit Tierstimmen. 33 29 Ambrosius sagt: „Mutus ergo populus sine ratione, sine uerbo. […] Mutus est qui non intellegit legem, mutus est qui non intellegit diuinarum seriem scripturarum; uox enim nostra fides est.“ Expositio Evangelii secundum Lucam. Hg. von M. Adriaen. CCSL 14. Turnholt: Brepols 1957, I, 41 und 42, S. 27, 626f. und 647ff. 30 Mit Bezug auf Gregor d. Gr. sagt Petrus Cantor zu dieser Stelle: „Praesident enim quidam daemones quibusdam, ut faciant eos obmutescere quando opus esset loqui. Unde et daemonia muta dici possunt. Quidam similiter daemones praesunt garrulitati, facientes garrulos de quibus philosophus: Quid refert an superius, an inferius intonent? Quidam etiam silentes cum toto mundo fabulantur.“ Verbum abbreviatum. Patrologia Latina 205, cap. LXII, Sp. 191C. 31 Vgl. dazu Ruberg, Uwe: Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters. Münstersche Mittelalter-Schriften 32. München: Fink 1978, S. 44f. und 110f. und Kunz, Claudia Edith: Schweigen und Geist. Biblische und patristische Studien zu einer Spiritualität des Schweigens. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1996, S. 553ff. 32 Zu dieser Sprachbezogenheit der Stimmwahrnehmung und -reflexion vgl. auch Göttert, Karl- Heinz: Geschichte der Stimme. München: Wilhelm Fink, 1998, S. 169-180. 33 Chrysostomos hatte den Gesang des Teufels mit dem Heulen von Hunden und dem Grunzen von Schweinen verglichen. Cäsarius von Heisterbach erkannte den Teufel an schweinischem Grunzen. Dazu: Tammen, Musik und Bild, S. 417. Vgl. auch Hammerstein, Reinhold: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters. 2. Aufl. Bern: Francke 1990, S. 23, 25 und 105. Zum Ideal der una voce vgl. Müller-Heuser, Vox humana, S. 167- 173. Mireille Schnyder 28 c) - Falsche -Stimmen Ist die Stimme - im Gegensatz zu der artikulierten und entsprechend verfälschbaren Stimme - ein natürliches, unwillkürliches und unkontrolliertes Zeichen, kann sie aber doch auch zum Mittel des Teufels werden. Die Verfälschung der Stimme ist in der theologischen und religiösen Literatur vor allem Mittel der teuflischen Verführung und Irritation. Dabei wird jedoch nicht die vox humana entstellt, sondern der Körper eines Menschen, seine natürlichen Instrumente werden vom Teufel für seine eigene Stimme missbraucht. So verschwindet in der von Caesarius von Heisterbach berichteten Episode mit dem bezaubernd schön singenden Geistlichen dessen schöne Stimme im Moment, als ein frommer Mann den Teufel erkannt und ausgetrieben hat. 34 Der Teufel moduliert also nicht die vox humana, sondern ersetzt sie mit eigener Stimme. Oder er nimmt - im Chorgesang - Einfluss auf die gesetzte Tonhöhe der einzelnen Stimmen, nicht auf deren Qualität, um so Dissonanzen zu erzeugen. Mittel gegen einen Missbrauch der Stimmorgane durch teuflische Stimmen ist allein die richtige Artikulation der Stimme: Das genau und bewusst artikulierte Gotteslob, das richtig gesprochene religiöse Wort, machen es der teuflischen Stimme unmöglich, das Material zu dieser Formung zu sein. Es ist die nicht im Wort gebundene Stimme, die gefährlich ist, denn ihr Platz kann usurpiert werden. Deshalb wird die von Sprache losgelöste Stimme immer wieder an die Sprache gemahnt: der Sänger darf nie vergessen, was er singt. 35 Die Stimme muss ins Wort gebunden werden, aufs Wort hin gegliedert werden und im Wort verkörpert ihre Gefahr bändigen. Eine Gefahr, die aber nicht nur darin besteht, dass die unartikulierte Stimme ersetzt werden kann durch eine fremde Stimme, sondern auch in ihrer Wirkung: Die nicht gegliederte Stimme hat eine magische Irrationalität, die sowohl die Zuhörer im eigentlichsten Sinn um den Verstand bringen kann, wie auch bewirken kann, dass der Stimmträger seinen Platz im Kosmos der Welt vergisst: Im schönen, unartikulierten, nicht zum Sprachkörper geformten Klang droht die Todsünde der superbia. 36 34 Caesarius von Heisterbach: Die Wundergeschichten des Caesarius von Heisterbach. Hg. von Alfons Hilka. 1. Bd. Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Bonn: Hanstein 1933, Nr. 47, S. 84. 35 Vgl. dazu auch Müller-Heuser, Vox humana, (S. 17f.) der diese Thematik unter dem Stichwort „psallite sapienter“ zusammenfasst. 36 Bei Tammen findet sich der Hinweis auf Bischof Haimos von Auxerre Klage über Sänger, die die sonoritas ihrer Stimme dazu missbrauchen, den Zuhörern zu gefallen: „Viele singen nur mit dem Mund, [bei vielen] steht die Gesinnung nicht in Einklang mit ihrer Stimme, und viele achten mehr auf den Wohlklang der Stimme, um den Zuhörern zu gefallen, als im Geiste zu bedenken, was sie sprechen.“ Musik und Bild, S. 231 und Anm. 18. Vgl. auch Caesarius von Heisterbach, Die Wundergeschichten, Nr. 48, S. 84. Dazu auch: Müller-Heuser, Vox humana, S. 13-16. Gefangene Stimmen - Geordnete Körper 29 2. - Erzählte -Stimmen Die Fokussierung der menschlichen Stimme auf die Sprache hin zeigt sich auch in den Erzähltexten des Mittelalters. Es gibt nicht viele Stellen, an denen die Stimme losgelöst von einem artikulierten Wort thematisiert ist. Umso aussagekräftiger sind sie. a) - Die -Singstimme Gesang als Teil höfischer Unterhaltung oder Teil von Messe und Gotteslob, wird zwar immer wieder einmal erwähnt, aber ohne irgendwelche, über ein allgemeines süeze hinausgehende Charakterisierung der Stimmqualität oder der Wirkung der Stimme. Wenn etwas interessiert, sind es die gesungenen Worte, ist es der Inhalt des Lieds. 37 Selbst bei Gottfried von Straßburg, diesem Musikfanatiker, dessen Werk wie kein anderes die Welt akustisch darstellt, findet sich keine vom Text losgelöste Singstimme, ist es nicht die Qualität der Stimme, die interessiert, sondern die damit artikulierten Worte. 38 Tristan ist der spilman, nicht der Sänger, sein seitgedœne ist schœne, nicht seine Stimme, seine wunderbaren grüeze harphete er süeze (Tr. 3561- 3568). Wenn sein Gesang erwähnt ist, dann im Zusammenspiel mit Schreiben und Lesen und Erzählen, den ans Wort gebundenen Tätigkeiten. 39 Und bei Isolde genauso: si sanc, si schreip und si las (Tr. 8059). In erster Linie aber videlt auch sie. Und wenn sie singt, ist es eine Pastourelle, eine Form, die durch den Inhalt definiert ist. 40 Da aber, wo die Stimme einmal unabhängig von den Worten bedacht wird, wird Isolde zur Sirene, die die Zuhörer mit der Syrênen sange magnetisch anzieht. Auffallend ist, dass die Stimme eng an die äußere, physische Schönheit gekoppelt wird, indem Isolde offenlîche und tougen durch ôren und durch ougen („öffentlich und heimlich, durch Ohren und Augen“) in die Herzen singt (Tr. 8089-8135). Ihre Schönheit ist heimlicher Gesang, heimliche Harmonie, die mit muotgedœne, einem Klingen im Gemüt, über die Augen sich ins Herz einschleicht. 41 Schönheit der Stimme und physische Schönheit aber, die hier gefährlich verführen und sirenenhaft anziehen, sind beide sine voluntate, absichtslos und unbewusst. Bewusste Täuschung, bewusste Verführung und bewusste Zweideutigkeit ist erst im Wort und der Geste möglich, in 37 Auf die Ausnahme teuflischer Einwirkung auf die Stimme in der geistlichen Literatur wurde oben hingewiesen. 38 Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach der Ausg. von R. Bechstein hg. von P. Ganz. 2 Bde. Deutsche Klassiker des Mittelalters 4. Wiesbaden: Brockhaus 1978. 39 Isolde Weißhand unterhält er: „er seite ir schœniu mære,/ er sanc, er schreib ir unde las“. (Tr. 19192f.) 40 pasturêle bezeichnet den Inhalt, aber nicht die Form eines Liedes. Vgl. den Kommentar von Rüdiger Krohn zu dieser Stelle. Gottfried von Straßburg: Tristan. Hg. von Rüdiger Krohn. 3 Bde. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam 1991. Hier: Bd. 3, S. 143. 41 muotgedœne ist ein von Gottfried neu geprägter Begriff. Mireille Schnyder 30 der artikulierten Stimme, dem artikulierten Körper. 42 Bei Tristan, der Isolde Weißhand durch seinen Gesang auf falsche Gedanken bringt, geschieht die Täuschung nicht über die Stimme, sondern über den zweideutigen Refrain. 43 b) - Stimme -und -Identität Ist die Stimme sozusagen natürliches Zeichen, das nicht verkehrt werden kann, nicht absichtsvoll ist, so muss sie auch Verweischarakter haben, der nicht verändert werden kann. Mit Stimme zu täuschen ist nicht möglich. Das ist so auch im höfischen Roman, wo erstaunlicherweise keine verstellten, veränderten Stimmen vorkommen. Es werden Lügenmärchen aufgetischt, es werden Dinge verschwiegen, es wird mit Worten getäuscht, aber die Stimme bleibt sich dabei gleich. So gleich, dass sie zum Erkennungsmerkmal werden kann, wie das Gesicht. Als im Willehalm Wolframs von Eschenbach der Held in fremder Rüstung verkleidet nach verlorener Schlacht nach Orange zurückkommt, wird er von seiner Frau Gyburc nicht erkannt und entsprechend nicht hereingelassen, bis er sein Gesicht zeigt und sie seine zerschlagene Nase sieht (Wlh. 91,24-92,19). Wie er das zweite Mal vor demselben Tor steht, ebenso unkenntlich in fremder Rüstung und von der Königin entsprechend in fremder Sprache (heidensch) angesprochen, wird er an seiner Stimme erkannt: von sîner stimme wart in kunt, daz der rehte wirt was komen („An seiner Stimme erkannten sie, dass der richtige Hausherr gekommen ist“, Wlh. 228,22f.). Die Stimme in der fremden Rüstung, hinter dem verkleideten und veränderten oder unsichtbaren Körper ist es, die sich gleich bleibt und Merkmal wird. Willehalm wird von seinem Bruder an der Stimme erkannt, als der ihn im Kampf angeht (Wlh. 1118,29), im Rolandslied des Pfaffen Konrad erkennt der erblindete Oliver Roland an seiner Stimme, als er fälschlicherweise auf ihn einschlägt (Rol. 6483ff.), bei Hartmann von Aue erkennt Guivreiz die versteckte Enite an ihrer Stimme und verschont so Erec (Er. 6957ff.), die in der Klause sitzende Sigune erkennt bei Wolfram von Eschenbach Parzival an seiner Stimme (Parz. 251,28). 44 Selbst da, wo einer sich nicht zu erkennen geben will, verrät ihn seine Stimme: über seine Begegnung mit Erec berichtet Keie: dô sprach Keiîn: ‘ich enmohte sîn niht erkennen: er enwolde sich 42 Wenn im Parzival Wolframs von Eschenbach Gawein der jungen Obilot, die ihn überreden will ihr Ritter zu werden, antwortet: „‘frouwe, iurs mundes dôn wil mich von triwen scheiden, untriwe iu solde leiden“, so wird durch die Formulierung der Vorwurf entschärft: es ist klar, dass hier nicht wirklich eine böse oder unhöfische Absicht unterstellt wird (Parz. 370, 8f.). 43 Tr. 19217f.: „‘Îsôt ma drûe, Îsôt m’amie,/ en vûs ma mort, en vûs ma vie’! “ 44 Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Hs 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen übers., komm. und hg. von J. Heinzle. Bibliothek des Mittelalters 9. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1991; Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Hg., übers. und komm. von D. Kartschoke. Universalbibliothek 2745. Stuttgart: Reclam 1993; Hartmann von Aue: Erec. Hg. von A. Leitzmann, fortgeführt von L. Wolff. 6. Aufl. besorgt von Ch. Cormeau und K. Gärtner. Altdeutsche Textbibliothek 39. Tübingen: Max Niemeyer 1985; Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausg. von K. Lachmann rev. und komm. von E. Nellmann, übers. von D. Kühn. 2 Bde. Bibliothek des Mittelalters 8. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994. Gefangene Stimmen - Geordnete Körper 31 niht nennen. sîne stimme hôrte ich, wan er jach vil wider mich: als ichz dar an kiesen mac, sôst ez Êrec fil de roi Lac.’ („da sagte Keie: ‘ich habe ihn nicht erkannt, er wollte sich mir nicht nennen. Ich hörte aber seine Stimme, da er viel mit mir redete. So wie ich es danach erkenne, ist es Erec, der Sohn von König Lac.’“, Er. 4851ff.). Die Stimme ist in der Literatur des Mittelalters als Ausdruck der Identität und somit Erkennungsmittel eingesetzt. Sie kann eine veritas offenbaren, die durch Kleider und Worte verborgen wird. Die verfälschte Stimme, die verstellte Stimme, die Stimme als Mittel der Täuschung aber gibt es nicht. Wenn Identität unter Bekannten verheimlicht werden soll, dann durch Schweigen, durch „Verbergen der Stimme“. Als Siegfried an Gunthers Statt im Dunkeln mit Brunhilde die Hochzeitsnacht verbringt, heißt es: dô hal er sîne stimme, daz er niht ensprach („da verbarg er seine Stimme und sagte nichts“, NL 667). 45 Eine irritierende Ausnahme ist Siegfried, der ins Nibelungenland zurückkehrt und da, als Hausherr vor seinem eigenen Haus die Stimme verstellt, um vom Schatzhüter Alberich nicht erkannt zu werden und sich erst nach einem Kampf mit diesem zu erkennen zu geben: dô wandelt sîne stimme der herre Sîfrit dâ vor („da veränderte Herr Siegfried seine Stimme“, NL 487). 46 Eine irritierende Ausnahme auch deshalb, weil es selbst den Protagonisten, die sich mit Wurzelsaft und Selbstverstümmelung ein physisch anderes Aussehen geben nicht gelingt, ihre eigene Stimme hinter der verstellten Stimme zu verbergen. Alle - wobei ihrer nicht sehr viel sind - werden sie über kurz oder lang an der Stimme erkannt. 47 Aber nicht nur als Individuen, als Bruder, Geliebter, Neffe, werden die Protagonisten an ihrer Stimme erkannt, sondern auch in ihrem Stand in der Welt. Als im Rolandslied die zwei Afrikanerkönige angreifen, meint Bischof Turpin: ‘Waz liutes mac dizze sîn? […] ob ich ir stimme vernæme! ich wesse gerne, wer si wæren’ („Was sind das wohl für Leute? […] Wenn ich doch nur ihre Stimme hören könnte! Ich wüsste gern, wer sie sind“, Rol. 6348ff.). Hätte er sie gehört, wären sie wohl wie die Stimmen des Volks von König Gorhant vom Ganges im Willehalm nicht menschlich gewesen, sondern „wie Hundegebell oder Geschrei einer Mutterkuh“ (Wlh. 35,16f.). 48 Denn im religionspolitischen Diskurs, wie gesagt, haben menschliche 45 Das Nibelungenlied. Nach der Ausg. von K. Bartsch hg. von H. de Boor. 21. rev. und von R. Wisniewski ergänzte Aufl. Deutsche Klassiker des Mittelalters. Wiesbaden: Brockhaus 1979. Vgl. ebenso die Hochzeitsnacht Markes, wo Brangäne als falsche Isolde auch die Stimme verbirgt. 46 Die Kommentare sind erstaunlich knapp zu dieser Stelle. Vgl. Müller, Jan-Dirk: Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs ‘Willehalm’, dem ‘Nibelungenlied’, dem ‘Wormser Rosengarten A’ und dem ‘Eckenlied’. In: Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift H. Kühnel. Hg. von G. Blaschitz et al. Graz: Akademische Drucku. Verlagsanstalt 1992, S. 87-111, hier: S. 98f. Der Frage ist noch nachzugehen. 47 So Morolf in Salman und Morolf. Hg. von A. Karnein. ATB 85. Tübingen: Niemeyer 1979, Str. 251-258; so letzlich auch der sich zum Leprösen verwandelnde Ulrich von Liechtenstein in seinem Frauendienst. Hg. von V. Spechtler. Göppinger Arbeiten zur Germanistik 485. Göppingen: Kümmerle 1987, Str. 1137. 48 „des volc was vorn und hinden horn, âne menneschlîch stimme erkorn; der dôn von ir munde gal sam die leithunde oder als ein kelber muoter lüet.“ (Wlh. 35, 13ff.) Mireille Schnyder 32 Stimmen nur die, denen der richtige Gott artikulationsfähige Stimme gegeben hat. 49 Heiden wären so leicht zu erkennen. c) - Stimme -und -Affekt Die wichtigste Charakterisierung der Stimmen findet aber in Bezug auf den Affekt statt. Denn hier wird die Stimme zum Träger eines unartikulierten, ungebändigten, nicht in Sprache rationalisierten Ausdrucks, der aber doch noch, als zur menschlichen Natur gehörend, sich über die vox humana ausdrückt. Oft wird durch ein Epitheton die Sprechstimme eines Protagonisten charakterisiert, z. B. trûric (Wlh. 165,30), jæmerlîch (Parz. 249,12). 50 Öfter aber versagt die Stimme, dies aber in aller Regel nur den Frauen. Dabei wirkt sich die Idee der Verbindung von Stimme und Herz ganz direkt aus, indem die gebrochene Stimme Ausdruck des gebrochenen Herzens ist: der Herzseufzer zerbricht das Wort. 51 So kann auch der Erzähler darüber staunen, dass ein Leid, das die Stimme spaltet nicht auch das Herz bricht: daz ir herze niht zebrach von leide, daz was wunder. sich teilte dô besunder von des jâmers grimme rehte enzwei ir stimme, hôhe unde nidere („dass ihr Herz nicht vor Leid zerbrach, war ein Wunder. Es spaltete sich durch die Gewalt ihres Kummers ihre Stimme, hoch und tief“). 52 Die Stimme ist direktes Abbild des Herzens. So wie am Körper lassen sich die Zeichen der Affekte auch an der Stimme ablesen: ez erzeicten ir gebærde ir herzen beswærde an dem lîbe und an der stimme („es zeigten ihre Gebärden ihren Herzkummer, an Leib und an der Stimme“). 53 Dass eine Trauer, dass Schreien und Weinen die Stimme beeinträchtigen können, zeigt sich an den heiser gewordenen Stimmen der klagenden Frauen: Parzival kommt zu Sigune und vant ir stimme heise, verschrît durch ir freise („fand ihre Stimme durch den Kummer heisergeschrien“, Parz. 505,19f.). 54 Der Klageschrei der Frau ist 49 Wenn Kalogrenant im Iwein Hartmanns von Aue den alles andere als menschlich aussehenden Waldschrat fragt, was er denn für ein Geschöpf sei und der ihm antwortet: „Ein Mensch, wie du hier siehst“, hat das eine witzige Komponente, ist aber, vom Sprachlichen her gesehen eine zutreffende Aussage, auch wenn es vielleicht eher heißen müsste: „Ein Mensch, wie du hörst.“ Hartmann von Aue: Iwein. Hg. von G. F. Benecke und K. Lachmann, neu bearb. von L. Wolff. 7. Aufl. Berlin: de Gruyter 1968. 50 In Bezug auf die Affekte entwickelt sich eine eigentliche ‘heilsgeschichtliche Stimmtheorie’, in der Seufzen, Klagen, Weinen Teil des gefallenen Menschen sind, das Lachen aber Ausdruck des Teufels. Auf dem Hintergrund dieser Vorstellung entsteht dann auch eine eigene Pathologie. Vgl. dazu Gnädinger, Louise: Adams Stimme und Musikalität. Fragmentäre Gedanken zu deren Wesen und Funktion aus der Sicht Hildegards von Bingen (1098-1179). In: Homo Medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit. Festschrift A. M. Haas. Hg. von C. Brinker-von der Heyde und N. Largier. Bern etc.: Peter Lang 1999, S. 180f., 184. 51 „nû hate ir benomen diu bitter leides grimme vil nâch gar die stimme: ir herzen sûft daz wort zebrach daz si vil kûme gesprach“. Hartmann von Aue: Erec, V. 5345 ff. 52 Hartmann von Aue, Erec, V. 6075 ff. 53 Hartmann von Aue, Iwein, V. 1321. 54 Und der Frau von Cadoc in Hartmanns Erec hat ihr Leid beinah die Stimme geraubt (Er. 5345). Gefangene Stimmen - Geordnete Körper 33 der Herzton: nâch herzen jamers dône si schrînde von dem pfärde spranc („nach der Melodie des Herzjammers sprang sie [Bene] schreiend vom Pferd“, Parz. 692,6f.). 55 Die -Stimme -des -Textes -und -die -Stimme -im -Text 1. - Ordnung -der -Stimmen Es gibt eine höfische Ordnung der Stimmen, wie es eine religiöse, eine soziale und eine geschlechterbezogene Ordnung der Stimmen gibt. Dabei nehmen in den verschiedenen Ordnungen die Artikuliertheit und Lautstärke hierarchisch ab von oben nach unten: Der vorbildliche Held, der König und Gott haben eine laute Stimme, der ängstliche Feigling, der machtlose Mensch und der teuflische Verführer haben leise Stimmen, flüsternd, klanglos und schlecht artikuliert. 56 In der Ordnung der Geschlechter kommt dem Mann die laute Stimme, der Frau die leise Stimme zu. Die im Text benannte Stimme ist somit immer eine schon im Netz der sozialen und religiös-politischen Ordnungen gefangene Stimme, die ihren zugewiesenen Platz hat. Die Zuweisung geschieht nicht zuletzt über die Einübung ins Lesen. Denn in der Lektüre werden die im Text artikulierten, in der Schrift gefangenen Stimmen, neu realisiert und darüber auch eingegliedert in die geordnete Welt, wie sie die menschliche Artikulation schafft. 57 Die Ordnung der Stimmen betrifft aber nur die sozialen Unterschiede, die Geschlechterdifferenz und die Altersstufen. Moralische Intergrität ist nicht darin zu erkennen. 58 In Wolframs Parzival heißt es anklagend: Ez machet trûric mir den lîp, daz alsô mangiu heizet wîp. ir stimme sint gelîche hel: genuoge sint gein valsche snel, etslîche valsches lære: sus teilent sich diu mære. daz die gelîche sint genamt, des hât mîn herze sich geschamt („es betrübt mich, dass so viele Frau heißen. Ihre Stimmen sind alle gleich hell, viele aber sind schnell für Falschheit zu haben, einige sind ohne Falsch. So unterscheidet sich die Sache. Dass die aber gleich heißen, dessen schämt sich mein Herz“, Parz. 116,5 ff.). Die Stimme kann also nicht Indikator von Aufrichtigkeit oder Falschheit sein. Sie kann aber Indikator des Geschlechts (wîbes stimme oder frouwen stimme, Parz. 138,11f.; Parz. 249,12; Parz. 437,3f.) sowie des sozialen Standes sein. D. h. die 55 Ist die gebrochene Stimme direkter Ausdruck eines schwächenden Affekts, ist sie entsprechend, ungebrochen, auch Ausdruck von Stärke. Gottes Stimme ist laut, des Königs Stimme ist laut. Und so wie das Engelslob im Himmel una voce erfolgt, als Ausdruck der Stärke und Einheit, erschallt der Schlachtruf der Christen im Rolandslied mit gelîcher stimme (Rol. 4067). Die Stelle im Rolandslied (Rol. 305 ff.), wo der Hornstoß Rolands Apollo und seinem Gesellen Machmet die Kräfte raubt und ihre Stimme so verwandelt, dass eine Furcht drin ist, lässt sich entsprechend verstehen. Vgl. den Kommentar von Kartschoke zu diesen Versen, der von einer „etwas dunklen“ Stelle spricht. 56 Die laute Bosheit und Niedrigkeit geht einher mit unklarer Artikulation und rauher Stimme. 57 Die charakterisierende Gliederung, wie sie Isidor typisierend aufstellte, kann dabei durchaus als Vorlage dienen. 58 Deshalb kann ja der Teufel sich auch eine schöne Stimme zulegen. Mireille Schnyder 34 Falschheit ist wieder an die artikulierte Stimme gebunden, wird da präsent, nicht schon in der ‘Materie’ - so wie die Bezeichnung der Spezies ‘Frau’ sich nicht von deren moralischen Integrität beeinflussen lässt. Eine Stimme kann unfreundlich sein oder freundlich, doch nur, wenn sie spricht, als artikulierte. Es geht entsprechend darum, die Stimme - Zeichen der Identität - in die ratio zu gliedern und sie so zu beherrschen. Selbstbeherrschung ist Beherrschung der Stimme. Denn es gilt, was Alcuin sagt: Pronuntiatio est verborum dignitas, vocis sensibus accommodatio, et corporis moderatio. Die artikulierte Stimme ist die höfische Stimme, ist die geordnete Stimme, die verkörperte Stimme, die in den Gesellschaftskörper eingegliederte Stimme. Und so besteht die Kunst der Lektüre nicht zuletzt darin, die in der Schrift gefangenen Stimmen wieder zu ordnen und damit die Textordung zu bestätigen und deutlich zu machen. So spärlich die Angaben zu Stimmqualität in den Texten selber sind, so deutlich wird vom Lesenden verlangt, die Ordnung der Stimmen einzuhalten und zu verwirklichen. Pronuntiatio ist vor allem die Kunst der Ordnung der Stimme und der Einordnung der Stimmen. 2. - Geordnete -Stimmen - Stimme ist also, als höfische Stimme, als öffentliche Stimme, als Stimme, die an einem Körper hängt und diesen konturiert, artikulierte Stimme. Vox articulata aber ist die Stimme, wie sie geschrieben werden kann, wie sie in der Schrift ihr Bild findet und sich über die Schrift definiert. Wird ein Text, der aus einer Ansammlung von Buchstaben besteht, gelesen, muss er, um verständlich zu sein, nicht nur richtig akzentuiert, sondern auch durch Pausen richtig gegliedert werden. 59 So hat sich eine Notation entwickelt, die, als positurae oder distinctiones, Zeichen für kleine Intervalle gibt. 60 Unterschiedlich gesetzt, je nachdem, ob mit ihnen ein Satz gegliedert oder abgeschlossen wird (subdistinctio, media distinctio, distinctio), weisen sie auf die Stellen im Text, an denen ein Moment der Stimmlosigkeit verlangt ist, um den Worthaufen zu gliedern und so erst verständlich zu machen. 61 Isidor erklärt das Wort positura denn auch in Bezug auf die momentane Stimmlosigkeit: „Sie heißen positurae entweder, da sie durch gesetzte Punkte angezeigt werden, oder weil an diesen Stellen die Stimme zur Seite gelegt wird für den Unterbruch der Unterscheidung.“ 62 Diese kleinen Schweigezeichen 59 Quintilian sagt: „Superest lectio, in qua puer ut sciat, ubi suspendere spiritum debeat, quo loco versum distinguere, ubi claudatur sensus, unde incipiat, quando attollenda vel summittenda sit vox […] demonstrari nisi in opere ipso non potest.“ The Institutio oratoria of Quintilian. With an English Translation by H. E. Butler. 4 Bde. 4. Aufl. London und Cambridge, Mass.: Harvard Press 1959-1963, I, viii, 1. 60 Vgl. zur Geschichte der Interpunktion Parkes, Malcom Beckwith: Pause and Effect. An Introduction to the History of Punctuation in the West. Aldershot: Scolar Press 1992. 61 Zur weiteren Differenzierung der Pungierung vgl. Parkes, Pause and Effect. 62 „Dictae autem positurae vel quia punctis positis adnotantur, vel quia ibi vox pro intervallo distinctionis deponitur.“ Isidor, Etymologiarum, I, xx, 1. Gefangene Stimmen - Geordnete Körper 35 sind nicht nur Ornament des Textes, 63 sondern in ihrer klärenden Funktion auch Laternen, die Licht in das Dunkel bringen: „Posituren oder Punkte sind sozusagen eine Art Wege des Verständnissinns und Lichter der Aussagen, die die Leser so belehren, wie wenn sie von den besten Interpreten unterrichtet wären.“ 64 Erst durch sie wird das Verwirrte entwirrt und klar. 65 Die Artikulation des Textes ist demnach angewiesen auf die kleinen stimmlosen Pausen zwischen den Teilen, durch die die einzelnen Glieder (membra) unterschieden werden, so dass das Textcorpus umso schöner erscheint. „Denn wenn unser Körper in den Gliedern erkannt werden muss, warum wird dann die Lesung (lectio) mit ihren Teilen konfus vernachlässigt? “ 66 Auch der sprachlich realisierte, der artikulierte Text wird also im Vergleich zum Körper. 67 Und es sind die Pausen, die stimmlosen Punkte im Sprachfluss, die die einzelnen Glieder formen, in denen sich aber gleichzeitig auch die einzelnen Teile verbinden. 68 Die distinctiones, Mittel der Artikulation und Teil der pronuntiatio, sind sowohl Instrument wie Bedingung der vox articulata. In der Kunst der lectio aber muss nicht nur die richtige Pausierung gelernt werden, sondern genauso Rezitation (pronuntiatio) und Modulation. Pronuntiatio aber heißt nichts anderes, als dass der Leser den im Text gefangenen Stimmen einen Körper gibt, ein Instrument, durch das sie sich wieder artikulieren können. In der Ars Victorini wird pronuntiatio erklärt als die Kunst der „Wiedergabe des Geschriebenen mit passender Unterscheidung der Sprecher, wie zum Beispiel wenn die Befindlichkeit eines Greises oder die Ungestümheit eines Jünglings oder die Schwä- 63 „Punctorum vero distinctiones vel subdistinctiones licet ornatum faciant pulcherrimum in sententiis […]“. Alcuin: Epistola 172 (April-Mai 799). In: Epistolae Karoli aevi II. Monumenta Germaniae Historica Epistolae in Quart IV. Berlin: Weidmann 1895, 2, S. 285, 16-20. Vgl. auch Cassiodorus: Cassiodori senatoris institutiones. Ed. by R. A. B. Mynors. Repr. from corrected sheets of the 1 st imprint. Oxford: Clarendon Press 1963, I, xv, 12, S. 48. 64 „positurae seu puncta quasi quaedam viae sunt sensuum et lumina dictionum, quae sic lectores dociles faciunt tamquam si clarissimis expositoribus imbuantur.“ Cassiodorus, Institutiones, I, xv, 12, S. 48f. 65 In der Ars Victorini heißt es: „Discretio quid est? Confusarum significationum perplana significatio.“ Scriptores artis metricae. GL 6. Hildesheim: Olms 1981, S. 188. Schon Quintilian meint, dass ein Text ohne Distinctiones unverständlich sei. Institutio oratoria, XI, iii, 39. 66 „nam si corpus nostrum indiget per membra cognosci, cur lectio cum suis partibus videatur confusa derelinqui? “ Cassiodorus, Institutiones, I, xv, 12, S. 48. 67 Quintilian vergleicht das aus dem Satzganzen gelöste colon (membrum) mit einer einzelnen Hand, einem einzelnen Fuss, einem abgeschnittenen Kopf: „Membrum autem est sensus numeris conclusus, sed a toto corpore abruptus et per se nihil efficiens. O callidos homines perfectum est, sed remotum a ceteris vim non habet, ut per se manus et pes et caput […]“. Institutio oratoria, IX, iv, 123. 68 Dass die Pause zwischen den Satzgliedern als Mittel der iunctura gesehen wird, zeigen die Gesetze, die diese regeln. Hier wird deutlich unterschieden zwischen der Verbindung von Wörtern, in der verschiedenste Regeln zu beachten sind und der Verbindung von Satzgliedern, die nicht so streng geregelt werden muss, da sich hier die Pause dazwischenschiebt. Vgl. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. 2 Bde. 2. Aufl. München: Hueber 1973, §945. Mireille Schnyder 36 che einer Frau oder die Natur irgendeiner Person gezeigt werden soll und die Art irgendeiner Ausdrucksweise.“ 69 Der Leser (lector) hat somit die Aufgabe, nicht nur dem Erzähler oder gar dem Autor eine Stimme zu leihen, sondern in sich die Stimmenvielfalt der im Text in Bildern von Elementen gefassten Welt neu zu produzieren, somit die Textwelt, als eine stimmliche, zu erschaffen. Die Kunst des Lesens ist die Kunst der Gliederung der Stimme (vox articulata) und der Ordnung der Stimmen (pronuntiatio). Ziel des Lesens aber ist die Klärung, die Verdeutlichung. Der Leser selber wird zum Sprachrohr, der selber keine Stimme hat, sondern durch sich andere Stimmen reden lässt. Seine eigene Stimme verwandelt er dabei aber nicht, sondern er leiht seine Stimme, oder besser: seine Stimmbänder, den fremden Stimmen. Die Artikulation hingegen ist seine Sache. So rät auch Isidor dem Vorleser in De ecclesiasticis officiis: whoever is promoted to the rank of lector will be filled with teaching and books, and highly articulate (perornatus) from the knowledge of meanings and words, so that in punctuating the units of thought he understands where a compound statement is completed, where an expression assumes something in addition, and where the final thought is brought to a close. Thus equipped he will grasp the force of articulation (vim/ pronuntiationis) so that he may advance the minds and perceptions of all for understanding by distinguishing the kinds of articulation and expressing the proper emotion of the units of thought, at times in an informative, sorrowful, rebuking, or exhorting voice, or according to similar kinds of articulation. 70 Der Text wird so erst in der stimmlichen Artikulation und verstimmlichten Ordnung der richtigen Lektüre (pronuntiatio) zu dem, was er sein soll: ein Kosmos, der nicht nur eine Gedankenordnung wiedergibt, nicht nur eine Sprachordnung repräsentiert, sondern auch eine Eingliederung der Stimmen in die geordneten Körper bietet. Dabei wird auf wundersame Weise der Leser zum Instrument dieser Stimmen, bestimmt aber gleichzeitig ihren Platz in der Ordnung. Sie können nicht ausbrechen, wenn sie nicht ihr Instrument, den Leser, gefährden wollen. Denn realisieren sie sich in ihm nicht nach der (bekannten) Ordnung, wird nicht nur seine innere Ordnung und seine Verstehensordnung gestört, sondern auch die der Hörer und somit der ganze Kontext, was zur Folge haben muss, dass er seinen Platz in der Ordung verliert. Indem aber die Bezeichnung der Stimmen, wie sie für die Gliederung und Einordnung nötig ist, die Artikulation der Stimme, wie sie für das Verständnis gebraucht wird und Zeichen des Verstandes ist, letztlich willkürliche Setzungen sind - wie die Theorie immer stärker betont -, führt die Kunst der Lektüre dazu, dass 69 „Pronuntiatio quid est? Scriptorum secundum personas accommodata distinctione similitudo, ut puta cum aut senis temperamentum aut iuvenis protervitas aut feminae infirmitas aut qualitas unius cuiusque personae ostendenda est et mores unius cuiusque habitus exprimendi. Modulatio quid est? Continuati sermonis in iucundiorem dicendi rationem artificialis flexus in delectabilem auditus formam conversus asperitatis vitandae gratia.“ Zitiert nach: Irvine, Textual Culture, S. 68f. 70 Isidor, De ecclesticis officiis 2.22.2, PL 83, 791. Zitiert nach und in der Übersetzung von Irvine, Textual Culture, S. 220. Es mag etwas verwirrlich sein, dass Irvine pronuntiatio hier mit ‘articulation’ übersetzt. Gefangene Stimmen - Geordnete Körper 37 sich die Stimme nicht mehr aus der artikulierten Welt befreien kann, dass es keine ‘natürlichen Stimmen’ mehr geben kann. So sind die Stimmen im Text Produkt einer rationalen, ordnenden Setzung. Indem der Lektor seine Stimme negiert, setzt er andere Stimmen ein, die sich über die Artikulation des Textes aus ihrer ‘Natürlichkeit’ lösen und zu einem System schließen, das (Welt)Ordnungen reproduziert, die ihrerseits die natürlichen Stimmen bezeichnen und somit artifizialisieren. Lesen ist somit nicht nur ein Akt der Selbstaufgabe, sondern auch ein Akt der Schöpfung und Ordnung einer Welt. Und erst darin kann der Text als Kosmos wahrgenommen werden und verständlich sein: in den zu Körpern gegliederten und in Körper gegliederten Stimmen, in denen sich soziale, religiöse, politische und geschlechtsbezogene Ordnungen immer neu konstituieren. Und darin hat auch der Leser wieder seinen Platz und wird die Lektüre zur Selbstfindung oder besser: Selbstkonstitution. Literaturverzeichnis Petrus Abaelard: Glossen zu Peri hermenias. Peter Abaelards philosophische Schriften. Hg. von Bernhard Geyer. Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 21. Münster: Aschendorff 1919-33. —: Dialectica. Hg. von Lambertus M. de Rijk. 2. Aufl. Assen: Van Gorcum 1970. Alcuin: Epistola 172 (April-Mai 799). In: Epistolae Karoli aevi II. Monumenta Germaniae Historica Epistolae in Quart IV. Berlin: Weidmann 1895. —: Grammatica. Patrologia Latina 101, Sp. 849-902. 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Eddische -Dichtung -und -die -Ballade. - Stimme, -Vokalität -und -Performanz -unter -besonderer Berücksichtigung -von -DgF - 1 J OSEPH H ARRIS , H ARVARD Johann Gottfried Herder (immer ein guter Ausgangspunkt, wenn nicht sogar ‘der Ursprung’ überhaupt) ging es weniger als späteren Sammlern darum, Folklore (das Wort existierte noch nicht) vor dem Vergessen zu retten; er wollte vielmehr, dass die Folklore seine Mitwelt vor der Seelenlosigkeit der Zeit retten sollte. Seine Stimmen der Völker in Liedern zum Beispiel implizierten einen Glauben an die authentischen Stimmen, 1 nicht des Volkes, sondern der Völker - eine Authentizität von Stimme, die in der Volksdichtung und nicht etwa in einer Volksabstimmung gesucht wurde. Herder hatte nichts dagegen, den einzelnen Sänger zu loben, zumindest in Fällen wie Homer oder Shakespeare. Im Großen und Ganzen sind seine Stimmen jedoch nicht so sehr anonym, d.h. Stimmen von Personen, deren Namen uns fehlen, als vielmehr kollektive Stimmen, die die Namen nationaler Gruppen tragen. Beide Interessenstränge bestehen weiter, der kollektive und (in den Forschungen vieler Mediävisten) der anonyme. Obwohl ersterer seinen Höhepunkt in der ‘demokratischen’ Kritik des aus Harvard hervorgegangenen Francis Barton Gummere um die Jahrhundertwende 1900 erreichte, denke ich, dass das kollektivistische Echo noch immer in einigen Arbeiten des heute an der Harvard-Universität tätigen Homer-Forschers Gregory Nagy vernommen werden kann. 2 Sowohl Gummere wie Kittredge verteidigten mit großer Klugheit das ‘dunkle Orakel’ (wie es Kittredge beschrieb) von Jacob Grimm: „das Volk dichtet“. Und vor Milman Parry erklang (in der Vorstellung) häufig die ‘demokratische’ vox populi durch die Hallen Harvards. 3 1 Der bekannte Titel stammt aus der postum erschienenen zweiten Ausgabe von 1807; Herder, Johann Gottfried: Stimmen der Völker in Liedern. Volkslieder. Zwei Teile 1778/ 79. Ed. Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam 1975, S. 399. 2 Bell, Michael J.: To Realize the Imagined Community. Francis Barton Gummere and the Politics of Democracy. In: Ballads into Books. The Legacies of F. J. Child. Eds. Tom Cheesman and Sigrid Rieuwerts. Bern: Lang 1997, S. 53-68. Nagy, Gregory: Song and Dance. Reflections on a Comparison of Faroese Ballad with Greek Choral Lyric. In: The Ballad and Oral Literature. Ed. Joseph Harris. Harvard English Studies 17. Cambridge, MA & London: Harvard University Press 1991, S. 214-32. Cf. Harris, Joseph: Introduction. In: The Ballad and Oral Literature, S. 14-15. 3 Kittredge, George Lyman: Introduction. In: English and Scottish Popular Ballads. Edited from the collection of Francis James Child by Helen Child Sargent and George Lyman Kittredge. Boston & N.Y.: Houghton Mifflin 1904, S. xviii. Bell, Michael J.: No Borders to the Ballad Maker’s Art: Francis James Child and the Politics of the People. In: Western Folklore 47 (1988), S. 285-307. Joseph Harris 40 In neuerer Zeit ist ‘der Ursprung’ Parry; und die Stimme ist jene von einzelnen Sängern. Jedoch ist die oral-formulaic school in gewisser Hinsicht ganz offensichtlich eine Fortsetzung der romantischen Suche. Kritiker haben diese Schule neuromantisch genannt, und beim weniger philologischen Teil der Bewegung, allgemein bei kulturwissenschaftlichen Verfassern wie Walter Ong und Paul Zumthor, geht der Gegensatz von oral und schriftlich in der Tat mit einer romantischen Nostalgie für das verlorene Wort einher, erkennbar in der materiellen Direktheit der menschlichen Stimme bei der face-to-face-Kommunikation. Karl-Heinz Göttert kommentiert zutreffend das Konzept der Überlegenheit von Stimme über Schrift, welches diese Bewegung massgebend beeinflusst hat: Nach der jahrhundertelangen Privilegierung der Schrift gegenüber der Stimme folgte wie im Rückschlag nicht nur die Aufdeckung der in der Mündlichkeit liegenden Eigenheiten, sondern die Auszeichnung des Mündlichen als das der Bedeutung nähere Medium. In der faktischen Reduktion der Botschaft im visuellen Zeichen wurde mit anderen Worten der Verlust betont, die Kultur des Buchdrucks selbst als eine Art Desintegrationsprozeß begriffen, den die Speicherfähigkeit nicht wettmachte. In der ‘Aufführung’ komme die Botschaft in ihrer Gesamtheit zur Geltung, medialisierte Botschaft sei demgegenüber immer nur fragmentierte Botschaft, die die wahre Fülle der sinnlich-geistigen Einheit des Sinns beschneide. 4 Göttert ist vorsichtig kritisch gegenüber dieser Nostalgie und ihrem angewandten Programm zur Wiederherstellung der Stimme in sekundärer Mündlichkeit, aber er befürwortet nicht Derridas Inversion der Hierarchie Stimme/ Schrift. Stattdessen anerkennt er die Richtigkeit des körperlichen Fundaments der Performanz in der Kommunikation, während er darauf beharrt, dass „in ihrer Verabsolutierung als wahre Sprache ein Mißverständnis“ [vorliegt]: Sprache läßt sich nur als eine Verbindung von Zeichenhaftigkeit und symbolischer Funktion begreifen, in der Materialität und Sinn zusammenwirken. […] Der Rückgang auf den Körper und überhaupt auf Ganzheit mag als Gegengewicht zur Technikbegeisterung, vielleicht auch als Resultat von Zivilisationsmüdigkeit plausibel erscheinen. Historisch ist er keineswegs neu, sondern schon in der Romantik zuhause […]. 5 Vokalität andererseits, ist, wie ich den Begriff auslege, ein modernes oder postmodernes konzeptuelles Gegenmittel zur Romantik, wo nicht Reinheit, Ganzheit und Unmittelbarkeit, sondern Heterogenität, kulturelle Hybridität und Formen der Vermittlung herrschen. Stimme ist noch immer das wichtigste Medium in einer typischen mittelalterlichen Kultur der Vokalität, wie zum Beispiel jene, mit der ich mich in diesem Artikel befasse; aber das Vermischen von Oralität, Literalität und Reoralisierung sowie andere Arten von Zweifel, wessen Stimme wir lesen, tragen viel dazu bei, unser hermeneutisches Vertrauen zu untergraben. Dennoch zeigt Ursula Schaefers fruchtbare Verwendung dieses Konzepts, wie eine alte schriftliche/ münd- 4 Göttert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme. München: Fink 1998, S. 16. 5 Göttert, Geschichte der Stimme, S. 17. Dieselbe Art von Nostagie kann vom Leser hinsichtlich der elektronischen Zukunft erwartet werden; Birkerts, Sven: The Gutenberg Elegies. The Fate of Reading in an Electronic Age. New York: Fawcett 1994. Eddische Dichtung und die Ballade 41 liche Literatur in der gemischten Kultur mit gemischter Hermeneutik verstanden werden kann. 6 Performanz ist ein Schlüsselelement - die Realisation des Wortes im Fleisch - in Situationen von Oralität und Vokalität, aber meine Herangehensweise an die Performanz in diesem Artikel besteht in der Bewertung eines zentralen Enthüllungsvorgangs in der Analyse von oraler Literatur. ‘Das -Modell’ Ungefähr zur selben Zeit, als Parry in Paris die Anregungen aufnahm, welche ihn das jugoslawische Modell der homerischen Versepik entwickeln ließen, befassten sich in Cambridge bereits zwei englische Wissenschaftler, Hector Munro Chadwick und Nora Kershaw Chadwick, mit Arbeiten an einer ähnlichen Idee für ihre monumentale Darstellung „the growth of literature“ 7 . Der philologische Faden in der zeitgenössischen Erforschung oraler Literatur stammt natürlich von Parrys Fokussierung auf Sprache ab, während die Chadwicks ihren Ausgangspunkt in der Korrelation zwischen Typen von Gesellschaften und Typen von oraler Literatur nahmen. Beide waren an Performanz, dem Schwerpunkt der neuesten amerikanischen Forschung, interessiert, die Summa der Chadwicks scheint jedoch von der Forschung abgehängt worden zu sein, während sich heute die meisten amerikanischen Erforscher der elementaren Kommunikationsbereiche - mindestens an der Harvard-Universität - als Nachfolger von Parry und Lord betrachten. Ich denke allerdings, dass beide Neuerer, der philologische und der soziologische, möglicherweise selbst implizit durch den selben Ansatz, nämlich das evolutionäre Modell der Sozialanthropologie des 19. Jahrhunderts, beeinflusst worden waren. Weshalb sonst würden zeitgenössische orale Literaturen, die von denen abstammen, die die Chadwicks zurückhaltend „rückständige“ Gruppen nennen, ein Paradigma zum Verständnis der Performanz von Werken liefern, die in antiken oder mittelalterlichen Hochkulturen in schriftlicher Form überliefert wurden? Zumindest bei den Chadwicks scheint die evolutionäre Denkweise sowohl in der Verwendung von Formulierungen als auch in der eigentlichen Faser ihres Projekts deutlich, selbst wenn sie in drei langen Bänden Tylor oder Lang nie zitieren. Ich habe nicht nach wörtlichen Spuren bei Parry gesucht, aber er kann sich schwerlich den Einflüssen seiner Zeit entzogen haben. Indes bekennt sich die Ethnologie selbst dazu, das evolutionäre Paradigma überwunden zu haben, und heute würden die meisten Wissenschaftler, so wie es die Chadwicks selbst bis zu einem gewissen Grad tun, den Akzent eher auf die Technologie des Schreibens legen, um die verschiedenen Typen der frühen Weltliteratur zu erklären. Jack Goodys hervorragendes Werk The Domestica- 6 Schaefer, Ursula: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. ScriptOralia 39. Tübingen: Narr 1992. 7 Chadwick, Hector Munro and Nora Kershaw: The Growth of Literature. 3 vols. Cambridge: Cambridge University Press 1932-40. Joseph Harris 42 tion of the Savage Mind hingegen macht deutlich, zu welchem Grad diese Gewichtung der Technologie eine Substitution innerhalb eines Rahmens ist, welche selbst schwierig loszuwerden ist. 8 In einer aktuellen Debatte - die zugegebenermaßen in einprägsamen markanten Sprüchen geführt wurde - verwies ein angesehener Ethnologe auf die Yanomami als „unsere zeitgenössischen Ahnen“. Wie alle wissen, ist in der Schule von Parry eine lebendige, möglichst reine orale Kultur auf ihre analoge Aussagekraft in Bezug auf eine Hochkultur, die nur aus Geschriebenem bekannt ist, zu untersuchen; sie bildet ein Modell für das Verständnis stiller Dokumente und leiht den Seiten ihre Stimme. Dies ist der Schritt, den ich im Rest dieses Artikels der Einfachheit halber ‘das Modell’ nennen werde. ‘Das Modell’ erscheint dann also für mich verfolgt von romantischer Nostalgie - Sehnsucht nach dem Ursprung - und einem gedanklichen Paradigma des 19. Jahrhunderts, was jedoch nicht bedeutet, dass es sich nicht als extrem nützliches Werkzeug erwiesen hat. Parry wandte es auf Homer an, Lord auf die europäische Epik schlechthin, Magoun und seine Anhänger auf altenglische und, in einer anderen Weise, auf finnische Dichtung; Foley hat mit Scharfsinn den südslavisch-griechisch-altenglischen Komplex erarbeitet; Opland erhellte frühe germanische Eulogien im Licht von Xhosa- Lobpreisungen; Reichl, der seine Ausrichtung möglicherweise von Hatto und dem Londoner Epik-Seminar entnahm, ging für seine Feldforschung, welche unser Verständnis für die mittelenglische und altenglische Epik erweiterte, nach Osten. Sogar die eddischen Gedichte, denen ich mich nun zuwende, hatten einen kleinen Anteil an ‘dem Modell’. 9 8 Goody, Jack: The Domestication of the Savage Mind. Cambridge: Cambridge University Press 1977. 9 In einer Serie von Artikeln (von welchen ich nur einen zitiere) schlug Stefán Einarsson das Modell der dualen Sänger des finnischen runot vor und erklärte dabei einige rätselhafte Passagen in den germanischen Gedichtkorpora; im methodologischen Kontext dieses Artikels ist interessant, dass Stefán seine Hinweise eher von den Chadwicks als von der oral-formulaic school entnahm. Einarsson, Stefán: Harp Song, Heroic Poetry (Chadwicks), Greek and Germanic Alternate Singing. In: Budkavlen 42 (1963), S. 13-28. Zur Diskussion und für weitere Literatur (einschließlich der verwandten Studie von Mustanoja) siehe Harris, Joseph: Eddic Poetry. In: Old Norse-Icelandic Literature. A Critical Guide. Eds. Carol J. Clover and John Lindow. Islandica 45. Ithaca and London: Cornell University Press 1985, S. 115-16, nun mit einer bibliographischen Aktualisierung, „Preface to the Second Printing.“ Toronto, Buffalo, London: U Toronto P & Medieval Academy of America, 2005, wiederveröffentlicht. Ich benutzte einige Elemente des südslavischen ‘Modells’ in Harris, Joseph: Eddic Poetry as Oral Poetry. The Evidence of Parallel Passages in the Helgi Poems for Questions of Composition and Performance. In: Edda. A Collection of Essays. (Ed.) Robert J. Glendinning und Haraldur Bessason. University of Manitoba Icelandic Studies 4. [Winnipeg: ] University of Manitoba Press 1983, S. 210- 42. Und ich benutzte das ‘Modell’ der Ballade in Harris, Eddic Poetry, S. 117. Aber ich beabsichtige hier, zwischen den Anwendungen der oral-formulaic theory und ‘dem Modell’, welches in diesem Artikel diskutiert wird, zu unterscheiden. Eddische Dichtung und die Ballade 43 Eddische -Dichtung -und -die -Ballade Die eddischen Gedichte sind uns aus den isländischen Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts bekannt, hauptsächlich natürlich aus dem Codex Regius der Älteren oder Lieder-Edda, 2365 4to in der Alten Königlichen Sammlung von Kopenhagen, nun zurückgeführt nach Reykjavík. 10 Diese gut erforschte Handschrift, die die ungefähr 31 Gedichte bewahrt, die (für moderne Wissenschaftler) die stilistischen Normen festlegen, welche das eddische Genre definieren, geht auf etwa 1270 zurück. Es gibt jedoch gute Gründe für die Annahme, dass diese Art von Gedichten und sogar einige dieser Gedichte selber vor der Bekehrung Islands zum Christentum im Jahr 1000 florierten, als das Schreiben allmählich eingeführt wurde. Im 13. Jahrhundert und später wurden eddische Gedichte eindeutig in Handschriften verwendet, ob nun das Lesen laut oder still vor sich ging. Wie aber wurden sie in den früheren Zeiten vor ihrer schriftlichen Verfestigung vorgetragen? Die hauptsächlichen Belege, innerhalb der Gedichte und außerhalb in anderen Schriften, sind recht ausführlich untersucht worden, sowohl vor als auch nach der „Parry-Lord-Revolution“. Und der heutige wissenschaftliche Konsens betrachtet die Eddagedichte als eine Art oraler Dichtung, die nicht genau mit dem Harvard-Modell übereinstimmt. Zum Beispiel scheinen Texte ziemlich fest gewesen zu sein und eine überlegte Ausarbeitung eher als eine Komposition während der Performanz vorauszusetzen, wie man es auch für den zeitlich und geographisch nächsten Verwandten der eddischen Dichtung, die gleichfalls orale, aber ziemlich rigide Dichtung der Skalden, annehmen muss. 11 Untersuchungen der kryptischen sprachinternen Zeugnisse - Formeln, Motive, typische Szenen - gab es bisher nur vereinzelt, und die wenigen leicht zu interpretierenden Textstellen mit sprachexternen Belegen - zum Beispiel der Norna- Gests þáttr und die Hochzeit auf Reykjahólar 1119 - scheinen alles hergegeben zu haben, was sie können - und oft sogar mehr. 12 Wir wissen noch immer nichts über die ganze Reichweite der Gelegenheiten, bei denen eddische Dichtung vorgetragen wurde, von wem und für wen - das sind soziologische Faktoren, die vom zweifelhaften historischen Milieu abhängen. Wir wissen nichts über den Grad der Innovation, der während einer Vorführung zu erwarten ist, und ob eine Prosamatrix (wie in den prosimetrischen Kompositionen auf Reykjahólar) oder Harfenbegleitung (wie scheinbar bei Norna-Gestrs Unterhaltung) gebräuchlich waren, und wir wissen nicht, ob eddische Dichtung in irgendeiner Weise gesungen, dramatisch aufgeführt oder wie skaldische Dichtung einfach deklamiert wurde. Westgermanische Vergleiche weisen in die eine Richtung, die skaldische Analogie in die andere. Diese Liste des Nichtwissens ist unvollständig, sie muss jedoch für den vorliegenden Zusammenhang ausreichen. Meine Absicht ist es nicht, nochmals zu versuchen, die klassischen Belege für die Performanz von eddischer Dichtung zu befra- 10 Für eine Einleitung und die elementare Literatur siehe Harris, Eddic Poetry. 11 Harris, Eddic Poetry as Oral Poetry; Eddic Poetry. 12 Harris, Joseph: The Prosimetrum of Icelandic Sagas and Some Analogues. In: Prosimetrum. Crosscultural Perspectives on Narrative in Prose and Verse. Eds. Joseph Harris and Karl Reichl. Woodbridge, Suffolk: Boydell & Brewer 1997, S. 134-35 and passim. Joseph Harris 44 gen, sondern zu untersuchen, welches Licht, falls überhaupt eines, ein modernes oder mindestens ein moderneres orales Genre, nämlich die Ballade, auf die eddische Frage werfen kann. Mit anderen Worten, kann ‘das Modell’ helfen? Die Child-Ballade, das englische und schottische Genre, welches in der Frühen Neuzeit beginnt, ist jener Zweig der Balladen, mit welchem ich mich am besten auskenne, und John D. Niles hat, auf der Grundlage von eigenen Feldstudien, die altenglische Dichtung der modernen, ja zeitgenössischen Balladentradition gegenübergestellt. Für mich zeigt sich die Effektivität von Niles Methode in Homo narrans in der Tatsache, dass er ‘das Modell’ nicht direkt in positivistischer Manier anwendet, sondern jedem Teil, dem altertümlichen und dem modernen, seinen Anteil lässt und die Kollokation weitgehend selbständig arbeiten lässt - eine Methode, die sich perfekt auf dem Einband seines Buches spiegelt, welcher ein scharfes realistisches Foto eines schottischen Sängers vor einem verträumten Hintergrund des biblischen Königs David als Psalmist aus einer angelsächsischen Handschrift zeigt: Die ähnlich positionierten Hände scheinen sich durch die Jahrhunderte hindurch zu reflektieren. 13 Übrigens ist die englischsprachige Balladendichtung selbst schon in Verbindung mit solchen Analogien in analytischen Schritten, die ‘dem Modell’ ähneln, untersucht worden; es genügt hier, auf die Arbeiten von David Buchan und die Kontroverse um die oral-formulaic theory bei der Balladendichtung (zum Beispiel bei Andersen und Pettitt) zu verweisen. 14 Aber die eddische Dichtung hat ihre eigene ‘modern instances’ oder Analogie. Sie ist sprachlich und kulturell der skandinavischen Ballade näher als der englischsprachigen; und dies ist der Vergleich, auf den ich hier eingehen möchte - allerdings mit einigem Zögern: ist doch das Feld der skandinavischen Ballade erheblich komplizierter und, jedenfalls für mich, schwieriger als der kleine Rosengarten von Child. Das außerordentlich wertvolle Handbuch zu diesem Forschungsfeld, Types of the Scandinavian Ballad (= TSB), verzeichnet - basierend auf einer Lektüre von ungefähr 20.000 Texten auf Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch und Färöisch, viele davon in Dialekten, die für Nicht-Muttersprachler oft nur sehr schwierig zu verstehen sind - 838 Balladentypen. 15 Im Vergleich dazu sind es bei Child 305 Typen in 1.205 Texten, allerdings rechnet diese Statistik nicht die große Zahl der nach Child entstandenen Sammlungen im englischsprachigen Bereich mit ein. Das Alter des skandinavischen Balladenmaterials unterscheidet sich jedoch nicht merklich von jenem des anglo-schottischen, einige wenige Texte, Fragmente und Spuren sind genuin mittelalterlich - das heißt in Skandinavien vor 1520 - und die große Blütezeit des Genres war nach etwa 1550. 13 Niles, John D.: Homo Narrans. The Poetics and Anthropology of Oral Literature. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1999. 14 Buchan, David: The Ballad and the Folk. London & Boston: Routledge & Kegan Paul 1972. Andersen, Flemming G. and Thomas Pettitt: Mrs. Brown of Falkland. A Singer of Tales? In: Journal of American Folklore 74 (1979), S. 1-24. 15 Jonsson, Bengt R., Svale Solheim and Eva Danielson: The Types of the Scandinavian Medieval Ballad. In collaboration with Mortan Nolsøe and W. Edson Richmond. Oslo, Bergen, Tromsø: Universitetsforlaget 1978. Eddische Dichtung und die Ballade 45 Es existiert schon einige Forschung, die sich mit dem Vergleich der eddischen Dichtung und der skandinavischen Balladendichtung auseinandersetzt, aber soweit mir bekannt ist, gibt es bisher keine Bemühungen, diese über ‘das Modell’ zu verknüpfen. Und es gibt gute Gründe für diese Lücke. Einerseits kennen sich seit dem Norweger Sophus Bugge (1833-1907), einem der größten Wissenschaftler auf beiden Gebieten, nicht viele Forscher in beiden Gattungen aus. Man könnte zwar Andreas Heusler, Helmut de Boor, Jan de Vries und den Edda-Kommentar von Sijmons und Gering anführen, alles hauptsächlich Eddaspezialisten (im engen Rahmen unserer Dyade), welche auch wesentlich über Balladen publizierten. Auf der Balladenseite schenkten alle nordischen Forscher mindestens vorübergehend der eddischen Dichtung Beachtung; zwei wichtige Beispiele sind die Schriften des norwegischen Dichters Hans E. Kinck und seines Landsmanns Knut Liestøl. Eine weitere Schwierigkeit ist das bloße Ausmaß und die Vielfalt des Balladenmaterials in Skandinavien. Eine typische Kurzdefinition von ‘Ballade’ ist Kittredges Formel „a story told in song“. 16 Aber es gibt eine ganze Literatur, die die Grenzen dieses Genres in Frage stellt; es scheint zum Beispiel, dass es, wie bei Childs Balladen, bei vielen der skandinavischen Typen keinen Beweis dafür gibt, dass sie gesungen wurden, und Edson Richmond hinterfragt sogar deren „narrativen“ Bestandteil. 17 Und schließlich (in unserem Katalog von Schwierigkeiten) ist das intensive Interesse an ‘Performanz’ (zumindest in Amerika), das zum Versuch geführt haben könnte, Edda und Ballade wie hier über ‘das Modell’ miteinander in Verbindung zu bringen, erst relativ jüngeren Datums. Die beiden Arten skandinavischer oraler Dichtung haben jedoch einige Dinge gemeinsam. Eddische Dichtung ist größtenteils narrativ, obschon sie auch längere gnomische Abschnitte hat. Diese modale Zusammenstellung ähnelt Balladen wie Child 1 „Riddles Wisely Expounded“ (übrigens ein sehr altes Beispiel), und solche narrativ-gnomische Textstellen der Eddadichtung nähern sich der balladenhaften Textstruktur der ‘zunehmenden Wiederholung’ an, d.h. „incremental repetition“ in der englischen Balladenkritik. Die eddische Form ist strophisch, und der narrative Ablauf gleicht dem ‘Springen und Schlendern’ der Ballade, d.h. „leaping and lingering“ im englischen terminus technicus. Sie ist mehr oder weniger formelhaft, und auch wenn Refrains fehlen, wirken einige Wiederholungen refrainhaft. Manchmal ist die Geschichte beinahe so implizit oder publikumsabhängig wie bei Balladen, und es gibt einen kleinen, aber wichtigen Bereich von gemeinsamen Stoffen, hauptsächlich unter den 167 Typen, die in TSB (unter E) als kæmpeviser, heroische Balladen, klassifiziert sind. (Erläuternd sei hinzugefügt, dass TSB das von früheren Balladeneditoren übernommene Klassifikationssystem verfeinert hat, so dass man nun sagen kann, dass Skandinavien unter „A. Balladen des Übernatürlichen“ 75 Typen, unter „B. 16 Kittredge, Introduction, S. xi. Es ist jedoch zu beachten, dass Kittredge viel ausführlicher ist, als diese oft zitierte minimale Definition. 