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Große Werke der Literatur X

2007
978-3-7720-5240-8
A. Francke Verlag 
Hans Vilmar Geppert
Hubert Zapf
A. Francke Verlag Tübingen und Basel GROS SE W ER K E DER LITER ATUR BAND X Große Werke der Literatur X Herausgegeben von Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf Große Werke der Literatur BAND X Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2006/ 07 herausgegeben von Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf Titel: Schmuckbuchstabe aus Hans Sachs: (Das vierdt poetisch Buch) mancherley neue Stücke schöner gebundener Reimen. Nürnberg: Heußler, 1576; Oettingen-Wallersteinsche Sammlung der Universität Augsburg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2007 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson-dere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8240-5 Vorwort Die Publikationsreihe Große Werke der Literatur, die auf eine im zweijährigen Rhythmus stattfindende Ringvorlesung an der Universität Augsburg zurückgeht, erscheint nunmehr mit ihrem zehnten Band. Der Initiator und langjährige Alleinherausgeber der Reihe, der Komparatist Hans Vilmar Geppert, hatte zunächst keineswegs eine solch lange Erfolgsgeschichte von inzwischen zwanzig Jahren im Sinn, als er im Wintersemester 1988/ 89 mit dem ersten Zyklus der Ringvorlesung begann, die dazu gedacht war, innerhalb der Universität verschiedene Disziplinen, insbesondere die Philologien, unter dem Dach einer gemeinsamen Beschäftigung mit kulturellen Leittexten zusammenzubringen und zugleich über die Universität hinaus ein literarisch interessiertes Publikum anzusprechen. Doch so wie die Vorstellung, man könne die Zahl „großer Werke“ auf eine überschaubare Zahl begrenzen, sich bald als illusionär herausstellte, so erledigte sich zugleich die Befürchtung, es könne irgendwann einmal der Gegenstand der Reihe erschöpft sein. Vielmehr erwies und erweist er sich nach wie vor als höchst lebendig, gibt es doch auf der einen Seite nicht nur ‚klassische‘ Werke wiederzuentdecken und im Licht gewandelter historisch-kultureller Bedingungen zu interpretieren, sondern kommen immer wieder auch neue Werke der Gegenwartsliteratur hinzu, deren Geltungsanspruch aufgrund der noch nicht gegebenen historischen Distanz in besonderer Weise in Frage steht und so der Diskussion bedarf. Die Großen Werke der Literatur waren und sind, neben den genannten Aspekten der Zusammenführung verschiedener Nationalliteraturen und der Brückenbildung zwischen universitärer und außeruniversitärer literarischer Öffentlichkeit, ein durchaus auch im Licht der neueren literaturwissenschaftlichen Kanondebatte aufschlussreiches Projekt. Eine zeitlang schien es zwar, als wäre die Rede von ‚großen Werken‘ der Literatur angesichts der postmodernen Wende und kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaften im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht mehr ohne weiteres möglich, schien sie doch die Fortschreibung unhinterfragter akademischer Traditionen und nicht zuletzt ein unkritisches Festhalten an einem elitären Konzept literarischer Hochkultur zu implizieren. Doch war der für die Reihe programmatische Begriff der „großen Werke“ von vornherein nicht durch die Annahme fragloser überzeitlicher Geltungsgewissheiten, sondern durch Offenheit und das Bewusstsein der historischen Wandelbarkeit und Konstruiertheit eines jeglichen literarischen Kanons gekennzeichnet. Diese Offenheit kam vor allem auch dadurch zum Ausdruck, dass die Auswahl der Werke, die in die Reihe aufgenommen wurden, nicht vom Herausgeber vorgegeben, sondern von den beteiligten Referenten selbst vorgenommen wurde. So bildete sich ein literarischer ‚Kanon‘ unter Einbeziehung der subjektiven Präferenz der Beteiligten heraus, der sich letztlich immer wieder erst durch seine eigene Auslegungspraxis legitimierte. Die Reihe wurde und wird so einer Aufgabe gerecht, die angesichts neuer kultur- und literaturtheoretischer Herausforderungen umso dringlicher geworden ist, nämlich die Kriterien von Kanonbildung Hubert Zapf 6 zu reflektieren, den Geltungsanspruch literarischer Werke begründbar zu machen, die Frage nach dem Status und der Funktion der Literatur innerhalb der Gesamtheit kultureller Diskurse immer wieder neu zu stellen - nicht durch explizite theoretische Reflexion, wie in der ebenfalls im Francke Verlag publizierten, parallelen Reihe Theorien der Literatur, deren Band III im Frühjahr 2007 erschienen ist, sondern durch möglichst überzeugende, lebendige und komplexe Auslegung der Texte selbst. Dies erscheint angesichts einer neuerlichen Wende der Literatur- und Kulturwissenschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts hin zu einer pragmatischeren Phase umso relevanter, in der gerade von den Geisteswissenschaften auch Orientierungs- und Überblickswissen gefordert wird, das die zunehmende Unüberschaubarkeit der Primär- und Sekundärliteratur ordnen und überschaubarer machen soll. Die Reihe Große Werke der Literatur hat sicher auch eine solche pragmatische Komponente, insofern sie Texte, die den Beiträgerinnen und Beiträgern wichtig und interessant erscheinen, vorstellt bzw. einer Neubetrachtung unterzieht und so zum erstmaligen oder erneuten Lesen anregt. Und sie bietet zweifellos eine Orientierungshilfe für die literaturgeschichtliche Einordnung der Texte und die immer neu zu stellende Frage nach den Kriterien literarischer Qualität, Geltung und Relevanz. Gleichzeitig bleibt sie sich indessen der genannten Offenheit ihrer Fragestellung bewusst und spiegelt so die reflexive Dimension und produktive Unabschließbarkeit des Auslegungs- und Kanonisierungsprozesses von Literatur, die auch in Zeiten, da eine stärker pragmatische Aufbereitung literarischen und kulturellen Wissens gefordert wird, im Auge zu behalten ist. So bietet auch der vorliegende Band wieder ein breites, spannungs- und kontrastreiches Spektrum an Interpretationen von Texten aus verschiedenen Epochen, Gattungen und Nationalliteraturen. Er wirft einen neuen Blick auf die mittelalterliche Rezeption des Artusstoffes im deutschen Lancelot-Roman und bezieht andererseits mit Emmy von Rhodens Der Trotzkopf, einem der erfolgreichsten Werke der Jugendliteratur im 19. und 20. Jahrhundert, ein Werk der Populärliteratur ein. Er behandelt aus jeweils neuem Blickwinkel literarische Klassiker wie Jeremias Gotthelfs Die schwarze Spinne, Rilkes Neue Gedichte, Marcel Prousts A la recherche du temps perdu und James Joyces A Portrait of the Artist as a Young Man, aber auch unbekanntere Werke wie Kate Chopins The Awakening, Virginia Woolfs Kurzgeschichte Kew Gardens, Stefan Georges Das Jahr der Seele oder Thomas Manns Der Erwählte. Er schlägt schließlich den Bogen zu neuerer, teils kontrovers diskutierter Holocaust-Literatur mit Jurek Beckers Jakob der Lügner und Bernard Schlinks Der Vorleser. Der Band beweist ein weiteres Mal, dass Literatur eben nichts Abgehobenes oder nur Esoterisches ist, sondern eine Form komplexen Lebenswissens darstellt, die gerade durch ihren imaginativen Reichtum, ihre semantische Offenheit und ihre kreative Interaktion mit dem Leser ihre fortwährende Aktualität gewinnt. Er beweist ferner in der Vielfalt der Perspektiven und Deutungsansätze, aus denen der Dialog mit den Texten geführt wird, dass die Aufgabe und gesellschaftliche Relevanz der Literaturwissenschaft nicht zuletzt darin bestehen, dass sie selbst aktiv am Prozess der kulturellen Selbstverständigung, der Kritik, der Wertvermittlung und der beständigen Erneuerung von kultureller Kreativität teilnimmt, den die Literatur inszeniert. Vorwort 7 Der Dank der Herausgeber gilt Rektor und Kanzler der Universität, der Kurt- Bösch-Stiftung sowie dem Presseamt der Universität Augsburg für ihre ideelle, finanzielle und organisatorische Unterstützung. Gedankt sei ferner Gunter Narr und Frau Kathrin Heyng vom Francke Verlag für die ausgezeichnete Kooperation und die gewohnt qualitätsvolle verlegerische Betreuung des Projekts. Besonders herzlicher Dank gilt Christina Caupert, Julia Fendt und Nora Schüssler für die sorgfältige und zeitaufwendige Bearbeitung der Manuskripte und die Erstellung der druckfertigen Fassung des Bandes. Augsburg, im September 2007 Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 Freimut Löser Der deutsche »Lancelot«-Roman. Artuswelt, Gral und Untergang 11 Kaspar H. Spinner Jeremias Gotthelf »Die Schwarze Spinne« 31 Klaus Maiwald Emmy von Rhoden »Der Trotzkopf« 45 Joachim Jacob Stefan George »Das Jahr der Seele« 59 Hubert Zapf Kate Chopin »The Awakening« 75 Klaus Dieter Post Rainer Maria Rilke »Neue Gedichte« 97 Martin Middeke James Joyce »A Portrait of the Artist as a Young Man« 121 Hans Ulrich Seeber Virginia Woolf »Kew Gardens« 139 Henning Teschke Marcel Proust »A la recherche du temps perdu« 159 Inhalt 10 Sandra Schwarz Thomas Mann »Der Erwählte«. Heimkehr aus dem Exil 175 Hans Vilmar Geppert Jurek Becker »Jakob der Lügner« 219 Eva Matthes Bernhard Schlink »Der Vorleser« 241 Der deutsche Lancelot-Roman. Artuswelt, Gral und Untergang Freimut Löser Hier soll der deutsche Lancelot-Roman aus dem 13. Jahrhundert vorgestellt werden. Dies in einer Reihe, die den Titel „Große Werke der Literatur“ trägt. Bei vielen Werken, die in dieser Reihe vorgestellt wurden und werden, ist es keine Frage, dass sie zur Weltliteratur gehören. Bei dem Text, der hier behandelt werden soll, stellen sich gleich drei Fragen: Ist er überhaupt ein „Werk“? Ist er „groß“? Ist er „Weltliteratur“? Unser Werkbegriff ist häufig mit dem Begriff des Autors verbunden. Zum „Jahr der Seele“ gehört Stefan George, zu „The Awakening“ gehört Kate Chopin und zu den „Duineser Elegien“ gehört Rilke. Zum „großen Werk“ gehört der „große Autor“, so wie Thomas Mann zum „Zauberberg“ oder Kafka zum „Schloss“ gehören. Im Mittelalter ist ja bekanntlich vieles anders. Aber auch dies? Zum „Tristan“ gehört doch Gottfried von Straßburg, zum „Iwein“ gehört Hartmann von Aue und zum „Parzival“ Wolfram von Eschenbach. Alle diese Autoren nennen sich selbst im Prolog oder/ und anderwärts in ihren Werken, sie weisen sich als Verfasser aus oder/ und werden von anderen zeitgenössischen Autoren als solche genannt. Aber ist dies korrekt? Gehört nicht zum „Tristan“ Thomas von Bretagne und zu den Romanen Hartmanns und Wolframs - gehört zu denen nicht Chrétien de Troyes? Gottfried von Straßburg, Tristan (ca. 1200-1220) „Thomas von Britanje“ (ca. 1155/ 1190) Hartmann von Aue, Erec (ca. 1180-1200) Iwein Chrétien de Troyes, Erec et Enide (ca. 1170) Lancelot (Chevalier de la charrete) Yvain Wolfram von Eschenbach, Parzival (Teile sicher nach 1204) Perceval (Le comte du graal) (vor 1191) Sind nicht die altfranzösischen Texte die „Werke“ und die deutschen bloße Übersetzungen? Man mag hier von den eminenten und bedeutenden Leistungen mittelalterlichen Kultur-Transfers sprechen. Die Forschung ist sich aber auch einig darüber, dass man bei den großen Artus-Versromanen des deutschen Mittelalters Uminterpretationen, Neuerzählungen, zu weiten Teilen gar Neuschöpfungen vor sich hat. An der genuinen Erzählkunst Gottfrieds (dort wo der Vergleich mit Thomas wegen Freimut Löser 12 der schlecht erhaltenen Vorlagen möglich ist), Hartmanns und Wolframs besteht - eben auch im Vergleich mit ihren großartigen Quellen - kein Zweifel. Bei unserem Text ist dies etwas anders: Der deutsche „Prosa-Lancelot“ ist - anders eben als die klassischen höfischen Versromane - nicht Neugestaltung; auch nicht verantwortet von einem namentlich bekannten Autor, der sich selbst nennt und damit in die Literaturgeschichte einschreibt. Unsere Übersetzung basiert auch nicht - wie dies üblich ist zu dieser Zeit - auf einem Versroman, sondern sie ist die Übersetzung eines altfranzösischen Prosaromans. Sie ist, abgesehen von der nicht selten spürbaren Selbstständigkeit in Details, zudem eine Übersetzung, die offenbar eine möglichst genaue Bewahrung der Vorlage anstrebt - anders als Hartmann, der zum Beispiel darin glänzt, dass er über seine Vorlage hinaus seiner Heldin Enite seitenlang ein Pferd „andichtet“, anders als Wolfram, der Percevals/ Parzivals Kindheit die Elterngeschichte hinzuerfindet, das Verhältnis des Helden zur Mutter neu konzipiert oder den Gral seiner Vorlage völlig neu deutet. Anders als bei Hartmann und Wolfram fehlt beim deutschen „Lancelot“ aber eben auch der Name des Verfassers. Mehr noch: Es müssten mehrere Namen sein; denn dem Text kann man es ansehen, dass verschiedene Übersetzer am Werk waren. Die Namen, die Intention, die Auftraggeber werden freilich nicht verraten. Nur in einer Version, in einer Teilübersetzung einer Kölner Handschrift (k, aus dem 15. Jahrhundert) wird berichtet, das buchelin sei aus einer flemische[n] Vorlage übertragen worden: Diß buchelin zu einer stonden Hain ich inn flemische geschrieben fonden, Von eyme kostigen meister verricht, Der es uß franczose darczu hait gedicht. Dwile das alle dutschen nit konden verstan, Habe ich unnutzeliche zcijt darczu versließen und gethan, Biß das ich es herczu bracht hain. (Kluge II, S. 115) 1 Man sieht: Selbst in der Prosa gibt die Reimform keine Ruhe. Die wichtige Information über die Vorlage muss gereimt vorgetragen werden. Der Hinweis aber gilt nicht für alle Textzeugen. Er findet sich, wie gesagt, nur in einer Version der Geschichte, die eine Kölner - ripuarische - Handschrift bewahrt hat. Und das führt aus einem anderen Blickwinkel erneut zur Frage nach dem Werkcharakter: Handelt es sich bei dem deutschen Prosa-Lancelot-Roman um ein Werk? Bekannt sind uns zehn Textzeugen, die um 1250 im ripuarischen Raum einsetzen, ihren Schwerpunkt im Rheinfränkischen haben, seit dem 15. Jahrhundert auch im Schwäbischen (speziell auch um Augsburg). Die bedeutendste - und als erste halbwegs vollständige - Handschrift ist heute in Heidelberg (P, benannt nach dem Namen der Bibliothek, Palatina). P ist um 1430 wohl auch dort am Heidelberger Hof entstanden. Die frühen Fragmente - um 1250 - bestätigen den Wortlaut von P und füllen eine inhaltliche Lücke dieser Handschrift, die diese in zwei Teile (PI und PII) teilt. Der 1 Alle Zitate nach der im Literaturverzeichnis genannten kritischen Ausgabe. Der deutsche Lancelot-Roman 13 Text lag also im deutschen Raum um 1250 vor und er fand rasch einige handschriftliche Bearbeiter, dann aber auch noch eine späte bairische Bearbeitung (beendet erst 1576). Der frühe Buchdruck hat unseren Text nicht erfasst. Insgesamt ergibt sich folgender Befund: Verschiedene Handschriften verschiedener Fassungen mit einer komplizierten Textgeschichte. Denn nicht nur, dass die flämische Vorlage in der Handschrift k erwähnt wird - man hat auch für den Teil PI mittelniederländische Spuren finden und evident machen können, dass auch PI über eine - allerdings nicht erhaltene - mittelniederländische Zwischenstufe vermittelt wurde. Kultur-Transfer im Mittelalter geht komplizierte, vermittelnde Wege. Das heißt konkret: Die Übersetzung dieses Teiles zumindest wäre wohl im niederrheinisch-ripuarischen Raum vor 1250 entstanden. Für PII behaupten die einen (ohne Detailnachweis bisher) eine „Unmenge von Nederlanismen“, den anderen fehlt der Nachweis dafür und sie halten eine direkte Übersetzung aus dem Altfranzösischen (um 1300) für wahrscheinlich. Damit rückt das Verhältnis des deutschen Textes zum altfranzösischen in den Mittelpunkt. Aber auch dem fehlt der Verfasser, wie wir gleich sehen werden. Übertragen werden drei Teile einer Trilogie. Und am Ende eines jeden Teiles, dazu noch im Eingang des letzten, werden - entsprechend der altfranzösischen Trilogie - scheinbar Auftraggeber und Verfasser genannt: Auftraggeber der Vorlage sei König Heinrich II. von England († 1189), Verfasser Gautier (= Walter) Map. Dieser 1209 verstorbene Oxforder Archidiakon ist als Autor von „De nugis curialium“ bekannt, ein ausgesprochen kirchenkritischer Mann und freier Geist, der nur wohl leider nicht der Verfasser ist. Denn Authentizität wird für diese Angabe nicht mehr beansprucht; man geht von einer Verfasserfiktion aus, die den Anspruch der Trilogie als intendierte Einheit festigt und den wahren Verfasser - vielleicht aus Furcht vor der Gefahr, die nicht immer orthodoxen religiösen Aussagen des Werkes könnten als häretisch verfolgt werden - kunstvoll und planvoll hinter einem bekannt kritischen, aber eben 1209 schon verstorbenen und nicht mehr belangbaren Geist verbirgt. Der Text gibt sich dabei viel Mühe, zunächst als eine Chronik wahrer Ereignisse zu erscheinen: Und der konig gebot vier schribern die darzu gesaczt warn, das sie all die abentur schriben, die in sim hofe geschehen. Der ein was Arodion genant von Koln, und der ander was genant Tantamides von Vernaus und der dritt Thomas von Dolete, der vierd was Sapiens genant von Budas. Diße vier schrieben die abentur in des konig Artus hof. Min herre Gawan must zu allererst sagen, wann er heubt was an der suchung, und darnach Hestor und darnach myns herren Gawans gesellen die mit im an der suchung waren. Was sie sagten das wart alles geschriben. (Kluge I, S. 482,5-12) Am Ende wird dann Gautier Map als Redaktor und Autor in Anspruch genommen; für die „Gral-Queste“, den Teil der Suche nach dem Gral, wird er ausdrücklich als Übersetzer des lateinischen Textes der „Chronik“ in die französische Volkssprache bezeichnet: Da sie hetten geeßen in dem hoff, der konig Artus det her vor k mmen die schriber, die da pflagen zu beschriben die abenture der ritter von dem hoff des koniges Artus. Und da Bohort hett erzalt die abenture von dem heyligen gral, in der wise als er es gesehen hett, und die wurden beschriben und behalten in der abtey von Salaberis. Da von meyster Ga- Freimut Löser 14 tiers [=Gautier] machen begund das buch von dem heiligen grale von latin zu welisch, umb konig Heinrichs willen synes herren, den er ser lieb hette. (Kluge III, S. 383,15ff.) Komplizierte Verhältnisse also von allem Anfang an: Eine deutsche Bearbeitung ohne greifbaren Auftraggeber, von mehreren Bearbeitern vorgenommen, dennoch als einheitlicher Text stilisiert, basierend auf einer altfranzösischen Vorlage, die vermittelt wird über mittelniederländische Zwischenstufen, und die ihrerseits nicht auf einen großen bekannten Verfassernamen zurückzuführen wäre, sondern die Fiktion eines solchen Verfassers bewusst aufbaut und dabei so tut, als beruhe sie auf einer Chronik, den wahren - lateinischen! - Aufzeichnungen der Schreiber des Königs Artus höchstselbst, die ihrerseits den Rittern deren quasi diktierte Erlebnisberichte nach dem Munde schrieben. Diese angeblich so entstandene französische Version ist keineswegs eine einzige große Einheit. Das Verhältnis stellt sich so dar: Handlungsteile: a) Estoire del Saint Graal Vorgeschichte b) Estoire de Merlin (fehlt im Deutschen) Trilogie: „ Lancelot c) Lancelot a) Lancelot en d) Queste del Saint Graal b) Gralqueste prose “ e) Le Mort li Roi Artus c) Tod des Königs Artus Ins Deutsche übertragen wurden die drei Teile der eigentlichen Trilogie im engeren Sinne, vereinigt im „Lancelot en prose“. Dafür, für diese altfranzösische Trilogie, wird ein Entstehungszeitraum sicher nach 1210, wohl von 1215 bis 1230 angesetzt. Dieser ursprüngliche Zyklus wurde erweitert, indem man ihm für die gegenwärtige Gralwie die Artuswelt die jeweils entsprechende Vorgeschichte voranstellte: Für den Gral die „Estoire del Saint Graal“, für die Artuswelt die „Estoire de Merlin“. Diese doppelte Vorgeschichte fand im Deutschen keine Aufnahme. Die Vorlage wurde, so die Hypothese des großen französischen Forschers Frappier, von einem Autor, dem „Architekten“ entworfen, der selbst den „Lancelot propre“ verfasste und mehrere andere in der gemeinsam verpflichtenden Arbeit am Ganzen anleitete. „Teamwork in progress“ also gewissermaßen, ein Autorenkollektiv am Werk. Andere - wie Elspeth Kennedy - halten dagegen, hier seien einzelne, ursprünglich nicht zyklisch konzipierte Teile erst später und sekundär zu einem Ganzen verbunden worden. Ein schmaler Teil hat Chrétiens fragmentarisch erhaltenen „Lancelot“- Roman, die Karrenritter-Aventiure, als Grundlage. Soweit zum „Werk“. Ist es „groß“? Auf einer ersten sehr einfachen Ebene ist die Frage einfach zu beantworten. Die kritische Ausgabe des deutschen „Prosa- Lancelot“ in drei Bänden zählt insgesamt 2.479 Seiten. Die Handschrift P enthält 41.250 sehr eng beschriebene Zeilen. Der Umfang des deutschen Prosa-Lancelots - eines wahrhaft „großen“ Werkes also - ist immens. Er übertrifft etwa Wolframs Der deutsche Lancelot-Roman 15 „Parzival“ um das Fünffache. Das ist nicht schiere Masse um der Masse willen oder Frucht eines ausufernden Erzählens. Die Menge der Wörter und Zeilen ist Ausfluss eines Totalitätsanspruches anderer Art. Was hier geboten wird, ist nichts anderes als die Summe der bis dahin entstandenen Artusliteratur, die Verbindung dieser Artusliteratur mit dem Gralstoff und eine bewusst vorangetriebene bis in extreme Erzählkompilationen und Erzählkomplikationen gesteigerte Literatur mit Totalitätsanspruch. Darauf wird zurückzukommen sein. Aber ist solch schiere Größe der Erzählung schon große Literatur? Auch diese Frage lässt sich auf einer ersten, sehr einfachen Ebene - nämlich von der Wirkung her - wiederum mit einem raschen und uneingeschränkten „Ja“ beantworten: Die Wirkung in Deutschland ist - vor der Folie zeitgenössischer Texte - nicht vergleichbar mit der Wolframs (wie der Bestseller „Parzival“ mit seinen mehr als 80 Handschriften), aber auch nicht spärlich. Was wir über Auftraggeber, Besitzer und Leser wissen, weist auf große fürstliche Adelsbibliotheken hin (die Heidelberger Palatina, das Rottenburg der Erzherzogin Mechthild, auch den Münchner Wittelsbacher Hof unter Herzog Albrecht). Freilich kann der „Lancelot“ als erster deutscher Prosaroman keine selbstständige deutsche Erzählprosa einleiten und bleibt in der Geschichte der deutschen Sprache als früher Erstling isoliert. Lancelots unvergleichlicher Ruhm in Europa, dann auch weltweit, verdankt sich vielmehr der ungebrochenen Strahlkraft des altfranzösischen Prosaromans (mit ca. 100 Handschriften und sieben Drucken bis 1533), dann auch der Adaption durch Thomas Malory, der Ausstrahlung im englischen Raum, aufgegriffen in den USA, im 19. Jahrhundert nicht nur durch Mark Twains bekannten „Connecticut Yankee in King Arthur’s Court“, bis heute wirksam in Hollywood und damit in unseren Köpfen und Herzen. Wenn ich also ein großes Werk der Literatur vorstelle, dann müsste das eigentlich natürlich die altfranzösische Ausgangsversion sein. Es liegt an meiner (mangelnden) Kompetenz, dass ich als „Stellvertreter“ quasi, den deutschen Text wähle. Totalität der Weltdarstellung - das Konzept findet seinen Niederschlag zunächst einmal auf drei verschiedenen Ebenen der Erzählung: 1. Erzählt wird die individuelle Geschichte Lancelots von seiner Kindheit bis zum Alter und zu seinem Tod; erweitert wird dies - wie bei Wolframs „Parzival“ oder Gottfrieds „Tristan“ - um die Vorgeschichte der Eltern. 2. Synchron dazu wird die Geschichte der Artusgesellschaft erzählt: die Phasen ihrer Erstarkung (verbunden mit dem Wirken Merlins), das Erreichen der strahlenden Höhe, der freilich schon immer Niedergang und Ende immanent sind, verwoben darin die Ehebruchsthematik (vergleichbar Gottfrieds „Tristan“), schließlich der unvermeidliche Untergang. Die Vorgeschichte dazu (die „Estoire de Merlin“), die die Trilogie im Französischen erweiterte, fehlt im Deutschen wie gesagt. Das gilt auch für die Vorgeschichte des Grals (die „Estoire de Saint Graal“). Die Gralsgeschichte aber in der Artusgegenwart bildet 3. die Vollendung aller Gralabenteuer und damit die Vollendung aller Abenteuer: das Finden des Grals als Zielaber auch Endpunkt alles Erzählens. Freimut Löser 16 Um diese Totalität des Erzählten (und des Erzählens) zu erreichen, bedarf es aber auch schon eines Personals, das diese Totalität der Welt abbildet, bzw. hilft, diese zu erzeugen. Wir begegnen folglich dem alteingeführten Personal des Artusromans: - Dem Königspaar Artus und Ginover, dem, mindestens bis dahin, besten aller Artusritter Gawan und seinen drei Brüdern (Gaheriez, Guerier und Agravain), dem Truchsess Keie, den berühmten strahlenden Rittern der Tafelrunde, darunter Ywan, Segremors, Yders, - Parceval, den man aus der bisherigen Tradition als Gralshelden kennt, dem Verräter Meleagant, den Agenten des Bösen Morgane und Mordred. Dazu tritt natürlich Lancelot und eine ganze Gruppe von neuen Handlungsträgern aus seinem Umfeld: - Seine Vettern Lionel und Bohort, letzterer gleichzeitig als Beteiligter an der „Gral-Queste“ vielleicht das festeste Bindeglied der Trilogie, - Hestor/ Hector, der später als Lancelots Halbbruder erkannt wird, - König Ban, Lancelots Vater, - und König Claudas, abtrünniger Artusvasall, Gegner von Ban, für Artus der Rivale um den Weltherrschaftsanspruch, den ihm auch - Galahot streitig machte, der dann aber aus Freundschaft für Lancelot vom Herausforderer zum Artusritter wird, - und schließlich Galaad, der Sohn Lancelots und Vollender aller Abenteuer, der Parceval als Gralsheld ablöst. Dazu kommt - neben Ginover blasser - eine Reihe beeindruckender Frauen, wie Lancelots „Pflegemutter“ Ninienne (die Dame vom See) oder Galaads Freundin, die Frau von Maloant, oder Galaads Mutter, die Tochter des Gralkönigs. Soweit die handelnden Personen. Der Inhalt ist wohl kaum geläufig. Ich fasse ihn (auch unter Rückgriff auf die am Ende genannte einführende Literatur 2 ) so kurz irgend möglich - und nur auf den Kern reduziert - zusammen: Manche Erzählungen bergen schon am Anfang das Ende in sich. Diese gehört dazu. Diese Geschichte handelt am Ende vom Untergang des Artus-Reiches. Sie beginnt fern vom strahlenden Artushof, in Nord-West-Frankreich, im kriegsträchtigen Grenzbereich zwischen bretonisch-arturischem und französisch-römischem Territorium; aber auch hier wird ein Untergang bildgewaltig beschrieben: Claudas, der abtrünnige Artusvasall, ist im Reich des Königs Ban eingefallen. Ban hat die letzte Trutzburg in der Obhut seines Truchsessen zurückgelassen. Auf der Flucht kehrt er sich um, sieht sie brennen. Nach dem Verrat des Truchsessen ist 2 Vgl. besonders: Klaus Speckenbach, „Prosa-Lancelot,“ Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, Hg. Horst Brunner (Stuttgart: Reclam, 1993), 326-52. Der deutsche Lancelot-Roman 17 Alles verloren. Bans Tod lässt Frau und Kind schutzlos zurück. Die Fee Ninienne entführt das Kind und nimmt sich seiner an. Lancelot (getauft eigentlich auf einen anderen Namen) verbringt seine Kindheit in ihrem Reich, das von außen betrachtet durch zauberische Spiegelungen als See (Lack) erscheint. Ninienne erzieht Lancelot. Als 18-jähriger begegnet er uns wieder: Nu saget uns die historia das Lancelot was so lang mit syner frauwen gewesen von dem Lack das er achzehenjerig was worden, und was so schön ein jungherre das man in der welt so ein schön kint nit me funden hett. Er was wise und wolgezogen. Er was groß und lang und starck, und sin frauwen ducht wol zytt das er ritter wúrd, wann sie sah das er wyse und groß und starck was. Sie ducht wol das es súnd were und schand, er wúrde dann ritter so sie allerschierst möcht. Si hett manch mal ir loß gewurffen umb yn und hett wol geprúfet das er noch zu hohen dingen solt komen und ritter werden solt und lieb solt werden aller der welt. (Kluge I, S. 117,15ff.) Schön, weise, wohlerzogen, groß, lang und stark, zum Liebling der Massen bestimmt, in Hollywood u.a. mit Richard Gere besetzt, also perfekt - das ist Lancelot. Aber auch der, der zur Ritterschaft geboren ist, bedarf der Belehrung. Die Dame vom See belehrt Lancelot ausführlich über sein Schwert: Das schwert das der ritter furt, das zu beiden syten schnydet, und ist me geeret dann dheynerhande wapen und ist vil werder. Man mag da mit dryerhand ubel thun: stechen, slagen zur rechten hant und zur lincken hant, mit beiden. Das das schwert beydenthalb schnidet, das bezeichent die ritter die unsers herren gottes knecht múßen sin und syns volckes. Mit der eynen syten muß er slagen gottes fynde und die an yne nicht glauben wollen, mit der andern syten sol er got rechen von den die von böser gesellschafft sint, das sint die da nement und stelent. (Kluge I, S. 121,31ff.) Nicht auf Hauen und Stechen kommt es an, sondern darauf, wofür der Einsatz erfolgt. Das Rittertum, so wird Lancelot belehrt, dient der Kirche: Der ritter wesen wil der muß ein reyn hercz haben, das keyn dingk darinn sy, es sy reyn und gut, und alweg fechten umb den glauben zu stercken und die ee wiedder die philistin und wiedder die ungleubigen lút, und thun als die daten in der alten ee, die stritten mit yrn nachgeburen die ungleubig waren. [...] Ritterschafft wart gemacht betalliclichen umb die heiligen kirchen zu beschutten und zu beschirmen und darzu zu helffen mit libe und mit gut, wann sie sich nit gerechen mag mit arg, noch mit schwerten fechten mag noch mit wapen. Der ritter ist darzu gemacht das er den beschirme der den lincken backen bútet als er an den rechten geslagen wurt. (Kluge I, S. 123,12-16 und 120,33-121,1) Nach diesen Lehren - und sie sind nicht obenhin gesagt, sondern werden Gewicht gewinnen - rüstet Ninienne den jungen Lancelot schließlich aus und sie bringt ihn an den britischen Königshof. Ziel: Artus soll ihn zum Ritter schlagen. Bei den Feierlichkeiten wird jedoch versäumt, Lancelot das Schwert umzugürten. Das ist Lancelot nur recht, denn er nutzt die Gelegenheit, später von der Königin die Zusendung eines Schwertes zu erbitten. So ist er von diesem Augenblick an nicht nur Artusritter, sondern ganz speziell der Ritter Ginovers, i h r Ritter und dass er dies - und nichts anderes sein will - das weiß er wohl seit der ersten Begegnung: Freimut Löser 18 Die kóniginn besah yn und sprach das yn gott zu eim byderben manne machen múst, er hett im der schonheit gnug gegeben. Sie besah yn sere und lang. Er sah wiedder off sie, wann das nymant geprúfen mocht, und wundert yn sere wie die frauw so schön mocht gesyn. Yn ducht, wie sin frau von dem Lack und alle die frauwen die er ye gesah möchten nit geglichen der konigin mit schöne. Er hett auch recht, wann es was keyn frauw in der welt die ir glichen mocht mit schonheit und mit gúte. Des was sie frau uber all frauwen die off erden lebten. […] Die konigin nam yn mit der hant und fraget yn wannen er were. Da er ir hant encz b, er erschrack als ob er von eim traume erwacht were; er gedacht so sere nach yre das er nit enwúst was sie gesprochen hett. (Kluge I, S. 132,36-133,12) Vom ersten Treffen an sieht Lancelot nur Ginover. Aber er muss sich trennen. Lancelot muss eine Reihe von Aventiuren bestehen, um sich dadurch zu bewähren; die wichtigste davon ist die Eroberung der Burg Dolorose Garde. Gleichzeitig zeigt sich (vornehmlich durch eine Kette finsterer Träume) eine Krise von Artus’ Königsherrschaft. Nur indem der König öffentlich Beichte ablegt und Verfehlungen gegenüber seinen Vasallen wiedergutmacht, wird Rettung möglich. Freilich bedarf es jetzt besonders Lancelots Engagements: nur sein Eingreifen kann Artus vor Schmach und Schande bewahren. Artus war nämlich von Galahot - ihm letztlich überlegen - herausgefordert worden; dieser empfindet aber eine derart enge Freundschaft zu Lancelot, dass er seine erfolgversprechenden Eroberungspläne aufgibt und sich sogar als Artusritter in die Tafelrunde aufnehmen lässt. Galahot ist es auch, der Lancelots Liebe zur Königin bemerkt und so weit geht, dass er ein erstes Treffen arrangiert. Zur ersten Liebensbegegnung zwischen Ginover und Lancelot kommt es freilich erst im Rahmen des Krieges in Schottland. Artus anderseits erliegt den Verführungen einer Zauberin und wird von ihr gefangen gesetzt. Davon hebt sich deutlich die liebevolle Vereinigung von Lancelot und Ginover ab. Auch im Krieg in Schottland ist es wieder Lancelot, der den Krieg entscheidet und der Artus und die anderen Gefangenen befreit. In der nächsten bedeutenden Aventiure, der um die „falsche Ginover“, erwirbt Lancelot, so könnte man sagen, sogar ein gewisses moralisches Recht auf die Königin: Ein Komplott von Vasallen aus ihrem Heimatreich hatte sie beschuldigt, sie sei gar nicht die echte Ginover; sie sei vielmehr in der Brautnacht (als Halbschwester der echten) Artus untergeschoben worden. Der König - ausgerechnet Artus, der gerechte König! - glaubt den Anklägern und will Ginover verstoßen. Lancelot tritt im Kampf für sie ein und besiegt die Ankläger und Verleumder. Ginover geht mit ihm und Galahot in dessen Reich, bekennt sich aber nicht öffentlich zu Lancelot, um ihre eigene Ehre zu wahren. Nur durch ein göttliches Wunder wird die falsche Ginover entlarvt; zögernd, sehr zögernd kehrt die echte zu Artus zurück und erst auf ihr eindringliches Bitten hin nimmt auch Lancelot wieder seinen Platz an der Tafelrunde ein. Im weiteren Verlauf der Handlung gerät Lancelot in einen Hinterhalt der zauberkundigen Morgane, die ihn gefangen setzt und die ihr Bestes gibt, um ihn zu verführen: Da Lancelot zu bette qwam, die jungfrau ging zu im und sprach das er hieinn bas lege. ‚Warumb dete ich das? ‘ sprach er. ‚Ich wil bi uch slaffen‘, sprach sie. ‚Des geschicht nit! ‘ Der deutsche Lancelot-Roman 19 sprach er, ‚wolt ir hie slaffen, so will ich off uwer bette gan ligen‘, und stund off in sim hemd und in sim nydercleyde. ‚Neyn herre‘, sprach sie, ‚ir solt nirgent gan, ich wil zwey wort wiedder uch sprechen; ligent nyder, ich will uch nit beruren, es si uch dann lieb. Thut mir dasselb recht das ein ritter einer jungfrauwen thun sol! ‘ ‚Ich dete uch nie unrecht [126v] noch t rperkeit, noch niemer gethun.‘ ‚Des lone uch got, herre! ‘ sprach sie, ‚wann es ist ein gesaczt recht in des konig Artus lant, ob ein frauw oder jungfrauwe sucht hilff und gnad an einen ritter, das er ir gnad und hilff thu. Thut er des nit, so ist es recht das er in allen hofen sin ere verlorn habe. Darumb bit ich uch das ir mir helfft ußer großer not! ‘ ‚Was ist das? ‘ sprach er. ‚Das ir mich by uch laßt slaffen‘, sprach sie. ‚Geet, gute jungfrau, uff uwer bett! ‘ sprach er, […]. ‚So wil ich slaffen gan‘, sprach sie, ‚und wil uch ummer me fur uberwunden halten und fur geuneret, wann ir mir nit helffen wollet.‘ ‚Des thút, ob ir wolt! ‘ sprach er und lag wiedder nyder. Da sprang sie by yn und det als ob sie yn kußen wolt. Er sprang von jhem bette, und sie hielt yn vast mit dem hemde. Nöde hett er sie geqwetst, und begreiff sie mit beiden armen und leit sie under sich. Also hielt er sie lange. Da begund sie sich clagen und sprach, sie wer sieh. ‚Nu thút ein wenig durch mich‘, sprach sie, ‚das wedder uwer laster noch uwer schand sy! ‘ ‚Das wil ich gern thun‘, sprach er, ‚saget mir was das sy! ‘ ‚Thut her mir uwer ore‘, sprach sie, ‚ich wil uch r nen! ‘ Da det er sin heubt zu ir, und sie det als ob sie im runen wolt und kúst yn vor den m nt. Da wart im so zorn das er aller zurißen wonde und sprach, wer sie nit ein jungfrau, er slug ir ir heubt von dem buch. Da lieff er uß dem pavilun und wusch synen munt, und die jungfrau sprach das er wiedder slaffen qweme, sie wolt sin nymer me gebitten, so ir got must helffen. Mit großer pin ging er wiedder uff sin bitte, und sie ging slaffen uff das ir. (Kluge I, S. 577,25-578,22) Nachdem alle Verführungskünste derart kläglich gescheitert sind, Lancelot sich standhaft weigert und gar in eine Art „Hungerstreik“ tritt, wird er freigelassen. Dabei erhält er freilich die Auflage, dass er nicht vor Ablauf einer bestimmten Frist an den Königshof zurück kehren darf. So von Ginover getrennt, fällt er in den Wahnsinn. Der Freund Galahot hält in für tot und stirbt. Die Frau vom See (Lancelots „Pflegemutter“ Ninienne) erkennt die Ursache von Lancelots Krankheit. Sie sieht auch voraus, dass Melegant die Königin entführen wird. Lancelot aber hat erst eine Reihe von Prüfungen zu bestehen, bevor es ihm gelingen wird, Ginover zu befreien: Er muss auf den Schandkarren steigen, er muss die Schwertbrücke überwinden und er muss Ginover aus dem Land ohne Wiederkehr befreien. Die Prüfung, die Richard Gere als Lancelot im Film „The First Knight“ besteht, sieht so aus 3 : 3 The First Knight. Reg. Jerry Zucker (Columbia Pictures, 1995). Freimut Löser 20 Lancelots Prüfung ist etwas ganz anderes als der Kampf gegen Kampfmaschinen. Er muss einen inneren Kampf kämpfen: Um zu Ginover zu gelangen, muss er den Schandkarren besteigen, den Karren, der Verurteilte zum Galgen bringt, den, auf den man ihn als Mörder und Dieb beschimpft, mit Dreck beschmeißt, den, auf dem jeder jede Ehre verliert. Er muss die Schwertbrücke überschreiten und das „Land ohne Wiederkehr“ betreten. Kurz: Dem Tod begegnen. Danach - nach der Befreiung Ginovers ist er der beste Ritter der Welt. Hier schließlich, auf dem Höhepunkt der ritterlichen Laufbahn, muss er erkennen und erfahren, dass nach ihm ein Besserer kommen wird, ein Besserer der die höchste Aventiure des Grals beenden wird. Der zweite Teil des „Lancelot popre“, also des eigentlichen „Lancelot“, ist von seiner Struktur her noch weniger übersichtlich. Es handelt sich nämlich über lange Erzählstrecken um eine Lancelot-Suche, die Lancelots eigene Aventiuren und die Suche anderer Artusritter und nach anderen Artusrittern verschachtelt ineinander baut. Ich beschränke mich auf Lancelots Weg. Zentrales Thema und Ziel dieses Weges ist es, die verschiedenen Arten von Liebe und Untreue zu variieren und dabei Lancelots unerschütterliche Liebe zu Ginover zu betonen. Als Lancelot aber auf die Gralsburg Corbenic gelangt, wird er durch Zauber dazu gebracht, mit der Tochter des Gralkönigs eine Nacht zu verbringen. Er hält sie freilich für Ginover. Während dieser Nacht, während dieser Liebesbegegnung Lancelots mit „Ginover“ wird der zukünftige Gralheld Galaad gezeugt, der eben von der genealogischen Linie der Gralfamilie abstammen muss. Er [Lancelot] dete sich bald uß und ging nacket in die kammer, biß an syn hemde und nÿdercleyt. Er ging an das bett und leyt sich nacket zu ir als der da went, es were sin frauwe die koniginn. Er rett nit als eyner von dem alle irdisch ritter erlucht und erhaben solten werden. Die enpfing yn mit freuden, und er dete ir solche fruntschafft und wollust als er syner frauwen der konigin pflag zu thun. Also waren sie zusamen gelegen, der schönst und der best der zu der zytt lebt, auch die schönst jungfrauwe die von der hochsten lynien Der deutsche Lancelot-Roman 21 was die man off die zytt wúst. Sie begerte syn mit inwendigen gedencken, wann sie es also sere nit det von syner schönheit willen oder durch erhiczung des fleischs noch durch hoffart oder begirden, sunder durch solch frucht zu enpfangen da von alles das landt komen solt zu sym ersten gluck, das von dem jemerlichen schlag des schwertes an frömde handt gewandt und verdorben was, als sie das jemerlich besunen hatt in der such ng des grales. Aber er begert ir inn eyner ander meynung, wann durch ir lieb oder schonheit begert er ir nit, dann er genczlich meynt, es wer syn frauw die koniginn. Und des halben, das er sie darfúr erkant, was er erhiczt als Adam kant syn gemahel getruw durch das gebott unsers herren. Aber er bekant sie wiedder gott und die heiligen kirchen in sunden und nit darumb das der herre, da all barmherczikeyt inn ist, urteilt nach den geschichten des sunders, sah an die samenung nach den geschichten den vom land, als der ghener der nit wolt das sie alle tag in jamer und in armut waren; so gab er yn solch frucht zu enpfangen und zu gewinnen das von jungfrauwen bl men, die da verlorn were worden, ward gemacht Galaat, der sere starck und fr mm ritter, der die hoen abentúre des grales zu ende bracht und der sich saczt an die sorglich stat der tafelrunden, da hien sich nye keyn ander ritter gesaczt, er enwere dott. (Kluge III, S. 296,2-297,2) Am Artushof zurück steht Lancelot nun in höchstem Ansehen. Aber der Gipfel - so will es das Gesetz Fortunas - ist schon Sturz. Lancelots Ruhm und das Ansehen, das er bei Artus genießt, schüren den Neid der anderen Artusritter. Man verschwört sich gegen ihn, als er zum Turnier in Kamelot zurück erwartet wird. Lancelot kann in diesem Turnier jedoch die Gegner besiegen, ja demütigen und er kann ein heimliches Treffen mit seiner Geliebten erreichen. Hier spricht die Königin die Sündhaftigkeit ihrer Liebe an: diese Liebe wird, das weiß sie, Lancelot die höchste Ehre, nämlich den Gral zu finden, verwehren. Lancelot widerspricht: Nur die Liebe leitet ihn. Sie, diese Liebe, ist Ursache und Beweggrund all seiner Taten. Im Verlauf der Handlung gerät Lancelot schließlich ein weiteres Mal in die Gefangenschaft Morganes. Dort malt er seine Lebensgeschichte an die Wände. Im letzten Teil, der „Tod des Königs Artus“ betitelt werden kann, wird Artus diese Fresken sehen, er wird Ginovers und Lancelots ehebrecherische Liebe erkennen. Das Ende kündigt sich an, auch von anderer Seite, durch Vorausdeutungen, die Mordred betreffen. Mordred, der außereheliche Sohn des Königs, gilt als Bruder Gawans; tatsächlich aber ist er nur sein Halbbruder. Düstere Prophezeiungen sagen voraus, dass er seinen Vater töten und dass er gleichzeitig durch dessen eigene Hand fallen wird. Unterdessen ist die Rückeroberung von Lancelots Ländern in einem Krieg in Flandern in Gang. Dabei ist es höchst bedenklich, dass weder Artus noch Lancelot sich zunächst daran beteiligen. Als sie schließlich doch endlich eingreifen, beenden sie den Krieg erfolgreich. Dies ist eine letzte große gemeinsame Leistung aller Artusritter. Lancelot, durch Zauber erneut mit der Tochter des Gralkönigs vereint, von Ginover verstoßen, erneut dem Wahnsinn verfallen, wird abermals geheilt. Diesmal - das ist bezeichnend - nicht durch die Frau vom See, sondern durch den Gral auf der Gralsburg Corbenic. Dort in der Nähe von Parzeval entdeckt, zum Hof zurückgebracht, erreicht er - wieder - Ginovers Gunst. Freimut Löser 22 Die Handlung führt - man sieht es - in eine neue Dimension: die große, die letzte Suche nach dem Gral. Parallel dazu kommt es zu einer Verurteilung der Artuswelt; geprägt und geleitet wird diese durch monastische Religiosität: Die Suche beginnt in dem Moment, als Lancelot seinen Sohn Galaad zum Ritter geschlagen hat und dieser an der Tafelrunde den gefährlichen Sitz eingenommen hat, der nur für den Ritter bestimmt ist, der der Beste aller Ritter ist und der allein die Aventiuren alle und die letzte Aventiure, die Suche nach dem Gral, beenden kann. Bei diesem Pfingstfest erscheint dann auch der Gral - ungreifbar - als momenthafte Offenbarung am Hof. Alle Versammelten verpflichten sich zur Suche nach dem Gral. 4 Den Rittern, die den ritterlichen Aventiurenbegriff kennen, und nur diesen, wird erst in einem langsamen und mühevollen Prozess bewusst, dass die Gralsuche ein neues Werte- und Normensystem voraussetzt. Bestandteil dieses Erkenntnisprozesses sind predigthafte Unterweisungen von Einsiedlern. Es geht künftig nicht mehr um die alten Tugenden der Ritter, auch nicht um die Tugenden, die durch die Ritterlehre der Frau vom See vermittelt worden waren, sondern es geht um ausgesprochen mönchische Qualitäten wie Jungfräulichkeit und Demut. D.h. aber auch, dass in diesem Teil ritterliche Kämpfe nicht mehr erzählerisch gestaltet werden, sondern dass sie gerade nur noch erwähnt werden. Meist erfüllen sich solche Aventiuren ganz rasch ohne Kampf und sie werden nur noch summarisch aufgezählt. Die Findung des Grals, nach dem alle Welt suchte, bedeutet die unverdeckte Schau der Geheimnisse Gottes, bedeutet den Empfang der Gnade Gottes. Perfekte Artusritter, wie Gawan, Hector, Lionel scheitern an der Anforderung dieser andersartigen Suche. Die wichtigste Voraussetzung für diese Suche nämlich ist die Bereitschaft zum Finden und Suchen Gottes, die ihrerseits die Beichte voraussetzt. Parceval und Lancelots Vetter Bohort gehen den Weg der Bewährung; sie bewähren sich, nachdem sie eine Reihe von Versuchungen haben bestehen müssen. Galaad hingegen erfüllt alle Aufgaben. Er bedarf dazu keiner Bewährung mehr, für ihn ist die Erfüllung der Aufgaben vorausbestimmt, sie ist Ritual ohne Mühe. Zwischen diesen drei Vollkommenen und den scheiternden Artusrittern steht Lancelot: er ist in langer Entwicklung zur Einsicht seiner sündhaften Liebe zu Ginover und zur Sündhaftigkeit eben dieser Liebe geführt worden. Das zeigt Lancelot auf dem Weg zur Läuterung. So wird ihm schließlich eine Teilschau des Gral zu teil. Gewissermaßen durch den Türspalt. Die drei Erwählten aber erleben sinnbildlich die Gotteserkenntnis. Auf Corbenic, der Gralsburg, feiern 12 Ritter noch eine Gralmesse. Dann führen die drei Erwählten, Galaad, Parceval und Bohort, den Gral auf dem Schiff Salomons ins heilige Land, wo allein Galaad die Schau der göttlichen Geheimnisse erfährt. Von Engeln wird seine Seele im glücklich gewährten Tod schließlich in den Himmel geleitet. Eine Hand - übernatürlich - ergreift den Gral und entrückt ihn von der Erde. Die Abwesenheit des Grals und die Vollendung der Gralaventiure lässt die Artusgesellschaft ziellos, heillos zurück. Und sie setzt sie den letzten vernichtenden 4 Das Folgende weitgehend nach Speckenbach, 333f. Der deutsche Lancelot-Roman 23 Konflikten aus. Kurze Zeit nachdem Lancelot zurückgekehrt ist, nimmt er - diesmal ohne jede Vorsicht und ohne jede Rücksicht - seine Liebesbeziehung zu Ginover wieder auf. Es kommt zu Missverständnissen zwischen den Liebenden, es kommt zur Eifersucht, zur Angst vor Entdeckungen. Schließlich wird das Liebespaar verraten. Lancelot entkommt. Ginover wird zum Tod verurteilt. Lancelot kann sie vor dem Scheiterhaufen retten, er kann sie befreien. Bei den Kämpfen freilich tötet er - ohne es zu wissen und ohne jede Absicht - den Lieblingsbruder seines Freundes Gawan, was ihm die Todfeindschaft seines Freundes einträgt. Der Krieg gegen Lancelot nimmt seinen Lauf. Gawan stellt sich Lancelot im letzten entscheidenden Zweikampf und wird von ihm tödlich verwundet. Währendessen hat Mordred als Statthalter die Macht im Artusreich an sich gerissen. Artus muss um seine eigene Herrschaft kämpfen. Die Schlacht führt zur Vernichtung des Artusheeres. Artus und Mordred töten sich gegenseitig. Das Schwert Escalidor, Zeichen der Königsmacht, wird von einer Hand in einen See entrückt. Lancelot stirbt als Eremit und als Büßer. Seine Seele wird von Engeln in den Himmel entrückt. Soweit die Handlung. Die Größe eines Werkes lässt sich wohl nur durch einen Blick auf das Verhältnis zwischen Form und Inhalt beantworten. Was verleiht einer derart überbordenden Handlung Struktur? 