17 Richmond, W. Edson: Esse est percipi. A Poetic Genre Created by Perceptions. In: Inte bara visor. Studier kring folklig diktning och musik tillägnade Bengt R. Jonsson den 19. mars 1990. Eds. Eva Danielson et al. Stockholm: Svenskt visarkiv 1990, S. 313-38. Joseph Harris 46 Legenden [d.h. religiöse] Balladen“ 37 Typen, unter „C. Historische Balladen “ 41 Typen, unter „D. Ritterballaden “ 441 Typen und unter „F. Scherzhafte Balladen“ 77 Typen kennt. Man nimmt an, dass die heroischen Balladen der Gruppe E aus dem westnordischen Gebiet, also aus Norwegen oder von den Färöern stammen - eine ziemlich einleuchtende Schlussfolgerung für die 104 Typen, die nirgendwo sonst bezeugt sind). Wenn man ‘eddisches Material’ allgemeiner, ohne einen spezifischen Verweis auf die Lieder-Edda selbst definiert, dann dehnt sich dieses nordische Stoffgebiet etwas aus (und umfasst beispielsweise auch Hagbard og Signe [D 430]). Wenn wir aber die andersartige färöische Tradition, welche 104 von 167 Typen der Gruppe E ausmacht, ausschließen, scheint der Anteil an Überschneidungen des Erzählstoffs zwischen der ‘eddischen’ Thematik und der Ballade ziemlich gering. 18 Mit anderen Worten hängt das ‘eddische Erbe’ der Ballade gewissermaßen vom Standpunkt des Betrachters ab. Ein zukünftiges Ziel wäre, Hinweise auf Balladen in der eddischen Forschung und mindestens eine repräsentative Anzahl von Erwähnungen eddischer Dichtung in der Balladenforschung zu sammeln, um eine mehr oder weniger vollständige Darstellung ihrer Berührungen vorlegen zu können. Falls ich das versuchen würde, hätte ich einen weiten Weg vor mir. Von dem, was ich bisher gelesen habe, kann ich jedenfalls sagen, dass sich die meisten Gegenüberstellungen der beiden Genres kurz auf stilistische Züge oder oberflächlich auf den Inhalt beziehen; einige ältere Verfasser sprechen vom Fortbestand einer alten ‘Saga’-Mentalität, aber sie zeigen nicht auf, dass dies eine Besonderheit der Ballade ist. Eine Studie über eddische Dichtung und Balladen verdient es, extra genannt zu werden, da sie - falls zutreffend - bei weitem tiefgründiger und für die Literaturgeschichte aussagekräftiger ist. In den Jahren 1938-40 publizierte Wolfgang Mohr zwei lange Artikel, die auf der Basis eines umfassenden Katalogs von Gemeinsamkeiten der sogenannten eddischen Elegien und der dänischen Balladen darlegten, dass die isländische Untergattung der Edda auf dem Kontinent unter dem Einfluss von Urformen kontinentaler Balladen entstanden sei; und Mohrs Theorie wurde zur Nachkriegsorthodoxie zum Thema eddische Elegie. In den letzten paar Jahrzehnten wurde seine Studie allerdings von verschiedenen Seiten angegriffen, und gegenwärtig gibt es unter den Eddaforschern in diesem Gebiet nur Unstimmigkeiten. 19 Balladenforscher scheinen Mohrs Arbeit nie ernst genommen zu haben; und die frühe Entwicklung des Genres, die in Mohrs These impliziert ist, ist zur Zeit äußerst unpopulär. In jüngerer Zeit hat jedoch Bengt Jonsson Mohr von der Balladenseite her etwas wohlwollender besprochen, und Bjarne Fidjestøl hat diesen interessanten 18 Vgl. Ólason, Vésteinn: The West-Nordic Hero in Saga and Ballad. Marginal Notes. In: Inte bara visor: Studier kring folklig diktning och musik tillägnade Bengt R. Jonsson den 19. mars 1990. Eds. Eva Danielson et al. Stockholm: Svenskt visarkiv 1990, S. 275-86. 19 Die womöglich vollständigste Darstellung der Auseinandersetzung ist Sävborg, Daniel: Sorg och elegi i Eddans hjältediktning. Stockholm Studies in History of Literature 36. Stockholm: Almqvist & Wiksell 1997. Eddische Dichtung und die Ballade 47 Artikeln ein paar respektvolle Seiten seiner unvollendeten Darstellung der Edda und Ballade gewidmet. 20 Ein -Fallbeispiel: -Tord -af -Havsgård -(E -126; -DgF -1) Ich wende mich nun einem Fallbeispiel zu, welches das einzige mythologische Gedicht der Lieder-Edda einbezieht, das Balladenreflexe aufweist, nämlich die Þrymskviða, die auf Grund ihrer meisterhaften Struktur, ihres ansteckenden Humors und ihrer sprachlichen Einfachheit wohl das individuell am besten bekannte aller eddischen Gedichte darstellt. Die Þrymskviða ist nur im Codex Regius erhalten, aber der Stoff, die Erzählstruktur und sogar der Wortlaut des altisländischen Gedichts sind in den auf Dänisch, Färöisch, Norwegisch und Schwedisch überlieferten Balladentexten wieder zu erkennen. Die Entwicklung vom eddischen Gedicht zur Ballade ist so umfassend bewahrt, dass ich die Zusammenfassung der Ballade in TSB auch dazu benutzen kann, um den Inhalt des alten Gedichts in Erinnerung zu rufen: E 126 Tord af Havsgård - Thor regains his stolen hammer from a giant […] Thor has lost his hammer and asks Loke to find it for him. Loke puts on a feather cloak and flies to a giant. The giant admits to having the hammer, but he will not return it unless he gets Thor’s sister Fröya in marriage. When Fröya hears this she refuses, and Thor himself […] dresses as a bride and goes to the wedding […] 21 The giant is surprised at the huge amounts of food and drink the bride is able to consume. After the meal the hammer is given to the bride who kills the bridegroom and all the other trolls. 22 Diese Zusammenfassung verschleiert die Tatsache, dass es beachtliche Unterschiede zwischen den vier nationalen Versionen gibt - genau solche Unterschiede, wie sie nach einer erheblichen oralen Transmission in einer Balladentradition zu erwarten sind. Hier nun in Kürze einige der Charakteristika für jede der vier Versionen. Der färöische Text ist ein Fragment aus dem frühen 19. Jahrhundert, welches nur die zwei ersten Strophen enthält und auf Dänisch mitgeteilt ist, bis auf ein paar färöische Ausdrücke, die in der beigefügten Prosa diskutiert werden. Thor wird Tórir genannt, Loki Lokki løgin, und Þrymr ist Tröllatrant. Alle diese Namen sind im Einklang mit einer Hypothese, welche die färöische Version aus dem Norwegischen abgeleitet sieht, und ein Missverständnis im Refrain stützt die Annahme dieser Herleitung. 23 20 Jonsson, Bengt R.: Oral Literature, Written Literature. The Ballad and Old Norse Genres. In: The Ballad and Oral Literature. Ed. Joseph Harris. Harvard English Studies 17. Cambridge, MA & London: Harvard University Press 1991, S. 139-40, 165-66. Fidjestøl, Bjarne: The Dating of Eddic Poetry. Ed. Odd Einar Haugen. Bibliotheca Arnamagnæana 41. Kopenhagen: Reitzel 1999, S. 318-23. 21 Die Elipsen markieren Verweise in TSB auf anscheinend unveröffentlichte norwegische Varianten, die ich nicht überprüfen kann. 22 TSB, S. 252. 23 Grüner Nielsen, H.: Torsvisen på Færøerne. In: Festskrift til H. F. Feilberg fra nordiske sprogog folkemindeforskere på 80 års dagen den 6. august 1911. Kopenhagen, Stockholm, Kristiania: Gyldendal, etc. 1911, S. 72-76. Joseph Harris 48 Die norwegische Variante mit 18 Strophen in einer Handschrift von ca. 1750 bricht an jener Stelle ab, an der sich der Riese über den Appetit seiner Braut wundert; eine zweite norwegische Variante, die in der publizierten dänischen Sammlung von 1695 mitgeteilt ist, enthält nur die erste Strophe und den Refrain, doch eine begleitende Beschreibung von Peder Syv kann einige der Lücken füllen. 24 Thor ist Torekall; das zweite Element, karl, bedeutet „alter Mann“; Loki ist Låkjen, und die Flügel für seinen Flug sind scheinbar seine eigenen. „Gremmeligård“ für Riesenland entspricht „Åsgård“; der Riese wird Gremmil oder Grimmen genannt; Freyja wird scheinbar Valborg genannt und ist die jüngste Schwester von Thor; dunkles Blut sprudelt aus ihrem Gesicht, als die Eheschließung vorgeschlagen wird; der Riese ruft rührend nach seinen besten Kleidern und Thors Appetit als Braut ist lebhaft wiedergegeben. Die schwedische Version, die in zwei Varianten 25 in Handschriften des 17. Jahrhunderts existiert, scheint mit ihren 16 Strophen vollständig zu sein, obwohl sie mit dem Abschlachten der Trolle endet und die Witze des Altnordischen und Dänischen am Ende weglässt. 26 Tårckar, das heißt Torkarl, wird sitzend, seinen Reichtum zählend, vorgefunden und kehrt nicht ermüdet aus den Wäldern zurück; Locke trägt den Spitznamen Lewe oder Loye und ist Thors Dienstjunge; der Riese ist der alte Trolletram; Freyja heißt Frojenborg oder Floyenborg; das Blut spritzt aus ihren Fingern und Thor spricht sie als seine Schwester an. Die dänische Überlieferung besteht aus zwei Handschriften aus dem 16. Jahrhundert, welche Grundtvig als eine einzige Version (Opskrift) interpretiert, auch wenn die Handschriften unabhängig voneinander sind und zahlreiche oberflächliche Unterschiede aufweisen (A in a und b). 27 Seine Version B ist aus A. S. Vedels früher, gedruckter Sammlung übernommen, die ihrerseits auf den selben beiden Handschriften von A basiert, jedoch signifikante Unterschiede aufweist; Grundtvig glaubt, dass diese am besten als Vedels eigene Erfindungen zu erklären sind und nicht auf eine dritte Quelle hinweisen. Die mündliche Version C wurde von drei jütländischen Informanten im 19. Jahrhundert aufgezeichnet. 28 (Die zahlreichen Skillingstryk sind später und von den frühen Dru- 24 Liestøl, Knut und Moltke Moe: Folkeviser I. (Rev. ed. by Olav Bø und Svale Solheim.) Norsk folkedikting 6. Oslo: Det norske samlaget 1958, S. 119-21, 278-80. Ein dritter norwegischer Text der Ballade ist möglicherweise durch seine erste Strophe vertreten bei Skar, Johannes: Gamalt or Sætesdal. Bd. 4. Kristiania: Norli 1909, S. 85; aber der Name des Helden lautet hier Olav. 25 Jonsson, Oral Literature, Written Literature, S. 144-45 diskutiert diese als zwei Aufzeichnungen desselben Sängers, ein Schluss, der auf sorgfältigen Folgerungen in seinem früheren Werk basiert (zitiert in seiner Nr. 7). 26 Noreen, Adolf und J. A. Lundell: 1500och 1600-talens visböcker. K. Bibliotekets visbok i 4: 0. Bd. 2, pt. 7 (1913-15), S. 350-52; 392-93. Diese diplomatische Edition der Handschrift ist inzwischen ersetzt durch: Sveriges medeltida ballader 5: 1 Kämpavisor (Nr. 197-219)[,] Skämtvisor I (Nr. 220-233). Eds. Sven-Bertil Jansson und Margareta Jersild. Stockholm: Almqvist & Wiksell, 2000. DgF 1 ist Nr. 212, S. 85-87. Die alte kritische Ausgabe ist Arwidsson, Adolf Iwar: Svenska fornsånger […] Bd. 1. Stockholm: Norstedt 1834, S. 3-9. 27 Grundtvig, Svend: Danmarks gamle Folkeviser [...]. Bd. I. Kopenhagen: Universitets-Jubilæets Danske Samfund 1853-54 (1966), S. 1-7; siehe dazu auch die nachträglichen Anmerkungen in späteren Bänden. 28 Grundtvig, DgF IV, 579-83. Eddische Dichtung und die Ballade 49 cken abhängig.) Grundtvigs Interpretationen scheinen mir nicht unvermeidbar zu sein, doch im vorliegenden Zusammenhang möchte ich nur einige der Hauptmerkmale des dänischen Zweigs als ganzes nennen. Der Held heißt Tord af Havsgaard, also Ásgarðr; Loki heißt „liden Locke“ oder auch „Locke Lejemand“; Freyja ist Fredensborg, Frederiksborg oder Fridlevsborg; Thor und Loki sind Brüder, doch ist Thor auch „unser alter Vater“, ein echter, alter mythischer Zug. Die Geschichte, die 23 oder 27 Strophen umfasst, ist lückenloser (in Bezug auf die Þrymskviða) und endet mit Lockes scherzhaftem Vorschlag, dass sie nach Hause gehen sollten, da die Braut, „unser Vater“, nun Witwe sei. Schließlich muss ich noch erwähnen, dass es, obwohl keine isländische Balladenausführung dieses Typus existiert, aus dem 15. Jahrhundert einen kurzen, unvollständigen Rímur-Zyklus, die Þrymlur, 29 gibt, welcher ziemlich genau auf der Þrymskviða basiert. Bei einer anderen Gelegenheit möchte ich auf die philologischen Details dieses Komplexes eingehen, doch an dieser Stelle beschränke ich mich auf ein paar wenige literaturhistorische Erklärungen. Grundtvig stellte sehr generell fest, dass das alte Gedicht, welches er anscheinend eher als allgemein nordisch denn als spezifisch isländisch betrachtete, in die weit verbreitete Ballade überging. 30 Neben anderen früheren Wissenschaftlern möchte ich Léon Pineau erwähnen, der für das Gegenteil argumentierte: Balladen sind unermesslich alte Volksdichtungen, und die Þrymskviða ist eine mittelalterliche, isländische Vervollkommnung, die zu einer Hochkultur gehörte und eher Kunstdichtung als Volksdichtung war. 31 Heute bestünde die akzeptierte Forschungsmeinung darin, dass, wie praktisch alle heroischen, von schriftlichem, isländischem Textmaterial abstammenden Balladen diese in Westskandinavien (Färöer oder Norwegen) entstand; die ostskandinavischen Varianten sind mündlich aus Norwegen abgeleitet. Die -Anwendung -auf -die Þrymskviða So weit so gut. Doch eine philologische Untersuchung all dieser textuellen Beziehungen, die Bugge unter Mitarbeit des großen norwegischen Folkloristen Moltke Moe 1897 vorlegte, analysiert alle Texte und möglichen Anklänge in und von anderen Rímur und Balladen und kommt zum Schluss, dass die ursprüngliche, norwegische Ballade in Island auf der Grundlage der schriftlichen Þrymskviða abgefasst wurde. 32 Diese norwegische Ballade beeinflusste die Þrymlu und war die Quelle der 29 Finnur Jónsson (ed.): Rímnasafn: Samling af de ældste islandske rimer. Bd. 1. Kopenhagen: Samfund til udgivelse af gammel nordisk litteratur 1905-12, S. 278-89. 30 Die früheren Diskussionen können zum Teil bei Grundtvig, DgF IV, S. 578-79, nachgelesen werden. 31 Pineau, Léon: Les vieux chants populaires scandinaves (Gamle nordiske Folkeviser). Époque barbare. Bd. II. Paris: Bouillon 1901, S. 58-76. 32 Bugge, Sophus und Moltke Moe: Torsvisen i sin norske form udgivet med en afhandling om dens oprindelse og forhold til de andre nordiske former. Christiania: Centraltrykkeriet 1897. Joseph Harris 50 dänischen Ballade, welche, wegen gewisser Rímur-Anklänge, die Bugge nur in der dänischen Version fand, auch in Island verfasst worden sein musste. Aus heutiger Perspektive scheint dieses Szenario ganz unwahrscheinlich, denn um eine solche Schreibarbeit zu beherbergen, müsste man sich fast einen Vorläufer des Arnamagnaeanischen Instituts um 1300 vorstellen. In der post-Ong-Ära könnten wir sagen, dass Bugges Vorstellung gänzlich chirographisch war. Ich möchte mich mit den Fakten seiner Argumention in einem anderen Zusammenhang auseinandersetzen, doch hier genügt es zu sagen, dass der führende skandinavische Balladenforscher unserer Zeit, Bengt Jonsson, sie abgelehnt oder eher ihren Gehalt bis auf den Kern der Vorrangstellung der norwegischen Ballade reduziert hat. Diese muss in Norwegen im frühen 14. Jahrhundert verfasst worden sein, als die Þrymskviða dort noch immer als ein mündliches Gedicht bekannt war. Jonsson argumentiert allgemeiner für die Kultur des norwegischen Hofs um die Wende des 14. Jahrhunderts als die Stätte der ursprünglichen Adaption von französischen Balladen in Skandinavien; die heroischen Balladen und besonders die Thor-Balladen sind für ihn peripher. Ich denke, dass er recht hat, wenn er sagt, dass [The] connection between eddic poetry and ballads ought to show that some of the eddic lays were known in Norway around 1300 (a fact in harmony with the runic inscriptions found in Bergen) […] It is, on the other hand, not very plausible that eddic poetry gave rise to ballads as late as the fifteenth century, which has been suggested even in very recent times. As eddic poetry also was an oral genre, the transformation from eddic lay to ballad represents an encounter between two genres of oral poetry, one older and one younger, two different systems of making verse with some formal elements in common. 33 Dies ist endlich, so denke ich, die richtige Sichtweise. 34 33 Jonsson, Oral Literature, Written Literature, S. 157. 34 Bengt Jonssons Hypothese (und natürlich auch meine) war bis zu einem gewissen Ausmaß in einem sehr kurzen, aber recht originellen Artikel von Bugges Tochter und Schwiegersohn vorweggenommen worden, ein Artikel, der der zeitgenössischen Eddaforschung gänzlich unbekannt ist: Berge, Johanna Bugge und Rikard Berge: Torekall-visa. In: Telemarks-Festskrift 1914. Skien: Lutlaget Norig 1914, S. 52-56. (Ich danke Olav Solberg, der mir eine Kopie dieses seltenen Artikels zur Verfügung stellte, eine späte Entdeckung im Verlauf der Arbeit an diesem Artikel.) In der Version der Berges von der Geschichte der oralen Literatur wurde eine Þrymskviða mit den ersten Siedlern nach Island gebracht und später niedergeschrieben; gleichzeitig bestand für eine gewisse Zeit eine andere orale Version in Norwegen. Die Ballade wurde in Norwegen im 12. Jahrhundert geschaffen, jedoch nicht direkt von einer norwegischen Þrymskviða; stattdessen war das eddische Gedicht in eine Prosalegende mit einigen Versspuren übergegangen; und dies war die Quelle des Verfassers der Ballade. Die Abfassung der Ballade fand in Telemark statt, was wir durch eine dort bezeugte Sage annehmen können, die durch den Ortsnamen Urbø in Raudland bekannt ist. (Grundtvig zitiert diese Sage schon in DgF IV, S. 582-83.) Die Berges sagen, dass es etwa 20 Abschriften der Sage gibt, deren älteste von 1777 ist. Mir war es nur möglich, drei gedruckte aufzuspüren; aus meiner bisherigen, sehr unvollständigen Lektüre würde ich bezweifeln, dass die Urbø-Geschichte die Quelle der Ballade darstellen kann, selbst wenn wir versuchen, uns ihre ältere Form viel näher an einer oralen norwegischen Þrymskviða vorzustellen. Stattdessen würde ich beim jetzigen Stand meiner Nachforschungen vorschlagen, dass die Sage in einer allgemeineren Weise mit Eddische Dichtung und die Ballade 51 Aus der Sicht der Balladenforschung ist diese oral-literarische Geschichte der Thor-Ballade nicht allzu wichtig; schließlich betrifft sie nur einen von 838 Balladentypen, und in der Tat beschäftigt sich Jonsson mit ihr hauptsächlich in einer Fußnote. Die Balladenforschung orientiert sich eher in Richtung von Resultaten im großen Maßstab, wie jene des „wann“ und „wo“ der „Geburt“ der skandinavischen Ballade, wie es ein amerikanischer Wissenschaftler genannt hat. 35 Für die Eddaforschung hingegen kann ein solcher detaillierter Edda-Balladen-Zusammenhang von höchster Bedeutung sein. Eines der schönsten eddischen Gedichte, die Þrymskviða, hat das Lob von vielen Kommentatoren erhalten, wobei oft darauf hingewiesen wurde, dass es das balladenhafteste seines Genres sei; doch die Geister scheiden sich sehr in Bezug auf seine Datierung und Herkunft. In einem Überblick über die Eddaforschung von 1985 fasste ich den Forschungsstand wie folgt zusammen: Even more radical swings of opinion could be charted for Þrymskviða, which has been reasonably judged to date from the ninth century or the mid-thirteenth. The poem’s affiliation with ballads [has seemed] to call for the twelfth century, and the language can be adjudged genuinely archaic or skillfully archaizing. Erik Harding […] showed that the perfect placing of the prefix-substitute of/ um could not have been done by an archaizing poet, but de Vries […] was convinced that this criterion could be dismissed. Peter Hallberg […] concluded that Snorri Sturluson himself wrote Þrymskviða, chiefly because the poem is not summarized in Snorri’s Prose Edda. This negative evidence conflicts with what we seem to know of Snorri’s method in his Edda, but [Halvard] Magerøy […] and Reinert Kvillerud […] also believe the poem to be a mid-thirteenth-century confection, if not by Snorri. 36 In den zwei Dekaden, die verflossen sind, seit jene Studie publiziert wurde, ist bei der Datierung von eddischer Dichtung durch das postum veröffentlichte Buch von Bjarne Fidjestøl ein wichtiger Schritt gemacht worden. Wir können darin das Paradox der Þrymskviða in seinem ganzen Ausmaß sehen: Nach objektiv linguistischstatistischen Tests rangiert es bei weitem als ältestes Gedicht. 37 Dennoch ordnet es die Mehrheit noch immer der spätestmöglichen Periode zu. Ich denke, dass die Beweiskraft der Ballade stark darauf hindeutet, dass der Grund, warum Snorri das Gedicht nicht benutzte, darin liegt, dass es zu seiner Zeit oder in der Abfassungszeit der Prosa-Edda (ca. 1223) noch nicht nach Island gebracht worden war. Falls die Þrymskviða, wie wir sie haben, die schriftliche Transkription einer isländischen, oralen Redaktion eines oralen, norwegischen Gedichts ist, dann ist seine ungewöhnliche Stellung in den linguistischen Tests nicht durch sein hohes Alter, sondern durch eine andere, jüngere, geographische Herkunft zu erklären. Da die linguistische Messung auf der Sprache der isländischen Skalden dem Material der Thorshochzeit verwandt ist; aus mehreren Gründen ist Jonssons Szenario befriedigender. 35 Colbert, David: The Birth of the Ballad. The Scandinavian Medieval Genre. Stockholm: Svenskt visarkiv 1989. 36 Harris, Eddic Poetry, S. 100-01; weitere Angaben dort. 37 Fidejstøl, Dating; siehe besonders S. 207-30. Joseph Harris 52 basiert, wäre die Einführung eines Gedichts, welches erst kürzlich aus einem anderen geographischen Dialekt eingeführt wurde und vermutlich einer etwas anderen Art mündlicher Gedichttradition entstammt, möglicherweise irreführend. Und im Allgemeinen kann man den linguistischen Tests, so brillant ihre Begründer und Veredler auch gewesen sind, die Vernachlässigung der Geographie vorwerfen. Falls diese Literaturgeschichte für die Þrymskviða stichhaltig erscheint, dann ist die anscheinend widersprüchliche moderne Tendenz, das Gedicht auf der Basis von allgemeinen kulturellen Gründen jünger zu datieren, nicht ganz falsch, nur abseits der räumlichen Grundlage. Der Mythos selbst ist sicher alt, wenn wir estnische und andere östliche Analogien betrachten, 38 doch die Verbindung zur Ballade scheint dem Gedicht oder oralen Varianten des Gedichts eine plausible Heimat im Norwegen des 13. Jahrhunderts zu geben. Methodologische -Schlussfolgerungen -für -orale -Literatur -und -eddische Performanz Das Vorhergehende ist ein Beispiel dafür, wie die Verknüpfung von eddischer Dichtung und Ballade die ältere orale Dichtung vielleicht erhellen kann. Ein anerkanntes Beispiel für dieselbe Art von Beleuchtung wäre Bugges Darlegung von 1855, dass die Ballade Ung Svejdal (nun Typ A 45) ein Reflex von zwei eddischen Gedichten ist, nunmehr auf der Basis des Balladenbeweises als Teile eines einzigen Ganzen anerkannt, das wir seit Bugge Svipdagsmál nennen. 39 Aber diese Art von Verbindung zwischen Edda und Ballade ist historisch und direkt - mutatis mutandis, als ob konkrete mündliche Vermittlungsstufen zwischen der Odyssee und einem der serbischen Rückkehrlieder ermittelt worden wären. In Norwegen haben wir es freilich mit einer einzigen Kultur und nur ein paar hundert Jahren zu tun. Dieser Verweis auf eine Edda-Balladen-Beziehung war also nicht wirklich eine Anwendung ‘des Modells’, bei dem Verbindungen eher typologisch als direkt, das heißt Metapher oder Gleichnis eher als Synekdoche oder Metonymie sind. Es bleibt noch zu sehen, was uns die Ballade, streng als ‘Modell’ betrachtet, über die Performanz eddischer Dichtung lehren kann. Ich werde hier nur die Frage der Musik aufgreifen. Trotz der Vorbehalte, die ich oben angeführt habe, werden Balladen natürlich im allgemeinen zu Recht mit einer musikalischen Performanz in Verbindung gebracht und dieses allgemeine Bild mag auch einen entsprechenden Wert als ‘Modell’ für eddische Verse haben, vielleicht besonders, wenn es in unserer spezifischen Fallstudie abgestützt werden kann. DgF verzeichnet zwei unterschiedliche Melodien für 38 Zu diesem Thema siehe unter anderem die diversen Ansätze von Schück, Henrik und Karl Warburg: Illustrerad svensk litteraturhistoria. Bd. 1. 3., überarbeitete Auflage. H. Schück. Stockholm: Geber 1926, S. 157-62; und Schröder, Franz Rolf: Thors Hammerholung. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 87 (1965), S. 3-33. 39 Diskussion und Verweise in Dal, Erik: Nordisk folkeviseforskning siden 1800. Omrids af textog melodiestudiets historie og problemer især i Danmark. Copenhagen: Schultz 1956, S. 228-29. Eddische Dichtung und die Ballade 53 Tord af Havsgård, beide aus dem 19. Jahrhundert; und Grundtvig erwähnt nur den Titel (oder die erste Zeile) der Melodie von einem Skillingstryk unserer Ballade aus dem 18. Jahrhundert. 40 Aber selbst wenn wir mit gutem Grund vermuten dürfen, dass die Thor-Ballade zu einem früheren Zeitpunkt in der Geschichte, sagen wir im 15. oder 16. Jahrhundert und auch in Norwegen, gesungen wurde, mit welcher Wahrscheinlichkeit können wir dann das ‘Modell’ auf ein dramatisches, alliterierendes Gedicht wie die Þrymskviða oder auf die eddische Dichtung im allgemeinen anwenden? Vielleicht ist nicht allen bekannt, dass tatsächlich Musik in Verbindung mit gewissen eddischen Gedichten überliefert ist, jedoch erscheint diese eddische Musik erst 1780 in Paris in einem Buch über eine Thematik, die wir heute Musikethnologie nennen würden. Die Quelle für die fünf Begleitmelodien zu eddischen und skaldischen Texten war ein in Kopenhagen lebender Isländer, wahrscheinlich - oder wenigstens nach herrschender Meinung - Jón Ólafsson frá Svefneyjum. 41 Dieser Jón Ólafsson war selbst von der Authentizität der musikalischen Präsentation überzeugt, da er ein paar Jahre später ein Buch über altnordische Dichtung publizierte, welches auf der Annahme basiert, dass deren Sprache „die Gesangssprache“ (Syngesproget) sei. In den 1960er Jahren tat sich ein deutscher Philologe mit einem Musikwissenschaftler zusammen, um eine Anzahl Artikel, teilweise über die Melodien von 1780, zu schreiben; die Kernaussage dieser Arbeiten ist es, sie mit Vorsicht als authentisch zu betrachten. Doch 1972 verfasste Jón Helgason, einer der bestausgewiesenen isländischen Forscher, eine brillante Demaskierung der gesamten Entdeckung eddischer Musik aus dem 18. Jahrhundert. Die 1980er Jahre brachten zwei positivere Einschätzungen durch nordische Musikwissenschaftler hervor und seither ruht das Thema, soweit ich weiß. Ich bin überzeugt, dass Jón Ólafsson nicht ganz ohne Grund von der musikalischen Performanz zu seiner eigenen Zeit und in seiner jüngsten Erinnerung sprach; doch wie weit zurück können die Melodien und diese Art der Performanz projiziert werden? Bei einer früheren Behandlung dieser Frage kam ich zum vorläufigen Schluss, dass das singsanghafte Vortragen von Rímur-Texten, das im 14. Jahrhundert in Island begann, und die Tatsache, dass nur Rímur und eddische Dichtung das Verb kveða für die Art und Weise ihres Vortrags gemeinsam 40 DgF XI, S. 1. Grundtvig, DgF II, S. 634. In Version C, den drei jütischen Performanzen aus dem 19. Jahrhundert, war eine Melodie aufgezeichnet, jedoch ist aus DgF allein nicht ersichtlich, wie die anderen zwei aufgeführt wurden (DgF IV, S. 580-82; XI, S. 1). 41 Für alle Quellenangaben in diesem und dem nächsten Abschnitt und für eine ausführlichere Diskussion der musikalischen Verbindung siehe Harris, Joseph: The Performance of Old Norse Eddic Poetry. A Retrospective. In: The Oral Epic. Performance and Music. Ed. Karl Reichl. Intercultural Music Studies 12. Berlin: VWB 2000, S. 225-32. Diese Thematik ist nun - mit anderen Schlussfolgerungen - ergänzt in Harris, Joseph: „Ethnopaleography“ and Recovered Performance: The Problematic Witnesses to „Eddic Song.“ In: Modells of Performance in Oral Epic, Ballad, and Song. Ed. Joseph Falaky Nagy (special issue von Western Folklore 62, Nr. 1 & 2 [Winter and Spring 2003], S. 97-117). Im letztgenannten Artikel plädierte ich für den älteren Jón Ólafsson frá Grunnevík; hier aber ich ziehe den Konsens vor. Joseph Harris 54 haben, nahelegen, dass ein „eng begrenzter rezitativhafter Performanzstil“ für eddische Verse bis ins Mittelalter zurückreicht. Diese Hypothese könnte vielleicht geringfügig erweitert werden, um einerseits der Beweiskraft der Rímur-Beziehung und andererseits den Ideen des deutschen Musikethnologen zum parlando (Sprechstimme) von früh- und westgermanischen Versen deutlicher Rechnung zu tragen: Sprechgesungene eddische Verse im späten 13. Jahrhundert (charakterisiert durch kveða) könnten im 14. Jahrhundert den Anstoß für sprechgesungene Rímur (ebenfalls durch kveða charakterisiert) gegeben haben; das Rímur-Genre wäre seinen Wurzeln treu geblieben, doch irgendwann in der langen Frühen Neuzeit wären melodischere Weisen den klassischen eddischen Versen, die in der isländischen Gesellschaft noch immer bekannt waren (oder wiederentdeckt wurden? ), angepasst worden. Die Anpassung mag im Sinn einer Wiederbelebung verstanden werden. Daher die Melodien von 1780. Das Ansehen von gesungenen epischen Versen aus dem Ausland mag die treibende Kraft für die melodische Wiederbelebung in Island gewesen sein, doch es ist interessanter, darüber zu spekulieren, welche Rolle die Musik beim Übergang einer mündlichen Þrymskviða im späten 13. Jahrhundert in Norwegen zu einer gesungenen Torkall-Ballade beispielsweise im 14. Jahrhundert einnahm. Der Wechsel von einer Art von oralem Gedicht in eine andere könnte zu einem Teil die Substitution von einer Art Musik durch eine andere gewesen sein, die womöglich als ein moderner, angesehener, importierter Musikstil anstelle eines altmodischen Dröhnens betrachtet wurde. Ich denke, dass uns diese Spekulationen der Vorstellung, wie der Übergang von eddischen Versen zur Ballade tatsächlich vor sich ging, etwas näher bringen können, aber ich möchte gleich hinzuzufügen, dass dies auf Kontiguität und nicht auf Ähnlichkeit beruht und daher nicht ganz im Sinn ‘des Modells’ ist. Das Beispiel der Ballade als gesungene Erzählung, zusammen mit dem Analog der gesungenen frühwestgermanischen Dichtung und gesungener Epik aus ferneren Regionen, verleiht den dünnen Primärzeugnissen einer gesungenen eddischen Dichtung eine gewisse Unterstützung. 42 Doch die Plausibilität ‘des Modells’ in unserer Fallstudie scheint stark von seiner Verbindung mit einem direkten Beweis, der eine historische Kontiguität enthält, abhängig zu sein - die Abstammung der Torkall- Ballade von einer oralen Þrymskviða und die mutmaßliche Rolle der Musik beim Übergang von eddischer Dichtung zur Ballade. ‘Das Modell’ gewinnt zwar auch durch seine Fähigkeit, Lösungen für alte Fragen (etwa ‘die homerische Frage’) vorzuschlagen, an Stärke; doch letztlich ist es ein schwaches Ermittlungsverfahren, indem es auf wahrgenommenen Analogien basiert. Und daher sind die Misserfolge ‘des Modells’ (zumindest in seiner Anwendung auf Performanz) vielleicht nicht unverwandt mit dem, was Göttert Nostalgie für eine lebendige Stimme nennt - eine viva vox verwurzelt im Körper, jedoch eine Stimme, die wir nie gehört haben: Das Begehren treibt ‘das Modell’ an, wie es in ähnlicher Weise den strukturanalogen Sym- 42 Vgl. Reichl, Karl: Introduction: The Music and Performance of Oral Epics. In: The Oral Epic. Performance and Music. Ed. Karl Reichl. Intercultural Music Studies 12. Berlin: VWB 2000, S. 2, 34. Eddische Dichtung und die Ballade 55 patiezauber antreibt. Falls Vokalität der Name für einen Zustand von ungelöster Oralität und Literalität (zum Beispiel im Mittelalter) ist, dann sind Mediävisten vielleicht dazu verdammt, in einer ‘sekundären Vokalität’ zu leben, in einer Spannung zwischen dem warmen Begehren zu hören und der Notwendigkeit, Wörter auf kaltem Papier zu lesen. 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It is quite possible that the painting is true to reality, but one suspects that it exaggerates the practice, gives an overly romanticised impression and leaves the viewer with the notion that the custom was more widespread than it really was. There is evidence of this custom only from the beginning of the 18 th century. 1 Although it has not been possible to trace the above-mentioned custom further back in time, we can hardly doubt that oral storytelling or the reciting of poetry was popular in Iceland over the centuries, and that poetry could be either recited or chanted as accompaniment to dancing. Among this poetry were the rímur (Sg. ríma). What kind of poetry are rímur? In Icelandic literary handbooks they are considered to be a „special Icelandic kind of epic poetry and a special innovation of Icelandic literature of the Late Middle Ages.“ 2 It is not clear what is meant here by ‘epic poetry’ but probably rímur have been grouped together with epic because of their similar function, the difference being that rímur „were versified retellings of stories already existing in books“. 3 This is certainly exaggerated. Many rímur tell us stories for which written sources have not been found, whether because they are now lost or simply never existed. We would be doing the rímur-poets an injustice if we maintain 1 Ólafsson, Jón: Um þá lærðu Vídalína. In: Merkir Íslendingar IV. Ed. Þorkell Jóhannesson. Reykjavík: Bókfellsútgáfan 1950, p. 135; cf. Helgason, Skúli: Saga Þorlákshafnar til loka áraskipaútgerðar I. Reykjavík: Örn og Örlygur 1988, p. 79. 2 Pétursson, Hannes (ed.): Bókmenntir. Reykjavík: Menningarsjóður 1972, p. 81: „[…] sérísl. tegund söguljóða og helzta nýjung í ísl. bókm. á miðöld.“; cf. Benediktsson, Jakob (ed.): Hugtök og heiti í bókmenntafræði. Reykjavík: Bókmenntafræðistofnun Háskóla Íslands 1983, p. 216. 3 Benediktsson, Jakob: Hugtök og heiti í bókmenntafræði, p. 277: „[…] eru yfirleitt aðeins rímuð endursögn sagna sem til voru á bókum.“ Sverrir Tómasson 60 that they followed slavishly old matter without elaboration or independent treatment. Icelanders have composed rímur from the 14 th century to the present. Over 1050 rímur exist and only a small number of them have been published. 4 A single ríma is a narrative told in 50-60 or more stanzas in identical metre; commonly a number of these are joined together in a cycle, each of which can be in different metre. This explains why it is customary to speak of them in the plural, i.e. rímur. In the oldest rímur the use of the metre ferskeytt or variants of it is the most common. It runs thus: Gengu fram fyr kóngsins kné og kvöddu stilli inn teita; buðu þeir bæði fylgd og fé frægum sjóla að veita. 5 [They came into the presence of the cheerful king and greeted him; they offered him, the famous king, their company and money.] The rhyme is abab, but variants can be aabb or aaaa. Various forms of inner rhyme can also occur in each line. This metre is common in Scandinavian and Icelandic ballads where it often occurs without alliteration. The ríma is usually introduced by a prologue, the so-called mansöngur, where the poet addresses the audience, usually a lady or ladies - or men if the poet is a woman. Scholars have pointed out that the rímur are so unique in older Icelandic poetic tradition that they must be of foreign origin. The most alien feature is the metre; the diction, however, is in accord with native tradition. Guðbrandur Vigfússon first pointed out that the metre was similar to Latin liturgical metre in the Office of St. Þorlákr. The German scholar Eugen Mogk was of the same opinion and thought that rímur had primarily been composed to serve as saints’ panegyrics; as evidence he pointed to the ríma of St. Óláfr in Flateyjarbók. In his pioneering work on Icelandic rímur Björn Karel Þórólfsson discussed these views. 6 He maintained that the origin of rímur-metre was to be found among the four-line metre of the ballads in Scandinavia and England. More recent research by William A. Craigie and especially Vésteinn Ólason has shown that the models for rímur metre are in fact to be sought in Middle English poetry. The choice of subject matter was also very similar to the Middle English romances and French chansons de geste. 7 4 Sigmundsson, Finnur: Rímnatal I-II. Reykjavík: Rímnafélagið 1966, p. v. 5 Rímnasafn I-II. Ed. Finnur Jónsson. København: Samfund til udgivelse af gammel nordisk litteratur 1905-1922, I, p. 3. [The spelling and punctuation of all quotations from Rímnasafn have been modernised. - Anm. der Red.] 6 Þórólfsson, Björn Karel: Rímur fyrir 1600. In: Safn Fræðafjelagsins um Ísland og Íslendinga 9. Kaupmannahöfn: Hið íslenska fræðafjelag 1934, pp. 49-53. 7 Sýnisbók íslenzkra rímna I. Ed. William A. Craigie. London: Thomas Nelson & Sons 1952, pp. 281-287; Ólason, Vésteinn: The Traditional Ballads of Iceland. Reykjavík: Stofnun Árna Magnússonar 1982, pp. 52-67. The Function of Rímur in Iceland 61 Craigie labelled rímur as romances and Vésteinn Ólason as metrical romances. However, if we take a closer look at the subject matter of rímur we cannot accept that term for all of them. Admittedly many of them tell of warriors, knights, courtly life, love and sorrows, as is usual in literature of that kind. It should, however, be borne in mind that among the oldest rímur the subject matter is also taken from exempla, fabliaux and legends. The ríma of St. Óláfr in the MS Flateyjarbók tells us for example about his death as a martyr in the battle at Stiklarstaðir in Norway. It contains some miracles with an invocation to the saint in the last strophe. The opinion of Eugen Mogk cannot therefore be completely disregarded; the four-line stanza, ferskeytt is suited to religious poetry. In other words, rímur cannot be counted as one genre; they are many, and the only thing they have in common is the diction and metre and in most cases also the manner of performance. The word ríma is a loanword in Icelandic, and as already mentioned occurs for the first time in a heading in Flateyjarbók (GKS 1005 fol), but the words dans, vísa, spil and þáttr are also used for this kind of poetry. Three of those are adopted from foreign languages. The word ríma (rhyme) and dans (dance) could indicate that dancing accompanied recital of the poetry, but rime is also used for a poem in Middle English. 8 In his study, The Traditional Ballads of Iceland, 9 Vésteinn Ólason has pointed out two verses from Sörlarímur (The rímur of Sörli) - which can be dated to the 14 th century - where the poet complains of the audience not hearing his poetry because of trampling feet and singing: Því má eg varla vísu slá veit eg það til sanns; þegar að rekkar rímu fá reyst er hún upp við dans. [I may barely strike up a verse, for I know for sure that; as soon as the men catch the rhyme, it will be shouted for dancing.] Gapa þeir upp og gumsa hart og geyma varla sín, höldar dansa hralla snart ef heyrist vísan mín. 10 [They gape in the air and rant with zest, and hardly hold control, the gentlemen dance hard and fast once my verse is heard.] Critics have, however, considered that most rímur are far too long to be suitable for dancing. The Icelandic dance is thought to be similar to the practice of the Faroese 8 Sýnisbók, p. xv. 9 Ólason, Vésteinn: Traditional Ballads, p. 40. 10 Rímnasafn II, p. 86. Sverrir Tómasson 62 people up to the present day. Scholars do not, however, agree on this. 11 The word þáttr, which is also used for ballads on the Faroe islands, suggests a similarity between rímur and Faroese ballads. The word vísa shows a relationship with the same word used for ballads in Scandinavia. The terms ríma, dans and spil indicate that the text was performed with music, sung, and even used for dancing. There do not exist many sources about dancing or similar conviviality in Medieval Iceland. We know of certain social gatherings, so-called gleðir, which consisted of various games (leikir, sg. leikr), where it is possible that people also wore masks (grímur). It is, however, uncertain whether rímur were recited on those occasions. In a description of Iceland which Oddur Einarsson, later to become bishop of Skálholt, wrote, most likely at the end of the 16 th century, he depicts the leisure time of his countrymen thus: nunc domesticas historias euolentes ac clara voce ad aliquot horas […] nunc ueteres rythmos jucunda modulatione cantillantes. 12 [sometimes they bring out Icelandic sagas (native stories) and read in a clear voice for hours […] sometimes they recite old poems with an amusing tone.] Scholars have thought it probable that this kind of chanting has been preserved to this day in the melodies of rímur (rímnalög) which were collected at the end of the 19 th century and the beginning of the 20 th century. Hallgrímur Helgason, the composer and musicologist, was of the same opinion. In his work on traditional Icelandic music he cited descriptions of German travellers coming to Iceland in the 19 th century and referring to a peculiar singing of the natives as „rezitativartig vorgetragen“. He himself named it „söngles“ (recitative) and thought its main value consisted in preserving „the recitative of ancient times in a sad one note style“. 13 This description does not fit with the picture given by Oddur Einarsson as „jucunda modulatione cantillantes“. The Icelandic rímur ‘tunes’ are often called stemmur, i.e. voices (cf. German Stimme). They are not all chanted (kveðin) in the same style. It has been explained that they originate in various parts of the country, where they were performed in a variety of ways according to local custom. Even though the metre of rímur is of foreign origin, their poetic diction is primarily Icelandic. The poetics of rímur, however, share some features found in wellknown handbooks of medieval rhetoric: one can find similar tags in rímur and in Middle English poetry. 14 Scholars have stressed that rímur have adopted scaldic 11 See Samsonarson, Jón: Andmælaræða við doktorsvörn Vésteins Ólasonar 21.1.1983. 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It has been maintained that Snorri’s Edda accounts for the poetic diction in rímur, but a closer investigation disproves this claim. The audience, accustomed to one kind of kenning could easily form another one of the same type by taking the base-word out of the kenning and putting another one in its place; thus gaining either a change in meaning or a variation of the same meaning. In Snorri’s Edda there are lists of base-words for forming a kenning; these include those for a man, a woman, a soldier, gold, swords or other weapons, battles and poetry. We could therefore presume that already at the beginning of the rímur-period in the 14 th century, a listener could easily understand such kennings and create new ones in the same style; they simply became formulas and preserved the oral function of rímur. 2 Medieval Icelandic rímur, those that were definitely composed before 1600, are mostly preserved in six vellum MSS. The oldest of them is Kollsbók, Wolfenbüttel 42 4to. It was written in the last decades of the 15 th century and bears the name of its owner, Jón kollur Oddsson, who lived at Holt (Stórholt) in Saurbær in Dalasýsla, at the end of Breiðafjörður. He was probably born about 1450 and died shortly after 1520. 15 Jón kollur was very likely of noble descent; his wife was the daughter of Guðni Jónsson and sister of Björn Guðnason in Ögur in Ísafjarðarsýsla in the Western fjords, one of the most powerful and wealthy noblemen in the latter part of the 15 th century. The most important vellum MS containing rímur is the so-called Staðarhólsbók, AM 604 4to. Árni Magnússon, the famous manuscript collector, attained it from Pétur Bjarnason in 1707. Pétur lived in Tjaldanes and later at Staðarhóll in Saurbær in Dalasýsla. His grandfather was Páll Jónsson, one of the most active aristocrats during the latter part of the 16 th century. He lived at Staðarhóll and at Reykhólar. Staðarhóll in Saurbær is not far from Holt. It is, however, uncertain whether Staðarhólsbók was kept in Staðarhóll from the time it was written until it came into the hands of Árni Magnússon. The scribes of the MS are well known for their workmanship, a father and son, Ari Jónsson and Tómas Arason, who in all likelihood wrote it c. 1540, probably in Súgandafjörður, in the Western fjords. The third main vellum codex of rímur also originated in Dalasýsla: Hólsbók, AM 603 4to. Árni Magnússon received this MS from Magnús Jónsson. His family had 15 Halldórsson, Ólafur (ed.): Kollsbók. Íslenzk handrit V. Reykjavík: Handritastofnun Íslands 1968, p. xlv. Sverrir Tómasson 64 lived at Hóll in Hörðudalur, not very far from Holt and Staðarhóll in Saurbær. This MS is reckoned to be written in the latter part of the 16 th century. The fourth vellum MS of rímur is Selskinna, AM 605 4to, written late in the 16 th century. It was in the possession of Magnús Björnsson, a wealthy landowner in the 17 th century whose grandfather was Páll Jónsson at Staðarhóll. The fifth codex is Stock perg. 4to nr. 23, a 16 th century MS, which was once in the hands of Gunnlaugur Oddsson from Hvítadalur in Saurbær in Dalasýsla. The sixth vellum MS is the so-called Krossnesbók, Stock perg. 4to nr. 22, a 16 th century codex. It came originally from Krossnes in Strandasýsla, the next county north of Dalasýsla. Of greatest interest is the fact that all the codices are almost written in the same century and they have remained for many decades in the same area, the north-western part of Iceland; this cannot be a coincidence. In the period in question, the late Middle Ages and the 16 th century, these counties were the wealthiest with regard to both farming and fishing; the best fishing banks were just off the coast of the Western fjords and Breiðafjörður. People from all over the country flocked to this area. Foreign fishermen, mainly Englishmen in the 14 th and 15 th centuries and later Germans, frequented those fjords, and some of them stayed there more than nine months of each year, maintaining their own shore-based stations. It is certain that the aristocrats in those parts of Iceland sold the foreigners both farm products and fish in return for all sorts of chattel not obtainable in the country. There are no records of other types of exchange between those nations and Iceland, but it is highly probable that the visitors brought along not only pewter and similar merchandise but also foreign customs and even books. There is evidence of Middle English texts being translated into Icelandic but it is not known for whom the translations were made. After the Reformation in 1550 German cultural influence gradually became stronger. It is a well-known fact that during the 15 th century some noble families became richer and much more powerful than in the centuries before. It is obvious that only the very rich could afford vellum codices, and the question arises whether they were meant for reading in private or whether they were meant for some other use. I will here mainly look at Staðarhólsbók and try to ascertain whether its role was something other than just preserving the text. The MS now contains 33 rímur; some leaves are lost, so it is possible that it originally had more than 33. Björn Karel Þórólfsson thought that some of the rímur were very old, while others had just been composed when they were written down about 1540. It is hardly possible to see any principle of organisation in the codex that could indicate for whom they were primarily intended. The book starts with the rímur of Filipó which are actually called Krítar þáttr (The tale of Crete) at the end. They tell of the knight Filipó and his adventures and how in the end he attained both a bride and a country. The rímur begin with a very short mansöngur (two verses) addressed to the audience, called þjóð, which here means the men and women at a particular place. The Function of Rímur in Iceland 65 The message of the poet is reduced to four lines: Söguna ætla eg seggjum tjá setjist menn niðr og hlýði, hversu að elskan margföld má mektug sigra lýði. 16 [I am going to tell the story; people should sit down and listen how manifold and powerful love can conquer nations.] It is worthy of note that the poet merely intended to tell a story and that he wanted men and women to sit down and listen. In the last strophe of the rímur, the poet wishes that his poem and praise of Filipó’s wife should come into the possession of other women: Færð er mærð um falda gátt, fljóðin eignist kvæði. Kalli allir Krítar þátt kappar þetta fræði. 17 [The praise of the lady is brought forward; the ladies should possess the poem. All the warriors should call this lore Krítar þáttr.] This is of course a common topos in rímur. The following rímur in Staðarhólsbók are about both Scandinavian and German heroes: the rímur of Án bogsveigir, Hemingr Ásláksson, Konráð Keisarason, Herburt, Reinald and Andri. Most of these warriors are known from heroic tales in prose. This succession of warriors is, however, interrupted by an exemplum, the rímur of Landrés, which deal with the same material as Ólífar þáttr in the B-version of Karlamagnúss saga. After the rímur of Landrés come 12 sets of rímur about Scandinavian heroes like Hjálmþér, Friðþjófr, Haraldr and Hálfdan brönufóstri along with well-known knights like Bæring and Dínus. At the end of this series comes the exemplary story of the three rogues: Bad, Worse, Worst, which is a well-known tale from exempla collections. It is possible that those two exempla were put among the romances on purpose, to serve as edification after a series of light amusements. Following the last exemplum are rímur which retell Old Norse mythic topics. First are the Sörlarímur, composed after the famous tale of Sörli in Flateyjarbók; then come three rímur which 16 Riddara-rímur. Ed. Theodor Wisén. København: Samfund til udgivelse af gammel nordisk litteratur 1881, p. 3. [The spelling and punctuation have been modernised in all quotations from Riddara-rímur. - Anm. d. Red.] 17 Riddara-rímur, p. 61. Sverrir Tómasson 66 deal with the same subject matter as the eddic poems and Snorri’s Edda. These are Lokrur, Þrymlur and Völsunga rímur. There is no other Old Norse literature of this kind. All the verses of Lokrur and Völsunga rímur are completely preserved here but some verses at the beginning of Þrymlur are lacking, due to a defect in the MS; probably one leaf of the quire is lost. It is obvious that Þrymlur, as they are preserved in Staðarhólsbók, have been written down directly from oral performance or the scribe’s memory: errors that occur in the text are due to incorrect hearing or memory failure. Þrymlur are divided into three fits, two of which are in ferskeytt metre, one in so-called braghent. This meter consists of three lines, the rhyme being aaa. The first line has twelve syllables and three alliterating words; the second and third have eight syllables each. In all there are 85 verses. It must have been easy to learn them by heart. We know of instances where people have memorized much longer poems. 18 Scholars have considered that Þrymlur was based on the famous eddic lay, Þrymskviða, and also some of Snorri Sturluson’s narratives in his Edda. Björn Karel Þórólfsson, for example, maintained that the poet used the MSS Codex Regius and Codex Wormianus of Snorra Edda. It does not, however, matter which MS the poet knew, if he knew any, because he has re-shaped the material from a new point of view, even though the kernel is the same as in Þrymskviða: how Þór regained his hammer Mjöllnir from the giant Þrymur. As well known, Þrymskviða starts in medias res: no explanation is given as to how the giant Þrymur got hold of the hammer Mjöllnir. It is only stated that Þór woke up bursting with anger (vreiðr) and discovered that his hammer was missing. Loki put on Freyja’s feathered cloak and went to look for the hammer. He found the giant who told him that Þór would not get his hammer back to Ásgarður (home of the gods) unless Freyja were to become his bride. Þór was then dressed in a bridal veil and went with Loki to the hall of the giants. In Þrymlur an explanation is given for the stealing of the hammer: Heimboð veitti halrinn stór hölda sveit með sigri; sá hét Þrymr er þangað fór, þursa gramrinn digri. [After the victory the noble man invited the men to his house; a person called Þrymur, the stout giant went there.] Brögðin taka að birtast stór er bragnar vóru í svefni hamarinn Mjöllnir hvarf frá Þór; 18 Helgason, Jón: Noter til Þrymlur. In: Bibliotheca Arnamagnæana XXXI. Opuscula V. København: Munksgaard 1975, pp. 241-249. The Function of Rímur in Iceland 67 hér eru brögð í efni. 19 [The great tricks started when the men were asleep; the hammer Mjöllnir disappeared - there is some trickery going on.] The eddic lay, in contrast to Þrymlur neither describes the gods’ appearance nor their roles in the godly world. The introduction of the gods is very short, and rhetorical devices of portraiture, which are often found in rímur, are lacking. As an example let us look at the description of Þór in Þrymlur: Gjarðir á hann sem greint var mér, gripirnir finnast fleiri; flegar hann spennir fleim að sér flá er hann trollum meiri. [He has, as I was told, a girdle of might, and some other things are among his possessions. When he buckles it on he is mightier than giants are]. Undra digr er örva fiundr, ekki blíðr í máli, glófa átti Grímnis kundr, gjörðir vóru af stáli. [The god (soldier) is extremely powerful and does not speak smoothly. He, the son of Óðinn, has gloves made of steel]. Glófar vinna görpum mein, greyptir hauka foldu, hrífr hann me› fleim harðan stein sem hendr væri í foldu. 20 [The hands in the gloves can split a hard stone just as if the hands were in soil]. Even though physical descriptions are scant in Þrymlur, Þór in his bride’s veil is very well focussed: Ýtar *bjuggu Ása-Þór sem eg vil greina, settu á bringu breiða steina, blóðrautt gull og pellið hreina. [The gods furnished Þór as I will now tell: put broad boulders on his breast and (covered with) blood-red gold and glittering silk.] 19 Rímnasafn I, p. 280. 20 Rímnasafn I, p. 279. Sverrir Tómasson 68 Brúsi sagði brögðin ljót á bauga eyju: „því eru öndótt augu Freyju? Ekki líst oss bragð á meyju“. 21 [The (giant) Brúsi said the virgin’s countenance ugly: ‚Why are Freyja’s eyes so fierce? We do not like the virgin’s look’.] The events in Þrymlur take place in the home of the gods, Ásgarður, and in Jötunheimur, Gianthome. Neither dwelling is described, but from the rímur it can be seen that the persons have to travel between those locations. When Loki and Þór leave Ásgarður, Goðunum fylgja geysimargar geitr og kálfar, telst þá ekki troll og álfar, töframenn og völur sjálfar. [The gods are followed by numerous goats and calves; we do not count elves and trolls, magicians and sibyls.] Fuglar margir fylgja þeima fleina rjóðum villidýr af veiðislóðum varga sveit með úlfum óðum. 22 [The gods are followed by many birds and beasts from hunting grounds, pack of wolfs with raving animals.] It is not obvious why such a huge and beautiful band of animals and beasts accompanies the gods, but it is remarkable that goats are among them. This reminds us of the descriptions in the German Schembart books. 23 At the home of the giants some of bridegroom’s guests are mentioned. The list consists only of names: Þar var Surtr, Haki og Hrymr, höfðinginn var jötna Þrymr, Sörkvir, Móði, Geitir og Glámr, Grímnir, Brúsi, Dofri og Ámr. [There was Surtr, Haki and Hrymr; the chief of giants was Þrymr; (there were) Sörkvir, Móði, Geitir and Glámr, Grímnir, Brúsi, Dofri and Ámr.] 21 Rímnasafn I, pp. 283-284; *bjuggu, byggiu MS. 22 Rímnasafn I, p. 283. 23 Kinser, Samuel: Why Is Carnival So Wild? In: Carnival and Carnivalesque. Eds. Konrad Eisenbichler and Wim Hüsken. Atlanta, Amsterdam: Rodopi 1999, pp. 62-66. The Function of Rímur in Iceland 69 And: Eigi var þeirra flokkrinn fríðr; Fála kom þar inn og Gríðr, Hlökk og Syrpa, Gjálp og Greip; geysilegt var þeirra sveip. 24 [The assembly was not attractive; Fála came there and Gríðr, Hlökk and Syrpa, Gjálp and Greip; their movements were rather noisy.] When we look more closely at the giants’ names we can see that they are closely connected with their looks and behaviour: Haki bears this name because he has a big chin; Hrymur means he who is drying up, getting old; Glámur means he who is pale or ghostly; Syrpa means a slob, cf. Icelandic sorp, rubbish; Greip, she who has very big hands. In the rímur representatives of two worlds are at odds; however, a moral judgement is not made on either group, as often happens in the eddic myths. In the end, the gods conquered the giants. The story is meant to provide amusement, to let the audience enjoy the frolic. The wedding at Gianthome has e.g. very distinctive Rabelaisian features: Komu á borðið bryttrog stór, brúðir sátu upp hjá Þór; jaxlar veittu jötnum lið, enginn hafði hnífinn við. [Upon the table came a very big trough of meat. The ladies sat next to Þór; the molars assisted the giants, nobody used a knife]. Börðust þeir með býsnum svá blóðið dreif um alla þá; knútum var þar kastað oft komu stundum hnefar á loft. [They fought with fervour, the blood spread all over them; bones were thrown and sometimes fists were raised.] Uxa frá eg at æti brúðr, ekki var þeirra leikrinn prúðr; lagði hun at sér laxa tólf og lét þó aldri bein á gólf. 25 [I have been told that the bride ate an ox; their game was not polite; she swallowed twelve salmons and never put a bone on the floor.] 24 Rímnasafn I, p. 285. 25 Rímnasafn I, pp. 285-286. Sverrir Tómasson 70 This description can be compared with the relatively modest one in the eddic Þrymskviða. In the rímur, however, Þrymskviða’s famous ironic ambiguity of Loki and Þór riding to Gianthome as a man and woman is lost, and the rímur treat the gender roles differently; in this journey both males are dressed as women. The poet does, however, forget this fact at one point when Loki is spoken of as a man: Fastað hefr hun fjórtán nætr Freyja sjálf og halrinn mætr; drósin hvorki drakk né át drjúgmjög er hun nú orðin kát. 26 [She, Freyja herself, has fasted for a fortnight and so has (her fellow traveller) the good man also done; the woman (the bride) did neither drink nor eat, she is now very cheerful.] At the end of the rímur stands this verse: Þrymlur heiti þetta spil; þann veg gekk um hamarinn til. Eignist sá sem óðar biðr, ekki skal þeim kasta niðr. 27 [This spil (i.e. game, play, poetry) of what happened to the hammer (Mjöllnir) shall be called Þrymlur; he who asks for this poem, will get it; it shall not be thrown away.] I think that the poet deliberately chose the word spil to describe his work; it must refer not only to the poem itself but rather to the performance of it, a recital or games, accompanied with musical instruments, songs, or perhaps some sort of acting. In this connection we should recall how the German word spill is used in names of carnival plays of the 15 th and 16 th centuries (‘das fasnact spill Troya’ 1463). Working against this notion is the fact that a proper dialogue can hardly be heard in Þrymlur, only occasional questions and answers. 26 Rímnasafn I, p. 286. 27 Rímnasafn I, p. 288. The Function of Rímur in Iceland 71 3 It is obvious that the MS of Þrymlur, Staðarhólsbók was written for wealthy people, aristocrats. It occurred to Jón Helgason that it was originally written for Eggert Hannesson (d. 1560) who lived at Bær in Rauðisandur on the northern side of Breiðafjörður. Eggert Hannesson was in close contact with German merchants but had experienced some severe problems with the English fishermen. As already stated the MS was written in the Western fjords and far from Bær. Eggert Hannesson’s sonin-law was Magnús Jónsson, a rímur-poet and the brother of Páll Jónsson, the grandfather of Pétur Bjarnason who sent the MS to Árni Magnússon in 1707. We do not know how long the MS was in that family’s possession. It is, however, worthwhile to try to find out how these aristocrats lived. One may ask whether their dwellings were spacious enough to have plays acted and games performed. From written sources one can conclude that their farms were so enormous that they seem to have had beds for more than 40 people. And some of those aristocrats even had two or three such farms in the Western fjords: In summary, there was no shortage of spacious houses or people to perform all sorts of games. In the book Qualiscunque, from which I have quoted above, is a description of the amusements of the Icelanders and their hospitality. It runs thus in my translation: Sometimes they play cards, cast dice […] sometimes they gather for popular dancing similar to what is said to be the practice of the people who live in the country of America. Firstly, somebody who has learned the art of poetry and is thought to have a better voice than the others is chosen among the workers or other people present. As an introduction he chants for some time with a trembling and slightly hesitating voice something which has little or no meaning because little can be heard: ha, ha, ha, ho, ho, ho, he, he, he, hu, he, ho, ha etc.; these syllables are sometimes repeated in the course of the poem. In order to meet the audience’s approval, two other singers are told to stand at the sides of the main singer and recite in a slightly lower bass-like voice. These voices do not form a bad harmony and sound rather good. While those three men complete the introduction and think of some poems to go with it, the people walk hand in hand and form a circle, or they go off in couples to a place where they remain for the duration of the dance. They then dance without singing, keeping tune with the music and adjusting their tempo as the singers become louder; thus they become tired in a short time. After this some individuals start singing more decent poems and dance to the rhythm; they do not keep moving steadily but go slowly and constantly around until everybody has completed their poems […] It should be noted, however, that dances like those were more common in previous times than today, and they were not only done to gladden the visitors but to amuse the inhabitants of the island. And the people were so eager to play that at certain times of the year a great number of men and women flocked to certain places at saints’ holy festivals or vigils, as they are more commonly named, and there they frol- Sverrir Tómasson 72 icked all night long like Bacchanalians, so to speak, dancing and performing other amusing games and engaging in carnival activities. 28 When this was written, the Lutheran reformation had already been underway in the country for almost four decades. The first Lutheran bishops were opposed to saints’ festivals or vigiliae, and Lent did not play the same role as it had done in Catholic times. I have elsewhere argued that Skíðaríma, which has only come down to us in 18 th century MSS, was originally a carnival play. Other similar plays must have existed. And if we take a closer look at Þrymlur, we can easily see that many things fit very well with Oddur Einarsson’s description. The introduction of Þrymlur is in epic style and therefore one singer could very well have chanted it, but when the questions and answers of the dialogue begin, it is not unthinkable that more singers were added; an activity like this was called spil. This performance might have been followed by a feast, a mock wedding between two males, with a pack of masked animals entering the scene before a meal took place - in other words, a carnival. Such amusement was suitable for fishermen’s huts or in schools where only men lived. On the other hand, the Þrymlur sound very much like a description of a carnival, not the act itself, a description of something which had happened long time ago but was no longer practised at the time when the rímur were written down. I shall now draw my conclusions. The function of rímur was a social one: they were played, acted or performed with dancing and music on special occasions, like saints’ vigils. They were also read aloud for pleasure, both for people at work and in private, for which the vellum codices represent evidence. Rímur are not one genre, although they have been treated this way by scholars; they are many genres in verses 28 Qualiscunque, pp. 66-67: „[…] nunc etiam chartas lusorias aut alueum sextesserarium […] exercentes, alias etiam uulgares choreas et saltationes tales fere, quales dicuntur esse illorum hominum, qui in terra America habitant. Primo enim ex famulis aut aliis præsentibus unus aliquis eligitur, qui istam cantillandi artem probe didicerat cæterisque uidetur uocalior. Hic initio, quasi proœmii cujusdam uice, tremula ac titubante quodammodo uoce aliquantisper quædam modulatur aut parum aut nihil significantia. Ibi enim solæ fere exaudiuntur hæ particulæ ha ha ha, ho ho ho, he he, hu he, ho ha he etc., quæ etiam postea in ipsa cantiuncula subinde repetuntur. Ut autem gratior fiat auditoribus ista harmonia, adhibentur duo succentores, qui ad latera præsidis collocati aliquantulum pressiore ac stabiliore utuntur uoce uergente quasi ad bassum musicum. Unde symphonia non absurda et concentus non insuauis efficitur. Ac, dum isti tres hoc modo in proœmio simul occupantur et aliquam significantem cantionem huic mox subjiciendam excogitant, reliqui apprehensis mutuo manibus in orbem se disponunt aut bini et bini certam sibi stationem eligunt, quam sint seruaturi, donec illa tripudia durauerint. Postea magna alacritate taciti ad numerum saltitant et, quo majore uocis contentione utuntur cantores, perstrepunt, ut facile breui temporis spatio defatigentur. Finito ergo isto actu ordiuntur singuli alternatim modestiores quasdam cantiunculas ad istum quoque numerum leniter saltantes, non tamen amplius ijsdem inhærentes uestigiis, sed continue in gyrum decenter circumeuntes, donec omnes suas cantiones absoluerint. […] Sciendum autem hic est, quod istæ choreæ et saltationes apud nos olim fuerint multo frequentissimæ nec tantum in exhilarandis hospitibus usurpatæ, sed sæpiuscule animi causa a domesticis iteratæ, adeoque ad eas fuerunt insulani, ut certis anni temporibus ad peculiaria quædam loca in uigilijs sanctorum, ut uulgo appellant, conflueret magna utriusque sexus hominum multitudo in qualibet prouincia totis noctibus ita tripudiando et alternatim alias ludicras actiones et ridicula spectacula exhibendo quasi bacchantium more insaniens.“ The Function of Rímur in Iceland 73 just like popular poems, Volkslieder. Rímur contain romances, exempla, fabliaux and remains of plays that were performed with music and sometimes dance. This performance was called spil. Later, especially in the latter part of the 16 th century when Bishop Guðbrandur Þorláksson tried to revive Christian morality in the light of Lutheran doctrine, he wanted to give rímur a new edifying role. Poets were instructed to compose rímur about suitable Biblical subject matters. That, however, is another story. Bibliography Fernir forníslenskir rímnaflokkar. Ed. Finnur Jónsson. Kaupmannahöfn: Hið íslenska bókmenntafélag 1896. Íslenzkar miðaldarímur I-IV. Ed. Ólafur Halldórsson. Reykjavík: Stofnun Árna Magnússonar 1973-1975. [Oddur Einarsson]: Qualiscunque descriptio Islandiae. Ed. Fritz Burg. Hamburg: Selbstverlag der Staats- und Universitäts-Bibliothek 1928. Rímnasafn I-II. Ed. Finnur Jónsson. København: Samfund til udgivelse af gammel nordisk litteratur 1905-1922. Riddara-rímur. Ed. Theodor Wisén. København: Samfund til udgivelse af gammel nordisk litteratur 1881. Sýnisbók íslenzkra rímna I. Ed. William A. Craigie. London: Thomas Nelson & Sons 1952. Benediktsson, Jakob (ed.): Hugtök og heiti í bókmenntafræði. Reykjavík: Bókmenntafræðistofnun Háskóla Íslands 1983. Erb, James R.: Fictions, Realities and the Fifteenth-Century Nuremberg Fastnachtspiel. 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Die -Vokalität -der -isländischen -Volksballaden V ÉSTEINN Ó LASON , R EYKJAVÍK I. - Einleitung Für die isländischen Balladen gelten dieselben Definitionen wie für die Balladen anderer Völker; vgl. z. B. Rolf Wilhelm Brednichs Definition im Handbuch des Volksliedes: Als Ballade bezeichnen wir in der Volksliedterminologie heute allgemein ein mündlich überliefertes sangbares (meist strophisches) Lied erzählenden Inhalts mit einer dramatischen Zuspitzung der Handlung auf eine entscheidende Konfliktsituation. 1 Die Balladen lassen sich anhand prosodischer Kriterien sehr einfach von anderen isländischen Gedichtformen unterscheiden. Die isländische Ballade ist immer strophisch, und fast immer folgt auf jede Strophe ein Refrain. Bei der metrischen Form handelt es sich entweder um gereimte Couplets mit vier Hebungen in jeder Verszeile oder um Vierzeiler mit dem Reimschema xaya und sechs bis sieben Hebungen in jeder Halbstrophe. Die normalen isländischen Stabreimgesetze werden nicht befolgt. Diese Kriterien waren maßgebend für Jón Helgasons kritische Ausgabe mit dem Titel Íslenzk fornkvæði sowie für meine eigene Ausgabe Sagnadansar. 2 Diesen Ausgaben zufolge gibt es 110 isländische Balladen, jedoch weit mehr Varianten. Eine so genaue Zahl wird allerdings fragwürdig, sobald literarische Gattungen nicht als klar abgegrenzte Gruppen, sondern eher als Norm betrachtet werden, an der einzelne Texte gemessen werden. 3 Ein Blick in die Ausgaben zeigt, dass einige dieser ‘Balladen’ nur Bruchstücke sind, ja sogar nur aus einer Strophe oder Zeile bestehen. Sie sind jedoch als Balladen eingestuft worden, weil es offensichtlich scheint, dass sie ursprünglich Teile aus ganzen Gedichten dieses Typs waren; oft existiert der gleiche Typ anderswo in Skandinavien. 4 Einige Gedichte, die Jón Helgason in seiner Ausgabe veröffentlichte, sind keine eigentlichen Balladen, weil es fraglich ist, ob sie je- 1 Brednich, Rolf Wilhelm et al. (Hg.): Handbuch des Volksliedes I. München: Fink 1973, S. 160. 2 Íslenzk fornkvæði, Islandske folkeviser I-VIII. Hg. von Jón Helgason. Editiones Arnamagnæanæ B 10-17. København: Reitzel 1962-1981. Sagnadansar. Hg. von Vésteinn Ólason. Ergänzung dazu: Lög við íslenska sagnadansa („Melodien zu isländischen Balladen“). Hg. von Hreinn Steingrímsson. Reykjavík 1979. 3 Vgl. Fowler, Alastair: Kinds of Literature. An Introduction to the Theory of Genres and Modes. Oxford: Clarendon Press 1985 (1. Auflage 1982), besonders S. 37-53. 4 Für den Begriff ‘Typ’ in der volkskundlichen Forschung gilt eigentlich dasselbe wie für ‘Gattung’: Es handelt sich dabei um ein Kategorisierungsinstrument der Wissenschaftler und manchmal herrschen Zweifel darüber, ob eine bestimmte Variante eher einem Typ als einem anderen zuzuordnen ist. Vésteinn Ólason 76 mals in mündlicher Überlieferung existierten. 5 Ferner gibt es Gedichte mit anderer Versform, die man ‘Volksballaden’ nennen könnte, wenn nur Erzählstoff und Stil berücksichtigt würden; sie wurden jedoch in diese Ausgaben nicht aufgenommen. Solche Gedichte scheinen manchmal neu übersetzt zu sein, obwohl sie nach der mündlichen Überlieferung aufgezeichnet wurden. 6 Der Begriff ‘Volksballade’ ist zwar von Wissenschaftlern geschaffen und wie die Balladen selber nach Island importiert worden, aber er ist sehr brauchbar, u. a. weil die Art der Klassifikation mit jener der anderen nordischen Länder und sogar der Britischen Inseln übereinstimmt. Bemerkenswert ist jedoch, dass auf dem Festland, wie z. B. in Deutschland, Volksballaden metrisch vielgestaltiger sind, weshalb die Definition, die in der Forschung und den Ausgaben der skandinavischen Länder angewendet wird, auf dem Kontinent zu eng ist. Man kann sich fragen, ob die Isländer, die in den Jahrhunderten nach der Reformation Balladen sangen, diese in eine besondere Gruppe einordneten, in dem Sinn, dass sie von anderen Liedtypen wie vikivaki oder þulur unterschieden wurden. Es ist nicht sicher, dass es so war. Als man Balladen zu sammeln begann, wurden sie fornkvæði genannt, was ‘alte Gedichte’ bedeutet, aber natürlich gab es weit mehr Gedichte, die alt waren - in den Handschriften finden sich unter der Überschrift „fornkvæði“ denn auch nicht nur Balladen. Der Glaube, dass diese Gedichte generell alt seien, beruht vermutlich darauf, dass das Interesse, sie aufzuschreiben, unter Klerikern und Literaturliebhabern durch den Einfluss dänischer Humanisten geweckt worden war, welche die Gedichte für sehr alt hielten. Als Vedels Balladensammlung (Hundredvisebogen) nach Island gelangte, fanden die Leser darin nicht nur eine Gattung, eine Form, die ihnen vertraut war, sondern ebenso Stoffe, Geschichten und Personen. Die ersten isländischen Balladenhandschriften bestätigen den engen Zusammenhang zwischen isländischen und dänischen Gedichten dieser Art, denn nach isländischen Sängern (kvæðamenn) aufgezeichnete Gedichte und solche, die direkt aus Vedels Sammlung übersetzt worden waren, sind darin bunt gemischt. Aus heutiger Sicht unterscheiden sich diese Gedichte in Stil und Sprachgebrauch deutlich voneinander, 7 aber es ist nicht sicher, dass für die Isländer des 17. Jahrhunderts dieser Unterschied eine Rolle spielte. Trotzdem ist von Anfang an klar, dass die Balladen im Isländischen kein ‘nationaler’ Gedichttyp sind, durch Sprache und Ursprung an Island gebunden, - nicht mehr als die lutherischen Psalmen, die zu jener Zeit in Island original gedichtet, übersetzt, aufgeschrieben und gedruckt wurden und in großer Zahl vorhanden sind. Die Bezeichnung ‘Nationalliteratur’ für das 17. und 18. Jahrhundert ist deshalb offensichtlich eine ideologische Konstruktion aus späterer Zeit. 5 Ólason, Vésteinn: The Traditional Ballads of Iceland. Historical Studies. Reykjavík: Stofun Arna Magnússonar 1982, S. 383 und S. 389-399, sowie Alvara í gamni og íslensk fornkvæði. In: Opuscula V. Bibliotheca Arnamagnæana 31. København: Munksgaard 1975, S. 278-290. 6 Als Beispiel wäre Jófreys kvæði zu nennen. Gamall kveðskapur. Hg. von Jón Helgason. Íslenzk rit síðari alda 7. Kaupmannahöfn: Hið Íslenzka fraeðafélag 1979, S. 134-143. 7 Vgl. Ólason, Vésteinn, Traditional Ballads, S. 15. Die Vokalität der isländischen Volksballaden 77 Psalmen und Balladen verbindet außerdem, dass sie gesungen wurden und - wie übrigens das Meiste, was zu jener Zeit gedichtet wurde - Dichtung zum gemeinsamen Gebrauch war, die man in der Gemeinschaft rezitierte und anhörte, mit dem Unterschied allerdings, dass die Psalmen immer namentlich bekannten Dichtern zugeschrieben wurden und man ihren gedruckten Text als den ‘richtigen’ betrachtete, obwohl die Texte der Autorität der Kirche unterworfen waren und die Herausgeber der Psalmenbücher sich meistens für berechtigt hielten, sie in Übereinstimmung mit dem Wandel der Zeit und den veränderten Lehrmeinungen der Kirche abzuändern. Die Balladen dagegen sind echte Volksdichtung, weil nie bekannt ist, wer sie geschaffen hat, kein feststehender, richtiger Text existiert und niemand über sie verfügen kann. Das soll aber nicht heißen, dass nur im Volk Balladen gesungen wurden. Selbstverständlich waren sie auch, genau wie in Skandinavien, bei der Oberschicht beliebt. Viele Balladen wurden immer wieder aufgezeichnet, an verschiedenen Orten und nach verschiedenen Balladensängern. Jede Variante hat ihre Merkmale, oft sind die Unterschiede beträchtlich, aber keine Variante hat größere Berechtigung als eine andere. Auf diese Weise bewahren die schriftlich festgehaltenen Versionen viel von der Natur der mündlichen Dichtung, sind aber natürlich trotzdem nur ein Schatten von ihr. Der Gesang ist verstummt, das gesellige Beisammensein aufgelöst. Zwar darf man annehmen, dass die Balladen zu einer gewissen Zeit als Tanzlieder dienten, wie heute noch auf den Färöern, aber in Island gibt es dafür keine direkten Belege. Die Refrains oder Kehrreime, die fast ausnahmslos jeder Strophe folgen, erinnern dagegen daran, dass die Balladen in Gesellschaft gesungen wurden; die gleichen Refrains werden nämlich oft für eine andere Art Tanzlied, das vikivakakvæði, gebraucht. Wie im nächsten Abschnitt ausgeführt wird, erlebte die Niederschrift von Balladen zwei Höhepunkte: Einige Jahrzehnte vor und nach 1700 und dann wieder um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Beginn ist in beiden Fällen auf äußere Einflüsse zurückzuführen: Der erste Höhepunkt war durch den Humanismus angeregt worden, der zweite durch die Romantik. Die Balladenüberlieferung war um 1700 reicher als in späteren Perioden; die Balladen waren damals in der Regel länger und inhaltsreicher; auch gab es mehr Typen als im 19. Jahrhundert, aber erst im 19. Jahrhundert fanden viele grobe Scherzlieder Gnade in den Augen der Schreiber. 8 Einzelne Balladen sind bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts lebendig geblieben, als man Zeugnisse von Volksdichtung auf Tonband aufzunehmen begann. Die Hauptausgaben der isländischen Balladen erschienen in Kopenhagen. Die erste, Íslenzk fornkvæði I-II, geht auf die Initiative Svend Grundtvigs (1824-83) zurück; sein Mitarbeiter war der Isländer Jón Sigurðsson (1811-79), ein sehr guter Kenner der isländischen Handschriftensammlungen und selber ein großer Handschriftensammler. In ihrer Ausgabe sind die Balladenaufzeichnungen nach Typen gruppiert; jede Variante, die in ihren Besitz gelangte, wurde separat gedruckt, unverändert wie in den Handschriften, einzig mit dem Unterschied, dass die Orthogra- 8 Vgl. Ólason, Vésteinn, Traditional Ballads, S. 16-21. Vésteinn Ólason 78 phie normalisiert und der Refrain nicht eigens nach jeder Strophe gedruckt wurde. Sie gaben drei Hefte heraus, 1854, 1858 und 1859; nach dem Tod beider wurde die Ausgabe 1885 von einem anderen Forscher abgeschlossen. Jón Helgason (1899- 1986) gab dieses Material sowie alle anderen erhaltenen Aufzeichnungen, die er ausfindig machen konnte, unter dem gleichen Titel in den Jahren 1962-81 wieder heraus. Sein Vorgehen unterscheidet sich von jenem Grundtvigs, da er jedes Zeugnis - d. h. Balladenbücher oder Sammlungen - in chronologischer Ordnung für sich edierte, buchstabengetreu und ohne etwas wegzulassen. In der Einleitung gibt er Erläuterungen zu Inhalten, Schreibern und Überlieferung der Handschriften. Er veröffentlicht auch aus Büchern übersetzte Balladen, diese jedoch in Kleindruck. Seine Ausgabe bringt den Leser also den ursprünglichen Quellen einen Schritt näher als jene Grundtvigs und Jón Sigurðssons. Außer in diesen grundlegenden Ausgaben sind die Balladen in verschiedenen Leseausgaben erschienen. Die gründlichste von diesen ist meine eigene Ausgabe, Sagnadansar, in der eine Variante jeder Ballade (in Einzelfällen mehrere) aus Jón Helgasons Ausgabe in moderner Orthographie wiedergegeben ist, zusammen mit einem kurzen Kommentar zu jeder Ballade. In dieser Ausgabe findet sich ein Anhang, Lög við íslenska sagnadansa (‚Melodien zu isländischen Balladen’), die Hreinn Steingrímsson (1930-98) herausgab. Die Melodien sind zwar nicht sehr zahlreich, dennoch ist es wichtig, dass sie mit den Texten zusammen vorliegen. Zwar hatten die Balladen das Interesse derer geweckt, die Zeugnisse der Volksdichtung aufzeichneten und herausgaben - es handelte sich ja bis ins 19. Jahrhundert um eine in der Allgemeinheit offensichtlich noch sehr lebendige Gedichtgattung -, dennoch hatten sie wenig Einfluss auf andere Literatur und standen lange Zeit als Dichtung in geringem Ansehen in Island. Obwohl Jón Sigurðsson, der Führer des Unabhängigkeitskampfes im 19. Jahrhundert, die Balladen herausgegeben hatte, fanden sie bei vielen nationalistisch gesinnten Wissenschaftlern wenig Anklang, da sie die alten Stabreimregeln nicht befolgen, ihre Sprache oft deutlich vom Dänischen beeinflusst ist und die meisten Balladen offensichtlich außerhalb Islands entstanden. Anders verhielt es sich mit den rímur, obwohl auch sie im isländischen Verständnis ‘nachklassisch’ sind, aber sie waren eine speziell isländische, in Metrik und Sprachgebrauch formvollendete Gattung. Diese nationalistische Sicht zeigt sich, vielleicht etwas extrem, in den folgenden Äußerungen von Páll Eggert Ólason (1883-1949): Aus dieser Zeit, den letzten Jahrhunderten des Papismus, stammen auch die meisten jener Gedichte, die man íslenzk fornkvæði [alte isländische Gedichte] genannt hat, was allerdings ein falscher Name ist; sie sind weder isländisch noch alt, auch keine Gedichte, oder nur die wenigsten. Sie sind meistens so entstanden, dass Isländer, die außer Landes gewesen waren, oder Seeleute, die hierher kamen, verzerrten und entstellten ausländischen Tanzliederunsinn mitbrachten […]. 9 9 Eggert Ólason, Páll: Menn og menntir II. Reykjavík: Bókaverzlun Guðm. Gamalíelssonar 1922, S. 529-530: „Frá þessum tíma, páfatrúaröldunum síðustu, er og flest kvæða þeirra, sem nefnd hafa verið íslenzk fornkvæði, þótt rangnefni sé; þau eru hvorki íslenzk, né forn, né hel- Die Vokalität der isländischen Volksballaden 79 Páll Eggert Ólason anerkennt aber doch, dass es auch Ausnahmen gebe und dass einige Gedichte von großer Schönheit seien. Sigurður Nordal (1886-1974), seit 1918 an der Universität Islands tätiger, einflussreicher Professor für Literaturgeschichte, verstand zwar den dichterischen Wert der Balladen besser zu würdigen, aber in seinen Theorien über die Entwicklung der Literaturgeschichte hatten sie vor allem die Funktion, konservativere Kräfte zur Verteidigung der nationalen und formtreuen Dichtungstradition zu ermuntern. Die Balladen erlangten jedoch unter dem Einfluss der neuromantischen literarischen Strömung am Anfang des 20. Jahrhunderts eine gewisse Anerkennung als Dichtung, und diese nahm sogar noch zu, nachdem sich um die Mitte des Jahrhunderts freiere metrische Formen durchgesetzt hatten, aber sie haben doch immer im Schatten der frühen isländischen Literatur gestanden. Aus diesen Gründen kam die isländische Balladenforschung erst spät in Gang. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts leistete der Norweger Knut Liestøl (1881-1952) den größten Beitrag auf diesem Gebiet. 10 Jón Helgason legte mit seiner Ausgabe ein sichereres Fundament für die Erforschung dieser Gattung, und der Verfasser des vorliegenden Artikels hat seither auf dieser Grundlage aufgebaut. 11 II. - Überlieferung - -Vom -Mund -auf -das -Blatt Es ist ungewiss, wann die ersten Balladen nach Island gebracht wurden, aber wahrscheinlich geschah es bald, nachdem sie andernorts in Skandinavien, vor allem in Norwegen, populär geworden waren, also möglicherweise schon um 1300. 12 Es gibt dur kvæði, fæst þeirra. Þau eru flest svo til komin, að Íslendingar, sem voru utan lands, eða sjómenn, sem hingað komu, höfðu með sér afbakaðan og skældan útlendan danzvísnaþvætting […].“ 10 Vgl. besonders Nokre islendske folkevisor. In: Edda IV (1915), S. 1-27; Norske trollvisor og norrøne sogor. Hg. Knut Liestøl. Kristiania: Norli 1915; Islendske folkevisor. In: Nordisk kultur IX: A. Stockholm 1931, S. 84-89; Til spørsmålet om dei eldste islendske dansekvæde. In: Arv. Tidsskrift för Nordisk Folkminnesforskning 1 (1945), S. 69-100. 11 Vgl. z. B. außer den Schriften, auf die schon hingewiesen wurde: Saint Olaf in Medieval Icelandic Poetry. In: Narrative Folksong: New Directions. Essays in appreciation of W. Edson Richmond. Eds. Carol L. Edwards & Kathleen B. Manley. Boulder, Colorado: Westview Press 1985, S. 6- 17; Fear and desire: from emotion to action in ballads and real life. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 33 (1988), S. 59-69; Literary Backgrounds of the Scandinavian Ballad. In: The Ballad and Oral Literature. Ed. Joseph Harris. Harvard English Studies 17. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1991, S. 116-138. 12 Bengt R. Jonsson hat in einigen Artikeln im letzten Jahrzehnt sehr gründliche Untersuchungen vorgelegt, die dafür sprechen, dass die Balladen in Skandinavien gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstanden sind, und zwar zuerst am norwegischen Hof. Dies behandelt er u. a. in Bråvalla och Lena. Kring balladen SMB 56. In: Sumlen 1989, S. 49-166 (fortgesetzt in Sumlen 1990-1991, S. 163-458). Seine Schlussfolgerungen lauten: „Das Entstehungsmilieu der Ballade sind die Kreise um den norwegischen Hof“ („Balladens tillkomstmiljö är kretsarna vid eller i närheten av det norska hovet“) und „Die wahrscheinlichste Entstehungszeit liegt zwischen 1280 und 1290“ („Den troligaste tillkomsttiden är 1280eller 1290-talet“) 1989, Vésteinn Ólason 80 aber kein unwiderlegbares Zeugnis dafür, dass man solche Gedichte vor der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kannte; aus dieser Zeit stammt nämlich eine Zeile in einer Handschrift von Miscellanea. 13 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren zwei Balladen in eine alte Handschrift hineingeschrieben worden, die aber verloren ist; erhalten sind nur eine Abschrift der einen Ballade aus den Tagen Árni Magnússons sowie eine Zeile aus der anderen Ballade. 14 In den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts erwachte das Interesse einiger Leute, diese Balladen zu sammeln, die nun plötzlich ‘salonfähig’ geworden waren. Die älteste Handschrift wurde 1665 von Pfarrer Gissur Sveinsson (1604-83) von Álftamýri in Arnarfjörður geschrieben; darin steht, dass sie im gleichen Jahr dem Pfarrer Jón Arason von Vatnsfjörður am Ísafjarðardjúp (1606-73) übergeben worden sei. 15 Sie ist jedoch offensichtlich die Abschrift einer älteren Handschrift, die Gissur direkt nach mündlicher Überlieferung geschrieben hat. In ihr sind einige wenige Blätter erhalten, auf denen Gissur die Anfangsverse jeder Strophe von zwei Balladen notiert hat, sehr wahrscheinlich als Gedächtnisstütze, während jemand die Balladen vortrug. Die umfangreichste Handschrift von allen, eine stark erweiterte Abschrift von Gissurs Gedichthandschrift, wurde für den Bauern Magnús Jónsson von Vigur (1637-1702) geschrieben. Seine Brüder Oddur Jónsson und Pfarrer Guðbrandur Jónsson sammelten ebenfalls solche Gedichte und schrieben sie auf. Diese Brüder waren Söhne des Pfarrers Jón Arason von Vatnsfjörður, und Magnús’ Frau war eine Nichte von Pfarrer Gissur. 16 Es sind also enge Verwandte aus der Schicht der Amtsleute und reichen Bauern in einem abgelegenen Gebiet, welche die erste und weitaus größte Sammlung isländischer Balladen initiierten. Mit Sicherheit war es eine Ausgabe von Anders Vedels Balladensammlung It hundrede udvaalde Danske Viser (Hundredvisebogen) (Ribe 1591, Helsingør 1609, Kopenhagen 1632, 1643 und 1655) 17 , welche diese Bücherliebhaber aus den West- S. 111-112. Ob nun die Balladen erst später in Dänemark in Erscheinung traten, wie Jonsson behauptet, oder nicht, so sind seine Argumente dafür, dass solche Gedichte um 1300 im norwegischen Adel entstanden sind, doch sehr überzeugend. 13 Vgl. Íslenzk fornkvæði IV, S. 6. 14 Vgl. Ólason, Vésteinn, Traditional Ballads, S. 16-17. Über die Quellen der Balladen in Island vgl. dort S. 83-100. 15 Gissur war der Ziehbruder des Bischofs Brynjólfur Sveinsson in Skálholt, der ein bedeutender Handschriftensammler war und u. a. sowohl den Codex regius der Lieder-Edda als auch die Flateyjarbók in seinen Besitz brachte; beides schenkte er dem dänischen König. 16 Gissurs Handschrift wurde als Faksimile herausgegeben: Kvæðabók Gissurar Sveinssonar AM 147, 8vo. A. Ljósprentaður texti. B. Inngangur eftir Jón Helgason. Kaupmannahöfn 1960. Über die Aufzeichnungen von Pfarrer Gissur und den Brüdern von Vatnsfjörður siehe auch die Einleitung (Indledning) zu Íslenzk fornkvæði I-IV. Sie alle waren gebildete Männer. Pfarrer Jón Arason war Dichter; von ihm ist vieles handschriftlich überliefert; er übersetzte Gedichte und religiöse Schriften aus dem Deutschen. Von Oddur Jónsson gibt es verschiedene Aufzeichnungen in Handschriften. Magnús, der Bauer von Vigur, war sehr wohlhabend und literarisch interessiert. Er ließ eine große Menge an Handschriften mit Gedichten und anderen Inhalten schreiben, vgl. Kvæðabók úr Vigur AM 148, 8vo. A. Ljósprentaður texti. B. Inngangur eftir Jón Helgason. Kopenhagen 1955. 17 Bibliotheca Danica IV. København: Rosenkilde og Bagger 1963, S. 192. Die Vokalität der isländischen Volksballaden 81 fjorden dazu anregte, dieselbe Art Gedichte in ihrer Umgebung zu sammeln, abgesehen davon, dass sie sehr viele Balladen aus Vedels Buch ins Isländische übersetzten. Es ist nicht verwunderlich, dass Vedels Sammlung die Beachtung und das Interesse der Isländer für solche Gedichte verstärkt hat. Das Buch war der „Großmächtigsten, hochgeborenen Fürstin und Adelsfrau, Frau Sophia, Dänemarks, Norwegens, der Wenden und Gothen Königin“ 18 gewidmet, und zwar hatte sie selbst um eine Sammlung solcher Gedichte gebeten, wie der Herausgeber, Anders Sørensen Vedel (1542-1616), im Vorwort betont. In seiner Anrede an die Leser nennt Vedel auch vier Gründe, weshalb es lohnend sei, solche Gedichte zu lesen und zu singen: Erstens bewahren sie die Erinnerung an geschichtliche Ereignisse; zweitens zeigen sie lehrreiche Beispiele verschiedenster guter und schlechter Taten, die zur Nachahmung oder als Warnung dienen können; drittens kann man durch sie die Sitten früherer Zeiten kennenlernen, und schließlich wegen der Sprache, „wegen der herrlichen alten dänischen Ausdrücke und Worte“ „wegen der schönen Sprache und runden Rede, und wegen der vortrefflichen Komposition und Dichtung selber“ 19 . Für den heutigen Geschmack passt diese Beschreibung von Sprache und Stil schlecht zu den isländischen Übersetzungen, die Magnús Jónsson und andere im 17. Jahrhundert machten. Es scheint, als sei es den Übersetzern vor allem darum gegangen, den Inhalt zu vermitteln, während nicht darauf geachtet wurde, dass die dichterische Form dem isländischen Ton und Stil entsprach. Die Sprache ist auch voller Danismen. Wir haben gesehen, dass es Gelehrte und Bücherfreunde waren, die in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts Balladen zu sammeln anfingen, aber wer kannte diese und trug sie ihnen vor? Darüber gibt es fast keine Zeugnisse, wenn auch mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass die Balladen Allgemeingut waren. In einem Brief an Árni Magnússon aus dem Jahr 1708 findet sich aber doch ein bemerkenswerter Satz. Der Briefschreiber war Snæbjörn Pálsson, ein Schwiegersohn von Magnús Jónsson; er spricht über das Gedichtbuch, das Magnús schreiben ließ, die größte Balladensammlung, die es auf Isländisch gab. Er schreibt: Das Buch mit den alten Gedichten scheint mir nicht so reich an alten Gedichten wie Herz und Brust der achtzigjährigen Frauen, die ich kannte, als ich ein Kind war, aber die meisten mit diesem Wissensschatz liegen jetzt in der Erde begraben. 20 Es mag wohl sein, dass Snæbjörn die Balladenkenntnisse jener alten Frauen übertreibt; dennoch ist die Mitteilung aufschlussreich. Zu seiner Zeit konnten sicher die 18 Anders Sørensen Vedels Hundredvisebog. Faksimileudgave med indledning og noter af Karen Thuesen. København 1993, S. 34: „[…] for de herlige gamle Danske Gloser oc Ord, for hin skøne Sprog oc runde Tale, oc for den artige Compositz oc Dict i sig selff.“ 19 Im Dän.: „Stormectigste, høybaarne Førstinde og Frue, Frue Sophia, Danmarckis, Norgis, Vendis oc Gottis Droning“. Anders Sørensen Vedels Hundredvisebog, S. 26. 20 Arne Magnussons private brevveksling. København 1920, S. 356: „Fornkvæðabókin þykir mér ekki svo rík af fornkvæðum sem hjörtu og brjóst áttræðra kerlinga hef eg vitað, nær ég var barn, en þær með þeim fróðleik eru flestar í jörð grafnar nú.“ [Die Orthographie ist modernisiert. - Anm. d. Red.] Vésteinn Ólason 82 wenigsten alten Frauen lesen. Der Grund dafür, dass sie so viele Balladen beherrschten, könnte darin liegen, dass gerade alte Frauen am meisten Zeit hatten, um Kindern Balladen und Gedichte vorzutragen. 21 Gewährsleute werden in den Aufzeichnungen isländischer Balladen selten erwähnt, aber wenn es geschieht, handelt es sich mit überwiegender Mehrheit um Frauen. Dagegen wird nie erwähnt, bei welcher Gelegenheit die Balladen gesungen wurden, und dass alte Frauen Vorsängerinnen beim Tanz waren, ist nicht sehr wahrscheinlich. 22 Obwohl die ältesten Handschriften, die Balladen enthalten, nichts über den Anlass zu den Aufzeichnungen, über die Gewährsleute oder das Leben der Balladen im Volk berichten, ist es aufschlussreich zu untersuchen, was indirekt aus ihnen gelesen werden kann. Die Überschrift von Gissurs Balladenbuch lautet: „Einige alte Gedichte zur Unterhaltung“ („Nokkur fornkvæði til gamans“); ähnliche oder sogar dieselben Überschriften sind in mehreren Handschriften zu finden. Es ist vielleicht nicht überraschend, dass der Pfarrer sich veranlasst sah, zu betonen, diese Dichtung sei nur „zur Unterhaltung“ aufgeschrieben worden, und wahrscheinlich hätte sein gelehrter Bruder, Bischof Brynjólfur, die Balladen Humbug genannt, ungeachtet der Erklärungen Vedels. Der Inhalt der Handschrift AM 147 besteht vorwiegend aus Balladen, die entweder nach mündlichem Vortrag aufgezeichnet oder aus Vedels Balladenbuch übersetzt wurden. Doch gibt es bemerkenswerte Ausnahmen, die zeigen, dass die Bezeichnung fornkvæði nicht ausschließlich für Balladen gebraucht wurde. Am Anfang der Handschrift stehen 23 nach mündlicher Überlieferung aufgeschriebene Balladen, was ohne Zweifel darauf hinweist, dass der Hauptzweck der Handschrift war, solche Gedichte schriftlich festzuhalten. Vielleicht kannte die erste Gewährsperson keine weiteren Gedichte dieser Art, denn gleich anschließend folgen zwei þjóðsagnakvæði (‚Volkssagengedichte’) im fornyrðislag, das Snjáskvæði und der Kötludraumur, die wahrscheinlich ebenfalls aus dem Gedächtnis aufgeschrieben wurden, wenn es auch möglich ist, dass sie ursprünglich gleichzeitig vorgetragen und niedergeschrieben worden sind. Betrachtet man die Handschrift als Ganzes und zählt man die Gedichte einer Lücke mit, welche nun nach Abschriften ausgefüllt werden kann, so enthielt sie insgesamt 70 Gedichte. Von diesen sind 42 isländische Balladen, 11 aus dem Dänischen übersetzte Balladen aus Vedels Balladensammlung und vier (þjóð)sagnakvæði. Der Rest ist von unterschiedlicher Art, Gedichte im vikivaki- Metrum und anderen sangbaren Formen, einige Scherzgedichte, andere mit moralischem Inhalt. Darunter findet sich ein Gedicht über einen Fuchs im fornyrðislag, der Skaufhalabálkur, der aus dem 15. Jahrhundert stammen soll. Fragt man sich, was diesen Gedichten gemeinsam ist, so stellt man fest, dass sie alle volkstümlich sind, von anonymen Verfassern stammen und einen narrativen Inhalt haben. Das Hauptziel Gissurs oder desjenigen, der ihn damit betraute, die 21 Unter den Gewährsleuten, deren Vortrag für Árni Magnússon aufgezeichnet wurde, sind ebenfalls alte Frauen erwähnt, jedoch ohne Namensnennung, vgl. Íslenzk fornkvæði IV, S. 106 und S. 110. 22 Vgl. Ólason, Vésteinn, Traditional Ballads, S. 21-25. Die Vokalität der isländischen Volksballaden 83 Gedichte zu sammeln, war es offensichtlich, Balladen zu sammeln, die das Volk kannte. Es schien selbstverständlich, auch die aus Vedels Sammlung übersetzten Balladen beizufügen, obwohl sie stilistisch anders sind und deutliche Zeichen aufweisen, dass sie nie in mündlicher Überlieferung lebten. Ihre Stoffe sind jedoch weitgehend von derselben Art wie die Geschichten, die das Volk von den eigenen Balladen her gewohnt war. Ähnliches gilt für jene Gedichte, die gewöhnlich in der isländischen Literaturgeschichte sagnakvæði genannt werden, die aber besser þjóðsagnakvæði heißen würden, wie es im vorliegenden Aufsatz geschieht. Ihr Versmaß ist das fornyrðislag; der Inhalt besteht aus Volkssagen- oder Märchenmotiven, hat aber manchmal auch Anklänge an die Sagas. Das erste dieser Gedichte ist das Snjáskvæði, eine sehr lange Geschichte von einem König, der sich als verzauberte Elfenfrau erweist. Die Unterschiede zwischen Gissur Sveinssons Text und der Wiedergabe in anderen Handschriften sind so groß, dass das Gedicht nach mündlicher Überlieferung aufgeschrieben sein muss. Dasselbe gilt für den Kötludraumur, ein noch bekannteres Gedicht, das ebenfalls von der Beziehung zwischen Menschen und Elfen handelt. Es ist tatsächlich äußerst wahrscheinlich, dass alle Gedichte in Gissurs Handschrift, abgesehen von den neuen Übersetzungen aus dem Dänischen, Aufzeichnungen dessen sind, was die Leute kannten, und dass man sie für alte Gedichte hielt, weshalb man sie „fornkvæði“ nannte. Offensichtlich schien es für Gissur keine große Rolle zu spielen, ob die Gedichte in seiner Handschrift einer klar abgegrenzten Gruppe angehörten. Die Grenzen zwischen den literarischen Gattungen sind nicht scharf. Vielleicht war das Hauptkriterium bloß, dass es sich um alte Sagengedichte aus mündlicher Überlieferung handelte. Auffällig ist, dass offenbar nicht unterschieden wurde zwischen direkt nach dem mündlichen Vortrag aufgeschriebenen und aus einem fremdsprachigen Buch übersetzten Gedichten. Dies zeigt, dass es eher der Inhalt des Gedichts als das Medium war, worauf es den Schreibern am meisten ankam. Dennoch ist es interessant, dem Medium Beachtung zu schenken. III. - Medium Die Überlieferung der isländischen Balladen ist fast ausschließlich an das Medium des geschriebenen Wortes gebunden. Doch wurden im 19. Jahrhundert Melodien zu den Balladen geschrieben und in A. P. Berggreens Volksliedsammlung 23 sowie in Íslenzk þjóðlög (Isländische Volkslieder) von Bjarni Þorsteinsson 24 gedruckt; in den Jahren 1965-77 wurden einige gesungene Lieder hinzugefügt, als man Tonbandaufzeichnungen von Gedichten machte. Die Gedichte und die Kehrreime wurden, wie es scheint, immer von einer Solostimme gesungen, wenn sie aufgezeichnet wurden, mit einer Ausnahme, dem Gedicht Ólafur liljurós, das von Solosänger und Chor im Wechselgesang vorgetragen wird; dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass 23 Berggreen, A. P.: Folkesange og melodier. 3. Aufl., København 1896. 24 Íslenzk þjóðlög, Kaupmannahöfn 1906-1909. Vésteinn Ólason 84 Berggreen in seiner Volksliedsammlung, die in Island allgemein bekannt wurde, Anweisungen zu einem solchen Gesang gab. In seiner Quelle wird nicht erwähnt, dass das Lied auf diese Art gesungen wurde, weshalb er die Anweisungen über den Sologesang des Gedichts und den Chorgesang des Refrains vermutlich von sich aus beigefügt hat, vielleicht unter dem Einfluss der weitherum bekannten färöischen Vortragsform. 25 Obwohl die meisten isländischen Balladen nur als geschriebene Texte erhalten sind, weisen diese Notenaufzeichnungen und Tonbandaufnahmen darauf hin, dass sie sich vor und nach der Niederschrift in mündlicher Überlieferung in vokaler Form erhalten haben, d. h. die menschliche Stimme ist das Medium. 26 Dieselbe Schlussfolgerung lässt sich aufgrund verschiedener Merkmale der geschriebenen Texte ziehen: Ein Refrain folgt jeder Strophe, d. h. eine oder mehrere Liedzeilen, die unverändert wiederholt werden. In den gedruckten Ausgaben wird der Refrain oft nur nach der ersten und der letzten Strophe wiedergegeben und im Übrigen weggelassen, weil es für den Leser einfach ist, den Refrain bei der ersten Strophe zu finden, wenn er ihn mitlesen will. In den Handschriften - und in Jón Helgasons Ausgabe - wird der Refrain dagegen nach jeder Strophe wiederholt oder wenigstens mit den Anfangsbuchstaben der Worte angedeutet. Wenn das Gedicht gesungen wurde, ließ man den Refrain natürlich nicht weg, sonst wäre die Melodieführung entgleist, und wenn man zu den Gedichten tanzte, war der Refrain eine willkommene Gelegenheit für jene, die das Gedicht nicht konnten, in den Gesang einzustimmen, was den Kontakt zwischen den Tanzenden festigte. So erinnern die Kehrreime im geschriebenen Text an seinen vokalen Ursprung im Vortrag, d. h. an die Performanz, und eigentlich - wenn wir annehmen, dass die Gedichte einst zum Tanz gesungen wurden - auch an die Wurzeln der Wörter und der Gefühle, die sie wecken, im Körper und seinen Bewegungen. Das gleiche gilt für verschiedene andere Arten von Wiederholung. In den isländischen Balladen ist es ziemlich häufig (wie auch in den dänischen, aber selten anderswo), dass ein Teil einer Strophe mit dem Beginn der nächsten wiederholt wird: Salomon og Kári, Þeir voru bræður báðir. Vel kunna þeir rúnir. [Salomon und Kári, Sie waren beide Brüder. Gut können sie Runen.] 25 Ólason, Vésteinn, Sagnadansar, S. 398-399. 26 ‘Vokal’ passt hier ausgezeichnet, u. a. weil es auf die Verbindung gesungener Gedichte in mündlicher und schriftlicher Überlieferung hinweist, im Gegensatz zu jenen Gedichten, die zur Lektüre bestimmt sind, während es gleichzeitig an die Rolle der Stimme erinnert, die zugleich der materiellen Welt angehört und die Zeichenwelt des Textes vermittelt, vgl. Zumthor, Paul: Einführung in die mündliche Dichtung. Berlin: Akademie-Verlag 1990, S. 9-16 und S. 23-37. Die Vokalität der isländischen Volksballaden 85 Kári Þeir voru bræður báðir. Kári reið á myrkvan skóg, Þar kom hin sterka Stafró. Vel kunna [þeir rúnir]. [Kári/ Sie waren beide Brüder. Kári ritt in den dunklen Wald, da kam die starke Stafró. Gut können sie Runen.] Myrkvan skóg, Þar kom hin sterka Stafró. Hún tók hann Kára undir sín skinn, bar hann langt í bergið inn. Vel kunna þeir rúnir. 27 [Dunklen Wald, da kam die starke Stafró. Sie nahm den Kári unter ihr Fell, trug ihn tief in den Berg hinein. Gut können sie Runen.] Es kommen verschiedene Typen solcher regelmäßiger Wiederholungen von Strophenteilen vor; sie dürfen nicht mit rhetorischen Figuren wie der Anapher oder der Wiederholung ganzer Strophen mit Variationen, der sogenannten „incremental repetition“, wie hier, verwechselt werden: Ísodd heim frá sjónum gengur, gatan er þröng, einatt heyrði hún pípnahljóð og fagran söng. Þ[eim var ekki skapað nema skilja]. [Isolde geht heim von der See, die Straße ist schmal, immer hörte sie Flötenklang und schönen Gesang. Ihnen war nichts als Trennung beschieden.] Ísodd heim frá sjónum gengur, gatan er breið, einatt heyrði hún pípnahljóð á veginum þeim. Þ[eim] v[ar ekki skapað nema skilja.]. 28 [Isolde geht heim von der See, die Straße ist breit, immer hörte sie Flötenklang auf jenem Weg. Ihnen war nichts als Trennung beschieden.] Im ersten Beispiel wird ein Teil aus einer ganzen Strophe vor der nächsten wiederholt, während im zweiten Beispiel eine neue Strophe durch Wiederaufnahme von Material aus der vorangehenden geschaffen wird, wobei bestimmte Worte geändert werden. 27 ÍF 9, Íslenzk fornkvæði I, S. 51. [Die Orthographie und Satzzeichensetzung in den Textzitaten ist jeweils modernisiert. - Anm. d. Red.] 28 ÍF 23, Íslenzk fornkvæði I, S. 141. Vésteinn Ólason 86 Wiederholungen sind in der geschriebenen Literatur üblich; dennoch darf behauptet werden, dass diese Art von Wiederholungen und außerdem die mannigfachen Formeln, die in Balladen häufig vorkommen, der begrenzte und normierte Wortschatz sowie der schematische Handlungsverlauf Kennzeichen von Dichtung in mündlicher oder vokaler Transmission sind. 29 Das Leben der Balladen im vokalen Vortrag hat so eine deutliche Spur in den geschriebenen Texten hinterlassen. Die Kehrreime, die wie erwähnt in fast allen Balladen vorkommen, können als eine Art Melodieankündigung gesehen werden und erinnern zugleich an das kollektive Erlebnis der Balladen, sei es im Tanz oder im gemeinsamen Gesang zum Zeitvertreib. Oft wird der gleiche Refrain für Balladen und vikivaki-Gedichte gebraucht. Auch diese wurden gesungen, sicher oft zum Tanz, und lebten so im vokalen Vortrag für und mit einer Gruppe, selbst wenn sie in größerem Maß von der literarischen Tradition geprägt sind als die Balladen, da sie End- und Stabreim haben und oft wie die rímur voller kenningar und heiti sind. Manche von ihnen sind sicher aufgeschrieben worden, während sie gesungen wurden, aber in der Dichtungsform, in der die Kehrreime kunstvoll in die Strophen geflochten sind, offenbart sich ihre vokale Natur. IV. - Transmission -von -Gedichten -und -Gedichtstoff -zwischen -Ländern -und Gattungen Der größte Teil der isländischen Balladen handelt von Rittern und Edelfrauen oder anderen vornehmen Leuten einer Schicht, die Island unvertraut war, und auch die Natur wirkt oft fremdartig. Häufig greifen übernatürliche Wesen oder Kräfte in den Lauf der Geschehnisse ein; das beherrschende Thema ist die Liebe und ihre Folgen: Eifersucht, Rache, Hass, aber auch Glück und Freude. Einige wenige Heldenballaden und legendarische Balladen handeln von anderen Themen, von Kämpfen oder von Glaubensstärke und Wundern, während in den Scherzballaden die Liebe oder vor allem die Sexualität sehr oft der Anlass zu komischen Ereignissen ist, wenn dabei auch verschiedene menschliche Schwächen wie Gier, Geiz, Dummheit, usw. thematisiert werden. Die Balladen sind über eine lange Zeitspanne von Generation zu Generation überliefert worden, nicht nur innerhalb eines Landes, sondern auch zwischen den Ländern. Bekanntlich existiert derselbe Balladentyp sehr oft in allen skandinavischen Ländern oder zumindest in mehr als einem von ihnen. 30 Dabei ist es oft zulässig, von demselben Typ, also einer Ballade in vielen Varianten zu sprechen, denn 29 Vgl. z. B. Buchan, David: The Ballad and the Folk. London: Routledge & Kegan Paul 1972, Holzapfel, Otto: Det balladeske. Fortællemåden i den ældre episke folkevise. Odense: Universitetsforlag 1980 und Andersen, Fleming G.: Commonplace and Creativity. The Role of Formulaic Diction in Anglo-Scottish Traditional Balladry. Odense: Odense University Press 1985. 30 Vgl. The Types of the Scandinavian Medieval Ballad. A descriptive catalogue. Eds. Bengt R. Jonsson, Svale Solheim, Eva Danielson. Stockholm: Svenskt visarkiv 1978. Die Vokalität der isländischen Volksballaden 87 nicht nur der Plot ist fast gleich, sondern auch viele Formulierungen und oft ganze Strophen erscheinen völlig unverändert. Etwas fragwürdiger ist es, vom selben Typ zu sprechen, wenn eine Ballade mit verwandtem Inhalt und manchmal verwandter Ausdrucksweise außerhalb Skandinaviens zu finden ist, obwohl ältere Wissenschaftler wie Grundtvig und Child dies ohne Zögern taten. Dies ist jedoch ein Detail; das Wichtigste ist, dass Inhalt, Stil und metrische Form der Balladen mühelos zwischen den Ländern zirkulierten. Ein großer Teil des gemeinsamen Balladenerbes der Skandinavier weist keine Merkmale auf, die darauf schließen lassen, dass der Stoff aus Büchern oder schriftlichen Texten stammt, und doch ist die Gattung im Ganzen deutlich vom Einfluss der Literatur und Kultur der Ritterzeit geprägt. 31 Es sind in den Balladen auch Vorstellungen von Rache, Ehre und Sippenbanden zu finden, die von derselben Art sind, wie sie in den Eddaliedern und den Sagas, die in Island im 13. Jahrhundert geschrieben wurden, vorkommen, aber Wurzeln in einer älteren, mündlichen Kultur haben. 32 Fragt man sich, wie Motive und Vorstellungen aus der geschriebenen Ritter- oder Heldenliteratur in eine Literaturgattung gelangen konnten, die ohne die Unterstützung der Schriftkultur entstanden zu sein scheint, muss man bedenken, dass die schriftliche mittelalterliche Literatur sozusagen ein vokales Leben hatte: Bücher wurden Gruppen von Leseunkundigen laut vorgelesen, Ritterlieder und Heiligenerzählungen lebten im Gedächtnis der Leute und wurden in einfacheren Formen wiedererschaffen, um sie mündlich vorzutragen, wo immer man zusammenkam, z. B. beim Kirchgang, auf Marktplätzen, an Festen oder in der Hausgenossenschaft. 33 Es leuchtet deshalb ein, dass vielfältige Textbeziehungen zwischen geschriebener und ungeschriebener Literatur während des ganzen Mittelalters und später selbstverständlich und unvermeidlich waren. 34 Obwohl Island isoliert liegt und Reisen in andere Länder im Mittelalter und bis ins 19. Jahrhundert beschwerlich und selten waren, herrschten immer rege Beziehungen zu anderen Völkern, und es ist offensichtlich, dass die Ritterkultur schon im 13. Jahrhundert mannigfaltigen Einfluss auf die isländische Literatur hatte. Sehr wahrscheinlich waren es Kleriker oder Vornehme mit einer gewissen Bildung, welche Handschriften von einem Land ins andere brachten. Aber die kulturellen Einflüsse sind auch auf anderen Wegen als nur über Handschriften eingedrungen: 31 Vgl. z. B. Colbert, David: The Birth of the Ballad. The Scandinavian Medieval Genre. Stockholm: Svenskt visarkiv 1989, und Jonsson, Bengt R.: Oral Literature, Written Literature: The Ballad and Old Norse Genres. In: The Ballad and Oral Literature. Ed. Joseph Harris. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1991, S. 139-170. 32 Vgl. z. B. Liestøl, Knut: Den norrøne arven. Oslo 1970, und Jørgensen, Jens Anker: Jorden og slægten. En indføring i folkevisens univers. Kopenhagen: Tabula 1976. 33 Iørn Piø behandelt die Bedeutung der fahrenden Händler und Märkte für die Verbreitung der Balladen in Nye veje til Folkevisen. Kopenhagen: Gyldendal 1985, z. B. S. 269ff. 34 Das Zusammenspiel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der mittelalterlichen Kultur ist sehr ausführlich behandelt worden, vgl. z. B. Bäuml, Franz H.: Verschriftlichte Mündlichkeit und vermündlichte Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Hg. von Ursula Schaefer. ScriptOralia 53. Tübingen: Narr 1993, S. 254-266. Vésteinn Ólason 88 Auf jedem Schiff, das zwischen den Ländern verkehrte, waren junge und ältere Leute, sicher die meisten leseunkundig, dafür mit offenen Augen und Ohren. Wenn getanzt und gesungen wurde, sei es in Hallen, in Schenken oder auf Märkten, z. B. in Bergen oder Trondheim oder an anderen Orten, wo Isländer unterwegs waren, haben sie genau auf Kleidertracht und Auftreten, Gebärden und das, was gesungen oder gesagt wurde, geachtet. Wetterverhältnisse und verschiedene andere Umstände brachten es mit sich, dass die Männer oft ein ganzes Jahr auf Auslandsfahrt waren; sie fuhren im Sommer außer Landes und kehrten erst im darauffolgenden Frühling zurück. Andere verweilten noch länger im Ausland. Da bot sich viel Zeit, um sich jene Dichtung einzuprägen, die oft wiederholt wurde. Natürlich haben auch die Kaufleute, die nach Island kamen, vielerlei Wissen mit sich gebracht und verbreitet. So gelangten die Balladen von einer Gemeinschaft zur anderen und eine beliebte Dichtung konnte sich in wenigen Jahren in vielen Ländern verbreiten. An jedem Ort und besonders in einer neuen Umgebung haben sich kleine oder große Änderungen ergeben, sei es durch Vergesslichkeit oder falsche Erinnerung oder Neuschaffungen, oder durch alles zusammen. Interessant ist, dass Balladen aus dem Rittermilieu, die nach Island gelangten, nicht dem Umfeld angeglichen wurden, das der heimischen Bevölkerung vertraut war. Ganz im Gegenteil ist zu vermuten, dass das fremde (exotische) Element großen Anteil daran hatte, die Zuhörer zu verzaubern. Hinzu kam die Konsequenz, mit der durchgeführt wurde, was die Gefühle verlangten: Liebende suchen die Vereinigung, obwohl die Bande der Sippe und Ehe dies verhindern; der Entehrte rächt sich grimmig, und der Gewalttätige raubt, was er begehrt. Was dem volkstümlichen Sagenerbe vor allem gemeinsam ist, sind Elemente des Übernatürlichen: Der Kontakt mit einer Elfenfrau bringt den Tod, Runen und Zauber bezwingen den Willen des Individuums, aber sogar das Übernatürliche hat in den isländischen Balladen immer ein fremdartiges Aussehen, verglichen mit den einheimischen Phantasiegebilden, die in den Volkssagen vorkommen. Auch verschiedene Charakteristika von Sprache und Stil der Balladen sind fremdartig, oft deshalb, weil der Vortrag in anderen Sprachen oder Dialekten, besonders von Norwegen und Dänemark, Spuren hinterlassen hat. Solche Eigentümlichkeiten der Sprache und des Stils haben sich in den Balladen erstaunlich zäh gehalten, z. B. in jenen, die sowohl im 17. als auch im 19. Jahrhundert aufgezeichnet wurden, ohne Zweifel, weil die Zuhörer diese Besonderheiten als Teil der Exotik, Teil des Zaubers der Balladen wahrnahmen. Einige Balladen tragen deutliche Zeichen der ‘Reoralisierung’ eines Stoffes, der aus Sagahandschriften stammt, die ihr Material teilweise aus mündlichen Erzählungen entliehen haben. 