5 Was macht die Reihe von Aventiuren zur Aventiurekette? Strukturiert wird sie durch eine klare Grobgliederung (auch wenn die zahlreichen ineinander verschachtelten Einzelaventiuren diese große Struktur fast zu sprengen drohen). Strukturiert wird sie auch durch eine „Geographie der Erzählmuster“: Der artusferne Beginn an der Peripherie, Verlagerung des Geschehens - mit Lancelots Eintritt in den Artuskreis - nach Großbritannien, Rückkehr der „Geschehensdominante“ am Schluss des Lancelot-Teiles auf den Kontinent, und dort gleichzeitig im Krieg der Sieg über den Usurpator Claudas der letzte große Höhepunkt der Artusmacht. Von hier aus zieht die jetzt beginnende „Gral-Queste“ alle Aktivitäten ab und verlagert sie auf die Gralsburg Corbenic, in vager Nachbarschaft zu Artus’ Britannien zu situieren. Typisch für die Gattung des Gralromans greift das Geschehen von hier aus in den Orient über, ins heilige Land. Die drei Auserwählten (Galaad, Parceval, Bohort) begleiten den Gral dorthin; nur Galaad wird die visio beatifica, die unverhüllte Schau, zuteil. Der letzte Teil („Tod des Königs Artus“) führt in den Untergang. Die Regeln der Turniere und Aventiuren sind außer Kraft gesetzt. Es herrscht Ernstkampf und Krieg, in den Artus selbst - nicht der ruhende Pol, den man sonst aus den Artusromanen kennt - eingreifen muss. Feindschaft, unversöhnliche Feindschaft der Tafelrunder (paradigmatisch Gawans und Lancelots) endet in der Selbstzerstörung. Artus und Mordred fügen sich gegenseitig die tödlichen Wunden zu. Den letzten Überlebenden der gestorbenen Epoche, Lancelot, Hestor und Bohort, bleibt die Moniage. Wer hier - wie die frühere Forschung - nur einen immer mehr addierenden Willen zu „üppiger Stoffkompilation“ am Werk sieht, liegt falsch. Zeitlich parallel lau- 5 Vgl. zum Folgenden: Uwe Ruberg, „Lancelot,“ Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 5. Hg. Kurt Ruh u.a. (Berlin/ New York: de Gruyter, 1985), 530-46. Freimut Löser 24 fende Handlungsstränge sind durch systematisch verschränkende „Schachtelung“ („entrelacement“, F. Lot) ineinander verwoben. Kontinua des Raumes und der Zeit sind für den Artusroman neue, einheitsstiftende Konzepte. Zahllose Einzelabenteuer werden durch Integration in eine gestufte Gesamtbewegung und Ordnung einzelner Suchen gebracht, deren höchste - und letzte - die nach dem Gral ist. Sie ist Perfektion und Ende zugleich. Als die gesamte höfisch-ritterliche Welt zur Suche aufgebrochen ist, liegt - wie sollte es anders sein? - der Artushof verödet. Abenteuer sind oft - strukturbildend - als Doppelabenteuer ausgebildet. Lancelot beispielsweise kann nur den ersten Teil eines bestimmten Grab-Abenteuers vollbringen; der zweite, entscheidende Teil ist Galaad vorbehalten. Aber so, wie sich der einzelne Ritter, Lancelot, nicht mehr nach dem Ausschreiten des doppelten Weges zum idealen Ziel emporläutern kann, so ist auch der Hof nicht zur Perfektion bestimmt. Im ersten Teil der „Lancelot“-Erzählung scheint es zunächst noch so, als sei man auf dem Weg zu einer erfüllten Artusidealität. Aber immer deutlicher werden die weltlichen Normen relativiert, immer deutlicher werden die Heilserwartungen der Zukunft, und die bedrohlichen Vorzeichen für die Artuswelt. „Gral-Queste“ und „Tod des Königs Artus“ gehen den Weg der mystischen Entrückung und des Scheiterns eines gesellschaftlichen Entwurfs. Die Geschichte des Rittertums wird damit definiert in ihrer tragenden Rolle für das Heilsgeschehen. War schon die frühe Gralsgeschichte (Weitergabe des Grals über Joseph von Arimatia an das britische Rittertum) apokryphe Weiterführung des Neuen Testamentes, so ist die „Gral-Queste“ deren „legendenhafte Weiteroffenbarung“. In der berühmten Ritterlehre der Frau vom See wird der junge Lancelot auf eine Lebensform vorbereitet, die sich nicht, wie wir das aus Geoffrey of Monmouth, Chrétien, „Moritz von Craun“ oder Veldekes „Eneit“ kennen, aus der Antike definiert, sondern aus dem Alten Testament und der „militia christiana“. Die geforderte „Reinheit der Herzen“ führt in den Bereich der gelebten mönchischen Askese. „Der Abstand“, so Uwe Ruberg im Verfasserlexikon, „der Abstand zwischen irdischer Wertordnung und den Erfordernissen der Erkenntnis- Suche in geistlicher Ritterschaft ist nicht mit gewohnten höfisch definierten Kategorien zu überbrücken.“ Der „Abstand zwischen irdischer Wertordnung und den Erfordernissen der Erkenntnis-Suche“ - das führt zu den beherrschenden Themen des Textes und zur Tragik seiner Figuren. Eines nämlich beherrscht alles: die schicksalhafte Liebe zwischen Lancelot und Königin Ginover, der Frau an Artus’ Seite. Es ist dies ein Kernmotiv, das schon in Chrétiens de Troyes „Chevalier de la Charrete“ (mit der Fahrt auf dem Schandkarren und der Überquerung der Schwertbrücke) vorgebildet war. Hier nun ist es beherrschendes Movens. So sieht das erste Liebesgeständnis aus: ‚Nu sagent mir‘, sprach sie, ‚durch wes willen datent ir alle die guten ritterschafft die ir ie hant gethan? ‘ ‚Durch uwern willen, frauw‘, sprach er. ‚Hant ir mich so lieb? ‘ sprach sie. ‚Ja ich, frauw‘, sprach er, ‚min selbs lip han ich als lieb nit als ich uch han.‘ ‚Wie lang hant ir mich so lieb gehabt? ‘ sprach sie. ‚Von dem tage, frau‘, sprach er, ‚das ich ritter geheißen was, nochdann enwas ichs nit.‘ ‚By den truwen die ir mir schuldig sint‘, sprach sie, ‚wannen komet uch die groß mynne die ir an mich geleit hant? ‘ ‚Durch uwern willen, frauw‘, Der deutsche Lancelot-Roman 25 sprach er. ‚Hant ir mich so lieb? ‘ sprach sie. ‚Ja ich, frauw‘, sprach er, ‚min selbes lip han ich als lieb nit als ich uch han.‘ [...] Da begund er so sere weinen das der samet aller naß wart den er ane hett; […] ‚Nu sagent mir‘, sprach sie, ‚wo von die mynne kome von der ich uch yczunt fragte! ‘ ‚Ich han uch geminnet, frau‘, sprach er, ‚von dem tag das ich uch von erst sah.‘ (Kluge I, S. 293,31-294,10) Und wenn Lancelot Ginover begegnet, dann vergisst er alles um sich herum; auch sich selbst: Das roß lieff war es wolt, wann er endeth anders nit dann das er hinder sich geyn der konigin sah. Das roß durst und lieff zu dem waßer und sprang darinn. Das waßer was tieff und breit, und sin augen waren allweg off der koniginn. Das waßer was groß und ging an die muren von den loien da die koniginn off was. Da das roß uber geswamm biß an die muren, die enmocht es daruber nit und kerte wiedder umb, es schwamm so lang biß das es múde wart. Das roß ging under das waßer, und der ritter bleib daroff siczen, biß im das waßer an die schultern ging. Er múte sich nit wie er uß keme, und ließ das roß gewerden wies wolt, und saß er allschone. Da die koniginn sah das der ritter so tieff in dem waßer was, und das sie ducht das er yczunt ertrincken wolt, da begunde sie zu r ffen: ‚Helffent, frauw Sancta Maria, hie ertrincket yczunt ein ritter! ‘ (Kluge I, S. 227,12-23) Schluss Der Roman einer großen Liebe also, für die Lancelot alles und jedes zu geben und aufzugeben bereit ist. Es macht die Tragik dieser Liebe aus, dass sie ihn auch den Zustand des Erwählten kostet. Lancelot, eigentlich der auserwählte Gralheld, wird durch die Minne, die eine Ehebruchminne ist, vom Gral ausgeschlossen. Aber das betrifft nicht nur ihn persönlich. Letztlich handelt der Text, der Artusrittertum und Gralrittertum miteinander in Verbindung bringt, davon, wie Artusrittertum und Gralrittertum sich gegenseitig ausschließen. Im zweiten großen Teil der Lancelot- Erzählung kommt es immer häufiger vor, dass die Ritter lange (bis zu zwei Jahre lang) auf keinerlei Aventiure stoßen. Warum? Den Weg zur ritterlichen Bewährung, zur aventiure, weist nicht mehr die Tüchtigkeit, die Tapferkeit, das Können des Ritters, weist keinerlei weltliche Instanz. Die Abenteuer sind geistlich und ihr Stifter ist der Heilige Geist. Und im letzten Teil der Trilogie stehen dann die weltlichen und gottlosen Artusritter den wenigen Dienern Gottes konträr gegenüber. Mein Lehrer Kurt Ruh hat darin zisterziensische Spiritualität und die Endzeiterwartung des Abtes Joachim von Fiore am Werk gesehen. Andere begnügen sich mit dem verbreiteten augustinischen Dualismus zwischen civitas terrena (oder gar: diaboli) und civitas Dei. Wie immer. Es ist eindeutig so, dass der Gral dem Artusreich entzogen, entrückt wird, weil man ihm dort nicht zu dienen verstand: Du hast gesehen des du so lang begeret hast zu sehen. Und noch hastu es nit also völliclichen gesehen als du noch thun solt. Und weist du wo das syn sol? In der stat von Saras in dem geistlichen pallast. Und darumb soltu von hinden faren und geselschafft th n dem heiligen vaß, das zu nacht scheiden sol von dem konigrich von Logres in der wise das es da nummer me sol gesehen werden, noch fúrbas keyn abentúr men gescheen sol. Und Freimut Löser 26 weyst du warumb es von hindann feret? Darumb das es nit geeret wirt als es solt, noch im wirt nit gedienet als es von recht solt von den von dißen landen. Wann sie hant sich geergert, wie wol das sie erfúlt sind gewest von der gnaden des heiligen vaßes. (Kluge III, S. 371,1-9) Vom Gral (dem heiligen vaß) bleibt nur die Geschichte. Und das ist wörtlich zu nehmen: Der Gral, entrückt, manifestiert sich dem Rittertum nur noch dadurch, dass man sich Geschichte(n) von ihm erzählt. Und Artus bleibt nur das „Weitermachen“: Vordergründige Aventiure-Beschäftigung in Turnierereien: Rittertum als Sport. Gegen diese sinnentleerten Vorstellungen von Aventiuren steht das geistliche Rittertum, und es ist bezeichnenderweise ein Geistlicher, der Gawan die Antwort auf die große Frage gibt: ‚[...] Nun bitten ich uch das ir uns sagent warumb wir nit als vil abenture funden als wir pflagen.‘ ‚Ich sagen uch‘, sprach der g t man, ‚wie es ist. Die abentúr die n zukoment sint die bedútniß und die bewisung von dem heiligen gral, und die zeichen von dem heiligen gral erschinent keynem sunder, noch keynem manne, umbfangen mit sunden, darumb sie uch nit erschinent, wann ir sint zu vil ungetruw groß sunder. Darumb sollent ir nit wenen das diß sy abentur des heiligen grales, lút zu döten und ritter zu erschlagen, wann sie sint von geistlichen dingen die da sint großer und beßer gnung.‘ (Kluge III, S. 219,13-20) Kurz: Im höfischen Medium des Romans wird von der Verurteilung und vom Ende der höfischen Welt erzählt. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass die Form dieser Erzählung die Prosa ist. Vorgeprägt ist sie zu dieser Zeit nur durch den „Lucidarius“, ein Lehrgespräch über die Gestalt der ganzen Welt, das in einem (übrigens gereimten! ) Vorwort die Prosa durch ihre größere Sachlichkeit entschuldigt, durch die eher trockene Form der sächsischen Weltchronik, durch die Rechtsprosa Eikes von Repgow (Sachsenspiegel), durch die Ermahnungen der Predigt und die mystische Sprache des St. Trudperter Hohen Liedes und Mechthilds von Magdeburg. Rechtsprosa, Chronik, Lehrgespräch, Predigt einerseits, mystische bibelnahe Sprache andererseits - das spannt auch den Rahmen, in den die Prosa des deutschen Lancelot gehört: Die Prosa - hier noch ganz singulär in deutscher Erzählkunst - ist „künstlerisches Aussagemittel der Geschichtsnähe und der Wahrheitsverbürgung …. Dem Versroman, der dem Verdacht der Wahrheitsverfälschung und der Erschöpfung seiner Möglichkeiten ausgesetzt war, wird die frische Prosaform zur Seite gestellt.“ Dem eben kommt das wachsende Authentizitätsgepräge von Laienrechtsprosa, Geschichtsprosa, gelehrt-traktathafter Didaxe, Predigt und mystischer Kunstprosa zur Hilfe. Authentizität der Sprache heißt aber auch Authentitzität des Übersetzens. „Der dargestellten Wirklichkeit mit ihrer vielgliedrig-simultanen Ursachenverkettung entspricht eine flexibel gehandhabte syntaktische Komplexität“, so Uwe Ruberg im Verfasserlexikon. Bis zu sieben Nebensätze hat man gezählt (man lese nur oben die Zeugung Galaads noch einmal nach). Max Wehrli hat dies schöner gesagt, und ich darf ihn - auch wegen der Schönheit seiner Prosa - zitieren: „Prosa: das heißt hier nicht ‚Prosaauflösung‘ höfischer Epik in eine handlichere, anspruchslosere Form wie später, wohl aber zunächst für uns die Befreiung vom obligaten gereimten Kurzvers, der metrisch und syntaktisch kurzatmig ist, leicht mechanisch werden kann und der Typisierung und Formelhaftigkeit Der deutsche Lancelot-Roman 27 des Erzählten Vorschub leistet, dennoch aber bis ins 16. Jahrhundert hinein als handfeste, ohrenfällige, bequeme Normalform dient. Erzählende Prosa“ - so singulär in jener Zeit - „ist ein schwieriges und anspruchsvolles Unterfangen […] Prosa ist so gut eine Kunstform wie der Vers, ganz besonders für die akustische Vermittlung gewöhnte mittelalterliche Literatur. Es geht um die Pflege rhetorischer Formen, vorab des Rhythmus, der im Zusammenhang mit einer reicher und logisch genauer werdenden Syntax steht, wie es der Vers kaum erlaubt; es geht um eine verfeinerte, bewegliche Stilisierung des Details gerade auch bei der Schilderung seelischer Regungen.“ 6 Was würde sich dafür besser eignen als die Prosa einer großen Liebe, die eben alles andere ist als prosaisch: Sie kamen in der koniginne kamern gande. Der knapp wart der koniginne geware und knyte vor ir nyder und besah sie sere gútlich als lang als er úmmer getorst. Da er sich beg nd schamen, er schlug syn augen off die erden und er schampt sich fast sere. Myn herre Ywan sprach: ‚Frauw, das ist der knappe den myn herre von nehte ritter macht, er ist herre komen zu uch und wil urlob nemen.‘ ‚Wil er yczunt hinweg? ‘ sprach die frauw. ‚Ja er, frauw‘, sprach myn herre Ywan, ‚er muß faren vechten myns herren halben fur die frauwen von Noaus.‘ ‚Hey herre got‘, sprach die konigin, ‚warumb gestattet das myn herre? ‘ [...] Die koniginn nam den knappen mit der hant und sprach: ‚Stent off, lieber herre! Ir sint licht vil edeler dann nymant wenet, ir hant so lang vor mir geknyet das ich darmit unhöflich gethan han das ichs uch gestatet han.‘ ‚Hey frauw‘, sprach er súffczende, ‚ir múßent mir zum ersten vergeben die affenheit die ich gethan han.‘ ‚Was affenheit hant ir gethan, lieber jungherre? ‘ sprach sie. ‚Frauw‘, sprach er ‚das ich von hinnen fur und keyn urlob zu uch nam.‘ ‚Lieber frunt‘, sprach die frauw, ‚ir sint so jung das man uch so gethan missetat wol vergeben mag. Und hettent ir vil me missetan, ich wolt es uch gern vergeben.‘ ‚Das vergelt uch got, frauw! ‘ sprach er. ‚Und wer es uch lieb, frauw‘, sprach er, ‚ich wer uwer ritter war ich mich hien bewente.‘ ‚Das ist mir werlich lieb‘, sprach sie. ‚Frauw‘, sprach er, ‚so wil ich mit uwerm urlob faren.‘ ‚Viel lieber frunt‘, sprach sie, ‚got von hymmel muß uch bewarn! ‘ Er antwort ir innen sym munde das ir got lonen múst, wann das er ir lieber frunt were. Sie nam yn mit der hant und hub yn off; im wart ser wol z m t da er ir bloßen hant an der synen enz b. (Kluge I, S. 138,33-139,6) Am Anfang mussten wir die Frage stellen, ob der deutsche Lancelot-Roman ein großes Werk der Literatur ist. Was immer er ist - er ist die genaue Erzählung, in erster, nie zuvor so gehörter deutscher Prosa, von einer großen Liebe, vom Scheitern des Artusrittertums, dessen Idealität die Versromane noch feiern; er ist die Geschichte vom Finden des Grals und vom Ende aller Aventiuren; er ist die Geschichte der Katastrophe des arturischen Reiches; er ist die tragische Geschichte aller handelnden Personen; er ist die Summe der Tradition und deren Neubeginn. Sein Stoff ist, in den Augen der Zeitgenossen, aus dem Gold, aus dem Weltliteratur geschmiedet wird: 6 Max Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (Stuttgart: Reclam, ²1984), 501f. Freimut Löser 28 Einmal, vor Zeiten, hat der um 1225 in altfranzösischer Prosa abgefasste Lancelot-Roman die ganze mittelalterliche Welt entzückt. Dante schätzte die „ambages pulcerrime Arturi regis“, Chaucer pries den Lancelot in den „Canterbury Tales“, und noch im 15. Jahrhundert versprach Sir Thomas Malorys englische Version den „noble lords and ladies“, sie würden darin Rittertum und Edelmut, Menschlichkeit, Freundlichkeit, Kühnheit und Liebe, Freundschaft, Feigheit, Mord, Hass, Sünde und Tugend finden - das heißt, eine höfische Welt und darüber hinaus menschliche Schicksale. 7 Sollte jetzt Lust auf die Lektüre aufgekommen sein, sei auch gewarnt. Man braucht viel Zeit und viel Geduld. Aber es lohnt sich, wie bei jedem anderen „großen“ Werk. Bestimmt mehr als jede Hollywood-Version. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Kritische Ausgabe Kluge, Reinhold: Lancelot. 4 Bde. Berlin: Akademie-Verlag, 1948-1997. Zur Einführung: Ruberg, Uwe: „Lancelot.“ Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 5. Hg. Kurt Ruh u.a. Berlin/ New York: de Gruyter, 1985. 530-46. Speckenbach, Klaus: „Prosa-Lancelot.“ Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hg. Horst Brunner. Stuttgart: Reclam, 1993. 326-52. Wehrli, Max: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. 2. Aufl. Stuttgart: Reclam, 1984. 500-4. Lektüreempfehlungen: Für „Originale“: Kennedy, Elspeth: Lancelot do Lac. The non-cyclic Old French prose romance. 2 Bde. Oxford: Clarendon, 1980. Sommer, Heinrich Oskar: The Vulgate Version of the Arthurian Romances. 7 Bde. Washington: Carnegie Institution of Washington, 1909-1913, Registerband 1916. Für „Mittelhochdeutsche“ (mhd. mit Übersetzung): Steinhoff, Hans-Hugo und Reinhold Kluge, Hg.: Prosalancelot: Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147. 5 Bde. Frankfurt/ Main: Deutscher Klassiker-Verlag, 1995-2004. 7 Ruth Schirmer, Lancelot und Ginevra. Ein Liebesroman am Artushof (Zürich: Manesse, 1961), 461. Der deutsche Lancelot-Roman 29 Nacherzählt: Langosch, Karl: König Artus und seine Tafelrunde: Europäische Dichtung des Mittelalters. Stuttgart: Reclam, 2003. Für Anglisten: Malory, Thomas: Le morte Darthur or The hole book of Kyng Arthur and of his noble Knyghtes of the Rounde Table. New York: Norton, 2004. White, T. H.: The Once and Future King. London: HarperCollins, 1994. Für Amerikanisten: Berger, Thomas: Arthur Rex. A Legendary Novel. New York: Delacorte Press, 1978. Twain, Mark: A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court, New York: Norton, 1982. Für Heute: Dorst, Tankred: Merlin oder Das wüste Land, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1981. Schirmer, Ruth: Lancelot und Ginevra. Ein Liebesroman am Artushof. Zürich: Manesse, 1961. Für Morgen (und das Postmoderne): Barthelme, Donald: The King. New York: Harper & Row, 1990. Für Nicht-Leser: The First Knight. Reg. Jerry Zucker. Darst. Richard Gere, Sean Connery und Julia Ormond. Columbia Pictures, 1995. Jeremias Gotthelf Die Schwarze Spinne Kaspar H. Spinner 1. Ein fragwürdiges Werk? Die Novelle, die hier vorgestellt wird, kann für jeden einigermaßen aufgeklärten Leser eigentlich nur ein Ärgernis sein. Da erzählt ein Autor, der in seinem Beruf Pfarrer war, ganz ernsthaft vom Teufel, und das in einer Zeit - um 1840 -, in der sich die Theologie von der Teufelsvorstellung verabschiedet hat und wo - man denke an Mephisto in Goethes Faust - die Teufelsgestalt in der Literatur längst ironisiert worden ist (vgl. Richter: 2006). Auch sonst steckt die Novelle voller Aberglauben, und politisch erscheint sie als Preisung hergebrachter Sitte. Am anstößigsten dürfte für heutige Leser die Verunglimpfung alles Fremden in der Novelle sein. Die Rahmenerzählung (s. das Inhaltsschema auf der folg. Seite) führt uns in einen Bauernhof im Emmental in der Schweiz, eine idyllische Szenerie, in der „die durch Gottes Hand erbaute Erde und das von Menschenhänden erbaute Haus im reinsten Schmucke“ (4) glänzen. Bei einem Taufessen erzählt der Großvater von einer fürchterlichen Heimsuchung, die in vergangenen Jahrhunderten zweimal in Gestalt einer schwarzen Spinne über diesen Ort gekommen ist. Diese Binnenerzählung bildet den Hauptteil der Novelle. Sie spielt in ihrem ersten Teil in einer Zeit, in der fremde Herren „aus dem Schwabenlande“ (29) die Bauern grausam unterdrücken; diese tyrannischen „Teutschen“ (28) sind die eigentliche Ursache für das Unglück. Ein grüner Jäger, der sich als der Teufel erweist, bietet den Bauern, die keinen Ausweg mehr wissen, seine Hilfe an. Die Bauern zögern, das Angebot des Grünen anzunehmen. Aber eine eingeheiratete Frau aus Lindau, eine Fremde also - Christine heißt sie -, schließt den Pakt mit dem Grünen, den dieser mit einem Kuss auf ihre Wange besiegelt; der Preis, den er fordert, ist ein noch ungetauftes Kind. Die Bauern wollen dem Grünen das Kind, das als nächstes geboren wird, jedoch nicht ausliefern. Sie arrangieren eine Schnelltaufe und retten so das Neugeborene vor dem Grünen. Sie freuen sich über ihre List, aber auf Christines Wange, dort, wo der Grüne sie geküsst hat, beginnt eine grässliche Spinne zu wachsen. Als ein zweites Neugeborenes dem Teufel vorenthalten wird, gebiert die Spinne auf Christines Wange lauter kleine Spinnen, die ausströmen und ein großes Viehsterben auslösen. Als der Priester das dritte Neugeborene rettet, wird Christine selbst zur Spinne und tötet Menschen. Als sie auch das Neugeborene töten will, packt dessen Mutter die Spinne und sperrt sie in ein Loch in einem Fensterpfosten - so wird die Spinnenplage besiegt und viele Jahre vergehen in „Glück und Segen“ (99). Kaspar H. Spinner 32 Rahmenerzählung: • Ankunft der Gotte • Taufe • Erster Teil des Taufessens Erste (Binnen-)Erzählung des Großvaters = Hauptteil der Novelle: • Frondienst der Bauern • Angebot des Grünen - Christines Pakt mit ihm • Rettung des ersten Neugeborenen - auf Christines Wange beginnt die Spinne zu wachsen • Rettung des zweiten Neugeborenen - Geburt der kleinen Spinnen auf Christines Wange, Viehsterben • Rettung des dritten Neugeborenen, Christine wird zur menschentötenden Spinne • Einpflockung der Spinne durch die Mutter des Neugeborenen Rahmenerzählung: • Zweiter Teil des Taufessens Zweite (Binnen-)Erzählung des Großvaters: • Neue Spinnenplage • Rettung durch Opfertat von Christen Rahmenerzählung: • Fortsetzung des Taufessens • Verabschiedung der Gäste Dann aber, nach vielen Geschlechtern, bringen, wie der Großvater in einer zweiten Binnenerzählung ausführt, „fremde Weiber“ „Hochmut und Hoffart“ ins Tal (99): Im Haus, in dem immer noch die Spinne im Holzbalken eingesperrt ist, wohnt „ein schlau und kräftig Weib“, das „aus der Fremde“ stammt (100); ihren Sohn hat diese Jeremias Gotthelf Die Schwarze Spinne 33 Frau mit jemand aus ihrer Verwandtschaft - also ebenfalls mit einer Fremden - verheiratet. Die beiden Frauen setzen durch, dass ein neues Haus gebaut wird, im alten bleibt das Gesinde und führt dort, unbeaufsichtigt, ein wüstes Leben. Einer der Burschen, von dem man nicht weiß, „woher er kam“ (105), also wiederum ein Fremder, bohrt am Heiligen Abend, lachend „wie der Teufel selbst“ (107), das Loch der Spinne auf; diese kriecht heraus und wütet mordend im Tal. Überwunden wird sie durch die Opfertat von Christen, dem Besitzer des Hauses mit der Spinne, der so die Verfehlung seiner Mutter und seiner Frau sühnt. Damit endet die Binnenerzählung, und nach einer knappen Schilderung des Endes des Taufmahles entlässt die Novelle die Leser damit, dass die „brave[n] Leute“, „welche Gottesfurcht und gute Gewissen im Busen tragen“ (121), friedlich schlummern. Man sieht: das Böse kommt in dieser Novelle von den Fremden, von den Rittern aus dem Schwabenlande, von der Christine aus Lindau, vom fremden Knecht, von Christens Mutter und seiner Frau, die beide aus der Fremde kommen. Ihnen allen fehlt die Gottesfurcht, in der die Einheimischen im Tal leben. Man fragt sich angesichts eines solchen Befundes, wie es dazu kommen konnte, dass diese Novelle zu einem Schulklassiker hat werden können und bis heute in immer neuen Ausgaben und Hörbüchern herausgebracht wird. Und man ist irritiert, dass Thomas Mann von dieser Novelle sagte, er bewundere sie „wie kaum ein zweites Stück Weltliteratur“ (Lindemann: 2 1998, 108), dass Benno von Wiese sie „zu den größten Prosadichtungen, die in deutscher Sprache geschrieben sind“, zählte (von Wiese: 1956, 195) und Walter Muschg sie „ein wahres Heiligtum der schweizerischen Literatur“ (Muschg: 1968, 228) nannte. Hat man die Fremdenfeindlichkeit dieses Textes einfach übersehen? 2. Vielfalt der Deutungen Nicht verwunderlich ist, dass das zentrale Motiv der Novelle, die grässliche Spinne, die Deutungslust der Interpreten herausgefordert hat. Steht die Spinne im Sinne einer lehrhaften Parabel für eine von Gott gesandte Strafe? Oder ist die Spinne symbolisch als das Böse, das im Menschen schlummert, zu verstehen? Oder verweist Gotthelf mit dem zweimaligen Auftreten der Spinne auf historische Ereignisse, z.B. auf Napoleon, der Europa mit Kriegen überzogen hat und nach seiner Besiegung und seiner Verbannung noch einmal gekommen und wieder besiegt worden ist? Oder expliziert Gotthelf in der Novelle seine Theologie der Taufe (Knellwolf 1990)? Darüber stritten und streiten die Interpreten. So kann Gotthelfs Novelle als exemplarischer Fall dafür gelten, wie literarische Bildhaftigkeit ganz unterschiedliche Deutungen hervorruft. Lange Zeit sind die politischen Deutungen en vogue gewesen - eben z.B. mit Bezug auf Napoleon, oder indem die erste Spinnenplage mit der französischen Revolution, die zweite mit der im Kanton Bern erfolgreichen Revolution von 1830 in Verbindung gebracht worden ist. Nicht verwunderlich ist, dass der Teufelskuss tiefenpsychologische Deutungen nahe gelegt hat; die Einpflockung der Spinne wäre so als die Verdrängung des Erotischen und der Aggression, die man Kaspar H. Spinner 34 nicht einfach besiegen, sondern nur ins Unterbewusste einschließen kann, zu verstehen. In der jüngeren Forschung interessieren vor allem theologische Fragen - Gotthelf mischte sich als Geistlicher kräftig in theologische Debatten ein, was sich auch in seinem literarischen Werk spiegelt. Die Vielfalt der Deutungen zeigt, das Gotthelf mit seinem zentralen Symbol, der schwarzen Spinne, ein literarisches Bild geschaffen hat, das kaum auf eine einzige Deutung reduziert werden kann, sondern in das politische, psychologische, theologische Problemzusammenhänge hineinverwoben sind. Die eigenen politischen Erfahrungen Gotthelfs haben sich zweifellos ausgewirkt, ohne dass die Novelle im Sinne eines Schlüsselromans übersetzt werden könnte. Es sind grundlegende Denkmodelle, die sich durch biographische Erfahrungen herausbilden und die die literarische Imagination eines Autors prägen. Dass Gotthelf die Revolution von 1830, die zu einer Entmachtung des Berner Patriziats führte, als Sieg des Liberalismus begrüßte, dann aber den radikalen Liberalismus ablehnte, weil er in dessen Vertretern gottlose Profiteure einer neuen Geldaristokratie sah, spiegelt sich zweifellos in der Schwarzen Spinne, wenn die Bauern in der zweiten Binnenerzählung von der Unterdrückung durch die Ritter befreit sind, aber nun selber gottlos und hochmütig werden, ein Haus auf einem Hügel bauen und dabei das Gesinde übel plagen (102). Die Diskussion über Globaldeutungen der Schwarzen Spinne sollen in den folgenden Ausführungen allerdings nicht vertieft, vielmehr soll der Blick auf zwei Motivzusammenhänge fokussiert werden, auf das Motiv des Essens und Trinkens und auf die Gestalt Christines, der Fremden. Dies wird zu einer Relativierung der eingangs formulierten Kritik an der Fremdfeindlichkeit des Textes führen. 3. Die Eingangsszene Ich beginne mit dem breit entfalteten Anfang der Rahmenerzählung. Es geht um die Taufe eines Kindes - aber eigentlich mehr um das Essen und Trinken an diesem Tauftag. Das ist bereits ein ziemlich irritierender Tatbestand bei einer Novelle, die sich im weiteren Verlauf so stark als religiös belehrend erweist. Auch hat diese Eingangsszene durchaus komische Elemente, die im Widerspruch stehen zu dem beklemmenden Geschehen, das dann in den Binnengeschichten entfaltet wird. Die wichtigste Figur in der Anfangsszene ist die Gotte (also die Patin) des Neugeborenen. Gleich nach ihrem Eintreffen wird sie von der Mutter des Taufkindes bewirtet, mit Kaffee mit Nidel (Sahne), mit Züpfe, Käse und Kuchen. Die Gotte wehrt ab, man weiß nicht, ob aus Höflichkeit und Brauch oder weil sie wirklich nichts essen und trinken will. Die Kindsmutter zeigt sich enttäuscht, ja sogar beleidigt, dass die Gotte nicht mehr zugreift, und so lässt sich diese dann doch noch ein weiteres Kacheli Kaffee einschenken. Man kann eine solche Szene als farbige Milieuschilderung genießen; im Rahmen der gesamten Novelle ist sie allerdings mehr. Es zeigt sich in ihr ein kommunikationspsychologisches Muster, das zu den interessantesten Aspekten der Novelle gehört: Die Menschen sind nicht einfach autonom in ihrem Willen, so, dass sie ihn direkt zum Ausdruck bringen und nach ihm handeln Jeremias Gotthelf Die Schwarze Spinne 35 könnten. Vielmehr verfangen sie sich in Ritualen und kommunikativen Interaktionen. Sie verstricken sich in den Ritualen, bekräftigen sie in ihrem Handeln und gehen zugleich gegen sie an, und der Leser und auch die Figuren wissen selbst nicht, was sie, die Figuren, denn eigentlich wollen und wie ihnen geschieht. Weist die Gotte das Essen und Trinken von sich, weil sie wirklich keinen Durst und keinen Hunger hat, oder nur weil es sich gehört, sich zu zieren? Ist die Hausherrin wirklich beleidigt, wenn die Gotte abwehrt, oder gehorcht sie der Pflicht der Gastfreundschaft und verfolgt einfach eine Überredungsstrategie? Ist es ein wirklicher Streit oder nur ein ritualisiertes Spiel? Im Folgenden wird sich zeigen, dass solche Verwicklungen und Ambivalenzen in den Interaktionen an entscheidenden Umbruchstellen der Novelle in noch viel ernsthafterer Weise zum Tragen kommen. Vorerst seien jedoch noch einige weitere Beobachtungen zur heiteren Schilderung in der Rahmenerzählung angeführt. Nach der Taufe findet das Taufessen statt, das ausführlich zur Darstellung kommt. Wieder spielt die Gotte eine hervorgehobene Rolle. Es ist Brauch, dass bei einer Taufe eine junge Gotte und ein junger Götti sich zwecks eventueller Eheanbahnung kennen lernen können. Deshalb hat die Gesellschaft ein Auge auf die beiden und neckt sie mit Anspielungen. Die beiden jungen Ledigen und potentiellen Heiratskandidaten wehren die Vorstellung, heiraten zu wollen, jedoch entschieden ab, kritisieren das jeweils andere Geschlecht und preisen sich doch wie Heiratswillige an, etwa wenn die Gotte vom Erfolg ihrer Schweinezucht spricht. Auch hier ist das Gespräch also von einer Doppelstruktur geprägt: Was wollen die beiden denn wirklich und was sagen sie nur, weil es Brauch ist? Man weiß es nicht, und die Figuren wissen es wohl selbst nicht so recht in dem Ineinander von tradierter kommunikativer Gepflogenheit, unbewussten Bedürfnissen und rationaler Überlegung. Besonders aufschlussreich ist dafür der letzte Satz in einem längeren Gesprächsbeitrag der Gotte: Ich habe mich schon manchmal hoch verredet, ich wolle keinen Mann, oder ich wisse dann für gewiß, wie ich mit ihm fahren könne, und wenn schon hie und da noch einer ein Bauer abgibt, so weiß man doch noch lange nicht, was er für ein Mann wird. (24) Mit dem „man“ gibt die Gotte ihre Aussage als Ausdruck allgemein geteilten Wissens aus. Zugleich kommt in diesem Satz nach der vorher eher ökonomischpragmatischen Argumentation (der Ehemann muss ein guter Bauer sein) die sinnlich-sexuelle Komponente ins Spiel - von der Gotte wohl kaum bewusst so gemeint, aber von den anderen gleich so aufgefasst: Sie lachen und „trieben dem Mädchen das Blut ins Gesicht und das Gespött mit ihm“ (24). Die anspielungsreiche Gesprächssequenz wird vom Erzähler abgeschlossen mit dem Satz „So unter Lachen und Scherz nahm man viel Fleisch zu sich“ (24); hier wird sichtbar, wie Gotthelf die sinnlich-triebhaften Sinnebenen der Sexualität und des Essens eng zusammenführt. Das ist auch schon vorher bei dieser Sequenz der Fall, gleich im Satz, der die Schilderung der Neckereien einleitet: „Der jüngere Götti mußte manche Spottrede hören, daß er die Gotte nicht besser zum Trinken zu halten wisse; wenn er das Gesundheitmachen nicht besser verstehe, so kriege er keine Frau.“ (22) Ebenso zeigt sich der Zusammenhang in der Rede vom Mästen der Kaspar H. Spinner 36 Schweine: Die Mast als Verabreichung von Futter und als Vorbereitung für den Verkauf an den Metzger konnotiert die Bedeutungsebene des Essens und dient der Gotte zugleich als Argument, sich als Frau anzupreisen. Sie ist, wie Werner Hahl formuliert, „der erotische Mittelpunkt der Rahmenerzählung, und sie ist, weil sie ständig gefüttert wird, von überwältigender physischer Präsenz“ (Hahl 1993: 236). Man sieht: Die Rahmenerzählung ist voller Ambivalenzen. Sie zeigt das idyllische Bild einer intakten, gottesfürchtigen Gesellschaft, aber im Gespräch am Taufessen geht es recht materialistisch zu, da wird von der Mast und dem Verkauf der Schweine gesprochen, da wird der zweite, ältere Götti „sehr in Ehren“ gehalten, weil er „einen bezahlten Hof und hundertausend Schweizerfranken am Zins“ besitzt (23), und die elementaren sinnlichen Bedürfnisse des Menschen, das Essen und die Sexualität, spielen im Tun und Reden der Menschen eine große Rolle. Geradezu irritierend wirkt es, dass das eigentliche Taufgeschehen zugunsten der Schilderungen des Essens und Trinkens vor und nach dem Kirchgang weitgehend in den Hintergrund rückt. Als die Hebamme das Taufkind bringt, dem sie „das süße Lulli ins Mäulchen“ gesteckt hat, heißt es mit einem Adjektiv aus dem Bedeutungsfeld des Essens: Es war „ein wunderappetitlich Bübchen“ (13). Offensichtlich kommt der Essensmotivik, die die erste Rahmenerzählung dominiert, in der Novelle eine wichtige Bedeutung zu. Deshalb lege ich in den folgenden Bemerkungen zum weiteren Verlauf der Novelle zunächst darauf ein besonderes Augenmerk. 4. Essen und Trinken im weiteren Verlauf der Novelle Gleich am Anfang der ersten Binnengeschichte spielt das Essen wiederum eine Rolle, nun allerdings als Mangel. Die Bauern müssen für den Ritter von Stoffeln ein Schloss bauen, der Frondienst hält sie von der Feldarbeit ab, sodass „Weib und Kind […] schweren Hunger“ leiden (30). Als die Bauarbeiten abgeschlossen sind, lädt der Ritter die Bauern aufs Schloss, wo die Ritter Wein trinkend im Rittersaal sitzen. Den Bauern bietet der von Stoffeln „Trunk und Imbiß“ an (32), beauftragt sie aber gleich mit einem neuen Auftrag, dem Pflanzen einer Allee mit hundert großen Buchen. Die Bauern denken, der Ritter sei gnädig und gut gelaunt, weil er ihnen Essen und Trinken angeboten habe, und trauen sich deshalb, ihn mit dem Hinweis auf den „Hunger von Weib und Kind“ zu bitten, die Arbeit im Winter machen zu dürfen, worauf der Ritter wütend wird und droht, die Bauern zu „peitschen, bis kein Fingerlang mehr ganz von euch ist“, und Weiber und Kinder den Hunden vorzuwerfen, wenn sie den Auftrag in der gesetzten Frist nicht erledigten. Den Bauern ist damit die Lust auf „Trunk und Imbiß“ vergangen und sie drängen zur Tür hinaus (32). Diese Szene bildet einen Kontrast zum Taufessen; das Herrschaftsverhältnis von Ritter und Bauern konkretisiert sich im Gegensatz von Wein trinkenden Rittern und hungernden Bauernfamilien. So erscheint das Essen und Trinken hier in drei Bedeutungszusammenhängen: Es zeigt den Lebensgenuss der Ritter, die Lust auf Essen und Trinken macht unvorsichtig und bringt Unglück (Bitte der Bauern und ihre Jeremias Gotthelf Die Schwarze Spinne 37 Folgen) und Appetitlosigkeit ist Zeichen der Resignation und Verzweiflung. Dieser letzte Bedeutungsaspekt erscheint später wieder, wenn die Bäuerin Christine den Bauern bei ihrem erfolglosen Verpflanzen der Buchen Essen bringt und sie keinen Appetit darauf haben. Die nächste Essenszene folgt, als mit Hilfe des Grünen die Buchen gepflanzt sind. Nun wird gekocht und gegessen: „Der Jubel zog sich über Berg und Tal in alle Häuser, und wo noch eines Fingers lang Fleisch im Rauche hing, da ward es gekocht, und wo noch eine Handgroß Butter im Hafen war, da wurde geküchelt [Küchlein gebacken]“ (56). Dieser Jubel dauert nicht lange, denn ein Neugeborenes soll dem Teufel gegeben werden. Aber nachdem es den Bauern gelungen ist, mit einer List, nämlich der sofortigen Taufe, den Teufel auszutricksen, wird wieder gefeiert; die Freude ist allerdings voreilig und das Mahl erscheint unter fragwürdigem Licht: „Ein großes Mahl ward zugerichtet, weither wurden die Gäste entboten. Umsonst mahnte der Priester des Herrn von Schmaus und Jubel ab, mahnte, zu zagen und zu beten, denn noch sei der Feind nicht besiegt, Gott nicht gesühnt.“ (58) Niemand hört auf den Priester, er verlässt die feiernde Gesellschaft und versucht, „mit Beten und Fasten“ (59) Gott zu versöhnen. Man erkennt, dass das Essen, das nun dem gottesfürchtigen Fasten entgegengesetzt wird, in immer fragwürdigerem Licht erscheint. Das verstärkt sich nach der Geburt des dritten Säuglings. Unter den Leuten hat sich ein Einverständnis ergeben, dass man dieses nun dem Teufel geben wolle, um weiteres Unglück abzuwehren. Nur die Mutter des Neugeborenen wehrt sich dagegen. Der Vater, Hans, macht sich auf, um den Priester zu holen, aber er geht langsam und lässt Christine Zeit, das Kind zu holen und dem Teufel zu übergeben. Der Priester bietet Hans, als dieser bei ihm eintrifft, einen Labetrunk an, wie es das Gastrecht gebietet. Hans lässt sich mit dem Trinken Zeit, auch der Sigrist stößt dazu und trinkt mit. Der Priester aber verschmäht den Trank, unterdrückt wegen des Gastrechts allerdings seinen Zorn auf „das säumige Trinken“ (75), das den Gang zum Neugeborenen verzögert. Eine weitere Steigerung erfährt die Fragwürdigkeit des Essens und Trinkens bei der Schilderung des Mahls der Ritter, bei dem die mordende Spinne erscheint. Die Ritter haben einen „fernen Pfaffen“ geholt, der ihnen „mit heiligem Wasser und heiligen Sprüchen gegen den bösen Feind“ helfen soll (87). Der Pfaffe aber stärkt sich für diese Aufgabe „nicht mit Gebet und Fasten, sondern er tafelte des Morgens früh mit den Rittern und zählte die Becher nicht und lebte wohl von Hirsch und Bär.“ (87) So ist seine Anwesenheit auch keine Hilfe; die Spinne erscheint und tötet alle Anwesenden. Hier ist das Essen und Trinken wie bei Belsazar, an den Gotthelfs Schilderung erinnert, zum Ausdruck der gottvergessenen Sünde geworden. Nach der ersten (Binnen-)Erzählung des Großvaters geht das Taufmahl weiter: „Hell glänzten auf dem Tische, frisch gefüllt, die schönen Weinflaschen, zwei glänzende Schinken prangten, gewaltige Kalbs- und Schafbraten dampften, frische Züpfen lagen dazwischen, Teller mit Tateren (Torten), Teller mit dreierlei Küchlene waren dazwischengezwängt, und auch die Kännchen mit dem süßen Tee fehlten nicht.“ (93) Hier ist das Essen wieder positiv konnotiert - es handelt sich ja um die Kaspar H. Spinner 38 Rahmenerzählung. Allerdings verläuft das Essen nicht mehr so unbeschwert, weil alle an die Spinne denken. Die zweite Erzählung des Großvaters bezieht sich auf ein Geschehen zweihundert Jahre nach dem der ersten Erzählung. Die Bauern sind nicht mehr von den Rittern unterdrückt, aber die Familie, die das Haus mit der eingepflockten Spinne bewohnte, hat sich ein neues Haus in der Höhe gebaut - so wie auch das Schloss der Ritter in der Höhe gebaut war. Die Raumsemiotik wird von Gotthelf hier zum Ausdruck der Überheblichkeit, des Hochmutes eingesetzt. Das Essen erscheint nun wieder in fragwürdigem Licht: Im neuen Haus denken die „Weiber“ nicht an die Spinne, sie führen ein „üppiges, arbeitsloses Leben mit Putzen [=sich herausputzen] und Essen [...] und an Gott dachten sie nicht“ (103). Im alten Haus, wo noch das Gesinde wohnt, geht es noch übler zu: „Man schändete ungescheut das Brot, trieb das Habermus über den Tisch weg mit den Löffeln sich an die Köpfe, ja, verunreinigte viehisch die Speise.“ (104) Das Motiv des Essens wird hier mit dem der Reinlichkeit verknüpft, das ebenfalls in der Novelle immer wieder angesprochen ist. Es bestimmt z.B. schon am Anfang der Novelle die Schilderung des Hauses: „Um das Haus lag ein sonntäglicher Glanz, […] der ein Zeugnis ist des köstlichen Erbgutes angestammter Reinlichkeit, die alle Tage gepflegt werden muß, der Familienehre gleich, welcher eine einzige unbewachte Stunde Flecken bringen kann, die Blutflecken gleich unauslöschlich bleiben von Geschlecht zu Geschlecht, jeder Tünche spottend.