35 Das Tristramskvæði (Ballade von Tristram) handelt vom Tod von Tristram und Ísodd, wie sie in der isländischen Ballade genannt werden. Die Ballade ist offensichtlich nach der Tristrams saga, der norrönen Prosaübersetzung von Thomas’ Versroman über Tristan und Isolde, verfasst; der Schöpfer der Ballade 35 Vgl. Ólason, Vésteinn: Literary Backgrounds of the Scandinavian Ballad. In: The Ballad and Oral Literature. Ed. Joseph Harris. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1991, S. 116- 138. Die Vokalität der isländischen Volksballaden 89 hat den emotionalen Höhepunkt der Saga gewählt und dramatisiert, so dass die Repliken zum wichtigsten Element der Ballade wurden, während in der Erzählung der Ereignisse alles sehr einfach dargestellt ist und häufig Wiederholungen angewendet werden. So wird diese literarische Dichtung zu einer echten vokalen Ballade, und die Sprache ist tatsächlich ganz frei von ausländischem Einfluss. Das Tristramskvæði ist eine der wirkungsvollsten isländischen Balladen. 36 Demgegenüber gelang es vom ästhetischen Standpunkt aus weniger gut, den dramatischen Höhepunkt der Njáls saga in einer kurzen Ballade über den Tod Gunnars von Hliðarendi und die Vorgeschichte dazu in der Beziehung zwischen ihm und seiner Frau Hallgerð zu reoralisieren. Der Dichter hatte ein feines Gespür für die Dramatik und vermochte den Balladenstoff aus der breiten epischen Saga zu wählen, aber die dichterische Realisierung ist unbeholfen und zeigt, dass die, welche die Ballade sangen, der Dichter und jene, die sie später vortrugen, diese Dichtungsgattung und ihre vokale Ausdrucksweise nicht so gut meisterten, dass sie fähig gewesen wären, eine bedeutende Ballade zu schaffen. Am ehesten gelingt es im Refrain, das Gefühl dafür zu wecken, dass eine tragische Liebesgeschichte erzählt wird; dabei wird auf eine alte Märchensaga Bezug genommen: Á þingi betur unni Brynhildur Hringi. 37 [Am Thing liebte Brynhild stärker den Hringr.] Gewisse isländische Balladen sind deutlich von der schriftlichen Literatur und der Form anderer literarischen Gattungen beeinflusst. Eines der besten Beispiele dafür ist die Ballade Ólafs vísur. Ihr Stoff stammt aus der Ólafs saga helga von Snorri Sturluson, die vermutlich im dritten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts verfasst wurde; der Inhalt ist im Einklang mit der Balladentradition gewählt. Die Ballade berichtet, wie es dazu kam, dass Ólaf ein unehelicher Sohn geboren wurde, und deutet darauf hin, dass der Sohn später König wurde. Unerlaubte Liebe, Eifersucht und symbolische Träume sind in den Balladen übliche Motive, aber es wird auch von der Loyalität und Findigkeit eines Gefolgsmannes erzählt, der mit den Launen des Königs umzugehen weiß, was genau mit der Saga übereinstimmt. In dieser Ballade gibt es keinen Refrain, aber sonst weist sie den gewohnten Balladenstil auf, mit Ausnahme der ersten und der letzten Strophe, in denen vom objektiven Erzählverhalten abgewichen wird, so dass der Stil sowohl an rímur wie an legendarische Gedichte erinnert. 38 Auch in den Þorgeirs rímur, einer Heldenballade mit Motiven aus den Vorzeitsagas, gibt es keinen Refrain und einige Strophen sind im Stil der rímur gedichtet. Diese 36 Vgl. Ólason, Vésteinn, Sagnadansar, S. 141-151; Ólason,Vésteinn, Traditional Ballads, S. 213- 220. 37 Ólason, Vésteinn, Sagnadansar, S. 278-279; Ólason, Vésteinn, Traditional Ballads, S. 291- 292. 38 Ólason, Vésteinn, Sagnadansar, S. 298-301; Ólason, Vésteinn: Saint Olaf in Medieval Icelandic Poetry. In: Narrative Folksong: New Directions. Essays in appreciation of W. Edson Richmond. Eds. Carol L. Edwards & Kathleen B. Manley. Boulder, Colorado: Westview Press 1985, S. 6- 17. Vésteinn Ólason 90 heben sich aber von der Mehrheit der Strophen ab, welche den normalen Balladenstil aufweisen. Damit ist eine isländische Heldenballade entstanden, die stark an den färöischen Typ erinnert, mit einer Thematik, wie sie sonst in Island für rímur üblich ist. 39 Es wurde gezeigt, dass die meisten Balladen Islands in mündlicher Tradition lebten, bevor sie verschriftlicht wurden, und jene, die aus anderen Ländern dorthin gelangten, haben sich so verbreitet, dass der eine vom anderen lernte. Dennoch tragen gewisse Balladen deutliche Kennzeichen der Nähe zu schriftlichen Gattungen, wie Sagas, rímur und legendarische Gedichte, ja, sie sind manchmal sogar Reoralisierungen literarischer Stoffe, wie hier gezeigt wurde. Jeder einzelne Text lebt inmitten eines Netzes von Texten, auf die er verweist und sich stützt, um seine Bedeutung zu bilden. Die meisten Balladen verweisen mit ihrem Rhythmus auf die vokal überlieferte Textwelt solcher Gedichte, und der Zuhörer erfasst durch Wortwahl, Formeln und Thematik schnell, um was für eine Art Gedicht es sich handelt und welche Gefühle und Vorstellungen es hervorruft. Die Balladen verweisen außerdem direkt oder indirekt auf die Welt der schriftlichen Texte. Manchmal beziehen sie sich in sehr allgemeiner Weise auf jene Welt, die aus den Rittersagas, den Heiligensagas oder den rímur und den legendarischen Gedichten bekannt war, manchmal auch in einer bestimmteren Weise, wenn Stoffe aus den Sagas genommen werden oder die Form anderer Gattungen in einem konkreten Gedicht sichtbar wird. Diese Gedichte legen also Zeugnis ab von der Transmission zwischen Ländern, sozialen Schichten und den unterschiedlichen Medien der geschriebenen und gesprochenen Sprache. V. - Schlusswort Island war in literarischer Hinsicht nie ein isoliertes Land. Die Besiedler brachten Gedichte und Sagas mit sich, und zur Zeit der Fürstenskalden im 10., 11. und 12. Jahrhundert kann man sagen, dass Literatur importiert und exportiert wurde. Mit der Kirche kam die Schreibkunst und die Kenntnis der europäischen Literatur - zuerst der christlichen, später auch anderer - sowie der Geschichte oder der Pseudogeschichte nach Art des Mittelalters und schließlich der Heldenballaden und Romanzen. Die eigenständige Literatur der Isländer ist ohne diesen großen Austausch und ohne Ströme des Einflusses aus dem Ausland undenkbar. Die Balladen sind ein Beispiel für eine Dichtungsgattung, die aus anderen Ländern nach Island gelangte und dort Wurzeln schlug. Sie wurden jedoch nur in sehr geringem Maß durch das isländische Umfeld beeinflusst und ihr Wert liegt nicht zuletzt in dem fremdartigen und oft schrankenlosen Leben, das sich da offenbart. So stellen sie in verschiedener Hinsicht Kontraste zum Vorhandenen dar und bereichern dadurch 39 Ólason, Vésteinn, Sagnadansar, S. 287-295; Ólason, Vésteinn, Traditional Ballads, S. 378- 382. Die Vokalität der isländischen Volksballaden 91 die Dichtungstradition und die dichterische Einbildungskraft. Dennoch lässt sich - wie hier dargelegt wurde - ihre Nähe zu isländischen Gattungen erkennen, zu den Königssagas, den legendarischen Gedichten und den rímur, ebenso der Einfluss, der von diesen Gattungen ausging. Seit der Besiedlungszeit und mindestens bis zum 19. Jahrhundert ist ein Zusammenspiel von schriftlicher und mündlicher Tradition zu beobachten. Ein wichtiges Bindeglied ist dabei das Vokale, denn es umspannt beide Traditionen. Übersetzung: Julia Meier Literaturverzeichnis Anders Sørensen Vedels Hundredvisebog. Faksimileudgave med indledning og noter af Karen Thuesen. København: Reitzel 1993. Andersen, Fleming G.: Commonplace and Creativity. 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Voices -of -Laughter -in -Norwegian -Ballads O LAV S OLBERG , B Ø I T ELEMARK When the Norwegian ballad collector and poet Jørgen Moe in 1847 recorded the legendary ballad and visionary poem Draumkvedet (TSB B31) from living tradition, he noticed that the singers did not always consider the ballad as serious through and through. In his report he writes as follows: In addition to this comes, that the deep, mysterious Draumkvede, when it is sung in merry company where the frothing bowl of ale has been passed around for a while, it necessarily incites to parody and so in this way is supplied by stanzas, where the caricature of the stanza just sung, is given. This is in any case the only way I can explain the many travestying stanzas, which are, by most singers, naïvely inserted in between the poem’s most audacious stanzas […]. These heterogeneous matters should of course be excluded, in order that one line of thought - by means of the ordering of the stanzas - be attained […]. 1 Moe gives examples of what he calls ‘travestying stanzas’: I have been up under the sky and down to the headlands of the sea, he who wants to follow in my steps should not dance in socks. 2 In Moe’s example it is of course the formula ‘dance in socks’ in the fourth line that makes the stanza travestying or parodying; it creates with one stroke a trivial situation, a situation of little importance. Since the listeners are expecting an expression in line with the seriousness of the ballad’s theme, the formula may have a comic function. We might also say with a formalistic phrase, that the formula functions ‘unfamiliarizingly’ (Shklovsky). It ‘deautomatizes’ our perception of the story. The ‘merry company’ that Jørgen Moe refers to, and where he probably heard both this parodic Draumkvede stanza and others, was no doubt a wedding, to which 1 Moe, Jørgen: Indberetning fra Cand. theol. Jørgen Moe om en av ham i Maanederne Juli og August 1847 med offentligt Stipendium foretagen Reise gjennem Thelemarken og Sætersdalen, for at samle Folkedigtninger. In: Tradisjonsinnsamling på 1800-talet. Norsk Folkeminnelags skrifter 92. Oslo: Universitetsforlaget 1964, p. 55: „Hertil kommer endnu at det dybe, mysteriøse Draumkvæe, naar det synges i det lystige Lag, hvor den fraadende Ølskaal en Tid er gaaet om, nødvendig ægger til Parodi, og saaledes bliver suppleret med Stropher, hvori Vrængebilledet af den nys afsungne gives. Paa anden Maade kan jeg i al Fald ikke forklare mig de mangfoldige travesterende Stancer, der af de fleste Sangere godtroende insereres mellem Digtets dristigste Stropher […]. Disse heterogene Stoffer skulle naturligviis udsondres, og en Tankegang Digtet igjennem, ved Strophernes Ordning, opnaaes […].“ 2 Moe, Indberetning, p. 57: „Eg hev vore ’punde Skijy/ Aa neatt paa Havsens Oddar -/ Den som mine Fotspor ska fygje,/ Han maa inkje dansa paa Loddar.“ Olav Solberg 94 he and his travelling companions were invited. But other variants of Draumkvedet too, written down by other collectors, contain stanzas that break with the seriousness of the ballad. From Moe’s comments we can see that he holds such stanzas to be heterogeneous and false; they „should of course be excluded“. He ascribes the singers of such stanzas no ability to distinguish between right and wrong, cf. the adverbial ‘naïvely’. The same attitude, not untypical of the ‘nation builders’ of the 19 th century, is expressed by the learned philologist and ballad scholar Sophus Bugge, in his characterization of one of the female Draumkvede singers (Anne Skaalen); she is „unreliable and not trustworthy, she may well have been making up something herself, here and there“. 3 The ‘voice of laughter’ that is so clearly audible in the stanzas that Moe collected in 1847, is it a ‘new voice’ - that is, ‘new’ in the 18 th and 19 th centuries? Is that voice created by „unreliable“ singers like Anne Skaalen and the parish clerk Nils Sveinungsson? In the latter’s version of Draumkvedet there are several stanzas with a distinctive comic and parodic character. Do such stanzas turn up in the ballad tradition simply because the tradition itself is waning, and the singers no longer take a serious text about an existential matter in earnest? Or have we, on the contrary, to do with a well established principle of composition in the Scandinavian ballad, with room also for a comic and parodic perspective? One may probably answer both types of questions in the affirmative. The reason why an oral tradition sinks into oblivion, is first and foremost that the tradition bearers no longer see it as important, essential; it follows therefore that the tradition in question is no longer entitled to the same interest and respect as before. In the final stages, parody may arise as an expression of the following attitude: ‘This is something which we do not take quite seriously any more’. On the other hand, we can see from ballad texts that are much older than Moe’s version of Draumkvedet that they give plenty of room to parodic passages; and some texts may even be comic through and through. There is in my opinion little reason to doubt that the voices of laughter in the Scandinavian ballad are quite as old as the voices of seriousness; but the former voices have often been suppressed when the ballad texts were written down. It looks like the transition from oral tradition to writing, implies not only a fixation but a narrowing down of the subject matter as well. Written genres seem to create expectations of what a ballad should look like. This is probably one aspect of the question of „Vokalität “. In oral tradition, the meaning is both in the text and in the context, whereas in a written genre, the meaning is only in the text. 4 It is therefore much more problematic to apply terms of interpretation like ‘the hermeneutic circle’ and ‘the intention of the text’, in connection with oral literature 3 Quoted from Blom, Ådel Gjøstein (ed.): Norske mellomalderballadar 1. Legendeviser. Serie B: Skrifter LXVI. Oslo: Universitetsforlaget 1982, p. 127: „[Anne er] upaalidelig og ikke sanddru, hun kan vel have lavet noget hist og her paa egen Haand“. 4 Schaefer, Ursula: Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. ScriptOralia 39. Tübingen: Narr Verlag 1992, pp. 57-58. Voices of Laughter in Norwegian Ballads 95 than with written literature. In order to make it probable that one has reached a valid interpretation of ‘the intention of the text’, the only way is to check it upon the text as a coherent whole […] any interpretation given of a certain portion of a text can be accepted if it is confirmed by, and must be rejected if it is challenged by, another portion of the same text. In this sense the internal textual coherence controls the otherwise uncontrollable drives of the reader. 5 But what does „internal textual coherence“ imply? One can be fairly sure that a ballad singer being part of an oral tradition will have a different opinion of what is a valid or a correct internal coherence in a text, than a modern reader. I will return to the voices of laughter in Draumkvedet and some other ballad texts, not only to situations or scenes where the voices of laughter are loud and clear, but also to situations where laughter seems to be only one possible reaction among others. But let me first say something about that ballad group which more than other ballads portray comic scenes: the jocular ballads. According to the survey in The Types of the Scandinavian Medieval Ballad, the group of jocular ballads does not constitute too impressive a part of the ballad genre; 77 ballad types out of a total of about 840 types. 6 However, evidently comic passages are to be found in ballads that are traditionally placed in other ballad groups, not least among the ballads of heroes and giants. Furthermore, there are also jocular elements in the substantial group of ballads of chivalry, for instance in Ridderen i hjorteham („The knight in stag’s disguise“, TSB A43), the oldest version of which dates from about 1500 (in an originally Norwegian manuscript). In my own dissertation about the Norwegian jocular ballads, Den omsnudde verda („The World Turned Upside Down“) (1993), I stressed the variety of the texts. There are, for instance both relatively realistic - and obviously fantastic - songs. Most ballads portray confrontations between two protagonists, very often one individual of each sex, whereas others deal with animals, birds, fantastic monsters - or single individuals. The formulas play an important role, as they do in other ballads. To a certain extent, the same epic and ornamental formulas are used in the jocular ballads, (for instance „so-and-so sat at his table“, „so-and-so came riding in the courtyard“, „so-and-so saddled his dappled grey steed“). But more specific are formulas that are exclusively applied in jocular ballads. Such formulas have the mark of quite coarse comic effects and what might be called grotesque realism, (for instance „so-and-so skinned a mare“, „so-and-so lifted his scruffy cowl“, „so-and-so ran the crow on the farm house’s floor“). I have taken the term grotesque realism from Mikhail Bakhtin’s study of Rabelais and the European history of laughter. The technique of grotesque realism is especially manifest in connection with the portrayal of the body and bodily functions, and unlike ballads of chivalry, the jocular ballads focus on the ‘low’ aspects of the body (stomach, bowels, sexual organs). The jocular ballads 5 Eco, Umberto: Interpretation and Overinterpretation. Cambridge: Cambridge University Press 1992, p. 65. 6 Jonsson, Bengt R., Svale Solheim and Eva Danielson (eds.): The Types of the Scandinavian Medieval Ballad. Oslo etc.: Universitetsforlaget 1978, p. 15. Olav Solberg 96 systematically seek to degrade individuals and values which are normally placed in higher positions. Speaking of Draumkvedet, it is no doubt the one Norwegian ballad that ballad scholars in general have been most interested in, and it is also well known among most people. There exist about 50 variants of the ballad, but many of them are quite fragmentary. The best texts are those that were sung by two women from Telemark, Maren Ramskeid and Anne Lillegaard. On the basis of their variants and in comparison with prose visions from the Middle Ages, such as The Vision of Tundal, The Vision of Gottskalk and The Vision of Thurkill, the ballad scholar Moltke Moe a hundred years ago (1899) put together his restored Draumkvede version of 52 stanzas. This version has been accepted by anthology editors as well as by most people, even if it is a literary version, „a poem by Moltke Moe“, to quote the poet Georg Johannesen. Draumkvedet tells the story of Olav Åsteson’s dream vision of heaven, and especially of hell. In the shape of individuals, he sees the souls who have sinned being punished in the afterlife, „in the other home“. There they must be responsible for the sins they have done in this world. After having fallen asleep on Christmas Eve, Olav awakens on the thirteenth day of Christmas and immediately goes to church to tell his dramatic story to the congregation. In his ballad study Om Draumkvædet och dess datering, Bengt R. Jonsson has convincingly argued that Draumkvedet belongs to the oldest phase of the Scandinavian ballad history, that is to the decades around 1300. Of course Draumkvedet is no jocular ballad. But as we have seen, the Draumkvede tradition contains several examples of parodic and comic stanzas. My point here is to argue that these stanzas are not necessarily signs of a degenerated tradition of the 19th century, but that they are in fact quite as old as the other stanzas, and that there ought to be room for them in our understanding of the ballad. It seems likely that there have always been singers like Nils Sveinungsson who juxtaposed and mixed the serious with the comic, as well as there have been singers like Maren Ramskeid. In her central version of Draumkvedet, she has included two linguistically incongruous stanzas in Danish, rather in the style of a psalm and with a religious subject matter; probably to strengthen the impact of religious seriousness, something which she must have felt was important. Olav Bø has argued that some of the stanzas in the Draumkvede tradition, among them the comic ones, are simply so-called „gamlestev“, single stanzas in the same metre as the four lined ballad stanza. But in practice, it is difficult or even impossible to distinguish between stev stanzas and ballad stanzas in a song like Draumkvedet, with its vague epic thread. The scene in Draumkvedet where Olav Åsteson rides to church to tell his dream may be a point of departure for a discussion of the voice - or voices - of laughter in the ballad. The priest stands at the altar reading when Olav arrives, so he takes his stand in the church door: Voices of Laughter in Norwegian Ballads 97 Now you stand at the altar reading out your text, while I stand in the church door here I will tell my dream. 7 In connection with Karl-Heinz Göttert’s discussion of „Sprechgesang in Liturgie und Epenvortrag“, where he stresses that „jedes mittelalterliche dicere oder sagen/ sprechen ist [...] zweideutig“, 8 one might ask if we have to do with talking/ reading or singing in the Draumkvede scene. A modern reader will no doubt associate expressions like hold forth, read out, tell with speech, but on the other hand, Draumkvedet has always been sung, as far as we know. Some of the Draumkvede variants even make use of more than one refrain, and thereby more than one melody; thus Maren Ramskeid’s variant has three different refrains and accordingly three different melodies. By one and the same presentation, the singer will then make use of two or even three different melodies. After having sung the minstrel stanzas, the singer will change refrain and melody when he or she reaches the scene where Olav Åsteson tells his dream. The singer may also make use of another refrain and another melody at subsequent turning-points in the plot. It looks like the expression tell (my dream) is to be associated with song, maybe in opposition to the priest’s reading. From certain jocular ballads we understand that it is quite useless for a priest to ‘read the text’ to somebody; an attempt will always result in comedy. The evil wife („Den vonde kjerringa“, TSB F33) tells the story of a young man who has had the bad luck to be married to an old hag. She both strikes, kicks and bites so that he cannot sleep at night. At last the young man goes to see the priest, hoping that his learning will make her change her ways, but all is in vain: The priest took out his large book and sat down to read her the text, the evil woman took her crooked stick and hit the priest across his nose. 9 The scene with Olav Åsteson and the priest has been interpreted as a confrontation between the two. Thus the folklorist Svale Solheim maintains that the priest and Olav Åsteson represent two diametrically opposed understandings of Christianity. The preaching of the priest is traditional, superficial and even essentially false; but representing the ecclesiastical hierarchy, his place is still at the altar. Olav’s place in the church door is modest, but nevertheless it is his dream story, where he stresses 7 Blom (ed.), Norske mellomalderballadar, p. 116. Variant by Maren Ramskeid: „No stænde du før altraren/ å læg ut texten din/ så stænde æg i kjyrkjedynni/ fortællje vil æg dra[u]mæn min“ (verse 6). 8 Göttert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, p. 170. 9 http: / / www.dokpro.uio.no/ ballader/ tekster_html/ f/ f030_001.html: „Presten tok si store (lille) bok,/ aa sette sei tel aa læsa,/ kjærringa tok sin krokete kjepp,/ slo presten over næsa.“ (verse 6). [The special URL is not directly accessible; start from http: / / www.dokpro.uio.no and follow the links into the ballad archive (Editor’s note).] Olav Solberg 98 the importance of social Christian values, that counts. One may object that the stanza in question is just an example of the characteristic technique of contrasting, so common in the ballad style, something we can see in the following stanza from the ballad Jon Remarsson (TSB D360): Tonight we will drink our fill if we can get the beer, tomorrow we will sail the sea if the wind will blow. 10 Furthermore, in the Middle Ages the church door seems to have been a usual place for the priest to stand as well, at least when he had to inform the congregation of important matters. This can be seen in a pastoral letter written by the bishop of Oslo, Eystein Aslaksson (1395), in which he comments on certain fees that the priest is entitled to: „And if there is somebody who will not pay these [fees] to the priest [...] then the priest shall go and stand in the church door and give the said person a respite of three weeks to pay his debt“. 11 Still we may interpret the scene as a confrontation between Olav Åsteson and the priest, but in a somewhat different way. Some interesting Norwegian official documents from the Middle Ages show that there at times must have been a hard struggle about the word in church. In 1319, bishop Audfinn of Bergen, for some reason, dismissed the canon Grim Ormsson at the Apostle church in town. The canon would not put up with the dismissal voluntarily, and on All Saints Eve, just as the bishop had completed his sermon at High Mass, before he had taken off his sandals and before the other canons were able to start singing sext, Grim Ormsson stood up in front of the stairs leading up to the high altar, and read in a loud voice an appeal and a protest („jta quod ante horam qua decuit provocacionem suam importune legendo cum clamore valido inchoavit“). Grim Ormsson was punished for his behaviour, in fact he was excommunicated later on. 12 There is documentation that bishop Audfinn of Bergen took an interesting initiative the year after as well. The bishop had then forbidden people to go on pilgrimages and thereby honour the woman who pretended to be princess Margaret, the daughter of king Eirik Magnusson (1280-1299). The woman in question who said that she came from Germany and was the king’s daughter, was burned at the stake as a fraud, in 1301. In order to announce the ban, bishop Audfinn sent one of his priests, sira Arne, to read a letter of prohibition in all the churches in town. But in one of the churches it came to fighting between sira Arne and another priest, who tried to stop the reading and take the letter from him („lagðe hæimftughar hendr .a. 10 http: / / www.dokpro.uio.no/ ballader/ tekster_d/ d360_004.html: „‘I aften så ville vi drikke,/ úm mé kann øli få,/ imorgó so ville mé sigle,/ úm vinden den blæse må! ’“ (verse 8). 11 D[iplomatarium] N[orvegicum] IX. Oslo: P. T. Mallings Forlagshandel 1878, pp. 188-189: „En æf nokor er þen er preste wil æi þettæ vtgera […] þa maa prester ganga j kirkiudyr ok sætia honom þriar fimter til sinnar skyldu.“ 12 DN IV, p. 127. Voices of Laughter in Norwegian Ballads 99 sira Arna [...] ok villde með vallde [...] taka av sira Arna þau samu bref“). 13 Most probably the bishop was right not to acknowledge the woman, but still he was unable to prevent ordinary people from believing in her sainthood. A chapel was built in Bergen in her honour, and a ballad was composed that takes her side, the side of „the False Margaret“, as she was called. The Norwegian 16 th century historian Absalon Pederssønn Beyer refers to the ballad, but in the Norwegian ballad tradition only a couple of stanzas are preserved. Luckily, copious Faeroese variants of the ballad are preserved. 14 Both in Draumkvedet and in the two preserved documents we can observe that people have felt it was important to speak for themselves, to raise the voice and make themselves heard, especially in a place like church. The church room was not only an official arena; everything that was said in such a place borrowed power of God’s own words. But even this power did not always suffice outside the church room. When somebody - probably in or around Bergen - composed a ballad about princess Margaret, not in the role of a fraud, but as an innocent victim of noblemen greedy for power, it was presumably a popular protest, and in any case an unofficial one. 15 Even several hundred years after what happened, a marked voice of protest can be heard in Margretu kvæði, the ballad telling the story of „the False Margaret“ (Frúgvin Margreta, TSB C22). The relationship between political events in Norwegian history around 1300, documents from the time and a popular ballad - and the lasting impression of this relationship makes one think of Stephen Greenblatt’s term social energy: „It is manifested in the capacity of certain verbal, aural, and visual traces to produce, shape and organize collective physical and mental experiences“. 16 Can the Draumkvede scene with Olav Åsteson and the priest standing in different places in church be interpreted as comic? In principle, the answer to this question must be yes, because „humour is an area, where a binary structure is necessary. Comedy is the result of contrasts meeting“. 17 The Norwegian jocular ballads show this fully (old husband against young wife, old wife against young husband, rich farmer against poor cotter). Still, the contrasts in Draumkvedet and in the official documentary texts are different, because the subject matter is religious, and not least because the confrontations take place in church. It does seem quite likely that those who witnessed the church episodes in 1319 and 1320 felt alarmed and uneasy - but on the other hand they may as well have burst out in laughter when the two priests came to blows, and thereby fell through as spiritual leaders and role models of be- 13 DN VIII, p. 87. 14 Føroya kvæði. Corpus Carminum Færoensium III, A Sv. Grundtvig et J. Bloch comparatum. København: Ejnar Munksgaard 1945, pp. 189-197. 15 Solheim, Svale: Historie og munnleg historisk visetradisjon. In: Norveg. Tidsskrift for Folkelivsgransking. Ny serie av Ord og Sæd 16 (1973), pp. 96-115. 16 Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negotiations. Oxford: Clarendon Press 2000, p. 6. 17 Lindhardt, Jan: Tale og skrift. To kulturer. København: Ejnar Munksgaard 1989, p. 38: „Humor er et felt, som i regelen forudsætter en binær struktur. Komik består i at modsætninger mødes“. Olav Solberg 100 haviour. Maybe we can say that the confrontations in church have a comic potential, even if every listener or reader will not necessarily interpret them as funny. Let us now return to Nils Sveinungsson and his version of Draumkvedet. In the stanzas below we can see that the contrast between Olav Åsteson and the priest is part of a comic situation, with criticism being raised against the parish clerk and the priest. The magnificent belt worn by the protagonist impresses the clerk and the priest to such an extent that they forget what they really should be doing. In other words, the servants of the church are no better than everybody else: I walked into the church as people fell on their knees, when the parish clerk my belt did see he forgot to pray to God. The priest stood at the altar with his learned tongue, as he my belt did see he forgot both to read and to sing. 18 It should be mentioned that Nils Sveinungsson’s version of Draumkvedet is composed by stanzas sung by several singers, and therefore is no ‘personal’ variant. The quoted stanzas do in fact belong to another ballad, a jocular ballad called Mit belte („My belt“, TSB F46). 19 Still there is no doubt that several singers in the 19th century, must have felt that stanzas like these were not out of place in the otherwise serious Draumkvedet. The voice of laughter was not to be totally suppressed. Since no variants of Draumkvedet were recorded before the 19 th century, it is impossible to settle the question whether or not comic stanzas in the Draumkvede tradition are just a 19th century phenomenon. But the fact that voices of laughter in ballads are much older than the 19th century, speaks in favour of comic stanzas being just as old as the ballad itself. Before leaving Draumkvedet, I would like to point out another comic stanza in the Draumkvede tradition. It was sung by several singers (and is also to be found in Moltke Moe’s restored version): It is hot in hell, hotter than anybody can think of, there they put a kettle of tar to the boil and stuffed into it a nasty priest. 20 18 Blom (ed.), Norske mellomalderballadar, p. 114: „Egh gjæk mæg i kyrkja eend som fokje på knæ monne falle/ som Klokkaren på mit belte såg/ han gløymte på Gut å kalle. / / Præsten som framfø altare sto/ alt mæ see lærde tonge/ ret som han mit belte såg/ han gløymde både læsa å sjonge“ (verses 10 and 11). 19 Landstad, Magnus B.: Norske Folkeviser. Norsk folkeminnelag. Oslo: Universitetsforlaget 1968, pp. 647-649. 20 Liestøl, Knut, and Moltke Moe (eds.): Norsk Folkedikting. Folkeviser I. Oslo: Det Norske Samlaget 1958, p. 32: „Der er heitt i helvite,/ heitar hell nokon hyggje; / der hengde dei ’pivi ein tjørukjetil/ og brytja ned-i ein presterygg´e“ (verse 45). Voices of Laughter in Norwegian Ballads 101 As we can see, the stanza gives vent to aggression and satire, turned against priesthood. Thematically, the stanza’s content should be viewed in connection with the widespread medieval criticism of priests, who were supposed to be wolves in sheep’s clothes. First and foremost they were thought to be fond of the female sex and supposedly let no opportunity pass to seduce unsuspecting women, married or not. The Danish jocular ballad Munken i Vaande („The monk in distress“, TSB F41) deals with this subject matter. In his role as a confessor, the monk (probably a mendicant) tries to seduce a farmer’s wife, but she and her husband cooperate to drink the monk under the table and beat him up. Finally he manages to escape: The monk jumped out of the window and over the deep ditches, never did I see a poorer monk have a worse night than he. 21 The priests also had the reputation of being greedy both of money and of power, something to which songs, tales, legends and other traditional genres do testify - „the priest’s sack will never get full“, as the saying goes. On such a background, the priest evidently deserved to be punished in the same way as the sinners he himself doomed to hell. I will now turn to the jocular ballads, but still concentrate on what may be called religious laughter, especially in connection with the confession - one of the sacraments in the Roman Catholic Church. After having confessed, each individual sinner was supposed to be given peace of mind and soul, but the jocular ballads do in fact challenge the whole system. Many jocular ballads portray the individual as a prisoner in the bureaucratic and suppressing grip of the church. One of the Norwegian jocular ballads that focuses on the confession, is called Kjerringa til skrifte („The wife at confession“, TSB F73). The point is that the protagonist has killed her husband (or a sailor, or a nobleman); in other words she has committed a deadly sin. She feels of course an urgent need to confess and atone for her sin, but it turns out that this is not so simple - nobody will take the responsibility of relieving her of her sin and punish her. First she turns to the parish clerk, but he sends her to the priest, who sends her to the bishop, who sends her to the pope, God’s own representative and St Peter’s successor on earth. One should think that the matter could be settled then, but that is not the case: O dearest pope, will you hear my confession, ’cause I have beaten a sailor to death. O no, I cannot punish you, ’cause Satan he is over me. The wife she saddled her grey sow, 21 Grüner Nielsen, H. (ed.): Danske Skæmteviser efter Visehaandskrifter fra 16.-18. Aarh. og Flyveblade. København: Bianco Lunos Bogtrykkeri 1927-1928, p. 160: „Muncken vd aff vinduet sprang/ offuer de dybe graff; / aldri saae ieg en vsler munck,/ en være nat monne haffue“ (verse 8). Olav Solberg 102 then she rode to Satan’s place. O dearest Satan, will you hear my confession, ’cause I have beaten a sailor to death. And Satan he roasted the wife on a spit, so that she lost seven pounds of fat. The wife she saddled her grey sow, then she rode home to her own place. 22 According to Bakhtin, medieval laughter is an expression of a new and free historical consciousness of that epoch. 23 Furthermore, Bakhtin maintains that laughter made it possible to conquer medieval man’s fear of the devil, and transform the devil into a comic figure. But the question is if laughter was not something more ambivalent, to quote Aron Gurevich: It is doubtful whether laughter can conquer fear of the devil [...] but medieval consciousness [...] also found [in the forces of evil] another side: it saw them as humorous, pitiful and even good-natured fools, humiliated by saints and angels. The frightful not only repelled; it also greedily attracted. 24 Especially tales and legends portray the stupid and comic devil, but in The wife at confession, Satan does not seem to play any directly comic role. Rather we have an example of carnevalistic, inverted comedy, in the sense that the world is turned upside down. The pope is perhaps still lord of Christendom, but he must bow to the lord of Darkness. The difference between a jocular ballad like The wife at confession and Draumkvedet is evident. In a jocular ballad, there are more linguistic signs to point out that the dominating voice is that of laughter, and the signals of comedy are much stronger than in an ordinary ballad. Also the linguistic signs stressing that we are dealing with comedy are more varied. Even quite linguistically neutral words may in such a context create expectations of laughter, and all doubt may safely be set aside after having read the opening stanza: The wife she saddled her grey sow she said: turi uri ullan dei, then she rode to the priest’s place 22 http: / / www.dokpro.uio.no/ ballader/ tekster_html/ f/ f073_003.html: „Å kjære du pave du straffe me vel/ før e ha trølla ein sjømann i hæl. / / Å nei e kann kje straffe de e/ for fan’en han e no over me. / / Å kjeringa sette se på gossin grå/ rei ho se te fan’ens gål. / / Å kjære du fan du straffe me vel/ før e ha trølla ein sjømann i hæl. / / Å fan’en han to’ kjæringa å sett’o på spett/ so steikte’n utu’n sju punn feitt. / / Å kjeringa ho sette se på gossin grå/ rei ho heim te sin eien gål“ (verses 8-13). 23 Bakhtin, Mikael: Rabelais och skrattens historia. Uddevalla: Bokförlaget Anthropos 1986, p. 81. 24 Gurevich, Aron: Medieval Popular Culture. Problems of Belief and Superstition. Cambridge: Cambridge University Press 1990, p. 193. Voices of Laughter in Norwegian Ballads 103 sam turi uri ullan dei. 25 The standard formula which is used in so many ballads of chivalry, stating that a person of standing is saddling his or her dappled grey steed, is here changed, but still recognizable. The effect is of course parodic, the ‘low’ sow, an animal usually associated with mud and dirt, is elevated to the status of a riding horse. Finally, the refrain of nonsense indicates clearly that we are dealing with a jocular ballad. When the wife is punished by Satan, she is ‘degraded’ to a piece of meat, and consequently ‘roasted on a spit’ so that she looses seven pounds of fat. The punishment seems to be thematically related to the Draumkvede stanza about the priest who is boiled in a kettle of tar, and even so to medieval ideas of hell as a place of punishment, where people are forever burned in sulphur and fire. Usually hell is a place of no return, but the wife rises above this fact. In fact she attains her goal, and in spite of degradation she is not only portrayed as a comic figure. It is also possible to see in her a popular hero who never gives in, and who finally beats the ecclesiastical hierarchy. In The wife at confession the voice of laughter seems to be ambivalent in the way that the protagonist is both a foolish jester and a popular hero. As already mentioned, in most jocular ballads we find two protagonists or two chief groups of individuals who are opponents in a struggle or in a verbal dispute, cf. the Old Norse senna in several Eddaic poems. At the core of the struggle may be a competition which implies knowledge (the posing of riddles, for instance) or other forms of resourcefulness, but there is also a lot of physical fighting going on. Seemingly, jocular ballads are in line with the general mental approach to fighting that is stressed by Walter J. Ong in his discussion of the psychodynamics of orality. 26 In jocular ballads both fighting and violence in general have a comic function, and it is always the losing party that is ridiculed. The losing party does not manage to keep pace with the winner’s vitality, either physically or mentally, and often seems to freeze in a locked position. In his study of laughter Henri Bergson comments on this phenomenon: „The position of the body, the gestures and the movements of people are comic in just the same degree as the body makes us think of something purely mechanical“. 27 This is illustrated in a jocular ballad called Reven og bonden („The fox and the farmer“, TSB F64) which I will comment on briefly. As in The wife at confession, a sort of confession is also at the core of this text, but the title shows that of the two protagonists only one is a human being. The other one is a fox; he appears in the familiar role as trickster or clever hero, the way he is portrayed in Le roman de 25 http: / / www.dokpro.uio.no/ ballader/ tekster_html/ f/ f073_003.html: „Å kjeringa ho sette se på gossin grå/ - Sa’ o turi uri ullan dei -/ rei ho se te prestens gål. / - Sam turi uri ullan dei -“ (verse 1). 26 Ong, Walter J.: Muntlig och skriftlig kultur. Teknologiseringen av ordet. Göteborg: Bokförlaget Anthropos 1990, pp. 57-59. 27 Bergson, Henri: Låtten. Ein etterrøknad um meiningi i det komiske. Transl. of Le Rire by Ola Raknes. Oslo: Det Norske Samlaget 1922, p. 22: „Kroppsburden, faktone og rørslene åt menneskja er låttelege i plent same mùn som kroppen fær oss til å tenkja på eitkvart reint mekaniskt“. Olav Solberg 104 Renard, in fables and tales. The ballad tells the story of a farmer called Niels Fiskar, who has to go to a feast, and he hires the fox to look after his geese when he is away. As anybody would expect, the fox eats all the geese - but surprisingly he admits what he has done when the farmer returns. Then the farmer changes position and acts both as judge and executioner: O have you now eaten all my geese, you will not make your escape alive. As a final wish, the fox asks to be allowed to give away presents to save his soul from punishment in purgatory: Your lady I will give my teeth she has such trouble chewing bread. Your children I will give my skull, they do so often fall to the ground. To yourself I will give my skin, I don’t think you will shoot me this evening. And to the priest I will give my tail, he has so much to tell his flock. 28 Of course the fox comes out on top; he talks and talks to make the farmer forget what is going on, and then he escapes. The farmer seems to freeze mentally speaking, his mind is not quick enough to follow the fox’s tricks. But of course neither the farmer nor his family are among the cunning ones. The farmer’s wife, ironically called ‘lady’, is so old and worn that she cannot chew bread; old age is often portrayed as something comic in jocular ballads. The children probably get so little care and food that they are tottering on their legs all the time, and often fall to the ground. And the farmer himself is such a bad shot that he will miss a captured fox. In connection with the priest and what he tells his flock, his sermon seems to be about as much worth as the fox’s tail, in other words an effective degradation of a servant of the church and his office. His sermon, words that should be inspired by the Holy Ghost, are associated with quite different, ‘low’ parts of the body. A degradation of the confession seems to be the main theme of the ballad; in stead of focusing on spiritual matters, the text concentrates all energy on body and substance (teeth, skull, skin, tail). We may interpret the struggle between the farmer and the fox as an allegory, where the important thing is the parallel between the fox and the priest, both doing their best to seduce simple souls. One might say that the voices of laughter in Draumkvedet constitute a kind of subtext in an otherwise serious ballad. In my opinion, the voices are clear enough to 28 http: / / www.dokpro.uio.no/ ballader/ tekster_html/ f/ f064_002.html: „Aa hev du naa ete upp Jæsan fe meg/ so sko du kje sleppe livans ifraa meg./ / Din Hustru so giæv eg mine Tænnar/ ho lie so vont fe de broue Atyje./ / Dine Børn giver ieg min Skalle/ di lyte so ofte i Golve falle./ / Niels Fiskar so giev eg min Feld/ eg trur kje han skivte den Reven i Gvæl./ / Aa Presten giæv eg min Hale/ han mone so mykid for Almugen tale“ (verses 7, 9-12). Voices of Laughter in Norwegian Ballads 105 be heard, but their strength and direction are not of the same kind. The tone is partly critical and satirical as in the stanza about the priest who is boiled in a kettle of tar, in other stanzas the tone seems to be more good-humoured and parodic. The jocular ballads on the other hand, do cultivate laughter so to speak; it is expressed in the struggle between two protagonists, portrayed in dramatic scenes. But both in Draumkvedet and in jocular ballads, it is evident that the voices of laughter are meant to be something more than just entertainment; it is not just ‘joking for joking’s own sake’ - but an alternative form of expression, central to ballad poets and their audience. Bibliography Bakhtin, Mikael: Rabelais och skrattets historia. Transl. of Tvortjestvo Fransua Rable i narodnaja kultura srednevekovja i Renessansa by Lars Fyhr. Uddevalla: Bokförlaget Anthropos 1986. Bergson, Henri: Låtten. Ein etterrøknad um meiningi i det komiske. Transl. of Le Rire by Ola Raknes. Oslo: Det Norske Samlaget 1922. 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P EDERSEN , K OPENHAGEN In meiner Kopenhagener Dissertation von 1996 mit dem Titel Formler uden graenser? Studier i Dronning Sophias visebog (Formeln ohne Grenzen? Studien zu Königin Sophias Liederbuch) 1 habe ich mich mit den Formeln in der dänischen Volksballade beschäftigt. Was ich hier vortragen will, baut teilweise auf den Ergebnissen dieser Arbeit auf. Das Liederbuch, benannt nach der dänischen Königin Sophia, der Mutter Christians IV., ist ein wichtiges Beispiel einer dänischen Liederhandschrift des Adels aus der Zeit der Renaissance von etwa 1584. Bevor ich mich meinem eigentlichen Thema zuwende, möchte ich einen kurzen Überblick über die Forschung zur Formelhaftigkeit geben. Grob vereinfacht kann man die literaturwissenschaftlich orientierte europäische Formelforschung in zwei Gruppen einteilen: ein auf das südöstliche Material und ein auf die nordwestliche Überlieferung bezogener Zweig. Der südöstlich orientierte Zweig hat sich vor allem mit den altgriechischen, besonders homerischen und mit den serbokroatischen epischen Texten in gebundener Form beschäftigt. Der nordwestlich ausgerichtete Zweig konzentriert sich auf die englisch-schottische und auf die skandinavische Volksballade. Daneben gibt es eine traditionsreiche Formelforschung zur Überlieferung deutscher und englischer Mittelalter-Epik, die ich hier übergehe. In beiden genannten Zweigen ist davon die Rede, dass die literarischen Formeln in ein rhythmisches Schema passen müssen. Aber während der ‘südöstliche’ Zweig sowohl epische Formeln wie auch Epitheta behandelt, hat sich die ‘nordwestliche’ Forschung auf die epischen Formeln konzentriert. Diese, so meint man, konstituieren die Volksballaden-Gattung. Für beide Zweige gilt, dass die klassische Formel- Definition aufgegriffen wird, die Albert Bates Lord 1960 von seinem Lehrer und Freund Milman Parry (1930) übernimmt: „A group of words which is regularly employed under the same metrical conditions to express a given essential idea.“ In meiner Abhandlung habe ich versucht, auch die nicht-epischen Formeln einzubeziehen, darunter z. B. inquit-Formeln, also der Hinweis darauf, wer gerade spricht, und die Epitheta als andere Möglichkeit, Personen näher zu charakterisieren. Diese Formeln habe ich statisch genannt, im Gegensatz zu den dynamischen, welche bisher als Untersuchungsobjekte in der nordwestlich orientierten Formelforschung dienten. Das bedingt, dass eine ganze Reihe von festen Wortverbindungen in 1 Pedersen, Vibeke A.: Formler uden graenser? Studier i Dronning Sophias visebog. København: Universitetsforlaget 1997. Vibeke A. Pedersen 108 den Adelsliederbüchern ebenfalls als Formeln charakterisiert werden können. Der Vorteil dieser Ausweitung des Formelmaterials ist, dass zahlreiche Beispiele dafür gefunden werden können, die zeigen, dass statische Formeln sowohl zur Volksballade als auch zu den gleichzeitig überlieferten lyrischen Liedern gehören. Die frühere Forschung unterschied genau zwischen den beiden Gattungen. Sie hielt die Volksballade als Genre für viele Hunderte von Jahren älter als die lyrischen Lieder, obwohl diese in den Adelsliederbüchern Seite an Seite stehen. Ich konnte jedoch mit meinen Untersuchungen zeigen, dass eine weitaus engere Verbindung im Formelgebrauch besteht, als man früher annahm. Interessanterweise haben sich in der skandinavischen Überlieferung auch Fragmente lyrischer Lieder gefunden, die ähnlich alt sind wie die vereinzelten Volksballadenfragmente. Diese rechnen wir heute der Mitte des 15. Jahrhunderts und dem Anfang des 16. Jahrhunderts zu. 2 David Buchan hat 1972 in seinem Buch The Ballad and the Folk Formeln der englisch-schottischen Volksballade behandelt. 3 Ich übertrage die Ergebnisse von Buchans Theorien zur mündlichen Überlieferung auf eine skandinavische Ballade aus Königin Sophias Liederbuch. Der Liedtext ist nicht zufällig aus den vielen treffenden Balladenbeispielen in dieser Handschrift ausgewählt. Er ist gerade deshalb ausgesucht worden, weil sich darin einige der Strukturen aufzeigen lassen, die auch Buchan untersucht hat. Hinsichtlich der Ballade gibt es für Buchan drei Bedingungen, die erfüllt werden müssen: • Der Liedtext zeigt eine mündliche Struktur (oral structure), • die Formelsprache (formulaic language) ist erkennbar, • und es gibt Zeichen für die Aktualisierung (re-creation) im Augenblick der Vorführung; das heißt, jedes Mal, wenn ein Lied aufgeführt wird, ereignet sich eine Neuschöpfung der story im Augenblick einer performance. Wenn man mit mündlich geprägter Dichtung arbeitet, gibt es nach David Buchan vier verschiedene Strukturprinzipien, die ineinandergreifen: 1. Die strophische Struktur (stanzaic structure). Der Sänger beschränkt sich nicht auf eine einzelne Zeile, sondern er muss die gesamte, zumeist durch Reim gebundene Strophe im Augenblick seiner performance produzieren. Hier behilft er sich, indem er die Strophe mit Formeln auffüllt. 2. Die Struktur der Charaktere (character structure), also die Charakterisierung der dramatis personae. Die Darsteller werden einfach geschildert. Sie variieren, wenn überhaupt, von Aufführung zu Aufführung kaum. Auch im Vergleich der Liedtypen untereinander sind die Charaktere nicht ausgeprägt und differenziert, sie können jedoch je nach regionaler Überlieferung verschiedene Schwerpunkte haben. So spielt in der dänischen Überlieferung, wie Lise Præstgaard 2 Jonsson, Bengt R.: Några gamla kärleksvisor. In: Sumlen. Årsbok för visoch folkmusikforskning (1976), S. 20-32. 3 Buchan, David: The Ballad and the Folk. London: Routlege & Kegan Paul 1972. Statt ‘Volksballade’ wird im Folgenden der Begriff ‘Ballade’ verwendet. Die dänischen Volksballadenformeln 109 Andersen gezeigt hat, die unterschiedliche Darstellung der Frau eine Rolle. 4 Es gibt die aktiv-handelnde Frau als Hauptperson, was gegenüber der passiv, durch den Mann aus schwierigen Situationen geretteten Frau die ältere Überlieferungsschicht zu sein scheint. 3. Die Erzählstruktur (narrative structure) enthält selten Rückblicke oder komplizierte Nebenhandlungen. 4. Die zur Aufführung benützte, gesungene Struktur (tonal structure) besteht aus einem Gleichgewicht verschiedener Komponenten, nämlich häufig einem dreigeteilten, inneren Handlungsverlauf und einer Rahmenstruktur. Um diese vier Faktoren zu beherrschen, benützt der Liederzähler unter anderem Formeln und Wiederholungen, die zum Teil variieren können. Wie ich später aufzeigen will, darf man jedoch nicht vergessen, dass Wiederholungen innerhalb des gleichen Liedtextes nicht notwendigerweise identisch sein müssen mit den eigentlichen Formeln. Diese tauchen unabhängig davon in vielen verschiedenen Liedtypen auf, wo sie die gleiche Funktion erfüllen. In Buchans Theorie ist besonders die Rahmenstruktur wichtig, weil sie bedingt, dass ein einmal genanntes Handlungselement, etwa der Botenjunge, der mit einem Brief unterwegs ist, das Recht bekommt, sein Ziel zu erreichen. Im Falle des Botenjungen also entweder, dass dieser geschnappt wird oder seinen Brief abliefern kann. In eher komplizierten Balladenhandlungen greifen mehrere Rahmen ineinander. Für die ‘besseren’ ihrer Gattung, also für die durchdachten Beispiele, gilt, dass alle offenen Enden einen Abschluss finden oder sozusagen zugebunden werden. Die Mnemotechnik des Liederzählers scheint direkt auf diese Rahmen aufzubauen, indem gleiche Formeln verwendet werden, wenn ein Rahmen eröffnet und wenn er geschlossen wird. Ellen -Ovesdatter/ -Ellen -Ovestochter -(DgF - 233) Das muntere Lied von Ellen Ovestochter handelt von einem Verführungsversuch, der für den Mann völlig danebengeht. Herr Magnos (sein Name variiert in verschiedenen Schreibweisen) versucht Herrn Nielos davon zu überzeugen, dass er die wohlhabende und schöne Ellen Ovestochter verführen kann. Er sucht sie deshalb in der Kirche auf und drängt sie, ihn nach der Messe nach Hause zu begleiten. Als die Frauen zum Abendmahl gehen, wechselt Ellen aus ihrer eleganten ‚Scharlach’-Kleidung in ein einfaches Gewand und kann entkommen. Darauf reitet sie mit dem Pferd des Herrn Magnos zum Strand. Sie lässt sich von einem Fischer über den Sund führen, von wo aus sie hochmütig dem gekränkten Magnos zurufen kann, dass sie weiterhin Jungfrau bleibt. Der Liedtext ist straff komponiert und besteht trotz der Wiederholungen (worauf wir zurückkommen) aus nur 26 Strophen. In der dänischen Überlieferung ist 4 Lise Præstgaard Andersen: Kvindeskildringer i de danske ridderviser - to tendenser. In: Sumlen. Årsbok för visoch folkmusikforskning (1978), S. 9-23. Vibeke A. Pedersen 110 dies ein relativ kurzer Text. Eine erste Analyse der Komposition stellt sich wie folgt dar: 1-4 Nielos und Magnos sprechen über Ellen; Herrn Nielos’ Übermut 5-7 Magnos reitet optimistisch zur Kirche 8-9 Reaktion der Jungfrauen 10- 15 Magnos fordert Ellen auf, ihm zu folgen 16- 18 Ellen verlässt durch List die Kirche 19- 21 Ellen flüchtet mit Herrn Magnos’ Pferd 22- 24 Magnos beklagt sich 25- 26 Ellen verhöhnt Magnos; Niederlage des Herrn Magnos Der Aufbau erscheint symmetrisch. Die Szenen wechseln regelmäßig mit einer oder zwei Hauptpersonen: Nielos und Magnos; Magnos allein; Konfrontation zwischen Ellen und Magnos; Ellen allein; Ellen und Magnos. Aber eine bloße Kompositionsanalyse nimmt nicht Rücksicht auf die innere Struktur, die den Liedtext zusammenbindet und dem Liederzähler hilft, sich an alle Fakten und Pointen zu erinnern. Es gibt viele variierende Wiederholungen. In einer mündlichen Aufführung haben solche mehrere Funktionen. Treten die Wiederholungen in aufeinander folgenden Strophen auf, gewähren sie dem Sänger oder der Sängerin einen Ruhepunkt und lassen ihm bzw. ihr Zeit, den weiteren Verlauf der Liederzählung zu strukturieren, aber auch auf Details Gewicht zu legen, von denen die Wiederholung handelt. Treten die Wiederholungen auf, nachdem bereits andere Szenen vorgetragen worden sind, dienen diese als Glied in der Rahmenstruktur. Damit werden die Erzählelemente nacheinander aufgegriffen und bearbeitet. Aus ihnen fügt sich die Liederzählung zusammen. Das -Pferd Das Pferd des Herrn Magnos ist eine im Lied mehrmals auftretende Figur. Ein solches sich wiederholendes Motiv kann dem Erzähler helfen, seine Darstellung zu strukturieren. In variierten und antithetisch konstruierten Wiederholungen (‚er und sie’ beziehungsweise ‚lösen und binden’) heißt es wie folgt: 7. Ther hannd kom thill stetenn och ther bannt hand sin hest saa gick hannd y kiercken ind Die dänischen Volksballadenformeln 111 som presten stander y lest. [Als er an die Stelle kam, band er sein hest (Pferd), dann betrat er die Kiche, wo der Priester steht und liest.] 19. Ther hun kom thill stette och ther løste hun hanns heste thett will ieg for sandingen sige hun satte sig paa Thennd beste. [Als sie an die Stelle kam, und da band sie sein hest (Pferd); das will ich wahrlich sagen, sie setzte sich auf das beste.] Interessant ist es zu sehen, wie sich der Liederzähler der Reimwörter bedient, so dass hest (‚Pferd’) sowohl auf ‚liest’ wie auf ‚beste’ reimen kann. Es ist also keine Rede davon, dass wohlfunktionierende Reimmuster einfach unkritisch über mehrere Strophen hinweg wiederholt werden, sondern sie werden optimal variiert. Die Str. 19 bindet darüber hinaus die folgenden Str. 23 und 24 mit variierender Repetition. Als Herr Magnos entdeckt, dass die Jungfrau entkommen ist, klagt er: 23. Nu haffuer ieg liud paa messenn och saa thend lannge lest bourtt er Ellenn Offuis-datter, och løst haffuer hun myn hest, [Nun habe ich die Messe gehört und sie wurde lange gelesen: fort ist Ellen Ovestochter, und gelöst hat sie mein hest (Pferd).] 24. Buortte Er Ellenn Offuis-datter och løste haffuer hun min hest och thet will ieg For sanndingen sige och bortt haffuer hun thennd best. [Fort ist Ellen Ovestochter, und gelöst hat sie mein hest (Pferd): das will ich wahrlich sagen, fortgeführt hat sie das beste.] Variierende Wiederholungen können, wie erwähnt, verwendet werden, wenn der Liederzähler sich eine Ruhepause im Gedankenfluss gönnen will. Währenddessen kann im Kopf der weitere Erzählverlauf strukturiert oder die Bedeutung eines einzelnen Handlungselements unterstrichen werden. In der Analyse serbokroatischer Epik und in der Formelanalyse der 1970er und 1980er Jahre wurde die Kreativität, welche angeblich Formeln produziert, stark betont. In der mitteleuropäischen folkloristischen Analyse galt eher die reproduzierende Wiederholung, die sich mit Hilfe von Formeln erinnert. Ich gehe später nochmals kurz darauf ein. - Doch zurück zu Herrn Magnos: Sein ungebührliches Auftreten in der Kirche wird dadurch unterstrichen, dass er über zwei Strophen hinweg Ellen durch die Bänke der Kirche verfolgt. Variationen wie diese erlauben dem Sänger eine Denkpause: 10. Hannd threen øffuer skammell och hannd threen øffuer fem Vibeke A. Pedersen 112 „ÿ stannder op, Ellenn Ouis datter och y skall følge meg hiem.[“] [Er trat über Schemel, und er trat über fünf: „Steht auf, Ellen Ovestochter, und ihr sollt mich heim begleiten.“] 11. Hannd threen øffuer skammell, hand threen øffuer to: „ÿ stannder op, Ellen Offuis datter, ÿ giuer meg ethers thro! [“] [Er trat über Schemel, er trat über zwei: Steht auf, Ellen Ovestochter, ihr gebt mir euer Wort.] Hier müssen wir uns einen Kirchenraum vorstellen, der nicht notwendigerweise mit hübsch geordneten Bankreihen gefüllt ist, sondern wo die höhergestellten Familien ihre eigenen Bänke und Stühle haben. Die übrige Gemeinde hatte zum großen Teil nur Schemel, die hin und her gerückt wurden, je nachdem ob man stand, saß oder niederkniete. Über all dieses Durcheinander setzt sich Herr Magnos grob und hochmütig hinweg, um sein Ziel zu erreichen. Die -Lesung Ein anderes durchgehendes Motiv ist die lange Lesung des Priesters. Es hat für Ellen besondere Bedeutung, dass der Priester die Lesung so lange wie möglich ausdehnt, so dass sie unterdessen Gelegenheit hat zu entkommen. Ellen: 18. [...] [„]Thu bed hannom for thend Ouerste Gud handt lesser thennd Lange Lest,[“] 5 [Du bitte ihn beim höchsten Gott, dass er die lange Lesung hält] Erzähler: 22. Messenn war ud-sionngen och saa thennd lange lest [...] [Die Messe war ausgesungen, auch die lange Lesung] 5 „Den lange læst“ findet man auch in Esbern og Sidsel (DgF 250 O). Die dänischen Volksballadenformeln 113 Magnos: 23. [...] [„]Nu haffuer ieg liud paa messenn och saa thend lange lest [Nun habe ich der Messe zugehört und auch der langen Lesung] Erneut sehen wir, dass ein wiederholtes Motiv dazu beiträgt, die Dynamik in dem Lied aufrecht zu erhalten. Aber die Wiederholungen sind nicht bloß identisch. Ganz im Gegenteil zeigen die drei Zitate unterschiedliche Verwendungen. In Str. 18 ist es Ellen, die einen der Kirchgänger bittet, dem Priester einen Armreif als Bezahlung dafür zu überbringen, dass er gut und lange lesen möge. In Str. 22 ist es die Regieanmerkung des Erzählers, in Str. 23 schließlich die wörtliche Rede des Magnos. Der Begriff ‚lange Lesung’ beinhaltet ebenfalls Stabreim - eine Form, die in mündlicher Dichtung im Norden häufig vorkommt. Strümpfe -und -Schuhe Ellens Strümpfe und Schuhe stellen ebenso ein durchgehendes Motiv dar. Als Magnos sie auffordert, ihm nach Hause zu folgen, entschuldigt sie sich damit, sie hätte Strümpfe, Kopfschmuck und Schuhe ausgeliehen: 13. [...] Lannet haffuer ieg huosse och lannet haffuer ieg skou. [(...) ausgeliehen habe ich Strümpfe, und ausgeliehen habe ich die Schuhe.] 14. Lannet haffuer ieg min hosse och lannet haffuer ieg min skou lannet haffuer ieg mit houde guld, och ther for stannder min thro.[“] [Ausgeliehen habe ich meine Strümpfe, und ausgeliehen habe ich meine Schuhe: ausgeliehen habe ich meinen goldenen Kopfschmuck; ich muss bei meinem Wort bleiben.] Das ficht Herrn Magnos jedoch nicht an; er antwortet: 15.* „Ber du hiemb dinne hosser, och ber du hiemb dinne sko! och ber du hiemb ditt hoffuet-guld, och giff du mig dinn tro! “ [„Trag du heim deine Strümpfe, und trag du heim deine Schuhe; und trag du heim deinen goldenen Kopfschmuck, und gib du mir dein Wort.“] Die voll entfaltete Technik von Frage und Antwort variiert hier die Wiederholungen. Es zeigt sich, dass Ellen später aus diesen Strümpfen und Schuhen Nutzen Vibeke A. Pedersen 114 zieht. Als sie über den Sund flüchten will und dort keine Fähre ist, findet sie nur einen armen Fischer, der ihr helfen kann. Und selbstverständlich braucht der eine Bezahlung: 21. Hun drog aff hindis huosse, och hun drog aff hindis [skou]: them gaff hun thenn fisker, for hannd skulde hinder Offuer rou. [Sie zog aus ihre Strümpfe, und sie zog aus ihre Schuhe: die gab sie dem Fischer, dass er sie hinüber rudern sollte.] Die -Jungfrau -mitten -im -Sund Sogar ihr letztes Lebewohl für den frustrierten Magnos wird als variierte Wiederholung dargestellt. Damit wird der Sieg Ellens über Herrn Magnos besonders betont: 25. Ther hun kom ther mit paa sund tha slo hun ud hindis haer: [„]Saa mend wed, her Magnos, ieg bliffuer Ennd mø y aar[! “] [Da sie in die Mitte des Sunds kam, ließ sie offen flattern ihr Haar: „Wie alle wissen, Herr Magnos, bleibe ich Jungfrau noch dieses Jahr.“] 26. Ther hun kom ther mit paa sund, tha [u]øgte hun medt hindis hatt: [„]Saa mend wed, her Mognos, alt bliffuer ieg møø i natt[! “] [...] [Da sie in die Mitte des Sunds kam, da winkte sie mit ihrem Hut: „Wie alle wissen, Herr Magnos, bleibe ich Jungfrau noch diese Nacht.“] Von der Str. 25 kann der aufmerksame Zuhörer den Faden vielleicht bis zur Str. 4 zurückverfolgen, wo Magnos und Nielos eben über das schöne Haar der Jungfrau sprachen. Unmittelbar aber denkt der Zuhörer in diesem Zusammenhang an das in mittel- und nordeuropäischer Epik gängige und weitverbreitete Symbol des offen getragenen Haares dafür, dass ein Mädchen eine Jungfrau ist. Nur die unverheiratete Frau durfte das Haar offen tragen, die Verheiratete brachte ihr Haar unter die Haube. In Bezug auf Buchans Analysemethode zeigt dieser Liedtext eine Reihe von Elementen, die auf mündliche Überlieferung hindeuten. Damit sei nicht gesagt, dass dieser Text selbst unmittelbar ‚mündlich’ ist; nur, dass er für eine mündliche Vorführung leicht zu memorieren ist. Wir haben auch gesehen, dass der Text sowohl eigentliche Formeln und ganze Formelstrophen als auch Wiederholungen enthält. Die dänischen Volksballadenformeln 115 Mit John Miles Foley, The Singer of Tales in Performance (1995) 6 kann man diese Elemente eher als ‚traditionell’ bezeichnen. Von unserem Balladentyp DgF 233 (und im skandinavischen Index TSB D 152) gibt es ebenfalls Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung, und zwar norwegische aus den 1850er Jahren bei Sophus Bugge und dänische aus den 1870er und 1880er Jahren. In den dänischen Aufzeichnungen ist es auffällig, dass einiges von dem, was in dieser späten Tradierung erinnert wurde, sich gerade mit den Wiederholungen verknüpft, über die ich gesprochen habe. Eine Aufzeichnung DgF 233 F von 1871 aus dem Bezirk Hammerum in Nordjütland lautet in ihrer bruchstückhaften, aber dennoch im Prinzip fülligen Form: 1. [...] du gjører mig ingen Men; naar Messen er udsjungen, saa følger a dæ hjem.“ [(...) du tust mir kein Leid an; wenn die Messe ausgesungen ist, folge ich dir heim.“] 2. Der hun kom til Stette, og saa løst hun hans Hest; og saa red hun til Stranden, som hun kund’ allerbedst. [Da sie kam zu der Stelle, da band sie ab sein Pferd; und sie ritt zum Strand, wie sie es am besten konnte.] 3. [...] Hun løft op ved hendes Hat: „ [...] jeg bliver nok Mø i Nat! “ [Sie schwenkte ihren Hut: „(...) ich bleibe Jungfrau diese Nacht.“] Wir haben hier die wichtigsten Elemente des Liedtyps: das Haar, die Jungfrau bleibt Jungfrau, sie schwenkt den Hut. Diesem Liedtyp mit seinen vielen Elementen aus der mündlichen Überlieferung und tatsächlichen Dokumentation aus der oralen Tradierung stelle ich nun einen völlig anderen, ebenfalls charakteristischen Liedtyp gegenüber. Den spotske -Brud/ -Die -spöttische -Braut -(DgF -358) Fast unabhängig davon, welche Balladendefinition man bevorzugt, kann das Lied von der spöttischen Braut als typische dänische Volksballade gelten. (Hier spreche ich nicht von Ästhetik, sondern von typischen Balladen konstituierenden Elemen- 6 Foley, John Miles: The Singer of Tales in Performance. Bloomington: Indiana University Press 1995. Vibeke A. Pedersen 116 ten). Die Zahl der handelnden Personen ist äußerst begrenzt, und der Konflikt ist deutlich. Die Lösung ist einfach, wenn auch blutig. Das Vergnügen am Wiedererkennen ist, wie bekannt, groß. Hier beruht es vor allem auf dem ausgeprägten Gebrauch stereotyper Wendungen, die dem Balladenpublikum geläufig sind, nämlich der Formeln. Verglichen mit dem bereits präsentierten Lied enthält dieser Text weitaus mehr traditionelle Formeln, dafür weniger Wiederholungen. Letztere halten wir in der mündlichen Überlieferung für besonders charakteristisch. Den Liedtyp kennen wir ausschließlich in schriftlicher Form aus dem Liederbuch der Königin Sophia. Parallelen aus mündlicher Überlieferung kennen wir auch im skandinavischen und im internationalen Vergleich nicht. Der Text ist nicht in den gängigen Anthologien vertreten, auch ist keine Melodie zu diesem Text dokumentiert. Im Aufbau, im Gebrauch der Formeln, in der Personencharakteristik etc. ist dieses Lied freilich so ‘balladesk’, wie es nur sein kann. 7 Der eingeschobene Refrain, „y Roer ud, y Erlige mendt“ (‚rudert aus, ihr ehrlichen Männer’), ist in der spezifischen Ausdrucksweise einmalig, kann aber mit ähnlichen verglichen werden: „Y roffuer fra land, y taller mett saa vennen“ (‚ihr rudert vom Land, ihr sprecht mit einer Schönen’) (DgF 399) und „Y rouer well tyll“ (‚ihr rudert wohl gut’) (DgF 124). Auch der abschließende Refrain, „Her Benndicks haffuer saa Lidenn en feste-møe“ (‚Herr Bendix hat eine so hübsche [eigentlich: kleine] Braut’), hat keine direkte Entsprechung, klingt aber innerhalb der Überlieferung nicht fremd. Ganz im Gegenteil: In sprachlicher Hinsicht zeigt der Refrain archaische Formen, nämlich etwa vorangestelltes Adjektiv beim unbestimmten Artikel „så liden en fæstemø“. Das Adjektiv selbst, ‚liden’, in der alten Flexion für ‚lille’, ist kaum bedeutungstragend, sondern hat schmückend nur metrische Funktion. Wenn wir uns ausschließlich auf das Liederbuch der Königin Sophia beschränken, finden wir direkte Parallelen zu vielen Strophen, nämlich durchgehend zu den Str. 1 bis 5 und zu Teilen der Str. 9, 10 und 13. Nehmen wir die dänischen Adelsliederbücher aus der Zeit vor 1600 insgesamt mit in den Vergleich, dann finden wir weitere Parallelen zu den Str. 5 und 6 und zu den genannten, ergänzenden Strophenteilen 9 und 13. Inhaltliche Parallelen zum dramatischen Höhepunkt, der Bitte der Braut an den Bräutigam, sie die erste Nacht unberührt zu lassen, finden wir in der Balladenüberlieferung nicht, aber das Motiv ist grundsätzlich bekannt. Für den dramatischen Schluss, wo Herr Bendix seine Braut tötet, haben wir im Balladen-Repertoire keine Parallele. Trotzdem wird hier eine Formel verwendet, jemanden ‚bis zu seinem Tod schlagen’. Für beide Stellen erinnern wir uns an die Beobachtung am englisch-schottischen Material (nach einer Untersuchung von Flemming G. Andersen 8 ), dass die erzählerischen Höhepunkte der individuellen story einer Ballade in der Regel nicht 7 Vgl. Holzapfel, Otto: Det balladeske. Fortællemåden i den ældre episke folkevise. Odense: Universitetsforlaget 1980. 8 Vgl. Andersen, Flemming G.: Commonplace and Creativity. The Role of Formulaic Diction in Anglo-Scottish Traditional Balladry. Odense: Odense University Press 1985. Die dänischen Volksballadenformeln 117 formelhaft geprägt sind. Bei Ellen Ovestochter haben wir gesehen, dass diese Stellen aber durchaus von Wiederholungen bestimmt sein können. Es scheint also, dass wir das Gattungstypische der Ballade hinsichtlich des Gebrauchs von Wiederholungen auf zwei verschiedenen Ebenen sehen müssen: nämlich erstens als spezifisch für die einzelne Balladenaufzeichnung und zweitens als typisch für die gesamte Gattung. Hinsichtlich des Gebrauchs stereotyper Elemente ist jedoch klar, dass nur solche sprachliche Wendungen, die vielen Liedtypen gemeinsam sind, ‘Formeln’ genannt werden sollten. Dass wir zum Lied von der spöttischen Braut keine Parallelen kennen, mag selbstverständlich auch ein Zufall sein: verschollene Aufzeichnungen, verlorene Handschriften, vergessene mündliche Überlieferung und so weiter. Aber es besteht auch die Möglichkeit, dass dieses Lied nahe der Zeit seiner Verschriftlichung entstanden ist, vielleicht sogar unmittelbar im Zusammenhang mit dem Liederbuch der Königin Sophia. Wie wir feststellen konnten, hatte der Schreiber bzw. der Dichter die Möglichkeit, über die Hälfte seiner Formeln im eigenen Material abzuschreiben. Und aus der weiteren Überlieferung kommen noch einige Strophenzeilen dazu. Eine -Frage -der -Ehre Gemeinsam ist beiden Liedern das Motiv, dass die Frauen mit ihrem schönen Haar und mit ihrer Jungfernschaft, symbolisiert durch das Haar, argumentieren. Aber während die Sympathie des Textverfassers im Lied von Ellen Ovestochter eindeutig auf Seiten der Frau ist, scheint dies bei der Spöttischen Braut nicht so selbstverständlich. Mit seiner Ehre kann Herr Bendix die Verhöhnung nicht vereinbaren. Deshalb reagiert er gewalttätig auf den Vorwurf, er sei kein Mann (Str. 12). Die Verhöhnung wird vorbereitet in den Str. 10 und 11, in denen die Frau ihre Haare nicht unter die Haube bindet und Herrn Bendix die ‚Jungfern-Ehre’ abgesprochen wird. Das muss völlig haltlos erscheinen, da er seine Braut ja auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin unberührt ließ (Str. 7). Der Konflikt bezieht sich also auf die Haltung der namenlosen Jungfrau. Sie wählt das Haar anstelle der Haube, könnte man sagen. Entweder will sie sich nicht den Regeln der Ehe und dem daraus folgenden Verlust ihrer Jungfernschaft unterwerfen, oder sie zieht es vor, dass die Ehe - aus welchen Gründen auch immer - nicht sofort vollzogen wird. Im Liedtext ist dagegen nicht von einem Konflikt zwischen den Ehepartnern die Rede. Sie nennt ihn ‚ihren lieben Herrn’, und die Hochzeit wird mit aller Pracht, ja sogar in Anwesenheit der Königin gefeiert. Gerade in dieser Hochzeitsszene häufen sich die Formeln. Die Reaktion der Frau bleibt ohne Erklärung, aber die Rache des Herrn Bendix ergibt sich aus seiner gekränkten Ehre. Was kann damit in der Zeit der Entstehung dieses Textes gemeint sein? Was hat die Zuhörer dabei angesprochen? In erster Linie ist es eine gute und unterhaltsame Geschichte. Der Text stützt sich jedoch auch auf eine Moral, die allerdings nicht ausdrücklich genannt sein muss. Dass die Braut die Männlichkeit von Herrn Bendix anzweifelt, hat auf jeden Fall gewalttätige und wahrscheinlich nicht beabsichtigte Vibeke A. Pedersen 118 Konsequenzen. Kritisch kann man hier einwenden, dass dies allerdings voraussetzt, dass die Str. 11 tatsächlich von der Braut, nicht von anderen, beobachtenden Frauen gesprochen wird. In Str. 12 ist es eindeutig ein nicht genannter, fremder Sprecher, vielleicht eine der Frauen in Str. 10. Wenn man den Text aus dieser Perspektive liest, dann geht es weniger um eine ‚spöttische Braut’ - dieses ist der Titel der Herausgeber des 19. Jahrhunderts -, sondern um ‚Mord aus gekränkter Ehre’, wie Otto Holzapfel seine Übersetzung benennt. Auf jeden Fall ist es unklug, wie diese Braut oder wie die Frauen der Hochzeitsgesellschaft zu handeln. Der Text trägt mit einer solchen Moral einer Erziehung bzw. einer Aufklärung Rechnung, welche auch in parallelen Beispielen angesprochen wird (DgF 225 B, Str. 12): 12. Thack haffue herre Peder, hannd haffde then iomfrue saa kier! saa red hannd thill hindis faders, hannd bad om hinder med ere. [Dank habe Herr Peter, er hat die Jungfrau so lieb! Da ritt er zu ihrem Vater, er hielt an um sie in Ehren.] Die Moral dieser Lieder ist häufig eher beschreibend als vorschreibend, „descriptive rather than prescriptive“, wie Buchan feststellt. Sie moralisieren mit dem Beispiel ihrer Liederzählung. Das Lied von Herrn Bendix’ Mord wurde von Axel Olrik nach Vorarbeiten von Svend Grundtvig 1898 herausgegeben; vielleicht hat schon Svend Grundtvig den Titel gewählt. Weder Olrik noch Grundtvig haben allerdings einen Kommentar zu diesem Lied. Wahrscheinlich sollte man das Lied tatsächlich eher ‚Mord des Bräutigams aus gekränkter Ehre’ nennen. Damit thematisiert der Text einen Bereich in der Liedüberlieferung, der sowohl für die Balladen als auch für die lyrischen Lieder eine große Rolle spielt, nämlich den Begriffskomplex ‚Ehre’. Fügen wir hinzu, dass dieses Thema durch nicht-balladeske Formeln beschrieben wird. In dieser Form wirken sie eher statisch und stellen häufig Nominalverbindungen dar wie z. B. ‚eine so schöne Frau’ bzw. ‚mit Zucht und Ehre’. Erst wenn diese statischen Verbindungen in größere Zeilen- oder Strophenteile eingebunden werden, gewinnen sie mit ihrer Dynamik auch eine balladeske Perspektive. Ich hätte meinen Beitrag auch „Formeln oder Wiederholungen“ nennen können. Dies führt uns zu einem anderen Thema. Gibt die Überlieferung mehr als Wörter? Gibt sie Moral oder Unterhaltung? Sind Lebensregeln hier als Unterhaltung versteckt? Übersetzung: Otto Holzapfel Die dänischen Volksballadenformeln 119 Literaturverzeichnis Andersen, Flemming G.: Commonplace and Creativity. The Role of Formulaic Diction in Anglo- Scottish Traditional Balladry. Odense: Odense University Press 1985. Buchan, David: The Ballad and the Folk. London: Routlege & Kegan Paul 1972. Foley, John Miles: The Singer of Tales in Performance. Bloomington: Indiana University Press 1995. Holzapfel, Otto: Det balladeske. Fortællemåden i den ældre episke folkevise. Odense: Universitetsforlaget 1980. Jonsson, Bengt R.: Några gamla kärleksvisor. In: Sumlen. Årsbok för visoch folkmusikforskning (1976), S. 20-32. Pedersen, Vibeke A.: Formler uden graenser? Studier i Dronning Sophias visebog. København: Universitetsforlaget 1997. Pedersen, Vibeke A.: Dronning Sophias Visebog. Håndskriftet, personerne, teksterne. In: Svøbt i mår. Bd. 1 (1999), S. 79-146. Pedersen, Vibeke A.: Balladeformler i Ivan Løveridder? Eller Formler oversætteren ikke brugte. In: Svøbt i mår. Bd. 1 (1999), S. 209-250. Pedersen, Vibeke A.: Formler i Dronning Sophias Visebog. In: Svøbt i mår. Bd. 3 (2001), S. 357-448. Præstgaard Andersen, Lise: Kvindeskildringer i de danske ridderviser - to tendenser. In: Sumlen. Årsbok för visoch folkmusikforskning (1978), S. 9-23. Svøbt i mår. Dansk Folkevisekultur 1550-1700. Hg. von Flemming Lundgreen-Nielsen und Hanne Ruus. Band 1-4. København: C. A. Reitzel 1999-2002. Anhang Ellen -Ovesdatter -(DgF -233 -Aa) -aus - Dronning -Sophias -visebog - nr. -4 1. Her Nielos och herre Magnos thi sider offuer bredenn bord, thi begønnt at thalle saa mangt et skiemttens ord. - Och wii er Iomfruens mend. - 1. Hr. Nielaus og herre Magnus, de sidder over breden bord. De begyndt’ at tale, så mangt et skæmtens ord. - Og vi er jomfruens mænd. - 2. Thi begønnt at thalle saa mangt iet skiemthens ord, och mest om Ellenn Ouiss-datter huem hun haffde giffuen hindis thro. 2. De begyndt at tale så mangt et skæmtens ord. Og mest om Ellen Ovesdatter, hvem hun havde given hendes tro. 3. Hui monne Ellen Ouis datter wer kommen saa wiide i ord huad heller monne thet wold hindis møgle guld. och eller hindis Grønne iord 3. „Hvi monne Ellen Ovesdatter vær kommen så vide i ord? Hvad heller monne det vold hendes møgle guld og eller hendes grønne jord? “ 4. Och thet wolder icke hindis møgle Guld och icke hindis Grønne iord, 4. „Og det volder ikke hendes møgle guld og ikke hendes grønne jord. Vibeke A. Pedersen 120 thet wolder Lanng mer hindis fore har er rost offuer konngens bord. 5. Thett war herre Mangnos, hannd beder leg sadell paa hest Ieg will riide thill kiercke y dag, och ther will ieg hør mess. Det volder lang mer hendes fagre hår, er rost over kongens bord.“ 5. Det var herre Magnus, han beder læg’ saddel på hest: „Jeg vil ride til kirke i dag, og der vil jeg hør’ mes’. 6. Ieg will riide thill kierckenn och ther will ieg høre mess ther kommer Ellenn Ouis datter och hinder saa will ieg frest. 6. Jeg vil ride til kirken, og der vil jeg høre mes’, Der kommer Ellen Ovesdatter, og hender så vil jeg frist’.“ 7. Ther hannd kom thill stetenn och ther bannt hand sin hest saa gick hannd y kiercken ind som presten stander y lest. 7. Der han kom til stetten, og der bandt han sin hest, så gik han i kirken ind, som præsten stander i læst. 8. Thet war herre Magnos hannd kom y kierckenn Ind alle tha rømmet thi skiønne Iomfruer och huer thill moder sin. 8. Det var herre Magnus, han kom i kirken ind. Alle da rømmet de skønne jomfruer, og hver til moder sin. 9. Alle tha rømmet thi skiønne Iomfruer och huer thill moder sin for udenn Ellen Ouis datter hun haffde ther ingen inde. 9. Alle da rømmet de skønne jomfruer, og hver til moder sin, foruden Ellen Ovesdatter, hun havde der ingen inde. 10. Hannd threen øffuer skammell och hannd threen øffuer fem „ÿ stannder op, Ellenn Ouis datter och y skall følge meg hiem. 10. Han tren over skammel, og han tren over fem: „I stander op, Ellen Ovesdatter! og I skal følge mig hjem.“ 11. Hannd threen øffuer skammell, hand threen øffuer to: „ÿ stannder op, Ellen Offuis datter, ÿ giuer meg ethers thro! 11. Han tren over skammel, han tren over to: „I stander op, Ellen Ovesdatter, I giver mig eders tro! 12. I stannder op, Ellenn Offuis datter ÿ giffuer meg ethers thro ieg ether thill Marss lannd ÿ rader min femtann boe 12. I stander op, Ellen Ovesdatter, I giver mig eders tro! Jeg [fører] eder til Marsland, I råder min femten bo.“ 13. Mynn moder hun war icke hiemme ther ieg thill kierckenn foer Lannet haffuer ieg huosse och lannet haffuer ieg skou 13. „Min moder hun var ikke hjemme, der jeg til kirken for, lånet haver jeg hose, og lånet haver jeg sko. Die dänischen Volksballadenformeln 121 14. Lannet haffuer ieg min hosse och lannet haffuer ieg min skou lannet haffuer ieg mit huode guld och ther for stannder min thro. 14. Lånet haver jeg min hose, og lånet haver jeg min sko, lånet haver jeg mit hovedguld, og derfor stander min tro.“ 15. [Die Strophe lässt sich aus DgF 233 Ab konstruieren] 15.* „Bær du hjem dine hoser, og bær du hjem dine sko! og bær du hjem dit hoved-guld, og giv du mig din tro! “ 16. Och alle tha skulde thi skiønne Iomfruer thi skulde thill offers gaa alt stod her Mogens hannd gaff ther well agt op paa. 16. Og alle da skulle de skønne jomfruer, de skulle til offers gå. Alt stod her Mogens; han gav der vel agt oppå. 17. Ther hun op thill Offers gick tha sled hun skarlagen sma førennd hun kom thill kiercke-dør tha sled hun wammell ghra. 17. Der hun op til offers gik, da sled hun skarlagen små: Førend hun kom til kirkedør, da sled hun vadmel grå. 21. Hun drog aff hindis huosse, och hun drog aff hindis them gaff hun thenn fisker, for hannd skulde hinder Offuer rou. 21. Hun drog af hendes hose, og hun drog af hendes [sko]. Dem gav hun den fisker, for han skulle hender over ro. 22. Messenn war ud-sionngen och saa thennd lange lest thett war herre Mognos hannd willde tha gha thill sin hest, 22. Messen var udsungen og så den lange læst. Det var herre Magnus, han ville da gå til sin hest. 18. Hun thog Enn guldring aff hindis arom hun sende thend sogne-prest Thu bed hannom for thend Ouerste Gud handt lesser thennd Lange Lest, 18. Hun tog en guldring af hendes arum, hun sendte den sognepræst: „du bed hannum for den øverste Gud, han læser den lange læst! “ 19. Ther hun kom thill stette och ther løste hun hanns heste thett will ieg for sandingen sige hun satte sig paa Thennd beste. 19. Der hun kom til stette, og der løste hun hans heste: Det vil jeg for sandingen sige, hun satte sig på den bedste. 20. Ther hun kom thill strannde tha war thi ferrer frae Lannd forudenn Enn fattig fesker, hannd lae och flackett paa wannd. 20. Der hun kom til strande, da var de færger fra land, foruden en fattig fisker, han lå og flakket på vand. Vibeke A. Pedersen 122 23. Nu haffuer ieg liud paa messenn och saa thend lannge lest bourtt er Ellenn Offuis-datter, och løst haffuer hun myn hest, 23. „Nu haver jeg lydt på messen og så den lange læst. Bort’ er Ellen Ovesdatter, og løst haver hun min hest. 25. Ther hun kom ther mit paa sund tha slo hun ud hindis haer Saa mend wed, her Magnos ieg bliffuer Ennd mø y aar 25. Der hun kom der midt på sund, da slog hun ud hendes hår: „Så mænd ved, her Magnus, jeg bliver end mø i år! “ 26. Ther hun kom ther mit paa sund tha nøgte [sic] hun medt hindis hatt Saa mend wed, her Mognos alt bliffuer ieg møø i natt. - Och wÿ er Iomfruens mendt - 26. Der hun kom der midt på sund, da [vugged] hun med hendes hat: „så mænd ved, her Magnus, alt bliver jeg mø i nat! “ - Og vi er jomfruens mænd! - Ellen -Ovestochter -(Synopsis) 9 1. Nielos und Magnos sitzen bei Tisch und scherzen. 2. Sie scherzen, wem Ellen Ovesdatter ihr Wort gegeben hat. 3. Ellen Ovesdatter ist reich und besitzt viele Güter. 4. Das weiss man auch am Tisch des Königs. 5. Herr Magnos lässt sein Pferd satteln und reitet zur Messe. 6. Zur Messe soll auch Ellen Ovesdatter kommen. 7. Er kam in die Kirche. 8. Herr Magnos trat ein, und viele Jungfrauen zogen sich mit ihren Müttern zurück. 9. Ellen Ovesdatter nicht, sie war allein. 10. „Steht auf und folgt mir.“ 11. „Ihr gebt mir euer Wort.“ 12. „Ich führe euch ins Marsland.“ - 13. „Meine Mutter ist nicht zu Hause.“ 14. „Meine Strümpfe und Schuhe, meinen Kopfschmuck habe ich ausgeliehen [das heisst, ich muss sie erst zurückgeben].“ - 9 Die wichtigsten Strophen wurden im vorigen Text übersetzt. 24. Buortte Er Ellenn Offuis-datter och løste haffuer hun min hest och thet will ieg For sanndingen sige och bortt haffuer hun thennd best. 24. Borte er Ellen Ovesdatter, og løste haver hun min hest. Og det vil jeg for sandingen sige, og bort haver hun den bedst.“ Die dänischen Volksballadenformeln 123 15. „Trage du deine Strümpfe und Schuhe und deinen Kopfschmuck nach Hause; gib mir dein Wort.“ 16. Als alle zum Abendmahl gingen, passte Herr Magnos auf. 17. Ellen war vor dem Altar reich gekleidet, an der Kirchentüre trug sie arme Kleidung. 18. Ihren Goldring gab sie dem Priester. 19. Sie bestieg sein bestes Pferd. 20. Am Strand war nur ein armer Fischer. 21. Sie gab ihm ihre Strümpfe und Schuhe. 22. Die Messe war zu Ende, Herr Magnos wollte zu seinem Pferd. 23. „Fort ist Ellen Ovesdatter mit meinem Pferd.“ 24. „Fort ist Ellen Ovesdatter mit dem besten (meiner Pferde).“ 25. Als sie mitten im Sund war, öffnete sie ihr Haar: „Ich bleibe dieses Jahr eine Jungfrau.“ 26. Sie winkte mit dem Hut: „Herr Magnos, ich bleibe diese Nacht weiterhin eine Jungfrau.“ Den -spotske -Brud -(DgF -358 -A) -aus -Dronning -Sophias -visebog -nr -. -64 1. Her Benndicks rider sig under øø, - y Roer ud, y Erlige mendt - feste hannd sig saa wennen møe. - Her Benndicks haffuer saa Lidenn en festemøe.- 1. Hr. Bendiks rider sig under ø, - I roer ud, I ærlige mænd! - Fæste han sig så væn en mø. - Hr. Bendiks haver så liden en fæstemø. - 2. Thi førde brudenn y her Bendicks gaar dronningen ganger hinde udt I modt. 2. De førte bruden i her Bendiks gård. Dronningen ganger hende ud imod 3. Thi fulde bruden y sallen ind, Effther gannger Rider, thi baare hinthes skindt. 3. De fulgte bruden i salen ind, efter ganger ridder, de bare hendes skind. 4. Thi satte bruden paa brude-bennck, for gick Rider, thi baare hindis skennsk. 4. De satte bruden på brudebænk, for gik ridder, de bare hendes [skænk.] 5. Silde Om affthen, ther røg falder paa, thend unge brud Liuster att soffue ghaa. 5. Silde om aften, der røg falder på, den unge brud lyster at sove gå. 6. Thennd unge brud satte sig i senngen neder, her Benndicks duolle icke holle Lennge. 6. Den unge brud satte sig i sengen neder, hr. Bendiks dvælte ikke holde længe. 8. Io saa mendt will ieg saa, Om ether thøckes saa. 8. „Jo såmænd vil jeg så, om eder tykkes så.“ 7. Hør y her Benndicks kiere herre min, wille lade mig Ligge møe huos ether y natt 7. „Hør I, hr. Bendiks, kære herre min, ville [I] lade mig ligge mø hos eder i nat? “ Vibeke A. Pedersen 124 thi fruer thi gannger thill brude hus dør. 9. Årlig om morgen, det var dag, de fruer de ganger til brudehusdør. 11. I maa guldkronnen well paa sette, her Benndicks sømmer ingen Iomfruer Ere. 11. „I må guldkronen vel på sætte, hr. Bendiks sømmer ingen jomfruer ære. 12. Ieg mientte her Benndicks du worst enn manndt hui Lodst thu din unge brud giøre thig skamme? 12. Jeg mente, her Bendiks, du varst en mand, hvi lodst du din unge brud gøre dig skamme? “ 13. Her Benndicks drog kniff aff Ermedt rødt, - y Roer ud, y Erlige mendt - hannd slog hanns unge brudt thill hindis dødt. - Her Benndicks haffuer saa Liden en feste-møe.- 13. Hr. Bendiks drog kniv af ærmet rød, han slog hans unge brud til hendes død. - Hr. Bendiks haver så liden en fæstemø. - Die -spöttische -Braut -(Übersetzung) 1. Herr Bendix reitet so weit übers Land, - rudert fest, ihr ehrlichen Männer! - die schöne Jungfrau erhält er zur Hand. - Herr Bendix hat eine so hübsche Braut. - 2. Sie führten die Braut in Herrn Bendix’ Hof, die Königin ihnen heraus entgegen tritt. 3. Sie brachten die Braut in den Saal hinein, hinter ihr schritten Ritter und trugen ihr Kleid. 4. Sie setzten die Braut auf die Hochzeitsbank, vor ihr schritten Ritter, die schenkten ihr ein. 5. Spät am Abend, als sich legte der Tau, 10. Thi fruer wille sette hinde guld huen paa, hun bad the skulle udt hindis smucke haar. 10. De fruer ville sætte hende guldhuen på, hun bad, de skulle [slå] ud hendes smukke hår. Die dänischen Volksballadenformeln 125 zum Schlafen gehen wollte die junge Braut. 6. Die junge Braut setzte sich nieder aufs Bett, Herr Bendix nicht lange zögern wollt’. 7. „Hört ihr, Herr Bendix, mein lieber Herr, lasst ihr mich als Jungfrau bei euch liegen die Nacht? “ 8. „Ja, das will ich wohl, wenn euch der Wunsch danach ist.“ 9. Früh am Morgen, es war Tag, die Frauen, die gingen zur Brauthaus-Tür. 10. Die Frauen wollten die Goldhaube ihr setzen auf, sie bat, sie sollten frei fliegen lassen ihr schönes Haar. 11. „Ihr sollt’ wohl die Goldkrone setzen auf, Herrn Bendix gebührt keine Jungfrauenehr’.“ 12. „Ich meinte, Herr Bendix, du wärst ein Mann, warum liessest du dich verspotten durch die junge Braut? “ 13. Herr Bendix zog den Dolch aus dem Ärmel rot, - rudert fest, ihr ehrlichen Männer! - er schlug seine junge Braut bis sie ward tot. - Herr Bendix hat eine so hübsche Braut. - Zwei -Stimmproben -im -Kontrast. (I.) -DgF - 358, -eine -unterschätzte -klassische -Volksballade -um 1600, -und -(II.) -Selma -Nielsens -Lieder, -aus -einem -dänischen Repertoire -vom -Ende -des -19. -Jahrhunderts O TTO H OLZAPFEL , F REIBURG IM BREISGAU I. Den ‘Kanon’ für die Untersuchungsobjekte der Volksballadenforschung in Dänemark und in den anderen nordischen Sprachen schufen Svend Grundtvig und seine Nachfolger mit der Ausgabe von Danmarks gamle Folkeviser (Band 1, Kopenhagen 1853). Die Abkürzung DgF (bzw. DgFT [-Typ]) wurde zur Typenbezeichnung für skandinavische Volksballaden allgemein. Diese Grundlage verließ auch Bengt R. Jonsson mit seinen The Types of the Scandinavian Medieval Ballad (Stockholm 1978) grundsätzlich nicht. In den TSB wurden nur die kanonisierten Volksballaden aufgenommen; ja einige DgF-Nummern wurden sogar als ‘nicht-mittelalterlich’ ausgeschlossen. Damit steht diese Richtung der Wissenschaftsdisziplin in einer engführenden Tradition, die die Volksballadenforschung in Skandinavien bis heute bestimmt und m. E. teilweise behindert. Neben den ersten DgF-Quellen, nämlich vorwiegend nach dänischen Handschriften aus der Zeit der Renaissance, griffen Grundtvig und Axel Olrik allerdings ebenfalls auf die Gegenwartsaufzeichnungen der 1880er Jahre von Evald Tang Kristensen 1 aus Jütland zurück, und auch in Schweden und Norwegen gab es Ansätze zu einer ergänzenden Aufzeichnung in der aktuellen Feldforschung. 2 Im Gegensatz aber zur deutschsprachigen Überlieferung, aus der seit Hoffmann von Fallersleben (Schlesische Volkslieder, 1842) 3 und z. B. dem Freiherrn von Ditfurth (Fränkische Volkslieder, 1855), das heißt mit mehr oder weniger systematischen Aufzeichnungen populärer Liedüberlieferung seit den 1840er Jahren (und mit neuen Schwerpunkten in den 1920er und 1930er Jahren) ein ungeheures Ver- 1 Vgl. zur ersten Information: Rockwell, Joan: Evald Tang Kristensen. A lifelong adventure in folklore. Aalborg: Aalborg University Press 1982. 2 Vgl. u. a. Andersson, Otto für Schwedisch-Finnland, 1934, und P. A. Säve für schwedische Lieder auf Gotland, 1949ff., aber auch Aufzeichnungen auf Initiative von Svenskt visarkiv in Stockholm. Zu den Titeln vgl. allgemein: Holzapfel, Otto: Bibliographie zur mittelalterlichen skandinavischen Volksballade. NIF Publications, 4. Turku: Nordic Institute of Folklore 1975. 3 Vgl. Holzapfel, Otto: Hoffmann von Fallersleben und der Beginn kritischer Volksliedforschung in Deutschland. In: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1798-1998. Festschrift zum 200. Geburtstag. Hg. von Hans-Joachim Behr u. a. Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, 1. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, S. 183-198. Otto Holzapfel 128 gleichsmaterial zusammengetragen wurde - allein im Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg im Breisgau seit 1914 an die 500’000 Liednachweise -, blieb die skandinavische Balladenforschung weitgehend ‘DgF-fixiert’. Die deutschsprachigen Verhältnisse dagegen lehrten zunehmend, dass auch die Volksballadengattung nicht nur von der einseitigen Vorstellung einer ‘mittelalterlichen’ Blütezeit zu lösen sei, sondern dass auch die Volksballade als Genre im Umkreis ähnlicher Überlieferung des erzählenden Liedes und anderer Gattungen allgemein zu verstehen ist. Methodisch und aus unterschiedlicher Wissenschaftstradition verständlich muss es daher als kritisierbar, aber durchaus als nötig erscheinen, die divergierenden Erfahrungen mit skandinavischer und mit deutschsprachiger Überlieferung miteinander zu konfrontieren und vergleichend gegenüberzustellen. Es sollte ausreichend instruktiv sein, z. B. einen DgF-Band einerseits und einen DVldr-Band andererseits zu betrachten, nämlich etwa DVldr-Band 8, der ausschließlich einem Balladentyp, DVldr Nr. 155 Graf und Nonne, gewidmet ist. 4 Nicht nur aus ‘Materialmüdigkeit’ ist die deutsche Variante der internationalen Volksballadenforschung zu einem gewissen ‘Stillstand’ gekommen (vgl. DVldr-Band 10 mit dem vorläufigen Abschluß beim Liedtyp DVldr Nr.168 von insgesamt über 300 deutschen Volksballadentypen; vgl. den Gesamtindex im Band 10), 5 während man sich in Schweden erfolgreich bemühte, eine traditionell angelegte Edition fortzuführen. 6 In Norwegen versucht man es mit einer Balladen-Edition, die ausschließlich über EDV abrufbar ist. In Dänemark hat eine neue Initiative der Philologen in Kopenhagen (nicht der Folkloristen, die inzwischen aus der dänischen Universitätslandschaft praktisch verschwunden sind) erfolgreich damit begonnen, die zahlreichen älteren Handschriften als literarische Produkte der Renaissance zu begreifen und die selbstverständliche Einbettung der dort überlieferten Volksballaden in die Gattungsvielfalt allgemeiner Liedüberlieferung zu rekonstruieren. 7 Damit werden nicht nur bisherige Perspektiven zurechtgerückt, sondern es eröffnen sich unerwartete neue und kreativ zu nutzende Ausblicke für die zukünftige Forschung. Die Verfasserin einer der Arbeiten, die aus dem neuen Ansatz der Kopenhagener Philologen erwachsen ist, hat ihre Forschungen in Zürich vorgestellt und erläutert: Vibeke A. Pedersen. Ihre Kopenhagener Ph.D.-Abhandlung von 1996 beschäftigt sich mit der Analyse der Formelhaftigkeit der Volksballadengattung anhand einer handschriftlichen Quelle, dem sogenannten Liederbuch der Königin Sophia (datier- 4 Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen. Band 8 [DVldr 155] für das Deutsche Volksliedarchiv hg. von Otto Holzapfel. Freiburg i. Br.: Verlag des Deutschen Volksliedarchivs, in Komm. Lahr: Ernst Kaufmann 1988. 5 Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen. Band 10, für das Deutsche Volksliedarchiv hg. von Otto Holzapfel und Wiegand Stief. Bern: Peter Lang 1996. 6 Sveriges Medeltida Ballader. Hg. für Svenskt visarkiv von Bengt R. Jonsson u. a. Band 1ff. Stockholm: Almqvist & Wiksell 1983ff. Vgl. meine Rezension der Bände 1 und 4, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 30 (1985), S. 185f. und 42 (1997), S. 181f. Der abschließende Band 5 in zwei Teilen ist 2001 erschienen. 7 Svøbt i mår. Dansk Folkevisekultur 1550-1700. Hg. von Flemming Lundgreen-Nielsen und Hanne Ruus. Band 1-4. København: C. A. Reitzel 1999-2002. Zwei Stimmproben im Kontrast 129 bar 1584 bis 1640er Jahre). 8 Als ‘Prolog’ stellt die Verfasserin einen dänischen Balladentext voran (ohne ihn an dieser Stelle so ausführlich zu kommentieren, wie das möglich gewesen wäre); diesen Text hat sie als Beispiel ebenfalls in Zürich präsentiert. In der DgF-Edition blieb die Ballade unkommentiert; sie ist nur in dieser dänischen Fassung überliefert, und sie erhielt auch im TSB nur einen kurzen, kaum vielsagenden Eintrag: D 356 „Sir Benedick’s bride asks him not to touch her on their wedding night, and he consents. In the morning she derides him in front of the servants and says he is no man. He stabs her.“ Es lohnt sich, diese Volksballade, welche bisher eher übersehen worden ist, in einer kurzen Analyse neu zu betrachten, und das soll hier geschehen, und zwar ergänzend zu Vibeke A. Pedersens eigenen Ausführungen, aber ohne sich auf diese direkt zu beziehen. Wir übergehen dabei auch eine Reihe von Einzelproblemen, die von den hier zu behandelnden Gedanken ablenken würden. Den -spotske -brud -(DgF -358 -A) (einzige Aufzeichnung: Königin Sophias Liederbuch Nr. 64) 1. Her Benndicks rider sig under øø, - y roer ud, y erlige mendt! - fest hannd sig saa wennen møe. Her Benndicks haffuer saa lidenn en feste-møe. 2. Thi førde brudenn y her Bendicks gaar, dronningen ganger hinde udt i-modt. 3. Thi fulde bruden y sallen ind, effther ganger rider, thi baare hindes skindt. 4. Thi satte bruden paa brude-bennck, for gick rider, thi baare hindis skennck. 5. Silde om affthen, ther røg falder paa, thend unge brud liuster att soffue ghaa. 6. Thennd unge brud satte sig i senngen neder, her Benndicks duolle icke holle lennge. 7. „Hør y, her Benndicks, kiere herre min, wille y lade mig ligge møe huos ether y natt? “ 8. „Io saa mendt will ieg saa, 8 Pedersen, Vibeke A.: Formler uden grænser? Studier i Dronning Sophias visebog. Dänische Ph.D.-Abhandlung. København: Universitetsforlaget 1996. Vgl. V. A. Pedersens Beitrag in diesem Band. Otto Holzapfel 130 om ether thøckes saa.“ 9. Arlig om morgen, thet wor dag, thi fruer thi gannger thill brude-hus-dør. 10. Thi fruer wille sette hinde guld-huen paa, hun bad, the skulle sla udt hindis smucke haar. 11. „I maa guld-krone well paa sette, her Benndicks sømmer ingen iomfruer ere. 12. Ieg miennte, her Bendicks, du worst enn manndt, hui lodst thu din unge brud giøre thig skamme? “ 13. Her Benndicks drog kniff aff ermedt rødt, - y roer ud, i erlig mendt! - hannd slog hanns unge brudt thill hindis dødt. Her Benndicks haffuer saa liden en feste-møe. 9 Wir folgen dem Abdruck in DgF und bei Vibeke A. Pedersen, ja vereinfachen diesen sogar etwas (z. B. DgF-Kursivierung und andere Ergänzungen); die bestehenden Unterschiede zur tatsächlichen Lesart in der Handschrift sind für unsere Fragestellung unerheblich. An der abgedruckten Aufzeichnung erkennt man die relativ unnormierte Sprachform, die typisch für die handschriftliche Überlieferung nicht nur des 16. und 17. Jahrhunderts ist. Das metrische Gerüst der Ballade ergibt sich aus der zweizeiligen Strophenform, die grundsätzlich für ‘älter’ als die vierzeilige gehalten wird. Die endreimenden Wörter sind so frei gewählt, wie man in allen diesen dänischen Texten damit umgeht. Doch ist dieses mit 13 Strophen für dänische Verhältnisse relativ kurze Lied durch ein Netzwerk an wohlbekannten Stereotypen - formelhaften Ausdrücken - fest geknüpft, welches über die Reimwörter (soweit diese nicht ihrerseits wieder Teile von Formeln sind, wie ø : mø in Str. 1) hinüberreicht (wir normieren die dänischen Formen): „ride sig under ø“ (Str. 1) (‚reitet so weit übers Land’); „komme i gaard : gange ud imod“ (Str. 2) (‚in den Hof kommen : ihnen entgegen treten’); „sætte paa bænk : skænke“ (Str. 4) (‚auf die Bank setzen : einschenken’); „silde om aften, røg falder paa : at sove gaa“ (Str. 5) (‚spät am Abend, der Tau legt sich : Schlafen gehen’); „årlig om morgen : gå til dør“ (Str. 9) (‚früh am Morgen : zur Tür gehen’); „sætte hue paa : slaa ud haar“ (Str. 10) (‚die Haube aufsetzen : das Haar fliegen lassen’); „ærmet rødt : slaa til død“ (Str. 13) (‚Ärmel rot : totschlagen’). Das Netz von Formeln entspricht der Unausweichlichkeit der Handlung, die zielsicher auf eine Katastrophe zusteuert. Mit einer engmaschigen Sprach- und Handlungsstruktur bietet diese Ballade ein mustergültiges Beispiel mündlicher Überlieferung, wobei es m. E. unerheblich erscheint, ob dieses das Ergebnis ‘echter’ Mündlichkeit ist oder perfekter Imitation 9 Nach: Pedersen, Formler uden grænser, S. 13f. Zwei Stimmproben im Kontrast 131 (für die zweite Auffassung, Imitation, ist angesichts der singulären Überlieferung der Verdacht geäußert worden). Für den folkloristisch orientierten Analytiker ist die Kategorie des ‘Echten’ nicht relevant. Mit dem, wie für diese Gattung üblich, vom Inhalt des Liedes nicht abhängigen Refrain macht die Ballade den Eindruck eines beim Rudern als ‘Arbeitslied’ verwendeten Textes, wobei die zweite Zeile des zweiteiligen Binnen-Refrains mit dem Namen Bendix einen Bezug zur Ballade aufzubauen scheint. Dieser Bezug muss jedoch offen bleiben, weil Herr Bendix ja zu Ende der Handlung seine Braut erdolcht, also durchaus keine ‚so hübsche Braut’ erhält. Herr Bendix ist ein Mann von hohem Stand, dem auf dem eigenen Hof, wohin er seine Braut heimführt, „die Königin“ zum Empfang entgegengeht. Die Tafel ist ritterlich und als Hochzeitsmahl ausgerichtet. Wie in diesen Balladen üblich, wird das Brautpaar am Abend zur Kammer geleitet, wo man sie am nächsten Morgen wieder erwartet, und zwar nach vollzogener Hochzeitsnacht. Hier setzt nun die einzige individuelle Szene ein, die für diesen Balladentyp charakteristisch ist und ihn von vielen ähnlichen Texten unterscheidet. Aus welchen Gründen auch immer - darüber ist spekuliert worden - bittet die Braut darum, sie diese Nacht Jungfrau bleiben zu lassen. Herr Bendix stimmt zu, woraus man u. a. schließen kann, dass ihm an dieser Braut einiges liegt, sie ihm also nicht nur ein Liebesabenteuer wert ist. Aber auch darüber schweigt die Ballade sich aus; es gehört zur Gattungscharakteristik, dass referierende Hintergründe und erklärende Zusammenhänge nicht gegeben werden. Solche sind für die auf sprunghaftes, dramatisches Geschehen ausgerichtete Ballade überflüssig. Ein ‘Problem’ stellt sich mit der Str. 10, als ‚die Frauen’, also die Öffentlichkeit, die vollzogene Ehe beglaubigen sollen und die Braut darauf besteht, ihre Haare weiterhin als unverheiratetes Mädchen fliegen zu lassen. Und hier sagt die Braut - so jedenfalls nach den Anführungsstrichen des Herausgebers von DgF und ebenfalls nach dem Referat in TSB - jenen verhängnisvollen Satz, der die bisher gewählte Überschrift rechtfertigt: „Herrn Bendix gebührt keine Jungfrauenehr“, d. h. er hat ihr die ‚Ehre’ belassen. Sofort greifen die Frauen jenen unheilvollen Begriff auf, und bekunden, dass Herr Bendix seinerseits in seiner Ehre gekränkt ist. Diese ‚Ehre’ hat angesichts der Öffentlichkeit solches Gewicht, dass dahinter mögliche verständnisvolle Absprachen aus der Nacht vorher völlig verblassen - und deren mögliche Inhalte sind dann auch (für das Verständnis des Balladentextes) ziemlich nutzlose Spekulation. Allein diese Form der ‘ritterlichen Ehre’ innerhalb des Mentalitätsrahmens der Volksballade, welche man deshalb nicht unbedingt an realen Ehrebegriffen außerhalb der Dichtung festmachen muss, gebietet dem Mann, die Braut zu töten, und das geschieht unmittelbar. Die Ballade reflektiert solche Handlung nicht; der Aspekt einer über die Dichtung hinausreichenden ‘Moral’ wird nicht erörtert. Nun könnte man als zentrale Frage aufwerfen, wer denn da eigentlich ‚spottet’, also für die Tragödie verantwortlich ist. Das in der zweiten Zeile der Str. 12 genannte „din unge brud“ (‚deine junge Braut’) deutet nicht darauf hin, dass die Braut Otto Holzapfel 132 selbst jenen Vorwurf erhebt. Eine andere Möglichkeit wäre, den spottenden Vorwurf bereits darin zu sehen, dass die Braut ihre Haare offen fliegen lässt, statt sie ‚unter die Haube’ zu binden. Hier begeben wir uns jedoch auf eine Ebene spitzfindiger, am Wortlaut klebender Interpretation, die solcher Volksballadenüberlieferung nicht angemessen ist. Grundsätzlich erscheint es sogar unerheblich, ob das „jeg“ (‚ich’) der Str. 12 tatsächlich die direkte Rede der Braut markieren soll: Anführungsstriche kennt die handschriftliche Aufzeichnung nicht. Aber auf dieses ‚ich’ muss sich derjenige berufen, der den Titel „die spöttische Braut“wählt. Es ist aber wiederum für die Gattung charakteristisch, dass eine genaue personale Zuordnung bei direkten Reden oft unterbleibt, obwohl diese neben den epischen Formeln die eigentlichen Elemente sind, die die Handlung vorantreiben. Die Volksballade interessiert sich nicht für Kontextinformationen, für räsonnierende Hintergründe, für Beurteilungen und Wertungen. Allein die dramatische Handlung zählt, welche das Geschehen zielgerichtet vorantreibt. Der eigentliche Konflikt liegt m. E. in dem Gegensatz zwischen intimer, sozusagen ‘privater’ Vereinbarung der Brautleute und nicht-toleranter Öffentlichkeit, die eine einseitige Bewertung des Ehre-Begriffes fordert. Dabei geht es nicht um den eigentlichen Bereich einer Intimsphäre, wie wir ihn heute verstehen, und der zur Zeit der Liedaufzeichnung völlig anders definiert worden ist. Sondern es geht wohl eher um einen Gegensatz zwischen, sagen wir, ‘formalem’ und ‘tatsächlichem’ Recht bzw. der Auffassung davon. Während wir heute in der Regel den zweiten Begriff absolut setzen (‘Wahrheit’), verstehen (auch heute noch) traditionelle Institutionen wie z. B. die römische Kirche und auch Teile unserer Rechtsprechung es als Unterschied, ob etwas im ‘privaten’ Bereich verbleibt oder ob es ‘öffentlich’ wird und man deshalb darauf zu reagieren gezwungen ist. Solches Verständnis war Teil der tradierten Standesgesellschaft. Die Ballade übt damit (unausgesprochen) Kritik an derartigen standesbewussten Verhältnissen. Sie beleuchtet in dieser Weise als ‘Stimme’ aus der dänischen Renaissance eine Dimension, welche man ihr (heute) beim ersten Lesen für die Zeit um 1600 wohl nicht zugetraut hätte. Wir geben der Ballade deshalb in der versuchten Übertragung ins Deutsche einen neuen Titel. Mord -aus -gekränkter -Ehre -(DgF -358) 1. Herr Bendix reitet so weit übers Land, - rudert fest, ihr ehrlichen Männer! - die schöne Jungfrau erhält er zur Hand. - Herr Bendix hat eine so hübsche Braut. - 2. Sie führten die Braut in Herrn Bendix’ Hof, die Königin ihnen heraus entgegen tritt. 3. Sie brachten die Braut in den Saal hinein, hinter ihr schritten Ritter und trugen ihr Kleid. Zwei Stimmproben im Kontrast 133 4. Sie setzten die Braut auf die Hochzeitsbank, vor ihr schritten Ritter, die schenkten ihr ein. 5. Spät am Abend, als sich legte der Tau, Schlafen gehen wollte die junge Braut. 6. Die junge Braut setzte sich nieder aufs Bett, Herr Bendix nicht lange zögern wollt’. 7. „Hört ihr, Herr Bendix, mein lieber Herr, lasst ihr mich als Jungfrau bei euch liegen die Nacht? “ 8. „Ja, das will ich wohl, wenn euch der Wunsch danach ist.“ 9. Früh am Morgen, es war Tag, die Frauen, die gingen zur Brauthaus-Tür. 10. Die Frauen wollten die Goldhaube ihr setzen auf, sie bat, sie sollten frei fliegen lassen ihr schönes Haar. 11. „Ihr sollt’ wohl die Goldkrone setzen auf, Herrn Bendix gebührt keine Jungfrauenehr’.“ 12. „Ich meinte, Herr Bendix, du wärst ein Mann, warum ließest du dich verspotten durch die junge Braut? “ 13. Herr Bendix zog den Dolch aus dem Ärmel rot, er schlug seine junge Braut, bis sie ward tot. Natürlich wird diese Übersetzung nicht allen Textqualitäten gerecht, und zwar in mehrfacher Hinsicht: z. B. „skind“ (Str. 3) ist nicht das Kleid, sondern (allgemeiner Meinung nach) der pelzbesetzte Mantel. Auch darüber ist diskutiert worden, aber man muss bedenken, dass eine feste Wortverbindung, eine traditionell gewordene Formel, unterschiedliche Assoziationen auslösen kann, welche sich vom ursprünglichen Wortlaut lösen können. Solches gilt in hohem Maße für den Begriff „under ø“ der Str. 1, über den es die wildesten Spekulationen gab. Wir sind also skeptisch überall dort, wo man den genauen Wortlaut einer ‘mündlichen Überlieferung’ auf einer Ebene festlegen will, auf der es nur eine einzige Interpretationsmöglichkeit gibt. Das widerspricht dem Wesen der ‘Vokalität’. Diese ‘Stimme’ ist bewusst mehrdeutig. Auch deshalb trennen wir die Str. 11 und 12 als zwei Teile einer wörtlichen Rede und lassen die Zuordnung zumindest offen. Es bleibt die Frage offen, ob ein solcher Text Spiegelbild einer bestimmten Mentalität ist, und wie diese (für die Zeit um 1600) dann zu beschreiben wäre: (1) Das ist eine spannende Geschichte; sogar mit einem Mord (‘Bildzeitungsniveau’). (2) Eine junge Braut, die über ihren Mann spottet, gehört tödlich bestraft (Mannchauvinismus, wie er ähnlichen deutschen Volksballaden nicht fremd ist). (3) Die Otto Holzapfel 134 (männlich orientierte) ‘ritterliche’ Ehre gebietet eine Handlungsweise, die auf individuelle Liebe keine Rücksicht nimmt (ein warnendes Exempel zur Wahrung herkömmlicher Moralvorstellungen). (4) Eine Gesellschaft, die Privates nicht respektiert, kann kaum ‘ritterlich’ genannt werden (Ideologiekritik). (5) Überreagierende Männer, in ihrer vermeintlichen Ehre verletzt, sind eine Gefahr (sozusagen Erfahrungsvermittlung unter selbstbewussten adeligen Damen). Und so weiter. Man wird vielleicht noch weitere Aspekte finden können, die sich ebenfalls widersprechen, deren Relevanz sich aber allein aus einer Gesamtinterpretation einer großen Anzahl von ähnlichen Texten ergeben kann. Wir brechen die Analyse hier ab und greifen eine zweite ‘Stimmprobe’ auf. II. Selma Nielsen starb 1954 in Kalundborg und hatte zu diesem Zeitpunkt teilweise ihr eigenes Liedrepertoire aufgeschrieben, so dass es gedruckt werden konnte. Vor allem die Texte lagen einigermaßen druckfertig vor, während für die Melodien zum großen Teil nur unfertige Skizzen existierten. Diese mussten im erheblichen Maß bearbeitet werden, aber hinsichtlich der Texte hatte die Sängerin bereits 35 Jahre früher damit angefangen, ihre Lieder zu Papier zu bringen. Sie ist 1887 geboren, war also etwa 32 Jahre alt, als sie anfing, ihr Liedrepertoire aufzuschreiben. Das geschah teilweise mit Unterstützung des Folkloristen Hakon Grüner-Nielsen von Dansk Folkemindesamling, der jedoch zu dieser Zeit an solchen ‘neueren’ Liedern nicht besonders interessiert war (ähnlich eine Generation vorher Evald Tang Kristensen, dem es vor allem auch um ‘alte Balladen’ bzw. deren Nachfahren in der Gegenwartsüberlieferung ging). Man kannte diese Lieder z. B. von den Liedflugschriften des Druckers Julius Strandberg, 1834-1903, und hielt ihre nähere Dokumentation und Untersuchung für weitgehend überflüssig. Die Analyse des Musikethnologen Nils Schiørring von Selma Nielsens Liedern von 1956 ist eine der ersten Repertoire-Untersuchungen, die den Weg für zukünftige Forschungen wies. Wir beziehen uns auf diese Publikation. 10 Die Gewährsperson hatte einen Teil ihrer Lieder von ihrem Vater (gestorben 1953, fast 96 Jahre alt), der zur See gefahren war: Seemannslieder spielen in dem Repertoire eine Rolle. Eine Großmutter (gestorben 1920) hatte Bedeutung für einen weiteren Teil ihrer Lieder, und auch die Mutter trug zu einigen Texten bei. Selma Nielsen war Hausgehilfin an verschiedenen Stellen, wo sie u. a. nähen lernte, und sie war mit einem Lokomotivführer verheiratet. Die meisten ihrer Lieder stammen jedoch aus der Jugendzeit, also aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, und diese etwa 60 Beispiele sang sie, wie sie 1921 in einem Brief schrieb, recht häufig. Sie wurde frühzeitig als Sängerin volkstümlicher Lieder im Radio bekannt, und ‘volkstümlich’ meint hier die populäre, einheimische Liederüberlieferung der Zeit 10 Schiørring, Nils: Selma Nielsens viser. Et repertoire af folkelige sange fra det 19. århundredes slutning. Danmarks Folkeminder, 66. København: Munksgaard 1956. Zwei Stimmproben im Kontrast 135 neben dem mehr oder weniger internationalen Schlager und dem literarischen Lied der Großstadt. Dieser Teil des Repertoires kann als derjenige der Eltern und Großeltern aus einem glücklichen, besonders ländlichen, provinziellen Milieu charakterisiert werden. Gefühlsmäßig haben diese Lieder mit Nostalgie und mit der ‘glücklichen Kindheit’ zu tun. Man kann näher untersuchen, ob sie in ihrer Ideologie und Mentalität ebenfalls Ausdruck der Haltung von Selma Nielsen sind. Die Lieder waren auf jeden Fall ‘nicht ganz neu’ (nur in der Vorstellung des Folkloristen und gemessen an seinem Vorurteil ‘mittelalterlicher’ Balladen waren sie allzu neu). Selma Nielsen hat ein Repertoire von etwa 150 Liedern zusammengetragen, von denen Nils Schiørring ungefähr 100 mitteilt, nämlich die in Reinschrift vorliegenden und jene in Notizen zu dänischen Liedern. Der Rest von etwa 50 Liedern sind schwedische Texte und teilweise Melodie-Skizzen von Grüner-Nielsen, jedoch ohne Text. Was Selma Nielsen an ‘Balladen’ kannte, stammt teilweise aus literarischen Vorlagen (dazugehörige Melodien ebenfalls ‘aus neuerer Zeit’). Andere werden als „efterklang“ (‚Nachklang’) klassifiziert, jener Teil dänischer Überlieferung des erzählenden Liedes, der noch in der Tradition der klassischen Volksballade gesehen wird, sich aber von dieser (nach welchen Kriterien auch immer) unterscheidet. Die Lieder sind mit ihrer ‚breiten, romanhaften Schilderung des Menschen’ 11 , so Schiørring, vergleichbar mit den Liedflugschrift-Texten, die Julius Strandberg in großer Fülle produzierte und in seinen in jener Zeit sehr populären Liederheften nach etwa 1865 veröffentlichte: u. a. Visebog for Hvermand in 16 Heften, København 1864-78; Danmarks syngende Mand paa Bølge og Land in 8 Heften, København 1883ff.; letzter Nachdruck 1921. 