“ (3) Wenig später ist von „rein gefegter Bank vor dem Hause“ (5) und von der „reinen Küche“ (5) die Rede. Die Verbindung von Reinlichkeit und Essen greift eine der elementarsten Sozialisationserfahrungen des Kindes auf: Die Reinlichkeitserziehung zügelt die ungehemmte Essbegierde - das Kind soll das Essen nicht auf den Boden fallen lassen, es soll sich nicht verschmieren usw. Das Verhalten der Knechte in der zweiten Binnengeschichte ist sozusagen ein Rückfall in eine Entwicklungsstufe vor aller sittlichen Domestizierung und Zügelung der Begierden. Michael Andermatt sieht in diesem Verhältnis von Begehren und Disziplinierung ein Grundmotiv von Gotthelfs Novelle: „Im Glück des Genusses melden sich quälend immer auch schon dessen Disziplinierung und Strafe.“ (Andermatt 1999: 210) Das Treiben der Knechte erfährt noch eine weitere Steigerung. Einer der Knechte „schmiß Löffel voll Habermus oder Milch an den Zapfen [der das Loch mit der Spinne verschloss] und schrie, die drinnen werde wohl hungrig sein, weil sie so viel hundert Jahre nichts gehabt“ (104f). Der Höhepunkt ist an Weihnachten erreicht. „Da ward die Roheit immer gräßlicher, sie schändeten alle Speisen, lästerten alles Heilige; der genannte Knecht spottete des Priesters, teilte Brot aus und trank seinen Wein, als ob er die Messe verwaltete, taufte den Hund unterem Ofen“. (107) Diese Blasphemie von Abendmahl und Taufe gipfelt in der Öffnung des Loches, in dem die Spinne eingepflockt ist. Das Gegenbild zu diesem wüsten Umgang mit dem Essen und Trinken findet man dann wieder in der Rahmengeschichte, nachdem der Großvater seine Erzählung beendet hat: „Nun ward viel gegessen, viel getrunken und zwischendurch gewechselt manche verständige Rede […].“ (120) Die Novelle endet so mit einem versöhnlichen Jeremias Gotthelf Die Schwarze Spinne 39 Mahl, das nicht von unkontrollierter Begierde und Aggression geprägt, sondern von „verständige[r] Rede“ begleitet ist. Vielleicht mag es verwundern, dass ich eine profane Äußerlichkeit wie das Essen und Trinken so ausführlich kommentiert habe, während sonst die Interpreten dieser Novelle so gern ins Theologische, Mythologische und Politische ausgreifen. Aber es ist Gotthelf, der auf diese Spur führt mit der ausführlichen Schilderung des Taufmahls am Anfang der Novelle. Dass es beim Motiv des Essens und Trinkens nicht einfach um Schilderung von Äußerlichem geht, sondern um wesentliche Zusammenhänge in der Novelle, erkennt man, wenn man die verschiedenen Essenszenen miteinander in Verbindung bringt. Die wichtigen Aspekte, die ich dabei angesprochen habe, seien hier thesenartig zusammengefasst: - Das Essen und Trinken verweist auf die Kreatürlichkeit des Menschen, auf seine leiblichen Bedürfnisse, auf seine Begierden. Essen und Trinken ist Sinnenfreude bis zur Verführung. Deshalb steht es in einem Spannungsverhältnis zur Disziplinierung als Kontrolle der Lust. Gotthelf inszeniert das Essen und Trinken in seiner Novelle in diesem Sinne als Grundkonflikt der menschlichen Existenz. - Essen und Trinken ist aber auch soziale Situation, es führt die Menschen zusammen, im Alltag, aber besonders auch bei Festen, z.B. bei einer Taufe. Das gemeinsame Genießen ist Ausdruck geteilter Freude, es ist geprägt von Regeln, es bewirkt damit eine Ausbalancierung von triebhafter individueller Lust und Sozialität. In der Rahmenerzählung zeigt Gotthelf, wie die Menschen durch Ritualisierung eine solche Balance herstellen. - Essen und Trinken wird in der Novelle mit dem zweiten grundlegenden sinnlichen Bedürfnis des Menschen, der Sexualität, in Verbindung gebracht. Auch dieses erscheint in der Rahmenerzählung eingebunden in hergebrachte Sitte, in der Binnengeschichte aber als verhängnisvoller Teufelskuss. Angesichts der elementaren anthropologischen Bedeutung, die das Essen und Trinken für den Menschen hat, ist es nicht verwunderlich, dass es schon immer eine große Rolle in der Literatur gespielt hat. In jüngster Zeit hat sich vor allem die kulturhistorische Literaturwissenschaft dieser Motivzusammenhänge angenommen. 5. Das Fremde in der Novelle Nach meinen Überlegungen zum Essen und Trinken in der Novelle komme ich zurück auf das Motiv des Fremden, das ich eingangs kritisch beleuchtet habe und das ich nun einer differenzierteren Analyse unterziehe. Ich knüpfe dabei an das Essen als sozialer Situation an, und zwar konkret an das Mahl nach der ersten Überlistung des Teufels mit der Schnelltaufe. Christine sitzt „mitten unter den Jubilierenden […] sonderbar stille“ (59), weil ihre Wange an der Stelle, an der sie der Grüne geküsst hat, immer glühender schmerzt. Sie fragt die anderen, was auf ihrer Wange zu sehen sei; aber niemand will etwas sehen, Christine fragt immer wieder nach, aber man wehrt ab, „bald mochte niemand mehr mit dem Spähen auf den Wangen die Lust Kaspar H. Spinner 40 sich verkürzen“ (59). Christine, die durch ihren Pakt gerade ermöglicht hat, dass die Menschen nicht mehr hungern müssen, sondern beim festlichen Mahl zusammensitzen können, wird im Stich gelassen. Die Ausgrenzung wird in den folgenden Tagen immer größer; der schwarze Punkt auf ihrer Wange wächst, Christine kann nicht schlafen und das Essen schmeckt ihr „wie Feuerbrand“ (60). Sie sucht in ihrer Not Trost bei anderen, aber niemand hilft ihr. Man erkennt an dieser Szene, dass Christine von Gotthelf nicht nur als die böse Fremde gestaltet wird, sondern auch als Opfer der Ausgrenzung durch die Gemeinschaft, die sich in ihrer „Lust“ nicht stören lassen will. Als dann wieder ein Kind geboren wird, entsteht aus dem schwarzen Punkt auf Christines Wange die Spinne. Nun weichen ihr die Menschen erst recht aus, sie geht von Haus zu Haus, möchte erreichen, dass das Neugeborene dem Teufel wie versprochen gegeben werde, aber alle wehren sie ab, fliehen vor ihr. Wer ihr nicht entrinnen kann, reagiert mit dem Satz, mit dem laut Matthäusevangelium (Matth. 27, 4) die Hohepriester und Ältesten den reuigen Judas abwehren: „Da siehe du zu“ (61, vgl. Schöne: 2 1968, 162), und sagt, sie solle selber zusehen, keiner habe ein Kind verheißen, deshalb gebe auch keiner eines her. Diese Aussage der Leute ist allerdings nur halb richtig. Christine hatte ihren Pakt mit dem Grünen den anderen mitgeteilt, es wurde darüber beratschlagt und der Pakt wurde gutgeheißen in der Hoffnung, man könne den Teufel dann irgendwie austricksen, wie man es mit den Schnelltaufen ja dann auch gemacht hat. Man war durchaus froh gewesen, dass Christine nicht, wie alle anderen, vor dem Grünen geflohen war, sondern ihm standgehalten hatte. Man sieht also, wenn man sich auf die Erzählung einlässt, dass Gotthelf keineswegs so schwarz-weiß gestaltet, wie die Erzählerkommentare in der Novelle suggerieren mögen. Dies wird noch einmal sehr deutlich, als das Viehsterben ausbricht und die „Angesehendsten“ (67) der Männer dann doch Christine zu einer Versammlung laden, damit sie genauer über den Pakt Bescheid gebe. Zwar schlägt einer von ihnen vor, man solle Christine totschlagen - aber deren Argument, dass sich der Grüne damit nicht zufrieden geben werde, überzeugt die Männer. Man kommt überein, das nächste Neugeborene zu opfern, aber keiner ist bereit, das Kind dem Grünen zu bringen. Christine übernimmt die Aufgabe und springt so für die anderen in die Bresche. Es ist also nicht so, dass die moralische Wertung eindeutig verteilt werden kann auf die Einheimischen auf der einen und die Fremde auf der anderen Seite; vielmehr findet ein Zusammenspiel mit viel Heuchelei statt, es geht, wie Peter von Matt das treffend formuliert hat, um „vernetzte Bosheit“ (von Matt: 1997). Gotthelf entfaltet subtil eine ganze Reihe von individual- und sozialpsychologischen Mechanismen, nämlich Abwälzung von Verantwortung und Schuld, Ausgrenzung, Feigheit, Waschen der Hände in Unschuld. Bewusste und halbbewusste Handlungsintentionen sind oft widersprüchlich ineinander verflochten. Dafür sei noch die folgende typische Textstelle zitiert (es geht um die Versammlung, in der Christines Pakt mit dem Teufel gutgeheißen wird): Rätig wurde man bald, die Sache zu versuchen. Bös könne das kaum gehen im bösesten Fall; aber nicht das erstemal sei es, daß Menschen die schlimmsten Geister betrogen, und wenn sie selbst nichts wüßten, so fände wohl ein Priester Rat und Ausweg. Aber in Jeremias Gotthelf Die Schwarze Spinne 41 finsterm Gemüte soll mancher gedacht haben, wie er später bekannte: gar viel Geld und Umtriebe wage er nicht eines ungetauften Kindes wegen. (50) Die floskelhaften entschuldigenden Argumente, die sich auf gemeinsam geteiltes Erfahrungswissen beziehen, stehen im Kontrast zu dem, was manch einer im Inneren denkt. Der gemeinsame Entschluss entsteht aus dem Ineinander von persönlichem Denken, das man nicht öffentlich ausspricht, und gemeinschaftlich geäußerter Argumentation. Die Welt der Einheimischen ist also nicht so heil, wie sie zunächst erscheinen mag, und Christine, die Fremde, die bei ihrem ersten Erscheinen in der Erzählung als ein grausames Weib charakterisiert wird und dann selbst zur todbringenden Spinne wird, ist, wenn man genau hinsieht, nicht nur negativ charakterisiert. Das zeigt sich auch an weiteren Textstellen: Christine ist, als der Ritter den Bauern den unmenschlichen Arbeitsauftrag zum Pflanzen der Bäume gibt, „böse“ auf die Bauern, weil diese den Auftrag nicht abgelehnt haben, und „erst recht böse“ ist sie auf sie und wirft ihnen Feigheit vor, weil sie bei der Begegnung mit dem Grünen einfach „davongestoben“ sind (37). Sie ist die einzige, die die Zumutungen nicht einfach hinnimmt und nicht einfach flieht und sich verkriecht, wenn es brenzlig wird. So fragt sich der Leser, ob Christine wirklich im Unrecht sei, wenn mehr als einmal von ihr, der Bösen, gesagt wird, sie sei böse auf die anderen. Die ambivalente Darstellung der Verhaltensweisen zeigt sich also sogar in einem einzelnen Wort, dem Wort „böse“. In gewisser Weise tritt Christine als Retterin der Gemeinschaft auf, aber in ihrem Mut erfährt sie keine Unterstützung, sie bleibt auf sich selbst gestellt. Als am dritten Tag nach der Erteilung des Arbeitsauftrags der Grüne wieder kommt, laufen die Männer wiederum weg und Christine bleibt mit dem Grünen alleine zurück. Deshalb hat dieser leichtes Spiel, Christine zu umschmeicheln, und in einem Hin und Her widerstreitender Überlegungen lässt sie sich schließlich, in der Hoffnung, dass man den Grünen dann schon irgendwie übertölpeln könne, zu der verhängnisvollen Zusage überreden, die der Grüne mit einem Kuss auf ihre Wange besiegelt. Diese erotisch konnotierte Verführungsszene - aus der Stelle des Kusses werden dann ja die schwarzen Spinnen geboren - ist ein Gegenstück zu den Neckereien, mit denen die Gotte in der Rahmenerzählung von den Feiernden aufgezogen wird. Die Gotte wehrt ab, wie sich das in solch geselligem Zusammensein auch gehört, Christine, von den anderen verlassen, lässt sich verführen. In der Rahmenerzählung sitzt die Gotte übrigens bei den Neckereien vor dem Holzklotz, in dem die Spinne eingepflockt ist; so sind die Gotte, die einen Täufling zur Taufe bringt, und die Spinne alias Christine, die nach dem Pakt das Taufen verhindern will, einander kontrastiv zugeordnet. Wenn man sich solche Makrostrukturen wie die Zuordnung und Entgegensetzung der beiden weiblichen Hauptfiguren vergegenwärtigt, dann wird manche zunächst eher zufällig erscheinende Einzelheit im Text zum sinntragenden Element. Das lässt sich an einem zunächst unscheinbaren Detail am Schluss der Novelle veranschaulichen: Am Abend nach dem Taufessen mag niemand so recht aufbrechen; die Erzählung von der Spinne hat die Menschen ängstlich gemacht. Die Gotte steht dann endlich als erste auf, und nun heißt es im Text: Kaspar H. Spinner 42 […] und schickte mit zitterndem Herzen zum Weggehn sich an, doch es fehlte ihr an sicheren Begleitern nicht, und miteinander verließ die ganze Gesellschaft das gastliche Haus […]. Das ist ein Gegenbild zur Situation Christines, die in kritischen Situationen immer wieder von den anderen verlassen worden ist. 6. Schluss Wenn man sich auf die Detailschilderungen in der Novelle einlässt, dann relativiert sich die z.T. holzschnittartig wirkende Globalstruktur mit ihrer klaren Gegenüberstellung von Gut und Böse und den belehrenden Kommentaren des Erzählers. Man könnte dies durchaus so formulieren: Die Figurengestaltung des Dichters Gotthelf ist psychologisch tiefgründiger als das, was der Erzähler verkündet, den man als das Sprachrohr des Pfarrers Bitzius (so der eigentliche Name von Gotthelf) sehen kann. Wenn man eine Lehre aus der Novelle ziehen will, dann sollte diese nicht lauten: Hüte dich vor allem Fremdem, das die angestammte Sitte und Gottesfurcht verachtet. Angemessener wäre: Wenn das Fremde ausgeschlossen wird, kann es sich bitter rächen. Aber jede solche Lehre ist eine unzulässige Vereinfachung. Sie verhindert, dass man sich auf die Ambivalenzen, auf die Vielstimmigkeit des Textes einlässt. Dass der Pfarrer Bitzius als Schriftsteller Gotthelf die Widersprüchlichkeiten menschlicher Verhaltensweisen einprägsam zur Darstellung bringt und nicht nur predigend belehrt, macht die Novelle zu einem literarischen Werk von Rang. Zu dieser Vielstimmigkeit gehört auch, dass die Novelle mit ihrer Sprachkraft auf der Klaviatur der Gefühle des Lesers spielt; sie zaubert Sehnsuchtsbilder des Friedens vor unser inneres Auge, schafft Imaginationen genussvoller Festlichkeit, lässt uns schmunzeln, weckt Zorn gegen Ungerechtigkeit, ruft Ängste und Grausen hervor, lässt uns mitleiden und schenkt uns ein Aufatmen, wenn das Böse überwunden ist. Das alles ist mehr als Belehrung, es ist Literatur. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Gotthelf, Jeremias: Die schwarze Spinne. Mit Anmerkungen von Wolfgang Mieder. Stuttgart 1994. Forschungsliteratur: Andermatt, Michael: „Keinem wurde ein einziges Gericht geschenkt“: Leiblichkeit bei Gotthelf. In: Walter Pape, Hellmut Thomke u. Silvia Serena Tschopp (Hgg.): Erzählkunst und Volkserziehung. Das literarische Werk des Jeremias Gotthelf. Tübingen 1999, S. 209-223. Hahl, Werner: Jeremias Gotthelf - der „Dichter des Hauses“. Stuttgart 1993. Jeremias Gotthelf Die Schwarze Spinne 43 Knellwolf, Ulrich: Gleichnis und allgemeines Priestertum. Zum Verhältnis von Predigtamt und erzählendem Werk bei Jeremias Gotthelf. Zürich 1990. Lindemann, Klaus: Zwischen Revolution und Napoleon(en). Jeremias Gotthelf: Die Schwarze Spinne (1842). In: Winfried Freund (Hg.): Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 2 1998, S. 95-108. von Matt, Peter: Der Diagnostiker unserer vernetzten Bosheit. In: Emil O. Bohnenblust, Fritz von Gunten u. Gerhard Schütz (Hgg.): Gotthelf Augenblicke. Münsingen-Bern 1997, S. 84-89. Muschg, Walter: Jeremias Gotthelf: Die Schwarze Spinne. In: ders.: Pamphlet und Bekenntnis. Olten 1968, S. 219-228. Richter, Thomas: „Die Täuschung währt wohl nur einen Augenblick, aber das Beben zittert noch lange nach“. Zur Funktion des Teufelspakts in Gotthelfs Die schwarze Spinne und Droste-Hülshoffs Der spiritus familiaris des Rosstäuschers. In: Barbara Mahlmann-Bauer und Christian von Zimmermann (Hgg.): Jeremias Gotthelf - Wege zu einer neuen Ausgabe. Tübingen 2006, S. 203-219. Schöne, Albrecht: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Göttingen 2 1968. von Wiese, Benno: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka I. Düsseldorf 1956. Emmy von Rhoden Der Trotzkopf Klaus Maiwald Am Ende hat die Titelheldin ihren Traummann gefunden: Leo ist aus gutem Hause, jung und schlank, mit klugen Augen und gebräuntem Gesicht, wie es im Text heißt. Vor allem aber ist er Rechtsassessor, wovon seine Zukünftige doch sehr angetan ist. Im Stillen meint sie: „Die Juristen gefallen mir doch besser als die Künstler“ (v. Rhoden 192). So viel weibliche Gunst lässt einen Nicht-Juristen neidvoll erblassen. Vielleicht kann ein Philologe aber wenigstens Brosamen weiblicher Gunst erhaschen, wenn er einem Vortrag über Emmy von Rhodens Der Trotzkopf ein juristisches Mäntelchen umlegt. Das will ich tun. Ich werde zunächst in einer Einwandvorwegnahme dafür plädieren, den Trotzkopf überhaupt zur Verhandlung in einem Band über „Große Werke der Literatur“ zuzulassen. Den Hauptteil bildet eine Beweisführung, die aufzeigen soll, dass Der Trotzkopf Literatur ist, dass er ein Werk ist und dass er ein großes Werk ist. In meinem Schlussplädoyer werde ich einen Freispruch und eine volle Rehabilitierung des Romans fordern. 1. Einwandvorwegnahme Gehört dieser Roman in eine Reihe über „Große Werke der Literatur“? Ein Text der Kinder- und Jugendliteratur und nicht der so genannten Hochliteratur für Erwachsene? Ein Roman, der die Pensionatserlebnisse alberner Dämchen aus der Kaiserzeit erzählt - und dabei ein Weltbild entrollt, das besonders aus heutiger Sicht realitätsfremd, wenn nicht reaktionär wirkt? Ein Text, dessen sprachlicher Duktus bestenfalls als komisch, schlimmstenfalls als kitschig zu bezeichnen ist? Solchen Einwänden und Zweifeln entgegne ich mit Nachdruck: Ja, Der Trotzkopf ist ein großes Werk der Literatur. 2. Beweisführung 2.1 Der Trotzkopf ist Literatur. In dem Feld, in dem ich tätig bin, Deutschdidaktik und -unterricht, herrscht schon seit den 1970er Jahren und verstärkt wieder mit der Ankunft der neuen Medien der 1990er Jahre ein erweiterter Literaturbegriff, und dies zu Recht. Denn Literatur ist nicht nur kanonisierte Hochliteratur in Buchform - von Grimmelshausen, Goethe, Grass. Als Literatur in einem erweiterten Sinn gelten alle fiktionalen Angebote, die junge Menschen nutzen, um ihre Identität zu entwickeln, sich in der Welt zu orientieren, ihr Leben und ihren Alltag zu gestalten. Zur Literatur zählen demnach auch Klaus Maiwald 46 Bilderbücher, Comics, Fernsehserien, Spielgeschichten auf CD-ROM. Vor allem zählen zur Literatur Texte der Kinder- und Jugendliteratur. Ich plädiere in diesem Sinne für einen deskriptiven Literaturbegriff anstelle eines normativen. Er umfasst nicht nur die Bücher, die in Schulen und Hochschulen als Literatur vermittelt werden, sondern auch Texte wie den Trotzkopf. Ist Der Trotzkopf aber auch ein literarisches Werk? Ein Kunst-Werk vielleicht sogar? 2.2 Der Trotzkopf ist ein (Kunst-)Werk. Der Begriff Werk ist nicht unumstritten, assoziiert man doch damit häufig „auratische“ Texte „großer“ Autoren. Ich spitze etwas zu: Ein Werk fließt aus der Feder eines genialen Dichters und ist umflort von tiefem Sinn. Man nähert sich einem Werk in Ehrfurcht und erlangt so das „Wahre, Gute und Schöne“. Ein wunderbares Bonmot des Dialekt-Lyrikers Gerhard C. Krischker lautet ins Hochdeutsche übersetzt so: „Wenn bei uns daheim das Wort Dichtung gefallen ist, hat immer der Wasserhahn getropft“ (Krischker 109). In der Tat spiegelt die Rede von „Werken der Dichtung“ nicht nur eine sehr enge Auffassung davon, was als Literatur gelten darf, sondern vollzieht auch eine Geste sozialer Ab- und Ausgrenzung. Umgang mit „Werken der Dichtung“ ist bis heute ein bildungsbürgerlicher Habitus, welcher der kulturellen Selbstvergewisserung und der sozialen Distinktion dient. Eine Bücherwand mit den „Werken“ von Goethe und Fontane zeigt noch immer, wer man ist, und vor allem: was man nicht ist. Eine solche Bücherwand verschafft einem, was der Soziologe Pierre Bourdieu „Distinktionsgewinn“ nennt (Bohn/ Hahn 267). Distinktionsgewinn heißt hier: Die Bücherwand unterscheidet einen kulturell und sozial vom Prekariat mit Satellitenschüssel, Plasmafernseher - und tropfenden Wasserhähnen. „Werke der Dichtung“ produzieren also Statusidentität und sozialen Positionsgewinn. Im Sinn eines erweiterten Literaturbegriffes und im Sinn kultureller Demokratie ziehe ich dem latent elitären Begriff Werk den neutralen Begriff Text vor. (Zudem zeigt sich in Wortbildungen wie Machwerk und Blendwerk, dass auch ein Werk etwas sehr Zweifelhaftes sein kann.) Da der vorliegende Band aber „Große Werke der Literatur“ im Titel führt, argumentiere ich mit einem wertfreien Werk-Begriff weiter. Geht man von Wörtern wie Triebwerk, Laufwerk, Uhrwerk aus, ergibt sich eine einfache Definition: Ein Werk ist ein sorgsam konstruiertes Gebilde, dessen Einzelteile ein größeres und geordnetes Ganzes ergeben. Diesen Werk-Begriff möchte ich an den Trotzkopf anlegen und untersuchen, inwiefern dieser Erzähltext ein planvoll konstruiertes Wirklichkeitsmodell vorstellt. Zunächst aber kurz zum Inhalt des Romans: Die 15-jährige Ilse Macket ist ein wildes, ungestümes Mädchen - vom „Anstand einer angehenden jungen Dame“ (v. Rhoden 6) keine Spur: Sie trägt derbe Stiefel und ein grobes Kleid; sie tobt mit Jagdhunden herum und reitet rittlings über die Felder. Wo sie nur kann, drückt sie sich vor ihren Privatlehrern und macht „sogar noch orthografische Fehler“ (v. Rhoden 12). Der liebevolle, aber zu nachsichtige Vater, Gutsbesitzer und Oberamtmann, hat vor einiger Zeit seine zweite Frau geheiratet, die sympathische Stiefmutter stößt bei Ilse aber auf heftige Ablehnung. So reift Emmy von Rhoden Der Trotzkopf 47 der Entschluss, den Trotzkopf in ein Pensionat für höhere Töchter zu geben. Die sich über den Zeitraum eines guten Jahres erstreckenden Internatserlebnisse bilden den Hauptteil des Romans. Ilse hat zunächst große Mühe, sich in der neuen Umgebung einzuordnen. Ihr Widerstand kulminiert, als sie der Vorsteherin ein Strickzeug vor die Füße wirft. In der Anteilnahme für eine kranke Mitschülerin entwickelt Ilse aber zum ersten Mal mütterliche Fürsorge und Verantwortungsgefühl. Vor allem ist es jedoch dem Einfluss ihrer englischen Zimmergenossin Nellie und der jungen Lehrerin Frl. Güssow zu verdanken, dass aus dem „dummen Trotzköpfchen“ (v. Rhoden 24, 26) nach und nach eine „verständige“ (v. Rhoden 25, 32, 64, 105, 170, 174) und „gefügige“ (v. Rhoden 51, 60) junge Dame wird. Auf ihrer Heimreise trifft die nunmehr 17-Jährige bei einem Zwischenaufenthalt den Landratssohn und Assessor Leo Gontrau. Ilse verliebt sich sogleich, und bereits beim Gegenbesuch erklärt sich Leo. Ilse ist selig: „Mein einziger Herzenspapa, ich habe Leo ja so lieb! “ (v. Rhoden 214). Am Ende gibt es zwei weitere Verbindungen. Nellie schreibt von ihrer Verlobung mit dem Lehrer Doktor Althoff: „Mein süß Ilschen. Ich bin eine Braut ... wir haben uns geküsst -, meine Seeligkeit kennt keine Grenzen“ (v. Rhoden 199, 202). Ein weiterer Brief kommt von Frl. Güssow - von der Hochzeitsreise. Lotte Güssow hat nach unseligen Irrungen und Wirrungen den Verlobten wiedergewonnen, den sie einst mit ihrer Aufsässigkeit von sich forttrieb. Dieser Verlobte aber ist niemand anderer als Ilses Onkel Kurt, ein „berühmter Maler und Afrikareisender“ (v. Rhoden 191). Mit Tante Lottes Brief an Ilse endet auch der Roman: „Wie habe ich mich gefreut über dein Glück, mein Herz! Der Himmel erhalte es dir! “ (v. Rhoden 215). Die Handlung des Romans ist ausgeprägt episodenhaft, ihr Realitätsanspruch prekär (Barth 287). Insofern ist der Roman trivial. Dass er trotzdem planvoll, ja sogar kunstvoll konstruiert ist, lässt sich an den symbolhaften Requisiten, der Raumstruktur und den intertextuellen Verweisen ersehen: 2.2.1 Symbolhafte Requisiten Zu erwähnen sind hier einmal Spiegelungen äußeren und inneren Geschehens in der Natur bzw. im Wetter und in der Jahreszeit. Als die rebellische Ilse ihr Strickzeug wirft, herrscht unerträgliche Schwüle, die sich schließlich in einem reinigenden Gewitter entlädt. Frl. Güssow erzählt Ilse daraufhin die traurige Geschichte von Luzie - die ihre eigene Geschichte ist: Sie hat durch Trotz und Widerspenstigkeit die Liebe ihres Lebens verloren. Nun ist der Jammer groß, denn ein trauriges Schicksal zwang sie, „für die Zukunft ihr Brot selbst zu verdienen“ (v. Rhoden 76). Bei dieser wehmütigen Erzählung blickt Frl. Güssow passenderweise „in den strömenden Regen hinaus“ (v. Rhoden 76). Ebenso passend wird nach dem erfolgreichen Abschluss von Ilses Umerziehung eine „Ernte“ eingefahren. Ilse kehrt im September nach Hause zurück, und „zum Erntefest“ (v. Rhoden 198) wird sie eine Braut. An vielen Stellen des Romans sind diese Spiegelung reiner - und herrlicher - Kitsch. Als die kleine Lilli friedlich entschlafen ist, heißt es: „Die Abendsonne verklärte mit rosigem Schimmer das zarte Gesicht und in dem knospenden Apfelbaum vor dem Fenster Klaus Maiwald 48 sang ein Star sein Abendlied“ (v. Rhoden 144). Freilich ist die Orchestrierung innerer Handlung durch äußeres Naturgeschehen auch in der so genannten Hochliteratur allgegenwärtig, so in Ernest Hemingways Kurzgeschichte „Cat in the Rain“ oder in Patrick Süskinds Novelle Die Taube. Zweitens gibt es in dem Roman eine Reihe von Requisiten, die Ilses Übergang vom Trotzkopf zur jungen Dame markieren, z.B. Tiere: Ilse tollt zu Beginn mit einem Jagdhund namens „Diana“ und reitet ungestüm auf einem Pferd. In Gestalt eines Hündchens und eines Laubfrosches versucht sie, ihr altes Leben hinüber ins Pensionat zu retten. Aber der Hund muss zurück und der Frosch im Glas verendet jämmerlich in einem tagelang nicht ausgepackten Koffer. (Somit taugt er auch nicht mehr als verwunschener Prinz. Ilses Märchenwelt ist vorbei! ) Die Mitschülerin Nellie kündigt Ilse an, sie werde noch „eine ganz zahme, kleine Vogel sein“ (v. Rhoden 49), der letzte Vogel ist denn auch einer im Käfig. Symbolwertig sind weiter die Veränderungen in Ilses Kleidung. Sie beharrt darauf, ihr altes Kleid und ihre derben Stiefel mitzunehmen, irgendwann ist diese Montur aber nur noch eine Lachnummer in einer Theateraufführung. Vor allem weigert sich Ilse zunächst heftig, die im Pensionat vorgeschriebene Schürze zu tragen. Das Tragen dieser Schürze ist der Initiationsritus für ein Mädchen, aus dem eine heiratswürdige junge Dame werden soll. Ist dieser Ritus durchlaufen, darf man in einem schottischen Reisekleid mit passendem Hut auch wieder hübsch aussehen und Assessoren beeindrucken. Das aussagekräftigste Symbol ist freilich der Apfelbaum im Garten des Pensionats. Für Ilse besteht die Versuchung weniger in den verbotenen Früchten als in der Kletterei. Eines Nachts steigt sie lachend und „keck“ in den Baum, „höher und höher. Sie war so recht in ihrem Element und frei wie der Vogel in der Luft regte sie ihre Schwingen“ (v. Rhoden 87). Ilse durchlebt höchste Glücksgefühle, die in einem lauten „Juchhe“ aus ihr herausbrechen. Doch damit weckt sie das Haus und muss hastig zurückklettern. Die Mitschülerinnen erschrecken sich über den nächtlichen „Geist“ und es gibt einen großen Aufruhr. Am Ende sagt Ilse: „Ach Nellie, ich ärgere mich über meinen dummen Streich! “ (v. Rhoden 95). Für die spätere junge Dame ist die Apfelbaumkletterei nur noch eine sentimentale Erinnerung. 2.2.2 Raumstruktur Im Zusammenhang mit dem Apfelbaum steht die suggestive Raumstruktur des Romans. In der Makrostruktur vollzieht sich ein prototypisches narratives Grundmuster: Ilse reist aus dem heimatlichen flachen Land in einer mehrstündigen Zugreise an den Fuß eines Gebirges, eine Reise ins Fremde und ins Ungewisse. Als ihr Vater sie verlässt, „war es ihr zumute, als ob sie auf einer wüsten Insel allein zurückgelassen worden wäre“ (v. Rhoden 33). Nach dem Aufenthalt in der Fremde kehrt sie verändert in ein verändertes Leben zurück. Diese Raumbzw. Bewegungsstruktur teilt Der Trotzkopf mit einer Reihe anderer Erzählungen: Die „wüste Insel“ lässt uns sofort an Robinson Crusoe denken. Auch Odysseus verließ seine Heimat und kehrte erst nach zahlreichen Prüfungen und Abenteuern zurück. Ein gewisser Hans Castorp reiste Emmy von Rhoden Der Trotzkopf 49 vom flachen Hamburg in den Bann des Zauberbergs. Und in einem wunderbaren Spielfilm verbringen zwei Cowboys einen ihr Leben verändernden Sommer auf dem Brokeback Mountain (Reg. Ang Lee, 2005). Der Mediävist Ulrich Müller (1987) hat gezeigt, dass in Literatur, Film, Pop und im Computer immer wieder dieselben „epischen Universalien“ durchgespielt werden. Epische Universalien sind Handlungsstrukturen, die unabhängig von Zeit, Gesellschaft und Gattung in den Erzählformen der verschiedensten Kultur- und Sprachräume vorkommen (z.B. Wettkampf; Erfüllung einer Aufgabe; Kampf zwischen Vater und Sohn). Ein episches Universale ist auch das Muster: Reise ins Ungewisse - Veränderung - Rückkehr, das sich im Trotzkopf zeigt und den Roman in eine illustre Reihe anderer Texte stellt. Überaus bedeutungsvoll ist auch die Mikrostruktur des Raums: Generell stehen Innenräume für Ordnung, Erziehung und Sozialorientierung. Innerhalb geschlossener Räume werden Gäste empfangen, Mahlzeiten eingenommen, Handarbeiten erledigt, findet Erziehung statt. Der extreme Gegenraum hierzu taucht in Frl. Güssows Geschichte über Luzie auf: der Wald. Sehr oft steht der Wald für Versuchung und Bedrohung, man denke an Goethes „Erlkönig“, an Nathaniel Hawthornes Der scharlachrote Buchstabe oder an Richard Gere und Julia Ormond in Der erste Ritter (Reg. Jerry Zucker, 1995). Im Trotzkopf ist es ein waldiges Moosbett, auf das sich Luzie zurückzieht, um in einer an autoerotischer Suggestion nur schwer zu überbietenden Szene „verbotene Lektüre“ (v. Rhoden 68) zu verschlingen. (Sie wird erfahren, wo solch ausschweifender Sinnengenuss endet! ) Zwischen den Extremen von Handarbeitsraum und Moosbett liegen domestizierte Außenräume. Dort sind Zucht und Ordnung gelockert, aber keineswegs aufgegeben, etwa im Garten des Pensionats, in dem die Mädchen ungestört reden, herumalbern und unter einer Linde auch Freundschaftsbünde schließen dürfen. Auch amouröse Bewegungen finden in domestizierten Außenräumen statt: die erste Begegnung zwischen Leo und Ilse auf einem Bahnhof, der Antrag auf einer Veranda. Am bedeutungsträchtigsten ist die Position des schon erwähnten Apfelbaums. Er steht im Garten, seine Äste reichen aber direkt an Ilses Zimmer heran. Ein letztes Mal darf sie die soziale Ordnung des Drinnen zurücklassen und hinaus in die Freiheit klettern. Mit diesem „dummen Streich“ nimmt sie Abschied von der Kindheit. Nach der planvollen Raumkonstruktion im Trotzkopf nun zu einem weiteren Argument für die Werkqualität des Romans: 2.2.3 Intertextualität Unter Intertextualität versteht man allgemein das Phänomen, dass ein fiktionaler Text Kontakt mit anderen Texten aufnimmt. Im Trotzkopf geschieht dies einmal in der Erwähnung einer Reihe literarischer Texte: eine Erzählung von Gottfried Keller, Werke von Jean Paul, Chamissos Lieder und Werthers Leiden. Diese Erwähnungen haben Methode und eine Quintessenz, welche lautet: Junge Frauen sollten, wenn überhaupt, in Maßen und unter männlicher Kontrolle lesen. Sehen wir uns die Beispiele an: Die Gottfried-Keller-Lektüre wird als bloßer Zeitvertreib dargestellt. Werthers Leiden ist „verbotene Lektüre“, eine „gefährliche Geschichte“, die der „Herr Klaus Maiwald 50 Papa“ gewiss nicht erlaubt hat (v. Rhoden 69). Die selbsternannte Dichterin unter den Mädchen, Flora, erhält von ihrem Vater zu Weihnachten ein Sachbuch, weil sie für die gewünschte Jean-Paul-Lektüre noch nicht reif sei. Und schließlich schiebt die frisch verliebte Ilse ihre Verwirrung auf „Chamissos Lieder“ und beschließt: „Sie wollte niemals wieder lesen - niemals“ (v. Rhoden 195). So evoziert der Roman das Klischee vom lesewütigen Frauenzimmer, welches seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Schreckgespenst in den Hirnen männlicher Lesepädagogen herumgeistert (Beisbart / Maiwald 2001). Das semantische Substrat der intertextuellen Verweise ist klar: Literatur und Lesen sind eher überflüssig und potenziell gefährlich für junge Frauen, deren Leben auf eine Heirat zulaufen soll. Zur Intertextualität im weiteren Sinne können auch die beiden lehrhaften Beispielgeschichten, die in die Romanhandlung eingebettet sind, gezählt werden. Zum ersten ist dies ein von den Mädchen aufgeführtes Theaterstück. Darin spielt Ilse - fast zu erwarten - eine wilde und unbändige Tochter, die „trotzig und widerspenstig“ die übermütigsten Streiche ausführt. „Da erscheint ein junger, entfernter Verwandter, interessiert sich für den Wildfang und versteht es, durch Güte und Festigkeit ihre Tugenden zu wecken und die Widerspenstige zu zähmen. Zum Schluss wird sie seine Braut“ (v. Rhoden 151). Die zweite Fiktion in der Fiktion ist die bereits erwähnte Warngeschichte über Luzie, die Wald- und Werther-Frau. Eigensinnig und widerspenstig, treibt sie ihren Verlobten von sich fort; Reue und Selbstanklage kommen zu spät. Die Funktion dieser Beispielgeschichten liegt auf der Hand. Sie verstärken die Botschaft, wonach junge Frauen ein bisschen widerspenstig sein dürfen, Lebenserfüllung als Braut aber nur erlangen, wenn sie „verständig“ und „gefügig“ sind. 2.2.4 Fazit Der Text führt vor, wie und mit welchen Mitteln Literatur Wirklichkeit konstruiert; für den Bedeutungsaufbau in diesem Roman konstitutiv sind spezifische Requisiten (Tiere, Kleidung, Naturphänomene), eine hoch suggestive Strukturierung des Handlungsraumes (Ebene - Berge; Innen - Außen) sowie Verweise auf andere literarische Texte bzw. in die Handlung eingebettete Beispielerzählungen. Somit ist Der Trotzkopf ein überaus kunstvoll erzeugtes Erzählkonstrukt, ein Werk. Ist er aber auch ein großes Werk? 2.3 Der Trotzkopf ist ein großes Werk. Worin liegt Größe bei einem literarischen Text begründet? Eine Antwort auf diese Frage ist möglich vom Text her, seinem Inhalt, seiner Form, seiner Sprachlichkeit. Wir fragen dann: Welche Relevanz und Gültigkeit kann das im Text vorgestellte Wirklichkeitsmodell beanspruchen? Ist der Text sprachlich und narrativ geformt? Lesen wir nur „auf Handlung“ - oder hat der Text literarästhetische Überschüsse? Ich habe versucht, solche literarästhetischen Überschüsse aufzuzeigen. Andererseits sind die Pensionatserlebnisse höherer Töchter doch kaum etwas, was Harro- Müller Michaels ein „Denkbild“ nennt. Ein Denkbild ist ein kulturell relevantes Emmy von Rhoden Der Trotzkopf 51 fiktional-ästhetisches Modell der Weltdeutung (Müller-Michaels 169; Abraham/ Kepser 79). „Aschenputtel“ ist ein Denkbild; Goethes „Zauberlehrling“ oder Heinrich Manns Untertan sind Denkbilder; das Raumschiff Enterprise ist ein Denkbild. Denkbilder sind gängige fiktional-ästhetische Modelle, die uns helfen, unsere Welt wahrzunehmen und zu deuten. Ist aber Der Trotzkopf ein Denkbild? Doch wohl kaum, wenn schon am Ende des 19. Jahrhunderts die dargestellte Welt mitnichten der sozialgeschichtlichen Realität junger Frauen entsprach, die z.B. von Männermangel und steigendem beruflichen Ausbildungsdruck geprägt war (Barth 276ff.). Heutigen Lesern scheint ein derart hanebüchenes literarisches Sozialisationsprogramm noch weniger andienbar zu sein: „Ich bin eine Braut [...] wir haben uns geküsst -, meine Seeligkeit kennt keine Grenzen“ (v. Rhoden 199, 202). Das kann nicht unser Ernst sein. Der Trotzkopf ein Denkanstoß für die Wahrnehmung und die Deutung unserer Welt? Eine anachronistische, nette Skurrilität vielleicht. Aber ein „großes Werk der Literatur“? Ich komme auf die Frage zurück - wechsele aber zunächst die Argumentationsebene. Man kann die Größe eines Textes nicht nur aus dem Text selbst, sondern auch aus seiner rezeptionsgeschichtlichen Wirkmächtigkeit ableiten. Die Bücher Karl Mays sind literarästhetisch keine große Kunst, von ihrer Wirkmächtigkeit her aber schon. Lindenstraße ist keine cineastische Leckerei, aber enorm wirkmächtig. Ich halte auch den Trotzkopf für ein großes Werk, weil er enorm wirkmächtig gewesen ist. Schon der Erfolg des Romans beim zeitgenössischen Publikum war sensationell. Fünfzehn Jahre nach seinem Erscheinen 1885 lag bereits die 25. Auflage vor, im Jahr 1928 die 90. Auflage (Barth 271). Zweitens wurde der Trotzkopf zum Inbegriff der so genannten Backfisch- Literatur, Bücher über und für Mädchen im Teenager-Alter, in denen deren Sozialisation zur heiratsfähigen jungen Dame thematisiert wird. Typische Romanreihen in der Nachfolge des Trotzkopf sind Else Urys Nesthäkchen (10 Bde., 1918-1925) oder Magda Trotts Goldköpfchen (11 Bde., 1928-1939). Strickmuster der Backfisch-Literatur ziehen sich bis weit in das 20. Jahrhundert (z.B. in Mary Noothoven van-Goors Das Mädchen Jennifer, 1952, oder Enid Blytons Hanni und Nanni, 1965ff.) (Grenz, „Mädchenliteratur“ 338ff.). Zur Wirkmächtigkeit des Trotzkopf gehört also, dass er als Mutter aller Backfisch-Romane genrebildend gewirkt hat. Bemerkenswert sind auch die Fortsetzungen, Plagiate und medialen Adaptionen im Kielwasser des Romans. Die Autorin Emmy von Rhoden (eigentlich Emilie Friedrich, geb. Kühne, * 15. November 1829 in Magdeburg, † 7. April 1885 in Dresden) war kurz vor dem Erscheinen des Romans verstorben. Unter dem Eindruck des Erfolges drängte der Verleger auf Fortsetzungen, die v. Rhodens Tochter Else Wildhagen besorgte: Trotzkopfs Brautzeit (1892) und Aus Trotzkopfs Ehe (1895). Wildhagen schrieb zunächst unter dem Pseudonym ihrer Mutter; erst in der 10. Auflage wurde ihre Identität enthüllt. Die Herausbildung einer Fortsetzungsreihe und die Verwendung eines Autorennamens als Markenname gelten auf dem literarischen Markt auch heute als untrügliche Zeichen kommerziellen Erfolgs. Die Trotzkopf-Reihe setzte sich mit einem illegitimen Sprössling fort, als die Niederländerin Suze La Chapelle- Klaus Maiwald 52 Roobol 1905 den Band Trotzkopf als Großmutter publizierte. 1930 schrieb wiederum Else Wildhagen einen weiteren Roman, Trotzkopfs Nachkommen - ein neues Geschlecht. Der Trotzkopf regte nicht nur Fortsetzungsbände an, er rief auch Plagiate auf den Plan. Schon im Vorwort zu Trotzkopfs Ehe beklagt Else Wildhagen, dass sich „andere berufen und berechtigt fühlen, die Gestalten der Trotzkopf-Bücher für Erzählungen zu verwenden, die sie als Fortsetzungen der Trotzkopf-Romane verstanden wissen wollen“ (Wikipedia, 03.05.2007). Wildhagen bezieht sich auf den Roman Frau Ilse von Doris Mix, der ebenfalls 1895 erschien. In den Jahren 1916 und 1919 veröffentlichte Maria Mancke unter dem Pseudonym Marie von Felseneck die Bücher Trotzkopfs Erlebnisse im Weltkrieg und Trotzkopf heiratet, die aber - ebenso wie das Werk von Mix - in Vergessenheit geraten sind. In einem Vorwort zu Trotzkopfs Nachkommen kann Else Wildhagen jedenfalls auf einen überwältigenden literarischen Erfolg zurückblicken: Obschon nun bejahrt, hat der ‚Trotzkopf‘ seine Anziehungskraft [...] noch nicht verloren [...] Er darf sich stolz mit in die Reihe der meistgelesenen Bücher stellen - er ist in zehn fremde Sprachen übersetzt worden, und für andere Verfasserinnen wurde er förmlich zu einem Magneten. [...] Dieser neue Band wird nun wohl Trotzkopfs Schwanengesang, doch - wer weiß? ! (Wikipedia, 03.05.2007). Nun war Trotzkopfs Nachkommen insofern ein Schwanengesang, als der Band heute nicht mehr gedruckt wird und keine weiteren Fortsetzungen folgten. Dessen ungeachtet ist das Rezeptionsgeschehen bis heute virulent, wozu auch mediale Adaptionen beitragen: In den 1970er Jahren lassen sich drei Hörspielfassungen auf Langspielplatte ausfindig machen. Im Jahr 1983 - zeitgleich mit der von Helmut Kohl ausgerufenen „geistig moralischen Wende“ - wird Der Trotzkopf als Fernsehserie vom Bayerischen Rundfunk verfilmt. Die Filmmusik wurde als Langspielplatte veröffentlicht, die Serie selbst kam 2004 als DVD auf den Markt. Auch nach über 120 Jahren erfreut sich Der Trotzkopf einer vitalen Präsenz auf dem literarischen Markt. Erst kürzlich wurde er in zwei Ausgaben neu aufgelegt: 2003 bei Ueberreuter, 2005 in einer gekürzten Fassung als Arena-Kinderbuch-Klassiker. So lässt sich festhalten, dass Der Trotzkopf das „bis heute rezeptionsgeschichtlich bedeutendste Backfischbuch“ ist (Grenz, „Mädchenliteratur“ 338). Der Roman fand und findet ein massenhaftes Lesepublikum und er rief in einem munter andauernden Überlieferungsgeschehen Fortsetzungen, Plagiate und mediale Adaptionen hervor. Glaubt man dem Online-Lexikon Wikipedia (03.05.2007), sind die ersten drei Trotzkopf-Bände die einzigen Jugendbücher aus der Zeit vor 1900, die bis heute immer wieder neu aufgelegt werden. Interessant scheint auch, dass die neueste Ueberreuter- Ausgabe darauf verzichtet, auf dem Titelbild die Autorin zu nennen. Offenbar muss der Trotzkopf-Stoff nicht mehr auf einen Urheber zurückgeführt werden, sondern hat sich als „trivialer Mythos“ (Wilkending 132) längst verselbstständigt. Zu betonen ist, dass der Roman seine enorme Wirkmächtigkeit entwickelt hat, ohne dass ihm nennenswerte Unterstützung seitens diskursmächtiger Instanzen der Literaturvermittlung zuteil wurde. Im Deutschunterricht, dem viele Klassiker ihr Weiterleben einzig verdanken, wird Der Trotzkopf meines Wissens nicht gelesen, und Emmy von Rhoden Der Trotzkopf 53 kaum ein Literaturwissenschaftler wird sich dieses Textes wohl annehmen. Das heißt, seine Wirkmächtigkeit schöpft Der Trotzkopf ganz aus sich selbst. Ohne Frage ist er ein Klassiker, und ich würde sagen, gewiss ist er ein großes Werk der Literatur. Ist er am Ende doch ein „Denkbild“? 3. Schlussplädoyer Die Beweisführung versuchte aufzuzeigen, dass und warum Der Trotzkopf als großes Werk der Literatur gelten soll. Die Argumentation stützte sich auf einen weiten Literaturbegriff, auf einen strukturanalytischen Nachweis der Werkqualität und auf die Rekonstruktion eines wirkmächtigen Überlieferungsherganges. Wie zu Beginn will ich jetzt noch einmal den advocatus diaboli geben und gegen den Trotzkopf auftreten. Es geht mir um die Ideologiehaftigkeit des Romans, v.a. das Zerrbild, das er von Frauen, Gesellschaft und der Welt zeichnet. 