12 Selma Nielsen soll diese Lieder jedoch aus ‘mündlicher Überlieferung’ übernommen haben, nur zu einem geringen Teil direkt nach den gedruckten Vorlagen. Ein Teil der Lieder sind scherzhafte Texte aus unterschiedlichen Epochen, aber insgesamt wird das Repertoire als „ziemlich einheitlich“ 13 und „populär in breiten Bevölkerungskreisen“ 14 charakterisiert, ein Repertoire, das um 1900 nur „einfache volkstümliche Lieder“ 15 erzählenden Charakters aufwies. Zum Beispiel fehlen die Revuelieder der Großstadt, ebenso die Texte aus der dänischen Volkshochschul- Tradition. So weit folgen wir Nils Schiørring in seinem Vorwort zur Edition. Für uns erscheint es wichtig, dass das Repertoire zwar einige (nur lose definierte) Gattungsgrenzen sprengt, aber vorwiegend ‘erzählenden’ Inhalts ist. Die Liedtexte enthalten also einen Erzählkern und eine ‘Botschaft’, die untersucht werden kann. Das wollen wir hier versuchen, ohne die Analyse in der gewünschten Breite und Tiefe durchfüh- 11 Schiørring, Nils: Selma Nielsens viser, S. 10: „[…] brede, romanagtige skildring af mennesker“. 12 Piø, Iørn: Visemageren. 1800-tallets skillingsvisekonge Julius Strandberg, o. O. [Vedbæk: ] Julius Strandbergs Forlag 1994 [mit weiteren Literaturhinweisen; vgl. meine Rezension, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 40 (1995), S. 200f. - Vgl. Folkesangerens Visebog. Hg. von Iørn Piø und Morten Levy, København: Julius Strandbergs Forlag, 1966. 13 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 12: „[…] ret enhedspræget“. 14 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 8: „[…] kendt landet over“. 15 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 12: „[…] enkle folkelige viser“. Otto Holzapfel 136 ren zu können. Schiørrings Edition versieht die einzelnen Liedtypen mit Anmerkungen und in vielen Fälle mit dem Hinweis, wann und wo die Sängerin das oder jenes Lied gelernt habe, und zwar aufgrund ihrer (mehr oder weniger subjektiven) Erinnerung. Von den Balladen habe sie DgFT 38 ‚von ihrer Großmutter (? ) gelernt’ 16 ; DgFT 40 als 16-jähriges Kindermädchen, die Melodie nach einem Schulbuch von 1869; DgFT 89 nach dem Vater (und dieser nach seiner Mutter), 1921 von Grüner-Nielsen aufgezeichnet; DgFT 101 nach einem Schulbuch von 1847; DgFT 537 auf Vorschlag von Grüner-Nielsen für eine Radiosendung 1937; DgFT 20 in der Nachdichtung von Julius Strandberg, datiert „1872“; das Lied Der står et slot i Vestervig als dänische Übersetzung der deutschen Volksballade von Schloß in Österreich; DgFT 254 nach Liedflugschriften von etwa 1848 und später; das Lied En jæger gik at jage ebenso als Übersetzung eines deutschen Vorbildes nach dänischen Liedflugschriften des 19. Jahrhunderts; Der var to adelig, kongelig børn und Ved Rhinens dal beide nach deutschen Vorbildern der Ballade von den „Königskindern“(DVldr Nr. 20) 17 ; ein Text nach einer Freundin, die das Lied ‚in einem alten Buch’ 18 gefunden hatte; einzelne Soldatenlieder und patriotische Texte u. a. in Verbindung mit 1864; für eine Radio-Sendung 1944 und so weiter. So unzusammenhängend und schwer vergleichbar die Angaben im Einzelnen sind, so deutlich wird doch insgesamt, dass es ein ‘typisch kleinbürgerliches’ Repertoire aus der Zeit um 1900 ist. Aber eine nähere Definition kann sich kaum darauf stützen, dass die Lieder ‘ausschließlich aus mündlicher Überlieferung’ sind und aus der ‘Tradierung vieler Generationen’. Die Zusammenstellung ist wohl geprägt von Elementen, die mündliche Überlieferung betreffen und Singen aus der Erinnerung, aber die Quellen liegen derart nahe an gedruckten Vorbildern und sogar dem wertenden Echo aus der Wissenschaft über ‘besonders alte Lieder’, dass ihre Charakteristik als ‘mündlich’ eher einer (folkloristischen) Ideologie als einer Tatsache entspricht. Dazu kommt das Auftreten der Sängerin in modernen Medien wie dem Radio und deren direkter Kontakt mit der Wissenschaft, was ein Milieu entstehen lässt, das ‘Volkstümlichkeit’ als Lebensideologie pflegt und hegt. Johann Gottfried Herders Ideen der 1770er Jahre, die Ansichten der Romantik um 1800 und gleichermaßen die Prämissen aus der Wissenschaftstradition über ‘echte’ Liedüberlieferung aus dem ‘Volk’ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind auch unter den Gewährspersonen wohl-etablierte ‘Tatsachen’. Was hier „das Volk“ singt (dänisch „almue“), hat praktisch nichts mehr mit den realen Lebensumständen aus einem bäuerlichen Milieu zu tun, sondern mehr mit der Sichtweise der Sommerfrischler auf ländliche Verhältnisse. Auch die Folkloristen werden mit ihrer eige- 16 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 167: „[…] lært … af mormoderen (? )“. Im Folgenden siehe S. 167-181. 17 Bei Schiørring ist u. a. dieser Hinweis auf die „Königskinder“ nachzutragen. 18 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 173: „[…] i en gammel bog“. Zwei Stimmproben im Kontrast 137 nen, langandauernden Einflussnahme auf das Objekt ihrer Forschungen konfrontiert. 19 Det -var -en -aften -silde (Selma Nielsens viser; Schiørring, S. 36; vgl. [J. Strandberg], Danmarks syngende Mand, Heft Nr. 2) 1. Det var en aften silde, mens månen skinned klar, en smådreng sad så stille i båden hos sin far. 1. Es war eines Abends spät, während der Mond schien so klar, ein Knabe saß so still im Boot bei seinem Vater. 2. Da hørte han en stemme: „Kom hid til mig, du små, her har jeg i mit gemme de stjerner gyldenblå. 2. Da hörte er eine Stimme: „Komm her zu mir, du kleiner, hier hab’ ich in meinem Versteck die Sterne goldenblau. 3. Og dem vil jeg dig give, når du vil gå til mig, og stedse hos mig blive her i mit himmerig. 3. Und die will ich dir geben, wenn du willst zu mir geh’n und immer bei mir bleiben hier in meinem Himmelreich.“ 4. „Hør fader, hvad hun synger, ser du den pigelil? “ „Sid stille, båden gynger, lad synge hvo, som vil! “ 4. „Hör, Vater, was sie singt, siehst du das kleine Mädchen? “ „Sitz still, das Boot schaukelt, lass singen jeden, der will.“ 5. Og stemmen sang: „Du kære, du lille dreng, kom hid, her er så godt at være, her skinner månen blid. 5. Und die Stimme sang: „Du lieber, du kleiner Junge, komm her, hier ist es gut zu sein, hier scheint der Mond so sanft. 6. Med månen skal du trille, og de små stjerner med, kom, hører du, du lille, kom, ellers blir jeg vred! “ 6. Mit dem Mond wirst du Murmeln spielen, und mit den kleinen Sternen dazu, komm, hörst du, du kleiner, komm, sonst werde ich wütend! “ 7. „Hør, fader, hvad hun siger, nu vil hun tage mig! “ „Sid stille, bølgen stiger, og hold dig fast til mig! “ 7. „Hör, Vater, was sie sagt, jetzt will sie mich nehmen! “ „Sitz still, die Wellen steigen, und halte dich fest an mir! “ 19 Holzapfel, Otto: Mündliche Überlieferung und Literaturwissenschaft. Der Mythos von Volkslied und Volksballade. Literaturwissenschaft: Theorie und Beispiele, 2. Münster: Aschendorff 2002. Otto Holzapfel 1388. Det var ved midnatstide, da månen skinned klar, den smådreng monne glide af båden for sin far. 8. Es war zur Mitternacht, als der Mond klar schien, der Knabe musste entgleiten aus dem Boot von seinem Vater. 9. På stranden moder vented forgæves på sin søn, som havets datter hented til bølgens dyb i løn. 9. Am Strand die Mutter wartete vergeblich auf ihren Sohn, den die Meerestochter geholt in der Wellentiefe Versteck. 10. Hans søskende så båden; men far kom ene hjem, kom sidst af fiskerflåden, og sorg omhylled dem. 10. Seine Geschwister sahen das Boot; aber der Vater kam allein nach Hause, kam zuletzt von der Fischerflotte, und Trauer umhüllte sie. 11. Ti dage efter vugged et lig mod grønne eng, den moder sorgfuldt sukked: „Det er min stakkels dreng.“ 11. Zehn Tage danach wiegte eine Leiche an die grüne Wiese, die Mutter voll Trauer seufzte: „Das ist mein armer Junge.“ Beim Singen wiederholt Selma Nielsen jeweils die dritte und vierte Zeile jeder Strophe. Von der formelgeprägten, dramatisch engführenden Sprache der älteren Volksballade sind wir denkbar weit entfernt. Das literarische Vorbild ist bekannt; Nils Schiørring verweist auf einen Text des dänischen Dichters Bernhard Severin Ingemann (1812, gedruckt 1845). 20 Jener ist von der Agnetebzw. Wassermann-Ballade (DgFT 38) inspiriert, die Selma Nielsen ebenfalls sang. 21 Aber die Idee folgt durchaus sehr nahe (sogar textnäher, meine ich) Goethes Erlkönig. 22 Diese Balladendichtung folgt Herders deutscher Übersetzung eines dänischen Textes, Hr. Oluf han rider (DgF 47 Elveskud), den Selma Nielsen ebenfalls singt. 23 Es wäre eine Aufgabe für die Feldforschung gewesen, in diesem Fall sich eingehend mit Selma Nielsen zu unterhalten, wie sie z. B. die ‘Moral’ aller dieser inhaltlich eng beieinanderliegenden Texte beurteilt bzw. wie jene für sie zusammenhängen oder nicht. Selbst negative Ergebnisse wie z. B. die (für uns) anscheinend mangelhafte inhaltliche Beschäftigung mit den Liedtexten, wie wir sie bei ähnlich versuchten Gelegenheiten erfahren, wären wichtig gewesen. Mit der Melodie stammt das oben zitierte Lied wohl aus der Strandberg-Ausgabe; es gehört zum ‘Kern-Repertoire’ Selma Nielsens, und Hakon Grüner-Nielsen hat es nach der Sängerin 1921 dokumentiert. 20 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 169. 21 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 13. 22 Siuts, Hinrich: Herr Oluf. Herders Übersetzung eines dänischen Liedes und deren Wirkung auf die deutsche Kunst- und Volksdichtung. In: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift Friedrich von der Leyen. Hg. von Hugo Kuhn. München: C. H. Beck 1963, S. 213-230. 23 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 17; dieser Hinweis auf Herder ist bei Nils Schiørring ebenfalls zu ergänzen. Zwei Stimmproben im Kontrast 139 Können wir aus diesem Lied Spuren oder Spiegelungen einer bestimmten Mentalität, einer Lebensideologie, ablesen? Wir rekonstruieren so etwas als Hypothese, ohne dass wir bei Selma Nielsen rückfragen können (auch nicht bei Grüner-Nielsen oder Schiørring): Der Fischer sitzt mit seinem kleinen Jungen in einem Boot. Dass es ein Fischer ist, der sicherlich für das alltägliche Brot hart arbeiten muss, erfahren wir erst in Str. 10 („fiskerflåden“; ‚Fischerflotte’); der Ausflug mit dem Boot erinnert so eher an Liebe und Mondschein (Str. 1). Das ist nicht die Schilderung tagtäglicher harter Arbeit, sondern Wiedergabe romantischer Gefühle und einer verführerischen Stimmung. Die Personen sind anonym: der Vater, ein Junge. Es ist nicht unbedingt ein Kind, eher eine jugendliche Hilfe, vor allem wohl ein Mensch in einer problematischen und für ‘dämonische’ Kräfte anfälligen Übergangssituation vom Kind zum Erwachsenen. Die individuelle Identifizierung mit dem eigenen Schicksal ist möglich und naheliegend. Zum Mond kommen „de stjerner gyldenblå“ (‚die Sterne goldenblau’, Str. 2), die vom Verführer verehrt werden, und zwar im Himmel, „himmerig“ (Str. 3). Der Verführer ist ein „pigelil“ (Str. 4), ein junges Mädchen; vielleicht ist der Junge dabei, zum Mann heranzuwachsen (und dann auf immer ‘im anderen Reich’ zu bleiben, vgl. Str. 3). Als Eltern hat man sich nicht in solche Dinge einzumischen, auf jeden Fall nicht als individuelle Hilfe. Es ist egal, wer ‘singt’ oder was ‘gesungen’ (vgl. Str. 4) wird; man hat nur stillzusitzen, „sidde stille“ (vgl. Str. 4). Weder werden Wahlmöglichkeiten diskutiert, noch wird darüber nachgedacht: Ob nun der Mond da wirklich ‚so sanft scheint’ („skinner blid“, Str. 5), wird der Junge von seinem Vater niemals erfahren. Worüber ‚der Kleine’ („lille“) phantasiert, macht den Vater nur ‚wütend’ („vred“, Str. 6). Und wenn Gefahr droht, ‚die Wellen steigen’ („bølgen stiger“, Str. 7), dann soll man weiterhin den Mund halten, still sitzen und sich nur an dem Vater festhalten. Das kann, in der Mentalität der Zeit, bedeuten, dass man ohne Protest die gleichen Erfahrungen teilen muss, unter denen bereits die Eltern gelitten haben. Es gibt keine helfende Solidarität zwischen den Generationen. Auf dem Höhepunkt der individuellen Krise, zur Mitternachtszeit, bei ‘hartem’ Licht, „da månen skinned klar“ (‚als der Mond klar schien’, Str. 8), nicht mehr verführerisch weich, da ‚entgleitet’ („monne glide“, Str. 8) der Sohn aus dem Boot und dem Vater. Die Mutter hat gleichermaßen wenig damit zu tun: Sie wartet „am Strand“ („[p]å stranden“, Str. 9); was geschieht, passiert heimlich, „i løn“ (Str. 9). Es sind Geschwister da, die beobachten (Str. 10); sie verstehen ebenfalls nicht, was geschieht. Und sie können nicht aus den Erfahrungen anderer lernen, weil man darüber nicht spricht. Man muss sich passiv verhalten und sich nur von der Sorge ‚umhüllen’ lassen („sorg omhylled dem“, Str. 10). Selbst der Tod wird romantisiert im Bild einer Leiche, die ‚an die grüne Wiese wiegte’ („vugged […] mod grønne eng“, Str. 11). Hier ist die Grenze zum Kitsch überschritten, die bereits zu Anfang mit dem Mondenschein erreicht worden ist. Auch die Mutter wird nicht zum Widerspruch aufgerufen; sie hat nur über ihren ‚armen Jungen’ („stakkels dreng“, Str. 11) zu seufzen. Wenn ein Symptom des Kit- Otto Holzapfel 140 sches das ‘falsche Gefühl’ ist, dann bestätigt sich das hier. Falls man aus der ‘Moral’ des Liedes irgendetwas lernen soll, dann ist es die Mentalität, die sich in solchen Texten spiegelt: Beuge dich dem Schicksal; versuche nicht, ein individuelles Leben zu schaffen; die Lebensumstände sind für dich, für deine Eltern und Geschwister stabil und fest zementiert; akzeptiere die ‘Tradition’, seufze und jammere, aber mache keinen Aufruhr und leiste keinen Widerstand. In dieser Passivität ist es psychologisch hilfreich, mit den anonymen Personen des Liedes mitweinen zu dürfen … Selma Nielsens Text (und B. S. Ingemanns Dichtung, die damit eigentlich doch verglichen werden sollte) sind ‘volkstümlich’, und zwar absolut nicht in dem Sinne etwa von N. F. S. Grundtvigs aufklärerischem Volkshochschul-Ideal. Eine Aufklärung und (dänisch) oplysning finden nicht statt; die Finsternis wird mit ‚Mondenschein’ verwechselt. Vom Stil der ‘klassischen’ Volksballade sind nur noch Zitate übrig. Das Lied ist im ‘volkstümlichen’ Ton gedichtet, im ‘Volkston’, der die traditionelle Ballade imitiert. Die Handlung beginnt „en aften silde“ (‚eines Abends spät’, Str. 1), aber ohne szenenentwickelnde und -wechselnde Dramatik (der Junge ‚entgleitet’ nur; Str. 8). Es gibt Elemente der Wiederholung im Dialog („Hør fader“; ‚Hör, Vater’, Str. 4 und 7), aber keine ‘epischen Formeln’. Wir finden individuelle Epitheta, „stjerner gyldenblå“ (‚Sterne goldenblau’, Str. 2) und den ‚sanften’ Mond (Str. 5), die der Volksballade fremd sind. Einige der ‘Kulissen’ entstammen der Ballade; die Dramatik ist jedoch nicht balladesk. An diesem Punkt werden die Gattungsgrenzen jedoch mit Rücksicht auf unsere Fragestellung unwichtig. Wir lesen die geschilderte Mentalität auch aus anderen Liedtexten heraus: En fattig ung sømand jeg er, jeg er født her i verden til besvær, ja, verden er besværlig, men vandrer vi den ærlig, så tænker jeg Herren er os nær. 24 Ein armer junger Seemann bin ich, ich bin geboren hier in die Welt zur Plage, ja, die Welt ist mühevoll, aber durchwandern wir sie ehrlich, dann, denke ich, ist der Herr uns nahe. Så ensom forladt jeg nu sidder, mens sorger bo i mit bryst, jeg lytter til småfuglenes kvidder, og blander min sorg med dens røst. 25 So einsam verlassen ich nun sitze, während Sorgen in meiner Brust wohnen, ich lausche dem Gezwitscher der kleinen Vögel, und mische meine Sorgen in ihre Stimme. 24 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 111. 25 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 113. Zwei Stimmproben im Kontrast 141 Aftnen var så stille, ene der hun gik, stjernerne sig spejled mildt i hendes blik, hjertet monne briste, Aksel var den sidste tanke, før hun sank i dødens stille blund. 26 Der Abend war so still, einsam ging sie da, die Sterne spiegelten sich weich in ihrem Blick, das Herz musste zerbrechen, Axel war der letzte Gedanke, bevor sie in des Todes stillen Schlummer versank. Jeg var en lystig ungersvend […] Den klinger så vemodigt den muntre melodi, og jeg får vel tålmodigt at finde mig deri. 27 Ich war ein lustiger Jüngling […] Sie klingt so wehmütig, die muntere Melodie, und ich muss wohl geduldig damit zufrieden mich geben. Nur eine ausführliche Analyse, die hier nicht geleistet werden kann, wird verifizieren können, ob wir nur einige Zitate herausgepflückt haben, die zu unserer Hypothese passen, oder ob die genannten Texte für eine Haltung stehen, die für das gesamte Repertoire typisch ist, für das Milieu und für die Zeit. Es ist eine Aufgabe, derart die Liedtexte wiederum aus einem individuellen Repertoire-Rahmen herauszulösen und sozusagen all die Spuren und Hinweise über den Informanten und seine Lebensumstände zu löschen, die so mühsam zusammengesammelt worden sind. Analyse und Interpretation der Liedtexte müssten so wechselweise vom Allgemeinen zum Individuellen gehen und umgekehrt. In dieser unauflöslichen Spannung des Volksliedes können wir versuchen, ‘Volk’ und ‘Ballade’ zu beschreiben. Literaturverzeichnis Andersson, Otto: Folkvisor. 1. Den äldre Folkvisan. In: Finlands Svenska Folkdiktning, V.1. Helsingfors: Åbo Tidnings och Tr. Aktiebolag 1934. Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen. Band 8 für das Deutsche Volksliedarchiv hg. von Otto Holzapfel. Freiburg i. Br.: Verlag des Deutschen Volksliedarchivs, in Komm. Lahr: Ernst Kaufmann 1988. Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen. Band 10, für das Deutsche Volksliedarchiv hg. von Otto Holzapfel und Wiegand Stief. Bern: Peter Lang 1996. Folkesangerens Visebog. Hg. von Iørn Piø und Morten Levy, København: Julius Strandbergs Forlag, 1966. Holzapfel, Otto: Bibliographie zur mittelalterlichen skandinavischen Volksballade. NIF Publications, 4. Turku: Nordic Institute of Folklore 1975. —: Hoffmann von Fallersleben und der Beginn kritischer Volksliedforschung in Deutschland. In: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1798-1998. Festschrift zum 200. Geburtstag. Hg. von Hans-Joachim Behr u. a. Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur, 1. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 1999, S. 183-198. 26 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 119. 27 Schiørring, Selma Nielsens viser, S. 128. Otto Holzapfel 142 Holzapfel, Otto: Mündliche Überlieferung und Literaturwissenschaft. Der Mythos von Volkslied und Volksballade. Literaturwissenschaft: Theorie und Beispiele, 2. Münster: Aschendorff 2002. Pedersen, Vibeke A.: Formler uden grænser? Studier i Dronning Sophias visebog. København: Universitetsforlaget 1996. Piø, Iørn: Visemageren. 1800-tallets skillingsvisekonge Julius Strandberg. Vedbæk: Julius Strandbergs Forlag 1994. [Mit weiteren Literaturhinweisen; vgl. meine Rezension, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 40 (1995), S. 200f.] Rockwell, Joan: Evald Tang Kristensen. A lifelong adventure in folklore. Aalborg: Aalborg University Press 1982. Säve, Per Arvid: Götländska visor. Hg. von Erik Noréen und Herbert Gustavson. Svenska visor, 1. Uppsala, Stockholm: Kungl. Gustav Adolfs Akad. [1949-] 1955. Schiørring, Nils: Selma Nielsens viser. Et repertoire af folkelige sange fra det 19. århundredes slutning. Danmarks Folkeminder, 66. København: Munksgaard 1956. Siuts, Hinrich: Herr Oluf. Herders Übersetzung eines dänischen Liedes und deren Wirkung auf die deutsche Kunst- und Volksdichtung. In: Märchen, Mythos, Dichtung. Festschrift Friedrich von der Leyen. Hg. von Hugo Kuhn. München: C. H. Beck 1963, S. 213-230. Sveriges Medeltida Ballader. Hg. für Svenskt visarkiv von Bengt R. Jonsson u. a. Band 1ff. Stockholm: Almqvist & Wiksell 1983ff. [Vgl. meine Rezension der Bände 1 bis 5, in: Jahrbuch für Volksliedforschung 30 (1985), S. 185f., 42 (1997), S. 181f. und 47 (2002), S. 287f.] Svøbt i mår. Dansk Folkevisekultur 1550-1700. Hg. von Flemming Lundgreen-Nielsen und Hanne Ruus. Band 1-4. København: C. A. Reitzel 1999-2002. Die -Mehrstimmigkeit -der -Balladen P IL D AHLERUP , K OPENHAGEN Einleitung Vor ein paar Jahren ließ ich in einem Seminar zur dänischen Literaturgeschichte die Ballade Elverskud (‘Elfenschuss’, DgF 47 A) von den Studierenden laut vorlesen; ein Student las die Erzählerstimme, andere übernahmen je eine der Dialogstimmen. Alle sollten ‘ihre’ jeweilige Stimme den ganzen Text über durchhalten. Die Studierenden kannten die Ballade bereits, hatten diese spezielle Vortragsform jedoch nicht geübt. Zwei Dinge habe ich bei dieser Gelegenheit gelernt: es gibt viele unterschiedliche dialogische Stimmen, und sie sind mitunter schwer auseinanderzuhalten. Dieses kleine Erlebnis liegt dem folgenden Tagungsreferat Die Mehrstimmigkeit der Balladen zugrunde. Mein zentraler Referenztext ist, wenn nicht anders vermerkt, Version A von Elverskud (DgF 47). 1 Die -Mehrstimmigkeit -der -Rede Ich untersuchte zunächst, wieviele verschiedene Stimmen in einer Ballade überhaupt auszumachen sind. Im Idealfall hätte ich dazu sämtliche 539 dänischen Balladen auswerten müssen, aus pragmatischen Gründen entschied ich mich aber dafür, eine Erhebung der Stimmenanzahl in einer zufälligen Auswahl von 30 Balladen vorzunehmen, die in F. J. Billeskov Jansens Anthologie Den danske lyrik. Før 1800 (1963) enthalten sind. Da die Texte in dieser Ausgabe oft aus einer Vermischung verschiedener Balladenversionen resultieren und zahlreichen editorischen Eingriffen unterzogen wurden, habe ich mich für die konkrete Textarbeit wiederum an die Textpräsentationen in DgF gehalten. Die Auswertung ergab, dass etwas mehr als die Hälfte (insgesamt 16 von 30) der ausgewählten Balladen neben dem Erzähler noch drei bis vier weitere Stimme aufweisen: sieben Texte enthalten je drei, neun Texte je vier zusätzliche Stimmen. Drei Balladen enthalten je sieben Stimmen, vier je sechs, fünf je fünf und zwei je zwei Stimmen - in allen Fällen zusätzlich zur Erzählerstimme. Das hier zur Diskussion stehende Elverskud weist weitere sieben Stimmen auf. Dass im Übrigen keine der Balladen nur über die Erzählerstimme verfügt, unterstützt die These, wonach der Dialog einen konstituierenden Zug des Balladengenres darstellt. 1 Vgl. die dänische Version A von Elverskud und die deutsche Übersetzung im Anhang. Pil Dahlerup 144 Ich habe außerdem das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Erzählerstrophen und Dialogstrophen analysiert. Aus meiner kleinen Materialbasis ging hervor, dass die Strophenmehrheit in 15 Texten auf den Erzähler und in 14 Texten auf die Dialogstimmen fällt. Nur in einer Ballade herrscht ein numerisches Gleichgewicht. Als Grundregel kann dabei gelten, dass das Übergewicht auf der einen oder anderen Seite relativ begrenzt ist; es handelt sich durchschnittlich um einen Unterschied von fünf Strophen. In einzelnen Fällen ist die Differenz jedoch wesentlich markanter, wie aus der folgenden Übersicht hervorgeht: Ballade Verhältnis Erzählerstimme/ Dialogstimmen Übergewicht der Erzählerstrophen: Ridder Stigs bryllup (DgF 76 B) (‘Ritter Stigs Hochzeit’) Kristian II og adelen (DgF 173) (‘Christian II. und der Adel’) Jomfruen i fugleham (DgF 56 C) (‘Die Jungfrau im Vogelkleid’) Übergewicht der Dialogstrophen: Terningsspillet (DgF 238 A) (‘Das Würfelspiel’) Jomfruen på tinge (DgF 222 A) (‘Die Jungfrau auf dem Ting’) Niels Ebbesen (DgF 156 A) Kong Didrik og hans kæmper (DgF 7 D) (‘König Didrik und seine Helden’) 34/ 10 16/ 3 14/ 5 4/ 17 7/ 23 24,5/ 44,5 10,5/ 33,5 Das kleine Zahlenmaterial zeigt folglich, dass alle Balladen mehrstimmig sind, insofern sie neben der Erzählerstimme noch durchschnittlich vier andere Stimmen aufweisen, einige mehr und andere weniger. Es zeigt sich auch, dass große Unterschiede zwischen dem Textumfang der Erzählerstimme und dem der Dialogstimmen bestehen können. Eine diesbezügliche Überprüfung des gesamten Korpus von dänischen Balladen würde natürlich ein nuancierteres Bild ergeben. Hör--‐Erkennung -der -Dialogstimmen Für die Studierenden war es schwer, die verschiedenen Stimmen in Elverskud zu identifizieren. Das bringt mich auf die Frage, welche Identifizierungsmöglichkeiten Die Mehrstimmigkeit der Balladen 145 hier überhaupt vorliegen. Zunächst möchte ich untersuchen, was man in den Balladen zu erhören vermag. Zwei Leitfragen stellen sich in diesem Zusammenhang: 1. Wie kann man hören, dass von Erzählzu Dialogstimme gewechselt wird? 2. Wie kann man auditiv die verschiedenen Dialogstimmen identifizieren? Zunächst zur ersten Frage. Mein Material zeigt sehr deutlich, dass grundsätzlich ein hörbarer Unterschied besteht zwischen der Erzählerstimme, die über Personen spricht, und Dialogstimmen, die Personen ansprechen oder ihnen auf eine Anrede hin antworten. Mit anderen Worten: Der Erzähler spricht von Personen in der Dritten Person, während Dialogstimmen sie in der Zweiten oder Ersten Person ansprechen. Meistens werden beim ersten Wechsel zwischen Erzähler- und Dialogstimme noch weitere Anredemarkierungen gesetzt (wie etwa ‘Höre’, ‘Willkommen’, ‘Hier sitzt Ihr’), ferner kann die Anrede als Frage formuliert sein. Der Name des Angesprochenen ist häufig in der Anrede enthalten. Um einige Beispiele zu nennen: ‘Hört Ihr, Herr Oluf’, ‘Du standest auf, stolze Elselille’, ‘Willkommen, Herr Peder, Geselle mein’, ‘Seid gegrüßt, wie Ihr sitzt, Jungfrau Luselille’, ‘Du musst wohl den Tod Deines Vaters rächen’, ‘Was weint Ihr denn um Gold so rot? ’. Wenn die Dialogstimmen diese Anredeformen nicht mit der Zweiten Person (Singular oder Plural) verbinden, kann sie sich auch als Erste-Person-Identifizierung mit ‘Ich’ zeigen: ‘Ich kenne keine Jungfrau auf der Welt’, ‘Ich sehe eine Jungfrau zum Ting reiten’. Die hörbare Sprachstruktur markiert auf diese Weise selbst sehr deutlich, wenn von der Erzählerstimme zu Dialogstimmen gewechselt wird. Von dieser Regel gibt es eine Ausnahme in Bezug auf die Dritte Person in der Erzählrede respektive der Ersten und Zweiten Person in Anrede oder Replik bei den Dialogstimmen. Dialogstimmen können innerhalb des Dialoges über eine Person sprechen, die nicht am Gespräch beteiligt ist; ein solches Beispiel findet sich in Elverskud: ‘Sowohl mit dem Falken als auch mit dem Hund ist Herr Oluf im Rosenhain.’ Dass diese Stimme nicht die des Erzählers ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang. Eine Ausnahme von der Grundregel bilden außerdem Balladen mit expliziten Ich-Erzählern: ‘Ich legte mein Haupt auf den Elfenhügel’. Auf welche Weise kann man also in den Dialogstimmen die Sprechenden identifizieren und die eine Dialogstimme von der anderen unterscheiden? Mein Material weist, wie schon erwähnt, bis zu sieben Dialogstimmen neben dem Erzähler auf. Wie kann man diese auf der Hörebene auseinanderhalten? Auch diesbezüglich zeigen alle untersuchten Balladen rekurrente Techniken, die ich nun an Beispielen aus Elverskud illustrieren möchte. Es handelt sich um vier Haupttechniken: Pil Dahlerup 146 1. Nicht fehlzudeuten ist das direkte Inquit: ‘Es sprach die Braut aus großer Not’, ‘Das antwortete Herrn Olufs Mutter’. 2. In einer vorausgehenden Zeile oder Strophe wird die Person genannt, die nun spricht, z. B. sagt der Erzähler: ‘Es trat eine Jungfrau aus dem Tanz heraus, sie legte ihren Arm um Herrn Olufs Hals.’ Die nächstfolgende Dialogzeile kann also ihr zugerechnet werden: ‘Hört Ihr, froher Herr Oluf’. Dieses Verfahren ist weitverbreitet. Wie überaus raffiniert es ausgestaltet sein kann, zeigt Strophe 21, in der Hr. Oluf sagt: ‘Meine liebe Mutter, nehmt Ihr mein Pferd, mein lieber Bruder, hole du den Pfarrer.’ Hier wird zuerst die Mutter, dann der Bruder genannt. Die nachfolgenden Repliken sollten folgerichtig also zuerst der Mutter, dann dem Bruder zugewiesen werden. Hier machten die Studierenden den Fehler, die Mutter beide Dialogzeilen sprechen zu lassen. Doch das macht keinen Sinn, da die Mutter sagt, dass viele Kranke wieder gesund werden. Sie kann also nicht auch noch fragen, ‘wem gibst du deine Verlobte? ’ Das ist tatsächlich die Replik des Bruders. Diese Stelle ist eigentümlich, da hier mit drei Personen zugleich operiert wird; in der Regel sind es nur zwei. 3. Eine dritte Technik ist die Identifizierung des oder der Sprechenden durch die Benennung des Angesprochenen. Im Allgemeinen gibt es nur zwei Personen in einem Dialog, es sollte also klar sein, dass der Sprechende jeweils der ist, der nicht mit Namen genannt wird. Am Anfang von Elverskud wird von Herrn Oluf und dem Elfenmädchen (Zwergin) gesprochen. Da die Replik lautet, ‘Hört Ihr, froher Herr Oluf’, liegt auf der Hand, dass nicht er es ist, sondern das Elfenmädchen, das spricht. 4. Wenn zwei Personen in einer Szene auftreten und eine Frage gestellt oder eine Anrede formuliert wird, worauf eine Antwort erfolgt, so wird davon ausgegangen, dass die zwei Anwesenden je eine Replik übernehmen. ‘So sind alle meine Zugbrücken so rot’ - das ist die Anrede. ‘Behalt du selbst all dein Gold so rot’: das ist die Antwort auf die Anrede. Diese vier Techniken sind die häufigsten und klarsten: 1. Das Inquit bezeichnet die Sprechenden, 2. die Sprechenden werden in der vorgängigen Strophe (in seltenen Fällen: zwei oder drei Strophen zuvor) genannt, 3. die Identität des oder der Sprechenden geht aus dem der Namen des oder der Angesprochenen hervor, 4. die Sprechenden können über Fragen oder Antworten identifiziert werden. Doch gibt es Fälle, in denen die genannten Verfahren nicht eingesetzt werden. Es kommt vor, dass eine Replik keine der vier genannten Markierungen aufweist und dass der oder die Sprechende nur aus dem Zusammenhang erschlossen werden kann. So sagt die Braut in Strophe 28: ‘Warum wohl läuten alle Glocken so? Ich weiss nicht, dass hier jemand krank war’. Die Antwort in Strophe 29 muss über den Sprechkontext Herrn Olufs Familie zugerechnet werden: ‘Es ist so Sitte hier in diesem Land zu läuten für seinen Lilienstrauß.’ Hier gibt es keine Markierungen, nur der Inhalt der Replik bietet den Schlüssel zur Identifizierung. Diese Strophe lasen die Studierenden falsch. Die Mehrstimmigkeit der Balladen 147 Es gibt, wie erwähnt, auch Ausnahmen von der Grundregel, dass Repliken Personalpronomen der Ersten oder Zweiten Person aufweisen. Dies betrifft die schon genannte Strophe 29 in Elverskud, doch auch die Strophen 40-42, in denen Mutter und Bruder beide über Oluf sprechen, ihn aber nicht ansprechen. Zum Ausgleich wird die Replik der Mutter mit einem klaren Inquit angekündigt: ‘Das antwortete Herrn Olufs Mutter’. Die nachstehende Antwort der Braut muss man aus dem Zusammenhang erschließen. Zu diesen Identifikationsverhältnissen kann noch die Beobachtung hinzugefügt werden, dass die Erzählerstimme für gewöhnlich die Ballade einleitet und beschließt. Wenn eine Dialogstimme diese Funktionen übernimmt, identifiziert sie sich selbst als Replik durch den Gebrauch der Ersten oder Zweiten Person: ‘Wir waren so viele kleine Geschwister’, ‘Ich war so ein kleines Mädchen’, ‘Ich bitte Euch, all meine Männer’. In Terningsspillet wird ferner mit der Replik eingeleitet: ‘Hör Du, guter Jüngling’. Wenn eine Dialogstimme eine Ballade beschließt, so markiert sie sich deutlich als Replik durch Anrede und Verwendung der Zweiten Person, z. B.: ‘Hab Dank, junger Herr Villum, dass Du den Tod Deines lieben Vaters rächtest.’ Allgemein wird angenommen (auch ich bin in meiner Literaturgeschichte 2 davon ausgegangen), dass die Erzählerstimme den Refrain spricht. Diese These möchte ich für den Moment beibehalten; die Erzählerstimme sollte sich also vom Refrain, der in jeder Strophe wiederholt wird, klar unterscheiden lassen. Die Schlussfolgerung des Abschnitts zur Hör-Identifikation einer Ballade ist, dass rein auditiv dafür gesorgt wird, dass die verschiedenen Stimmen einer Ballade auseinandergehalten werden können, die Erzählerstimme von den Dialogstimmen und die Dialogstimmen untereinander. Visuelle -Identifizierung -in -den -verschrifteten -Balladen Die adeligen Liedersammler des 16. und 17. Jahrhunderts markierten die einzelnen Repliken bei der Balladenniederschrift nicht. In seinem gedruckten Hundredvisebog (1591, ‘Hundertliederbuch’) betont Anders Sørensen Vedel lange Pausen mit einem Punkt, mittlere Pausen mit Semikolon und nachfolgendem Großbuchstaben und kleine Pausen mit einem Schrägstrich. Repliken nehmen keine Sonderstellung in diesem System ein. Der gelesenen Ballade des 16. und 17. Jahrhunderts standen also keine anderen Mittel der Stimmidentifizierung zur Verfügung als der gehörten Ballade. Anders sieht es mit der von Svend Grundtvig begonnenen wissenschaftlichen Balladenausgabe Danmarks gamle Folkeviser (DgF) aus. Hier werden die Repliken mit Doppelpunkt und Anführungszeichen gekennzeichnet. Außerdem finden sich Frage- und Ausrufezeichen. Die Ausgaben, die der modernen Balladenlektüre zu- 2 Dahlerup, Pil: Dansk litteratur. Bd. 2. Middelalder. Verdslig litteratur. København: Gyldendal 1998. Pil Dahlerup 148 grundeliegen, differenzieren also Dialog- und Erzählerstimme mit Doppelpunkt und Anführungsstrichen und unterscheiden innerhalb der Dialogstimmen vermittels An- und Ausführungszeichen. Diese Editionen können ferner Fragen und Ausrufe per Interpunktion kenntlich machen und den Refrain durch Kursivierung hervorheben. Hinzu kommen schließlich noch Titelgebung und Strophennummerierung (das hatte allerdings auch Vedel schon eingeführt). Die Einführung der genannten Zeichen kann im Gegenzug Deutungsunterschiede enthüllen. Der Refrain in Elverskud, ‘Was hilft es, wenn wir uns fürchten? ’, kann mit Punkt, Ausrufezeichen und prinzipiell auch Fragezeichen versehen werden. Jedes einzelne dieser Zeichen indiziert eine bestimmte Interpretation. Die Studierenden meines literaturgeschichtlichen Seminars hatten alle diese schriftlichen Markierungen zur Verfügung. Dennoch haben sie die Stimmen missgedeutet. Körperliche -Identifizierung Die ‘Hörballade’, von der ich oben gesprochen habe, ist im Grunde genommen eine Abstraktion. Analytisch-theoretisch lässt sie sich gut verwenden, in der Praxis wird diese Konstruktion jedoch problematisch, da ja alles Gehörte notwendigerweise mit der physischen Gestalt der Darbietung zusammenhängt. In den allermeisten Fällen konnten die Zuhörer des Mittelalters, wie wir annehmen, die Vorführenden sehen und hören, es bestand also die Möglichkeit zur körperlichen Identifizierung der einzelnen Balladenstimmen zusätzlich zur (selbstverständlich ebenfalls körperlichen! ) Hör-Erkennung. Allgemein nimmt man an, dass dabei der Vorsingende die eigentliche Erzählung sang, während die Zuhörer den Refrain übernahmen. Wenn dies richtig ist, so hatte der Vorsingende die Möglichkeit, die Differenzen zwischen Erzähl- und Dialogstimmen zu verkörpern. Hinzu kommt das interessante Phänomen, dass bei einer solchen Aufführung die Performance von der Erzählerzur Hörerstimme übergeht. Wenn wir davon ausgehen, dass es Aufgabe des Vortragenden war, den Unterschied zwischen Erzähl- und Dialogstimmen zu verkörpern, dann kann dies nur vermittels Tonfall, Mimik und Gestik geschehen sein. Auch der Tanz kann möglicherweise zur visuellen Identifizierung der Stimmen beigetragen haben. Wir wissen nichts über die konkreten Verhältnisse, können aber annehmen, dass der oder die Vorsingende die Differenz mit Hilfe aller genannten Mittel markiert hat, und dass er oder sie auch innerhalb der Dialogstimmen zu unterscheiden vermochte. Z.B. ist es sicher denkbar, dass Tonfall, Mimik und Gestik etwa zwischen männlichen und weiblichen, älteren und jüngeren Replikstimmen differenzierten. In meiner Literaturgeschichte habe ich auch darauf hingewiesen, dass die Vorsingenden womöglich durch Richtungswechsel der Tanzbewegung jeden Replikstimmenwechsel begleitet haben. 3 3 Dahlerup, Dansk litteratur 2, 1998, S. 119. Die Mehrstimmigkeit der Balladen 149 Meines Erachtens ist dieses gesamte Unterscheidungsrepertoire von einigen Vorsingenden verwendet worden, von anderen nicht. Ich bin jedoch fest davon überzeugt, dass die Balladen bereits als reine Texte so durchgestaltet sind, dass sie ein geübtes Publikum ohne weitere visuelle, körperliche Hilfsmittel zu verstehen vermag. Wenn Studierende eines Literaturseminars die Dialogwechsel nicht unmittelbar registrieren können, so hängt dies meiner Meinung nach primär damit zusammen, dass sie keine Übung im Hören von Balladen haben. Meine Untersuchung der Mehrstimmigkeit der Ballade ist für mich also eine Bestätigung der durchgängigen Hörqualität des Genres. Die -Semantik -der -Dreistimmigkeit Die Mehrstimmigkeit der Balladen kann auch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden, nämlich unter dem Gesichtspunkt prinzipieller Dreistimmigkeit. Die Einbeziehung körperlicher Aspekte verweist auf eine oft übersehene Problematik: Die Erzählerstimme der aufgeführten Tanzweise wird in zwei Verkörperungen aufgespalten, und zwar in die der Erzählung und die des Refrains. Da der Erzähler schon im Vornherein auf allen Ebenen - der akustischen, der schriftlichen und der körperlichen - von den Dialogstimmen unterschieden ist, kann man grundsätzlich mit drei verschiedenen Balladenstimmen mit einer je eigenen Semantik rechnen. Ich möchte jede dieser Stimmen charakterisieren. Die -narrative -Stimme Die Erzählerstimme hat zur Aufgabe, die Erzählung selbst zu vermitteln, d. h. die narrative Entfaltung eines Motivs zu leisten. Die Erzählung ist narrativ fortschreitend und erzählt immer etwas Neues; ihre Zielsetzung ist es, eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Schluss darzubieten. Das Motiv in Elverskud lässt sich als Begegnung eines Menschen mit einem Naturwesen bestimmen. Die narrative Entfaltung dieser Begegnung gestaltet die Erzählerstimme folgendermaßen: Ein Ritter reitet aus, um zu seiner Hochzeit einzuladen. Er trifft eine Elfenfrau, die ihn zum Tanz auffordert und ihm einen tödlichen Schlag versetzt. Als er heimkehrt, lässt er einen Priester holen. Die Familie versucht, den Todesfall bis zur Hochzeitsnacht geheimzuhalten, in der ein Bruder an Olufs Stelle tritt. Ein Knappe enthüllt die Wahrheit, Olufs Braut und Mutter sterben aus Gram. Diese konzentrierte Narration findet man, wenn man die Repliken der Ballade auslässt und nur der Erzählerstimme folgt. Die -dramatische -Stimme Die dramatische Stimme übernimmt alle Repliken einer Ballade, in Elverskud beispielsweise: Pil Dahlerup 150 ‘Hört Ihr, froher Herr Oluf, wohin verlangt es Euch jetzt zu reiten? ’ ‘Ich will unter die Insel reiten und mit meiner Verlobten sprechen.’ ‘Herr Oluf, erlaubt mir das wohl: so reiche Gaben gebe ich Euch dann.’ Die semantische Aufgabe der dramatischen Stimme ist die Vertiefung der Erzählerstimme. Das Erzählende wird verzögert, die Konflikte und die psychologischen Beweggründe, die vom Erzählanfang bis zum Schluss führen, werden eingeschoben. In meiner Literaturgeschichte habe ich gezeigt, dass das Balladenkorpus über einige feste Dialogtypen verfügt, in denen sich sozusagen verschiedene Ausprägungen menschlicher Konflikte versammeln. 4 Diese Typen wiederholen sich von Ballade zu Ballade, ihre Ausgestaltung ist jedoch unterschiedlich und zeigt stark verkürzt den psychischen Kern der Handelnden. Lange schon vor Herman Bang in Dänemark und Ernest Hemingway auf internationaler Ebene entfalteten die Balladen eine Dialogkunst, in der jede einzelne Person sich selbst ohne Hilfe von Erzählkommentaren und -bewertungen charakterisierte. In Elverskud finden sich die folgenden Dialogtypen. Die Elfenfrau und Oluf repräsentieren den Dialogtyp ‘Einladung und Ablehnung der Einladung’. Die Gestaltung dieses Typus in Elverskud zeichnet sich dadurch aus, dass die Einladung lang ist, die Ablehnung kurz; für gewöhnlich wird jedes einzelne Glied einer Einladung wiederholt und abgelehnt. Der Dialog zwischen der Elfenfrau und Oluf zeigt das komplizierte Machtverhältnis zwischen den beiden. Sie zählt eine reiche Gabe nach der anderen auf, doch scheinen die vielen Angebote sich selbst zu dezimieren: Sie inszeniert gleichsam einen ‘Ausverkauf’ ihrer Angebote. Oluf hingegen beweist seine Stärke durch eine einzige Ablehnung: ‘Behalt du selbst all dein Gold so rot: ich will heim zu meiner Verlobten’. Mehr sagt er übrigens nicht im Verlauf der gesamten 17 Strophen, die von ihm und der Elfenfrau handeln (die Erzählstrophen miteingerechnet). Diese Szene führt vor, dass die Elfenfrau Oluf zwar vernichten kann, jedoch keine Macht über seinen Geist hat, der felsenfeste Treue beweist. Der Dialog zwischen der Mutter und Oluf gehört zum Typus ‘Was ist los mit Dir? ’ mit den dazugehörigen Antworten. Auch hier wird der feste Dialogtyp zur Selbstcharakterisierung der Dialogteilnehmer verwendet. Die Mutter empfängt Oluf am Burgtor und fragt, weshalb er so ‘sorgend heimreite’. Olufs Antwort ist pragmatisch, ihre Kürze - ‘Nimm mein Pferd und hol einen Priester’ - gibt klar zu erkennen, dass Oluf von seinem nahen Tod überzeugt ist. Die Replik der Mutter hingegen ist typisch mütterlich aufmunternd und beschwichtigend. Ferner hat der Verfasser dafür gesorgt, ihre Replik in sentenzartiger Form auszuführen, so dass der mütterliche Optimismus mit allgemeiner Erfahrung untermauert wird: es gibt ja viele, die 4 Dahlerup, Dansk litteratur 2, 1998, S. 117. Die Mehrstimmigkeit der Balladen 151 an ihrer Krankheit nicht sterben. Die Replik des Bruders aber ist pragmatisch wie diejenige Olufs: ‘Wem gibst Du Deine Verlobte? ’, und Oluf antwortet: ‘Allen meinen sieben Brüdern’. Der nächste längere Dialog, der die Strophen 26-42 umfasst, gehört zum Typus ‘Ablehnende Antwort auf eindringliche Frage’. In diesem Dialog charakterisiert sich die Braut selbst als die Empfindsame und Ängstliche, die bemerkt hat, dass etwas nicht in Ordnung ist. Die Brüder und die Mutter wiederum artikulieren sich mit massivem Hinters-Licht-Führen und Ausweichen. Der Erzähler gibt keine Erklärung für diese Haltung, Zuhörer und Leser müssen deren Taktik selbst aus dem Zusammenhang herausfinden: Sie haben vor, einen von Olufs Brüdern mit der nichtsahnenden Braut ins Hochzeitsbett zu schicken. Weshalb sie der Braut nicht offen und ehrlich die Wahrheit von Olufs Tod berichten, erwähnt der Erzähler nicht. Doch ist es wohl so, dass hier mehr die Sippeninteressen als die Sorge um die Braut eine Rolle spielen. Auch bleibt die Frage offen, ob Oluf selbst sich durch das Überantworten seiner Sache an die Brüder an diesem Plan beteiligt. Den nächsten Dialogtypus habe ich in meiner Literaturgeschichte nicht erwähnt; eine adäquate Beschreibung wäre ‘Der Schwächste der Hierarchie sagt die Wahrheit’; dies ist oft ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen. Die Braut charakterisiert sich in ihrer Antwort als Mensch mit dem gleichen hohen Treuegefühl wie Oluf. Wie er das Elfenmädchen abweist, so weist sie einen brüderlichen Ersatz für Oluf ab. Die dramatische Stimme, die aus einem Chor von Stimmen zusammengesetzt ist, trägt folglich den Konflikt der Ballade. Zugleich zeigt sie, dass der Konflikt in der Ballade in den allermeisten Fällen psychologischer Natur ist. Die Balladentradition lässt den Konflikt entstehen, weil Menschen in typischen Situationen unterschiedlich reagieren. Die -lyrische -Stimme Die lyrische Stimme unterbricht die narrative und die dramatische Stimme nach jeder einzelnen Strophe und behält auch das letzte Wort der Ballade. Die Unterbrechung kann als lyrisch bezeichnet werden, weil sie keine zeitliche Entwicklung darstellt und keinen Anteil am Konflikt hat. Sie ist ein unveränderlicher Kommentar in der Gegenwart über die dramatischen und narrativen Elemente der Ballade. Wenn man die Aufführungspraxis in Betracht zieht, so war es das Kollektiv, das durch den wiederholten Refrain seine Reaktion auf das Erzählte artikulierte. Diese Reaktion kann sehr unterschiedlicher Art sein, in DgF 47 A lautet der Refrain etwa: ‘Was hilft es, wenn wir trauern’. Man kann sagen, dass dieser Refrain die tragische Komponente in der Erzählung von Oluf andeutet. Durch den Gebrauch des Wortes ‘wir’ identifiziert sich die lyrische Stimme mit der Erzählung und entnimmt ihr eine Art Resignation. Was nützt es zu klagen? Pil Dahlerup 152 Man kann die Dreistimmigkeit der Ballade folgendermaßen zusammenfassen: Ein spezieller Zug des Balladengenres liegt in der Verwendung von sowohl narrativen wie dramatischen und lyrischen Elementen innerhalb ein und desselben kurzen Textes. Dieses Zusammenspiel macht die Eigenart der einzelnen Ballade aus und ermöglicht den Vergleich mit weiteren Versionen der gleichen Ballade und zwischen dieser Ballade und anderen Balladen. Zusammenfassend lässt sich von der Version A von Elverskud sagen, dass sie das Motiv der Begegnung zwischen Mensch und Naturwesen dergestalt ausführt, dass zwischen den beiden eine Art Gleichgewicht der Kräfte herrscht. Das Naturwesen kann den Menschen töten, hat aber keine Macht über dessen Geist. In Harpens kraft (‘Die Kraft der Harfe’, DgF 40) hingegen besiegt der Mensch das Naturwesen, in Hr. Bøsmer i elverhjem (‘Herr Bøsmer in der Elfenwelt’, DgF 45) verhält es sich umgekehrt. Die dramatische Stimme vertieft den Hintergrund dieses Handlungsverlaufs, in Version A von Elverskud sind die zwei Liebenden sich unverrückbar treu, alle Versuchung und Überredung prallt an ihnen ab. Oluf lässt sich nicht von der Elfin verzaubern, die Braut sich nicht von der Sippe überreden. In den Nebenrollen, wie der der Mutter, des Bruders und des Jungen, können die Nuancen dieses Verführungsspiels abgelesen werden. Das Zusammenspiel der drei Hauptstimmen in Elverskud kann als Miteinander dreier autonomer Stimmen beschrieben werden. Damit meine ich, dass die drei Stimmen einander ergänzen, zugleich aber selbständig bleiben. Im Abschnitt über die Ästhetik der Ballade werde ich auf die Problematik des Zusammenspiels zurückkommen. Mehrstimmigkeit -und -Transmission Die Frage stellt sich, wie stabil die Mehrstimmigkeit in Relation mit verschiedenen Transmissionsmustern ist. Quantitative -Transmissionsaspekte Lassen Sie mich zuerst die Transmissionsvorgänge von einer Version zur nächsten betrachten. Hinsichtlich meiner kleinen Textauswahl habe ich mich entschieden, jeweils die A-Version mit der letztgenannten Version jeder einzelnen Balladenüberlieferung zu vergleichen. Als Ergebnis zeigte sich, dass von A zu X (als X bezeichne ich die letztgenannte Version der Überlieferungskette) fünf Versionen mehr Dialogstimmen als Version A aufweisen, 12 weniger als A, 9 die Stimmenanzahl beibehalten. (Es handelt sich zusammengenommen um 26 Balladen, dass es nicht 30 sind, hängt damit zusammen, dass einige Texte meiner Auswahl nur mit einer Version aufgeführt sind.) Ausgehend von dieser Stichprobe lässt sich also nicht sagen, die quantitative Mehrstimmigkeit sei besonders stabil. Die dreistimmige Stabilität, d. h. die Verteilung auf eine narrative, eine dramatische und eine lyrische Stimme, ist demgegen- Die Mehrstimmigkeit der Balladen 153 über relativ stabil. Keine der untersuchten Balladen hat die Erzählerstimme verloren, eine verlor die dramatische, keine verlor die lyrische Stimme. In Bezug auf Elverskud stellt sich der Sachverhalt folgendermaßen dar: Uns liegen auf Dänisch sieben Versionen der Ballade vor, Lied A in Karen Brahes Folio, Lied B in Peder Syvs Abschrift, der Rest aus dem 19. Jahrhundert. Von Version A bis G stellt sich die Transmission so dar, dass die Dialogstimmen von sieben auf zwei Stimmen reduziert wurden. In den Zwischenversionen ist ihre Anzahl fünf, sieben, vier und vier. In einem Fall kommt es zu sieben Stimmen, weil das Elfenmädchen durch drei Elfinnen ersetzt wurde, die je eine Replik haben. Von dieser Ausnahme abgesehen, ist die Anzahl von Dialogstimmen also fallend. Zeitaspekte -der -Transmission Man kann grundsätzlich davon ausgehen, dass die A-Version älter als die zuletzt aufgeführte Version ist. Es gibt diesbezüglich jedoch wesentliche Ausnahmen. Die Marsk-Stig-Lieder sind hierfür ein deutliches Beispiel: Die überwiegende Forschungsmeinung, der ich mich anschließe, geht davon aus, dass die A-Version jünger ist als die Versionen CDE und F. Wenn die Grundannahme jedoch stimmt, so zeigt mein Material, dass die Anzahl der Dialogstimmen in vielen Fällen von der ältesten zur jüngsten Version abnimmt (nämlich bei zwölf von 26 Versionen). In den sehr markanten Fällen ist der Zeitfaktor evident. Ridder Stigs bryllup (‘Ritter Stigs Hochzeit’, DgF 76) hat sechs Dialogstimmen in der A-Version in Christense Juels Handschrift und null Dialogstimmen in der L-Version von 1847. Moderen under mulde (‘Die Mutter unter der Erde’, DgF 89) hat in der A-Version in Karen Brahes Folio sechs Dialogstimmen, in der O-Version von 1843 nur zwei. Doch gibt es in meinem Material auch deutliche Beispiele für die Beibehaltung der Dialogstimmenanzahl (neun von 26). In zwei Beispielen hat sich die Anzahl bis ins 19. Jahrhundert gehalten, nämlich in Agnete og havmanden (‘Agnete und der Wassermann’, DgF 38) und Terningsspillet (‘Das Würfelspiel’, DgF 238). In beiden Fällen ist die Anzahl der Replikstimmen jedoch gering (drei resp. zwei). Mitunter steigt die Anzahl der Dialogstimmen während der Transmission. Auffällig ist dieses Phänomen etwa in Svend af Vollerslev (‘Sven von Vollerslev’, DgF 298). Hier hat die A-Version in der Handschrift von Magdalena Barnewitz vier Dialogstimmen, die Q-Version in Tragica nicht weniger als zehn. In der Ballade Ebbe Skammelsen (DgF 354) steigt die Anzahl von 6 in Sten (Jens) Billes Version auf 8 in Tragica. In diesen Fällen läuft die Überlieferung schriftlich. Auch Anders Sørensen Vedel scheint Zunahmen aufzuweisen. Nur in einem Beispiel gibt es Zunahmen von der A-Version hin zu einer Version des 19. Jahrhunderts, nämlich in Harpens kraft (DgF 40), wo (so eine Deutung) einigen hinzugedichteten Klosterleuten eine Replik zugeschrieben wird. Etwas Gesichertes kann freilich erst nach umfangreicheren Untersuchungen gesagt werden, doch nehme ich an, dass im Großteil der Balladen die Zahl der Dialogstimmen mit der Zeit dezimiert wird. Pil Dahlerup 154 Transmission -von -Bedeutung Soviel zu Quantitäts- und Zeitaspekten der Mehrstimmigkeit. Man kann zusätzlich fragen, wie es mit der semantischen Stabilität bestellt ist. Ich werde hier das Augenmerk auf die narrative, dramatische und lyrische Stimme legen. Mit der Semantik der Mehrstimmigkeit sieht es in Bezug auf Elverskud wie folgt aus. Die narrative Stimme behält durch alle Versionen hindurch die Fähigkeit, den einfachsten Kern der Geschichte festzuhalten: Der Ritter trifft das Elfenmädchen, lehnt ihr Angebot ab und wird getötet. Alle Versionen halten auch daran fest, dass die Hochzeit bevorsteht und dass die Braut stirbt. Abgesehen von Version G wird in allen Varianten der Tod des Ritters durch einen anderen Repräsentanten seiner Familie vor der Braut verborgen. Die Zahl der Todesfälle (neben dem Tod des Ritters und der Braut) ist steigend, von Version B an stirbt auch die Mutter. In G auch noch Olufs Hund. Man kann also festhalten, dass die narrative Stimme sich hält; abgesehen von G wird ungefähr das gleiche Grundmuster erzählt. Doch mit der dramatischen Stimme verhält es sich anders. Sie ist großen semantischen Verlusten unterworfen. Zunächst einmal geht die Wahrheitsstimme des Jungen und mitunter auch der Bruder verloren. Viel wichtiger aber ist der Umstand, dass im Vergleich mit A in allen anderen Versionen die Dramatik und die Psychologie eingebüßt werden. Olavs uneingeschränkte Ablehnung des Elfenmädchens wird in B, D und G abgemildert zu: ‘Ich wage nicht und ich darf nicht’, in C darüberhinaus: ‘Ja, gerne möchte ich, wenn ich nur könnte’. Der unrealistische Optimismus der Mutter verschwindet ganz; sie übernimmt den Pragmatismus des Bruders. Außer A ist in allen Versionen das Gespräch zwischen Braut und Familie abgeschwächt, nur in A findet sich die Ablehnung der Braut, zwei Brüdern die Treue zu geloben. Die lyrische Stimme verändert ab der B-Version den Refrain zu Variationen des Satzes ‘Und der Tanz geht so leicht durch den Hain’. Eine lyrische Stimme von anderer Qualität als in Version A, aber eine sehr schöne und semantisch bedeutungsvolle Stimme, die andeutet, dass sich der lockende Elfentanz auch trotz der erzählten Tragödie noch ungestört fortsetzt. Die lyrische Stimme kann also sowohl stabil wie auch labil sein. Meine These ist, dass eben diese Beschreibung für die Balladentransmission typisch ist, und dass der semantische Verlust auch in anderen Balladen sich um die dramatische Stimme herum konzentriert. Die Labilität der lyrischen Stimme berührt weder das Narrative noch das Dramatische, kann jedoch unterschiedliche Reaktionen auf diese durchspielen. Mehrstimmigkeit -und -Ästhetik Ich habe bisher einige der semantischen Perspektiven der Mehrstimmigkeit angeführt und möchte nun zu den ästhetischen Aspekten übergehen. Von diesen gibt es eine ganze Reihe. Die Mehrstimmigkeit der Balladen 155 Zuerst möchte ich schlussfolgern, dass die Qualität einer Ballade in hohem Grade von ihrem Umgang mit der Mehrstimmigkeit abhängt. Bei der A-Version von Elverskud lässt sich dies auf zwei Ebenen beobachten. Eine große Anzahl von Dialogstimmen ist noch nicht gleichbedeutend mit einem Gütesiegel, doch da, wo eine hohe Anzahl von Replikstimmen zur Konstituierung psychologischer Komplexität sowohl der Hauptwie der Nebenrollen verwandt wird, da ist sie ein Qualitätszeichen. Ferner hängt die Qualität einer Ballade meiner Ansicht nach in hohem Grad von der Ausbalancierung der Dreistimmigkeit zwischen Zusammenspiel und Autonomie ab. Damit meine ich ein Zusammenspiel zwischen einer narrativen, einer dramatischen und einer lyrischen Stimme, welches gleichzeitig das unabhängige Funktionieren des narrativen, dramatischen und lyrischen Aufgabenbereichs zulässt. Wo dieses Gleichgewicht eintritt, entstehen bedeutungsgesättigte ‘Löcher’ zwischen den Stimmen, die der Ballade ihre verdichtete und zugleich offene Bedeutung verleihen. Die Ballade verliert an Qualität, wann immer die Erzählerstimme andere Aufgaben als das streng voranschreitende Erzählen zugeteilt bekommt. Wenn die Erzählerstimme auch noch wertet, kommentiert, auslegt, kritisiert oder dankt, dann greift sie in die Souveränität der dramatischen Stimme ein und zerstört die Intensität der Ballade. Dies ist die häufigste Änderung der Regeln des Zusammenspiels. Ein gutes Beispiel hierfür ist Ebbe Skammelsen (DgF 354). Die A-Version in Sten (Jens) Billes Handschrift ist ein vornehmes Lied, welches sich die Mehrstimmigkeit u. a. quantitativ und semantisch zunutze macht. Die sechs verschiedenen Dialogstimmen sind allesamt Träger großangelegter Dramatik und Psychologie. Die H-Version in Tragica (1657) weitet die Ballade auf 71 Strophen aus (gegenüber 36 Strophen in Version A); die Erweiterung betrifft sowohl die Erzählerals auch die Dialogstimmen, deren Zahl von sechs auf acht vergrößert wird. Eine große semantische Änderung wurde vorgenommen, indem die Erzählerstimme die Deutungsarbeit der Replikstimmen übertragen bekommt. Typisch ist Strophe 56: ‘Es war Ebbe Skammelsøn, er wurde bei diesen Worten wütend; er wurde in seinem Sinn so zornig, dass er mit dem Fuß auf die Erde stampfte’. Hier hat die dramatische Stimme durch die Auslegung der Erzählerstimme an Intensität verloren. In Version A geht aus den Replikstimmen und nicht aus der Erzählerstimme hervor, in welchem Sinneszustand Ebbe sich befindet. Ich weiß, dass die folgende Feststellung kontrovers ist, doch möchte ich davon ausgehen, dass die Ausweitung der Erzählerstimme das Werk der Renaissanceschreiber war. In meiner Literaturgeschichte habe ich einige Argumente dafür aufgezählt. 5 Hier möchte ich vor dem Hintergrund meiner Lektüren von Texten des 16. Jahrhunderts hinzufügen, dass kommentierende, erklärende, auslegende, allegorisierende Zusätze auch in anderen Genres Charakteristika der Wiederverwendung von mittelalterlichen Texten im 16. Jahrhundert sind. Das Rævebog (Reinecke Fuchs) ist ein gutes Beispiel hierfür. In der humanistischen und protestantischen Bearbeitung 5 Dahlerup, Dansk litteratur 2, 1998, S. 156. Pil Dahlerup 156 aus dem 16. Jahrhundert (auf Deutsch und Dänisch verbreitet) findet sich in diesem Buch mehr Kommentar als eigentliche Erzählung. Noch eine andere ästhetische Schlussfolgerung möchte ich aus meiner Beschäftigung mit der Mehrstimmigkeit ziehen. Meine Auffassung von der Ballade als einem höchst kunstfertigen Genre hat sich noch bestärkt. Die Dialogkunst, die ich hier nachzeichnen konnte, beweist meines Erachtens das künstlerisch hohe Niveau der Gattung. Sie relativiert auch die vielen noch heute existierenden Darstellungen der Ballade als einfacher, populärer Textsorte. Mein Standpunkt ist, dass weder die Gattung noch ihre Rezipienten ‘einfach’ gewesen sind. Die Arbeit mit der Mehrstimmigkeit hat die künstlerische Leistung der Hör-Ballade hervorgehoben. Ich habe gezeigt, dass die Gattung über sehr präzise Signale zur Unterscheidung der verschiedenen Stimmen verfügt. Für mich beweist dies, dass die Kunst der Ballade im Idealfall von hochkompetenten Künstlern ausgeübt wurde. Eine geglückte Rezeption wiederum setzte ein im Empfangen dieser Signale der Mehrstimmigkeit geübtes Publikum voraus. Diese Signale können von einem modernen Publikum nur nach einem ebenso eingehenden Lesetraining richtig rezipiert werden. Das führt mich zum nächsten Hauptaspekt, dass nämlich auch die Botschaft der Ballade eine ästhetische ist. Die narrative und die dramatische Stimme einer Ballade wie DgF 47 A haben keine andere Aufgabe, als zu erzählen und zu dramatisieren. In ästhetischem Verstand sind dies ‘uninteressierte’ Mitteilungen. Der Vertrag zwischen der narrativen und der dramatischen Balladenstimme und ihren Zuhörern ist ästhetisch im Gegensatz zu jenen altenglischen Texten, mit denen etwa Ursula Schaefer gearbeitet hat. Die erzählende Stimme in Elverskud, Version A, erzählt. Die dramatische Stimme dramatisiert. Erst die lyrische Stimme, die als Stimme des Empfängers verstanden werden kann, teilt eine Reaktion mit, in Version A nämlich: ‘Was hilft es, wenn wir trauern? ’, in den anderen Versionen: ‘Doch der Tanz geht so leicht durch den Hain’. Meine zentrale Auffassung ist, dass die Eigenart des Balladengenres zum großen Teil in dem verblüffenden Mut liegt, in einem mittelalterlichen Kontext rein ästhetisch zu sein, wo doch so viele andere Kunstformen primär religiös und damit botschaftstragend sind. Übersetzung: Barbara Sabel Bucher Literaturverzeichnis Dahlerup, Pil: Dansk litteratur. Bd. 2. Middelalder. Verdslig litteratur. Kopenhagen: Gyldendal 1998. Die Mehrstimmigkeit der Balladen 157 Anhang: -Elveskud -(DgF -47 -A) A. (Karen Brahes Foliohaandskrift, Nr. 75) 1. Her Olleff rydder om votte, menn lysenn dag ham tøgtte. Huad hielper thett, wy quider! 2. Her Oluff rider frem att bierigitt, der gick en dantz med duerige. 3. Der thrad enn iumfru aff denn danntzs, hun lagde synn arum om her Olleffs halsz. 4. „Hør y, her Olleff hynd blyde, huortt løster y nu at ridde? “ 5. „Ieg well ride meg vnder ø och thalle med myn festemøø.“ 6. Denn iumfru reker haand fraa seg: „Alt skal y først, her Oluff, dantz huosz meg. 7. Her Olluff, well y luoffue meg: saa rige gaffue daa giffuer ieg eder. 8. Ieg well eder giffue en ganger graa: hand gaar en thyme till Rum och fraa. 9. Denn ganger graa skall y well faa, och saadell aff guld, att legge der-paa. 10. Ieg giffuer eder en bryne ny: y thør aldrig fraa nogenn mand fly. 11. Ieg gyffuer eder saa gatt ett suerd, thett kaam alldrig sligtt y herre-faar. 12. Och slig er alle myn benke: som guld wor lagtt y lenker. 13. Slig er alle mynne wyenebro: som guld skeener offuer edders hiender thuo.“ 14. „Beholtt thu selleff alt thit guld saa rød: ieg well hiem til myn feste-møø.“ 15. Saa sluo hun her Oleff wed huiden kiend: blod spranck offuer hans skaarlagen-skyend. 16. Hun sluo hanom emelom haare, thett hand fald neder til iorde. 17. „Sttatt op, her Oluff, och rid thu hiem: thu skalt icke løffue dag for-vden ien.“ 18. Her Oluff hand wende syn ganger om-krinng, alt saa muodig rie hand hiem. 19. Tther hand kaam till borge-led, hans kerre moder stuod der-wed. 20. „Hør du, her Oluff, kerre sønne myn: huy rider thu sørgendis hiem? “ 21. „Mynn kerr moder, y thager myn hest, myn kerre broder, dw hientte meg prest.“ 22. „Tthi quer, her Oluff, du syg icke saa: saa mangen bliffuer siug, dy dørr ike aff. 23. Syg meg, her Olleff, vnder ø: huem giffuer du dyn feste-møø? “ 24. „I staar op, alle myne brøder VII, och rider ymod myn vnge brud. 25. Hør y thett, myn rigge muoffue: y thagger imod myn stalltte iumfru.“ 26. Der dy kaam for-offuen by, alle gyk kloker, som dy war ny. 27. Tthett melltte brudenn y same stund, hyndis hiartte thett war aff sorigen tuong: 28. „Huy mone alle dy kloker saa gaa? ieg weed her ingenn, der siug luo.“ 29. „Tthett er saa sieed paa thette her lannd: att ringe imod syn lily-wand. 30. Thett er saa sied paa denne ø: att ringe imod syn feste-møø.“ 31. Saa førrde dy brudenn y gaarde: alle gred fruer saa saare. 32. Thett melltte bruden aff stuor nød, hun war seg aff hiartett saa wee: 33. „Huy mone alle dese fruer saa gredde, ther meg skuld well om-lede? “ Pil Dahlerup 158 34. Der war slett ingen, som der war huosz, der tuorde suare den brud ett ord. 35. Tthi fulde brudenn y saallitt ind med sorig-fuld hiartt och rosens-kiend. 36. Thy saatt brudenn paa brude-benk, for gick rider, thy bar hynder skiennk. 37. Tthett meltte brudenn offuer buorde, hun thalde ett sorig-fuldtt ordde: 38. „Ieg sier her rider gaa vd och ind, ieg sier ike her Oleff, kerre herre myn.“ 39. Tthett suaritt her Olluffs moder, hun war sorig och muode: 40. „Buode med høg och saa med hund daa er her Oluff y rosens-lund.“ 41. „Haffuer hand nu kierer synn høgg och syn hund, ind hand haffuer synn vnge brud? 42. Wel hand helder ride med raker och thuo, ind hand well sedde med hans brud y stuoffue? “ 43. Syldyg om affttenn, røg fald o: daa skulde denn brud tilsenge gaa. 44. Thy thennde op dy brude-bluss, saa fulde thi bruden til brude-huss. 45. Tthy fuld brudenn till brudeseng, efter gaar her Olleffs lidenn smaa-dreng. 46. „Y lader eder myndis, her Oluffs møø: myn herre hand leger paa baaren dø. 47. Mynn herre hand leger y loffttet lyg, nu skall y hans broder eders thro bortt-giffue.“ 48. „Rett aldrig skallt du den dag løffue: ieg skall thuo brødere myn thro bortt-giffue.“ 49. Saa bad hun alle thi fruer, thett hun matte ligett skuoffue. 50. Thi støtt op den hyffueloffts-dør: dy hyffue ruo thi stuod der-for. 51. Staltt Ingelild lebb til dy hyffue ruo: thi huide lyn hun der-aff sluo. 52. Hun meldit ligitt saa leste: sa saare hindis hiartee thett røste. 53. Hun myndytt lygitt saa offuer-bratt: hindis hiartte thett sønder y støker bratt. 54. Thett wor stuor ynk at sie den nø: den iumfru mon aff sorigenn døø. Huad hielper thett, wy kuyder! Die Mehrstimmigkeit der Balladen 159 Anhang: - Elfenschuss (Übersetzung) 1. Herr Oluf reitet in der Dämmerung, aber es schien ihm lichter Tag zu sein. Was hilft es, wenn wir uns fürchten! 2. Herr Oluf reitet zum Berg, dort ging ein Zwergentanz. 3. Es trat eine Jungfrau aus dem Tanz heraus, sie legte ihren Arm um Herrn Olufs Hals. 4. „Hört Ihr, froher Herr Oluf, wohin verlangt es Euch jetzt zu reiten? “ 5. „Ich will unter die Insel reiten und mit meiner Verlobten sprechen.“ 6. Die Jungfrau streckt eine Hand aus: „Doch zuerst sollt Ihr, Herr Oluf, mit mir tanzen. 7. Herr Oluf, erlaubt mir das wohl: so reiche Gaben gebe ich Euch dann. 8. Ich werde Euch ein graues Pferd geben: er geht in einer Stunde nach Rom und zurück. 9. Dieses graue Pferd sollt Ihr wohl bekommen, und einen Sattel aus Gold, um ihn draufzulegen. 10. Ich gebe Euch eine neue Brünne: Ihr braucht nie vor irgend einem Mann zu fliehen. 11. Ich gebe Euch ein so gutes Schwert, wie noch nie eines in Herren Besitz kam. 12. Und so sind alle meine Bänke: als ob Gold zu Ketten geschmiedet wäre. 13. So sind alle meine Fensterrahmen [? ], wie wenn Gold von Euren beiden Händen scheint.“ 14. „Behalt du selbst all dein Gold so rot: ich will heim zu meiner Verlobten.“ 15. Da schlug sie Herrn Oluf auf die weiße Wange: Blut spritzte über seinen Scharlachmantel. 16. Sie schlug ihn auf den Kopf, so dass er auf die Erde niederfiel. 17. „Steh auf, Herr Oluf, und reite du heim: du sollst keinen Tag mehr leben außer einem.“ 18. Herr Oluf, er wendete sein Pferd herum, so schwermütig ritt er heim. 19. Als er zum Burgtor kam, stand dort seine liebe Mutter. 20. „Hör du, Herr Oluf, mein lieber Sohn: wieso reitest du sorgend heim? “ 21. „Meine liebe Mutter, nehmt Ihr mein Pferd, mein lieber Bruder, hole du den Pfarrer.“ 22. „Schweig still, Herr Oluf, sag das nicht: so mancher wird krank, sie sterben nicht davon.“ 23. „Sag mir, Herr Oluf, unter der Insel: wem gibst du deine Verlobte? “ 24. „Steht auf, alle meine sieben Brüder, und reitet meiner jungen Braut entgegen. 25. Hört Ihr das, mein mächtiger Schwager, Ihr empfängt meine stolze Jungfrau.“ 26. Als sie zur Stadt kamen, läuten alle Glocken, als ob sie neu gewesen wären. 27. Es sprach die Braut in derselben Stunde, ihr Herz, das war vor Sorgen schwer: 28. „Warum wohl läuten alle Glocken so? Ich weiß nicht, dass hier jemand krank war.“ 29. „Es ist so Sitte hier in diesem Land: zu läuten für seinen Lilienstrauß. 30. Es ist so Sitte auf dieser Insel: zu läuten für seine Verlobte.“ Pil Dahlerup 160 31. Dann führten sie die Braut in den Hof: alle Frauen weinten so sehr. 32. Es sprach die Braut aus großer Not, ihr war im Herzen so weh: 33. „Warum weinen wohl alle diese Frauen, die mich gut leiten sollten? “ 34. Es war gar niemand, der dabei war, der sich traute, der Braut ein Wort zu antworten. 35. Sie geleiteten die Braut in den Saal hinein mit sorgenvollem Herzen und Rosenwange. 36. Sie setzten die Braut auf die Brautbank, es traten Ritter herzu, sie brachten ihr einen Trunk. 37. Es sprach die Braut über den Tisch, sie sprach ein sorgenvolles Wort: 38. „Ich sehe hier Ritter ein- und aus gehen, ich sehe nicht Herrn Oluf, meinen lieben Herrn.“ 39. Es antwortete Herr Olufs Mutter, sie war besorgt und schwermütig: 40. „Sowohl mit dem Falken als auch mit dem Hund ist Herr Oluf im Rosenhain.“ 41. Hat er nun seinen Falken und seinen Hund lieber, als er seine junge Braut hat? 42. Will er lieber mit Hunden reiten, als dass er mit seiner Braut in der Stube sitzen will? 43. Spät am Abend, die Dämmerung kam auf [? ]), da sollte die Braut zu Bett gehen. 44. Sie zündeten die Brautfackeln an, sie geleiteten die Braut zum Brauthaus. 45. Sie geleiteten die Brau zum Brautbett, hinterher geht Herr Olufs kleiner Knappe. 46. „Ihr lasst Euch daran erinnern, Herr Olufs Jungfrau: mein Herr liegt tot auf der Bahre. 47. Mein Herr liegt als Leiche im Obergeschoss, nun sollt Ihr seinem Bruder euer Wort geben.“ 48. „Niemals wirst du diesen Tag erleben: dass ich zwei Brüdern mein Wort gebe.“ 49. Dann bat sie alle Frauen, dass sie die Leiche sehen durfte. 50. Sie stießen die Tür zum Obergeschoss auf: die Bahre stand schon dort. 51. Stolz Ingelild lief zur Bahre: das weiße Leinen riss sie weg. 52. Sie küsste die so versehrte Leiche, so sehr zitterte ihr Herz. 53. Sie küsste die Leiche so heftig: ihr Herz, das zerbrach in Stücke. 54. Es war ein großer Jammer, die Not zu sehen die Jungfrau wird aus Sorge sterben. Was hilft es, wenn wir uns fürchten! Übersetzung: Barbara Sabel Bucher Prosopopoiia -und -Patriarchat. Eine -ideologiekritische -Lektüre -der -Ballade - De -två -systrarna T HOMAS S EILER , Z ÜRICH Es besteht in der neueren skandinavischen Balladen-Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass Balladen in erster Linie als ‘folkesang’ zu untersuchen sind. Programmatisch forderte dies der Däne Iørn Piø bereits 1985 in seinem Buch Nye veje til Folkevisen. Auch die Untersuchungen Holzapfels und Jonssons gehen von dieser Prämisse aus. Balladen wurden gesungen und allenfalls von einer Minderheit, die dazu fähig war, gelesen. Damit rückt das Phänomen der Oralität in den Vordergrund, das im Anschluss an Überlegungen Ursula Schaefers besser als Vokalität zu bezeichnen ist. Dieser Begriff trägt dem Umstand Rechnung, dass die Kommunikation bei Balladen vor allem über die menschliche Stimme erfolgt und dass diese Vermittlung vor dem Hintergrund eines starren Gegensatzes von Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit nicht angemessen verstanden werden kann. Das Aufzeichnen von ‘folkeviser’ setzte schon relativ früh ein, ohne dass das mündliche Tradieren deswegen ein Ende gefunden hätte. Schaefer unterscheidet deshalb zwischen den Begriffen ‘Text’ und ‘Äußerung’ (énonciation). Während der Text als schriftlich Fixiertes abgeschlossen ist und ohne situative Einbindung, ohne den Kontext, verstanden werden kann, gilt das für die vokal vermittelte Äußerung gerade nicht. Ihre Bedeutung hängt wesentlich vom außersprachlichen Kontext, „von der situationellen Eingebundenheit des Diskurses“ 1 ab. Nach Schaefer funktionieren Texte semiotisch gesehen anders als Äußerungen, und sie werden auch anders rezipiert. Im Vergleich mit mündlichen Diskursen verhalten sich Texte der Welt gegenüber autonomer. Mündliche Diskurse (Äußerungen) sind zur Vervollständigung der Sinnbildung auf die außersprachliche Umwelt angewiesen. Für die Forschung ergibt sich daraus die Konsequenz, vermehrt auch die rezeptionsästhetische Seite zu berücksichtigen. 2 Bei der Textlektüre hängt das Verständnis des Rezipienten in viel stärkerem Maße von der Syntagmatik der Zeichen ab als in der Vokalität. Hier ist die Semantik in das Außersprachliche verlagert. 3 Ich bin der Ansicht, dass einige zentrale Erkenntnisse Schaefers für die Balladenforschung fruchtbar gemacht werden können. Auch Balladen lassen sich als Äußerungen verstehen, insofern es sich bei ihnen um vokal vermittelte Texte handelt, die nur vor dem Hintergrund eines allen gemeinsamen kulturellen Wissens verständlich sind. Sie brauchen die außersprachliche Umwelt zur 1 Schaefer, Ursula: Vokalität - Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. ScriptOralia 39. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1992, S. 50. 2 Vgl. Schaefer, Vokalität, S. 54-58. 3 Vgl. Schaefer, Vokalität, S. 57-58. Thomas Seiler 162 Vervollständigung ihrer Bedeutung. Der hörende Rezipient wird Bedeutung mit Hilfe seines kulturellen Wissens herstellen oder - wie Ursula Schaefer es formuliert - die Bedeutung liegt für ihn in der Welt und nicht im Text. 4 Das heißt, dass beim Balladenstudium die kommunikative Situation ebensowenig vernachläßigt werden darf wie der Kontext. So ist der singende Vortrag mit ein Grund für die zum Teil hohe Anzahl Varianten ein und derselben Ballade wie auch für die sogenannten Wanderstrophen, Strophen, die in verschiedenen Balladen vorkommen. Auch das Formelhafte darf als Indiz von Mündlichkeit angesehen werden, das nicht nur der leichteren Memorierung dient, sondern auch Gemeinschaft stiftet, indem Formeln Deborah Tannen zufolge als „convenient way to signal knowledge that is already shared“ 5 angesehen werden können. Ausgehend von der Unterscheidung ‘Text’ vs. ‘Äußerung’ möchte ich in diesem Beitrag anhand der Ballade De två systrarna der Frage nachgehen, was das für ein kulturelles Wissen ist, „that is already shared“. Auf welche Bilder des kulturellen Gedächtnisses stützt sich die Ballade? Bei meiner Analyse greife ich auf Erkenntnisse der feministischen Literaturwissenschaft zurück und versuche, diese mit kulturtheoretischen Fragestellungen zu verbinden. Ich gehe demnach davon aus, dass ein Balladentext etwas bedeutet und dass zu dieser Bedeutung auch etwas gesagt werden kann. Meine These: Die Ballade De två systrarna, im Mammutwerk Danmarks gamle Folkeviser (DgF) als Den talende Strengeleg bekannt, sagt als Äußerung etwas anderes denn als Text. Als Äußerung betrachtet verfolgt sie im Grunde eine erzieherische Absicht, indem sie vor den Gefahren einer frevelhaften Tat warnt. Sie zeigt, dass die Wahrheit letztlich doch in ihr Recht versetzt wird, sich demnach Unrecht nicht lohnt. Als Text betrachtet und damit von der manifesten Äußerung verdeckt, exponiert sie einen patriarchalen Schöpfermythos, der auf die Überwindung des Weiblichen in der männlichen Kunstproduktion abzielt. Nicht ein naturmythisches Weltbild wird in der Ballade gestaltet, dies die traditionelle Charakterisierung dieses Balladentyps, sondern kulturell konstruierte Bilder, denen eine patriarchale Ideologie zugrunde liegt. Diese Ideologie wird jedoch erst bei einer sorgfältigen Analyse der Tiefenstruktur des Textes sichtbar. Die Oberflächenstruktur bietet ein naturalisiertes Bild und stellt überdies einen recht einfachen Konflikt zwischen Gut und Böse ins Zentrum. Während die Oberfläche an die Enonciation gebunden ist, gehört die Tiefenstruktur zur Textebene. Diese Analyse basiert auf den schriftlich fixierten Balladenvarianten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Inwieweit diese mit den oral vermittelten Strophen früherer Jahrhunderte übereinstimmen, können wir in diesem Fall nicht wissen, weil 4 Schaefer, Vokalität, S. 55-56: „Vielmehr soll deutlich werden, daß in der Vokalität und durch sie der semiotische Bezug zur unmittelbaren außersprachlichen Welt - ob man dies intendiert oder nicht - immer gegeben ist. Mehr noch: diese vokalen poetischen Diskurse haben für den hörenden Rezipienten Bedeutung, weil - als énonciations sich gebend - ihre Bedeutung in der Welt und nicht im Text liegt.“ 5 Zit. nach Schaefer, Vokalität, S. 74. Prosopopoiia und Patriarchat 163 es keine früheren Textfassungen gibt. Der Zuhörer wird nur wenig von dem mitbekommen, was ich aus dem Text herauslesen will. Denn nur die Ebene der Enonciation ist dem Verständnis unmittelbar zugänglich. Die Textebene jedoch, die sich aufgrund ihrer Komplexität der hörenden Rezeption verschließt, kann sich nur bei sorgfältiger Analyse erschließen. Erst die schriftliche Fixierung vokal vermittelter Strophen erlaubt es dem Rezipienten, mittels Analyse ein bestimmtes Weltbild als kulturell konstruiertes lesbar zu machen und es nicht als natürliches aufzufassen. Das ist die ideologiekritische Seite meiner Lektüre, der folgende Fassung zugrundeliegt: Där bodde en bonde vid sjöastrand. - Det blåser kallt kallt väder ifrån sjön. Å tvenne döttrar hade han. - Det blåser kallt kallt väder ifrån sjön. Den ena var vit som den klaraste sol Den andra var svart som den svartaste jord. Den äldsta hon talte till syster sin så Kom skola vi neder till sjöstranden gå Å tvättar du dig både nätter å dar Slätt aldrig du bliver så viter som jag När de stodo på sjöastrand Så stötte den äldsta sin syster å strand Käraste syster ack hjälp mig i land Å dig vill jag giva mitt röda gullband Ditt röda gullband det får jag nog ändå Men aldrig ska du på Guds gröna jord mer gå Käraste syster ack hjälp mig i land Å dig vill jag giva min gullkrona grann Din gullkrona grann den får jag nog ändå Men aldrig ska du på Guds gröna jord mer gå O käraste syster ack hjälp mig i land Å dig vill jag giva min fästeman Din fästeman den får jag nog ändå Men aldrig ska du på Guds gröna jord mer gå Thomas Seiler 164 Där bodde en speleman invid en strand Han såg utåt viken var liket det sam Så tog han den jungfruns snövita bröst Den harpan ska klinga med ljuvelig röst Så tog han den jungfruns guldgula hår Han gjorde på harpan små stränger därå Så första sång som från harpan ljöd Den bruden hon satt uti brudstol å log Å andra slag som från harpan rann Så klädde de av den bruden så grann Å tredje slag som från harpan ljöd Den jungfrun hon satt uti brudstolen död 6 [Es wohnte ein Bauer am Meeresstrand - Ein kalter, kalter Wind weht vom Meer. Zwei Töchter er sein eigen nannt’. - Ein kalter, kalter Wind weht vom Meer. Die eine glänzte wie Sonnenschein, die andere war schwarz wie der Erde Gestein. Die Älteste sprach zu der andern: „Komm, lass hinab zum Strand uns wandern.“ „Du kannst dich waschen tagaus und tagein, doch niemals wirst du so weiß wie ich sein.“ Und als sie am Meeresstrand ruhten, stieß sie ihre Schwester in die Fluten. „Liebste Schwester, ach, hilf mir an Land, ich geb’ dir mein rotes Goldband.“ „Auch so wird dein rotes Goldband mein, doch auf Gottes Erden sollst nie mehr du sein.“ 6 Vgl. Sveriges Medeltida Ballader 1. Naturmytiska visor. Utg. av svensk visarkiv. Stockholm: Almqvist and Wiksell International 1983, Nr. 13, TSB A 38, S. 117-118. Prosopopoiia und Patriarchat 165 „Ach Schwester, hilf aus den Fluten mir, meine rote Goldkrone gebe ich dir.“ „Auch so wir deine Goldkrone mein, doch auf Gottes Erden sollst nie mehr du sein.“ „Ach liebste Schwester, hilf mir an Land, ich gebe dir auch meines Bräutigams Hand.“ „Und ich helfe dir nicht wieder an Land, bekomme auch so des Bräutigams Hand.“ Es wohnte ein Spielmann am Küstenbogen, er sah die Leiche in den Wogen. Der Jungfrau schneeweiße Brust er nahm, der Harfe gab er so lieblichen Klang. Und aus der Jungfrau goldenem Haar, machte er Saiten wunderbar. Beim ersten Lied, das die Harfe machte, die Braut im Brautstuhl saß und lachte. Der zweite Schlag von der Harfe ertönte, da entkleidete man die Braut, die schöne. Und als zum dritten Mal die Harfe geworben, die Jungfrau war im Brautstuhl gestorben.] 7 De två systrarna gehört nach der Klassifizierung Jonssons dem Typus ‘Ballads of the supernatural’ an. 8 Sie ist in unzähligen Varianten im ganzen Norden bekannt. Die Musik spielt in dieser Ballade eine große Rolle, ihr wird eine magische Wirkung zugestanden. Mein Interesse gilt dem Komplex „Harfe, Tod, Wahrheit, Frau, Mann“. Was bedeutet es, so könnte man sich fragen, wenn Harfenklänge Tote wieder lebendig machen, was bedeutet diese Kraft der Harfe? Wie soll man das Bild lesen, insbesondere wenn wir wissen, dass die Harfe aus einem Frauenkörper gemacht ist? Weshalb wird die Wahrheit nicht mit der Sprache mitgeteilt, sondern in einem anderen 7 Dt. Übersetzung aus: Skandinavische Balladen des Mittelalters. Ausgewählt, übertragen und erläutert von Ina-Maria Greverus, Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft. Skandinavische Literatur 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1963, S. 50-51. (Die Übersetzung wurde an die Textvorlage angepasst.) 8 Jonsson, Bengt R., Svale Solheim und Eva Danielson (ed.): The Types of the Scandinavian Medieval Ballad. A descriptive catalogue, Oslo etc.: Universitetsforlaget 1978. Thomas Seiler 166 Zeichensysten? Wir können unter dem Hinweis auf das ‘Übernatürliche’ diese Frage abtun. Verstanden ist damit freilich noch nichts. Die Auseinandersetzung der beiden Schwestern, der Mord und die Harfenklänge, die Schwarz zu Fall bringen und so Gerechtigkeit herstellen, sind Elemente, die in allen Varianten vorkommen. Das gilt auch für den Tod von Weiß, der ein neues Zeichensystem ins Spiel bringt, die Musik, deren magische Wirkung ein Topos abendländischen Denkens ist, zu denken ist hierbei etwa an den Orpheus-Mythos. Der Zuhörer einer solchen Ballade wird sich aufgrund seines kulturellen Wissens etwa Folgendes zusammenreimen: Er wird merken, dass der Refrain „det blåser kallt kallt väder ifrån sjön“ („Ein kalter, kalter Wind weht vom Meer“) Unheil verkündet, und er wird die Farbe „schwarz“ mit moralischer Verderbtheit konnotieren, „weiß“ hingegen mit Unschuld und Reinheit. Der Text spricht das aus, wenn davon die Rede ist, dass die eine „vit som den klaraste sol“ (eigentlich „weiß wie der hellste Sonnenschein“), die andere hingegen „svart som den svartaste jord“ (eigentlich „schwarz wie die schwärzeste Erde“) sei. Diese Schilderung der beiden Schwestern kann auch in der Vokalität aufgrund ihrer Formelhaftigkeit problemlos nachvollzogen werden. Der hörende Rezipient merkt, dass ein Konflikt geschildert wird zwischen guten und bösen Kräften, wobei das Gute schließlich kraft der Magie in sein Recht versetzt wird. Es mag sich dahinter eine pädagogische Absicht verbergen, schließlich sollen Balladen sowohl „gavne“ (nützen) als auch „fornøje“ (vergnügen), wie Anders Sørensen Vedel im Vorwort seiner 1591 herausgegebenen Liedersammlung vermerkte. 9 Nützen kann diese Ballade dann, wenn es gelingt, mit einem prägnanten Bild, das zur Stützung des Gedächtnisses dient, den Zuhörer zu überzeugen, dass sich moralisch verwerfliches Handeln nicht auszahlt. So betrachtet hätte das Übernatürliche eine klare erzieherische Funktion. Will man nun auf der Textebene die verborgenen kulturellen Bilder lesbar machen, stellt sich der Sachverhalt komplizierter dar, weil man nach der Bedeutung der einzelnen Textelemente fragen muss. Man wird dann beispielsweise die „sprechende Harfe“ nicht einfach als übernatürliches Phänomen ansehen können, sondern nach deren textuellen Funktion fragen. Daran anschließen werden sich Fragen, wie sie auf der vorhergehenden Seite formuliert wurden. Als rhetorische Figur verstanden handelt es sich bei der ‘sprechenden Harfe’ um eine Variante der Prosopopoiia, eine Figur, durch die Toten oder Abwesenden in deren fiktiver Rede eine Stimme und ein Gesicht gegeben wird. Das Charakteristische dieser Figur ist, dass sie eine gleichzeitige Ab- und Anwesenheit inszeniert. Weiß ist nicht eigentlich tot, sondern spricht durch die Harfenklänge. In unserer Ballade handelt es sich zunächst nur um Harfenklänge, jedoch werden diese aufs engste mit der Stimme der Toten verknüpft, ja diese spricht durch die Harfe. Dieser Gedanke drängt sich aufgrund einiger Varianten geradezu auf, wenn wir an die minutiöse Schilderung des Harfenbaus aus den verschiedenen Körperteilen der Leiche denken: Das Brustbein dient als Korpus, die 9 Zitiert nach Solberg, Olav: „Disse gamle Poetiske Dict“ - Den nordiske balladen i litteraturhistoria og som emne for tekstforskning. In: Edda 3 (1993), S. 196. Prosopopoiia und Patriarchat 167 Haare werden zu Saiten, die Fingerknochen dienen als Saitenwirbel. Dreierlei ist hier bemerkenswert: 1. Der Tod von Weiß wird nicht akzeptiert, sondern als rhetorische Figur bleibt Weiß in der Schwebe; sie wird als lebendig-tot imaginiert. Das „Klingen“ deutet auf Leben eher als auf Tod hin. 2. Der Tod bildet die Scharnierstelle, an der ein anderes Medium als die Sprache - nämlich die Musik - wichtig wird; daraus folgt: 3. Die Wahrheit wird nicht mittels der Sprache in ihr Recht versetzt, sondern mittels Tönen. Es ist verblüffend, wie tief diese Konzeption bereits in einem romantischen Weltbild verankert ist. Denn seit der Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich ein Wandel in der Musikauffassung feststellen, der sich in einer radikalen Subjektivierung ausdrückt. 10 Nicht mehr ist es die Musik, die etwas ausdrücken soll, sondern diese drückt sich selbst aus. „Daß sich ein individuelles Ich in der Musik auszudrücken vermag, ist das neue musikalische Grunderlebnis des Jahrhunderts“, stellt Eggebrecht fest. 11 Musik wird jetzt nicht mehr im Bezugsfeld der Sprache definiert, sondern sie gilt als der Sprache überlegen, und zwar insofern, als sie näher beim paradiesischen Ursprung des Menschen ist. Sie ist wahrhaftig und wird zur Sprache des Herzens stilisiert. Die Vorstellung von der Musik als Zauberkraft, deren Wirkung die Menschen sich nicht entziehen können, ist dann eine vollends romantische. Von der Klassik zur Romantik ist ein eigentlicher Paradigmenwechsel in Bezug auf die Prävalenz der Sinne festzustellen. Das Ohr läuft dem Auge den Rang ab. Es gilt als der Eingang zur Seele. Dabei geht es - wie Göttert gezeigt hat - nicht um eine Umkehrung der Hierarchie von Auge und Ohr, sondern um etwas Grundsätzlicheres: Töne und Gebärden sind nicht mehr bloße Repräsentanten eines ‘eigentlich’ Gemeinten (mit der Funktion der Verstärkung), sondern dieses ‘eigentlich’ Gemeinte selbst löst sich auf, um nur noch als Ausdruck wirklich existent zu sein. 12 Das heißt aber auch, dass es um die Aufdeckung eines sonst nicht zugänglichen Innern geht. Die Musik leistet damit etwas, was der Sprache versagt bleibt: Sie drückt das Innere eines Menschen unvermittelt aus, während das die Sprache nur immer vermittelt leisten kann. In unserem Beispiel ist es die Funktion der Harfenklänge, das Innere von Weiß auszudrücken. Zu der romantischen Vorstellung von der Musik als Sprache des Herzens gehört auch der Aspekt der Wahrheit: als Herzenssprache ist sie wahr, im Gegensatz zur Sprache, die als Instrument der Verschleierung, der Verstellung aufgefasst wird. Semantisch präzise kann deshalb nur der Ton und nicht das Wort sein. Mendelssohn-Bartholdy hat über seine Klavierstücke mit dem bezeichnenden Titel Lieder ohne Worte folgendes gesagt: 10 Vgl. hierzu Müller, Ruth: Erzählte Töne - Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert. Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 30. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1989, insbes. S. 11-21. 11 Zit. nach Müller, Erzählte Töne, S. 11. 12 Göttert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 383. Thomas Seiler 168 Das was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte. […] Und habe ich bei dem einen oder andern [Lied ohne Worte] ein bestimmtes Wort, oder bestimmte Worte im Sinne gehabt, so mag ich die doch keinem Menschen aussprechen, weil das Wort dem einen nicht heißt, was es dem andern heißt, weil nur das Lied dem einen dasselbe sagen, dasselbe Gefühl in ihm erwecken kann, wie im andern, - ein Gefühl das sich aber nicht durch dieselben Worte spricht. 13 Wenn nun im Balladentext die Wahrheit einem anderen Medium als der Sprache anvertraut wird, so ist das eminent romantisch gedacht. Musik, die Töne, der Klang stehen jenseits des trügerischen Zeichencharakters der Sprache. Sie ist überdies weiblich konnotiert und befindet sich - als unverdorbene Volksmusik - im Einklang mit der Natur. Wir stoßen auf eine nahe Verwandtschaft zwischen Weiß und der Harfe, nicht nur deshalb, weil die Harfe aus dem weiblichen Körper gemacht ist, sondern vor allem deshalb, weil ja auch Weiß rein, unschuldig, paradiesisch ist. Weiß und Harfe stehen damit in einem Gegensatz zur symbolischen (patriarchalisch geprägten) Ordnung. Sie repräsentieren etwas anderes. Weiß ist in keiner Weise ‘lifelike’. Sie hat zentrale Erfahrungen wie Sexualität und Mutterschaft noch nicht gemacht, befindet sich insofern noch außerhalb der männlich geprägten symbolischen Ordnung. Die Frau, die von der Macht und der Sprache ausgeschlossen ist, kann nach Kristeva 14 auf zwei verschiedene Arten reagieren. Entweder stellt sie eine Art von Negativität oder Irritationsmoment im Verhältnis zur Macht dar, oder sie identifiziert sich mit ihr. Das macht die ältere Schwester. Sie identifiziert sich mit der männlichen Ordnung, die auf dem Konkurrenzprinzip aufgebaut ist. Simone de Beauvoir hat festgestellt, dass die männliche Transzendenz der Natur symbolisiert sei durch die Fähigkeit des Jagens und Tötens, gleich wie die Identifizierung des Weiblichen mit der Natur, ihre Rolle als Symbol der Immanenz ausgedrückt sei im Geburtsprozess, der den Fortbestand der Gattung garantiere. Dergestalt sei Autorität und Superiorität nicht verknüpft mit dem lebensspendenden Element, sondern mit demjenigen, das tötet. Die Verstrickung in patriarchale Verhaltensmuster zeigt Schwarz durch ihren Mord. Sie stößt Weiß ins Wasser und damit in das Element, das traditionellerweise dem Weiblichen zugeordnet wird. Das Fließende bildet den Gegenpol zum starren Land, das mit dem Maskulinen konnotiert ist. Funktion der Kunst ist es, das Verdrängte, das was umgebracht wurde, aufzunehmen. Gleichzeitig damit entsteht ein Irritationsmoment, das zu ihrem Wesen gehört. Der Harfenklang als das Semiotische verstört die symbolische Ordnung, die auf männlichen Prämissen fußt. Das Semiotische tendiert sogar dazu, die symbolische Ordnung zu zerstören. Dass die ältere Schwester stirbt, findet hierin seinen Grund. Sie stirbt nicht in erster Linie deshalb, weil das Unrecht bestraft werden soll, sondern weil sie ihr eigenes weibliches Element verdrängt hat und weil das Unter- 13 Zit. nach Feldbæk, Ole (red.): Dansk identitetshistorie 3, København: Reitzels Forlag 1992, S. 232. 14 Vgl. Kristeva, Julia: Produktivität der Frau, Interview mit Eliane Boucquey. In: Alternative 108/ 109 (1976), S. 168. Prosopopoiia und Patriarchat 169 drückte (das Semiotische) siegen soll, wenn schon nicht im Leben, dann wenigstens in der Kunst. Dergestalt steht der Klang der Harfe in Opposition zur männlichen Ordnung und das ist auch der Grund, warum die Kunst einen weiblichen Charakter bekommt. „Als Gegensatz zur Vernunft fungieren die Kunst und die Weiblichkeit als Substitute des ‘Anderen’“, wie Weigel sich ausdrückt. 15 Das wiederum könnte auch eine Erklärung für die enge Verbindung von Weiblichkeit und Klang sein, dessen Materialität letztendlich ein Frauenkörper ausmacht. Dieser Befund passt in existierende Vorstellungsmuster, bei denen das Musikalische stets in Verbindung mit dem Weiblichen gedacht wird. Das gilt für die dämonische Dimension der Musik, wenn wir an die Sirenen denken wie auch für ihre Bestimmung als Sprache der Gefühle und der Empfindungen, ein wirkmächtiger Topos schon des 18. Jahrhunderts. 16 Der Spielmann stellt die abgestürzte Ordnung wieder her, hebt den durch den Mord verursachten Transmissionsbruch auf und garantiert das Weiterleben von Weiß in der Erinnerung. Auf subtile Weise macht die Ballade auf die Materie als Trägerin des Gedächtnisses aufmerksam. Auf einem tieferliegenden Niveau deutet das auch auf die männliche Empfindung eines Mangels hin, der in der Kunstproduktion aufgehoben werden soll. Der Tod von Weiß wird - ähnlich übrigens wie bei Andersens Schwefelholz- Mädchen - nicht ertragen. Doch während bei Andersen der Erfrierungstod, christlich gewendet, Sinn macht, hat er in der Ballade nichts zu bedeuten, sondern nur eine Funktion zu erfüllen. Der Tod bringt den Spielmann und die Musik ins Spiel. Freud hat bekanntlich den Tod und das Weib als die zwei großen Rätsel unserer Kultur betrachtet. Beide sind für das patriarchale Streben, die Natur zu transzendieren, bedrohend. Sie können durch Kunstproduktion überwunden werden, insofern als das der Zeit enthobene Kunstwerk den biologischen Gegebenheiten entzogen wird. Die dichterische Phantasie hat sich ganz offensichtlich am Bild des toten Frauenkörpers entzündet. Vergleichen wir nämlich einige Varianten untereinander, so fällt auf, dass zum Teil genau beschrieben wird, wie die weibliche Leiche zum Musikinstrument umgestaltet wird. So lesen wir in einer dänischen Variante: Der kom to Spillemænd gaaende frem: de skare af hende hendes Fingre fem. Ja, de skar af det gullokkede Haar: det satte de paa deres Spillebuer. 17 [Es kamen zwei Spielleute gegangen: sie schnitten ihr ihre fünf Finger ab. 15 Weigel, Sigrid: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1990, S. 243. 16 Vgl. Stuby, Anna Maria: Sirenen und ihre Gesänge. Variationen über das Motiv des Textraubs. In: Argument-Sonderband AS 133 (1985), S. 69-87. 17 DgF 95 E, S. 515. Thomas Seiler 170 Ja, sie schnitten ab das goldgelockte Haar: sie verwendeten es für ihre Spielbögen.] In einer anderen Variante heißt es: Der kom to Spillemænd gangende ved Strand: de saae det Lig, var drevet i Land. De tog hendes Fingre og gjorde Legeskruer af: de tog hendes Haar og gjorde Legestrenge af. 18 [Es kamen zwei Spielleute am Strand gegangen: sie sahen die Leiche, die an Land getrieben war. Sie nahmen ihre Finger und machten Stimmwirbel daraus sie nahmen ihr Haar und machten Saiten davon.] Auch der Schluss variiert. In einigen Fassungen wird die Harfe auf Befehl der älteren Schwester zerbrochen und aus dem zerbrochenen Instrument entsteht dann die jüngere Schwester. Dies gilt für alle norwegischen Fassungen. Diese Bild-Konstruktion ist gekoppelt an den Aspekt von Kreativität und Wahrheit. Künstlerisch kreativ zu sein ist ein Prozess, der von Natur zu Kultur verläuft. Insofern die Frau immer mit Natur gleichgesetzt gesetzt worden ist, widerspiegelt der Harfenbau diesen Prozess. Der unter den Bedingungen des Lebens stehende Frauenkörper wird in einen Artefakt umgestaltet, der der Endlichkeit des Lebens nicht mehr unterliegt. Was aber hat nun das Harfenspiel mit dem Untergang des Weiblichen zu tun? Es ist ja so, dass der Tod von Weiß die männliche künstlerische Kreativität erst entzündet. Ja, in gewissem Sinne ließe sich sogar argumentieren, dass wir die Existenz der Ballade dem Tod zu verdanken haben. Das heißt es versteckt sich ein Schöpfer-Mythos, wie in Walter Benjamin in einem seiner Denkbilder entworfen hat, lange Zeit vor der inzwischen berühmt gewordenen Formel des „killing women into art“. Oft hat man sich die Entstehung der großen Werke im Bild der Geburt gedacht. Dieses Bild ist ein dialektisches; es umfaßt den Vorgang nach zwei Seiten. Die eine hat es mit der schöpferischen Empfängnis zu tun und betrifft im Genius das Weibliche. Dieses Weibliche erschöpft sich mit der Vollendung. Es setzt das Werk ins Leben, dann stirbt es ab. Was im Meister mit der vollendeten Schöpfung stirbt, ist dasjenige Teil in ihm, in dem sie empfangen wurde. Nun aber ist diese Vollendung des Werkes - und das führt auf die andere Seite des Vorgangs - nichts Totes. Sie ist nicht von außen erreichbar; Feilen und Bessern erzwingt sie nicht. Sie vollzieht sich im Innern des Werkes selbst. Und auch hier ist von einer Geburt die Rede. Die Schöpfung nämlich gebiert in ihrer Vollendung den Schöpfer neu. Nicht seiner Weiblichkeit nach, in der sie empfangen wurde, sondern an seinem männlichen Element. Beseligt überholt er die Natur: denn dieses Dasein, das er zum ersten Mal aus der dunklen Tiefe des Mutterschosses empfing, wird er nun einem helleren Reiche zu danken haben. Nicht wo er geboren 18 DgF 95 B, S. 513. Prosopopoiia und Patriarchat 171 wurde, ist seine Heimat, sondern er kommt zur Welt, wo seine Heimat ist. Er ist der männliche Erstgeborene des Werkes, das er einstmals empfangen hatte. 19 Folgendes ist an diesem Text bemerkenswert. Benjamin sieht einen Zusammenhang zwischen der künstlerischen Creatio und der Verdrängung des Weiblichen. Das Weibliche geht als Stoff, als Quelle der Inspiration auf im Werk, es erschöpft sich mit dessen Vollendung. In ihrer Vollendung gebiert die Schöpfung den Schöpfer neu und macht ihn gleichsam unsterblich. Im Akt des Kunstschaffens wird dergestalt der biologische Tod aufgehoben. Diese Schöpfung ist dann höher prioritiert als die biologische. Die Ballade zeugt in dieser Optik nicht nur von einer Auseinandersetzung zwischen guten und bösen Kräften, sondern sie symbolisiert auch den künstlerischen Schaffensprozess, so wie ihn eine patriarchalisch geprägte Gesellschaft sich denkt. Kunst ist in dieser Konzeption als Triumph über den Tod gedacht. Der Künstler kommt im Kunstreich noch einmal zur Welt. Es liegt eine tiefe Übereinstimmung mit diesem Schöpfer-Mythos vor, wenn in einigen Varianten die Harfe zerstört wird und aus den Trümmern die weiße Jungfrau aufs Neue geboren wird. Wieder ließe sich dies als männlich geprägte Vorstellung von der Kunst interpretieren. Die Vorstellung nämlich, dass die Kunst über den Tod triumphieren kann. Die vom Mann künstlich geschaffenen Zeichen (die Harfenklänge) überdauern den vom Tod gezeichneten Leib oder heben ihn auf. Die natürliche biologische Erzeugung wird verdrängt und erstattet durch eine männliche Schöpfung, die sich unabhängig von der Natur wähnt, diese aber zur Voraussetzung hat. So ist die Harfe unabhängig von der Natur, aber hat sie zu ihrer Voraussetzung. Benjamin sieht die zwei Pole, die am künstlerischen Prozess beteiligt sind, als dialektisches Verhältnis zwischen Schöpfung und Zerstörung. Wenn Weiß wieder leben darf, Schwarz hingegen stirbt, so ließe sich das als symbolischer Ausdruck dieser Dialektik lesen. Dazu passt auch, dass das Harfenspiel die lebenserfahrene Frau tötet, die reine jüngere Schwester hingegen wieder ins Leben zurückholt. Das Geistige, das gleichsam nicht von dieser Welt ist, darf leben. Auch das ließe sich als Bild des kreativen Prozesses lesen, das Geistige siegt, bzw. das Körperlich-Materielle geht im Geistigen auf. Nun könnte man bei diesen Gedanken einwenden, die künstlerische Creatio würde zu stark betont, da ja das Künstlertum in den Balladen nicht thematisiert werde. Es liegt etwas Wahres in diesem Einwand, spielt doch das Kunstmotiv kaum eine Rolle. In einigen Varianten spielt die Harfe sogar ohne fremdes Dazutun, und sie wird von Fischern und nicht von einem Spielmann gefunden. Doch dieser Kniff macht in meinen Augen die Ballade nur noch subtiler, indem sie so tut, als ob die Kategorie ‘Geschlecht’ keine Rolle spielen würde. Doch schon ein oberflächlicher Blick auf Die beiden Schwestern lehrt einen, wie stereotypisiert diese gezeichnet sind. Der formelhaften Charakterisierung liegen patriarchale Denkmuster zugrunde. Die Frau ist entweder das extrem reine unschuldige Heilige (Maria) oder die unreine, schuldige Verführerin (Eva). Dass die Harfe von alleine spielt, ist als Versuch zu 19 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, IV, 1. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 438. Thomas Seiler 172 sehen, das Männliche als das Normale auszugeben. Aber hinter dem sogenannt Normalen liegt ein Frauenkörper, der das Harfenspiel erst ermöglicht. Dass die Harfe von alleine spielt, kann - und damit komme ich zum letzten Punkt meiner Ausführungen - als Umkehrung des Prozesses von der Natur zu Kultur beschrieben werden. Es findet eine Überführung von Kultur in Natur statt und damit eine Mythisierung im Sinne Roland Barthes. 20 Die von alleine spielende Harfe kann interpretiert werden als der Versuch, die Kategorie ‘Geschlecht’ zu verschleiern im Zusammenhang mit der Entstehung von Kunst. Kunst soll in den Augen des Patriarchats als geschlechtsloses Produkt angesehen werden bzw. der Kategorie Geschlecht enthoben sein oder diese transzendieren. Indem ein scheinbar allgemein menschlicher Konflikt exponiert wird, wird der patriarchale Schöpfer-Mythos verdeckt, der für mich das zentrale Thema der Textebene unserer Ballade ist. Literaturverzeichnis Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981 [1957]. Feldbæk, Ole (red.): Dansk Identitetshistorie 3. København: Reitzels Forlag 1992. Göttert, Karl-Heinz: Geschichte der Stimme. München: Wilhelm Fink Verlag 1998. Holzapfel, Otto: Det balladeske - Fortællemåden i den ældre episke folkevise. Odense: Universitetsforlag 1980. Jonsson, Bengt R., Svale Solheim und Eva Danielson (ed.): The Types of the Scandinavian Medieval Ballad. A descriptive catalogue. Oslo etc.: Universitetsforlag 1978. Kristeva, Julia: Produktivität der Frau, Interview mit Eliane Boucquey. In: Alternative 108/ 109 (1976), S. 166-172. Lubkoll, Christine: Mythos Musik - Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800. Rombach Wissenschaft - Reihe Litterae 32. Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag 1995. Menke, Bettine: Prosopopoiia - Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München: Wilhelm Fink Verlag 2000. Müller, Ruth E.: Erzählte Töne - Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert. Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 30. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1989. Naumann, Barbara (Hg.): Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik - Texte zur musikalischen Poetik um 1800. Stuttgart und Weimar: Metzler Verlag 1994. Piø, Iørn: Nye veje til Folkevisen. København: Gyldendal 1985. Schaefer, Ursula: Vokalität - Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. ScriptOralia 39. Tübingen: Narr Verlag 1992. Solberg, Olav: „Disse gamle Poetiske Dict“ - Den nordiske balladen i litteraturhistoria og som emne for tekstforskning.In: Edda 3 (1993), S. 195-206. Stuby, Anna Maria: Sirenen und ihre Gesänge. Variationen über das Motiv des Textraubs. In: Argument-Sonderband AS 133 (1985), S. 69-87. Weigel, Sigrid: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1990. 20 Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981 [1957]. Erlkönigs -Sohn. - Die -Erlkönig--‐Ballade -als -Deutungsmuster -des Nationalsozialismus -am -Beispiel -von Michel -Tourniers -Roman - Der -Erlkönig S TEFAN H ESPER , B OCHUM Ich habe mir oft die Frage vorgelegt, ob Hitler so etwas wie die Liebe zu Kindern empfunden habe. Immerhin gab er sich Mühe, wenn er mit Kindern, fremden oder ihm bekannten, zusammenkam: er versuchte sogar, ohne daß es ihm je überzeugend gelang, sich auf väterlich-freundliche Art mit ihnen zu beschäftigen. Nie fand er die richtige, vorbehaltlose Art mit ihnen zu verkehren; nach einigen huldreichen Worten wandte er sich bald anderem zu. Er beurteilte Kinder als Nachwuchs, als Repräsentanten der nächsten Generation und konnte sich daher eher an ihrem Aussehen (blond, blauäugig), ihrem Wuchs (kräftig, gesund) oder ihrer Intelligenz (frisch, zupackend) freuen, als an dem kindlichen Wesen. Auf meine eigenen Kinder blieb seine Persönlichkeit ohne Wirkung. 1 Ein Oger kommt an die Macht: So beschreibt Albert Speer, Hitlers Architekt, in seinen erstmals 1969 erschienenen Erinnerungen Aufstieg und Herrschaft Hitlers. Ein Oger, der zugleich Vegetarier und Menschenfresser ist, der Kinder nicht an sich herankommen lässt und sie zugleich zu faszinieren weiß, der seine Mitarbeiter zur Arbeit ebenso verführen wie zwingen kann. Angezogen und angefeuert durch Hitler, dem ich verfallen war, hatte von nun an die Arbeit mich - und ich nicht sie. [...] Heute, in der Rückerinnerung, habe ich mitunter das Gefühl, daß mich damals etwas vom Boden hob, mich von allen Verwurzelungen löste und zahlreichen fremden Kräften unterwarf. 2 Verführung, Faszination, Umkehrung (die Arbeit hat mich und nicht ich sie) und Erhebung: Die Aufeinanderfolge von Erhebung, Loslösung und Unterwerfung beschreibt einen Prozess der Selbstaufgabe und Entleerung. Eine andere Stimme tritt nun an die Stelle des Ichs bei Speer, eine andere Familie bildet nun seinen Lebensmittelpunkt. Doch Speer stellt diesen Einschnitt in seinem Leben nicht unter das Stichwort „Mein Führer“ oder „Der Erlkönig“, sondern nüchtern heißt es: „Mein Katalysator“. 3 Ein Jahr später, 1970 erscheint der Roman Le roi des aulnes von Michel Tournier, der 1972 unter dem Titel Der Erlkönig ins Deutsche übersetzt wird und sowohl in Frankreich als auch in Deutschland eine kontroverse und intensive Debatte auslöst 1 Speer, Albert: Erinnerungen. Frankfurt a. M.: Ullstein; Berlin: Propyläen Verlag 1993, S. 107. 2 Speer, Erinnerungen, S. 45. 3 Speer, Erinnerungen, S. 45. Stefan Hesper 174 über die Darstellung des Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt des Romans steht das Leben des Automechanikers Abel Tiffauges von 1938 bis 1945, sein Leben in Paris als Oger und Pädophiler, seine Einberufung zur französischen Armee, die Gefangennahme durch die Deutsche Wehrmacht im Juni 1940 und vor allem die Zeit als Hilfsarbeiter im Jagdforst von Hermann Göring sowie die Zeit von 1943 bis 1945 in der fiktiven „Napola“ 4 Kaltenborn in Ostpreußen. Abel Tiffauges ist ein französischer Kriegsgefangener, der sich vom Nationalsozialismus faszinieren lässt und hier die Möglichkeit entdeckt, all seine Leidenschaften zu verwirklichen. Ebenso wie Speer erlebt sich Tiffauges gerade in der Zeit in Kaltenborn als lustvoll emporgehoben, deterritorialisiert (entwurzelt) und unterworfen. Er lässt sich verführen und er verführt die Kinder mit List und Gewalt. Der Erlkönig ist dabei für Tiffauges ein Sinnbild, ein Prototyp seiner selbst, wobei er selbst derjenenige ist, der die Kinder im Auftrag eines Erlkönigs zur Napola entführt und sie dort ebenso zärtlich wie rücksichtslos versorgt, sie von den Eltern entführt und zum Bleiben verführt. Er ist nicht nur Beauftragter des Erlkönigs, sondern auch menschenfressender Oger und kindertragender Christophorus, der die Kinder, ähnlich wie Speer es beschreibt, emporhebt, entwurzelt und auf seine Schultern nimmt. Ähnlich wie Speer erlebt auch Tiffauges den Nationalsozialismus als Verkehrung, als bösartige Umkehrung (von nun an hatte die Arbeit mich - und nicht ich sie) des eigenen Selbst und aller Handlungen: Aus der Fähigkeit zum Tragen, der Phorie, wird das ungewollte Getragen-Werden, die Meta-Phorie. Michel Tournier hat einen Roman geschrieben, der eine Fülle von Deutungsmustern für den Nationalsozialismus anbietet rund um die Figur des Erlkönigs, um das Thema Gewalt und Verführung herum. Um die Bedeutung und Reichweite der Transmission des Balladenstoffes einschätzen zu können, soll im Folgenden in mehreren Schritten zum einen das Mythos-Verständnis bei Tournier beschrieben werden sowie das Verhältnis zu den Balladen von Herder und Goethe. Zum anderen soll eine detailliertere Analyse des eigentlichen Erlkönig-Kapitels des Romans („Der Oger von Kaltenborn“) zeigen, in welchen Beziehungen der Erlkönig-Mythos und die Balladentradition zur politischen Wirklichkeit des Nationalsozialismus stehen und wo die Innovation in der Bearbeitung des Erlkönig-Motivs liegt. I. Abel Tiffauges: Das ist der Erlkönig und zugleich die Grundfigur des Mythos. Ich bin ein anderer, eine Rolle, ein Charakter, die es schon einmal gab oder gegeben haben 4 „Napola“ ist die Abkürzung für „Nationalpolitische Erziehungsanstalten“. Im Folgenden wird das Kürzel Napola ohne Anführungsstriche benutzt. Zur Verwendung des Begriffes in dieser Form: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin: Walter de Gruyter 2000, S. 415f. Erlkönigs Sohn 175 soll. In seiner Festrede zu Sigmund Freuds 80. Geburtstag 1936 definiert Thomas Mann den Mythos genau in diesem Sinn als Form der Wiederholung. Das Leben ist tatsächlich eine Mischung von formelhaften und individuellen Elementen, ein Ineinander, bei dem das Individuelle gleichsam nur über das Fomelhaft-Unpersönliche hinausragt. [...] Der Charakter ist eine mythische Rolle, die in der Einfalt illusionärer Einmaligkeit und Originalität gespielt wird, gleichsam nach eigenster Erfindung und auf eigenste Hand [...]. 5 In Anspielung auf sein eigenes Werk und insbesondere im Hinblick auf seinen zeitgleich entstehenden Roman Joseph und seine Brüder betont Mann die Koexistenz von Singularität und Wiederholung. Alexander ging in den Spuren des Miltiades, und von Cäsar waren seine antiken Biographen mit Recht oder Unrecht überzeugt, er wolle den Alexander nachahmen. [...] ‘Ich bin’s.’ Das ist die Formel des Mythos. [...] Das zitathafte Leben, das Leben im Mythos, ist eine Art von Zelebration, insofern es Vergegenwärtigung ist, wird es zur feierlichen Handlung, zum Vollzuge eines Vorgeschriebenen durch einen Zelebranten, zum Begängnis, zum Fest. Ist nicht der Sinn des Festes Wiederkehr als Vergegenwärtigung? 6 Wiederholung geschieht hier in der Form der Nachfolge, der imitatio und der „mythischen Identifikation, des Nachlebens, des In-Spuren-Gehens! “ 7 . Die Wiederholung, das Leben im Zitat ist eine Möglichkeit, sich eine Identität zu geben, bewusst und vor allem, wie Freud beschrieben hat, unbewusst. Mann erkennt also den Mythos in seiner individuellen wie sozialen Funktion an und entwertet ihn nicht durch eine Gegenüberstellung zum wahren Leben. Das Leben im Mythos ist für Mann unabwendbar, es gibt kein Leben ohne Wiederholungen. Was die Psychoanalyse aber lehren kann, der zu Ehren er diesen Vortrag hält, ist ein anderes, ein unfrommes Verhältnis zu diesen Wiederholungen. Die analytische Einsicht ist weltverändernd; ein heiterer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt; ein entlarvender Verdacht, die Verstecktheiten und Machenschaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder daraus verschwinden kann. Er infiltriert das Leben, untergräbt seine rohe Naivität, nimmt ihm das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpathetisierung [...]. 8 Zwei Jahre später, nach der Einnahme Österreichs durch die deutsche Wehrmacht und den Einmarsch Hitlers in Wien im März 1938 muss Freud Wien verlassen. Seine Beschreibungen des Mythos hatten sich nur allzusehr bewahrheitet, nur auf gänzlich unironische Weise. Wie im Anschluss an diese Überlegungen hat der intime Mann-Kenner Michel Tournier den Mythos ebenfalls funktional beschrieben. „Der Mythos ist ein Erzäh- 5 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. Gesammelte Werke in dreizehn Bände, IX. Reden und Aufsätze I. Zweite, durchgesehene Auflage. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1974, S. 494. 6 Mann, Freud und die Zukunft, S. 496f. 7 Mann, Freud und die Zukunft, S. 498. 8 Mann, Freud und die Zukunft, S. 500f. Stefan Hesper 176 lungs-Grundstock. [...] Der Mythos ist eine Geschichte, die jedermann schon kennt.“ 9 Der Mythos ist für ihn eine Art „Grundrauschen“ 10 der Kultur, mit der wir leben, ein kollektives Imaginäres, das aus Sagen, Legenden, Heldengeschichten usw. besteht und an das scheinbar bruchlos angeknüpft werden kann. Tourniers Bemühen geht dahin, mit dieser Mythologie, auch im Sinne von Barthes’ „Mythologies“ literarisch zu arbeiten. „Ein toter Mythos nennt sich Allegorie. Es ist Aufgabe des Schriftstellers, die Mythen daran zu hindern, Allegorien zu werden.“ 11 Tournier ist wie Mann ein Schriftsteller, der mit diesem Grundrauschen der Kultur arbeitet, der weniger erfindet als findet. Nach dem Mythos oder nach mythischen Zügen in einem Leben oder einer politischen Situation zu fragen heißt dann, auf die Wiederholungen, auf die Intertextualität z. B. zu achten, auf Umschreibungen und Neuschreibungen. Tiffauges tritt in die Spuren des Erlkönigs, sowohl des Erlkönigs aus der Ballade von Goethe als auch in die Spuren des aktuellen Erlkönigs Hitler, als dessen Beauftragter er letztlich handelt. Im Hinblick auf Hitler selbst hat der Historiker Ian Kershaw ebenfalls von einem Mythos gesprochen und versucht, diesen funktional zu beschreiben. Der Hitler-Mythos bildete gleichsam das zentrale Triebwerk für die Integration und Legitimierung im NS-Herrschaftssystem. [...] Angesichts der Bindung der Massen an seine Person und damit ans Regime war sich niemand stärker als Hitler persönlich der funktionalen Bedeutung seiner Popularität bewußt. 12 Kershaws Mythos-Begriff zielt auf die Gegenwartsbedeutung der Person Hitlers, auf ihr Marketing im Zusammenhang der politisch-militärischen Aktionen. Er unterscheidet dabei sieben Ebenen dieses Mythos (Personifizierung der Einheit der Nation; Architekt des Wirtschaftswunders; Repräsentant der ‘gesunden’ Gerechtigkeit; personifizierte Aufrichtigkeit; Garant der deutschen Interessen gegenüber dem Ausland; größter militärischer Führer; personifizierter Schutz vor dem Kommunismus), die sich alle dadurch auszeichnen, dass sie Hitlers Gewaltbereitschaft und seinen mörderischen Antisemitismus ausblenden. 13 Der Hitler-Mythos ist in diesem Sinne für Kershaw eine „krasse Umkehrung der Realität“, die sich sowohl bewusster politischer Propaganda und eines modernen Marketing verdankt als auch einer großen, unkritischen (und antisemitischen) Glaubensbereitschaft. 