3.1 Das Ideologische Man hat den Trotzkopf dafür gewürdigt, dass die Titelfigur ambivalent und differenziert ist. Aus dem Wildfang Ilse wird ja keine wohlanständige Langweilerin, durchaus darf die junge Dame temperamentvoll sein und dabei auch erotische Ausstrahlung entwickeln. Nun ist aber auch die natürlich-spontane, verspielte Kindfrau (Grenz, „Bestseller“ 118f.) eine Männerfantasie und -ideologie. Vor allem aber ändert sie nichts an den grundsätzlichen Geschlechterverhältnissen. Frauen im Trotzkopf sind in allem, was sie tun, auf Männer bezogen. Sie sind Töchter von Vätern, Ehefrauen von Männern und Mütter von Söhnen, und auch Ilses ältere Reisebegleiterin heißt nicht Frau Lange, sondern „Frau Rat“ (v. Rhoden 173). Endzweck und Erfüllung eines Frauenlebens ist die Heirat, Nichtheirat bedeutet hingegen ideelles und soziales Scheitern. Frauen sind heteronom, Männer autonom. Ein Mann ohne Frau kann ein berühmter Kunstmaler werden; eine Frau ohne Mann ist ein Nichts. Frische Natürlichkeit und eine kleine künstlerische Ader erhöhen den Liebreiz einer Frau, ihre grundsätzliche Unterordnung steht aber außer Frage. Lesen, schreiben oder malen darf eine Frau nur, solange dies von Männern geduldet wird und soweit dies ihre Rolle als Ehefrau und Mutter zulässt. Die im Roman dargestellte Gesellschaft ist die bürgerliche Funktionselite, bestehend aus Oberamtmännern, Pfarrern, Sanitätsräten, Landräten, Assessoren - und deren Gattinnen. Frauen, die keinen Mann bekommen, werden zur und in der Not Erzieherinnen; als exotisches Einsprengsel gibt es einen Kunstmaler. Am Rande treten derbe Bauern und einfältig-gutherzige Dienstboten auf. Undenkbar, dass es in der niederen Schicht Intelligenz und Individualität gibt; undenkbar, dass sich die Schichten vermengen; undenkbar, dass Leo der Sohn des Stallknechts Johann wäre. Und die weite Welt? Auf der ruhigen, geschichtslosen Oberfläche gibt es keinerlei politische, soziale oder ökonomische Kräuselung. Die Romanwelt ist heil und stabil, und sie reproduziert sich fortwährend selbst. Was der junge Leo Gontrau in der Zeitung liest, bleibt ungenannt; das einzige ökonomische Faktum ist das Los unver- Klaus Maiwald 54 heirateter Frauen, die ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten müssen. Ob Landrat Gontrau einer Partei angehört, welche Berufsaussichten Rechtsreferendare haben, ob Ilse und Leo in einer Zugewinngemeinschaft oder in Gütertrennung leben werden, bleibt komplett ausgeblendet. Somit ist das Wirklichkeitsbild dieses Romans hoch ideologisch. Ideologie herrscht für Umberto Eco dort, wo semantisch partiale Felder, man könnte vereinfacht sagen: Wirklichkeitsausschnitte, absolut gesetzt werden. Ideologisch ist für Eco die „Argumentationsform, die [...] nur einen Teilbereich eines bestimmten semantischen Feldes in Betracht zieht, [aber] behauptet, ein ‚wahres Argument‘ zu entwickeln“ (Eco 370). Ideologisch wäre dem gemäß die partiale Gleichsetzung von Frau mit Ehefrau und Mutter, weil sie ausblendet, dass auch Nonnen und Amazonen Frauen sind. Gemessen an Ecos Definition ist Der Trotzkopf hochgradig ideologisch, weil er große Teile sozialer Wirklichkeit ausblendet und ein schmales und überzeichnetes Segment zur Wirklichkeit schlechthin erhebt. Wie soll man dies aber bewerten, wie mit der Ideologiehaftigkeit des Romans umgehen? In den 1970er Jahren hätte man den Text vermutlich entschlossen gegen den ideologischen Strich gebürstet und entlarvt, wie er die Leserinnen manipuliert, entmündigt und verblendet. Auch heute liegt die Frage nahe, ob man Mädchen, aus denen doch selbstbewusste und emanzipierte Frauen werden sollen, vor so etwas nicht warnen und schützen müsse. Freilich scheint mir Gelassenheit angezeigt, weil das Ideologische weder die Hauptwirkung noch den Kern der literaturdidaktischen Relevanz einer Trotzkopf-Lektüre auszumachen scheint. Fragt man in einer Vorlesung nach Leseerfahrungen mit dem Trotzkopf, so meldet sich eine größere Zahl von Studentinnen, die den Roman als Mädchen gelesen hatten - zum Teil mit großer Inbrunst. Größere Schäden haben sie aber offensichtlich nicht davon getragen, und Lehrerinnen werden sie nicht aus Not, weil sie hässlich sind oder soeben ihre Verlobten verprellt haben. Spaß beiseite: Die Herausarbeitung der Ideologiehaftigkeit des Romans ist ein legitimes Unterfangen - ich habe es in Ansätzen auch vorgeführt. Man würde die Literatur aber generell überschätzen, wenn man meinte, sie könnte Leser veranlassen, auf direktem Weg die vorgeführten Wirklichkeitsmodelle nachzuleben. Der Text ist das eine; was individuelle Lesarten daraus machen, das andere. (Auch beim Faust interessieren sich junge Leser zunächst eher für die Liebesgeschichte mit Gretchen.) 3.2 Leseanreize und didaktische Potenziale Es zeichnet den Trotzkopf meines Erachtens aus, dass er für unterschiedliche Lesealter über die Zeiten hinweg attraktiv (geblieben) ist: Für die 10-jährigen gibt es lustige Streiche, nette Tierepisoden, die drollige Lilli und das spaßige Englisch-Deutsch von Nellie; für die etwas Älteren gibt es eine Ablösung vom Elternhaus, die Neuorientierung in einer peer group, die ersten Kontakte mit dem anderen Geschlecht und erstes Verliebtsein. Zudem ist die Hauptfigur am Ende insgesamt zwar „verständig und gefügig“, aber dennoch von allem ein wenig: temperamentvoll und schüchtern, eigensinnig und fügsam, wagemutig und ängstlich. Natürlich ist das alles unrealistisch Emmy von Rhoden Der Trotzkopf 55 und überzogen, gerade deshalb aber bietet der Text Identifikation und Entlastung von den Komplexitäten des wirklichen Lebens (Grenz, „Bestseller“ 116). Ich sehe nicht, was daran im Grundsatz falsch sein soll. Thema im Literaturunterricht sollte Der Trotzkopf meines Erachtens aber erst in höheren Jahrgangsstufen werden. Einmal lädt der Roman ein zu „lesebiographischer Arbeit“ (Kliewer 118). In der erneuten Lektüre und Reflexion der eigenen Kinderbücher können sich Identität, historisches Bewusstsein und literarisches Differenzierungsvermögen bilden. Habe ich den Trotzkopf gelesen? Was hat der Text in mir ausgelöst? Was nehme ich heute an dem Text zusätzlich oder nicht mehr wahr? Derartige Reflexionen eigener Leseerlebnisse können ein produktiver Faktor gelingender literarischer Sozialisation werden. Zweitens zeigt der Roman das Funktionieren von Literatur als Symbolsystem, wenn man untersucht, was der Text an Bedeutung aufbaut und wie er dies tut. Am Trotzkopf lässt sich der generelle Konstruktcharakter literarischer Texte vorführen. Dabei sollte das Ideologische erkennbar werden, aber auch sein großes humoristisches Potenzial, welches in skurril typisierten Figuren (die dichtende Flora, die mondäne Orla, die brave Rosi), Übersteigerungen und Kitschigkeiten gründet (Grenz, „Bestseller“ 117). Der Trotzkopf lässt sich aber nicht nur auf der Ebene symbolischer Bedeutungscodierung analysieren, an ihm lässt sich auch beobachten, wie Literatur als Handlungssystem funktioniert (Ewers 176). Der Roman zeigt, dass literarische Texte nicht aura-umflort im luftleeren Raum, sondern im prallen und wechselvollen literarischen Leben stehen. In diesem Leben gibt es auf Fortsetzungen drängende Verleger, Plagiate und Rechtsstreitigkeiten, mediale Adaptionen, Buchcover ohne Autorennennung. Die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Trotzkopf ist ein Anschauungsbeispiel für Mechanismen des Literaturbetriebs. Warum schrieb v. Rhoden unter einem adeligen Pseudonym? Warum wurde Der Trotzkopf ausgerechnet 1983 verfilmt? Warum stieg die Nachfrage nach dem Roman nach 1990 sprunghaft an? Was lässt sich an den diversen Buchumschlägen, LP-Hüllen und DVD-Covern ablesen? Viertens kann der Roman beitragen, Imagination und Fremdverstehen zu entwickeln. Welches Modell vom Heranwachsen entwirft Der Trotzkopf? Wie repräsentativ war dieses Modell am Ende des 19. Jahrhunderts? Welche fiktionalen Modelle für das „Backfisch-Alter“ gibt es heute? Was würde passieren, wenn man Ilse Macket etwa in Alexa Hennig von Langes Roman Ich habe einfach Glück verpflanzen würde? Und was würde dessen Protagonistin, die magersüchtige und reichlich überspannte Lelle, wohl im Töchterpensionat und mit Leo Gontrau anstellen? Kaspar H. Spinner (2001) hat für den Umgang mit Literatur sechs Ziele formuliert. Sie lauten: 1) Förderung der Freude am Lesen, 2) Texterschließungskompetenz, 3) Literarische Bildung, 4) Förderung von Kreativität und Imagination, 5) Identitätsfindung und Fremdverstehen, 6) Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen. Ich sehe darunter nichts, was sich - gerade für ältere Leser - mit dem Trotzkopf nicht realisieren ließe. Daher plädiere ich auf einen umfassenden literaturdidaktischen Freispruch für diesen wunderbaren Roman und auf seine volle Rehabilitierung als großes Werk der Literatur. Klaus Maiwald 56 3.3 Ein „Denkbild“? Wie steht es nun aber mit dem kulturellen Denkbild? Will man heute verstehen, was unsere Kultur im Innersten zusammenhält, begibt man sich auf eine Google- Recherche. Der Suchbegriff „Trotzkopf“ liefert nicht nur zahllose Treffer zu den Romanen und den medialen Adaptionen. Er führt auch auf eine umfangreiche psychologische und pädagogische (Ratgeber-)Literatur zum Thema Trotzkopf-Alter („Damit die Eltern-Kind-Beziehung möglichst stressfrei verläuft! “). Im Übrigen firmiert unter „Trotzkopf“ auch eine finster wirkende Band, die „Elektro Rock mit deutschen Texten“ macht (<http: / / www.manyfaced.com/ html/ artists-trotzkopf. php.>, 20.07.2007). Ein schöner Treffer ist eine „Bildagentur und Foto-Community“ (<http: / / www.panthermedia.net/ .>, 20.07.2007), die „Trotzkopf“ als Suchkategorie anbietet, um darunter wahrhaft einschüchternde Konterfeis gar nicht verständiger und gefügiger junger Damen zu versammeln. Am 30.07.2006 veröffentlichte Der Spiegel online einen Bericht über die Bayreuther Festspiele unter dem Titel „Bayreuths Siegfried. Trotzkopf auf der Baustelle“ (<http: / / www.spiegel.de/ kultur/ musik / 0,1518,429216,00.html>, 20.07.2007), und soeben zierte die Online-Ausgabe des Handelsblattes (16.07.2007) ein Leitartikel mit der Überschrift „Trotzkopf Putin“ (<http: / / www.handelsblatt.com/ news/ Journal/ Kommentar/ _pv/ _p/ 204051/ _t/ ft / _b/ 1294483/ default.aspx/ trotzkopf-putin.html>, 20.07.2007). Man sieht also: Der Begriff Trotzkopf findet durchaus breite Verwendung, um sich in der Welt zu orientieren und sich über die Welt zu verständigen. Insofern darf der Roman vielleicht sogar als eines unserer kulturellen Denkbilder gelten. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Rhoden, Emmy von: Der Trotzkopf. Wien: Ueberreuter, 2003. Forschungsliteratur: Abraham, Ulf und Matthis Kepser: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt, 2005. Barth, Susanne: „Töchterleben seit über 100 Jahren. Emmy von Rhodens Trotzkopf.“ Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Bettina Hurrelmann (Hg.): Frankfurt: Fischer, 1995. 270- 293. Beisbart, Ortwin und Klaus Maiwald: „Von der Lesewut zur Wut über das verlorene Lesen. Historische und aktuelle Aspekte der Nutzung des Mediums Buch.“ In: Klaus Maiwald und Peter Rosner (Hgg.): Lust am Lesen. Bielefeld: Aisthesis, 2001. 99-129. Bohn, Cornelia und Alois Hahn: „Pierre Bourdieu.“ In Dirk Kaseler (Hg.): Klassiker der Soziologie (Bd. 2). München: Beck, 2003. 252-271. Eco, Umberto: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. München: Fink, 1987. Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. München: Fink, 2000. Emmy von Rhoden Der Trotzkopf 57 Grenz, Dagmar: „Der Trotzkopf - ein Bestseller damals und heute.“ In: Dagmar Grenz und Gisela Wilkending (Hgg.): Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Weinheim: Juventa, 1997. 115-122. Dies.: „Mädchenliteratur“. In: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur (Bd. 1). Baltmannsweiler: Schneider, 2000. 332-358. Kliewer, Anette: Klassiker - oder? Kinder- und Jugendliteratur in den Sekundarstufen. Baltmannsweiler: Schneider, 2005. Krischker, Gerhard C.: fai obbochd. gesammelte dialektgedichte. Bamberg: Kleebaum, 1995. Müller, Ulrich: „Suchet, so werdet Ihr finden: Die Queste als episches Universale in Literatur, Film, Pop - und im Computer. Beobachtungen, Spekulationen und Fantasien über ein vorgegebenes Thema.“ In: Wolfram Buddecke und Jörg Hienger (Hgg.): Phantastik in Literatur und Film. Frankfurt, 1987. 33-54. Müller-Michaels, Harro: Deutschkurse. Modell und Erprobung angewandter Germanistik in der gymnasialen Oberstufe (2. Aufl.). Weinheim: Beltz, 1994. Spinner, Kaspar H.: „Zielsetzungen des Literaturunterrichts.“ In: Kaspar H. Spinner (Hg.): Kreativer Deutschunterricht. Identität, Imagination, Kognition. Seelze: Kallmeyer, 2001. 168-172. Wilkending, Gisela: „Man sollte den Trotzkopf noch einmal lesen.“ In: Dagmar Grenz und Gisela Wilkending (Hgg.): Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Weinheim: Juventa, 1997. 123-135. Zitierte Netzquelle: <http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Der_Trotzkopf> (20.07.2007). Stefan George Das Jahr der Seele Joachim Jacob An einem heißen Frühlingsmittag des Jahres 1913 ging ein junger Student durch die Hauptstraße der Stadt Heidelberg. Er hatte eben das Brunngäßlein gekreuzt und beobachtete, wie der gewohnte Strom der Gänger, die sonst in unbekümmert lauten Gesprächen und in ungeregelten Reihen auf Steig und Fahrweg sich zur Hochschule hin und vom Ludwigsplatz zurück bewegten [...]. Als mit einem Male die Müden sich zu raffen schienen: federnden Ganges, leichten Schrittes kam ein Einzelner des Wegs, - alle wichen zur Seite, auf daß nichts seinen Gang hemme, und wie schwebend, wie beflügelt bog er um die Ecke zum Wredeplatz hin. Der Betrachter stand erstarrt, auf den Fleck gebannt. Ein Hauch einer höheren Welt hatte ihn gestreift. Er wußte nicht mehr, was geschehen war, kaum wo er sich befand. War es ein Mensch gewesen, der durch die Menge schritt? Aber er unterschied sich von allen, die er durchwanderte, durch eine ungewußte Hoheit und durch eine spielende Kraft, so daß neben ihm alle Gänger wie blasse Larven, wie seelenlose Schemen wirkten. War es ein Gott, der das Gewühl zerteilt hatte und leichtfüßig zu anderen Gestaden enteilt war? Aber er hatte Menschenkleidung getragen, wenn auch besondere: eine dünne gelbe Seidenjacke wehte um den schlanken Körper; ein großer Hut saß seltsam leicht und fremd auf seinem Kopf und dichtes braunes Haar quoll darunter hervor. Und in der Hand wirbelte ein kleiner dünner Stock - war es der Stab des Merkur, war es eine menschliche Gerte. Und das Antlitz? Der Betrachter entsann sich nur undeutlich der einzelnen Züge; gemeißelt waren sie, und die Blässe der Wangen trug dazu bei, den Eindruck des Fremden, Statuenhaften, Göttlichen zu wecken. Und die Augen? Plötzlich wußte der Betrachter: es war ein Strahl dieser Augen, der ihn gebannt hatte, schnelle wie ein Blitz war ein Blick zu ihm herüber geflogen, hatte ihn ins Innerste durchdrungen und war mit einem leichten flüchtigen Lächeln weitergewandert. Und nun stieg das Wissen auf: war es ein Mensch, dann - Stefan George. (Edgar Salin, Um Stefan George, zitiert nach Schauner: 10 2000, 96) So schildert Edgar Salin aus der Erinnerung seine erste Begegnung mit Stefan George 1913 in Heidelberg. Stefan George, der von seinen Jüngern und Verehrern der „Meister“ genannt wird, ist ein Autor, der schon zu Lebzeiten von Mystifikation umgeben ist, von schroffer Abgrenzung und allerhöchsten Ansprüchen an sich und andere. Er ist ein Autor zwischen Mummenschanz und ganzem existenziellen Einsatz, der wie kaum jemand vor ihm in Deutschland Dichtung als eine absolute Kunst und Lebenskunst zugleich zelebriert. Ein Bauernsohn aus Bingen am Rhein und ein selbsternannter Aristokrat, Mittelpunkt einer Gemeinschaft ohne festen Wohnsitz, die sich später als Elite eines „geheimen Deutschlands“ verstehen wird, von denen einige später ziemlich begeisterte Nazis (Ernst Bertram), andere dagegen ins Exil vertrieben (Karl Wolfskehl) oder im Widerstand gegen das NS-Terrorregime sterben werden, wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg, dessen Beziehung zu George Joachim Jacob 60 jüngst der Schriftsteller Marcel Beyer einen sehr lesenswerten Essay gewidmet hat (Beyer: 2005). So lassen sich in jeder, aber auch wirklich in jeder Hinsicht, keine größeren Gegensätze als die denken, die sich zwischen George und Emmy von Rhodens Backfischroman Trotzkopf (1885) auftun, der zuvor in dieser Reihe über Große Werke der Literatur Thema war. Und es sagt etwas über unsere Haltung zur Literatur, über unser Literaturverständnis, über unsere Neugier und Toleranz als Leser, es sagt überhaupt etwas über unsere gegenwärtige historische Situation und unser Kunstverständnis aus, dass wir eine solche Zusammenstellung vornehmen können. Man kann das Humor nennen, eine Bereitschaft zur Distanzierung von höchsten, absoluten Ansprüchen, eine Fähigkeit, nicht alles, und gerade auch die Kunst, so furchtbar ernst zu nehmen, oder auch historistisch nennen, d.h. eine Haltung, die weiß, dass es keine absoluten Ansprüche gibt, dass alles der Geschichte und einem wechselnden Urteil, Interesse und Bedürfnis unterworfen ist. Ich sage das so ausdrücklich, weil eben dies, das Bewusstsein des Historismus, der Skepsis und auch des Humors, auch die Epoche der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mitprägte, die der absolut humorfreie Stefan George nun auf das Entschiedenste - neben dem „Schmutz“ der zeitgenössischen, George und einem Kreis verhassten Naturalisten - hinter sich lassen will. Kunst, „die“ Kunst soll wieder etwas Hohes bedeuten. Sie soll dem Geist eine feste, beherrschende Form geben und dem Gefühl und dem Leben eine geformte, schöne Gestalt. Aber nicht in ästhetischer Liberalität, sondern mit dem Ausdruck und Anspruch gefügter Notwendigkeit. - Das macht unsere heutige Fremdheit (jedenfalls meine Fremdheit) gegenüber George und dem George-Kult aus, den seine Jünger um ihren „Meister“ trieben; und wer sich in die menschlichen Abgründe einführen lassen will, die sich mit und in Folge solcher Ansprüche und Erwartungen in dem Kreis um George auftaten, dem sei etwa die Lektüre der kritischen Monographie von Stephan Breuer empfohlen (Breuer: 1995). Aber diesen mittlerweile recht gut erforschten Aspekt möchte ich heute beiseite lassen und mich auf die Literatur konzentrieren, auf Georges ersten großen Gedichtzyklus, der ihm den Durchbruch bringt und ihn berühmt macht: Das Jahr der Seele. Der Zyklus erscheint in einem von George in Auftrag gegebenen, und zuerst nur wenigen, handverlesenen und für würdig befundenen Lesern zugänglich gemachten, Privatdruck in dem von George gegründeten Verlag der Blätter für die Kunst in 206 Exemplaren im November 1897 (im selben Jahr geht von Rhodens Trotzkopf übrigens in die 25. Auflage ...). Das Titelblatt dieses Privatdrucks gestaltet, wie den ganzen Band einschließlich der Typographie, der Maler und seit 1895 enge Gefährte Georges, Melchior Lechter (eine Deutung gibt Blasberg: 1997, 277ff.), dessen für George gestalteten Titelblätter, so Dirk von Petersdorff, „wie Eintrittstore“ in „eine eigene, verzauberte Welt“ wirken (von Petersdorff: 2004, 51). 1898, im Druck 1899 folgt eine zweite, öffentlich zugängliche Ausgabe des Gedichtbandes. Stefan George Das Jahr der Seele 61 Große, moderne Literatur? Man kann sich fragen, ob und mit welchem Recht Georges Lyrik und eben auch Das Jahr der Seele noch zur großen Literatur, vielleicht zur Weltliteratur gehören. Denn anders als z.B. im Fall von Joyce, Proust, oder Thomas Mann ist es um George still geworden. „Auf die Gewalt“, konstatierte Theodor W. Adorno bereits 1967 in seinem sehr lesenswerten Vortrag George: Auf die Gewalt, mit der er den Zeitgenossen sein Bild eingraben wollte, antwortet eine nicht geringere des Vergessens: als triebe der mythische Wille seines Werkes, zu überleben, mythisch zu dessen eigenem Untergang. (Adorno: 1979, 46) Und doch. Wie wäre es, wenn gelingt, was Adorno in seinem Vortrag gegen den status quo als Gedankenspiel probiert (1967, zum unzeitgemäßesten Zeitpunkt, zu dem man sich mit guten Gründen in Westdeutschland daran macht, hergebrachte Autoritäten in Frage zu stellen und Luft in die Zimmer zu lassen), eine kleine imaginäre George-Anthologie dessen, was vielleicht jenseits der Herrschaftspose von Georges Literatur bleiben könnte, zu entwerfen: dessen also, was von George jenseits seines Ursprungskontextes und der persönlichen Intention noch Wirkung zu entfalten vermag, wie es einem Werk großer Literatur zu Eigen wäre. Joachim Jacob 62 Zunächst aber ist Georges Literatur in einem viel engeren Sinn Weltliteratur. Insofern nämlich, als George zu seiner Zeit alles daran setzt, die (literarische) Welt wieder einmal in die deutsche Literatur hereinzuholen, so, wie dies vor George beispielsweise Goethe, der den Begriff der „Weltliteratur“ geprägt hat, getan hat, oder noch etwas vorher, im 18. Jahrhundert, Friedrich Gottlieb Klopstock die deutsche Sprache modernisiert und auf die Höhe der zeitgenössischen Literaturen England und Frankreichs bringt - beide übrigens von George sehr verehrte Autoren. So will auch George die deutsche Literatursprache, die es seiner Ansicht nach nötig hat, wieder auf die künstlerische Höhe seiner Zeit bringen und d.h. für ihn, in sie das aufzunehmen, was vor allem Charles Baudelaire (1821-1867), Paul Verlaine (1844- 1896) oder Stéphane Mallarmé (1842-1898) an ästhetischen Neuerungen in die europäische Poetik eingeführt hatten. Eine neue Sensibilität für den ästhetischen Eigenwert der Worte und der Sprache überhaupt, für ihren Klang, aber auch für den „absoluten“, um Breitenwirkung unbekümmerten Anspruch, den Mallarmé, den George persönlich in Paris aufsucht, der Literatur zumisst. Darum übersetzt George Baudelaire, Rimbaud, Verlaine, daneben d’Annunzio, Swinburne und andere ins Deutsche. Er weiß genau, dass jede Übersetzung Umdichtung ist - so spricht George von seinen Übersetzungen als „Übertragungen“, als „Umguss“ (George: 4 2000: II, 7) -, aber eben darin auch ein neues Experimentier- und Erweiterungsfeld für die eigene Sprache liegt (vgl. ebd. 233). Doch nicht nur die zeitgenössische, die moderne Literatur seiner Zeit will George adaptieren, sondern auch die große Literatur der vergangenen Epochen, Shakespeare, Dante, eignet George sich übersetzend und auch im ganz wörtlichen Sinn an: wie ein Mönch schreibt George gerne ab, ganze Bücher entstehen auf diese Weise. Herausfordernd schließlich, auch das vielleicht ein Qualitätskriterium für Literatur, ist Georges Werk, weil es von außerordentlicher Komplexität ist. Man wird nicht sehr leicht fertig mit ihm, wenn man es ernst nimmt, und in seiner Komplexität und auch all seiner Widersprüchlichkeit scheint es mir zuletzt auf besondere Weise repräsentativ für die Moderne zu sein. Denn keineswegs kann man George und seine Literatur, hier würde ich Stefan Breuer entschieden widersprechen, unter dem Schlagwort des „Antimodernismus“ ablegen, sondern in der Person und Literatur des Autors konzentrieren sich vielmehr gleichsam wie in einem Brennglas die Extreme der Moderne der Jahrzehnte um 1900: der Jugendkult, der Antimoralismus, die Formbegeisterung, das Interesse an Oberflächenphänomenen, die Faszination für neue Medien (in Georges Fall der Fotografie, die er außerordentlich planmäßig einsetzt, siehe dazu Wolfgang Braungart: 1997, 118-153) einerseits - und von allem immer auch das Gegenteil: das Abschreiben mit der Hand, den Kult um die alten großen Männer, das Ringen um die deutsche „Tiefe“, die Sehnsucht nach Propheten, nach höherer Ordnung und nach einem „neuen Reich“. Insofern ist George ein sehr authentisches Phänomen der Moderne und seine Literatur ist es, insofern sich dies alles in ihr spiegelt. Aber nicht wie in einem polierten Spiegel, sondern in einem Spiegel aus Sprache. Denn auch darin gehört Georges Lyrik der Moderne um 1900 an, dass sie in besonderer Weise ihr Medium, die Sprache, zu ihrem Thema macht. Und zwar nicht nur in reflektierender Weise, sondern Stefan George Das Jahr der Seele 63 insofern George seine Gedichte dezidiert als „Kunst“, Sprachkunst, begreift, die unterstellen und immer wieder bewusst machen, dass Wirklichkeit in der Literatur nie ohne Sprache und nie ohne sprachliche Form zu haben ist. Das ist sehr heikel, denn die Artifizialität des Ausdrucks, die mit dieser Einsicht einher geht, droht immer ins Manirierte, ja ins Lächerliche umzukippen - Züge von denen Georges Lyrik nicht frei ist. Aber die Künstlichkeit ist auch nur das eine. Auf der anderen Seite stellen auch Georges Gedichte das Welt- und Wirklichkeit-erschließende der Sprache heraus und sind neben aller symbolistischen Verrätselung gesättigt mit Wirklichkeitserfahrung: „Die verse sind immer noch viel wörtlicher zu nehmen als man denkt“, hat Georges enger Vertrauter Robert Boehringer einmal als Ausspruch Georges überliefert (Boehringer: 1965b, 36), und das gleich in doppeltem Sinne. Denn „wörtlich“ sind Georges Verse im wortwörtlichen Sinne ihrer Bedeutung zu nehmen: „bunte pfade“ sind erst einmal „bunte pfade“, Pfade in einem Garten, die sich dem Auge als ein sinnlich bunter Eindruck darstellen, aber „wörtlich“ sind sie auch in dem Sinn zu lesen, dass sie ostentativ aus Worten gemachte, die einzelnen Worte wie Baumaterial verwendende Texte sind. Sinn für sprachliche Konstruktion und Technik verlangt George, mit einem merkwürdigen, von ihm geprägten und dann berühmt-berüchtigt gewordenen Wort: Sinn für die „mache“ (George: 1965, 15). George lesen Aus dieser zweiten Forderung, Literatur in eminenter Weise als eine Wort-Kunst zu begreifen, resultiert eine weitere, zunächst banal scheinende Aufgabe im Umgang mit ihr. Nämlich die, dass man Literatur vortragen muss. Denn nur wer laut liest bzw. vorgetragenen Worten zuhört, kann die „wörtliche“ Seite eines Gedichts in vollem Umfang erleben, zu dem eben nicht nur die Schriftzeichen auf dem Papier gehören, sondern auch der Klang des gesprochenen Worts. Das ist noch nicht unbedingt etwas neues, wenn man zum Beispiel an die metrisch gestalteten Hexameter des griechischen Epos denkt, die sich auch nur im mündlichen Vortrag voll erschließen, oder an Klangphänomene wie die Alliteration oder den Reim. Das Besondere an Georges Lyrik ist, dass Sinn und Klang eines Worts, wie George in seiner Lobrede auf Mallarmé (1893) schreibt, in ein gleichberechtigtes Verhältnis treten sollen. In „sinn und wolklang nach der höchsten vollendung streben“ (George: 4 2000, I, 508), Bedeutung und Klang der Wörter mit gleich hohem Anspruch behandeln, gibt George als Maxime aus. Darum muss man George laut lesen, damit sich die „Wörtlichkeit“ der Sprache in Klang und rhythmischem Fortgang als eine eigene Gestalt zeigen kann. Boehringer spitzt diesen Gedanken gegen die klassische, am Augenschein ausgerichtete Ästhetik in einer sehr aufschlussreichen kleinen Abhandlung Hersagen von Gedichten (1911) in der nun den Ohrensinn präferierenden Formulierung zu, dass vom „gesprochenen wort als der erscheinung des dichterischen gebildes“ (Boehringer: 1965a, 93) auszugehen sei. Erst im „gesprochenen wort“ stellt sich ein Gedicht Joachim Jacob 64 dar, weil erst in ihm das Gedicht ganz zur Entfaltung kommt und mit ihm das Ereignis der Sprache selbst, das die Poetik der Moderne entdeckt. Darüber hinaus erlaubt das laute Lesen und insbesondere die Dichterlesung natürlich auch (wie heute noch gut zu beobachten ist) die auratische Inszenierung eines Werks und seines „Meisters“ im vergänglichen Augenblick des Vortrags. Wie man sich das im Falle Georges vorzustellen hat, hat die Berliner Malerin Sabine Lepsius festgehalten, in deren Haus George häufiger verkehrte und manchmal las. An diesem Abend war unter der Zuhörerschaft auch Lou Andreas Salomé, die ihren „jungen Freund Rainer Maria Rilke“ mitgebracht hatte: Den 15. November 1897. Gestern war ein großer Tag. Stefan George las vor einem zahlreichen, aber ausgesuchten Hörerkreis Gedichte aus dem Jahr der Seele und noch andere einzelne Verse. Ganz allmählich wurde man hineingezaubert in die Stimmung seiner Dichtungen, die mit- und hinrissen. Wie sollte man es wohl zu beschreiben suchen - der Ton seiner Stimme wechselte seine Höhe und Tiefe nur in ganz seltenen Abständen, wurde dann streng beibehalten [...]. Auch die Endzeilen verharrten auf dem gleichen Ton, so daß nicht nur der übliche Schlußeffekt völlig vermieden wurde, sondern es schien, als sei das Gedicht nicht ein einzelnes in sich abgeschlossenes, sondern ein Anfang, ohne Ende, wie herausgegriffen aus dem Reich großer Gedanken und erhöhter dichterischer Vorstellungen.[...] Die Gäste wurden unmittelbar vom Gang in das Wohnzimmer geführt, das nur matt erleuchtet war, während im Musikzimmer, für die Gäste verborgen, zwei Klavierlampen standen, die ihr ungefärbtes starkes Licht auf den Vortragenden warfen. [...] Es waren, wie immer bei festlichen Gelegenheiten, Blumen in Kübeln aufgestellt, im Musikzimmer aber ein Kupfergefäß mit Lorbeerzweigen. [...] In allem Ernst wurde später gemunkelt, daß das große Buch, der Teppich des Lebens, während einer späteren Lesung im Jahre 1899 von zwei schönen nackten Knaben gehalten worden sei. Nur war es leider nicht wahr. (Lepsius: 1989, 327-329) Nicht immer übrigens, bzw. nicht bei jedem, funktioniert das Ritual. Der Berliner Kunsttheoretiker Max Dessoir, in dessen Vorlesungen Stefan George das erste Mal öffentlich Gedichte vortrug („eine wunderschöne Stunde“), berichtet von einer solchen Lesung im Lepsius’schen Haus: Wir Berliner sahen den „Meister“ des öfteren in dem Malerhaus von Reinhard und Sabine Lepsius, wenn er im feierlich geschmückten, verdunkelten Saal, nur von Kerzen beleuchtet, seine Verse „hersagte“. Ein Spötter flüsterte mir damals einmal ins Ohr: „Jetzt möchte ich ganz laut ‚Blutwurscht‘ rufen“, und ich selber muß bekennen, daß es mir einige Zeit hindurch eine teuflische Lust bereitete, mit Georges Lichtbild, das eine starke Pappe zur Unterlage hatte, die Seiten wüster Kriminalromane aufzuschneiden. (Dessoir: 1947, 330) Welcher Eindruck auch immer sich dem Publikum mitteilte, eine wesentliche Intention der Inszenierung der Georgeschen Lesung ist der Versuch, eine „objektive“ Form für eine Kunst zu finden, die nicht individueller Erlebnisausdruck sein möchte, sondern eine eigene Sprachwirklichkeit, wie Lepsius schreibt, „wie herausgegriffen aus dem Reich großer Gedanken und erhöhter dichterischer Vorstellungen“. Darum verlangt Boehringer in der schon zitierten Abhandlung Hersagen von Gedichten, dass man sich jeder individuellen Ausdrucksgebung und jeder Färbung durch persönliche Stefan George Das Jahr der Seele 65 Stimmungen enthalten müsse, im Unterschied zu den zeitgenössischen, „deklamationen von gastierenden autoren, vortragskünstlern und schauspielern“ (Boehringer: 1965a, 93), von denen sich der Georgianer mit Grausen abwendet. Stattdessen soll ein den Worten immanentes „Gesetz“ (ebd., 94) in der ritualisierten Darstellung zur Erscheinung kommen, welches zugleich eine - auch zur Moderne gehörende - Sehnsucht nach überindividueller Ordnung, Form, und Maß verrät, die vielleicht auch die Faszinationskraft Georges für die Zeitgenossen erklärt. Georges Dichtung zeige, so der große Berliner Kultursoziologe und scharfsinnige zeitgenössische Analytiker der Moderne Georg Simmel in seinem George-Essay von 1898, ein „Objektiv-Werden des Kunstgefühles“, das in der vollendeten Durchformung der Welt alles in der „Form“ der Kunst aufgehen lasse, die „Herrschaft [...] über die Welt vollendet“ (Simmel 1992, 293) und der Seele das Gefühl geben könne, „überhaupt einer Ordnung jenseits des nur persönlichen Ich anzugehören“ (ebd., 289). Kritisch wird dagegen nur wenige Jahre später ein anderer aus der Reihe der bedeutenden, zeitsensiblen Kunsttheoretiker um 1900, Georg Lukács, in einer Betrachtung über Die neue Einsamkeit und ihre Lyrik: Stefan George (1908) auf die unentrinnbare Historizität auch des vermeintlich zu größter Objektivität geläuterten zeitlosen Gefühls hinweisen, das Simmel in Georges Lyrik erkannt hatte: was gestern kalt und verletzend objektiv war, darin spüren heute schon viele die versteckte Lyrik, und morgen vielleicht werden sie es allzu mild, allzu geständnisreich, viel zu subjektiv und viel zu lyrisch finden. (Lukács: 1971, 117f.) Das Jahr der Seele George lässt die öffentliche Ausgabe seines Gedichtbandes Das Jahr der Seele nicht unkommentiert. Er stellt ihr eine „Vorrede“ voran, die sich ausdrücklich gegen diejenigen verwahrt, die „meinten es helfe zum tieferen verständnis wenn sie im Jahr der Seele bestimmte personen und örter ausfindig machten“ (119). Auch wenn diese Notiz ihrerseits einen konkreten biographischen Hintergrund hat, nämlich den unglücklichen Ausgang der Liebesbeziehung des Dichters zu seiner Freundin Ida Coblenz, die wohl im Jahr der Seele ihre Spuren hinterlassen hat und ursprünglich als Widmungsträgerin vorgesehen war, nun jedoch der Schwester des Dichters, Anna Maria Ottilie, „der tröstenden beschirmerin auf manchem meiner pfade“ (ebd.), weichen muss, auch wenn Georges Mahnung, nicht biographisch zu lesen, also offenkundig selbst biographisch motiviert ist, bleibt sie dennoch bedenkenswert. Denn auch die Aufforderung, auf die Suche nach konkreten historischen Ur- und Vorbildern der Worte im Jahr der Seele zu verzichten, folgt dem eben schon berührten Anspruch, die Sprachkunst als eine eigene Realität anzuerkennen, die sich nicht dem spontanen Erlebnisausdruck des Dichters, der Abbildung seelischer Qualen oder schöner Blumen, sondern künstlerischer Formung, Technik verdankt. Was andererseits ausdrücklich nicht heißt, dass diese Kunst nichts mehr mit der Wirklichkeit des Autors oder des Lesers zu tun habe. Im Gegenteil: „selten sind“, so George am Ende der Vorrede, „sosehr wie in diesem buch ich und du dieselbe seele.“ (ebd.) Joachim Jacob 66 Der Wille zur konsequenten Durchformung des Gebotenen lässt sich überall in dem Gedicht-Zyklus Das Jahr der Seele finden. Worauf im Übrigen schon die Form des Zyklus selbst verweist, die George nach dem Vorbild des Europäischen Symbolismus als Voraussetzung hoher Dichtung ansieht: die zusammenstellung· das verhältnis der einzelnen teile zueinander· die notwendige folge des einen aus dem andern kennzeichnet erst die hohe dichtung. (Über Dichtung I, George: 4 2000, I, 530) Bereits der Titel Das Jahr der Seele unterwirft auf eigentümliche Weise das Individuellste, die Seele des Menschen, der objektiven Einheit und Abfolge des „Jahres“. Diese Spannung wird noch deutlicher, wenn man das vermutliche Vorbild für Georges Titel heranzieht: die Schlussstrophe des Gedichts Elegie von Friedrich Hölderlin, den George und sein Kreis sehr schätzen und für das 20. Jahrhundert wieder entdecken. Hölderlins Elegie (oder wie das Gedicht in einer späteren Fassung heißt: Menons Klagen um Diotima) endet: Dort, wo die Musen, woher Helden und Liebende sind, Dort uns, oder auch hier, auf tauender Insel begegnen, Wo die Unsrigen erst, blühend in Gärten gesellt, Wo die Gesänge wahr, und länger die Frühlinge schön sind, Und von neuem ein Jahr unserer Seele beginnt. (Hölderlin: 2000, 244) Hier ist es „ein Jahr“, das sich Menon ersehnt, und ein Jahr „unserer Seele“, seiner nämlich und Diotimas, in dem beide vereint in ‚blühenden Gärten ‘ in Gemeinschaft sein mögen - und „die Gesänge wahr, und länger die Frühlinge schön sind“. In Georges Jahr der Seele dagegen ist „unserer“ getilgt. Die Perspektive des Sprechenden erscheint dadurch einsam und zugleich objektiver, „das Jahr“ ist keine historische Angabe mehr, wie bei Hölderlin, sondern vor allem eine Ordnung, in die der persönliche Schmerz des lyrischen Ichs eingeht. Die siebenundneunzig Gedichte des Bandes sind in drei Abteilungen gegliedert: in die symbolische Zahl der Vollkommenheit, um die hier zugleich die hundert, eine weitere Vollkommenheitszahl, Gedichte vermindert sind. Der erste Teil des Buches setzt sich wiederum aus drei Teilstücken zusammen: Nach der Lese, Waller im Schnee und Sieg des Sommers; daran anschließend eine zweite Abteilung, betitelt: Überschriften und Widmungen; dann der dritte und letzte Teil: Traurige Tänze. Auch über diese Überschriften lässt sich nachdenken. Diejenigen des ersten Teils bilden noch einmal einen Zyklus im Zyklus nach, nämlich genau jenen naturhaften Zyklus der Jahreszeiten, der im Obertitel Das Jahr der Seele schon angespielt ist: Nach der Lese führt auf den Herbst, Waller im Schnee auf den Winter, Sieg des Sommers auf den Sommer. Allein der Frühling fehlt, den Hölderlins Menon als Jahreszeit der Hoffnung und des wiedererwachenden Lebens noch ausdrücklich beschwört. Bei George ist er jedoch auf erstaunliche Weise, wie sich zeigen wird, in den Zyklus selbst hineingewebt. Dieser beginnt, auch das hoch-artifiziell und bedeutsam, gleichsam phasenverschoben gegenüber der gewöhnlichen Vorstellung, dass Jahres-Zyklen im Frühling beginnen, im Herbst: Nach der Lese, nach der Zeit der Ernte also von Ähren und Trauben - eucharistisch mitbedeutet Brot und Wein -, in einer Spätzeit der Erinne- Stefan George Das Jahr der Seele 67 rung. Ihr folgt der Winter, Waller im Schnee. „Waller“, ein merkwürdiges Wort. Wer beim Grimmschen Wörterbuch Zuflucht nimmt, stößt zuerst auf einen alten Ausdruck für den Walfisch. ‚Walfisch im Schnee ‘ , das wäre vielleicht ein großartiges Bild, aber hier ist, wiederum an alte Sprachbestände anschließend, einer „der umherzieht, ein fahrendes leben führt“ gemeint, ein Peregrinus, ein Wallfahrer, ein Pilger zu Gnadenorten, ein „erdenpilger“, oder auch allgemeiner ein „wanderer“ (Grimm 2000). Für George sind an dieser Stelle alle diese Schattierungen des Ausdrucks von Bedeutung, den Klopstock durch eine seiner einmal berühmten Oden über das Eislaufen, Die Kunst Tialfs, in die deutsche Dichtersprache eingeführt hat. Und dort wird tatsächlich auch von einem „Waller im Schnee“ gesprochen, bzw. genauer von einem „Waller auf dem Eis“, der durch herabfallende Schneeflocken am ungehemmten Gleiten auf dem Eis gehindert wird: „Wir sangen der Eisgangslieder noch viel“, heißt es da, Von der bahnvernichtenden Flocke! Ah sie verscheucht den Waller auf bestirntem Krystall, Wie der Gewitterregen Den Waller in durchblümtem jungen Grase. (Klopstock: 1889, I, 277f.) Womöglich hat sich Georges Wortphantasie wirklich an dieser Passage entzündet, sicher jedenfalls geht es an ihrer Stelle im Jahr der Seele darum, uns mit der Überschrift Waller im Schnee zu befremden, Bilder, Assoziationen anzuregen und einen religiös gefärbten Ton anzuschlagen, der zugleich durch die heillose weltliche Immanenz dieser Gedichte konterkariert wird. Denn einen erlösenden Gott oder wenigstens eine fürsprechende Maria findet man im Jahr der Seele nicht. Die zweite Abteilung des Gedichtsbandes, Überschriften und Widmungen, erscheint gegenüber dem Eindruck der formalen und inhaltlich im Jahreszeiten-Zyklus angedeuteten Geschlossenheit der ersten vollkommen disparat. Reflexives ist hier versammelt. Der Dichter wendet sich, hochstilisiert, an den Kreis der Freunde, die nur im Monogramm erscheinen, eröffnet ein eigentümliches Spiel zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, Einschluss und Ausschluss, wie es auch schon für die Freundschaftsdichtung der auch in dieser Hinsicht für George vorbildlichen Schriftsteller Klopstock und Hölderlin typisch gewesen war. Den Anfang machen jedoch nicht die für den Außenstehenden verrätselten Widmungen an die Freunde, sondern „Überschriften“. Auch das ist wörtlich zu lesen. ‚Über-Schriften ‘ , also Gedanken ‚Über ‘ das ‚Schreiben ‘ , die die eigene Autorschaft problematisieren, artikuliert George hier im lyrischen Medium. „Lieder wie ich gern sie sänge / Darf ich freunde! noch nicht singen“ (136), beginnt das erste Gedicht der Abteilung, mit dem Entwurf einer utopischen Poetik also: „Liedern“, zu denen das eigene Werk erst unterwegs ist (vgl. dazu Kaiser: 2004/ 2005). Am Ende, im dritten und letzten Teil des Zyklus’, stehen schließlich Traurige Tänze, das Disparate mit eigentümlichem rhythmischen Reiz und durch die Alliteration noch verstärkt in zwei Worte zusammendrängend. Joachim Jacob 68 Nach der Lese, Waller im Schnee, Sieg des Sommers Die elf einzelnen Gedichte der ersten Abteilung tragen, wie auch die der letzten, keine Titel, wodurch sich der Eindruck dessen, was Sabine Lepsius bei George als ein Anfangen ohne Ende, als ein Ineinanderübergehen beschrieben hatte, noch verstärkt. Dreistrophige und zweistrophige Gedichte wechseln einander in dieser zyklischen Bauform im bestimmten Rhythmus ab - bis das vierstrophige Im freien vier(! )eck die Gruppe beschließt. Wer kein manischer Zähler ist, wird diese durchkomponierte Struktur beim Hören und vermutlich auch beim Lesen nicht ausdrücklich bemerken. Genauso wenig wie die kleine Pointe, dass das fünfte Gedicht, also das genau in der Mitte dieses Teils befindliche, mit den Versen beginnt: Umkreisen wir den stillen teich In den die wasserwege münden Du suchst mich heiter zu ergründen Ein wind umweht uns frühlings-weich (122) und damit das vom Wind ‚umwehte ‘ Paar auch in der Ordnung der Gedichte genau ins Zentrum setzt, das umweht und seinerseits den „teich“ umkreisend eine doppelte gegenläufige Kreisbewegung markiert, die in der Mitte dieses ersten Zyklus ’ (gr. kýklos, ‚Kreis ‘ ) noch einmal ein anschauliches Beispiel für die Durchgeformtheit gibt, auf die es diese Verse anlegen (vgl. zur Bauform des Zyklus Egyptien: 1996/ 1997). Unmittelbar sinnlich eingängig sind dagegen die Reime, mit denen George, äußerlich traditionell, aber auch sie an die Klangschönheit der modernen französischen Vorbilder Baudelaire, Verlaine angelehnt, experimentiert. Experimentiert - denn alles findet sich hier auf engstem Raum: Kreuzreime, Paarreime, umschließende Reime, und dazu allesamt rein, so als sollte jeder Widerstand, jede Hemmung für das hörende Ohr aus dem Weg geräumt werden. Und manche, sagen wir es freundlich, semantische Merkwürdigkeit auf der Bedeutungsebene der Worte in diesen Gedichten mag auch diesem obersten Ideal eines schönen Klangs geschuldet sein. Motivisch sind es vor allem zwei große Themen, die George in diesem ersten Kreis verschränkt: die Natur und die Liebe. Die Natur zeigt sich herbstlich, im Übergang begriffen (Komm in den totgesagten park und schau). Ein weibliches Gegenüber wird als ein vergangenes Ideal imaginiert: Ihr rufe junger jahre die befahlen Nach IHR zu suchen unter diesen zweigen (121), dem der Dichter eine in der Gegenwart vergehende Liebe zu einem ‚Du ‘ gegenüberstellt, das dem sprechenden Ich zunehmend fremder zu werden scheint und mit dem offenbar, obwohl beharrlich vom „wir“ gesprochen wird, keine Verständigung mehr möglich ist. Verschränkt sind nicht nur die (sterbende) Natur und die (sterbende) Liebe, sondern auch die Zeiten des Jahreskreises. So sind in diesem ersten Kreis des Zyklus, der ja eigentlich, wie die Überschrift Nach der Lese deutlich macht, dem Herbst im Jahr der Seele zugehört, doch auch schon die anderen Jahreszeiten präsent. Gleich im zweiten Gedicht erscheint die Erinnerung an die einst begehrte „Sie“ „im brennen / Stefan George Das Jahr der Seele 69 Des sommers und im flattern der Eroten“ (121); später ist es, wie schon zitiert, der Wind, der das Paar, das noch einmal vergeblich ‚Heiterkeit ‘ probiert, am „stillen Teich“ „frühlings-weich“ umweht (122). Und schließlich ist auch der Winter schon in den ersten Kreis eingeschlossen, ganz am Ende und zum folgenden Waller im Schnee überleitend heißt es: Doch wenn erst unterm schnee der park entschlief So glaub ich dass noch leiser trost entquille Aus manchen schönen resten - strauss und brief - In tiefer kalter winterlicher stille. (125) Stehende Jamben und die Reihe heller Vokale machen aus dem letzten Vers: „In tiefer kalter winterlicher stille“, auch auf der ‚wörtlichen ‘ Ebene ein Sinnbild winterliche Starre. Ein weiteres Beispiel für die Verskunst Georges findet sich auch am Ende des Waller im Schnee. Nach zwei langen Abteilungen schweren, schwermütigen, von Liebesleid und welkender Natur getränkter jambischer Verse bricht es im letzten Gedicht des Winter, unmittelbar bevor mit einem Sprung in der jahreszeitlichen Folge der „Sieg des Sommers“ anhebt, mit einem Mal aus: Wo die strahlen schnell verschleissen Leichentuch der kahlen auen· Wasser sich in furchen stauen In den sümpfen schmelzend gleissen Und zum strom vereinigt laufen: Türm ich für erinnerungen Spröder freuden die zersprungen Und für dich den scheiterhaufen. Weg den schritt vom brande lenkend Greif ich in dem boot die ruder - Drüben an dem strand ein bruder Winkt das frohe banner schwenkend. Tauwind fährt in ungestümen Stössen über brache schollen· Mit den welken seelen sollen Sich die pfade neu beblümen. (130) Vierhebige Trochäen in durchgängig ausschwingenden Kadenzen setzen die Befreiung, den Frühling, wenigstens in diesem ungeheuren Zwischenspiel in Szene, bei dem die „erinnerungen“ und die Geliebte (nach Männerphantasie) auf den „scheiterhaufen“ müssen, bevor der „Sieg des Sommers“ im Wechselbad der Stimmungen ganz anders beginnen wird, nachdenklich, verhalten: „Der lüfte schaukeln wie von neuen dingen“ (131), und auch noch einmal eine hoffnungsvolle Frühlingsreminiszenz enthaltend, die sich jedoch sogleich vom „glutwind“ bedroht zeigt: „Denn wird das glück sich je uns offenbaren / [...] Wenn es der glutwind nicht verrät? “ (131) Verschränkt sind