14 Der Mythos-Begriff von Kershaw wäre zu ergänzen durch die Überlegungen von Mann und Tournier: Der Mythos ist nicht nur falsch, sondern auch funktional richtig. Er mobilisiert sowohl die Massen als auch die Eliten, und er neutralisiert die genozidale Seite dieser Politik. Der Mythos ist Projektionsfläche und Schutzschild, Schirm im weiten Sinne, indem er, worauf Mann und Tournier hingewiesen haben, bereits vorhandene Ele- 9 Tournier, Michel: Der Wind Paraklet. Ein autobiographischer Versuch. Hamburg: Hoffmann u. Campe 1979, S. 173f. 10 Tournier, Der Wind Paraklet, S. 177. 11 Tournier, Der Wind Paraklet, S. 188. 12 Kershaw, Ian: Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung. München: dtv 1999, S. 313. 13 Kershaw, Der Hitler-Mythos, S. 308f. 14 Kershaw, Der Hitler-Mythos, S. 309. Erlkönigs Sohn 177 mente der Kultur neu konfiguriert (der strenge, aber gerechte Vater, eine Mischung aus Gerechtigkeit und Gewalt). Der Nazi-Mythos ist, wie jeder Mythos, insgesamt eine Collage aus Zitaten und Diskursen, eine hybride Mischung von Wiederholungen, die durch ihre Kombination neu wirken sollen. Es wäre gefährlich, worauf auch Kershaw achtet, diesen Mythos zu entwerten und lächerlich zu machen, ihn für überholt zu halten, ohne zu wissen, ob er nicht in neuen Konfigurationen wieder auftauchen kann. 15 Was der Mythos ausschließt, sind nicht Rationalität und Logik, sondern Hinweise auf seine eigene Endlichkeit und seine eigene „Ungesichertheit“. 16 II. In welchem Sinne ist nun der Erlkönig ein Mythos bei Tournier? Zuerst einmal ist im Roman die Ballade vom Erlkönig nur eine Identifikationsfigur unter anderen - neben der Gestalt des Ogers, des märchenhaften Menschenfressers, des Christophorus, der Kinder und Erwachsene über Abgründe sicher hinweg trägt und des Pädophilen, der Gewalt für Zärtlichkeit hält. Das Motiv des Erlkönigs wird also überlagert von anderen Motiven, denen alle eine unterschiedliche Kombination von Aspekten der Gewalt, Verführung und Sorge eigen ist. Der Erlkönig ist nun im Roman ein Mythos als Intertext und als intertextuelle Referenz, als hybride Collage von alten und neuen Elementen. Um die Akzentuierung dieser Referenzen im Roman zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Überlieferungs- oder Transmissionsgeschichte. Goethes Ballade von 1782 nimmt sich die Ballade Herders Erlkönigs Tochter zum Vorbild, die zum ersten Mal 1779 in dessen Volkslieder-Sammlung (Teil II) erscheint und als Fehl-Übersetzung einer dänischen Volksballade rezipiert worden ist. Die Forschung ist nicht müde geworden darauf hinzuweisen, dass Herder „eller“ mit Erle statt mit Elfe übersetzt und damit eine folgenreiche Balladentradition geschaffen hat. Positiv gesprochen hat Herder damit gezeigt, dass gerade Fehllektüren produktive und einflussreiche Leküren im Sinne von Harold Bloom sein können. Ein Dichter, der seinen Vorläufer interpretiert (und jeder starke Interpret, der in der Folge diesen Vorläufer oder den ‘neuen’ Dichter liest), muß durch seine Lektüre notwendig verfälschen, zurechtfälschen. Diese Fälschung kann durchaus im wörtlichen Sinne ‘pervers’, also verdreht und verkehrt, oder sogar böswillig sein, muß aber nicht, und ist es meist auch nicht [...]. 17 Ob Herder sich wirklich verlesen hat oder ob die neue Bedeutung von Erle statt Elfe nicht die interessantere, weil konnotationsreichere war, wird zumeist nicht geprüft. 15 Siehe dazu, ebenfalls im Anschluss an die Beschreibungen Manns: Lacoue-Labarthe, Philippe und Jean-Luc Nancy: Der Nazi-Mythos. In: Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren. Hg. von Elisabeth Weber und Georg Christoph Tholen. Wien: Turia & Kant 1997, S. 158- 190. 16 Lacoue-Labarthe, Nancy, Der Nazi-Mythos, S. 166. 17 Bloom, Harold: Eine Topographie des Fehllesens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 93. Stefan Hesper 178 Spätestens Goethe jedoch hat seine Ballade nicht mehr als Übersetzung, sondern als komplette Transposition verstanden. Ist es in der Volksballade die Tochter des Elfenkönigs, die mit einer Mischung aus Verführung und Gewalt agiert, so bei Herder und Goethe der Erlkönig. Interessant ist dabei, dass die Konfiguration der Ballade von Herder zu Goethe sich grundsätzlich ändert: Bei Herder agieren Herr Oluf als Bräutigam und Erlkönigs Tochter, die Mutter und die Braut im Dialog. Bei Goethe wird aus der verführerischen Tochter des Elfenkönigs der Vater, aus dem Bräutigam ein Kind, aus der Mutter ein Vater sowie aus der Braut ein Erzähler. Die vier Stimmen, die in Herders Ballade analog zur Vorlage noch gut unterscheidbar sind, verschwimmen bei Goethe. Sie werden in den ersten Auflagen durch Gedankenstriche voneinander getrennt und erst seit 1789 durch Anführungszeichen gekennzeichnet. Der Höreindruck jedoch bleibt der einer Polyphonie, es entsteht ein „Gewebe von Stimmen“ und ein „Gewirr von Stimmen“, das die Figuren gleichsam chromatisch ineinander übergehen lässt. 18 Aus der heterosexuellen Verführung am Tag vor der Hochzeit wird bei Goethe eine homoerotische, aus der sichtbaren Tochter des Königs wird ein unsichtbarer König, der nur durch Stimme und Berührung agiert. Aus der Konkurrenz der Tochter mit der Braut um den Mann wird die Konkurrenz zwischen Vater und unsichtbarem König um das Kind. Goethe transponiert Herders Ballade in ein anderes Genre und macht aus der naturmagischen Schauerballade im Reich der Elfen und Zauberer eine symbolisch-numinose Ballade, die einen breiten Deutungsspielraum eröffnet. 19 Die Ballade Goethes arbeitet mit einer „Vielstimmigkeit“, die nicht mehr eindeutig zu machen ist. 20 Wie arbeitet nun der Roman Tourniers mit dieser Ballade als intertextueller Referenz? Formal könnte man sagen, dass Tournier gleichsam den „Initialirrtum“, durch den die Ballade aus dem Geist einer produktiven Fehl-Übersetzung (im Sinne Blooms oder Nietzsches) entstanden ist, fortsetzt. 21 Tournier schreibt einen Roman über Einflüsse, Verführungen und Perversionen und damit auch einen Roman über Kommunikation im Bereich der Literatur, über die Angst vor Einflüssen. Er schreibt nicht nur einen Roman über die Struktur des Nationalsozialismus, sondern über dessen Einflussmöglichkeiten im Hinblick auf bösartige Verkehrungen. Er schreibt einen Roman über Literatur, indem er den Erlkönig als literarisches Deutungsmuster begreift. Tourniers Roman, der zwischen den Jahren 1938 und 1945 spielt, handelt von dem Automechaniker Abel Tiffauges, der als Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft gerät und zuerst von Herbst 1941 bis zum Frühjahr 1943 im Jagdhaus und im Jagdrevier Hermann Görings in Rominten in Ostpreußen, danach bis zum Frühjahr 18 von Bormann, Alexander: Erlkönig. Goethe-Handbuch in vier Bänden 1. Gedichte. Hg. von Regine Otto und Bernd Witte. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 215; Stockhammer, Robert: Erlkönig. Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Hg. von Bernd Witte. Stuttgart: Reclam 1998, S. 99. 19 Siehe zu diesen Begriffen: Weißert, Gottfried: Ballade. Zweite, überarbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993, S. 24ff. 20 von Bormann, Erlkönig, S. 216. 21 Vgl. Bloom, Topographie des Fehllesens, S. 95. Erlkönigs Sohn 179 1945 in einer Napola, einem NS-Elite-Internat für 400 Schüler arbeitet. Steht der Beginn seiner Arbeit noch im Zeichen des scheinbar bevorstehenden Sieges über Russland, so hat sich mit der Schlacht um Stalingrad im Winter 1942/ 1943 die Situation vollständig gewendet. Während die Luftangriffe der Alliierten zunehmen, werden immer mehr Männer zur Wehrmacht und zum Kriegseinsatz einberufen und Tiffauges gerät gleichzeitig in die Situation, immer mehr Aufgaben und Verantwortlichkeiten bis hin zur vorübergehenden Leitung der Napola als Ausländer und Kriegsgefangener wahrnehmen zu können. Aus dem Außenseiter Tiffauges wird so, scheinbar durch die Umstände und Zufälle des Krieges, ein Eingeweihter und treuer Mitarbeiter des NS-Regime, ein Beauftragter. Tiffauges erlebt dabei private und politische Ereignisse als auf versponnene Weise synchronisiert: Sein Lebensrhythmus ist, wie auch Hitler geglaubt hat, bezogen auf Ereignisse um ihn herum, alle Zeichen, die ihn eigentlich nicht meinen können, scheinen dennoch zu ihm zu sprechen. Besonders auffällig ist dabei von Anfang an sein Verhältnis zu Kindern, die er sowohl liebt als auch zu kontrollieren versucht. Früh schon wird Tiffauges in Deutschland mit der Ballade vom Erlkönig bekannt gemacht. Seine erste Begegnung mit ihr findet statt, als im Sommer 1940 in Ostpreußen in der Nähe von Rastenburg, dem Sitz von Hitlers „Wolfsschanze“ seit dem Sommer 1941, bei Arbeiten im Moor eine Moorleiche gefunden wird, die eine auffällige Ähnlichkeit mit ihm aufweist. „Gestern abend haben sie eine Leiche aus dem Walkenauer Torfstich herausgezogen. Ich hatte schon Angst, das könntest du sein, zumal die Beschreibung, die sie mir telefonisch durchgegeben haben, ganz gut auf dich paßt.“ 22 Ein eilends herbeigeholter Experte, Professor Keil, datiert die Leiche auf das 1. Jahrhundert und identifiziert sie nicht nur als germanischen König, sondern auch als Gründer einer rassistischen, germanischen „Parallelreligion“ gegenüber der „judäo-mediterrane[n] Religion“ des Christentums. 23 Es sei mir gestattet, anzumerken, daß unser Ahnherr nicht weit von hier aus der Erde geholt wurde, in einem Erlengehölz und zwar mit Erlen von der schwarzen Abart, die im Moor häufig anzutreffen ist. Und deshalb kann ich nicht umhin, an Goethe, den größten Dichter deutscher Zunge, und an sein berühmtestes und zugleich geheimnisvollstes Werk zu denken - an die Ballade vom Erlkönig. Sie klingt in unseren deutschen Herzen, sie ist wahrhaft die Quintessenz der deutschen Seele. 24 So wird die Moorleiche zum Erlkönig und gleichzeitig zum Gründungsvater des Nationalsozialismus gemacht, zum Prototypen einer neuen, rassistischen Religion, und wie zufällig findet sich neben der ersten Leiche eine zweite, die an ein Kind erinnert. Das Ende des Nationalsozialismus wie auch von Tiffauges scheint hier allegorisch vorweggenommen worden zu sein, denn auch Tiffauges geht zum Schluss unter beim Versuch, mit einem Kind auf den Schultern das Moor zu durchqueren. Die abgründige Bedeutung des Erlkönigs wird von dem anwesenden Professor al- 22 Tournier, Michel: Der Erlkönig. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1989, S. 208. 23 Tournier, Der Erlkönig, S. 210. 24 Tournier, Der Erlkönig, S. 210f. Stefan Hesper 180 lerdings nicht entfaltet. Hitler selbst wird von Tiffauges nicht als Erlkönig, sondern als Oger von Rastenburg beschrieben, dem jedes Jahr am Vorabend seines Geburtstages am 20. April eine „neue Generation Kinder“ mit dem Eintritt in HJ und BDM zur Verfügung gestellt wird. 25 Es bleibt Tiffauges selbst, der glaubt, sich in der Napola zum Erlkönig zu machen mit einer Mischung aus Naivität, Verführungskunst und Gewaltbereitschaft. Tiffauges wird bei Tournier zu einer Permutation des Erlkönigs: Er ist weder der Vater, der als Elfenkönig hinter der eifersüchtigen Tochter, wie bei Herder, steht, noch der unsichtbare numinose körperlose Geist, der wie bei Goethe nur durch Stimme und Berührung agiert. Tiffauges ist ein ebenso aufmerksamer wie rücksichtsloser Mithelfer bei der Durchsetzung von NS-Interessen, jemand, der sich instrumentalisieren lässt und zugleich glaubt, auf eigenen Wunsch zu handeln. Insofern wäre es möglich, analog und komplementär zu Herders Balladentitel, Tiffauges als „Erlkönigs Sohn“ zu beschreiben, als Beauftragten oder Delegierten des eigentlichen Erlkönigs. 26 III. Kaltenborn ist eine fiktive Napola in Ostpreußen, eine jener 1933 gegründeten Internats-Oberschulen, von denen es tatsächlich 1941 32 Schulen für Jungen und drei für Mädchen mit insgesamt etwa 6000 Schülerinnen und Schülern gegeben hat. Die Napolas waren bestimmt für Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren und dienten der Rekrutierung der NS-Elite. Untergebracht in einem Schloss des Grafen Kaltenborn leben bei Tournier 400 sogenannte „Jungmannen“ auf engstem Raum zusammen. Die Schule wirkt auf Tiffauges wie eine „Maschinerie“ und „Mühle“ zugleich: „Die Perfektion, mit der ihr Räderwerk lief, und die furchtbare Energie, die darin wirkte, hätten ihm stets den Zugang versperrt, aber er wußte, daß keine Organisation gefeit ist gegen das Sandkorn im Getriebe und daß überdies das Schicksal für ihn arbeitete.“ 27 Nacheinander werden die Hauptpersonen dieser Schule vorgestellt: der Anstaltsleiter und SS-Mann Stefan Raufeisen, ein sozialer Aufsteiger im neuen Regime, der an eine unbegrenzte Disziplinierung auf der Grundlage eines politischen Rassismus glaubt; der Mediziner und SS-Mann Blättchen, der für seinen Rassismus wissenschaftlich-genetisch begründet in der Burg Forschung für das Amt „Ahnenerbe“ betreibt und „mit der Ungeduld eines Feinschmeckers“ auf die Ankunft neuer Kinder wartet; 28 der Graf Kaltenborn, der die Legitimität einer Herrschaft nicht wie Blättchen genetisch oder wie Raufeisen politisch, sondern durch den Stammbaum 25 Tournier, Der Erlkönig, S. 263. 26 Zur Figur des Beauftragten oder Delegierten aus psychoanalytischer Sicht in diesem Zusammenhang: Stierlin, Helm: Adolf Hitler. Familienperspektiven. Mit einem Vorwort von Alexander Mitscherlich und einem Vorwort des Autors zur Neuausgabe 1995. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 50ff. 27 Tournier, Der Erlkönig, S. 274. 28 Tournier, Der Erlkönig, S. 277. Erlkönigs Sohn 181 begründet, der durch die Inflation von Zeichen, „dieses furchtbare Überhandnehmen der Zeichen“ nach 1933 untergegangen ist. 29 Daneben gibt es als einzige Frau die Hausmutter Frau Netta, die auf ihre Weise für den Führer arbeitet: „Leben und Tod ist eins. Wer den Tod haßt oder fürchtet, haßt oder fürchtet das Leben.“ 30 Während Raufeisen und Blättchen auf unterschiedliche Weise begeistert für das Regime arbeiten, hält sich Kaltenborn vornehm zurück und sorgt sich Frau Netta um die alltäglichen Probleme der Kinder. Nach dem gescheiterten Hitler-Attentat im Juli 1944 wird Kaltenborn als Mitwisser abgeholt. Abel Tiffauges gerät nun immer mehr in den Mittelpunkt der Schule. Sein Tätigkeitsfeld steigert sich mit dem Voranschreiten des Krieges: Ist er zu Beginn nur für den Transport, das Tragen der Lebensmittel zuständig, so wird er ab Oktober 1943 wegen der zunehmend schlechter werdenden Versorgung Wildfänger. Im Frühjahr 1944 tritt er seine wahre Funktion an: Er geht auf die Suche nach Kindern, weil nicht nur die Erwachsenen das Schloss verlassen müssen, sondern auch der Nachwuchs aus den Städten und Dörfern im Westen ausbleibt. Tiffauges geht auf „Fischzug“ und richtet sich nach dem Weggang des Professors Blättchen in den Räumen der ehemaligen „Rassenforschungsstelle“ ein. 31 Nun ist er auf seine Art für die Forschung und Auslese zuständig. Mit seinem großen schwarzen Ross Blaubart zieht er über die Dörfer. „Einer Mischung aus glänzenden Versprechungen und verschleierten Drohungen gelang es fast immer, die Eltern für eine Aufnahme ihres Sohnes in die Napola zu gewinnen.“ 32 Seit dem Juli 1944 gesellen sich zu dem Pferd noch elf Dobermänner hinzu und verbreiten das erschreckende Bild eines Kinderfängers. In der Bevölkerung wird er als Oger, als Menschenfresser, identifiziert, er selbst sieht sich in der Nachfolge des Erlkönigs als „übermenschliches Wesen“, das Kinder gewaltsam, aber zu ihrem Besten entführt. 33 Als der Anstaltsleiter auf der Suche nach neuen Mitarbeitern auch das Schloss für einige Tage verlässt, übernimmt Tiffauges endgültig die Leitung. Es gibt neben der Identifikation mit dem Erlkönig im Sinne der Mythos- Definition von Mann eine zweite, eine rhetorische Figur, die den Roman durchzieht, die Figur der Inversion, der Umkehrung. Tiffauges erlebt zwei Formen der Umkehrung, ein gutartige und eine bösartige. 34 Zu Beginn seines Dienstes in Kaltenborn erlebt er die erste Form. Er tat seinen Dienst, wie er ihn vom Moorhof [das Jagdhaus von Hermann Göring; d. Vf.] her schon kannte, nur mit einfacheren Mitteln, und vor allem verlieh er ihnen einen tieferen Sinn. Denn er vergaß gar nie, daß er für den Lebensbedarf der Kinder 29 Tournier, Der Erlkönig, S. 335. 30 Tournier, Der Erlkönig, S. 275. 31 Tournier, Der Erlkönig, S. 309f. 32 Tournier, Der Erlkönig, S. 313. 33 Tournier, Der Erlkönig, S. 329. 34 Im Original z. B. „inversion maligne“, was in der deutschen Übersetzung von Helmut Waller mit „Umkehrung zum Bösen“ wiedergegeben wird. Diese Übersetzung verundeutlicht die Form der Bewegung, die sich für Tournier aus der Bewegung, der Struktur selbst zu entwickeln scheint, deshalb übersetze ich mit „bösartiger Umkehrung“. Stefan Hesper 182 arbeitete, und er empfand seine Rolle, Nahrungsmittellieferant, pater nutritor, zu sein, als überaus köstliche Umkehrung seiner Berufung zum Oger. 35 Die „köstliche Umkehrung“ des Menschenfressers zum Ernährer entbehrt nicht der Ironie und der abgründigen Zweideutigkeit. Tiffauges weiß, dass er nicht das tut, wozu er sich berufen fühlt, aber die Umkehrung lässt ihm die Chance, jederzeit die Seite wieder zu wechseln. Die Seiten umzukehren bedeutet nicht, sie vollständig und irreversibel zu trennen. Die zweite Form der Umkehrung erlebt er beim Kontakt mit Professor Blättchen. Ich weiß nicht, wohin mich das Jahr führt, das nun beginnt. Aber dieser Blättchen - der noch gegen den Wind nach Verbrechen stinkt - läßt mich eine ungeheuerliche, herzzerreißende Offenbarung als möglich ahnen: wer weiß, ob nicht alles, schlechthin alles, was hier meinem Hunger, meinem Sehnen entgegenkommt - oder doch scheint -, in Wahrheit dessen bösartige Umkehrung ist? 36 Plötzlich werden alle Zeichen und Handlungen zweideutig: Einerseits erlebt er, wie der Nationalsozialismus selbst Zeichen umdeutet (z. B. das christliche Weihnachtsfest durch das Julfest ersetzt), andererseits bekommen die Rituale in der Burg ebenso wie seine eigenen Handlungen eine mörderische Dimension. Sein Interesse für „Umkehrungs-, Vertauschungs- und Duplikationsprozesse“, z. B. sein Interesse für Zwillinge und Zwillingsforschung, das mit den Experimenten des Dr. Mengele, von denen er am Schluss erfährt, korrespondiert, verliert jegliche Unschuld. 37 Behauptet er einerseits eine „tiefe Verwandtschaft“ zwischen Kindern und Krieg, weil die Kanonen von den Kindern lustvoll wie Spielzeuge bedient werden, so sieht er andererseits, dass die Kinder schließlich zu Anhängsel der Militärmaschinerie werden. 38 „Hier rühre ich zum erstenmal an ein ohne Zweifel ganz wesentliches Phänomen: die umwälzende Wandlung der Phorie durch die bösartige Verkehrung.“ 39 Beim Blick auf die vor Erschöpfung wie tot schlafenden Kinder kehrt diese Angst vor der Verkehrung bei Tiffauges wieder. Nach dem fröhlichen Gewühl des Abends hat mich dieses Schauspiel von Schlacht und Tod grausam an einen Trick meines Schicksals erinnert, der immer als Drohung da ist und der bösartige Umkehrung heißt. [...] Die Lehre des heutigen Abends ist von erschreckender Deutlichkeit. All die reinen Ideen, die ich enthüllt zu grellem Glühen gebracht habe, können morgen, ja heute noch ihr Vorzeichen ändern und in einem Feuer brennen, das desto höllischer ist, je strahlender ich sie verherrlicht hatte. 40 Diese Ahnungen und Ängste hindern Tiffauges jedoch nicht daran, mit seinem Geschäft fortzufahren und die Grenzen von Zärtlichkeit, Intimität und Gewalt ständig zu übertreten. Der Inversion, die er um sich herum beobachtet, entspricht bei ihm auf individueller und psychischer Ebene eine Perversion und zugleich entspricht 35 Tournier, Der Erlkönig, S. 270. 36 Tournier, Der Erlkönig, S. 304. 37 Tournier, Der Erlkönig, S. 318. 38 Tournier, Der Erlkönig, S. 320. 39 Tournier, Der Erlkönig, S. 320f. 40 Tournier, Der Erlkönig, S. 361f. Erlkönigs Sohn 183 diese individuelle Perversion einer übergeordneten objektiven Struktur, einer Bewegung, die den Nationalsozialismus ebenso auszeichnet wie moderne Gesellschaften insgesamt. Michel Foucault hat 1964 die Prosa Pierre Klossowskis in einer zu Tournier ganz analogen Weise beschrieben. Das Thema Klossowskis, das Foucault in den Mittelpunkt stellt, ist die Einheit von Identität und Differenz: Wie kann das eindeutig Gute zum Bösen werden, wie kann aus einer symbolischen Ordnung der Differenzen eine diabolische Ordnung der Ähnlichkeiten werden, in der das eine nicht mehr die Antithese oder der Widerspruch oder der einfache oder dialektische Gegensatz zum anderen ist? Foucaults Antwort ist: Dadurch dass die Zeichen, mit denen wir es bei Klossowski zu tun haben, nicht mehr an sich bedeuten, sondern Bedeutung simulieren. Jedes Zeichen hat zugleich, simultan zwei Gesichter, zwei Bedeutungen, die einander bis zur Ununterscheidbarkeit ähnlich sein können. Der „Dämon“ ist „nicht der Andere, der ferne Pol Gottes, der (nahezu) ausweglose Gegensatz, die böse Materie, sondern vielmehr etwas Fremdartiges und Verstörendes [...], das an Ort und Stelle das Selbe, das exakt Ähnelnde schweigend zurückläßt.“ 41 Es entsteht ein Denken, das „ins Taumeln“ gerät, in eine Situation des Schwindels und der Ohnmacht in einer Zone des Übergangs von einem zum anderen. 42 Analog zu Tournier beschreibt Foucault die Verkehrungen in den Romanen Klossowskis, die Zweideutigkeit der Figuren. „Es sind vollkommen zwiespältige Wesen, die da sprechen, gestikulieren, sich zuzwinkern, ihre Finger bewegen und an den Fenstern auftauchen wie Signalmasten (um Zeichen auszusenden oder den Eindruck zu erwecken, daß sie dergleichen abschicken, obgleich sie bloß Simulacra von Zeichen weitergeben? ).“ 43 Das Dämonische ist das Ähnliche: „Die Wüstlinge werden Inquisitoren, die Seminaristen Nazi-Offiziere [...].“ 44 Foucault sieht Klossowski als Beispiel für eine neue Literatur, in der sich „das sprechende Subjekt in Stimmen, die einander soufflieren, suggerieren, auslöschen und ersetzen“, auffächert. 45 Foucaults Analyse ist deshalb von besonderem Interesse, weil sie unabhängig von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus die „bösartige Verkehrung“ und Verführung als ein Thema der zeitgenössischen Literatur beschreibt, wobei der Nationalsozialismus so etwas wie das Zentrum dieses Problems ist. Ist Goethes Ballade die symbolische Transposition der Volksballade oder die Aktualisierung der symbolischen Ebene, so macht Tournier auf eine weitere Ebene aufmerksam: die im wörtlichsten Sinne diabolische Ebene, die Ebene von „Simulacrum, Similitudo, Simultaneität, Simulation und Dissimulation“. 46 Tourniers Erlkönig steht nicht mehr für den Antagonismus (von Natur und Aufklärung, Ratio- 41 Foucault, Michel: Die Prosa Aktaions. Schriften in vier Bänden. Dits et ecrits, Band 1: 1954- 1969. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 434. 42 Foucault, Die Prosa Aktaions, S. 436. 43 Foucault, Die Prosa Aktaions, S. 441. 44 Foucault, Die Prosa Aktaions, S. 442. 45 Foucault, Die Prosa Aktaions, S. 448f. 46 Foucault, Die Prosa Aktaions, S. 439. Stefan Hesper 184 nalität und Irrationalität usw.), sondern für die Kontinuität einer Verkehrung von Zärtlichkeit und Gewalt. Die äußere Polyphonie der Stimmen, die auch schon Goethes Ballade auszeichnet, wird hier zu einer Art internen simultanen Polyphonie, zu einer „Überlagerung von Stimmen, die einander ‘soufflieren’“. 47 IV. Bezieht man diese Überlegungen zurück auf den Gesamtzusammenhang Nationalsozialismus, so fällt auf, dass eine grundsätzliche Ebene der Zweiteilung oder Verleugnung im Roman nicht angesprochen wird: Der radikale Antisemitismus des Nationalsozialismus, der die ganze Gesellschaft zweiteilt, geht allen weiteren Differenzierungen und Ähnlichkeiten voraus und wird als solcher nicht extra begründet. Er ist so selbstverständlich, dass auch Abel Tiffauges ihn nicht in seine Wahrnehmung miteinbezieht. Der Oger, Christophorus und Sohn des Erlkönigs Hitler, Abel Tiffauges, sieht nicht, was für ihn in seiner Umwelt Ostpreußen so schnell nicht zu sehen ist, die Deportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Was der Roman mit der Figur des Erlkönigs inszeniert, ist also eher die Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft, die längst beschlossen hat, den jüdischen Teil der Bevölkerung von der Gesellschaft und vom Leben auszuschließen. Der Erlkönig „erklärt“ also nicht den Weg zum Holocaust, sondern ist eine Figur in der Beschreibung der Faszinationsgeschichte, der mythischen Identifikation und imitatio Hitlers. Was Tiffauges nicht sieht, ist die Geschichte der Opfer, die die Auslese an den Napolas bereits voraussetzt. 48 Er agiert in einer Situation der Verleugnung der systematischen Gewalt um ihn herum. Die Rezeption des Romans von Tournier hat in verschiedenen Ländern deshalb immer wieder auf die fehlende Distanzierung von Tiffauges oder dem Erzähler gegenüber dem Nationalsozialismus hingewiesen. In seinem Essay Kitsch und Tod hat z. B. der Historiker Saul Friedländer auf den Roman Der Erlkönig verwiesen, als Beispiel für einen neuen, vielleicht postmodern zu nennenden Umgang mit der Geschichte, der den Nationalsozialismus mehr auf seiner ästhetischen als auf seiner politischen Ebene beschreibt. Für Friedländer erzeugt der Roman einen verwirrenden, schwindelerregenden Ton der Zweideutigkeit zwischen Faszination (die ausführliche Inszenierung der kultisch-rituellen Dimension) und Kritik. Tourniers Versuch, mit einem Mythos auf die Mythologie des Nationalsozialismus zu antworten, erscheint dem Historiker riskant, wobei Friedländer sowohl bei Tournier wie im Nationalsozialismus die Heroisierung und Beschwörung des Todes als zentrales Element identifiziert. Auch Friedländer beschreibt dabei einen Teil der politischen Struktur als Verführung im Sinne von Tournier oder Klossowski: Die „fundamentale 47 Foucault, Die Prosa Aktaions, S. 448. 48 Siehe zur Nachwirkung der Napola: Schneider, Christian u. a.: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Hamburg: Hamburger ed. 1996. Erlkönigs Sohn 185 Versuchung“, totale Macht über das Leben anderer Menschen zu erhalten, verbindet Tiffauges mit Hitler und anderen Führern, sie rechnet mit dem „Risiko der Vernichtung“. 49 Was Friedländer vermisst, ist der Hinweis im Roman auf Widersprüche und Handlungsspielräume, die Tiffauges anders hätten handeln lassen können, auf die Kontingenz und den Eigensinn der Strukturen des Nationalsozialismus, auf die Überwindung dieser Perversion: Das liegt vielleicht wirklich daran, dass die Figur Tiffauges nur die Binnenperspektive eines Systems spiegelt, das die Begegnung mit anderen Möglichkeiten abgeschafft hat. Tiffauges ist ein Gefangener, der im Nationalsozialismus seine Wünsche, seine Perversionen im vielfachen Sinne ausleben kann. Die Todesbereitschaft ist für Tiffauges nur ein Aspekt unter anderen, viel grundsätzlicher ist für ihn das Erleben der Korrespondenzen, der verrrückten Beziehungen und der zu Beginn köstlichen Verkehrungen. Er repräsentiert die Möglichkeit der Erfüllung der eigenen perversen Wünsche in einer perversen Struktur. Tourniers Roman behandelt das Thema Verführung als Verkehrung von Beziehungen. Der Erwachsene, der sich um die Kinder kümmern soll, missbraucht sie für seine politischen, religiösen oder sexuellen Wünsche. Der Nationalsozialismus wird als Regime inszeniert, das nicht nur die Erwachsenen, sondern vor allem auch die Kinder anspricht und zu begeistern versucht, ohne sie als solche in ihrer Individualität ernst zu nehmen. 50 Selbst Historiker des Nationalsozialismus beschreiben diese politische Struktur in Analogie zur sexuellen Verführung als Verwirrung. „Keine Bevölkerungsgruppe war den Verführungsangeboten der Nationalsozialisten so sehr ausgeliefert, wie die junge Generation. Sie erlebte die Doppelgesichtigkeit des Regimes eindringlicher und verwirrender als andere.“ 51 Tournier erzählt die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen als „Sprachverwirrung“, d. h. als Grenzüberschreitung und -verletzung zwischen Kindern und Erwachsenen im Sinne des Psychoanalytikers Sandor Férenczi: Die Kinder halten die Bedürfnisse der Erwachsenen (nach Krieg, Rassismus und Todesbereitschaft) für ihre eigenen. Es findet eine Form von „Mimikri“ der Kinder an die Bedürfnisse des Regimes statt, indem sie die erlebte Gewalt zur Liebe umdeuten, um sich selbst in ihrer Ohnmacht zu schützen, wobei weder Tiffauges noch die Lehrer der Napola Grenzen der Gewalt und der Überwältigung respektieren. 52 Schon in seinem voraufgehenden Roman Freitag hat Tournier diese Struktur beschrieben: Robinson missachtet Freitag als Mensch und Anderen. Die Struktur seiner Perversion lässt es nicht zu, dass der andere als jemand erscheint, der lebendig und d. h. anders ist als ich. Die Welt Robinsons ist eine „Welt ohne anderen“ und d. h. eine Welt ohne die Möglichkeit, anders zu werden. 53 Freitag 49 Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, S. 135. 50 Siehe dazu: Benz, Ute und Wolfgang Benz (Hg.): Sozialisation und Traumatisierung. Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1992. 51 Thamer, Hans-Ulrich: Der Nationalsozialismus. Stuttgart: Reclam 2002, S. 273. 52 Siehe dazu Férenczi, Sandor: Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von 1932. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, S. 56ff. 53 Deleuze, Gilles: Michel Tournier und die Welt ohne anderen. Logik des Sinns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 364-385. Stefan Hesper 186 ist es, der die Möglichkeit einführt und die starre Ordnung der Perversion sprengt, analog vielleicht wie der jüdische Junge Ephraim gegenüber Tiffauges. Der Erlkönig ist daher der unheimlichere Roman von beiden, da die erzählte Welt nur Wiederholungen oder bösartige Verkehrungen, aber nicht Brüche und neue Möglichkeiten enthält. Der Erlkönig beginnt mit einem Irrtum, einem Misreading und endet mit einem Zusammenbruch. Tournier transponiert die Transposition Goethes ein weiteres Mal: Aus der symbolischen Figur des Erlkönigs, der so vielfältig deutbar ist, wird mit der Figur Tiffauges ein realer Statthalter einer Perversion, die sich in die Struktur des Nationalsozialismus problemlos einfügen kann. Jener, der die Welt mit Möglichkeiten, Hintergründen, Rändern, Übergängen bevölkert - der die Möglichkeit einer erschreckenden Welt, wenn ich noch nicht erschrocken bin, oder im Gegenteil die Möglichkeit einer beruhigenden Welt einschreibt, wenn ich selbst wirklich durch die Welt erschreckt bin -, der dieselbe Welt in andere Aspekte einhüllt, die ganz anders enthüllt mir gegenübersteht -, der in der Welt entsprechend viele Blasen bildet, die mögliche Welten beinhalten: das ist der andere. 54 Tiffauges sieht nicht, was fehlt, er hat Teil an dem, was Deleuze einen „Altruzid“ nennt, dem „Mord am Möglichen“: „Doch der Altruzid wird nicht durch das perverse Verhalten begangen, sondern ist in der perversen Struktur vorausgesetzt.“ 55 Der Erlkönig ist nicht länger derjenige, der als Fremder das Kind dem Vater zu entreißen versucht, sondern er ist gewissermaßen der vertraute Vater oder Ersatz-Vater selbst, den das Kind kennt. Vater und Kind befinden sich bereits in einer Beziehung und in einer Struktur, die den Akt der Übertretung und des Missbrauchs mit sich führt. Der Verführer ist nicht länger der fremde Mann aus einer anderen Wirklichkeit wie bei Herder und Goethe, sondern der vertraute Mann aus dieser (politischen) Welt. Die Struktur des Nationalsozialismus, die die Juden als Inkarnation des Möglichen ausgeschlossen hat, macht die Kinder zu Objekten einer umfassenden Radikalisierung und Aufrüstung, an der sich Tiffauges beteiligt. In der Begegnung von individueller und sozialer Perversion im Sinne einer Vernichtung von Kontingenz zeigt sich der Erlkönig als ein Deutungsmuster, das den Nationalsozialismus eben nicht als Einbruch von aussen und Verführung durch Fremde betrachtet, sondern als bösartige Verkehrung und entsetzliche Radikalisierung einer vertrauten und scheinbar funktionierenden Beziehung (unter Benutzung vertrauter Mythen). Was Tournier inszeniert, kann man mit dem Begriff von Sandor Férenczi als „Sprachverwirrung“ zwischen Erwachsenen und Kindern beschreiben. Pathologisch veranlagte Erwachsene wie Tiffauges heißt das, „verwechseln die Spielereien der Kinder mit den Wünschen einer sexuell reifen Person, oder lassen sich, ohne Rücksicht auf die Folgen, zu Sexualakten hinreißen“. 56 Tiffauges ist derjenige, der Kinder dem eigenen 54 Deleuze, Michel Tournier, S. 373. 55 Deleuze, Michel Tournier, S. 385. 56 Férenczi, Sandor: Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft (1933). In: Schriften zur Psychoanalyse II. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1972, S. 308. Erlkönigs Sohn 187 Wunsch gemäß raubt und in die Burg holt. Die Verführung gelingt aber dann nur dadurch, dass die Kinder ihm vertrauen und glauben, dass ihre Wünsche hier erfüllt werden. Diese unheimliche Koexistenz von Gewalt und Vertrauen, von Zärtlichkeit und Berechnung verändert das Bild des Erlkönigs, dessen wahre Inkarnation ja nicht der anwesende Tiffauges, sondern der abwesende Hitler ist. Tiffauges als dessen ‘Sohn’, als Delegierter des NS-Regimes, sorgt dafür, dass der Erlkönig diesmal gleichermaßen weltimmanent und zerstörerisch wirkt. Albert Speer hat in den Zitaten zu Beginn die zwei Seiten Hitlers, also des eigentlichen Erlkönigs im Sinne von Tournier, beschrieben: Die Missachtung der Kinder als Menschen mit eigenem Recht und die Faszination, die Verführung, die von ihm für Speer ausging („das Gefühl, daß mich damals etwas vom Boden hob, mich von allen Verwurzelungen löste und zahlreichen fremden Kräften unterwarf“, vgl. Anm. 2). Während Speer jedoch glaubt, er habe damals einen faustischen Pakt mit Hitler geschlossen, also eine Art Vertrag zwischen Erwachsenen, verweisen seine Worte auf eine andere Goethe-Figur, die des Erlkönigs. Die kindliche Bereitschaft, dem anderen zu unterstellen, er wisse, was gut für einen ist, die Lust am Getragen- Werden scheint ihn übermannt zu haben. Die Angst des Kindes sieht Speer dabei ebensowenig wie Abel Tiffauges im Roman. Peter Finkelgruen hat in seinem Buch Erlkönigs Reich diese andere Perspektive, die des Kindes eingenommen, das sich an die Erwachsenen wendet, die ihm nur ausweichend antworten. Der Vater täuscht sein Kind. Das Kind ist am Ende tot. Die meisten Kinder meiner Zeit sind getäuscht worden. Sie haben nicht gesehen, was sie gesehen, nicht gehört, was sie gehört haben. Durften sie ahnen, was sie geahnt haben? Wie viel waren am Ende tot? Und was von denen, die leben, ist abgestorben? 57 Aus dieser Perspektive zu schreiben bedeutet, die gewollte Verwirrung zwischen Erwachsenen und Kindern in der Zeit des Nationalsozialismus (und danach) auflösen zu wollen. Finkelgruens Buch über die Geheimnisse seiner Kindheit zeigt, dass die Geschichte der Möglichkeiten, den Erlkönig zu lesen, noch nicht beendet ist. „Wenn man nicht weiß, wonach man fragen muß, muß man irgendwo anfangen.“ 58 Tourniers Roman ist so ein Versuch, anzufangen aus der Perspektive des Königssohns, nicht des Kindes. Er zeigt dabei zugleich, wie das Balladen-Motiv des Erlkönigs sich durch ein anhaltendes verrückendes Misreading produktiv fortschreiben kann. 57 Finkelgruen, Peter: Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung. Berlin: Rowohlt 1997, S. 11. 58 Finkelgruen, Erlkönigs Reich, S. 12. Stefan Hesper 188 Literaturverzeichnis Benz, Ute und Wolfgang Benz (Hg.): Sozialisation und Traumatisierung. Kinder in der Zeit des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1992. Bloom, Harold: Eine Topographie des Fehllesens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. von Bormann, Alexander: Erlkönig. Goethe-Handbuch in vier Bänden 1. Gedichte. Hg. von Regine Otto und Bernd Witte. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996. Deleuze, Gilles: Michel Tournier und die Welt ohne anderen. Logik des Sinns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993. Férenczi, Sandor: Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von 1932. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1999. —: Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft (1933). Schriften zur Psychoanalyse II. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1972. Finkelgruen, Peter: Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung. Berlin: Rowohlt 1997. Foucault, Michel: Die Prosa Aktaions. Schriften in vier Bänden. Dits et ecrits, Band 1: 1954- 1969. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001. Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1999. Kershaw, Ian: Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung. München: dtv 1999. Lacoue-Labarthe, Philippe und Jean-Luc Nancy: Der Nazi-Mythos. In: Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren. Hg. von Elisabeth Weber und Georg Christoph Tholen. Wien: Turia & Kant 1997. Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, IX. Reden und Aufsätze I. Zweite, durchgesehene Auflage. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 1974. Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin: Walter de Gruyter 2000. Schneider, Christian u. a.: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Hamburg: Hamburger ed. 1996. Speer, Albert: Erinnerungen. Frankfurt a. M.: Ullstein; Berlin: Propyläen Verlag 1993. Stierlin, Helm: Adolf Hitler. Familenperspektiven. Mit einem Vorwort von Alexander Mitscherlich und einem Vorwort des Autors zur Neuausgabe 1995. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. Stockhammer, Robert: Erlkönig. Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Hg. von Bernd Witte. Stuttgart: Reclam 1998. Thamer, Hans-Ulrich: Der Nationalsozialismus. Stuttgart: Reclam 2002. Tournier, Michel: Der Erlkönig. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1989. —: Der Wind Paraklet. Ein autobiographischer Versuch. Hamburg: Hoffmann u. Campe 1979. Weißert, Gottfried: Ballade. Zweite, überarbeitete Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. Register A Abaelard, Petrus, 23, 25-26, 38 Agnete og havmanden/ DgF 38 138, 153 Alcuin, 24, 34-35, 37 Ambrosius, 25, 37 De Jacob et vita beata, 25 B Beauvoir, Simone de, 168 Beda Venerabilis, 17, 26 Beowulf, 16 Berggreen, A. P., 83-84, 91 Folkesange og melodier, 83, 91 Bibel, 16 Billeskov Jansen, F. J., 142 Den danske lyrik. Før 1800, 142 Bjarni Þorsteinsson, 83 Íslenzk þjóðlög, 83 C Caesarius von Heisterbach, 28, 37 Die Wundergeschichten, 28, 37 Cerquiglini, Bernard, 6-8, 10, 13-14, 17 Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie 6-8, 17 Child-Ballade, 44 Codex Regius, 43, 47, 66 Codex Wormianus, 66 D De två systrarna/ Den talende Strengeleg, 161-172 Den vonde kjerringa/ TSB F33, 97 Derrida, Jacques, 13-14, 17, 40 Det var en aften silde, 137-138 Deutsche Volkslieder/ DVldr, 128, 136 DVldr 155/ Graf und Nonne, 128 Danmarks gamle Folkeviser/ DgF, 47, 53, 55, 109-118, 121, 123, 127-132, 136, 138, 143-144, 151-153, 155-157, 162 DgF 1/ TSB E126/ Tord af Havsgård, 47, 53 DgF 7/ Kong Didrik og hans kæmper, 144 DgF 38/ Agnete og havmanden, 138, 153 DgF 40/ Harpens kraft, 151, 153 DgF 45/ Herr Bøsmer i elverhjem, 152 DgF 47/ Elverskud, 138, 143-160 DgF 56/ Jomfruen i fugleham, 144 DgF 76/ Ridder Stigs bryllup, 144, 153 DgF 89/ Moderen under mulden, 153 DgF 95, 169-170 DgF 124, 116 DgF 156/ Niels Ebbesen, 144 DgF 173/ Kristian II og adelen, 144 DgF 222/ Jomfruen på tinge, 144 DgF 225, 118 DgF 233/ Ellen Ovesdatter, 109-115, 119- 123 DgF 238/ Terningsspillet, 144, 153 DgF 298/ Svend af Vollerslev, 153 DgF 354/ Ebbe Skammelsen, 153, 155 DgF 358/ TSB D356/ Den spotske Brud, 115-118, 123-125, 129-134 DgF 399, 120 Draumkvede/ TSB B31, 93-97, 99-100, 102-105 Dronning Sophias visebog (Liederbuch der Königin Sophia), 107, 119-125, 142 E Ebbe Skammelsen/ DgF 354, 153, 155 Edda, eddische Dichtung, 39-57 Ellen Ovesdatter/ DgF 233, 109-115, 119- 123 Elverskud/ DgF 47, 138, 143-160 Register 190 F Fallersleben, Hoffmann von, 127 Schlesische Volkslieder 1842, 127 Flateyjarbók, 60-61, 65, 80 Foucault, Michel, 183-184, 188 Freiherr von Ditfurth, 127 Fränkische Volkslieder 1855, 127 Freud, Sigmund, 169, 175, 188 Freyja, 48-49, 66-67, 69 G Goethe, Johann Wolfgang von, 138, 174, 176-178, 180, 183-184, 186-188 Der Erlkönig, 173-188 Gottfried von Straßburg, 29, 37 Grimm, Jacob, 39 Grüner-Nielsen, Hakon, 134-136, 139 Dansk Folkemindesamling, 134 H Harpens kraft/ DgF 40, 151, 153 Hartmann von Aue, 30, 32, 38 Erec, 30, 38 Iwein, 32, 38 Herder, Johann Gottfried, 39, 56, 136, 138, 174, 177-178, 180, 186 Herr Bøsmer i elverhjem/ DgF 45, 152 Hólsbók, 63 Homer, 39, 42 Odyssee, 52 I Ingemann, Bernhard Severin, 138, 140 Isidor von Sevilla, 22, 24, 26, 33-34, 36, 38 De ecclesiasticis officiis, 36, 38 Etymologiarum, 24, 26, 38 J Jacobus von Lüttich, 24 Jon Remarsson/ TSB D360, 98 Jomfruen i fugleham/ DgF 56, 144 Jomfruen på tinge/ DgF 222, 144 K Karlamagnúss saga, 65 Kjerringa til skrifte/ TSB F73, 101 Klossowski, Pierre, 183, 185 Kollsbók, 63 Kong Didrik og hans kæmper/ DgF 7, 144 Kötludraumur, 82-83 Kristian II og adelen/ DgF 173, 144 Krossnesbók, 63-64 L Le roman de Renard, 103 Lieder-Edda, Ältere Edda, 43, 46-47, 80 Loki, 47-49, 66-67, 69 Lord, Albert Bates, 11, 17, 41-43, 107 M Magnússon, Árni, 63, 70, 80-82, 91 Margretu kvæði/ Frúgvin Margreta/ TSB C22, 99 Mit belte/ TSB F46, 100 Moe, Jørgen, 93-94, 105 Moe, Moltke, 49, 55-56, 96, 100, 105 Moderen under mulden/ DgF 89, 153 Munken i vaande/ TSB F41, 101 N Nibelungenlied, 11, 17, 38 Niels Ebbesen/ DgF 156, 144 Nielsen, Selma, 127, 134-142 Nietzsche, Friedrich, 178 Njáls saga, 89 Norna-Gests þáttr, 43 Register 191 O Ólafs saga helga, 89 Ólafs vísur, 89 Ólífar þáttr, 65 P Parry, Milman, 11, 41-43, 107 Q Qualiscunque, 70-72 R Rævebog (Reinecke Fuchs), 155 Remigius von Auxerre, 23-24, 38 Commentum Einsidlense, 23-24, 38 Reven og bonden/ TSB F64, 103 Ridderen i Hjorteham/ TSB A43, 95 Ridder Stigs bryllup/ DgF 76, 144, 153 Rímur, 49-50, 54, 59-73, 78, 86, 89-91 Ritterballaden, 46 Rolandslied, 30-31, 33, 38 S Schiørring, Nils, 55, 134-140, 142 Schiött, A. H. G., 59 Selskinna, 63 Shakespeare, William, 39 Skaufhalabálkur, 82 Sturluson, Snorri, 51, 62-63, 65-66 Edda (Snorra-Edda, Prosa-Edda), 51, 62-63, 65-66, 89 Sørensen Vedel, Anders, 80-81, 91, 147, 153, 166 It hundrede udvaalde Danske Viser, (Hundredvisebogen) 80, 91, 147 Sörlarímur, 61, 65 Speer, Albert, 173-174, 187-188 Erinnerungen, 173, 188 Staðarhólsbók, 63-65, 70 Strandberg, Julius, 134-137, 139 Danmarks syngende Mand paa Bølge og Land, 135, 137 Visebog for Hvermand, 135 Svend af Vollerslev/ DgF 298, 153 Svipdagsmál, 52 T Terningsspillet/ DgF 238, 144, 153 Thor/ Þór, 47-49, 53, 66-69 Tord af Havsgård/ DgF 1/ TSB E126, 47, 53 Tournier, Michel, 173-188 Le roi des aulnes/ Der Erlkönig, 173-188 Freitag, 185 Tristramskvæði, 88-89 Tristrams saga, 88 Types of the Scandinavian Medieval Ballad/ TSB, 44-45, 47, 93, 95, 97-101, 103, 115, 127, 129, 131 TSB A43/ Ridderen i Hjorteham, 95 TSB B31/ Draumkvede, 93-97, 99-100, 102-105 TSB C22/ Margretu kvæði/ Frúgvin Margreta, 99 TSB D356/ DgF 358/ Den spotske Brud, 115-1118, 123-125, 129-134 TSB D360/ Jon Remarsson, 98 TSB E126/ DgF 1/ Tord af Havsgård, 47, 53 TSB F33/ Den vonde kjerringa, 97 TSB F41/ Munken i vaande, 101 TSB F64/ Reven og bonden, 103 TSB F73/ Kjerringa til skrifte, 101 Register 192 U Ung Svejdal, 52 V vikivakakvæði, 77 W Wolfram von Eschenbach, 30, 33, 38 Parzival, 30, 33, 38 Willehalm, 30, 38 Þ Þrymlur, 49, 65-67, 69-72 Þrymr, 47, 66, 68 Þrymskviða, 47-54, 66, 69 Beiträge -zur -Nordischen -Philologie Band 1 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. 1973, 117 Seiten und 23 Karten Band 2 Conradin Perner: Gunnar Ekelöfs Nacht am Horizont. 1974, 250 Seiten Band 3 Heinz Klingenberg: Edda - Sammlung und Dichtung. 1974, 185 Seiten Band 4 Oskar Bandle u.a.: Studien zur dänischen und schwedischen Literatur des 19. Jahrhunderts. 1976, 225 Seiten Band 5 Hartmut Röhn: Untersuchungen zur Zeitgestaltung und Komposition der Islendingasögur. 1976, 159 Seiten Band 6 Ulrike Sprenger: Untersuchungen zum Gebrauch von sá und nachgestelltem inn in der altisländischen Prosa. 1977, 282 Seiten Band 7 Hans-Peter Naumann: Sprachstil und Textkonstitution. Untersuchungen zur altwestnordischen Rechtssprache. 1979, 188 Seiten Band 8 Wilhelm Friese u.a.: Strindberg und die deutschsprachigen Länder. Internationale Beiträge zum Tübinger Strindberg-Symposion 1977. 1979, 396 Seiten Band 9 Wolfgang Pasche: Skandinavische Dramatik in Deutschland. Björnstjerne Björnson, Henrik Ibsen, August Strindberg auf der deutschen Bühne 1867-1932. 1979, 310 Seiten Band 10 Aldo Keel: Innovation und Restauration. Der Romancier Halldór Laxness seit dem Zweiten Weltkrieg. 1981, 161 Seiten Band 11 Oskar Bandle u.a.: Strindbergs Dramen im Lichte neuerer Methodendiskussionen. Beiträge zum IV. Internationalen Strindberg-Symposion in Zürich 1979. 1981, 289 Seiten Band 12 Jürg Glauser: Isländische Märchensagas. Studien zur Prosaliteratur im spätmittelalterlichen Island. 1983, 357 Seiten Band 13 Radko Kejzlar: Literatur und Neutralität. Zur schwedischen Literatur der Kriegs- und Nachkriegszeit. 1984, 278 Seiten Band 14 Hans Joerg Zumsteg: Olav Duuns Medmenneske-Trilogie. 1984, 304 Seiten Band 15 Festschrift für Oskar Bandle. Zum 60. Geburtstag am 11. Januar 1986. Herausgegeben von Hans-Peter Naumann unter Mitwirkung von Magnus von Platen und Stefan Sonderegger. 1986, 316 Seiten Band 16 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. I. Teil: 1859-1898. 1986, 414 Seiten Band 17 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. II. Teil: 1899-1909. 1987, 330 Seiten Band 18 Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch. Briefe aus den Jahren 1890-1940. In Zusammenarbeit mit Oskar Bandle herausgegeben von Klaus Düwel und Heinrich Beck. 1989, 739 Seiten 194 Band 19 Nordische Romantik. Akten der XVII. Studienkonferenz der International Association for Scandinavian Studies 7-12. August 1988 in Zürich und Basel. 1991, 528 Seiten Band 20 Stefanie Würth: Elemente des Erzählens. Die þættir der Flateyjarbók. 1991, 170 Seiten Band 21 Susan Brantly: The Life and Writings of Laura Marholm. 1991, 206 Seiten Band 22 Thomas Seiler: På tross av - Paal Brekkes Lyrik vor dem Hintergrund modernistischer Kunsttheorie. 1993, 193 Seiten Band 23 Karin Naumann: Utopien von Freiheit. Die Schweiz im Spiegel schwedischer Literatur. 1994, 226 Seiten Band 24 Wilhelm Friese: Halldór Laxness. Die Romane. Eine Einführung. 1995, 164 Seiten Band 25 Stephen N. Tranter: Clavis Metrica: Háttatal, Háttalykill and the Irish Metrical Tracts. 1997, 226 Seiten Band 26 Stefanie Würth: Der „Antikenroman“ in der isländischen Literatur des Mittelalters. Eine Untersuchung zur Übersetzung und Rezeption lateinischer Literatur im Norden. 1998, 294 Seiten Band 27 Wolfgang Behschnitt: Die Autorfigur. Autobiographischer Aspekt und Konstruktion des Autors im Werk August Strindbergs. 1997, 325 Seiten Band 28 Hans-Peter Naumann/ Silvia Müller (Hrsg.): Hochdeutsch in Skandinavien. Internationales Symposium, Zürich 14.-16. Mai 1998. 2000, 254 Seiten Band 29 Bettina Baur: Melancholie und Karneval. Zur Dramatik Cecilie Løveids. 2002, 234 Seiten Band 30 Uwe Englert: Magus und Rechenmeister. Henrik Ibsens Werk auf den Bühnen des Dritten Reiches. 2001, 368 Seiten Band 31 Oskar Bandle: Schriften zur nordischen Philologie. Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte der skandinavischen Länder. Herausgegeben von Jürg Glauser und Hans- Peter Naumann. 2001, 638 Seiten Band 32 Jürg Glauser/ Barbara Sabel (Hrsg.): Skandinavische Literaturen in der frühen Neuzeit. 2002, 350 Seiten Band 33 Susanne Kramarz-Bein: Die Þiðreks saga im Kontext der altnorwegischen Literatur. 2002, 396 Seiten Band 34 Astrid Surmatz: Pippi Långstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext. 2005, 618 Seiten Band 35 Iris Ridder: Der schwedische Markolf. Studien zu Tradition und Funktion der frühen schwedischen Markolfüberlieferung. 2002, 276 Seiten Band 36 Barbara Sabel: Der kontingente Text. Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit. 2003, 171 Seiten 195 Band 37 Verschränkung der Kulturen. Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern. Zum 65. Geburtstag von Hans-Peter Naumann herausgegeben von Oskar Bandle, Jürg Glauser und Stefanie Würth. 2004, 582 Seiten Band 38 Silvia Müller: Schwedische Privatprosa 1650-1710. Sprach- und Textmuster von Frauen und Männern im Vergleich. 2005, 370 Seiten Band 39 Klaus Müller-Wille: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist. 2005, 510 Seiten Band 40 Jürg Glauser (Hrsg.): Balladen-Stimmen. Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen in der Balladentradition. 2012, ca. 200 Seiten Band 41 Anna Katharina Richter: Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. 2009, X, 327 Seiten Band 42 Jürg Glauser/ Anna Katharina Richter (Hrsg.): Text - Reihe - Transmission. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa 1500-1800. 2012, ca. 315 Seiten Band 43 Lena Rohrbach: Der tierische Blick. Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur. 2009, 382 Seiten Band 44 Andrea Hesse: Zur Grammatikalisierung der Pseudokoordination im Norwegischen und in den anderen skandinavischen Sprachen. 2009, 254 Seiten Band 45 Jürg Glauser/ Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.): Rittersagas. Übersetzung, Überlieferung, Transmission. 2012, ca. 270 Seiten Band 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.): Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne. 2009, 237 Seiten Band 47 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. Reprint der Erstauflage mit einer Einführung von Kurt Braunmüller. 2011, 168 Seiten Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de NEUERSCHEINUNG MAI 2011 JETZT BESTELLEN! Kathrin Pöge-Alder Märchenforschung Theorien, Methoden, Interpretationen narr studienbücher 2., überarb. Auflage 2011, 282 Seiten, €[D] 19,90/ SFr 28,90 ISBN 978-3-8233-6629-4 Märchen, traditionelle Märchen oder ‚Volksmärchen‘ werden gehört, verfilmt, gelesen, interpretiert. Man findet sie in der Werbung, im Comic, im Film, in Fantasy- und Trivialliteratur und in der Satire. Sie begleiten die Alltags- und Festkultur - wohl ein Leben lang. Dieses Studienbuch möchte dazu anleiten, sich näher mit Märchen zu beschäftigen. Märchen sind ein Teil der populären Literatur mit Sagen, Mythen, Legenden, Schwänken, Witzen und Rätseln. Märchenforschung ist damit ein Teil der Erzählforschung. Die Märchenforschung befasst sich bereits seit den Brüdern Grimm mit der Herkunft des internationalen Märchenschatzes. Warum gibt es so viele gleiche Märchen überall auf der Welt, bei allen Völkern? Die im vorliegenden Studienbuch diskutierten Antworten aus der Wissenschaftspraxis inspirieren zu eigenem Arbeiten. Unterschiedliche Erzählerpersönlichkeiten aus Vergangenheit und Gegenwart bereichern dabei die Überlieferung, denn ihr Erzählen erhält unsere innere Bilderwelt. Zahlreiche Disziplinen beschäftigen sich mit diesen Bildern: Struktur- und Stilanalyse, Psychologie, Theologie und Pädagogik, deren wichtigste Forschungsgebiete und Erkenntnisse hier gebündelt dargestellt werden. Die korrigierte Neuauflage wurde um die Behandlung zahlreicher weiterer Autoren und Publikationen zum Thema erweitert. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Das Interesse der germanistischen Forschung und Lehre richtet sich seit einigen Jahren immer stärker auf den sog. nachklassischen Minnesang nach Walther von der Vogelweide. Das vorliegende Studienbuch führt systematisch in die wichtigsten Forschungspositionen und zentralen Koordinaten der Gattungsgeschichte im 13. Jahrhundert ein. Die wichtigsten Autoren und Liedtypen der Epoche werden vorgestellt, wobei die generellen Tendenzen der Gattungsgeschichte und die Besonderheiten der einzelnen Autoren und Liedtypen stets anhand konkreter Textbeispiele erläutert werden. Das Buch ist sowohl seminarbegleitend als auch für das Selbststudium einsetzbar. Es liefert Orientierungswissen über Entwicklungen, Autoren und Texte der späteren Gattungsgeschichte des deutschen Minnesangs; es vermittelt eine klar profilierte Vorstellung von den verschiedenen Aspekten des Liebesbegriffs und den poetischen Verfahrensweisen der Minnesänger des 13. Jahrhunderts sowie von der kulturellen Funktion ihrer Lieder; es leitet anhand der Textbeispiele zu selbstständiger, auf andere Liedtexte übertragbarer Analysekompetenz an und erschließt die jüngere Forschungsliteratur. Gert Hübner Minnesang im 13. Jahrhundert Eine Einführung narr studienbücher 2008, II, 197 Seiten, 12 Abb., €[D] 19,90/ SFr 35,90 ISBN 978-3-8233-6429-0 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Im Zuge der Einführung der modularisierten Studiengänge nach dem Bachelor- und Mastermodell bietet sich auch die Möglichkeit, die Beschäftigung mit der frühen Literatur der romanischen Sprachen zu reformieren. Während bislang vor allem die Heldenepik im Zentrum mediävistischer Studienanteile stand, wurde die mittelalterliche Textgattung mit der größten Wirkung auf die Geschichte der europäischen Literatur weitestgehend vernachlässigt: die Troubadourdichtung. Der vorliegende Band bereitet diese Anfänge der Lyrik im 12. und 13. Jahrhundert für den akademischen Unterricht auf und bietet mit altprovenzalischen Liedern von 19 Troubadours nebst textnahen deutschen Parallelübersetzungen und französischen Versionen Studierenden erstmals einen direkten Zugang. Einführungen zu den Troubadours, Kommentare zum Text und ein Überblick über die Forschungsliteratur ermöglichen eine sachgerechte Auseinandersetzung mit den Liedern. Zudem bilden eine Einleitung zu spr achlich-liter arischen Fr agestellungen und eine Kurzgrammatik sowie eine Auswahl aus Catulls Lesbia-Gedichten und aus europäischen Nachwirkungen der Troubadourdichtung den weiterführenden Rahmen dieser dreisprachigen Anthologie. Christine Felbeck / Johannes Kramer Troubadourdichtung Eine dreisprachige Anthologie mit Einführung, Kommentar und Kurzgrammatik narr studienbücher LVIII, 363 Seiten €[D] 24,90 / SFr 44,00 ISBN 978-3-8233-6451-1 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 40 Unter dem Begriff ‚Vokalität‘ untersucht der vorliegende Band mit Schwerpunkt im differenzierten Korpus der skandinavischen Balladen (Folkeviser) zentrale Aspekte von Oralität, Stimme, Ver schriftlichung und zeittiefer Überlieferung. Im Mittelpunkt stehen zum einen stärker theoretisch orientierte Überlegungen zu den Kernkonzepten der Vokalitätsforschung, wie sie vor allem in der anglistischen und germanistischen Mediävistik entwickelt worden sind. Zum anderen gehen die mehr historisch ausgerichteten Beiträge Fragestellungen der Balladentransmission im Mittelalter und der frühen Neuzeit in Island, auf den Färöern, in Norwegen, Dänemark und Schweden nach. Jürg Glauser, geb. 1951. Studium der Nordistik und Germanistik in Zürich, Oslo, Uppsala, Kopenhagen. Promotion und Habilitation in Zürich. 1992-94 Professor für Nordische Philologie an der Universität Tübingen, seit 1994 Professor für das gleiche Fach an den Universitäten Basel und Zürich. Hauptarbeitsgebiete: Literaturen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Skandinavien, insbesondere Sagas und Eddas, isländische Literatur, Literaturgeschichtsschreibung. Publikationen u.a. Skandinavische Literaturgeschichte. Hg. von J. Glauser (2006); Island - Eine Literaturgeschichte (2011). Glauser (Hrsg.) Balladen-Stimmen Jürg Glauser (Hrsg.) Balladen-Stimmen Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen ISBN 978-3-7720-8173-6 106111 Nord. Phil. 40 - Glauser_106111 Nord. Phil. 40 - Glauser Umschlag 18.11.11 08: 33 Seite 1