schließlich auch Kunst und Natur in diesen Gedichten, wie im Jahr der Seele überhaupt. Natur ist für George nicht mehr der unberührte Gegenpol Joachim Jacob 70 zur menschlichen Kultur, auch nicht mehr der Rückzugsraum einer vom Leben (und der Liebe) enttäuschten Seele, wie die Natur in der lyrischen Tradition bis in die Moderne hinein häufig eingesetzt worden ist, noch gar das, was ein Dichter unverstellt nachahmen könnte. Sondern die Natur zeigt sich in diesen Gedichten - wie die Gedichte selbst - als geformte. Schon im allerersten und gleich auch noch etwas genauer zur Sprache kommenden Komm in den totgesagten park und schau ist es ein Park, also von Menschenhand geformte Natur, die den Schauplatz gibt. „Buchengänge“ und Blicke „durch ein Gitter“, ein „Teich“ und „Wasserwege“ (122), also künstlich angelegte Gewässer, schließlich Juwelen - immer wieder ist es bearbeitete, geschliffene oder gerahmte Natur, von der die Rede ist, zusätzlich bestückt mit Brücken und Brunnen, mit Löwenköpfen daran aus Stein oder Bronze, bis zum „tore dessen eisen-lilien rosten“ (124). So stark allerdings wie in dieser dem Jugendstil verpflichteten Kunstwelt die Natur durchgängig als eine bearbeitete, geformte erscheint, so stark kann im Kontrast hierzu dann aber auch der unwillkürliche Eindruck erscheinen, den die Natur dem macht, der sich ihr zum Schauen bereit überlässt. Komm in den totgesagten park und schau Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade· Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade. Dort nimm das tiefe gelb· das weiche grau Von birken und von buchs· der wind ist lau· Die späten rosen welkten noch nicht ganz· Erlese küsse sie und flicht den kranz· Vergiss auch diese lezten astern nicht· Den purpur um die ranken wilder reben· Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht. (121) Das berühmteste und oft interpretierte Gedicht des Jahrs der Seele, das das Buch eröffnet, Komm in den totgesagten park und schau (vgl. z.B. Gruenter 1977; weitere bei Egyptien: 1996/ 1997, 28ff.), ist zunächst eine Schule des Sehens, die George nicht grundlos an den Anfang stellt. „Komm ... und schau“, ein „unverhofftes“ Blau zum Beispiel, Gelb und Grau, Farbimpressionen, deren Träger erst danach benannt werden: „birken“ und „buchs“. Es gibt in diesem Gedicht kein lyrisches Ich, das von sich spräche, Stimmungen oder Gefühle mitteilte, sondern stattdessen jemanden, der mit der Autorität der selbst verborgen bleibenden Stimme zum Schauen auffordern will, zum Betrachten dieses „totgesagten park[s]“, eines Zwischenreichs von Kunst und Natur, einen eingehegten Bezirk künstlicher Natur, in dem sich gleichwohl noch Überreste vom „grünen leben“ erhalten haben. War vorhin von der durchgehenden, strengen jambischen Fügung der allermeisten Gedichte im Jahr der Seele die Rede, so verletzt ausgerechnet der erste Vers des ganzen Buchs „Komm in den totgesagten park und schau“ die Regel. Trochäisch Stefan George Das Jahr der Seele 71 oder doch zumindest schwebend im Akzent beginnt der Gang durch den Garten, eindringlich, um das „Komm“ wie eine Lockung zu unterstützen. Und dann als Echo hierzu das nicht minder bedeutsame „Dort“ am Beginn der zweiten Strophe: „Dort nimm das tiefe gelb“, das uns auf dieses besondere eine Gelb in diesem „totgesagten“ Park hinweist. Exakt im Zentrum des ersten Verses steht das merkwürdigste Wort dieser Zeile: „totgesagt“. Sind es die anderen, unverständigen, die ihn ‚totgesagt ‘ haben, oder ist es die lyrische Stimme selbst, die ihn im Sprechen mortifiziert, ‚totsagt ‘ ? Doch die folgenden Verse und Strophen formulieren eine Gegenrede: denn „tot“ ist dieser Park ganz und gar nicht: viel - und schönes - ist in ihm offenbar noch zu sehen. So viel, dass es zu einem „kranz“ taugt, der aus den Hinterlassenschaften des Sommers zu winden ist, in dem ‚späte Rosen ‘ , ‚letzte Astern ‘ , ‚wilde Reben ‘ , abgepflückt und, in Form gebracht, fixiert bleiben werden, getrocknet in ihrem Zwischenstadium aus Tod und Leben, Blühen und Vermodern. Als Eröffnungsgedicht des ganzen Zyklus’ des Jahrs der Seele liegt auch eine poetologische Deutung dieser Verse nahe, deren Thema ja im Ganzen, wie die Überschrift deutlich macht, das ‚Sagen ‘ ist. Und noch prägnanter wird diese Bedeutungsdimension durch das „flicht den kranz“ der zweiten Strophe angespielt, das auch die letzte Strophe noch regiert. Es kann allegorisch als Aufforderung gelesen werden, Gedichte zu einem organischen Ganzen zu verbinden, zu einem ‚Kranz ‘ zu verflechten, so wie es in der europäischen Tradition besonders im 19. Jahrhundert als Höhepunkt lyrischer Artistik mit dem Sonetten-„Kranz“ gepflegt worden war, etwa bei dem vom George-Kreis geschätzten August von Platen. Keine Sonette, sondern ein Zyklus von „Klinggedichten“ (so die im 17. Jahrhundert erfolgte deutsche Lehnübersetzung von Sonett) ganz eigener, Georgischer Art wird dann jedoch das Jahr der Seele präsentieren. Mit einem kleinen Rätsel endet dieses programmatische Eingangsgedicht. „Verwinde leicht im herbstlichen gesicht“, das ist wohl erläuterungsbedürftig. Man ist versucht, im letzten Wort ein raffiniertes Spiel mit den eng beieinander liegenden Konsonanten ‚s ‘ und ‚d ‘ zu unterstellen, sodass statt „gesicht“ auch „gedicht“ zu lesen ist. Tatsächlich ist diese Interpretation erwogen und das Gedicht damit als ein poetischer Schöpfungsakt gedeutet worden, und möglich, das auch George mit dieser Assonanz rechnet. Aber es geht auch anders, einfacher. ‚Gesicht ‘ , das meint im älteren Wortgebrauch auch ‚Anblick ‘ und, heute noch bekannt, ‚Vision ‘ . Beides passt ganz ausgezeichnet, weil es zum phänomenologischen Programm dieses Eröffnungsgedichtes passt, nämlich bewusst und sensibel sehen zu lernen und sich auch dem unwillkürlichen Sinneseindruck zu überlassen. Soll es am Ende denn doch eine „Vision“ als eine poetische „Schau“ sein (dafür Egyptien: 1996/ 1997, 30; dagegen von Petersdorff: 2004, 63), dann wäre allerdings auch mitzuhören, dass es Reste sind, die hier eingesammelt werden sollen, „was übrig blieb von grünem leben“, die auf die uneinholbare Nachträglichkeit der Kunst und der Form verweisen. Doch wenn erst unterm schnee der park entschlief So glaub ich dass noch leiser trost entquille Aus manchen schönen resten - strauss und brief - In tiefer kalter winterlicher stille. (125) Joachim Jacob 72 Literaturverzeichnis: Primärliteratur: George, Stefan: - „Ankündigung der Blätter für die Kunst“. In: Georg Peter Landmann (Hg.): Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Köln u.a. 1965, S. 15. - Das Jahr der Seele. In: ders.: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. München 4 2000, Bd. 1, S. 117-167. (Nach diese Ausgabe wird im Text zitiert. Vgl. a. die kritische kommentierte Ausgabe: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. v. Georg Peter Landmann u. Ute Oelmann. Bd. IV: Das Jahr der Seele. Stuttgart 1982.). - Werke. Ausgabe in zwei Bänden. München 4 2000. Hölderlin, Friedrich: Gedichte. Hg. v. Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit Wolfgang Braungart. Stuttgart: 2000. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Oden. Hg v. Franz Muncker und Jaro Pawel. 2 Bde. Stuttgart 1889. Forschungsliteratur: Adorno, Theodor W.: „George“. In: ders.: Noten zur Literatur IV. Frankfurt/ M. 1979. Blasberg, Cornelia: „Stefan Georges Jahr der Seele. Poetik zwischen Schrift und Bild“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 5 (1997), S. 217-249. Beyer, Marcel: „Stefan George, die Brüder Stauffenberg und die Eindeutigkeit“. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur 168 (2005), S. 35-46. Boehringer, Robert: „Über Hersagen von Gedichten“. In: Georg Peter Landmann (Hg.): Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Köln u.a. 1965, S. 93-100. [= 1965a]. Ders.: Ewiger Augenblick. München u.a. 1965. [= 1965b]. Braungart, Wolfgang: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997. Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995. Dessoir, Max: Buch der Erinnerung, Stuttgart 2 1947. Zitiert nach: Reinhard Tgahrt (Hg.): Dichter lesen. Bd. 2: Jahrhundertwende. Marbach am Neckar 1989. Egyptien, Jürgen: „Herbst der Liebe und Winter der Schrift. Über den Zyklus Nach der Lese in Stefan Georges Das Jahr der Seele“. In: George-Jahrbuch 1 (1996/ 1997), S. 23-43. Stefan George Das Jahr der Seele 73 Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung. Hg. v. Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Bearb. v. Hans-Werner Bartz u.a. CD-Rom. Frankfurt/ M. 2004. Gruenter, Rainer: „Herbst des Gefühls.“ In: Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 2. Frankfurt/ M. 1977, S. 91-94. Kaiser, Gerhard: „‚Dichten selbst ist schon Verrat ‘ . Gibt es Kritik an Dichter und Dichtung im Werk Georges? “. In: George-Jahrbuch 5 (2004/ 2005), S. 1-21. Lepsius, Sabine: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft. Berlin 1935. Zitiert nach: Reinhard Tgahrt (Hg.): Dichter lesen. Bd. 2: Jahrhundertwende. Marbach am Neckar 1989. Lukács, Georg: „Die neue Einsamkeit und ihre Lyrik: Stefan George“. In: ders.: Die Seele und die Formen. Essays. Neuwied u.a. 1971, S. 117-132. Petersdorff, Dirk von: „Stefan Georges Dichtung als Gegenreich“. In: Castrum Peregrini 264/ 265 (2004), S. 51-72. Schonauer, Franz: Stefan George. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 10 2000. Simmel, Georg: „Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung“ (1898). In: ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Frankfurt/ M. 1992, S. 287-300. Abbildungsnachweis: Lechter, Melchior. Titelblatt des Privatdrucks von 1897. George, Stefan: Das Jahr der Seele. In: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. München 4 2000, Bd. 4, S. 123. Kate Chopin The Awakening Hubert Zapf 1. Vorbemerkungen zur Rezeptionsgeschichte Kate Chopins The Awakening ist ein Roman, der nach seinem Erscheinen im Jahre 1899 lange Zeit in Vergessenheit geriet, weil er in verschiedener Hinsicht nicht dem Erwartungshorizont seiner Epoche entsprach, und der erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zug der Herausbildung einer gender-orientierten Literaturwissenschaft wiederentdeckt wurde, inzwischen aber zu den meistbesprochenen Texten der amerikanischen Literatur überhaupt gehört und im Kanon der amerikanischen Literatur fest verankert ist. Kate Chopin war bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von The Awakening eine durchaus anerkannte, moderat erfolgreiche Schriftstellerin im Bereich der so genannten local-color-Literatur, in der die verschiedenen, vor allem die im Lauf des 19. Jahrhunderts neu hinzugekommenden Regionen der USA in ihren geographischen und kulturellen Gegebenheiten und Eigentümlichkeiten erkundet wurden. Als Expertin für die Region des Südens um New Orleans hatte sie vor allem Kurzgeschichten publiziert, die, obwohl durchaus auch kritisch etwa gegenüber dem Rassismus des Südens, das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit gefunden hatten. Mit The Awakening aber stieß sie auf derart heftige Ablehnung, dass ihre Karriere als Schriftstellerin so gut wie beendet war und sie bis zu ihrem Tod fünf Jahre später kaum noch publizieren konnte. Es gab zwar vereinzelte zeitgenössische Stimmen, die die künstlerische Qualität von Chopins Roman erkannten, doch typisch waren Kommentare wie in der Zeitschrift The Nation: The Awakening is the sad story of a Southern lady who wanted to do what she wanted to. From wanting to, she did, with disastrous consequences; but as she swims out to sea in the end, it is to be hoped that her example may lie forever undredged. It is with high expectation that we open the volume, remembering the author’s agreeable short stories, and with real disappointment that we close it. The recording reviewer drops a tear over one more clever author gone wrong. 1 Diese Zurückweisung muss eine schwere Krise für Kate Chopin bedeutet haben. Aus der irisch-französischen Familie O’Flaherty in St. Louis stammend, folgte ihr Leben zunächst jedenfalls nach außen hin ganz den vorgezeichneten Bahnen der typischen Frauenrolle der upper middle class: Geboren 1850, besuchte sie eine katholi- 1 The Nation 69, 3. August 1899, S. 96, zit. in Alice Hall Petry, Hg., Critical Essays on Kate Chopin, London etc.: Hall, 1996, 52. Hubert Zapf 76 sche Privatschule und heiratete mit 20 Jahren den wohlhabenden Geschäftsmann Oscar Chopin, mit dem sie nach der Hochzeitsreise durch Europa noch im selben Jahr in den Süden nach Louisiana zog und von dem sie innerhalb von neun Jahren sechs Kinder, fünf Jungen und ein Mädchen, bekam. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1882 kehrte sie nach St. Louis zurück, wo sie sich verstärkt der Schriftstellerei widmete, gleichzeitig aber ihr Leben als Mitglied der Oberschicht von St. Louis weiterführte und relativ erfolgreich die Rolle der Mutter und gesellschaftlichen Gastgeberin mit der der Autorin verband. Freilich hatte sie in ihren Texten schon vor The Awakening die vermeintlichen Gewissheiten bürgerlicher Existenz und Moral in Frage gestellt. In einer Umfrage der Zeitung St. Louis Post Dispatch von 1898 etwa war sie zum Thema befragt worden „Is Love divine? “, denn wie der Journalist der Zeitung meinte, „as a novelist [she] should know what love is.“ 2 Doch während andere befragte Frauen dem Diskurs der Zeit gemäß die von irdischen Verstrickungen ungetrübte Idealität der Liebe beschworen, betonte Chopin vielmehr ihre Unbestimmtheit und Unerklärbarkeit: „It is as difficult to distinguish between the divine love and the natural, animal love, as it is to explain just why we love at all.“ 3 In dieser Aussage ist eine gewisse Nähe zu der Art, wie sie auch in ihrem Roman mit der Thematik umgeht, nicht zu verkennen. Und dass sie dann wenig später in derselben Zeitung auch noch zum Thema Selbstmord von jungen „society women“ befragt wurde, einem Phänomen, das in St. Louis zu der Zeit häufiger auftrat, mag in der Tat darauf hindeuten, dass sie in ihrem Roman, in dem es ja sowohl um Liebe wie um den Selbstmord einer jungen „society woman“ geht, durchaus im Dialog auch mit den Problemen und dem öffentlichen Diskurs ihrer Zeit stand. Wenn die Annahme zutrifft, die die neuere Literaturwissenschaft über die verschiedenen Schulen hinweg teilt, nämlich dass ein guter literarischer Text nicht daran zu erkennen ist, welche Antworten er gibt, sondern wie radikal er Fragen aufwirft, d.h. in welchem Maß er den Leser aktiv in den Prozess seiner Reflexion und Interpretation des Lebens einbezieht, dann ist The Awakening zweifellos ein solcher Text. 2. Handlungszusammenfassung Lassen Sie mich zunächst die Handlung des Romans zusammenfassen, obwohl der Plot als solcher keineswegs die Hauptebene ist, auf der sich der Text konstituiert. Der Roman ist vielmehr gekennzeichnet durch lange Passagen der Konversation und Meditation, der Beschreibung von Stimmungen und Atmosphären, von Innen- und Aussenräumen, von Licht- und Klangphänomenen. Stets bewegt sich der Fokus von Sprache und Erzählung in Grenzzonen - der Grenzzone zwischen Zivilisations- und Naturlandschaften, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen äußeren Realitätseindrücken und inneren Erregungszuständen. Sorgfältig registriert werden nicht nur objektive Beobachtungen und intellektuelle Reflexionen, sondern die sich wandelnden psychischen Zustände der Protagonistin, ihre Stimmungen und Emoti- 2 Nancy A. Walker, Kate Chopin. A Literary Life, Basingstoke and New York: Palgrave, 2001: 114. 3 Ibid. Kate Chopin The Awakening 77 onen, und insbesondere auch physiologische Vorgänge wie Lachen und Weinen, Wärme- und Kälteempfindungen, Einschlafen und Aufwachen, wodurch ein weit komplexeres Geschehen und ein breiteres Spektrum an Lebensaspekten entfaltet wird als es eine bloße Handlungszusammenfassung wiedergeben könnte. Es geht um die Geschichte der Veränderung, der Krise und, wie der Titel besagt, des ‚Erwachens ‘ der Hauptfigur Edna Pontellier, nicht jedoch, wie sonst so oft in der amerikanischen Literatur, in der Phase der Adoleszenz, sondern um die Bewusstwerdung und das symbolische Erwachen einer erwachsenen Frau mit zwei Kindern, deren Leben bisher in geordneten Bahnen und im Rahmen der vorgegebenen Konventionen durchaus erfolgreich verlaufen ist. Parallelen zur Biographie der Autorin sind unverkennbar, gleichzeitig sind aber auch die Unterschiede offenkundig. Edna stammt aus einer streng kalvinistischen Familie in Kentucky und ist verheiratet mit Léonce Pontellier, einem Mitglied der reichen kreolischen Oberschicht in New Orleans, mit dem sie zwei Kinder hat und der ihr als Börsenmakler ein materiell sorgenfreies, ja luxuriöses Leben mit repräsentativem Anwesen im Zentrum von New Orleans, Dienerschaft und regelmäßigen Urlauben auf der Ferieninsel Grand Isle am Golf von Mexiko ermöglicht. Die Handlung setzt bei einem dieser Urlaube auf Grand Isle ein, genau an dem Punkt, an dem die unterschwelligen Spannungen zwischen den Eheleuten erstmals zu Tage treten: Während Léonce im Schatten sitzend die Börsenberichte der Zeitungen studiert, sieht man in der Ferne einen langsam größer werdenden Sonnenschirm herannahen, unter dem seine Frau Edna zusammen mit Robert Lebrun, einem der männlichen Begleiter, die sich üblicher Weise die kreolischen Frauen der Oberschicht ohne ernsthaftere Absichten im Urlaub zulegten, vom Strand zurückkommt, wo die beiden im Wasser gewesen waren. Während Edna und Robert angeregt ihre Erfahrungen austauschen, tadelt Leonce die Unvernünftigkeit von Ednas Verhalten, in der Mittagshitze im Meer zu baden. Am Abend, als Leonce spät aus dem Spielsalon nach Hause kommt, weckt er die schlafende Edna auf und wirft ihr die Vernachlässigung ihrer Kinder vor, und nachdem Leonce ins Bett gegangen und rasch eingeschlafen ist, ist Edna ihrerseits nun hellwach und spürt die beginnende Krise in einem heftigen Weinanfall - die erste von einer Reihe verschiedener Szenen ihres Erwachens. Am nächsten Tag reist Leonce zu Geschäften zurück nach New Orleans, und Edna trifft sich nun täglich mit ihrer Freundin Adèle Ratignolle, einer schönen Kreolin, die ebenfalls auf Grand Isle ihren Urlaub verbringt und ganz in ihrer Rolle als Ehefrau, Mutter und Repräsentantin der gesellschaftlichen Ordnung aufgeht. Ednas Erfahrung mit Adèle ist jedoch hochambivalent: Einerseits personifiziert Adèle die Zwänge der Tradition und gesellschaftlichen Anpassung, die von dieser Kreolenwelt ausgehen; andererseits ist die prüde und puritanisch erzogene Edna fasziniert von der selbstverständlichen, ihre körperliche Anmut zur Schau stellenden Sinnlichkeit von Adèle und der kreolischen Frauen allgemein, die zwar strikten Regeln und Geschlechterrollen folgen, aber ihre Körperlichkeit bejahen und in einer für Edna ungewohnten Freizügigkeit über erotische Themen und Bücher reden. Durch die häufige, auch körperliche Nähe zu Adèle Ratignolle verliert Edna zunehmend ihre Hubert Zapf 78 Reserviertheit. Sie wird sich in dieser weiteren Stufe ihres Erwachens nicht nur ihrer eigenen Körperlichkeit bewusst, sondern die Gespräche mit Adèle bedeuten zugleich einen wichtigen Anstoß zur Selbstreflexion. Adèle ist die erste Person, der gegenüber sie offen von ihrem bisherigen Leben erzählt, wodurch ihr dessen Probleme und Widersprüche erstmals deutlich bewusst werden. Zur gleichen Zeit bahnt sich eine Romanze mit Robert Lebrun an, ihrem galanten Begleiter, der sich um Edna kümmert, mit ihr Gespräche führt und vor allem die Faszination des Meeres mit ihr teilt, die sich bei ihr zunehmend als Gegenwelt zur sozialen Alltagswelt aufbaut. Eine vergleichbare Intensität erlebt sie nur wieder bei einem Konzert, als sie die Pianistin Mademoiselle Reisz ausgerechnet ein Prelude von Frederic Chopin spielen hört - sicher eine bewusst ironische Selbstreferenz der Autorin - und von der Musik völlig überwältigt ist. Mademoiselle Reisz, die alleinstehende Künstlerin und Außenseiterin, wird von da an zu einer weiteren wichtigen Bezugsperson von Edna, die als selbstständige, freilich auch exzentrisch-eigensinnige und gesellschaftlich isolierte Frau eine Kontrastfigur zu Adèle Ratignolle als Idealtypus der selbstlosen, gesellschaftlich integrierten Victorian Woman darstellt. Zwischen diesen beiden Polen entwickelt sich fortan Ednas Leben, und da sie sich weder ganz dem einen noch dem andern Rollenmodell verschreiben kann und will, wird sie zunehmend in Ambivalenz, in Unruhe und innere Konflikte gestürzt. Zum einen setzt sich der Prozess ihres Erwachens auf verschiedenen Ebenen fort: sie betätigt sich als Amateurmalerin, sie lernt schwimmen - eine für die Zeit für eine Frau noch höchst seltene und durchaus emanzipatorische Erfahrung, die sie gleich beim ersten Mal so beflügelt, dass sie fast zu weit hinausschwimmt, in Todesangst gerät und es mit letzter Kraft gerade noch zurück ans Land schafft; sie unternimmt einen Schiffsausflug mit Robert auf eine Nachbarinsel, in deren pastoralem Ambiente sich die beiden näherkommen. Doch kurze Zeit später reist Robert, der von Adèle Ratignolle vor zu großer Nähe zu Edna gewarnt wird und ohnehin aufgrund seiner eigenen kreolischen Prägung vor einem Verhältnis mit einer verheirateten Frau zurückscheut, überstürzt aus Grand Isle ab, um nach Mexiko zu gehen. Ednas Krise verschärft sich, und als sie nach Ende des Urlaubs wieder zurück in New Orleans ist, eskaliert ihre Entfremdung von ihrem bisherigen Leben zusehends zum offenen Konflikt. Sie vernachlässigt ihre Pflichten als Ehefrau und Repräsentantin der Familie nach außen, bleibt als Gastgeberin den eigenen gesellschaftlichen Einladungen fern, verweigert sich den konventionellen Rollenerwartungen an eine Frau der kreolischen Oberschicht. Sie beginnt, ohne tiefere Gefühle für ihn zu empfinden, eine Affäre mit einem jungen Mann, Alcée Arobin, und nachdem sie an ihrem 29. Geburtstag ein grandioses Abschiedsdinner gegeben hat, zieht sie aus dem Prachtbau des Pontellier-Anwesens in ein kleines Häuschen - was sie sich leisten kann, weil sie durch den Verkauf ihrer Bilder und den Nachlass ihrer Mutter ein selbständiges Einkommen hat. Bei einem Besuch bei Mademoiselle Reisz, der Pianistin, erfährt sie, dass Robert inzwischen aus Mexiko zurückgekehrt ist, aber den Kontakt mit ihr scheut. Zwar sehen sich die beiden kurzzeitig, doch obwohl ihre Gefühle füreinander unvermindert stark sind, finden sie lange Zeit keinen Weg zueinander, bis sie sich zufällig in Kate Chopin The Awakening 79 einem Vorstadtpark treffen und Robert sie mit nach Hause begleitet. Ab hier kommt es zur abschließenden Zuspitzung der Ereignisse, gleichsam zum Finalsatz des wie ein Musikstück komponierten Textes, in dem sich das zunächst verhaltene Crescendo und Decrescendo der Stimmungen, die Klimax und Antiklimax der Emotionen immer mehr hochsteigern und die Widersprüche von Ednas Erfahrungen zum ebenso rauschhaften wie desillusionierenden Höhepunkt gebracht werden. Die beiden erklären sich erstmals offen ihre Liebe, wobei Edna aber gleichzeitig deutlich macht, dass sie jegliches Besitzdenken ablehnt - „I’m no longer one of Mr. Pontellier’s possessions, to dispose of or not. I give myself where I choose. If he were to say, ‚Here, Robert, take her and be happy; she is yours, ‘ I should laugh at you both.“ (645) Gerade in diesem Moment wird Edna zu Adèle Ratignolle gerufen, die in den Geburtswehen mit ihrem vierten Kind liegt, und als Edna in eigentümlich depressiver Stimmung von dort nach Hause zurückkehrt, ist Robert, der sie gebeten hatte, nicht zu Adèle zu gehen, verschwunden. Am nächsten Tag fährt Edna auf das von den Touristen verlassene Grand Isle, wo sie erschöpft ankommt und, ehe ihr von dem dort mit Reparaturen beschäftigten Personal ein Dinner zubereitet wird, noch kurz zum Strand geht. Vom Blick hinaus aufs weite, sonnenbeglänzte Meer fasziniert, wandelt sich ihre Stimmung ein weiteres Mal, und wie in Trance legt sie ihre Kleider ab, geht trotz der Kühle ins Wasser und schwimmt mit kräftigen Zügen immer weiter hinaus - so weit, bis es zu spät ist, um wieder ans Land zurückzukommen. 3. Interpretationsansätze Damit endet der Roman, und damit beginnt zugleich auch die zwar noch relativ kurze, aber doch höchst intensive Geschichte seiner Rezeption. Denn die Auffassungen darüber, wie dieser Schluss im Besonderen und der Roman in Stil und Aussage im Allgemeinen einzuordnen und zu verstehen sei, sind auch heute, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen als beim ersten Erscheinen des Romans, durchaus unterschiedlich. Eine Richtung der Kritik sieht ihn als Dokument der Rebellion der New Woman des ausgehenden 19. Jahrhunderts gegen die Geschlechterkonventionen der viktorianischen Gesellschaft, eine andere hebt gerade die Rücknahme der Rebellion durch die Flucht in den Tod hervor, durch die das emanzipatorische Potential des Textes wieder verspielt werde. 4 Auch die Zuordnung des Romans zu literarischen Stilmodellen fällt unterschiedlich aus. Er kann gesehen werden als local color- Geschichte über die spezifischen Lebensverhältnisse und Werteinstellungen der 4 Vgl. z.B. Emily Toth, „Kate Chopin’s The Awakening As Feminist Criticism“, Southern Studies, 2: 3-4, 1991. 41. - Patricia S. Yeager, „ ‚ A Language Which Nobody Understood ‘ : Emancipatory Strategies in The Awakening“, The Awakening. Contexts for Criticism, ed. Donald Keesey, Mountain View, CA: Mayfield, 1994: 402-18. - Dorothy H. Jacobs, „The Awakening: A Recognition of Confinement“, Kate Chopin Reconsidered: Beyond the Bayou, eds. Lynda S. Boren et al., Baton Rouge: Louisiana State UP 1992: 80-94. Hubert Zapf 80 Kreolen von New Orleans unter besonderer Berücksichtigung der Frauenrolle 5 ; als realistischer Roman und soziale Desillusionierungsgeschichte in der Nachfolge von Madame Bovary, Anna Karenina oder Effi Briest; als naturalistische Studie außer Kontrolle geratender Einflüsse von Umwelt und innerem Begehren, die die überforderte Protagonistin zunehmend der Persönlichkeitsauflösung entgegentreiben lassen 6 ; oder gerade als neoromantische Gestaltung von Selbsterfahrung und Naturbegegnung in der Nachfolge der amerikanischen Transzendentalisten; bis hin zur Charakterisierung als mythographisches Frauenportrait des fin de siècle und Jugendstilroman über Sinnlichkeit und elementare Weiblichkeit. All diese Aspekte fließen zusammen in der Sicht des Texts als musikanaloge Sprachkomposition und intermediales Gesamtkunstwerk, das die verschiedenen Möglichkeiten zeitgenössischer Kunst, Musik und Literatur für die wirkungsbewusste Steigerung der Darstellungs- und Kommunikationsabsicht des Textes nutzt und miteinander verbindet. 7 Dieses Spektrum unterschiedlicher Rezeptionsmöglichkeiten des Romans reflektiert nicht zuletzt seine Übergangsstellung zwischen dem viktorianischem und einem modernen Kultur- und Literaturbegriff, in dem die ästhetischen Ideale gesellschaftsbezogener Realitätsdarstellung und normativer Selbstdisziplinierung durch eine Ästhetik transgressiver Selbstverwirklichung und einer Freisetzung des Imaginären abgelöst werden. Mit dieser Wendung verkörpert The Awakening nach Winfried Fluck geradezu exemplarisch die Entwicklung des amerikanischen Romans bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, die sich in Moderne und Postmoderne in der hier vorgezeichneten Richtung fortsetze. The Awakening beginnt demnach noch innerhalb des Rahmens eines realistischen Gesellschaftsromans und des dazugehörigen Figurenspektrums - kreolisches Oberschichtmilieu, viktorianisches Frauenideal, New Woman, usf. -, bewegt sich aber zunehmend hin auf die Inszenierung eines imaginären Begehrens, das die Wahrnehmungs- und Erlebnisperspektive der Protagonistin zur textbestimmenden Instanz erhebt und damit die „impressionistische“ Erkundung einer vorsprachlichen, gerade nicht mehr realistisch mitteilbaren Erfahrungsdimension in den Mittelpunkt stellt. 8 Im Anschluss hieran möchte ich im Folgenden versuchen, den Roman von verschiedenen Aspekten aus in den Blick zu rücken, die zeigen, dass er einerseits als Antwort auf zeitgenössische historisch-soziale Probleme zu verstehen ist, andererseits aber darüber hinausgehende allgemeinere Fragen menschlicher Selbstfindung im Spannungsfeld kultureller Konventionen verhandelt, die zugleich auch mit der Funktion von Literatur und literarischer Kreativität zu tun haben. 5 Vgl. John R. May, „Local Color in The Awakening“, Contexts for Criticism, ed. Donald Keesey: 112-17. 6 Nancy Walker, „Feminist or Naturalist: The Social Context of Kate Chopin’s The Awakening“, Contexts for Criticism, ed. Donal Keesey: 59-64. 7 Vgl. zu diesen letzteren Aspekten vor allem die informative Studie von Benita von Heynitz, Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening, Tübingen: Narr 1994. 8 Winfried Fluck, Das kulturelle Imaginäre. 322ff. - Zum Verhältnis des Romans zur Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. auch Priscilla Leder, „Land’s End: The Awakening and 19 th Century Literary Tradition“, Critical Essays on Kate Chopin, ed. Alice H. Petry, New York: Hall, 1996: 237-50. Kate Chopin The Awakening 81 4. Der Roman als Gegendiskurs zur historisch-sozialen Realität Worin besteht zunächst das Realitätssystem, das in The Awakening repräsentiert wird und gegen dessen Übermacht sich die Protagonistin - und der Roman - imaginativ zur Wehr setzen? Es lässt sich im wesentlichen in vier verschiedene Bereiche aufgliedern, die aber für Edna am Ende in unterschiedlicher Weise miteinander zusammenhängen - einmal das ökonomische System des Börsenkapitalismus, das in Leonce Pontelliers Beruf als Makler an der Baumwollbörse von New Orleans und in den damit verbundenen Einstellungen und Aktivitäten im Roman präsent ist und das zwar als solches eher im Hintergrund bleibt, aber doch die dargestellten Lebensformen und Beziehungsmuster unverkennbar mitbestimmt; zum zweiten das viktorianische gender-System, das in seiner engen Verflechtung mit dem Wirtschaftssystem vor allem auch in seiner südstaatlichen Variante zu einer Polarisierung und hierarchischen Festschreibung der Geschlechterrollen führte, wie sie im 19. Jahrhundert sich herausbildeten; zum dritten die ethnische Sonderwelt der kreolischen Oberschicht von Louisiana als einer katholisch-französisch geprägten Enklave innerhalb der anglozentrischen USA, in die Edna Pontellier als streng protestantisch erzogene „American woman“ 9 hineinheiratet und in der sie letztlich Außenseiterin bleibt; und zum vierten schließlich die Prägung durch ihre puritanische Erziehung und ihren dominierenden Vater, einen dogmatischen Presbyterianer und früheren Offizier, der für die patriarchale Struktur, die Doppelmoral und körperfeindliche Ideologie der konservativen Südstaatenkultur steht. All diese Bereiche haben Auswirkungen auf Ednas Lebenssituation, auf die sie im Prozess ihres ‚Awakening ‘ reagiert und die sie in dem Maß als lähmend empfindet, in dem ihr unter dem Einfluss elementarer Naturerfahrungen verdrängte, vitale Sinnbedürfnisse des eigenen Selbst bewusst werden. Diese artikulieren sich im Prozess des Romans immer deutlicher und stellen sich, durchaus widersprüchlich, sowohl als Bedürfnis nach individueller Selbstbestimmung wie nach „vital relationships“ 10 , wie ein Kritiker dies nennt, d.h. nach der Einbindung des Selbst in eine ganzheitliche Lebens- und Beziehungsstruktur dar. Beides erscheint Edna in den genannten, institutionalisierten Realitätsbereichen immer weniger möglich, weshalb sie zunehmend außerhalb, in der Überschreitung normativer Grenzen, die Erfüllung ihrer unrealisierten Lebenshoffnungen sucht. Im eskalierenden Widerspruch Ednas zu den Geltungsansprüchen des Realitätssystems zeichnet sich die Spur fundamentaler Defizite in den Entfaltungsprozess des Imaginären im Text ein, die die seltsame Allianz dieser teils spezifisch modernen, teils traditionalen Institutionen aus der Sinnperspektive des weiblichen Individuums mit sich bringt. Dabei sind die vier genannten Bereiche keineswegs homogen, sondern durchaus in sich unterschiedlich und widersprüchlich. 9 Es wird aus folgender Textausgabe zitiert: Kate Chopin, The Awakening. Complete, Authoritative Text with Biographical and Historical Contexts, Critical History, and Essays from Five Contemporary Critical Perspectives, ed. Nancy A. Walker, Boston und New York: St. Martin’s 1993. Hier 23. 10 Douglas Radcliffe-Umstead, „Literature of Deliverance: Images of Nature in The Awakening“, Southern Studies 1, 1990: 127-147, 133. Hubert Zapf 82 Das ökonomische System abstrakter Börsentransaktionen, das die Arbeitswelt von Ednas Mann Léonce Pontellier darstellt und auf das sich der beträchtliche Reichtum seiner Familie gründet, spiegelt einen zentralen Aspekt der gesellschaftlichen Modernisierung der USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich in kürzester Zeit von einer eher agrarisch geprägten zu einer kapitalistisch organisierten Industriegesellschaft wandelten. Es stellt insofern einen Gegensatz zur traditionalen, auf gewachsene kommunale Sprach- und Lebensformen und ein unverkennbares Lokalkolorit bezogenen kulturellen Gemeinschaft der Kreolen dar, aus der Léonce stammt. Seine Beziehung zu dieser Gemeinschaft ist denn auch nur mehr äußerlich. Zwar liegt ihm alles an der Präsentation einer intakten Familie und der Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung seiner privaten Verhältnisse im Sinn der gesellschaftlichen Erwartungen. Doch gleichzeitig hat er seinen Dialekt abgelegt, besteht auf korrekten Formen, und wirkt noch im Kreis der ihm am nächsten stehenden Personen wie ein innerlich abwesender Fremder, der die Börsenberichte der Zeitung liest und für den die natürliche Umwelt von Grand Isle, in der der Roman eröffnet, nur die dekorative Kulisse seines durchrationalisierten Lebenssystems darstellt. Als Problem, auf das Edna und der narrative Prozess des Romans zuallererst reagieren, erscheint von daher genau diese Situationsabstraktheit, der Mangel an spontaner Selbstpräsenz und Daseinsoffenheit, der sich hinter dem Anspruch vernunftgelenkter Realitätskontrolle verbirgt. Schon in der Eingangsszene des Romans, als Edna mit ihrem Begleiter Robert Lebrun vom Strand zurückkommt, ist in nuce diese Grundspannung deutlich. Während Leonce in der Hitze des Tages Sonne und Wasser meidet, ist Edna gerade von einer besonders intensiven - und durchaus unvernünftigen - Begegnung mit ihnen geprägt: Ihr Gesicht ist von der Sonne verbrannt, was Leonce als „folly“ verurteilt, „looking at his wife as one looks at a valuable piece of personal property which has suffered some damage.“ (20-21) Und Edna hat beim Baden im Meer mit Robert offensichtlich etwas Ungewöhnliches, Aufregendes erlebt, „some adventure out there in the water“, an das die beiden sich unter gemeinsamem Lachen erinnern, das sich aber gegenüber dem skeptischdistanzierten Mr. Pontellier nicht vermitteln lässt und ihm vielmehr als „utter nonsense“ (21) erscheint. Mit den Mitteln von Wortspiel und andeutungshafter Symbolik wird an dieser Stelle bereits expositionsartig die Grundspannung zwischen konventionalisierter Fixierung und entgrenzender Offenheit der Lebensbezüge eingeführt, die sich nachfolgend zunehmend stärker herausbildet und zum textbestimmenden Konfliktfeld wird. Unter dem Einfluss der See und des mit ihr assoziierten Versprechens imaginativer Erfahrungsintensität beginnt sich bei Edna erstmals auch der Widerstandsgeist gegen die weibliche Rollenfestschreibung zu regen, „the programme which [she] had religiously followed since her marriage“. (69) Aus dem vermeintlich regressiven Aspekt eines Rückgangs auf präzivilisatorische Erfahrungsbereiche ergibt sich also paradoxerweise zugleich der spezifisch ‚moderne‘ Aspekt von Ednas Bewusstseins- und Verhaltensprofil, der sie in die Nähe der zeitgenössischen, emanzipatorischen Figur der New Woman bringt, während umgekehrt Leonces ‚moderne‘ ökonomischrationalistische Lebenseinstellung sich problemlos mit der Forttradierung einer vor- Kate Chopin The Awakening 83 modernen, patriarchalen Geschlechterhierarchie verbindet. Dabei geht er konform mit dem gender-System der viktorianischen Epoche, so benannt nach der Regierungszeit von Königin Victoria von 1837-1901, die auch prägend für die amerikanische Kultur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war - einer Zeit der klaren Verteilung der Geschlechterrollen, in der die soziale und biologische Erfüllung der Frau allein in ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau gesehen und in dem die True Womanhood durch Eigenschaften wie piety, purity, prudence und domesticity gekennzeichnet war, während Sexualität und Intellektualität bei der Frau nicht nur als unschicklich, sondern geradezu als Krankheitssymptome betrachtet wurden. 11 Die erste Szene von Ednas Erwachens ergibt sich folgerichtig in der Nacht nach ihrem noch harmlosen „Meerabenteuer“; als Edna nach dem Streit mit Leonce um die Kinder allein im Schaukelstuhl sitzend die Geräusche der Nacht und „the everlasting voice of the sea“ hört. In ihrem heftigen Weinanfall deutet sich hier bereits unbewusst die Öffnung für ihre verdrängten Emotionen und imaginären Energien an, die symbolisch im „mournful lullaby“ der See konnotiert sind. Ednas Reaktion auf diesen krisenhaften Verlust bisheriger Ordnungsmuster ist höchst ambivalent und von extremen Stimmungsschwankungen gekennzeichnet. Sie besteht zum einen, wie in der geschilderten Szene, in tiefer Niedergeschlagenheit und Melancholie, zum andern in der Fähigkeit zu neuer, bisher ungekannter Lebensintensität, aus der sie nachfolgend die außergewöhnliche Willenskraft bezieht, die sie zum Widerstand und zum Durchsetzen ihrer Selbstbestimmungswünsche gegenüber den Erwartungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt benötigt. 5. Ambivalenz der Kreolenkultur zwischen Traditionalität und selbstbewusster Körperlichkeit Die gesellschaftliche Realität, der sich Edna gegenübersieht, besteht indessen nicht nur in dem von ihrem Ehemann repräsentierten ökonomischen Modernisierungsdiskurs, sondern auch im ethnisch-sozialen Milieu der Kreolen, zu dem Edna wiederum eine zutiefst zwiespältige Haltung entwickelt. Die Kreolen sind die Nachfahren der französischsprachigen Siedler in Louisiana, oft Angehörige einer Oberschicht, die nach dem Verkauf des einst französischen Territoriums an die USA durch Napoleon 1803 im so genannten Louisiana Purchase ihre französisch-katholische Tradition und ihre kulturellen Netzwerke auch in einer angloamerikanisch dominierten, sich rapide modernisierenden Umgebung erfolgreich aufrechterhielten. Diese Creole community, in deren Milieu der Roman spielt, ist zum einen eine sehr stark traditional ausgerichtete Gemeinschaft, in der feste Regeln und Hierarchien gelten, deren gehobener Lebensstil auf der selbstverständlichen Grundlage einer schwarzen Dienerschaft beruht und die vor allem auch die viktorianischen Geschlechterrollen kultiviert. Innerhalb ihres Normensystems erscheint Leonce geradezu als Mustergatte, als „best husband in the world“ (26), womit der Konformitäts- 11 Vgl. Barbara Welter, „The Cult of True Womanhood: 1820-1860 “ , American Quarterly, Summer, 1966: 151-74. Hubert Zapf 84 druck auf Edna noch verstärkt wird. Hierzu trägt vor allem ihre Freundin bei, Madame Adèle Ratignolle, die die Rolle der viktorianischen True Womanhood nicht nur verkörpert, sondern mit ideologischem Nachdruck gegenüber der ‚moderner‘ eingestellten Edna vertritt. In dieser Hinsicht spielt sie denn auch eine wichtige Rolle für den äußeren plot des Romans und damit indirekt auch für die Dynamik der inneren Entwicklung Ednas. Denn zum einen ist Adèle Ratignolle diejenige, die, ganz dem „law and gospel“ (39) ihrer Konventionsgläubigkeit verhaftet, Robert Lebrun schon früh vor einer zu engen Beziehung mit Edna warnt und so dazu beiträgt, dass dieser, für Edna völlig überraschend, gerade zum Zeitpunkt ihrer aufflammenden Leidenschaft Grand Isle verlässt und nach Mexiko geht. Und sie ist zum andern auch diejenige, die am Ende des Romans, als Robert nach New Orleans zurückgekehrt ist und für Edna nach vielen Verzögerungen und Missverständnissen die Erfüllung ihrer Liebe greifbar nahe erscheint, den erneuten und diesmal endgültigen Abbruch der Beziehung herbeiführt: Indem sie Edna zur Geburt ihres nächsten Kindes an ihr Bett holen lässt, erinnert sie ihre Freundin noch einmal demonstrativ an ihre vernachlässigten Mutterpflichten. Adèle Ratignolle vertritt in ihrem Einfluss auf die Handlung an diesen beiden entscheidenden turning points des Romans den Realitätsdruck eben desselben Systems der Geschlechterkonventionen, jener Festlegung der Frau auf die Mutter- und Ehefrauenrolle, die auch Leonce vertritt und aus deren Einseitigkeit und dogmatischer Erstarrung sich Edna gerade zu befreien versucht. Adèle Ratignolle und die Kultur der Kreolen, für die sie steht, hat aber wie erwähnt neben der traditional-dogmatischen Seite auch eine andere Seite, die sie wesentlich vom Mainstream der viktorianischen Kultur, und vor allem auch von der puritanischen Herkunft Ednas unterscheidet, nämlich ihre starke Sinnlichkeit, ihr Akzeptieren des Körpers und des Eros - wenn auch innerhalb der vorgegebenen normativen Grenzen -, ihren ausgeprägten Schönheitssinn und ihre kommunikative Offenheit. In dieser Hinsicht ist Madame Ratignolle also gerade keine typische Victorian woman der angloamerikanischen Kulturwelt, für die Körperlichkeit und Sexualität Tabus waren, da sie die spirituelle und moralische Bestimmung der Frau gefährdeten. Die Tabus des Viktorianismus haben in der frankokatholischen Welt der Kreolen keine Geltung - es werden intime Realitäten angesprochen, erotische Geschichten erzählt und Bücher offen herumgereicht, die Edna sonst allenfalls heimlich lesen würde. Das „dual life“ (32), in dem sie aufwuchs, also die puritanische Trennung von äußerem, normenkonformen Verhalten und geheimer, potentiell sündhafter Innenwelt, unter der sie Zeit ihres Lebens litt, wird hier aufgelockert, ein offenerer Austausch zwischen Über-Ich und Es, und zwischen Selbst und Anderem erstmals möglich. Es entsteht eine ganz eigenständige und enge Freundschaftsbeziehung zwischen den beiden Frauen, die sich seelisch wie körperlich so nahekommen, als wären sie Liebende. Edna erzählt Adèle Ratignolle von einem Kindheitserlebnis, als sie auf der Flucht vor den religiösen Angstpredigten ihres Vaters durch eine Sommerwiese mit hohem Gras läuft, die endlos wie das Meer scheint und in dem sie sich traumhaft schwebend wie eine Schwimmerin im Wasser fühlt. Erst im Gespräch mit Adèle Kate Chopin The Awakening 85 kehrt die Erinnerung daran zurück, und wird so ein lang vergessenes Erlebnis entgrenzender Mensch-Natur-Einheit vergegenwärtigt und einer anderen Person mitteilbar - ein Erlebnis, dessen imaginäre Energie auf der Handlungsebene des Romans in Ednas innerer Annäherung an das Element des Wassers und in ihrem Schwimmenlernen aufgenommen und motivisch fortgeführt wird. Sie erzählt Adèle die durchaus gebrochene Geschichte ihrer persönlichen Beziehungen, von den unerfüllt gebliebenen jugendlichen Romanzen bis zu der rein nüchternen Vernunftehe mit Léonce und dem zwiespältigen Verhältnis zu ihren Kindern, die sie einerseits liebt, andererseits als Bedrohung für ihre Selbstständigkeit empfindet - kurz, sie teilt Adèle ihre innerste, bisher noch nie nach außen getragene Erlebnis- und Gedankenwelt mit und wird durch die ungewohnte Intimität ihrer Selbstaussprache von einem rauschhaften Gefühl der Befreiung erfasst: „It muddled her like wine, or like a first breath of freedom.“ (37) Die Wirkung der kreolischen Kultur auf Edna ist also hochgradig ambivalent: Einerseits trägt sie zum Erwachen ihres Eros bei, mit dem auch ihre innere Ablösung vom viktorianischen Geschlechtersystem zusammenhängt; andererseits holt sie sie immer wieder auf die Realitätsmacht von eben dessen Konventionen zurück. Dies ist eines der zentralen Spannungsfelder, in denen Edna agieren muss, ohne sie ganz zu durchschauen, und der Weg zu sich selbst, den sie sich in ihnen sucht, ist notwendigerweise widersprüchlich. Er führt sie weg von bisherigen Selbstdefinitionen, ohne ihr klare Möglichkeiten neuer Selbstfindung zu eröffnen. 6. Reflexiver versus relationaler Aspekt von Ednas „Awakening“ : Zwischen dem Individualismus der New Woman und der Sehnsucht nach dem Aufgehen im Anderen Die Realitätssysteme, in denen Edna lebt - das ökonomische geschlechtsspezifische, kreolische und puritanische - sind alle in teils zusammenwirkender, teils gegeneinander wirkender Weise in ihrem Bewusstsein präsent und üben einen diffusen Konformitätsdruck aus, dem sie sich im Prozess des Romans immer mehr entzieht. Dabei gewinnt sie einerseits ungewöhnliche Stärke und setzt mit außerordentlichem Selbstbewusstsein ihre emanzipatorischen Impulse in die Tat um, andererseits ist sie überfordert von der entstehenden Situation der völligen self-reliance, von ihren wechselnden Stimmungen, von der unkontrollierbaren Mischung aus Verlockungen und Zwängen, Zufällen und Manipulationen, in die sie hineingerät. Die Erfüllung ihres Selbst außerhalb der Konventionen sucht sie einerseits in der individuellen Selbstbehauptung und unbegrenzten Entfaltung ihrer Persönlichkeit, andererseits aber und ebensosehr in der Beziehung zum, ja im Aufgehen im Anderen. Auf der einen Seite will sie jeder Fremdbestimmtheit entgehen und das Ich zur höchsten Selbstpräsenz befreien, auf der anderen Seite ist die Möglichkeit dieser vollen Selbstpräsenz wesentlich als eine beziehungshafte bestimmt, nämlich als Wiederherstellung der Beziehung zu einem allumfassenden Lebensprinzip, zu dem die Sinnenergien des Indivi- Hubert Zapf 86 duums wie nach einem inneren Magnetfeld aus der Vereinzelung immer wieder zurückstreben. Die eine, reflexive, auf Selbstverwirklichung gerichtete Seite dieser doppelten Antriebsstruktur, die von Edna seit dem Aufenthalt auf Grand Isle Besitz ergreift, lässt sich wie schon angedeutet in relativ hohem Maß innerhalb der sozialen Realität umsetzen. Edna löst sich aus der Bevormundung durch ihren Mann, der Streit zwischen ihnen eskaliert. Sie verweigert sich den sozialen Ritualen, die die öffentliche Selbstdarstellung und die ökonomischen Interessen der Pontellier-Familie sichern sollen. Sie zieht schließlich nach einem großen Abschiedsdinner aus dem repräsentativen Prachtbau der Familie aus und geht ganz offen ein Verhältnis mit Alcée Arobin ein, einem Don Juan der Kreolengesellschaft, den sie beim Pferderennen kennengelernt hat. Nach den Kodes der Gesellschaft müsste sie sich nach all dem als „wicked specimen of the sex“ (103) fühlen, empfindet aber keinerlei Schuldgefühle. Sie ist so in einer Hinsicht der Inbegriff einer New Woman, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts hervortritt und die sich aus früheren Rollenzuschreibungen löst, aktiv ihr Leben in die Hand nimmt und gestaltet, geistig und künstlerisch aktiv ist und beginnt, ihre bisher unterdrückte Sexualität auszuleben. Ihr Malen verbessert sich zusehends, sie verkauft immer mehr Bilder, ihre künstlerische Ausdrucksfähigkeit „grows in force and individuality“ (100). Und anstatt, wie es das Frauenbild des 19. Jahrhunderts vorsah und wie Leonce es behauptet, aufgrund ihres abweichenden Verhaltens ‚krank ‘ zu sein, wirkt sie inmitten der Krise ihrer bisherigen Lebensbeziehungen auf den hinzugezogenen Doktor Mandelet vielmehr voll neuer, innerer Kraft, ja völlig verwandelt „from the listless woman he had known into a being who, for the moment, seemed palpitant with the forces of life ... Her speech was warm and energetic. There was no repression in her glance or gesture. She reminded him of some beautiful, sleek animal waking up in the sun.“ (90) Mit ihrer emanzipatorischen Ablösung von Konventionen und der Herausbildung einer selbstbestimmten Existenz, so radikal und energisch sie sie vollzieht, geht Edna aber nicht in der sozialen Rolle einer New Woman auf, die primär als bewusste Gegenfigur zum viktorianischen Frauenbild in einem intellektuellen oder politischen Sinn definiert wäre. Verbindungen zu den feministischen Kreisen ihrer Zeit hat Edna nicht, auch wenn sie durchaus von Ideen der „eternal rights of women“ (85) inspiriert ist. Das Bewusstsein, das sie immer mehr ausbildet, ist kein primär soziales, sondern ein durch intensivierte Sinneswahrnehmung geschärftes Bewusstsein ihres kreatürlichen Selbst und seiner elementaren Grundlagen, zu denen sie jenseits kultureller Kategorien zurückzufinden sucht. Es ist also ein Bewusstwerden, das zugleich auf die Aufhebung des Bewusstseins in einem vorbewussten Kontinuum des Lebendigen hinausläuft. Hierin weist die Figur Ednas Züge eines Frauenbilds auf, wie es etwa im Jugendstil des fin de siècle aufkam und in dem die mythisch-elementare Seite des Weiblichen betont und in dessen undulierenden Formen ausgedrückt wurde. Die Figur der Undine, der Wassernymphe, die durch die Liebe zu einem Menschen an Land gelockt wird und am Schluss, nach dem Zerbrechen dieser Liebe, wieder in ihr Kate Chopin The Awakening 87 eigentliches Element zurückkehrt, ist eine Lieblingsgestalt des Jugendstils und weist unverkennbare Ähnlichkeiten mit der Figur Ednas auf. 12 Intermediale Illustrationen der doppelten Seite von Ednas Entwicklungsprozess: der reflexiv-indiviualistischen (Abb. 1 und 2) und der relational-naturhaften Seite (Abb. 3 und 4). 12 Vgl. von Heynitz, Literarische Kontexte von Kate Chopins „The Awakening“: 182ff. - In dieser mythographisch inspirierten Entdeckung der Körperlichkeit und ihres vielgestaltigen semiotischen Potentials lassen sich auch Parallelen zu einer poststrukturalistischen Sicht erkennen, die gerade in der Selbstentdeckung durch ekstatische Selbstentgrenzung die textuelle jouissance einer körperbewussten weiblichen Kreativität sieht. Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Hubert Zapf 88 7. Die Romanze zwischen Edna und Robert: Turbulenzen menschlicher Beziehungen im Spannungsfeld zwischen Kultur und Natur Eine besonders eindrückliche Form, die dieses Verhältnis von Kultur und Natur, von Bewusstsein und Unbewusstem, von ‚reflexiver ‘ und ‚relationaler ‘ Seite im Drama des Erwachens von Edna annimmt und in der sowohl das Ineinanderwirken wie der Bruch zwischen beiden besonders deutlich hervortritt, ist die Romanze zwischen Edna und Robert. Ihr Beginn mit dem gemeinsamen ‚Abenteuer im Meer ‘ verknüpft sie sofort mit diesem ureigensten Element Ednas, aus dem sie also sowohl die Kraft zu ihrer Emanzipation bezieht, als auch die erotische Energie ihrer sich entfaltenden Beziehung zu Robert. Das Ineinanderwirken der verschiedenen Bewusstseins- und Erfahrungsbereiche in der Entwicklung dieser Leidenschaft wird vor allem an dem Samstagabend deutlich, als Mademoiselle Reisz, die exzentrisch-egozentrische Künstlerin, ein Konzert gibt, von dem vor allem Edna aufs höchste beeindruckt und betroffen ist. Die Musik Chopins wird für Edna zu einem Medium, das ihre eigenen erwachenden Leidenschaften ausdrückt und zu einer Selbsterfahrung hochsteigert, die sie in ihrem Lebensnerv trifft: The very first chords which Mademoiselle Reisz struck upon the piano sent a keen tremor down Mrs. Pontellier’s spinal column. ... She waited for the material pictures which she thought would gather and blaze before her imagination. She waited in vain. She saw no pictures of solitude, of hope, or of despair. But the very passions themselves were aroused within hert soul, swaying it, lashing it, as the waves daily beat upon her splendid body. She trembled, she was choking, and the tears blinded her (528). Die elektrisierende Intensität des ästhetischen Erlebens, das die Musik Chopins vermittelt, wird mit einer elementar-körperlichen Reaktionsweise von Edna verbunden, die wiederum in ihrer bisher ungekannten, alle Vorstellungskraft überwältigenden Turbulenz dem Erlebnis der tosenden See gleicht. Es wird also hier unmittelbar die Verbindung hergestellt zwischen der Kunst als differenziertem Ausdrucksmedium der ‚Kultur ‘ und der Erfahrung der Leidenschaft als psychischer Korrespondenz zur Erfahrung der wilden ‚Natur ‘ , wie sie im Meer symbolisch konnotiert ist. In der künstlichen Ordnung der Töne wird ein ursprüngliches Chaos hörbar, in dem die Kontrolle über das Selbst und die Welt verlorenzugehen droht und aus dem doch jene Ordnung immer wieder erst die Energie zu ihrer Herausbildung und vitalen Selbsterneuerung beziehen kann. Hochartikulierte Kunst wird reflexiv an das unartikulierte Leben zurückgebunden, das seinerseits zum Gegenstand und Element des künstlerischen Darstellungs- und Kommunikationsvorgangs wird. Dies gilt auch für die Ebene des Romans, der im Spannungsfeld zwischen sprachlicher Artikulation und vorsprachlicher Erfahrung eben diese ‚dionysische‘ Rückkopplung von Leben und Kunst, Kultur und Natur anstrebt, wie sie Edna in Mademoiselle Reisz’ Chopin- Spiel in so existentieller Evidenz erlebt. Der Wechsel zum Medium der Musik verdeutlicht die vorbzw. außersprachliche Dimension einer Erfahrung, die in Ednas subjektiver Wahrnehmung auch nicht mehr in die vertraute, visuelle Bilderwelt der Imagination übersetzbar ist, wie sie sich bei ihr als Malerin gewöhnlich beim Hören von Musik einstellt. Die Imagination hinterschreitet sich selbst auf ein gestaltlos- Kate Chopin The Awakening 89 vorimaginatives Erleben, das aber dennoch nur wieder in neuen Bildern, nämlich denen des chaotisch-überwältigenden Meers, artikulierbar ist. Ednas Zwischenstellung, ihre Übergangsposition zwischen Kultur und Natur wird bereits zu Beginn des Abends darin versinnbildlicht, dass sie außerhalb des Saals auf der Galerie sitzt, von wo sie sowohl das gesellschaftliche Geschehen im Haus im Auge hat wie auf das vom Mond beschienene Meer, das „distant, restless water“ (43) hinausblickt. Wie eine Antwort auf diesen Anblick scheint Roberts Frage an sie zu kommen, ob sie Mademoiselle Reisz spielen hören wolle, woraufhin diese von Robert herbeigeholt wird und eigens für Edna ihr Konzert gibt, das wiederum, wie gesehen, Ednas zuvor noch diffusen Emotionen in einer Weise ästhetisch Ausdruck gibt, dass sie sie als körperliches Erleben des Meers imaginiert. In der Verbindung von Kunst und Leben, Kultur und Natur, die sich hier symbolisch vollzieht, spielt Ednas Beziehung zu Robert also eine Art Katalysatorrolle, ohne dass die vielgestaltige motivische Bedeutungsentfaltung allein auf diese Beziehung reduzierbar wäre. Es ist hier besonders signifikant, dass unmittelbar im Anschluss an dieses Konzert, wiederum auf Roberts Vorschlag hin, die Gäste spontan zum nächtlichen Strand zum Baden gehen und Edna gerade an diesem Abend das Schwimmen lernt, das sie aufgrund ihrer Angst vor den Wellen zuvor vergeblich geübt hatte. Das Erleben der Musik als des bewussten, kontrollierten Ausdrucks einer unbewussten, unkontrollierbaren Realität gibt ihr also offenbar die Kraft, ihre Angst zu überwinden und erstmals ganz in die chaotisch-bedrohliche und zugleich lebensstiftende Elementarwelt der Natur ‚einzutauchen ‘ , in der sie durch die Aufgabe angstbedingter Abgrenzung die Freiheit selbstbestimmter Lebensoffenheit entdeckt. Dennoch ist ihre Reaktion auf das Erlebnis des Schwimmens in charakteristischer Weise extrem und widersprüchlich. Sie wird zunächst von Begeisterung und einem rauschhaften Machtgefühl ergriffen, „as if some power of significant import had been given her soul“, und will weit hinausschwimmen, „where no woman had swum before.“ (46) Es ist also zunächst vor allem der individuelle Selbststeigerungsdrang, der hier durch den Kontakt mit den vitalen Quellen des Ichs erst durch die Musik, dann durch das Meer, beflügelt wird. Doch dann, als sie sich zu weit hinauswagt, wird sie von Todesangst erfasst, einer Extremerfahrung, die sie den anderen nicht mitteilen kann - ihr am Ufer wartender Mann beruhigt sie anschließend, sie sei nie in Gefahr gewesen, denn er habe auf sie aufgepasst; und auch Robert, der sie vom Strand zurückbegleitet, versteht ebenfalls nur halb den Schrecken der Selbstauflösung, den sie seelisch erlebt hat. Dennoch intensiviert sich ihre Beziehung zu Robert weiter bis zu dem Punkt, an dem dieser sie aufgrund der genannten Hindernisse plötzlich abbricht und nach Mexiko reist, während Edna nach New Orleans zurückkehrt, wo sich ihr offener Bruch mit dem gesellschaftlichen Macht- und Geschlechtersystem vollzieht, dem sie zuvor angehörte. Robert ist nun nur noch in ihrer Imagination im Roman präsent, und zwar hauptsächlich durch die Briefe, die er an Mademoiselle Reisz scheibt und in denen Edna das Hauptthema ist. Ist also das verbindende Element zwischen den beiden zum einen das Meer und die Natur, so ist es zum andern die Kunst, die in Mademoiselle Reisz personifiziert ist. In Ednas Besuchen bei ihr wiederholt sich der Hubert Zapf 90 aufwühlend-inspirierende Einfluss der Musik, als Mademoiselle Reisz, während Edna einen Brief Roberts liest, zunächst erneut ein Stück von Chopins spielt und dieses improvisierend in die Klänge von Isoldes Liebestod aus Wagners Tristan und Isolde übergehen lässt. Ednas in der Imagination und in der Vermittlung der Kunst fortgeführte Romanze mit Robert ist einerseits der Kontrapunkt zu den Konflikten ihrer gesellschaftlichen Emanzipation, andererseits bezieht sie aus ihr auch einen Teil der Kraft, die sie für diese Emanzipation benötigt. Mademoiselle Reisz’ „divine art“ (99) ist somit ein wichtiges Medium von Ednas Selbstfindung, aus dem sie den Mut zur Selbständigkeit und freigewählten Individualität gewinnt. Doch die Trennung der Kunst vom Leben und ihre vollständige Absonderung von der gesellschaftlichen Realwelt, die Mademoiselle Reisz’ sozial isolierte Existenz kennzeichnet, ist gerade nicht das, was Edna und der Roman anstreben. Die Pianistin trägt stets dieselben unansehnlichen Kleider und stets dieselbe künstliche Blume im Haar, ihre Wohnung ist steril und unwirtlich, die Büste Beethovens staubbedeckt. Erst durch ihre von Edna vollzogene Transformation in vitale Beziehungshaftigkeit wird die selbstreferentielle Kunst von Mademoiselle Reisz lebendig und gewinnt sie kommunikative Realität. Es ist kein Zufall, dass Edna von Roberts Rückkehr aus Mexiko in Mademoiselle Reisz’ Wohnung erfährt und dass sie ihn ausgerechnet dort nach ihrer langen Trennung überraschend wiedersieht. Von hier aus treibt die Handlung, in einer Art symphonische Hochsteigerung der verschiedenen Motive, ihrem mehrfach gebrochenen Höhepunkt zu. Zuerst wird Edna aus dem „promise of excessive joy“ (124), den die fast schon erreichte Vereinigung mit Robert bringt, durch Madame Ratignolles Intervention gerissen und durch die miterlebte Geburt und das Verschwinden Roberts in einen schockartigen Zustand der Desillusionierung versetzt. Danach erlebt sie eine erneute, radikale Stimmungsveränderung, als sie zur Feriensiedlung nach Grand Isle fährt und dort, statt zu dem für sie zubereiteten Dinner, zum verlassenen Meeresstrand geht. Auf dem Weg dahin streift sie die Gedanken an ihre problematischen zwischenmenschlichen Rollen und Beziehungen immer mehr ab, bis sie allein am Ufer steht und sich mit allen Sinnen dem überwältigenden Eindruck der See öffnet. The waters of the Gulf stretched out before her gleaming with the million lights of the sun. The voice of the sea is seductive, never ceasing, whispering, clamoring, murmuring, inviting the soul to wander in abysses of solitude. All along the white beach, up and down, there was no living thing in sight. A bird with a broken wing was beating the air above, reeling, fluttering, circling disabled down, down to the water... How strange and awful it seemed to stand naked under the sky! How delicious! She felt like some new-born creature, opening its eyes in a familiar world it had never known. The foamy wavelets curled upon her white feet, and colied like serpents about her ankles. She walked out. The water was chill, but she walked on. The water was deep. but she lifted her white body and reached out with a long, sweeping stroke. The touch of the sea is sensuous, enfolding the body in its soft, close embrace. She went on and on.... She looked into the distance, and the old terror flamed up for an instant, then sank again. Edna heard her father’s voice and her sister Margaret’s. She heard the barking of an old Kate Chopin The Awakening 91 dog that was chained to the sycamore tree. the spurs of the cavalry officer clanged as he walked across the porch. There was the hum of bees, and the musky odor of pinks filled the air (598-9). Im Licht der Entwicklung des Romans, wie sie hier nachskizziert wurde, ist diese letzte Stufe des Erwachens Ednas also kein Gegensatz zu den vorherigen Stufen, sondern deren konsequente Radikalisierung. Die Wiederherstellung der gebrochenen Beziehung von Kultur und Natur, Geist und Körper, den Edna von Anfang an und immer stärker erfährt und personifiziert, wird im Ablegen ihrer Kleider noch einmal verbildlicht und explizit als Erlebnis der Wiedergeburt imaginiert. „She felt like some new-born creature, opening its eyes in a familiar world it had never known“ (136) Und es ist genau aus diesem Impuls des Erwachens, aus dem sie ins Wasser steigt und weit ins Meer hinausschwimmt, so weit, bis ihr keine Möglichkeit der Rückkehr mehr bleibt. Sie führt damit den Wunsch ins Extrem, der bereits in jener Nacht, als sie im Anschluss an Mademoiselle Reisz’ Konzert schwimmen lernte, von ihr Besitz ergriff: „to swim far out, where no woman had swum before.“ (46) Der reflexive Aspekt ihres Erwachens im Sinn transgressiver individueller Selbstverwirklichung verbindet sich hier erstmals ungebrochen mit dem relationalen Aspekt des Aufgehens im Andern, das sie sich schon bei Robert wünschte - „we shall be everything to each other“ (130) - das aber erst hier, in ihrer Vereinigung mit dem mythologischen ‚Meergeist ‘ , den Robert einst erwähnte, möglich wird. Das entschlossene Hinausschwimmen in die Wellen ist also gerade nicht einfach ein resignatives Ins-Wasser- Gehen, sondern ein bewusster Willensakt und eine Fortführung jenes Wegs zum aktiven, selbstbestimmten Verhalten, den sie gegangen ist; es ist aber gleichzeitig auch eine Selbstaufhebung und ein Aufgehen im Anderen der Natur, das sich als verlorene Einheit und tieferes alter ego des menschlichen Selbst darstellt. 8. Dionysische Kunst und unendliche Lebensmelodie: Tod und symbolische Wiedergeburt Nun wäre allerdings der Eindruck falsch, als würde die Entwicklung Ednas auf der Handlungs- und Charakterebene linear auf dieses Ende zulaufen. Vielmehr ist, wie schon vorher betont wurde, diese Entwicklung sowohl aufgrund unkontrollierbarer Umwelteinflüsse wie auch von widersprüchlichen Impulsen des eigenen Selbst vor allem durch Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit gekennzeichnet. Gerade das Unerwartete und Unausrechenbare wird zu einem wesentlichen Merkmal des Textes, das dem Planungs- und Verfügungsdenken zivilisatorischer Vernunft entgegengerichtet ist. Wie Edna ist auch der Roman jenen „deeper undercurrents of life“ (115) auf der Spur, die sich einem logozentrischen Zugriff entziehen und alle festgefügten Deutungs- und Erwartungsmuster sprengen. Dies gilt auch für den Schluss des Romans, der sich wiederum aus einer unerwarteten Wendung des Geschehens - und des Verhaltens Ednas - ergibt. Die zentrale Bildlichkeit für diese Verflüssigung fester Kategorien und Lebensbezüge im Roman ist die des Wassers, die mit Vorstellungen des Fließens, Strömens, Hubert Zapf 92 der Wellenbewegung, ihrem Hin und Her und Auf und Ab verbunden ist. Dieser „ozeanische Diskurs“, wie ihn ein Kritiker nannte 13 , kommt an den imaginativen Höhepunkten des Romans - dem Erleben der Musik im Konzert von Mademoiselle Reisz, und dem Erleben des Meers am Ende - am markantesten zum Ausdruck, wirkt sich aber auch auf die Entwicklung und Darstellung des sonstigen Geschehens aus. Er lässt Edna durch ihren Kontakt mit dem Meer in die Turbulenzen ihres Lebens stürzen, bildet aber auch mit seinem leitmotivisch aufgebauten Glücksversprechen einen Gegenpol, der die imaginäre Aufhebung der Gegensätze in einer mythischen Alleinheit des Seins verheißt. Hierin entspricht er dem Kindheitserlebnis Ednas auf der Sommerwiese in Kentucky, bei dem sie ja bereits ihr Sich-Öffnen für das Leben im Bild des Schwimmens in einem ihr unendlich scheinenden Ozean der Natur imaginiert hatte. An dieses Erlebnis knüpft ihr Erwachen im Roman an, und noch bevor sie tatsächlich das Schwimmen lernt, fühlt sie sich auf Grand Isle in ihrem neu entdeckten Selbst in jenes Gefühl zurückversetzt: „sometimes I feel this summer as if I were walking through the green meadow again; idly, aimlessly, unthinking and unguided.“ (35) Das Hinausschwimmen ins Meer in der Nacht von Mademoiselle Reisz’ Konzert, und dann wieder am Schluss des Romans, ist also eine narrative Ausfaltung dieses bereits von Anfang an Ednas Erwachen begleitenden ‚ozeanischen Diskurses ‘ , der das Entdecken des Neuen zugleich als Wiederentdecken eines Vertrauten, und das Ziel seiner ex-zentrischen Bewegung als Rückkehr ins Zentrum des Lebens selbst inszeniert. Ednas innere Verbindung zu diesem Gegendiskurs, der die zivilisatorisch gebrochene Beziehung zu einer ursprünglichen Lebenseinheit ästhetisch zum Ausdruck bringt, wird vor allem durch das Leitmotiv der „voice of the sea“ hergestellt, das sich in verschiedenen Variationen wiederholt. Diese leitmotivische Suggestions- und Kompositionstechnik verwebt die im Text aktivierten, heterogenen Stimmungen und Erfahrungsbereiche zum Klangteppich einer ‚unendlichen Melodie ‘ , ähnlich der in Tristan und Isolde realisierten Musikästhetik Richard Wagners, die mit Mademoiselle Reisz’ Klavierspiel explizit in den Roman eingebracht wird. Alle wichtigen Motive sind von Anfang an im Roman präsent und laufen, in jeweils wechselnden Gestalten und Konfigurationen, auseinander und wieder zusammen, sind vielfach miteinander verflochten, bekämpfen und übersteigern einander, bis sie am Schluss zu einem spannungsreich-spannungsaufhebenden Finale zusammenfließen. Die Anklänge an Wagners Tristan in The Awakening sind auch auf der Handlungsebene unverkennbar, nämlich in der Romanze von Tristan und Isolde, die sich wie diejenige Ednas und Roberts in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als unrealisierbar erweist und ihre Erfüllung erst im Tod findet, im Liebestod Isoldes, deren Gesang bei der Vereinigung mit dem toten Geliebten wie ein intertextuelles Motto für das Ende von Chopins Roman wirkt: „In des Weltatems wehendem All / Ertrinken, Versinken / Unbewusst, höchste Lust.“ Der Unterschied zu Tristan liegt aller- 13 Christophe Den-Tandt, „Oceanic Discourse, Empowerment and Social Accommodation in Kate Chopin’s The Awakening and Henrik Ibsen’s The Lady from the Sea,“ in G. Debusscher and Marc Maufort, eds. ‚Union in Partition‘: Essays in Honour of Jeanne Delbaere, Liège 1997: 71-79. Kate Chopin The Awakening 93 dings darin, dass bei Chopin die symbolische Vereinigung des Selbst mit dem Anderen nicht mit einem menschlichen Liebhaber, sondern mit der außermenschlichen Natur stattfindet und dass sich die Bildlichkeit, die Isoldes innere Gefühlswelt beschreibt, gleichsam ins äußere Geschehen des Romanendes umsetzt. Ist also ein wichtiger Einfluss, den Chopin in ihrem Roman verarbeitet, der der europäischen Avantgardekunst des späteren 19. Jahrhunderts 14 , durch den Literatur, Musik und Malerei 15 in den Text einbezogen und auf vielfältige Weise miteinander verbunden werden, so ist ein anderer wichtiger Einfluss der des amerikanischen Transzendentalismus, der ja auf seine Weise eine enge Wechselbeziehung von Text und Leben, Kultur und Natur wiederherstellen wollte. Die Transzendentalisten um R.W. Emerson, H.D. Thoreau und Margaret Fuller hatten die erste eigenständige Richtung der amerikanischen Literatur hervorgebracht, indem sie sich von europäischen Autoritäten lösten und das individuelle Selbst in den Mittelpunkt ihrer Philosophie und Poetologie stellten. Sie sahen Literatur als unendlichen Prozess von Zeichen, in dem sich das Subjekt durch Introspektion und die metaphorische Entfaltung der Korrespondenzbeziehung zwischen Mensch und Natur auch aus den bisherigen Konventionen des Schreibens zu lösen und den kreativen Prozessen des Lebens selbst anzunähern vermochte. Chopin ist in The Awakening über die Einflüsse von Realismus und Naturalismus hinaus ganz deutlich von dieser letztlich lebensaffirmierenden Konzeption des Textes beeinflusst, die explizit in der Erwähnung von Ednas Emerson-Lektüre und implizit im intertextuellen Einfluss Walt Whitmans auf den Roman erkennbar wird, in dessen Dichtung die Ideen der Transzendentalisten ihren künstlerisch wohl stärksten Ausdruck fanden. Vor allem zu Whitmans „Out of the Cradle Endlessly Rocking“ gibt es in The Awakening klare Parallelen. Das Gedicht thematisiert den engen Zusammenhang von Geburt und Tod, von Entstehen und Vergehen, von Liebe und Abschied, der in der schaukelnden Bewegung der Wellen sinnbildlich gemacht wird. Die Annäherung von poetischem Ich und Natur wird in Whitmans Gedicht bis zur Grenze des Unsagbaren geführt, zum Versuch nämlich, in den rhythmischen Geräuschen der Meeresbrandung selbst die Ursprache der Dichtung zu entdecken. Der Versuch, die Ursprache des Meers als Quelle der eigenen poetischen Kreativität zu aktivieren, führt bei Whitman zur Entdeckung des einen Schlüsselworts, des alles Leben und alle Dichtung erst ermöglichenden Wortes „death“, mit dessen onomatopoetischer Wiederholung das Meer auf die Sinnfrage des Dichters antwortet: „Whereto answering, the sea / ... Lisp’d to me the low and delicious word death, / And again death, death, death, death“. Auch The Awakening ist wie gesehen auf einer wichtigen Ebene der Versuch, die „voice of the sea“, d.h. die vorsprachliche Sprache der Natur in ästhetische Form zu ‚übersetzen ‘. Auch hier liegt die Antwort auf die mit dem Schicksal der Protagonistin gestellte Sinnfrage in der Akzeptanz des Todes als der untrennbaren anderen Seite 14 Vgl. hierzu Dieter Schulz, „Notes Towards a fin-de-siècle-Reading of Kate Chopin’s The Awakening“, American Literary Realism, 25, 3, 1993: 69-76. 15 Zum Einfluss der Malerei vgl. Kathryn Lee Seidel, „Picture Perfect: Painting in The Awakening“, Critical Essays on Kate Chopin, ed. Petry: 227-36. Hubert Zapf 94 des Lebens. Und wiederum wie bei Whitman endet die Erkundung des Bedeutungspotentials des Meers, die am Schluss in Ednas Hinausschwimmen ihre narrative Klimax findet, nicht in der bloßen Hinnahme des Endes. Sie führt vielmehr in der Auflösung des bewussten Selbst zurück zu einem neuen Anfang. Nachdem Edna zunächst noch einmal Erinnerungen an ihren Mann, ihre Kinder und ihre Lebensängste durch den Kopf flackern, steigen, je weiter sie hinausschwimmt, Bilder aus der Kindheit in ihr auf, die sie am Ende in eine sinnlich-betörende Stimmung der sommerlichen Natur versetzen: „There was the hum of bees, and the musky odor of pinks filled the air.“ (652) - so lautet der letzte Satz des Romans. Am Ende von Ednas symbolischem Weg aus der kulturellen Entfremdung steht nicht der Triumph des Thanatos, sondern die erotisch eingefärbte Affirmation des Lebens. 16 Dieses ist allerdings hier nicht mehr individuell oder anthropozentrisch gefasst, sondern als elementarer Zusammenhang des Lebendigen, in dessen Prozess des Werdens und Vergehens der Mensch eingebettet ist und den der Roman als intermedial komponiertes Gesamtkunstwerk dem Leser vergegenwärtigt. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Chopin, Kate: The Awakening. Complete, Authoritative Text with Biographical and Historical Contexts, Critical History, and Essays from Five Contemporary Critical Perspectives. Nancy A. Walker (Hg.): Boston und New York: St. Martin’s, 1993. Forschungsliteratur: Den-Tandt, Christophe: „Oceanic Discourse, Empowerment and Social Accommodation in Kate Chopin’s The Awakening and Henrik Ibsen’s The Lady from the Sea“. In: G. Debusscher and Marc Maufort (Hgg.): ‚ Union in Partition ‘ : Essays in Honour of Jeanne Delbaere. L3: Liège, 1997, 71-79. Fluck, Winfried: Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790 bis 1900. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002. Heynitz, Benita von: Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening. Tübingen: Narr, 1994. Jacobs, Dorothy H.: „The Awakening: A Recognition of Confinement“. In: Lynda S. Boren e.a. (Hg.): Kate Chopin Reconsidered: Beyond the Bayou. Baton Rouge: Louisiana State UP, 1992, 80-94. Leder, Priscilla: „Land’s End: The Awakening and 19th Century Literary Tradition“. In: Alice H. Petry (Hg.): Critical Essays on Kate Chopin. New York: Hall, 1996, 237-50. 16 Zum Verhältnis von Thanatos und Eros im Roman aus feministisch-psychoanalytischer Sicht vgl. Cynthia-Griffin Wolff, „Thanatos and Eros: Kate Chopin’s The Awakening“, Contexts for Criticism, ed. Keesey-Donald: 241-55. Kate Chopin The Awakening 95 May, John R.: „Local Color in The Awakening“. In: Donald Keesey (Hg.): Contexts for Criticism. Mountain View: Mayfield, 1994, 112-17. Radcliffe-Umstead, Douglas: „Literature of Deliverance: Images of Nature in The Awakening“. In: Southern Studies 1 (1990), 127-147. „Recent Novels “ , The Nation 69, 3. August 1899. In: Alice Hall Petry (Hg.): Critical Essays on Kate Chopin. London: Hall, 1996, 96. Schulz, Dieter: „Notes Towards a fin-de-siècle-Reading of Kate Chopin’s The Awakening“. In: American Literary Realism (1993), 69-76. 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Abbildungsnachweis: Abbildung 1: Rosetti, Dante Gabriel. Study for Guinivere. 1857. Manchester City Art Galleries, Manchester. <http: / / images.easyart.com/ i/ prints/ rw/ it_easyart/ sm/ 1/ 5/ Study-of- Guinevere-for-Sir-Launcelot-in-the-Queen--Dante-Gabriel-Rossetti-15539.jpg&imgrefurl =http: / / it.easyart.com/ artista/ Dante-Gabriel-Rossetti-1037.html&h“> (aufgerufen am 02.07.07). Abbildung 2: Rosetti, Dante Gabriel. Miss Jane Burden. 1857. National Gallery of Ireland, Dublin. Von Heynitz, Benita: Literarische Kontexte von Kate Chopins The Awakening, Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1994: Anhang Abbildung 4. Abbildung 3: Klimt, Gustav. Fischblut. 1898. Gezeichnet für Ver Sacrum. Hofstätter, Hans H. Jugendstil Druckkunst. 3. Aufl. Baden Baden: Holle, 1973. 213. Abbildung 4: Van Rysselberghe, Theo. Titelvignette „August“ (aus einem Almanach). 1895. Brüssel. Hofstätter, Hans H. Jugendstil Druckkunst. 3. Aufl. Baden Baden: Holle, 1973. 99. Rainer Maria Rilke Neue Gedichte Klaus Dieter Post Sich zu Rilke zu äußern, meine Damen und Herren, setzt nach wie vor einen gewissen Grad an Außenseitertum voraus. So populär dieser Dichter wieder ist, 1 so schwierig ist der Umgang mit ihm. Das liegt zu einem an einer nicht immer sachlichen Rezeption, an der Erhöhung Rilkes zum esoterischen Weisheitskünder oder auch ganz einfach an der Tatsache, dass Rilke einfach in kein Schema passt. Auf jeden Fall verlangt der schwierige Dichter eine gleichermaßen diffizile und subtile Kommentierung. Das jedoch ist im Rahmen der begrenzten Vortragszeit kaum möglich. Ich werde mir vielmehr die Freiheit nehmen, komplexe Zusammenhänge auf einen vorerst einfachen Punkt zu bringen. Dabei gehe ich von der Ansicht aus, dass das breite und vielschichtige Werk Rilkes durchaus auf zentrale Grundgedanken zurückgeführt werden kann. Erlauben Sie mir also, meine herausfordernd simple Hypothese zum vorläufigen Verständnis des Rilkeschen Werkes in zwei Worte zu kleiden. Diese einfachen Worte lauten Frage und Antwort, und ich meine, mit ihnen im sehr grundsätzlichen Sinne einen ersten Rahmen abgesteckt zu haben. Was Rilke bewegte, ist nur im Modus der Frage zu beschreiben. Darin war er freilich das Kind seiner Zeit, die, sich von Nietzsche her schreibend, nie radikaler alle bestehenden Systeme in Frage gestellt hatte. Rilke stellte die Grundfragen der Epoche, die nach dem rechten Leben, dem rechten Verstehen und nach der Möglichkeit des rechten Schreibens. Der Zwang zur Frage richtet sich auf alle Bereiche seines Lebens und Denkens und Schreibens, hat existentielle, philosophische, ethische, sprachkritische und ästhetische Implikationen. Die Frage artikuliert die Not, aus der heraus geschrieben wird, ist Spiegel der Krisensituation, in der Rilke und seine Generation sich gefangen sahen, ob als Kulturkrise, als Existenzkrise, als Ich-Krise, als Erkenntniskrise oder als Sprachkrise. Der Katalog wäre zu erweitern. Nirgendwo prägnanter als im Malte-Roman, diesem wohl gewichtigsten Rilke-Text, setzt sich der Ansturm der Fragen in Worte um: […] Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken: 1 Repräsentativ dafür sind die seit den 90er-Jahren in unterschiedlichen Verlagen erschienenen Rilke-Ausgaben sowie das von Manfred Engel unter Mitarbeit von Dorothea Lauterbach herausgegebene Rilke-Handbuch, Stuttgart 2004. Klaus Dieter Post 98 Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen Apfel? Ja, es ist möglich. Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritt, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht wie die Salonmöbel in den Sommerferien? Ja, es ist möglich. Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden worden ist? Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb? Ja, es ist möglich. […] Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von Möglichkeit hat, - dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen. Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun; wenn es auch nur irgendeiner ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da. 2 Man muss gar nicht so weit gehen, die autobiographischen Züge dieser Szene herausstellen zu wollen (nach den Paris-Erfahrungen des Winters 1902/ 03 hatte der damals achtundzwanzigjährige Rilke in Rom mit der Konzipierung der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge begonnen). Die Gewichte dieses beharrlich die Frage vorantreibenden Selbstgesprächs für den Kontext des Romans (14 mal variiert Malte seine Frage) und für den intertextuellen Zusammenhang des Gesamtwerks genügt, um Rilkes Grundposition zu markieren. Dass die Frage in ihrer Radikalität nicht einfach stehen bleiben kann, liegt schon in ihrer inneren Tendenz beschlossen. Die Frage wird beantwortet, die Möglichkeit des gravierenden Defizits in der Menschheitsgeschichte bestätigt. „Ja, es ist möglich“. Sieben mal wiederholt Malte seine Antwort, seine Einsicht. Und aus der Einsicht ergibt sich die Forderung und der Auftrag: […] Dieser junge, belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht: ja er wird schreiben müssen das wird das Ende sein. […] (III, 470) Wir haben in diesem Selbstgespräch des Malte Laurids Brigge sozusagen eine Urszene von Rilkes poetischen Bemühungen vor uns. Das Infragestellen alles Überlieferten, aller vertrauten Modelle. Daraus ergibt sich die Antwort: der Auftrag der schreibenden Verwandlung des Ichs und seiner Erfahrungswelt, seiner Lebenswelt. Die 2 Rainer Maria Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hrsg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1996, S. 468-470. (Im Folgenden wird mit Band- und Seitenzahlen in Klammern nach dieser Ausgabe zitiert.) Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 99 aufstörende Frage ist der auslösende Funke und der Motor hinter allen nun einsetzenden literarischen Aktivitäten. Im je aufscheinenden Werkkontext versucht Rilke nun, die bedrängenden Fragen in eine adäquate Zeichensprache zu übersetzen und im Vorgang der Verwandlung geistig poetische Antworten zu formulieren. Gemessen an diesem Grundmodell erkenne ich vier Phasen der Rilkeschen Poesie. Die erste Phase ist, cum grano salis, die der fraglosen Selbstgewissheit, der Unbedenklichkeit, des virtuosen Überspielens aller Gegensätze von Leben und Tod, von Ich und Gott, von Kunst und Wirklichkeit. Gemeint sind die frühen Zyklen von Larenopfer und Mir zur Feier über Das Stunden-Buch bis hin zur lyrischen Erzählung Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Die Russlandreisen mit Lou Andreas-Salomé bieten zu all diesen Texten den Erfahrungsraum. 3 Kritisch Fragen, wenn sie denn aufkommen, wie etwa jene nach der Armut und nach dem Tod im dritten Teil des Stunden-Buchs, werden nicht ausgehalten und fortentwickelt, sondern werden zurückgenommen und aufgelöst in der Magie der schönen Worte: „denn Armut ist ein großer Glanz aus Innen…“ (I, 244) Eine herausfordernde These, die, sicherlich zu recht, den ein wenig verspäteten Zorn der Ideologiekritik auf den Plan rief. 4 Was diese Kritiker in ihrem Rundumschlag nur vergessen hatten, war die Tatsache, dass Rilke mit seinem Wechsel von Worpswede nach Paris im Frühjahr 1902 (ich sehe darin den Beginn der zweiten Phase seines Schreibens) die kritische Fragestellung ganz ins Zentrum gerückt hatte: als soziale Frage, als existentielle Frage, als ästhetische Frage. Die Neuen Gedichte, die unser Thema sind, stehen neben dem Malte-Roman im Mittelpunkt dieser Werkphase und geben durchaus deutliche Antworten auf die akuten Fragestellungen ihrer Ausgangssituationen. Rilke treibt in dieser Phase seines Werks seine Fragen soweit voran, dass, zumindest im Thematisch-Inhaltlichen, die Antworten ausbleiben und die bohrenden Fragen selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Der Ölbaum-Garten aus dem ersten Teil der Neuen Gedichte mag als gewichtiges Beispiel angeführt werden für diese Tendenz: DER ÖLBAUM-GARTEN Er ging hinauf unter dem grauen Laub ganz grau und aufgelöst im Ölgelände und legte seine Stirne voller Staub tief in das Staubigsein der heißen Hände. Nach allem dies. Und dieses war der Schluß. Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde, und warum willst Du, daß ich sagen muß Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde. 3 Im Frühjahr 1899 unternimmt Rilke mit dem Ehepaar Andreas eine erste Russlandreise, von Mai bis August 1900, diesmal mit Lou Andreas-Salomé allein, eine zweite Russlandreise. 4 Siehe in diesem Zusammenhang etwa Reinhold Grimm, Von der Armut und vom Regen. Rilkes Antwort auf die soziale Frage, Königstein/ Ts. 1981. Klaus Dieter Post 100 Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein. Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein. Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein. Ich bin allein mit aller Menschen Gram, den ich durch Dich zu lindern unternahm, der Du nicht bist. O namenlose Scham… Später erzählte man: ein Engel kam - . Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht Und blätterte gleichgültig in den Bäumen. Die Jünger rührten sich in ihren Träumen. Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht. Die Nacht, die kam, war keine ungemeine; So gehen hunderte vorbei. Da schlafen Hunde und da liegen Steine. Ach eine traurige, ach irgendeine, die wartet, bis es wieder Morgen sei. Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern, und Nächte werden nicht um solche groß. Die Sich-Verlierenden läßt alles los, und sie sind preisgegeben von den Vätern und ausgeschlossen aus der Mütter Schooß. (I, 459 f.) Einsamkeit, Preisgegebenheit und Ausgeschlossenheit sind die Grunderfahrungen, die diesem Text sein Gepräge geben. Wo das Letzte in Frage steht, kann auch die poetische Formel keine Antwort mehr bereitstellen. Dieser Text sagt sich in beispielhafter Weise los von religiösen und ästhetischen (Er-)Lösungen: „Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht.“ Hier wird die Begründung für den Sinn zurückgenommen. Hier wird der Fragende auf sich selbst zurückgeworfen und die Illusion einer Errettung zerstört. Im fehlenden Zusammenspiel von Frage und Antwort, von Erwartung und Erfüllung kommt Rilke in Texten wie diesem den Desillusionen der literarischen Moderne sehr nahe. Trotz dieser anscheinend gegenläufigen Tendenzen weisen Rilkes große Gedichtzyklen (und hier schließe ich die 1922 in Muzot entstandenen Sonette und Elegien durchaus mit ein) letztlich kohärente Strukturen auf. Die Suche nach dem Sinn und die daraus resultierenden ästhetischen Entwürfe sind das gemeinsame Fundament aller Texte, gerade auch da, wo der Einzeltext die Kohärenz in Frage zu stellen scheint. Zwar stößt die Sprache in ihrem Auftrag, das Unaussprechliche dennoch auszusprechen, in den Neuen Gedichten immer mehr an ihre Grenzen (Texte wie Der Ölbaum-Garten geben darüber Auskunft), doch bleibt der Wille ungebrochen, das Große und Fremde, das in den stabilen Ordnungssystemen einer vereinbarten Sprachwelt nicht in Erscheinung treten kann, im apollinischen Kunstakt, in orphischer Mittlerschaft oder in der Anverwandlung des „Weltinnenraum“ dennoch zur Sprache zu bringen. Erst vereinzelte späte Gedichttexte brechen diesen Kreis von Frage und Antwort, von existentieller Sprachnot und ästhetischem Sprachglanz auf. Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 101 In solchen Fällen lösen sich die formalen Verfestigungen auf, die Antworten bleiben aus, die Klage dominiert: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort, siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher, aber wie klein auch, noch ein letztes Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s? Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Steingrund unter den Händen. Hier blüht wohl einiges auf; aus stummem Absturz blüht ein unwissendes Kraut singend hervor. Aber der Wissende? Ach, der zu wissen begann Und schweigt nun, ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Da geht wohl, heilen Bewußtseins, manches umher, manches gesicherte Bergtier, wechselt und weilt. Und der große geborgene Vogel kreist um den Gipfel reiner Verweigerung. - Aber ungeborgen, hier auf den Bergen des Herzens… (II, 115 f.) In diesem bereits 1914 in München verfassten Text, der auch formal die bekannten Parameter Rilkescher Ästhetik verlässt, kündigt sich die letzte, in ihrer ungeschützten Offenheit wohl radikalste Periode seines Schreibens an. Wir werden diesen Aspekt der letzten Verwandlung mit ins Kalkül ziehen müssen, wenn wir das forciert geschlossene und stabile Gedichtprinzip der Neuen Gedichte in ihrer lebens- und werkgeschichtlichen Relevanz näher verstehen wollen. Mit dem Modell von Frage und Antwort ist ein erstes, inneres wie äußeres Strukturmerkmal der Rilkeschen Poetik gewonnen. Wir werden es am zu wählenden Beispieltext genauer beschreiben müssen. Die Implikation dieses Modells sind an allen anderen binären Strukturen von Rilkes poetischem Werk nachweisbar. Etwa im Zusammenwirken des dionysischen mit dem apollinischen Prinzips oder auch im steten Versuch, Leben und Tod als Einheit zu sehen. In der Verbindung prozessual zeitlicher Elemente mit statisch räumlichen Konstellationen, bis beide, wie die Frage in der Antwort, am Ende ineinander aufgehoben sind. (Das Sonett ist dabei für Rilke die adäquate Kunstfigur). Wir müssen das breite Spektrum der Entsprechungen hier nicht voll ausmessen. Es ist erkennbar, dass alle Widersprüche seines Schreibens (die Klage und die Rühmung, das Fremde und das Eigene, die Sprachskepsis und der Sprachglanz, die Offenheit und die Geschlossenheit, die Lebensangst und die Schreibtherapie, der Besitz und der Bezug, die Verfestigung und die Verwandlung, die akustische Vagheit und die visuelle Deutlichkeit, das Fragment und das vollkommene „Kunstding“, der Prozess und die Figur, die Sprache und das Schweigen, die Konvention und die kritische Moderne), dass all diese thematischen und strukturellen Oppositionen nur Varianten sind der für Rilke als grundsätzlich erlebten und beschriebenen Paradoxie von Leben und Kunst, der bohrenden Lebensfrage und der Notwendigkeit einer anderen (sprich: ästhetischen) Auslegung der Wirklichkeit. Klaus Dieter Post 102 Das, so meine ich, hat Rilke geleistet, freilich nicht in der simplen Aufhebung der Oppositionen, sondern in dem je neuen Versuch, die (wie Rilke meinte) unsagbare Dimension unserer Wirklichkeit im Akt eines ästhetischen Trotzdems zur Sprache zu bringen und Grenzerfahrungen poetisch zu artikulieren. Nur so ist auch „unser Eigenstes“ wiederzuentdecken. Malte artikuliert es, quasi als Verständnishilfe für die Neuen Gedichte, in eindringlichen Worten: […] aber ist es nicht gerade unser Eigenstes, wovon wir am wenigsten wissen? Manchmal denke ich mir, wie der Himmel entstanden ist und der Tod: dadurch daß wir unser Kostbarstes von uns fortgerückt haben, weil noch so viel anderes zu tun war vorher und weil es bei uns Beschäftigten nicht in Sicherheit war. Nun sind Zeiten darüber vergangen, und wir haben uns an Geringeres gewöhnt. Wir erkennen unser Eigentum nicht mehr und entsetzen uns vor seiner äußersten Großheit. Kann das nicht sein? (III, 571) Malte/ Rilkes Ausgangspunkt ist die Klage über den Verlust einer menschlichen Mitte, die er als „unser Kostbarstes“ als „unser Eigentum“ deklariert, welches im Prozess von Verlust und Verdrängung seine Dimension verändert hat und zum Großen, Entsetzlichen, Fremden und Unsagbaren geworden ist. Mit der Einsicht in diesen Verlust, dieser Mutation des Eigenen zum Entsetzlichen, verbindet sich für Malte wie für Rilke der Auftrag zur schreibenden, geistig literarischen Rückgewinnung des verlorenen Terrains im Sinne eines neuen Schauens, einer neuen Wahrnehmung der durch unser ordnendes Geschäftigsein entstellten und entrückten Welt. Nach der Selbst- und Weltgewissheit des Frühwerks ringt Rilke sich durch zu ethischer wie ästhetischer Neuorientierung. Deshalb die bewusste Etikettierung des „Neuen“ in den beiden großen Zyklen der Neuen Gedichte, die er jetzt in Angriff nehmen wird. Dieses „Neue“ beschreibt eine grundsätzlich andere Erfahrung. Die beiden Zyklen entstanden in den Jahren 1903 bis 1908 größtenteils in Paris. Er war aus Worpswede nach Paris gekommen, um eine Monographie über den französischen Bildhauer August Rodin zu verfassen. 5 Selbst auf der Suche nach Grundregeln seines Schreibens fand er in Rodin die Antwort auf die eigenen drängenden Fragen. Fasziniert vom Arbeitsethos seines Meisters und von der ästhetischen Konturiertheit und Geschlossenheit der Rodinschen Kunstformen, durchlief Rilke an seinem Vorbild eine strenge Schule des Sehens. Für ihn war es der Weg vom Fühlen zum Sehen, von Blindheit und Vagheit zur klaren Kontur. Aus dem Inneren wurde ein Äußeres, aus der Tiefe eine klar strukturierte Oberfläche, auf der alles Innere und Vage seinen festen, sichtbaren Ort zugewiesen bekam. Die feste Oberfläche und die Gestalt- und Dinghaftigkeit der Objekte wurden für Rilke zum Maß, wurden zur Antwort auf die Frage nach den adäquaten Mitteln, den rechten Gegenständen seiner Kunst. Hier, im Bereich des Ästhetischen, war eine erste Antwort gefunden. Das berühmte Panther-Gedicht, drei Monate nach seiner Ankunft in Paris geschrieben, ist in seiner rigorosen Tendenz, alles Innere nur von 5 Rilke wurde 1902 von dem Breslauer Kunsthistoriker Richard Muther beauftragt, eine Monographie über August Rodin zu schreiben. Diese Monographie entstand in nur wenigen Wochen im Herbst 1902 während seines ersten Paris-Aufenthalts. Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 103 der charakteristischen äußeren Gestalt herzuleiten, ein erstes beredtes Beispiel für Rilkes innovative Technik: Der Panther Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nicht mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf - . Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille - und hört im Herzen auf zu sein. (I, 469) Freilich waren in der formalen Meisterhaftigkeit dieser Zeilen nicht alle krisenhaften Fragen beantwortet, zumal der so perfekt konstruierte Text inhaltlich geradezu das Gegenteil abbildet: den Verlust der eigenen Möglichkeiten und die Krisenerfahrung innerer wie äußerer Gefangenschaft. Rilke steht im Banne des einen wie des anderen. Das verstörende Erlebnis der Großstadt bewegte ihn nicht weniger als die Frage nach den Mitteln der Kunst. Die unmittelbaren Eindrücke blieben als höchst problematische Erfahrungen stets die dunkle Folie vor der befreienden Einsicht in eine neue Kunst. Erst der Malte-Roman wird sich ganz bewusst auf das problematisch dunkle Thema einlassen. Das geschah parallel zur Konzipierung des zweiten Zyklus der Neuen Gedichte. Beide Vorgänge sind beispielhaft für die Tendenz bei Rilke, unterschiedliche Perspektiven parallel zu führen, die Vollkommenheit und Geschlossenheit der Neuen Gedichte und die ratlose Offenheit und Fragmenthaftigkeit des Malte- Romans. Die Antwort kehrt zur Frage zurück und beide bleiben im Gesamtwerk im spannungsvollen Bezug zueinander. Darin wohl, nicht aber in der Geschlossenheit der Einzeltexte und Zyklen, liegt der Ansatz zur (sprachkritischen) Moderne in Rilkes Poesie. Nun ist es wiederum fragwürdig, eine einheitliche Perspektive in den Neuen Gedichten festzuschreiben, denn auf den Einfluss Rodins folgte der von Cézanne. Die Deutlichkeit und Deutbarkeit der Rodinschen Kunst, ihr großes, selbstbewusstes Gleichgewicht, wurden Rilke angesichts der neuen Kunsterfahrungen höchst suspekt. Mit Cézanne brach der Konflikt zwischen Kunst und Leben neu auf. Es ging ihm nicht mehr darum, den Sinnbildcharakter seiner Kunstobjekte zu betonen und die Balance von Kunst und Leben herzustellen. Cézanne, so verstand ihn Rilke zumindest, gab der Dingwelt ihr Geheimnis zurück, das Unsagbare, Fremde, Unzerstörbare. Er nahm den Dingen ihre eindeutigen, vom Menschen festgeschriebenen Klaus Dieter Post 104 Bedeutungen ab, lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Mittel der Kunst, auf Farbe, Fläche, Raum, um in dieser unbedingten (oft besessenen) Konzentration auf den Arbeitsprozess der unverständlichen Wirklichkeit in immer neuen Ansätzen ein Stück näher zu kommen. Dazu war unbedingte Hingabe erforderlich, das Vertrauen auf die Künstlerexistenz als einzig möglicher Lebensform. Rilke identifizierte sich ohne Vorbehalt mit dieser Existenzform. Seine so genannten Briefe über Cézanne, (IV, 594-636), im Herbst 1907 unter dem unmittelbaren Eindruck der Pariser Gedächtnisausstellung 6 verfasst und an Clara Rilke gerichtet, können als neue Grundlage seiner Ästhetik verstanden werden. Rodin steht im Hintergrund des ersten Teils der Neuen Gedichte, Cézanne hat erst auf den zweiten Teil wirken können im Sinne einer Radikalisierung von Rodins künstlerischem Credo. Unter dem Einfluss Cézannes erhält Rilkes Gedicht seine sehr eigene Kontur. Rilke selbst spricht vom „sachlichen Sagen“ und meint damit einen komplexen Zusammenhang: Konzentration auf das je bedeutsam werdende Objekt (das Ding), Reflexion der Wahrnehmung (im Sinne der Befreiung von erlernten Wahrnehmungsschemata) und schließlich Einbezug der aus der Wahrnehmung sich ergebenden inneren Reaktion des Dichters. Aus all diesem ergibt sich der Impuls zum Schreiben, ergibt sich der Duktus seines Schreibens. Ausgangspunkt ist der Akt des Sehens, die geistige Aneignung der Welt durch das Auge. Kein anderes Motiv in Rilkes Werk hat eine so dominierende Stellung wie das Auge, der Blick, das Gesicht, die Sehkraft. Nicht nur im Sinne der Rezeption, sondern gleichermaßen im Sinne produktiver Gestaltung. Das Auge nimmt wahr, erkennt, gestaltet. Es ist Sinnesorgan und Sinngebungsorgan. Es ist für Rilke Grundlage physiologischer, reflexiv-theoretischer und ethisch-ästhetischer Prozesse. Es ist das Organ, das die Frage stellt und im schöpferischen Prozess auch die Antwort gibt, es ist im Sinne von Malte Laurids Brigge der Ausgangspunkt der Existenzangst und kreatives Organ der Bewältigung dieser Ängste. „Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.“ (III, 457) So einer der ersten Sätze Maltes. Das Sehen als Aufnehmen der Welt und als Eingriff in die Welt. Der Blick auf die Welt weckt innere Stimmen, die im Prozess der ästhetischen Wiedergabe des Erschauten die Linie des sachlichen Sagens ergänzen und überlagern durch die Linie des neuen Erlebens, Erahnens, Gestaltens. Das Ding und das wahrnehmende dichterische Ich treten in einen Dialog, der die vereinbarte alte Wahrnehmung aufhebt und im poetischen Prozess eine neue an ihre Stelle setzt. Im Brief an Clara Rilke vom 8.3.1907 beschreibt Rilke diesen Akt des Anschauens als Grundlage seiner Poetik der Neuen Gedichte: […] Das Anschauen ist eine so wunderbare Sache, von der wir so wenig wissen; wir sind mit ihm ganz nach außen gekehrt, aber gerade wenn wirs am meisten sind, scheinen in uns Dinge vor sich zu gehen, die auf das Unbeobachtetsein sehnsüchtig gewartet haben, 6 Paul Cezanne starb im Jahre 1906. Bereits im drauffolgenden Jahr war eine Retrospektive im Pariser Salon d’Automne zu sehen. Rilke besuchte im Oktober 1907 sehr häufig diese Ausstellung. Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 105 und während sie sich, intakt und seltsam anonym, in uns vollziehen, ohne uns, - wächst in dem Gegenstand draußen ihre Bedeutung heran, ein überzeugender, starker, - ihr einzig möglicher Name, in dem wir das Geschehnis in unserem Innern selig und ehrerbietig erkennen, ohne selbst daran heranzureichen, es nur ganz leise, ganz von fern, unter den Zeichen eines eben noch fremden und schon im nächsten Augenblick aufs neue entfremdeten Dinges begreifend -.[…] 7 Der Gegenstand der Anschauung behält in diesem Sinne zwar seine feste äußere Kontur (Rilke erkennt Cézannes letzte Konsequenz der Abstraktion nicht an), doch ist damit nicht das Abbild einer äußeren Erscheinungswelt gemeint. Durch die Fixierung auf den Gegenstand kommt eine innere Bewegung in Gang, die dem jeweiligen Objekt der Betrachtung eine neue Dimension verleiht im Sinne einer Verwandlung und Entdinglichung. Die Dinge werden aus ihrer räumlichen Statik und Fixiertheit befreit, werden zurückgeholt in den offenen Raum von Verfremdung, Dynamisierung und Verwandlung. Mit dem so veränderten Blick wächst eine neue Erkenntnis heran, die das Dinggedicht in seiner formalästhetischen Genese zu beschreiben bemüht ist. Dabei ist am Gedicht ein doppelter Vorgang zu beobachten: der der allmählichen Verwandlung des Gegenstands durch sein Angeschautwerden und zugleich der der Verwandlung des Schauenden (ob als Dichter oder als Leser) durch den dynamischen Vorgang von Wahrnehmung und ästhetischer Projektion. „Du musst dein Leben ändern“ heißt es in der Schlusszeile des zweiten Apollo-Sonetts (I, 513). In dieser Aufforderung zur Verwandlung haben wohl alle Rilkeschen Gedichte (im besonderer Weise die Neuen Gedichte) ihre gemeinsame Mitte. Bevor Rilkes Texte selbst sprechen werden, seien hier noch grob und umrisshaft einige Bemerkungen zu Dichtungsprinzipien, zu Technik und Struktur der Neuen Gedichte vorangestellt. Sie sollen als Leitlinien dienen für die Erarbeitung der Beispieltexte. In einem seiner Sonette an Orpheus gibt Rilke dem Leser, neben einer erneuten Aufforderung zur Verwandlung, Hilfestellung in der Bezeichnung der charakteristischen Konturen, Strukturelementen und Schaltstellen seiner Gedichtkonstitution: Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt; jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt. (II, 263) Rilke versammelt in diesem Sonett (im Modus der Anweisung) alle Elemente seiner Lebens- und Dichtungslehre. Sie sind der Schlüssel für die Sonette an Orpheus und rückwirkend zugleich ein Rahmenschema für die Neuen Gedichte. Es geht um den Prozess der Verwandlung, um den zu leistenden Entwurf. Voraussetzung dazu ist der „Schwung der Figur“ und der „wendende Punkt“. Alle diese Elemente beschreiben Bewegungsprozesse und sind doch zugleich identifizierbare Komponenten der Struktur. Bleiben wir beim „wendenden Punkt“. Er ist das Grundelement der Neuen 7 Rainer Maria Rilke, Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907, hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Leipzig 1930, S. 214. Klaus Dieter Post 106 Gedichte schlechthin. In ihm übersetzt sich alles Statische in einen dynamischen Prozess: als Inversion, als Umschlag, als Übergang oder Verwandlung. 8 Er steht für das Werden, das Öffnen, die Befreiung, die Läuterung, die Steigerung des Daseins. Im Kontext der Lyrik steht er für den prägnanten Augenblick, (wobei Augenblick im Rilkeschen Verständnis wortwörtlich zu nehmen ist), er steht im Sinne des Erkenntnisvorgangs für das Begreifen, den Durchbruch zur Wirklichkeit und im Sinne des Sichtbarwerdens einer Wahrheit gar für Epiphanie. Er steht als vollkommen andere Auffassung der Dinge für den Moment des Gelingens: „[…] und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen, / wie sie vielleicht nur Vögel kennen…“ (I, 286) oder er steht für das Scheitern aller Bemühungen: „[…] Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille/ sich lautlos auf - . Dann geht ein Bild hinein, / geht durch der Glieder angespannte Stille/ und hört im Herzen auf zu sein.“ (I, 469) Ob Scheitern oder Gelingen, Rilkes Texte sprechen immer über Grenzerfahrungen. Der „wendende Punkt“ ist das Zeichen des Eintritts in diesen Grenzbereich und, weiterführend, der Moment des Grenzübertritts. Modellhaft kann es etwa am Gedicht Der Schwan aufgezeigt werden. Hier ist der „wendende Punkt“ die geometrische Mitte des Gedichts, der Augenblick, in dem der Schwan die Grenze zwischen Land und Wasser erreicht hat und aus dem Zustand des Unbeholfen-Ungetanen hinüber gleitet in den Zustand der Sicherheit, Mündigkeit und Gelassenheit. Der Schwan Diese Mühsal, durch noch Ungetanes schwer und wie gebunden hinzugehn, gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes. Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn, seinem ängstlichen Sich-Niederlassen - : in die Wasser, die ihn sanft empfangen und die sich, wie glücklich und vergangen, unter ihm zurückziehn, Flut um Flut; während er unendlich still und sicher immer mündiger und königlicher und gelassener zu ziehn geruht. (I, 473) Mit der für Rilke charakteristischen Figur des metaphorischen Vergleichs führt er hier zwei Bereiche zusammen, die transitorische Bewegung des Schwans und das Zusichselbstkommen des Menschen im Tode. Der „wendende Punkt“ ist der Augenblick der Grenzüberschreitung, der Mündigkeit und Gelassenheit in einer neuen Existenz, des Auslöschens der Frage in der Antwort. Das Wasser nimmt den Schwan, das Leben nimmt den Tod in sich auf. 8 Siehe zu diesem Kontext besonders die Studie von Judith Ryan, Umschlag und Verwandlung. Poetische Struktur und Dichtungstheorie in Rainer Maria Rilkes Lyrik der mittleren Periode (1907-1914). München 1972. Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 107 Dieses Schema ist, zugegebenermaßen, provozierend einfach. Aber ich habe schon darauf verwiesen, dass es im Bereich der Neuen Gedichte jene Gegentexte gibt, die die Frage aushalten. So endet Der Auszug des verlorenen Sohnes trotz des Wendepunkts, der im Auszug liegt, in der verstörenden Frage nach dem „Wohin“ und „Warum“. Und der klagende Christus im Ölbaum-Garten (also im Wendepunkt seines Daseins) stellt in seiner Einsamkeit und Preisgegebenheit Gott und seine Heilsverheißung in Frage. Der entwerfende und wohl auch gestaltende Geist, den Rilke im zitierten Sonett an Orpheus anspricht, sieht im „wendenden Punkt“ die Engführung dessen, was zuvor als „Schwung der Figur“ Erwähnung fand. In dieser Etikettierung des Entwurfs kommt zweierlei zur Sprache: eine lebendige Bewegung und eine räumliche Konstellation. Rilke nennt es Figur und meint damit die Übersetzung einer Bewegungslinie in eine sprachliche Textur, in eine bildhafte Kontur, etwa im Sinne des Kreises, der Ellipse, der Fontäne. 9 Alle diese Bilder sind Variationen des Schemas von Frage und Antwort, Suche und Ziel, Klage und Rühmung, Entwurf und Ankunft, Aufbruch und Rückkehr. Der Verwandlungsvorgang stellt sich dar als Kreisfigur, als in sich zurückfallende Bewegungslinie, die in ihrer Ausweitung und Rückkehr Intensivierung und Steigerung abbildet. Die Fontäne, beliebtes Objekt poetischer Imagination, nicht nur bei Rilke, bietet sich an als Muster eines solchen Kreises. Schon beim frühen Rilke taucht dieses Bild auf: Träume, die in deinen Tiefen wallen, aus dem Dunkel laß sie alle los. Wie Fontänen sind sie, und sie fallen lichter und in Liederintervallen ihren Schalen wieder in den Schoß. […] (I, 72) Die Kreisbewegung, die diese Strophe vollführt, spiegelt gleichsam die Genese des Gedichts und wird darin zum poetischen Erkenntnisakt. Dieser Erkenntnisakt gibt sich als sprachlich bildhafte Linie, als Figuration zu erkennen. Die Neuen Gedichte behalten dieses schon früh bei Rilke erkennbare Schema bei, verändern den Vorgang nur im Sinne des sachlichen Sagens, der formalen Präzisierung und Visualisierung der vom Ding hergeleiteten Wandlungsprozesse. Es ist einleuchtend, dass dieser Prozess der Präzisierung und Wandlung im Sonett seine Ausdrucksform gefunden hat. Die Figur erhält im Sonett die ihr gemäße Form, das Ding wird übersetzt in eine nach strengem Reglement geordnete geistige Bewegung. Ja, die Sonettform ist indirekt der formale Nachweis dafür, dass es in Rilkes Dinggedichten nicht um unpersönliche, episch-objektive Beschreibungen von Gestalten, Ereignissen, Gegenständen geht, sondern um die Projektion geistiger wie kinetischer Prozesse in eine adäquate Sprachform. Rilke beherrscht diese Form vir- 9 Zum Kontext von Rilkes Poetik der Figur siehe in besonderer Weise: Beda Allemann, Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichts. Pfullingen 1961 sowie Peter Por, Die orphische Figur. Zur Poetik des Raumes in Rilkes „Neuen Gedichten“, Heidelberg 1997. Klaus Dieter Post 108 tuos, trägt auf der anderen Seite auch keine Bedenken, mit ihr zu spielen, sie seinen eigenen Forderungen anzupassen. In unserem Textbeispiel wird darauf zu verweisen sein. Nun sind nicht alle Text der Neuen Gedichte Sonette. Wir finden ein breites Spektrum an Vers-, Strophen- und Gedichtformen, von Texten aus knappen, gereimten Vierzeilern bis zu weit gespannten, ungereimten Erzählgedichten. Doch ist, bei aller Verschiedenheit der Form, das Schema von visueller Fixierung, drängender innerer wie äußerer Bewegung mit der Tendenz zu Durchbruch und Verwandlung bei gleichzeitiger formaler Straffung und Bändigung des Inhaltlichen das verbindende Merkmal aller Texte, ob sie lyrischen oder epischen Mustern folgen. Auch das breite Spektrum der Themen findet bei aller Vielfalt sein gemeinsames Prinzip in der Gleichzeitigkeit von zielgerichteter Bewegung und fester Kontur. Der thematisch auffälligste Bereich ist gebunden an Personen und Gestalten, etwa aus der Religionsgeschichte, der Mythengeschichte, der Weltgeschichte. Die Reihe beginnt im wörtlichen Sinne mit Adam und Eva und endet mit Portraits von Zeitgenossen Rilkes (wie etwa dem der Eleonora Duse). Was in diesen Texten zurückgebunden ist an die Charakteristika der jeweiligen Person und von daher oft anekdotenhaft sich in das bezeichnete Handlungsschema übersetzt, das kommt in einer zweiten Gruppe, die Ereignisse fokussiert, als unmittelbare Bewegung/ Verwandlung zum Ausdruck (etwa in Motiven wie Entführung, Auszug, Opfer, Begegnung, Versuchung, Berufung, Beschwörung). Dann sind da Texte, die den zeitlichen Moment der Wende ansprechen, zumeist schon im Titel (Spätherbst in Venedig, Vor dem Sommerregen, Letzter Abend, Vor-Ostern) oder auch den Ort ins Zentrum rücken, an dem die Wende geschieht. Deshalb die vielen, oft titelmäßigen Benennungen von Städten, Landschaften, Plätzen, Gärten, Inseln, Bergen, Baulichkeiten, Grabmälern. Der „wendende Punkt“ ist hier zurückgebunden an eine räumliche Konstellationen. Rilkes Paris-Erfahrungen zudem, verbunden mit dem Einfluss des Symbolismus, bringen Motive des Kranken, Ausgestoßenen, Gefangenen, Hässlichen in den Zusammenhang der Zyklen mit ein. Diesem Bereich verbunden ist Rilkes zentrale Thematik des Todes und der Klage und zugleich der stete Rückbezug aller Themen auf den Bereich von Kunst, Poetologie, Dichtung. Das Geschlechterthema sollte zudem nicht übersehen werden, etwa in der Ausprägung der vielen Mädchen- und Frauenfiguren (nicht nur) in seinen Gedichten. Angesichts dieser Bestandsaufnahme scheinen die Dinggedichte selbst nicht die Silhouette der beiden Zyklen zu bestimmen. Und doch sind gerade sie, oder auch ihre Varianten als Tier- und Pflanzengedichte, die Schnittstellen aller skizzierten Themen und Motive. Gemeint sind Objekte wie Karussell, Schale, Schrein, Spitze, Wappen, Uhr, Karren, Bett und Ball, Tiere wie Panther, Gazelle, Einhorn, Schwan, Flamingo, Delphin, Katze und Hund, Blumen wie Hortensie, Mohn und Heliotrop. Sie sind alle Abbilder von Bewegung und Verwandlung und zugleich sinnliche Äquivalente einer inneren Einsicht, gegenständliche Entsprechungen innerer Wahrnehmungen des Dichters. (T.S. Eliot wird ein paar Jahre später im Rahmen der anglo- Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 109 amerikanischen Literaturbewegung des „imagism“ vom „objective correlate“ sprechen). 10 Im „Kunstding“ überlagern sich innere und äußere Wahrnehmung als unterschiedliche Konturen der Mitteilung. Dabei verliert das nur Subjektive der Wahrnehmung seine vom Frühwerk her bekannte Dimension. Es geht auf in der Kontur des sachlichen Sagens und behält dennoch seine Gewichtung als das Eigene des Gegenstandes, als das Eigene des wahrnehmenden Ichs. Der Prozess der Überlagerung ist in diesem Sinne ein Erkenntnisprozess, ein Zugewinn an Einsicht, die sich aus der schrittweisen Genese des Textes ergibt. Das zu beschreibende Ding verliert im Vorgang der Verwandlung seine Schwere, wird offen für den Bereich des Fremden und Unsagbaren, der zugleich sein ureigenster Bereich ist. Rilke selbst hat diese Dingkonstitution und ihre Konsequenz etwa in seiner Spanischen Trilogie beschrieben: […] aus nichts als mir und dem, was ich nicht kenn, das Ding zu machen, Herr Herr Herr, das Ding, das welthaft-irdisch wie ein Meteor in seiner Schwere nur die Summe Flugs zusammennimmt: nichts wiegend als die Ankunft. […] (II, 43) Wir wollen annehmen, dass diese Verse, im Rückblick auf die Neuen Gedichte nur wenige Jahre nach deren Erscheinen verfasst, Rilkes Poetik des Dinggedichts auf eine kurze (wenn auch komplexe) Formel gebracht haben. Und wir wollen zudem annehmen, dass jeder Einzeltext dieser beiden Zyklen (ob er Gestalten, Ereignisse, Dinge, Orte oder prägnante Momente beschreibt) nur wegen dieses Verwandlungsprozesses (oder eben auch wegen der beklagten Unmöglichkeit der Verwandlung) geschrieben wurde. Vor diesem Hintergrund können wir getrost einen Einzeltext aus der Summe der Gedichte herausgreifen, um an ihm exemplarisch den beschriebenen Prozess der Wahrnehmung und Verwandlung und damit den Vorgang der Dingkonstitution in seiner phänomenologischen wie ästhetischen Komponente aufzuzeigen. Die Wahl fällt auf den Ball, einen der letzten Texte des zweiten Zyklus, den Rilke im Gespräch mit Elisabeth von Schmidt-Pauli als seinen besten ausgab. Dieses Gedicht beschreibt den komplexen Vorgang der Dingkonstitution an einem denkbar einfachen Beispiel: 11 Der Ball Du Runder, der das Warme aus zwei Händen im Fliegen, oben, fortgiebt, sorglos wie sein Eigenes; was in den Gegenständen nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie, 10 Siehe in diesem Zusammenhang den Beitrag von Wolfgang G. Müller zu Rilkes Neuen Gedichten, in: Manfred Engel (Hrsg.), Rilke-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart 2004, S. 297f. und S. 302. 11 Elisabeth von Schmidt-Pauli, Rainer Maria Rilke. Ein Gedenkbuch, Lorch/ Württ., Stuttgart 1946, S. 20. Klaus Dieter Post 110 zu wenig Ding und doch noch Ding genug, um nicht aus allem draußen Aufgereihten unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten: das glitt in dich, du zwischen Fall und Flug noch Unentschlossener: der, wenn er steigt, als hätte er ihn mit hinaufgehoben, den Wurf entführt und freiläßt - , und sich neigt und einhält und den Spielenden von oben auf einmal eine neue Stelle zeigt, sie ordnend wie zu einer Tanzfigur, um dann, erwartet und erwünscht von allen, rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur, dem Becher hoher Hände zuzufallen. (I, 583f.) Als Einstieg in die Interpretation könnten wir die zuvor erwähnte physikalischkinetische Formel der Spanischen Trilogie wieder aufnehmen und (quasi spielerisch) für das Ding X die Größe „Ball“ einsetzen. „…aus nichts als mir und dem, was ich nicht kenn, den Ball zu machen…, der welthaft-irdisch wie ein Meteor / in seiner Schwere nur die Summe Flugs / zusammennimmt: nichts wiegend als die Ankunft“. Wem diese Intertextualität zu schwergewichtig erscheint, der sei, vorausschauend, darauf verwiesen, dass Rilke, in einer späten Variation seines Ballgedichts, genau dieses tut: nämlich die Intensivierung des Bildes durch die Metapher des Meteors. „Aus deinen Händen tritt / das Meteor und rast in seine Räume…“ (II, 196). Rilke gibt, so müssen wir folgern, seinem auf den ersten Blick harmlosen Requisit eine geradezu kosmische Bedeutung. Aus dem Ball wird eine sphärische Lichterscheinung, die wiederum ihren Ursprung in einem physikalisch-chemischen Verwandlungsprozess hat. In dieser Verbindung von schlichtem Requisit und seiner das Sagbare transzendierenden Bedeutung liegt der Schlüssel zum Verständnis von Rilkes Neuen Gedichten. Sie sind alle Beispiele eines an Rodin und Cézanne erlernten neuen Sehens, ästhetische Prozesse der Verwandlung der Dinge in das, was Rilke später den „Weltinnenraum“ nennen wird. Die Gipfelzeile unseres Beispieltextes vom Ball spricht von der „neue(n) Stelle“, die im Vorgang der Beschreibung des physikalischen wie poetischen Aktes erreicht worden ist. Die neue Stelle als räumliche und zeitliche Fixierung eines neuen Verstehens, bewirkt durch ein neues Sehen, das sich in den Neuen Gedichten artikuliert. Der Ball steht prototypisch für alle Dinge, Gestalten und Vorgänge, die das Spektrum der beiden Zyklen bestimmen. Er ist beispielhaft Ding, ein kugelförmiges Spielzeug. Außerdem ist er mit dem ersten Wort des Textes („Du“) zum menschlichen Mitspieler erklärt, ist also Gestalt, Person der Handlung. Recht eigentlich aber ist er in der Flugbahn, die er beschreibt, Vorgang und Ereignis der Wandlung selbst. In diesem Sinne ist er Requisit und Prozess zugleich. Käte Hamburger sieht darin geradezu das Thema des Gedichts: „Wie im Geworfenwerdenkönnen des Balls das Ballspiel impliziert ist, wie das Wesen Ball, das noch nicht dadurch bestimmt ist, daß Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 111 er rund ist, sich erst im Ballspiel offenbart - dies ist das Thema des Gedichts.“ 12 Rilke selbst kommentiert seinen Ball-Text mit folgenden Worten: „Da habe ich gar nichts als das fast Unaussprechbare einer reinen Bewegung ausgesprochen“. 13 Dabei geht es Rilke wohl nicht um eine physikalisch-kinetische Größe, sondern um den Übersetzungsprozess des fixierbaren, statischen Gegenstands in eine neue, ihm eigene Modifikation. Gewonnen wird damit „das fast Unaussprechbare“. Dennoch ist das eine nicht vom anderen zu trennen. „Das fast Unaussprechbare“ gibt sich strukturell als Figuration, als eine (um den Moment der prägnanten Verzögerung erweiterte) Kreisbewegung zu erkennen, formal-poetisch als ein (um diesen Moment der Verzögerung erweitertes) Sonett. Die Stufen der Entwicklung, oder nennen wir es genauer: die Strategie des Gedichtes, ist etwa folgendermaßen zu beschreiben: Die poetische Konzeption des Vorgangs setzt an (das sei vorausgesetzt) mit dem Modus der Frage, die eine Antwort erhofft, mit der methodischen Vorgabe des Experiments und der Hypothese, die es im Folgenden (sprich: im Gedicht) zu belegen gilt. Charakteristisch für diese Ausgangssituation ist der Entwurf, das Initiieren und Auslösen eines Prozesses im Reagenzglas des Gedichts. Der Ball ist, etwa wie eine Angel oder ein Fischernetz, ausgeworfen worden. Was erwünscht und erwartete wird, ist seine Rückkehr im Sinne einer qualitativen Veränderung der Perspektive. Ein Fang soll im Netz sein, eine Antwort soll sich einstellen auf die implizite Frage. Auf den Entwurf folgt das Beschreiben der Flugbahn, wobei in der Form von Kommentierung und Reflexion die Modalitäten, die Voraussetzungen deutlich gemacht werden. Die Ebenen von Ding und Gedicht, von Du und Wir verschiebt sich dabei zusehends, bis im Vorgang des unvermittelten wie unsichtbaren Eingleitens das Zenith und der Wendepunkt der Bewegung von Flug zu Fall erreicht ist. Und damit auch der Moment der Freisetzung des Balls, des Wurfs, des Gedichts. Es löst sich aus der alten Wahrnehmung der Dinge, setzt sie frei zu einem neuem Sehen. Das geschieht sprunghaft „plötzlich“ (ein für Rilke charakteristisches Zeitadverb). Und doch hat dieser Moment im Gedicht keine punktuelle Dimension, sondern wird als Vorgang des Aufschubs, der Verzögerung, des Einhaltens und sich Neigens geschildert. Rilke scheint die Notwendigkeit der Verzögerung und des Aufschubs so sehr betonen zu wollen, dass er die feste Form des Sonetts aufbricht zugunsten eines dritten Terzetts, welches die Zeitspanne der Verzögerung fokussiert. Im Moment des Innehaltens findet der Perspektivwechsel statt. Aus dem Objekt des Bewegungsvorgangs wird das Subjekt eines Erkenntnisprozesses und aus den Initiatoren der Aktion (den Spielenden) werden die Empfänger einer Botschaft. Das Ding verwandelt sich im Augenblick der Inversion zur zeigenden und weisenden Instanz, welche in ihrem Blick von oben die Spielenden unten neu ordnet. Sie werden zum Kunstding der „Tanzfigur“ und sind darin Ausdruck ihres veränderten Lebens wie auch Ausdruck der neuen Kunst, die diese Veränderung bewirkt hat. 12 Käte Hamburger, Rilke. Eine Einführung. Stuttgart 1976, S. 32. 13 Siehe Elisabeth von Schmidt-Pauli, S. 20. Klaus Dieter Post 112 Quod erat demonstrandum. Der Fang ist im Netz, das Gedicht kann seinen Kreis zu Ende bringen. Der Ball fällt zurück in die Hände der Spielenden. Er tut es „rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur“, verwandelt sich bei Ankunft also ganz zurück in seine Modifikation des Ausgangs. Oder eben nicht: wir haben noch die letzten Zeilen aus Rilkes Spanischer Trilogie im Ohr, wo vom Ding gesagt wird, dass es „in seiner Schwere nur die Summe Flugs/ zusammennimmt: nichts wiegend als die Ankunft“. Diese veränderte Ankunft war erwünscht und geplant. Die Schwere des Objekts hat sich in der Flugbahn des Gedichts in die Leichtigkeit der neuen Erkenntnis/ des neuen Zustands verwandelt. Ist das geschehen, dann kann das Objekt in seinen Ausgangszustand zurückfallen, den „Schalen wieder in den Schoß“ fallen, wie es im frühen Fontänen-Text hieß. Mit welchen sprachlichen Mitteln vermittelt Rilke diesen Vorgang von Entwurf, Verwandlung und Demonstration? Diverse Sprach- und Ausdrucksebenen überlagern sich in seinem Gedicht. Sie bezeichnen die unterschiedlichen Prozesse, die gleichzeitig im Gedicht ablaufen. Den beschreibenden und den kommentierenden, die „Mitteilungslinie und die Gemütslinie“, 14 die ästhetische Absicht und die experimentell wissenschaftliche, die hermeneutische wie die phänomenologische. Um es noch einmal und einfacher zu sagen: Rilkes Strategie geht aus vom fixierten Objekt der Außenwelt, erweitert sich in der Beschreibung und Reflexion der Wahrnehmung und übersetzt sich und das Ding im Augenblick der Inversion in die ästhetische Dimension der „Tanzfigur“, die ihrerseits den Vorgang des neuen Verstehens erst möglich macht. Dieses Schauen der Tanzfigur ist, sozusagen, das Dritte in einer Welt, die nach binären Schemata eingerichtet ist. Rilke breitet ein Netzwerk an Doppelaspekten über seinen Text, um im räumlichen-zeitlichen oder auch geistig-argumentativen Bewegungsspiel der Gegenbilder das Ungesagte (fast) Unsagbare dennoch erscheinen zu lassen. Seine Textwelt ist konstruiert nach binären Paaren wie alt/ neu, vorher/ nachher, Abflug/ Ankunft, Aufstieg/ Fall, oben/ unten, ich/ du, Subjekt/ Objekt, Eigenes/ Fremdes, Verlust/ Gewinn, warm/ kühl, Zeit/ Raum, Wunsch/ Erfüllung, Natur/ Kunst, Ding/ Entdinglichung, Spiel/ Ernst, Bewegung/ Konstellation, freilassen/ fixieren. Man könnte die Liste fortsetzen. Alle binären Positionen sind Spielelemente eines Metatexts, der im „wendenden Punkt“ gipfelt und sich im anschließenden Gestus des Neigens und Zeigens als Verkündigung eines neuen Ordnungsschemas zu erkennen gibt. Nur dort, wo das Leiden überhand nimmt, in der Welt der Ausgestoßenen, Verzweifelten, Abgestorbenen, wird das Schema der Ästhetisierung durchbrochen. Doch selbst ein Gedicht wie Morgue hält immer noch fest an der Form des Sonetts. Nicht etwa, wie man vermuten könnte, im Sinne des ironischen Infragestellens der festen Kontur. Rilke war kein Ironiker. Für ihn war der Auftrag der Dichtung (er beschreibt sie immer wieder als „Daseinsleistung“) kein Unternehmen, das in Zweifel zu ziehen war. Und selbst sein Wissen um die Lebensangst, um die Bruchstellen 14 Der Jugendstilkünstler Henry van de Velde hatte dieses Begriffspaar in seinem Aufsatz Die Linie (1910) geprägt (zitiert nach Manfred Engel, Rilke-Handbuch, S. 522.) Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 113 und Abgründe des Daseins (wie er sie im Malte-Roman mit außergewöhnlicher Deutlichkeit hervorhebt) vermag dem Schreibtrieb in den Neuen Gedichten und allen folgenden Zyklen keinen Abbruch zu tun. Das Schreiben wird zur Therapie, produziert die Antworten auf die fundamentalen Fragen und Beunruhigungen. In diesem Sinne sind die Neuen Gedichte ein Buch der Antworten und ein Plädoyer für den Dichter, der diese Antworten produziert. 189mal setzt er an zu seinen Entwürfen. Man ist geneigt zu fragen, was hinter dieser Insistenz steckt. Sicherlich nicht allein die Lust am ästhetischen Spiel, an der eigenen Virtuosität der sprachlichen und klanglichen Mittel. Hinter dem Sprachglanz steckt auch die eigene Not und Einsamkeit. Sie sind Symptome seiner Sprach- und Existenzkrise, die ihn in besonderer Weise in den Pariser Jahren (also in der Zeit der Entstehung der Neuen Gedichte) heimsuchte. Die Begegnung mit den bildenden Künsten war in dieser Situation eine Erlösung aus den bedrängenden Ängsten. Hier war alle Innenwelt auf eine helle Oberfläche projiziert. Das Große, Unsagbare war mit den Händen zu ertasten, mit den Augen zu (be-)greifen. Für Rilke lag damals die Antwort auf seine Fragen im Wiederentdecken seines Augensinns, in rezeptiver wie in geistig-produktiver Weise. Und wie sein Vorbild Cézanne immer wieder das Bergmassiv Sainte Victoire malte, um den unbegreiflichen Gegenstand dennoch zu begreifen, so begann Rilke, die Gestalten und Objekte seiner Welt ins Auge zu fassen und Bild nach Bild auf die ihm eigene Leinwand zu bannen. Was entstand, waren Texte, die bis heute ihren Glanz, ihre sprachliche Kraft und Gültigkeit nicht verloren haben. Das, meine ich, ist der Antwortcharakter dieser Gedichte. Dennoch blieb die Frage bestehen und wehrte sich gegen die Figurationen der Neuen Gedichte. Vielleicht liegt heute gerade darin eine neue Gültigkeit seiner Texte. Werfen wir einen kleinen Seitenblick auf sein berühmtes Gedicht vom Karussell (I, 490f.), in dem er, so will es mir scheinen, das breite Spektrum der Neuen Gedichte wie in einem Brennpunkt versammelt hat. Da ist die Rotation, die immer neue Kreisbewegung. Und da ist das Inventar der visuellen Welt als Ort und Requisit, als Tier und Mensch und auch als abstrakter Farbwert. Alles in ständig kreisender Wiederkehr, im stets neuen Blick auf das Andere (den weißen Elefanten), und alles im Wendepunkt von Kindheit zum Erwachsenwerden. Das Karussell als integratives Motiv der Neuen Gedichte, als sachliches Sagen des Unaussprechbaren. - Und dann das Unerwartete und Befremdende. Der lapidare Kommentar der letzten beiden Zeilen, wo vom Blenden und Verschwenden die Rede ist, vom „atemlose(n) blinde(n) Spiel“ (I, 491) des so aufwendig geschilderten Kunstdings. Rilke reagiert hier skeptisch auf die eigenen Kunstwelten. Zumindest was die Macht des Dichters betrifft, die Dinge über den ästhetischen Prozess der Entdinglichung zum Sprechen zu bringen. Zwar wissen wir, dass Rilke die Regie nie aus der Hand gegeben hat (die Inszenierungen der Orpheus- und Engeltexte im Februar 1922 auf Château de Muzot sind dafür eine klare Manifestation, selbst wenn die neuen Mythen ihr Eigengewicht erhalten), aber dennoch tritt nach der Periode der Neuen Gedichte die Zuversicht in die eigenen Mittel und Fähigkeiten immer mehr Klaus Dieter Post 114 zurück, werden die Fragen immer dringlicher. 15 In seinen Auftaktgedichten zu den Elegien und Sonetten nimmt er 15 Jahre später das Motiv des Ballspiels als Metapher für den schöpferischen Akt wieder auf, um das Sujet in einem entscheidenden Punkte zu verändern. Der Dichter ist nicht mehr der Initiator der Aktion. Die Genese des poetischen Textes unterliegt nicht mehr seiner Verfügungsgewalt: Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn -; erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles, den eine ewige Mit-Spielerin dir zuwarf, deiner Mitte, in genau gekonntem Schwung, in einem jener Bögen aus Gottes großem Brücken-Bau: erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, - nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest, nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest und schon geworfen hättest….. (wie das Jahr die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme, die eine ältre einer jungen Wärme hinüberschleudert über Meere -) erst in diesem Wagnis spielst du gültig mit. Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt das Meteor und rast in seine Räume… (II, 195 f.) Die Bedingungen des Gelingens eines gültigen Textes haben sich grundlegend verändert. Das Kreisschema von Entwerfen und Gestalten, von Subjekt und Objekt, von Frage und Antwort wird aufgebrochen. Das Spiel unterliegt neuen Regeln. Die unbekannte Mit-Spielerin lenkt den Flug der Bälle und fordert vom Dichter das Wagnis des Mitspielens, ohne den Plan zu kennen, ohne ihn zu reflektieren. Erst unter diesen Bedingungen (sie werden Schritt auf Schritt entwickelt) ist der schöpferische Akt von Gültigkeit. Aber auch das gilt nur insoweit, als dass der kosmische Ball am Ende nicht dauerhaft die Erde beleuchtet, sondern in die ihm eigenen, fremden Räume „rast“. Aber immerhin ist es Sprache, die das Spiel gestaltet, Worte und „Bögen aus Gottes großem Brückenbau“. Zwar verfügt der Dichter nicht mehr über sie, aber als „scripteur“ erfüllt er noch den Plan der fremden Mit-Spielerin. Diese ewige Mit-Spielerin (in den Sonetten an Orpheus erscheint sie noch im vertraut mythischen Kostüm, in den Duineser Elegien bereits als die Instanz jenseits aller gedeuteten Welt), diese ewige Mit-Spielerin unterbricht zwar die Kreisbewegung des virtuosen, vom Dichter gelenken Ballspiels, sie bleibt aber immer noch eine Projektion der mythenbildenden Phantasie eben dieses Dichters. Rilke schließt sich erst da dem Paradigmenwechsel einer sprachkritischen Moderne an, wo er bereit ist, dieses letzte Gehöft von Deutung und Bedeutung aufzugeben und der Sprache als verfüh- 15 Zum Umkreis der späten Gedichte siehe Ulrich Fülleborn: Das Strukturproblem der späten Lyrik Rilkes. Voruntersuchung zu einem historischen Rilke-Verständnis. Heidelberg 1973. Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 115 rerischem Mittel der Figuration und Verwandlung abzusagen. Er hat diese „Inversion der Inversion“ beispielhaft in ein Wort verwandelt, das kein Wort mehr ist, sondern nur noch ein Dröhnen, bezeichnet mit der Buchstabenfolge g-o-n-g. Gong Nicht mehr für Ohren…: Klang, der, wie ein tieferes Ohr, uns, scheinbar Hörende, hört. Umkehr der Räume. Entwurf innerer Welten im Frein…, Tempel vor ihrer Geburt, Lösung, gesättigt mit schwer löslichen Göttern…: Gong! Summe des Schweigenden, das sich zu sich selber bekennt, brausende Einkehr in sich dessen, das in sich verstummt, Dauer, aus Ablauf gepreßt, um-gegossener Stern…: Gong! Du, die man niemals vergißt, die sich gebar im Verlust, nichtmehr begriffenes Fest, Wein an unsichtbarem Mund, Sturm in der Säule, die trägt, Wanderers Sturz in den Weg, unser, an Alles, Verrat…: Gong! (II, 396) In diesen Versen, die den bewegenden Schlusston bilden (eben nicht das Schlusswort) einer lebenslangen Arbeit an der Sprache, in ebendiesen Versen klingt etwas, oder sagen wir genauer, klingt jemand an, der 45 Jahre zeitversetzt auf den Spuren Rilkes weitergehen wird. Er wird, zugeben unter viel gravierenderen historischen Erfahrungen, Rilkes Metapher vom „umgegossenen Stern“, seinen Vorsatz zur „Umkehr der Räume“, sein Gebot zu verstummen, seiner Kritik an der Sprache als „Verrat“ an allem, er wird diese Umkehr aller Positionen geradezu zur Leitlinie seiner eigenen Poetik machen. Und er wird es tun, indem er Rilkes Prozess der Metamorphose der Sprache weiter radikalisiert. Paul Celan, der hier gemeint ist, soll uns abschließend Zeuge sein für das Weiterwirken ästhetischer, ethischer wie existentieller Anstöße, die das Werk Rilkes gegeben hat. Die Belege für die Wirkung Rilkes auf Celan müssen hier nicht zusammengetragen werden. Die Forschung hat das bereits getan. Wir können uns informieren. 16 Was, in einem letzten Perspektivwechsel, nur bemerkenswert und 16 Zu nennen wären hier etwa die folgenden Aufsätze: Ulrich Fülleborn, Rilke und Celan, in: Ingeborg H. Solbrig und Joachim W. Storck (Hrsg.), Rilke heute, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1975, S. 49-70 und James K. Lyon, Rilke und Celan, in: Amy D. Colin, Argumentum e Silentio, Berlin 1987, S. 199-213. Klaus Dieter Post 116 beschreibenswert erscheint, ist die Analogie (und mitzudenkende Verschiedenheit) in grundlegenden Strukturen und Themen. Es fällt auf, dass in Celans Zyklus Die Niemandsrose (ein Sprachbild, das zweifelsohne in Abhängigkeit steht zu Rilkes Rosenmetapher und speziell zu seinem selbstbestimmten Grabspruch) ein überraschend deutliches Pendant zu Rilkes Dinggedicht Der Ball erscheint, wobei die Motivik, die Figuration, die formal-lyrische Strategie fast identisch sind: Ein Wurfholz Ein Wurfholz, auf Atemwegen, so wanderts, das Flügelmächtige, das Wahre. Auf Sternen- Bahnen, von Welten- Splittern geküsst, von Zeit- Körnern genarbt, von Zeitstaub, mit verwaisend mit euch, Lapilli, verzwergt, verwinzigt, vernichtet verbracht und verworfen, sich selber der Reim, - so kommt es geflogen, so kommts wieder und heim, einen Herzschlag, ein Tausendjahr lang innezuhalten als einziger Zeiger im Rund, das eine Seele, das seine Seele beschrieb, das eine Seele beziffert. 17 Die Rilkeschen Zeichen sind alle beisammen, dazu seine lyrische Strategie: Ent-Wurf des Flugobjekts im physikalischen wie sprachlichen Sinne, Hervorhebung der Nähe zum Bezeichneten, Ausweitung, Raumreise, Berührung und Verlust, Umkehr, Wendepunkt, Innehalten, prägnanter Augenblick, Verwandlung des Vorgangs in eine Kreisfigur (hier als Scheibe, als Ziffernblatt erkennbar) und schließlich Konzentration alles Gesagten auf den Zeigemodus und dabei Freisetzung zu neuem Sehen. In der Rückkehr des Objekts ist das Gedicht zu sich selbst gekommen, verweist auf das Unsagbare. Hier wie dort stellt es sich dar als Ereignis, als Inversion, als poetische 17 Paul Celan, Die Niemandsrose. Vorstufen. Textgenese. Endfassungen. Bearbeitet von Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf. In: Paul Celan, Werke, Tübinger Ausgabe, hrsg. von Jürgen Wertheimer, Frankfurt a.M. 1996, S. 87. Rainer Maria Rilke Neue Gedichte 117 Figur. Hier wie dort der überdeutliche poetologische Bezug, etwa im Sinne der Beschreibung der Flugbahn (d.h. der Emazipation, der Rückkehr, der Wirkung) der eigenen Texte. Und dennoch ist Celans Ent-Wurf der Gegenwurf zu Rilkes Kunstästhetik - in Szene gesetzt, um die Nähe und zugleich auch den Abstand zum Autor der Neuen Gedichte zu markieren. Rilkes ästhetische Strategien werden überlagert vom historischen Bewusstsein eines Paul Celan. An der Figuration des Kreises ist das aufzeigbar. Celans Rede vom Meridian fasst dieses neue Bewusstsein in Worte: Ich finde etwas - wie die Sprache - Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei - heitererweise - sogar die Tropen Durchkreuzendes - : ich finde …. einen Meridian. 18 Dieser Meridian ist die Radikalisierung aller Rilkeschen Visionen und Entwürfe. Seine Zirkelbewegung führt über die Pole, durch den Kälteschock aller historischen Erfahrung, durch den Widerruf aller inspirativen Poetik. Im Text vom Wurfholz ist diese Schockerfahrung nicht nur in die Abbrüche der Verse transponiert, sondern schägt sich nieder in der Absage an alle Sternenbahnen der Sprache. Was ihr widerfährt im Durchgang durch die Pole, ist ihre Verwaisung, Verzwergung, Vernichtung. Verbraucht und verworfen, so im fast biblischen Ton ihr heilloser Zustand. Das Wort kommt zu nichts als zu sich selbst, nur sich selbst der Reim. Doch liegt in dieser radikalen In-Frage-Stellung von Kunst und Sprache ihre mögliche Atemwende, ihr mögliches Immernoch, ihre Chance, neu zu „beziffern“, wie es in der letzten Zeile des Texts vom Wurfholz heißt. 19 Was bedeutet nun all dies für Rilke und seine Neuen Gedichte und speziell für seinen Text vom Ball? Wir erkennen aus der Weiterführung der bei Rilke begonnenen Linie ihre Schwäche und zugleich ihr Potential. Seine am Anfang zitierte Frage nach der Möglichkeit des Erkennens übersetzt er in die „Tanzfiguren“ seiner Neuen Gedichte, wobei er, zumindest inhaltlich, ihr mögliches Scheitern oder Misslingen mit einbezieht. Paul Celan, so wird uns berichtet 20 , hat sich in seiner Jugend in ganz besonderer Weise mit einem dieser Texte des Scheiterns identifiziert, mit dem Gedicht vom Ölbaum-Garten. Gerade in diesem Text klingt sie an, die Klage über die Verlorenheit und Ausgeschlossenheit; sie wird hörbar, die verstörende Kritik an der 18 Paul Celan, Der Meridian. Endfassung - Entwürfe - Materialien, hrsg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull. In: Paul Celan, Werke, Tübinger Ausgabe, hrsg. von Jürgen Wertheimer, Frankfurt a.M. 1999, S. 12. 19 Wie sehr sich Celan bei vergleichbarer lyrischer Strategie dennoch von Rilkes ästhetischem Standort entfernt, ist aus der Aufgipfelung seines Texts erkennbar. Metaphern wie Ziffer und Zeiger verweisen auf den Bezug zu Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ und stellen darin alle (nicht nur ästhetischen) Erlösungsstrategien radikal in Frage. (Siehe hierzu auch Barbara Wiedemanns Kommentar in: Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M. 2003, S. 695.) 20 Zitiert nach John Felstiner, Paul Celan. Eine Biographie, München 1997, S. 32. Klaus Dieter Post 118 religiösen wie ästhetischen Verheißung. Der Stern der Sprache ist verloschen. Das Unaussprechbare ereignet sich nicht mehr in der Magie der poetischen Rede, es scheint nur auf an den Bruchstellen unseres Misslingens und setzt einen radikalen Neuanfang voraus: den umgegossenen Stern. Hier, in dieser kühnen Metapher, finden die Gestalten und Ereignisse der Neuen Gedichte einen letzten Zielpunkt, der nicht mehr zu überschreiten war. Schweigen war die Konsequenz. Von dieser „Summe des Schweigenden“ her wird eine neue Generation von Dichtern ihren Ausgang nehmen. Celan war uns Kronzeuge dafür, dass Rilke in diesem Sinne weiterwirkt. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Rilke, Rainer Maria: - Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl (Hgg.). Bd. 3. Frankfurt, 1996. - Briefe aus den Jahren 1906 bis 1907. Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber (Hgg.). Leipzig, 1930. Celan, Paul: - „Der Meridian. Endfassung - Entwürfe - Materialien“. In: Bernhard Böschenstein und Heino Schmull (Hgg.): Paul Celan, Werke, Tübinger Ausgabe. Frankfurt, 1999. - Die Niemandsrose. Vorstufen. Textgenese. Endfassungen. Bearbeitet von Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf. In: Jürgen Werheimer (Hg.): Paul Celan, Werke, Tübinger Ausgabe. Frankfurt a.M. 1996. Forschungsliteratur: Allemann, Beda: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichts. Pfullingen, 1961. Berendt, Hans: Rainer Maria Rilkes „Neue Gedichte“. Versuch einer Deutung. Bonn, 1957. Blume, Bernhard: Ding und Ich in Rilkes „Neuen Gedichten“. In: MLN 67, 1952. 217-224. Böckmann, Paul: Der Strukturwandel in der modernen Lyrik in Rilkes „Neuen Gedichten“. In: WW 12, 1962. 336-354. Bradley, Brigitte L.: Rainer Maria Rilkes „Neue Gedichte“. Ihr zyklisches Gefüge . Bern, 1967. Dies.: Rainer Maria Rilkes „Der Neuen Gedichte anderer Teil“. Entwicklungsstufen seiner Pariser Lyrik. Bern, 1976. 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Form, Inhalt und Entstehungsgeschichte der Werke Joyces sind in weit größerem Maße als bei anderen Autoren miteinander vernetzt, stellen Fortschritte, Weiterentwicklungen, Mikroevolutionen dar, dokumentieren Stadien auf dem Weg oder auf der Suche nach der richtigen Ausdrucksform des literarischen Kunstwerks. A Portrait of the Artist 1 erscheint im Jahre 1916, Joyce schreibt unter den fertigen Roman den Zeitraum 1904-1914 als Entstehungszeit des Romans fest und löst damit sein Versprechen aus dem Jahre 1904 ein, er werde innerhalb von zehn Jahren einen Roman vorlegen. Der Roman geht hervor aus einer 1904 entstandenen essayistischen Skizze mit dem Titel „A Portrait of the Artist“, die heute als „Ur-Portrait“ bekannt ist. Dieser Skizze folgt ein im Jahre 1907 bereits auf 1000 Ms-Seiten angewachsener Roman, dessen enthaltene Teile posthum als Stephen Hero veröffentlicht werden. Dieser Text macht eine extreme Verdichtung und Kürzung durch und macht im Portrait nur die letzten achtzig der ungefähr 250 Seiten des Ms. aus. 1 Alle Seitenzahlen in Klammern im laufenden Text beziehen sich auf folgende Ausgabe: James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man. Hg. Jeri Johnson (Oxford: Oxford University Press, 1 2000). Martin Middeke 122 „Ur-Portrait“ Stephen Hero 1914-1915 (in: The Egoist) 1904 1906 1907 1914 1916 A Portrait of the Artist as a Young Man Die Jahre 1904 bis 1916 sehen zur gleichen Zeit das Verfassen der Kurzgeschichtensammlung Dubliners und des Romans Stephen Hero. Joyce arbeitet parallel an verschiedenen Texten und Versionen dieser Texte, tatsächlich fällt die endgültige Fassung der ersten drei Kapitel des Portraits nach mehreren Revisionen in die Zeit der großen, stilistisch reifsten Kurzgeschichte der Dubliners, „The Dead“. Richard Ellmann hat gezeigt, dass Joyce bis 1907 das erste Kapitel des Portrait überarbeitet und bis 1908 weiter daran geschrieben hat, bis die Ablehnung der Veröffentlichung der Dubliners Joyce zunächst entmutigt und zurückwirft. Ein Schüler in der Sprachenschule in Triest, ein Fabrikmanager namens Ettore Schmitz, der unter dem Pseudonym Italo Svevo Romane schreibt, rät ihm zum Weitermachen, wenngleich er das erste Kapitel moniert. Hans Walter Gabler führt in diesem Zusammenhang aus, dass es keine lineare Revision des Stephen-Hero-Manuskriptes gibt, sondern das Portrait das Ergebnis aus einer Serie von Revisionen ist, die ständig neue Phasen erreichen. Gabler zufolge sind diese Revisionen 1911 an einem toten Punkt gelangt: Joyce wirft das gesamte Manuskript ins Feuer und rührt es monatelang nicht mehr an - die Familie Joyces rettet das Manuskript vor den Flammen. Auf Vermittlung von Ezra Pound erscheint es schließlich von 1914 bis 1915 in Abschnitten in der von Harriet Shaw Weaver herausgegebenen Zeitschrift The Egoist. Ebenso wie die Dubliners oder später Ulysses und Finnegans Wake hat auch A Portrait von Beginn an die Meinungen von Lesern und Kritikern polarisiert. Hier seien nur drei kurze Reaktionen genannt, die das Spannungsfeld andeuten: Der anonyme zeitgenössische Rezensent im Irish Book Lover gibt zwar Joyces Talent zu und stellt bei sich selbst eine ‚gewisse Faszination‘ fest, die der Roman auf ihn ausübt, beklagt aber bitter eine Sprache, die „ unprinted in literature since the days of Swift and Sterne“ sei, und gibt zu bedenken, dass „no clean-minded person could possibly allow [A Portrait] to remain within reach of his wife, his sons or daughters“. Selbst noch Dubliners Ulysses Idee zu „Ulysses“ t (veröffentlicht 1922) (veröffentlicht 1914) (veröffentlicht posthum) James Joyce A Portrait of the Artist as a Young Man 123 H.G. Wells wirft Joyce eine, wie er findet, unnötig rauhe, grobe Sprache vor. Ezra Pound hält Wells polemisch entgegen: „Compared to such a soft and false and dangerous book as Ann Veronica, by H.G. Wells, for example, not to speak of similar American trash that reeks and smells of sex, Joyce’s book is bracing and hard and clean.” Joyces Wissen und seine Lektürekenntnisse sind bekanntermaßen enzyklopädisch, deshalb können an dieser Stelle wichtige Intertexte nur genannt und nicht ausführlich kontextuell behandeln werden. Immer wieder hat die Joyce-Forschung verwiesen auf Goethes Wilhelm Meister; Flauberts La tentation de Saint Antoine; Arthur Symons The Symbolist Movement in Literature; Nietzsche, Dante, Ibsen, Hauptmann; Walter Pater; Thomas Hardy. Immer wieder wird das Genre des Bildungsromans genannt, in dem ein sensibler junger Held im Mittelpunkt steht, der mit der äußeren Welt, mit den Werten der Familie in Konflikt gerät und über einen Entwicklungs- und Konfrontationsweg mit der Gesellschaft zur Harmonie mit ihr gebracht und in mehreren, oft qualvollen Initiationsschritten gleichsam zu sich selbst und zu einem Verständnis von sich selbst gebracht wird. Schon seit Dickens’ Great Expectations und später dann besonders im Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts glücken aber dieser teleologisch lineare Bildungsweg und sein ihm zugrundeliegendes Weltbild nicht mehr, und Joyces Portrait steht hier von Beginn an im Kontext des ‚Negativen Bildungsromans‘ und selbstverständlich auch in der Tradition des Künstlerromans und von Texten wie Samuel Butlers The Way of All Flesh, George Moores Confessions of a Young Man; D.H. Lawrences Sons and Lovers. Mit Blick auf die zeitgeschichtlichen Kontexte ist zu Recht darauf verwiesen worden, dass das sich im Nachnamen des Protagonisten im Portrait - Stephen Dedalus - manifestierende Daedalus und Ikarus-Motiv im Dublin der Jahrhundertwende in aller Munde war: Arthur Evans gräbt im Jahre 1900 den Palast von Minos auf Kreta aus und erhält 1901 einen Ehrendoktor am Trinity College. Zugleich muss in diesem Zusammenhang verwiesen werden auf Gabriele D’Annunzios Il fuoco, den Joyce überaus schätzte. Abb. 1: „Daedalus und Ikarus“. Relief Villa Albani, Rom Martin Middeke 124 Wenn wir über Entstehungskontexte von A Portrait of the Artist sprechen, dann können, selbst wenn man nicht zentral eine Argumentation auf ihnen aufbaut, die autobiographischen Züge des Romans nicht unerwähnt bleiben, Hier sei aus einer Unzahl von Einzelheiten nur synekdochisch verwiesen auf Joyces Erfahrungen bei den Jesuiten in Clongowes Wood College und in Belvedere sowie etwa auf die schrecklich demütigenden Umzüge und den erschütternden sozialen Abstieg der Familie Joyce. Abb. 2: Clongowes Wood College, County Kildare II. Handlungsübersicht - Themen Hatten die Dubliners dargelegt, dass das kulturelle wie psychologische Syndrom Irlands darin liegt, dass das Individuum durch Erziehung, Nation, Religion seiner vitalen Lebensenergie beraubt wird, hatten die Geschichten gezeigt, wie sehr menschliches Bewusstsein von der Umwelt geprägt wird, und enthielten die Dubliners in den drei Anfangsgeschichten bereits Momentaufnahmen des Themas, wie sich Kindheit, Jugend und Alter im öffentlichen Leben in Dublin darstellen, so entwickelt A Portrait of the Artist as a Young Man dieses Thema weiter, indem am Beispiel eines einzigen Bewusstseins die Entwicklung vom Kind zum jungen Mann in Irland entworfen wird. Ich kann vorwegnehmen, dass für Stephen Dedalus diese Entwicklung zu sich selbst und zur Kunst bzw. zur Ästhetik bedeutet, die paralysierenden Kräfte Irlands zu verlassen. Nur ein kleiner Blick voraus auf Joyces Ulysses - der Roman, der zeigt, dass nur Reflexion von Lebensumständen einen Weg aus umfassender Lähmung weisen kann - verdeutlicht jedoch, dass man sich äußerlich zwar in ein Exil begeben kann, dass Stephen, Joyce (und vermutlich wir alle) vom kleinstädtisch-bürgerlichen Mief ihres (und unser aller) Dublin, von den Ängsten und Zweifeln der Kindheit und Jugend im Inneren das ganze Leben lang verfolgt werden. Diese Themen kreist Joyce mit seinem Gesamtwerk ein, Metamorphosen gleich entwickelt er sie weiter, deshalb empfiehlt es sich tatsächlich, die Werke Joyces gleichsam ab ovo chronologisch zu lesen. James Joyce A Portrait of the Artist as a Young Man 125 A Portrait of the Artist as a Young Man markiert stilistisch eine Wende in Joyces Erzählstil, die Abkehr der für Stephen Hero und Frühfassungen von „The Sisters“ und „Eveline“ noch charakteristischen auktorialen Erzählweise hin zur frühen Bewusstseinsdarstellung, mit der im Modus der erlebten Rede immer noch erinnernd und damit tendentiell objektivistisch relativierend die subjektive Sicht Stephens wiedergegeben wird. Der Weg hin zum Bewusstseinsroman ist damit vorbereitet. Der Roman beginnt mit Stephens frühester Kindheit, die uns nahe gebracht wird in der Sprache und aus der Perspektive eines Kindes, eines Babys, aus der wir die Eltern, die Gouvernante Dante, seinen Onkel Charles und vom Hörensagen ein kleines Nachbarsmädchen kennenlernen. Der Roman schreitet nach dieser Einleitung fort bis zu Stephens ersten Tagen im Clongowes Wood College, einem Internat in County Kildare. Stephen ist einsam, hat großes Heimweh, und gerade der Eindringlichkeit dieser Passagen kann sich der Leser nur schwer entziehen. Ein Mitschüler stößt ihn in eine Jauchegrube, und der kleine Stephen stellt sich vor, wie er seiner Mutter nach einer Infektion durch das schmutzige, verdorbene Wasser aus dem Krankenlager schreibt, „I am sick. I want to go home. Please come and take me home. I am in the infirmary.“ (19) Die Weihnachtsferien verbringt Stephen zuhause, dort darf er zum ersten Mal am Erwachsenentisch essen, muss aber den bitteren Streit zwischen seinem Vater, der brennender Nationalist ist, und der fanatisch katholischen Gouvernante anhören, er ist zutiefst erschreckt, dass Dante und sein Vater zuletzt weinen. Zurück in Clongowes erfährt Stephen Milde und rücksichtlose Strenge im Umgang mit Unrecht: Er ist der einzige, der er erkennt, dass Lehrer Gleeson einen der Jungen, der Messwein gestohlen und getrunken hat, nur deshalb nicht hart bestraft, weil er ein milder Mensch ist. Father Dolan zeigt ihm das Gegenteil, als er den Lateinunterricht betritt und auf der Suche nach Jungen, an denen er ein Exempel statuieren kann, Stephen auswählt, der nicht arbeitet, weil seine Brille auf der Aschenbahn zerbrochen ist, und ihm mit der Lederknute auf die Hände prügelt: Stephen closed his eyes and held out in the air his trembling hand with the palm upwards. He felt the prefect of studies touch it for a moment at the fingers to straighten it and then the swish of the sleeve of the soutane as the pandybat was lifted to strike. A hot burning stinging tingling blow like the loud crack of a broken stick made his trembling hand crumple together like a leaf in the fire; and at the sound and the pain scalding tears were driven into his eyes. His whole body was shaking with fright, his arm was shaking and his crumpled burning livid hand shook like a loose leaf in the air. A cry sprang to his lips, a prayer to be let off. But though he tears scalded his eyes and his limbs quivered with pain and fright he held back the hot tears and the cry that scalded his throat. - Other hand! Shouted the prefect of studies. (42) Stephen ringt mich sich im Anschluss daran, fühlt sich aber so ungerecht behandelt, dass er sich beim Rektor beschwert und daraufhin - unfreiwilligerweise - von seinen Mitschülern fast wie ein Held gefeiert wird. Der erste Teil des Romans stellt uns die Kraftfelder und zentralen Themen vor, zwischen denen Stephen aufwächst und von denen er geprägt wird: Irischer Nationalimus, Katholizismus. Wir erfahren, was für ein konfliktträchtiges Land Irland ist Martin Middeke 126 in dem Konflikt zwischen irischem Freiheitsstreben und katholischer Strenge. Wir sehen aber auch früh, was für ein sensibles Kind Stephen ist, wie sehr er sich von seiner Familie, von den Mitschülern in seiner Wahrnehmung der Welt unterscheidet, wir sehen vor allem - und viel früher als er selbst -, dass seine Augen die kühl und detailreich beobachtenden Augen einer Künstlersensibilität sind, eines zugleich ebenso mutigen wie ängstlichen, selbstzentrierten Außenseiters. Der zweite Teil des Romans bezieht sich auf den Übergang von Kind zum jugendlichen Stephen und macht einen Zeitsprung über mehrere Jahre. Stephen liest in den Sommerferien zuhause Der Graf von Monte Christo, ist begeistert von den Abenteuern, die sich vor dem inneren Auge seiner Imagination abspielen, hört im gleichen Atemzug aber, dass er nicht nach Clongowes zurückkehren wird und die Familie ein weiteres Mal in ein weiteres, noch schäbigeres Haus umziehen wird. Stephens Erleichterung weicht schnell neuer Bedrückung, weil er weiß, dass der Umzug durch die Schwierigkeiten seines Vaters und zusehends schlimmere Armut motiviert ist. Nach einer Weihnachtsfeier schwärmt Stephen romantisch für das Mädchen Emma und versucht ein Liebesgedicht für sie zu schreiben. Stephen geht nun auf das Belvedere College der Jesuiten in Dublin. Der Roman geht voran, Stephen ist nun ein Teenager, ein erfolgreicher Essayist in der Schule, ein begabter Schauspieler im Schultheater. Wir erleben stationsartig, wie er mit Mitschülern über Tennyson und den von ihm bevorzugten Byron streitet. Wir werden Zeuge, wie er mit seinem Vater nach Cork reist. Dessen Versuche, ihm Rat zu geben, und dessen beständiges nostalgisches Beschwören einer besseren Vergangenheit sind Stephen nachgerade peinlich. In einem alten Anatomiesaal sieht Stephen das Wort „Foetus“ auf einen der Tische geschnitzt und in einem epiphanischen Moment kommt für ihn das Studentenleben in dem Saal zum Leben, er sieht, wie das Wort, das ihn zudem an seine dauerhafte Beschäftigung mit seiner Sexualität erinnert, einst in den Tisch geschnitzt worden ist, und er sinnt darüber nach, dass die Studenten, die damals dort arbeiteten, heute alle tot sind. Er merkt, dass Zeit vergangen und er selbst ein anderer geworden ist. Zurück in Dublin gewinnt Stephen einen Preis für einen Essay, verschwendet das Geld gleichwohl sinnlos für Geschenke an die Familienmitglieder und schämt sich, als das Geld ausgegeben ist und er feststellen muss, dass er damit weder die einstige Grandeur der Familie zurückkaufen kann noch ihn ein einziges Geschenk seiner Familie näher bringt. Einsam und isoliert streift er durch die Dubliner Straßen, gequält von einer Sehnsucht nach Sexualität und Nähe akzeptiert er die Einladung einer Prostituierten. Das zweite Kapitel und der Übergang zwischen Kindheit und Jugend ist gekennzeichnet durch Kontraste: der romanzenhafte, mithin linkische Versuch eines Liebesgedichts steht der handfest prosaischen Begegnung mit der Prostituierten gegenüber; gegen seinen Willen avanciert er einerseits zu einer Art intellektuellem Führer unter seinen gleich alten Mitschülern, andererseits bleibt er ein isolierter Einzelgänger, der mit dem Massengeschmack nichts gemeinsam hat. Einer seiner Aufsätze in der Schule wird von seinem Lehrer als häretisch bezeichnet, der Häretiker verteidigt später den Häretiker, wenn er Byron Tennyson bei weitem vorzieht. Wieder und wieder gerät sein Freiheitsdrang, seine Sensibilität mit der katholischen Doktrin in James Joyce A Portrait of the Artist as a Young Man 127 Konflikt. Stephens Übergang zwischen Kindheit und Jugend findet eine Parallele in einer Reihe von Umzügen und Todesfällen. Sein Onkel Charles stirbt; sein Vater stirbt in dem Maße für ihn, wie er dessen Scheitern und Versagen erkennt; seine Erinnerungen an die Kindheit verblassen in dem Maße wie das Kind Stephen stirbt und ein junger Mann wird. Hin und hergerissen von seinen sexuellen Trieben, Gelüsten und Sehnsüchten muss er erkennen, dass sich zwischen dem, was er fühlt, und dem, was die Kirche oder das Ideal romantischer Liebe lehren, ein Ozean auftut. Seine Entscheidung mit der Prostituierten zu gehen stellt einen entscheidenden Wendepunkt in Stephens Leben dar. Der dritte Teil des Romans lässt uns die Folgen dieser ersten Rebellion Stephens gegen katholische Werte miterleben. Stephen trifft weiter Prostituierte, für ihn beginnt eine Zeit tiefer Verwirrung, Orientierungslosigkeit und spiritueller Lähmung. Ein tiefes Schuldgefühl nagt an ihm, das Gefühl nicht gegen eine, sondern gegen alle Todsünden verstoßen zu haben. Das Fest des heiligen Franz Xaver rückt näher, und Stephen bereitet sich mit den anderen Schülern von Belvedere auf dreitägige Exerzitien vor. Jeder dieser Tage wird begleitet von einer Predigt: die erste handelt von der Unvermeidbarkeit des Jüngsten Gerichts, die zweite über die ungeheueren körperlichen Qualen in der Hölle, die dritte fährt mit der repressiven Beschreibung der Höllenqualen fort und stellt deren schlimmste vor - abgeschnitten, verstoßen, verdammt von Gott zu sein. Ich zitiere eine Passage aus der zweiten Predigt, die den Gestank der Hölle ausmalt: The horror of this strait and dark prison is increased by its awful stench. All the filth of the world, all the offal and scum of the world, we are told, shall run there as to a vast reeking sewer when the terrible conflagration of the last day has purged the world. The brimstone too which burns there in such prodigious quantity fills all hell with its intolerable stench; and the bodies of the damned themselves exhale such a pestilential odour that as saint Bonaventure says, one of them would suffice to infect the whole world. The very air of this world, that pure element, becomes foul and unbreathable when it has been long enclosed. Consider then what must be the foulness of the air of hell. Imagine some foul and putrid corpse that has lain rotting and decomposing in the grave, a jellylike mass of liquid corruption. Imagine such a corpse a prey to flames, devoured by the fire of burning brimstone and giving off dense choking fumes of nauseous loathsome decomposition. And then imagine this sickening stench, multiplied a millionfold again from the millions upon millions of fetid carcasses massed together in the reeking darkness, a huge and rotting human fungus. Imagine all this and you will have some idea of the horror of the stench of hell. (101) Die Predigt ist rhetorisch brilliant, in der Tat gehören die Predigten Father Arnalls zu den großen, berühmten Stellen des Romans, sie arbeiten mit der Imagination der jungen Hörer und treffen gerade deshalb Stephen mitten ins Herz. Stephen glaubt, jedes Wort gelte niemandem außer ihm allein, wacht nachts auf aus Alpträumen und muss sich übergeben vor quälendem Schuldgefühl und tiefer Scham und Angst. Er überwindet sich und geht zur Beichte um den Stein auf seiner Seele los zu werden. Martin Middeke 128 - How long is it since your last confession, my child? - A long time, father. - A month, my child. - Longer, father. - Three months, my child? - Longer, father. - Six months? - Eight months, father. - He had begun. The priest asked: - And what do you remember since that time? - He began to confess his sins: masses missed, prayers not said, lies. - Anything else. My child? - There was no help. He murmured: - I … committed sins of impurity, father. - The priest did not turn his head. - With yourself, my child? - And … with others. - With women, my child? - Yes, father. - Were they married women, my child? - He did not know. His sins trickled from his lips, one by one, trickled in shameful drops from his soul festering and oozed forth, sluggish, filthy. There was no more to tell. He bowed his head, overcome. - The priest was silent. Then he asked: - How old are you, my child? - Sixteen, father. - […] - You are very young, my child, he said, and let me implore of you to give up that sin. It is a terrible sin. It kills the body and it kills the soul. It is the cause of many crimes and misfortunes. Give it up, my child, for God’s sake. […] As long as you commit that sin, my poor child, you will never be worth one farthing to God. (122) Stephen erscheinen die Welt und er selbst einen Moment lang wie neu geboren, aber nichts anderes als die Furcht treibt ihn zurück zur Kirche, was Stephens geradezu fanatische Frömmigkeit, mit der auch der vierte Teil des Romans beginnt, auch nur als ein Durchgangsstadium erscheinen lässt. Mehr und mehr wacht in ihm das alte Streben nach Unabhängigkeit auf. Der vierte Teil führt Stephen und uns zu drei Schlüsselerlebnissen: Zunächst trägt ihm der Schulleiter den Priesterberuf an, Stephen überlegt kurz, erinnert aber charakteristischerweise den abgestandenen Geruch von Clongowes und weiß, dass das nicht seine Berufung sein kann. Auf dem Heimweg sieht er auf der Straße einen blitzsauberen Schrein für die Jungfrau Maria, und noch während er ihn betrachtet bemerkt er den Geruch faulenden Kohls, der aus den Gärten an der Liffey steigt, und in einem weiteren epiphanischen Moment erkennt er, dass seine Seele viel eher diesem Schmutz als der Sauberkeit des Schreins gehört. Wenn er auch dem Körper James Joyce A Portrait of the Artist as a Young Man 129 und dem Körperlichen niemals ganz unreserviert gegenübersteht, weiß er doch, dass seine Gerüche die des Lebens und die vom Leben sind; sein Leben, so erkennt er, wird kein makelloses sein, nichts Steriles, ganz zu schweigen von etwas, das in einem Schrein ausgestellt werden könnte. Zuhause hört er, dass die Familie wieder umzieht, und während sein Vater und ein Lehrer sich wenig später nach der Universität für Stephen erkundigen, geht er am Meer spazieren. Alte Schulkameraden rufen seinen Namen, und er denkt an Daedalus und Ikarus, an den Mythos, sich Flügel zu machen um von seinem Insel- Gefängnis zu entkommen. Stephen sieht sich fliegen und erblickt in der zentralen Epiphanie des Romans ein wunderschönes Mädchen, wie es ins Wasser watet - für Stephen in diesem Moment Inbegriff göttlicher, man muss an dieser Stelle bereits sagen, ästhetisch-sublimer Schönheit und Offenbarung. He was alone. He was unheeded, happy and near to the wild heart of life. […] A girl stood before him in midstream, alone and still, gazing out to sea. She seemed like one whom magic had changed into the likeness of a strange and beautiful seabird. Her long and slender bare legs were delicate as a crane’s and pure save where an emerald trail of seaweed had fashioned itself as a sign upon the flesh. Her thighs, fuller and softhued as ivory, were bared almost to the hips where the white fringes of the drawers were like featherings of soft white down. Her slateblue skirts were kilted boldly about her waist and dovetailed behind her. Her bosom was as a bird’s soft and slight, slight and soft as the breast of some darkplumaged dove. But her long fair hair was girlish: and girlish, and touched with the wonder of mortal beauty, her face. (144) Das Bild ist ein durch und durch ästhetisches: Er schaut die Schönheit des Mädchens an und sein Innerstes fühlt „an outburst of profane joy“ (144): Her image had passed into his soul for ever and no word had broken the holy silence of his ecstasy. Her eyes had called him and his soul had leaped at the cell. To live, to err, to fall, to triumph, to recreate life out of life! A wild angel had appeared to him, the angel of mortal youth and beauty, an envoy from the fair courts of life, the throw open before him in an instant of ecstasy the gates of all the ways of terror and glory. On and on and on and on! (145) Hier geht es nicht nur um die Akzeptanz seiner eigenen Natur: „To live, to err, to fall, to triumph, to recreate life out of life“ - dies ist zugleich die Geburt des Künstlers, der aus dem Leben ästhetisch wieder neues, eben ästhetisches Leben schaffen soll. Aber wie im Mythos muss sich der junge Künstler erst aus seinen Gefängnissen befreien, die Fesseln ablegen: Kirche, Irland, Familie. Für seinen letzten, fünften Teil schreitet der Roman Jahre voraus. Stephen ist an der Universität. Wir begleiten ihn zu Vorlesungen, hören, wie er sich dort langweilt, wie er sich weigert, Petitionen für den Frieden zu unterzeichnen oder sich für die irisch-nationalistische Sache einzusetzen. „Do you know what Ireland is,“ entgegnet er seinem Kommilitonen Davin, der ihn davon zu überzeugen sucht, dass der Nation vor jeder Individualität der Vorzug zu geben sei, „Ireland is the old sow that eats her farrow.“ (171) Er meint damit Parnell, und noch viel mehr als Parnell, er meint eine Nation, die im Zustand umfassender Paralyse alle kreativen Kräfte, allen Wandel im Keim erstickt und deshalb spirituellen Tod bedeutet. Statt sich also die natio- Martin Middeke 130 nalistische Sache zu eigen zu machen, erklärt er seinem Freund Lynch seine ästhetische Theorie, die auf Aristoteles und Thomas von Aquin rekurriert, wobei, wie noch gezeigt werden wird, seine Definition von Mitleid und Furcht, die Unterscheidung von statischer und kinetischer Kunst, sowie die Beschreibung epischer, lyrischer und dramatischer Kunst im Mittelpunkt steht. Zu den Schlussbildern des Romans: Stephen sitzt auf der Treppe zur Bibliothek und schaut mit Sehnsucht den Vögeln in der Luft nach. Er bittet seinen Freund Cranly um ein Gespräch, beide machen einen Spaziergang. Cranly rät ihm zum Kompromiss zwischen Individualität, Nation, Familie und Kirche - Stephen gibt zu, er habe Angst, dass die Kirche doch Recht haben könnte und er in die Hölle gestürzt wird. Er sieht, dass seine Freundschaft zu Cranly zu Ende gehen wird, wenn er Irland verlässt, aber er hat keine Angst vor der Einsamkeit, keine Angst vor dem Alleinsein, vor der Isolation als Preis seiner Unabhängigkeit. Look here, Cranly, he said. You have asked me what I would do and what I would not do. I will tell you what I will do and what I will not do. I will not serve that in which I no longer believe whether it call itself my home, my fatherland, or my church: and I will try to express myself in some mode of like or art as freely as I can and wholly as I can, using for my defence the only arms I allow myself to use - silence, exile, cunning. [Meine Hervorhebung] (208) Non serviam - „ I will not serve” - Der Geist des Ikarus ist gekleidet in die Worte Luzifers, der sich weigert, Gott zu dienen. Long ago I broke off my yoke and tore off my bonds; and said, ‘I will not serve! ’ Indeed, on every high hill and under every spreading tree you lay down as a harlot. [dt. „Denn von jeher hast du dein Joch zerbrochen und deine Bande zerrissen und gesagt: Ich will nicht unterworfen sein! Sondern auf allen hohen Hügeln und unter allen grünen Bäumen triebst du Hurerei.“] (Jeremiah, 2: 20) Es lässt sich auch auf das Diktum „Better to reign in Hell than serve in Heaven“ verweisen, das Satan im zweiten Buch von Miltons Paradise Lost ausspricht: Farewell, happy fields, Where joy for ever dwells! Hail, horrors! hail, Infernal world! and thou, profoundest Hell, Receive thy new possessor - one who brings A mind not to be changed by place or time. The mind is its own place, and in itself Can make a Heaven of Hell, a Hell of Heaven. What matter where, if I be still the same, And what I should be, all but less than he Whom thunder hath made greater? Here at least We shall be free; th’ Almighty hath not built Here for his envy, will not drive us hence: Here we may reign secure; and, in my choice, To reign is worth ambition, though in Hell […]. (John Milton, Paradise Lost, Book II) James Joyce A Portrait of the Artist as a Young Man 131 Der Roman schließt mit einer Reihe von Tagebucheinträgen: Die Mutter hofft, dass er außerhalb von Irland etwas über die Wärme des menschlichen Herzens lernt, er ruft Dädalus an, ihm beizustehen auf dem Weg zu seinem ultimativen künstlerischen Ziel: „Welcome, O life! I go to encounter for the millionth time the reality of experience and to forge in the smithy of my soul the uncreated conscience of my race. “ (213 ) Betrachtet man die fünf Teile des Romans im Überblick, so oszilliert das Geschehen in den erwähnten fünf Teilen des Romans zwischen den Eckpunkten von Stephens (wechselndem) Zuhause, den Schulorten (Clongowes, Belvedere, University College Dublin) und den Orten des städtischen Treibens (National Library, Nighttown etc.) in Dublin. Beschreibt man etwas gerafft diese Orte als polares Spannungsfeld von Privatsphäre und Öffentlichkeit, so wird deutlich, dass der Roman alterierend von zentripetalen und zentrifugalen Kräften charakterisiert ist - analog zu Stephens Konflikt, sich den Konventionen von Kirche, Staat und Familie zu fügen oder sich von ihnen abzulösen. Folgerichtig sind der Eindruck des Gefangenseins und demgegenüber die Vorstellung von Flucht, Ausbruch und Unabhängigkeit durchgängige, zentrale Themen des Romans. Zugleich zieht sich die Idee der Schönheit, der ästhetischen Sensibilität sowie der wachen Imagination wie ein roter Faden durch den Roman. III. Leitmotive - Sprache Richard Ellmann deutet die 5-teilige Handlungsstruktur des Romans als den ästhetischen Reflex einer embryonalen Entwicklung eines Menschen in fünf Stadien: fötale Seele - Emotionalität (Affekte des Herzens) - Sexualität (sexuelle Differenzierung) - Entdeckung des Ziels - Realisierung des Ziels. Sidney Feshbach hat die fünfteilige Struktur des Romans im Kontext der Great Chain of Being interpretiert. Am Beispiel des Schreies, der in jedem der fünf Teile an einem zentralen Moment ausgestoßen wird, und seinen Assoziationen und Funktionen wird gezeigt, dass der Roman als Illustration der Entwicklungsstufen auf der Leiter der Perfektion (bzw. als Parodie derselben) gelesen werden kann. Schrei 1 Schrei 2 Schrei 3 Schrei 4 Schrei 5 S CHMERZ O BSZÖNITÄT R EUE / B UßE E RKENNTNIS S CHÖPFUNG vegetativ animalisch rational intellektgeleitet imaginativ Die Handlungsstruktur des Portrait beschrieb schon H. G. Wells als „a mosaic of jagged fragments“. Joyce verabschiedet sich von der konventionell linearen, kausal strukturierten, sich konsekutiv-teleologisch entfaltenden Erzählstruktur konventioneller Romane. Befreit von der Linearität traditioneller Romane kann dennoch eine Einheit der Handlung erhalten werden durch rigorose Auswahl und die Methode des Nebeneinanders, der Juxtaposition von sich different wiederholenden Motiven und Themenkomplexen, bzw. deren multiperspektivischer Beleuchtung im Fortgang der Martin Middeke 132 Erzähl- und der erzählten Zeit. Die Chronologie der Geschehnisse folgt dem Lebensalter Stephens und beleuchtet dessen Weg, indem sie eine genaue Datierung auf dem Zeitpfeil sowie die Erfahrungen Stephens oft episodenhaft verschleiert. Vom Ende aus betrachtet bedeuten die Episoden Schlüsselerlebnisse, die, weil ihnen oft der Kausalnexus fehlt, einzig zu Spuren werden, zu Gegenständen und Orten der Erinnerung Stephens, deren Chronologie immer wieder durchbrochen wird von Träumen, Tagträumen, visualisierten Wahrnehmungen und Visionen. Alle fünf (! ) Kanäle sinnlicher Wahrnehmung sind adressiert, vielleicht mit besonderer Betonung des Olfaktorischen und des Visuellen. Die einzelnen Kapitel und deren Sinnstruktur werden nicht nur damit zusammengehalten, dass die Wahrnehmung Stephens selbst rückblickend als Korrektiv früherer Meinungen funktioniert oder einst als richtig betrachtete Verhaltensweisen im Moment neuer Reflexion als falsch bewertet werden, sondern es tritt zudem an die Stelle eines z. B. auktorial vermittelnden Erzählers oder einer kausal aufeinander aufbauenden Handlung ein dichtes Netz von Leitmotiven. Diese bilden in ihrer Gesamtheit im Text einerseits sich wiederholende, stabilisierende semantische Anker, andererseits immer nur Wiederholungen mit Differenzen, die das scheinbar Gleiche in neue Bedeutungsspektren aufbrechen, diversifizieren und früheren Bedeutungsebenen entrücken, was besonders in den Sprachspielen im Portrait und dann erst mit Brachialgewalt im Ulysses und in Finnegans Wake zum Tragen kommt. Leitmotive sind der musikalischen Kompositionstechnik entlehnt, insbesondere Richard Wagner nutzte diese Technik intensiv: Joyce wusste und kannte das, nur beiläufig sei erwähnt, dass Stephen und Cranly, als sie zu ihrem letzten Gespräch im Roman aufbrechen, den Vogelruf aus Wagners Siegfried vor sich hin pfeifen (was einerseits metafiktional auf das Kompositionsprinzip der Leitmotivtechnik selbst aufmerksam macht und andererseits das Motiv des Vogels und des Fliegens different wiederholt). Betrachten wir zum besseren Verständnis solcher Leitmotivtechnik die Eröffnungsszene des Romans: Once upon a time and a very good time it was there was a moocow coming down along the road and this moocow that was coming down along the road met a nicens little boy named baby tuckoo. ... His father told him that story: his father looked at him, through a glass: he had a hairy face. He was baby tuckoo. The moocow came down the road where Betty Byrne lived: she sold lemon platt. O, the wild rose blossoms On the little green place. He sang that song. That was his song. O, the green woth botheth. When you wet the bed first it is warm then it gets cold. His mother put on the oilsheet. That had a queer smell. His mother had a nicer smell than his father. She palyed on the piano the sailor’s hornpipe for him to dance. He danced: Tralala lala Tralala tralaladdy James Joyce A Portrait of the Artist as a Young Man 133 Tralala lala Tralala lala. Uncle Charles and Dante clapped. They were older than his father and mother but uncle Charles was older than Dante. Dante had two brushes in her press. The brush with the maroon velvet back was for Micael Davitt and the brush with the green velvet back was for Parnell. Dante gave him a cachou every time he brought her a piece of tissue paper. The Vances lived in number seven. They had a different father and mother. They were Eileen’s father and mother. When they were grown up he was going to marry Eileen. He hid under the table. His mother said: O, Stephen will apologise. Dante said: O, if not, the eagles will come and pull out his eyes. Pull out his Eyes, Apologise, Apologise Pull out his eyes. Apologise, Pull out his eyes, Pull out his eyes, Apologise Die Passage nimmt in nuce die zentralen Themen des Romans bereits motivlich vorweg: Das Motiv des Daedalus/ Ikarus, das Gefangensein, das (schmutzige) Wasser, Gerüche, die Farbsymbolik von rot und grün, das Vogelmotiv und das Augenmotiv sowie die Zentralthemen Strafe, Gewissen und Schuld(gefühl). Joyce differenziert diese Bedeutungsebenen filigran in die verschiedensten Kanäle sinnlicher Wahrnehmung aus. Betrachten wir zur Illustration folgende Stelle: His eyelids trembled as if they felt the vast cyclic movement of the earth and her watchers, trembled as if they felt the strange light of some new world. Glimmering and trembling, trembling and unfolding, a breaking light, an opening flower, it spread in endless succession to itself, breaking in full crimson and unfolding and fading to palest rose, leaf by leaf and wave of light by wave of light, flooding all the heavens with its soft flushes, every flush deeper than other. (145) In der katholischen Liturgie ist Violett/ Purpur die Farbe der Verwandlung und des Übergangs. Joyce wusste jedes Detail solcher metaphorischen Aufladung, wenn er Stephens Hochgefühl als Übergang von Purpur nach Blass-Rosa imaginiert. Statt hier aber eindeutig die Aufhellung der violetten Farbe semantisch festzuschreiben, diversifiziert er solche Semantisierungen, indem er Signifikanten mit multiplen Bedeutungsfacetten versieht, die eindeutige Signifikate in vielschichtige Assoziationsketten auflösen. Dies gilt nun insbesondere für die Entwicklung der Sprache im Portrait. Die ersten Episoden zeigen, dass das kleine Kind sprachliche Zeichen kaum anders als musikalische Tonfolgen auffasst - ein Zustand lustvoll erlebter reiner Signifikanten, die das Kind, wenn es älter wird, erst mit Signifikaten besetzen muss. Sehen wir uns folgende drei Stellen an: Martin Middeke 134 The fellow turned to Simon Moon and said: - We all know why you speak. You are McGlade’s suck. Suck was a queer word … the dirty water went down through the hole in the basin. And when it had all gone down slowly the hole in the basin had made a sound like that: suck. Only louder. (8/ 9) What did that mean, to kiss? You put your face up like that to say goodnight and then his mother put her face down. That was to kiss. His mother put her lips on his cheek; her lips were soft and they wetted his cheek; and they made a tiny little noise: kiss. (11) […] the white look of the lavatory made him feel cold and then hot. There were two cocks that you turned and water came out: cold and hot. He felt cold and then a little hot: and he could see the names printed on the cocks, that was a very queer thing. (9) Naiv-onomatopoetische Versuche einer Interpretation von sprachlicher Sinnkonstitution werden im dritten Beispiel völlig disloziert, denn dort fehlt die lautmalerische Brücke. Wir sehen mit unserer Erfahrung auf die Erfahrung des Kindes, dem die Doppel- oder Mehrdeutigkeit der Signifikanten und die sexuellen Konnotationen gar nicht bewusst sind. Unsere Phantasie spielt mit den Signifikanten jedoch längst weiter und öffnet allen möglichen Signifikaten Tür und Tor, was Stephen erst langsam lernen muss: He kept his hands in the sidepockets of his belted grey suit. That was a belt round his pocket. And belt was also to give a fellow a belt. (6/ 7) Joyce macht sich aus solchem Spielen mit Signifikanten ein nahezu blasphemisches Vergnügen, Leitmotive/ Signifikantenketten werden immer wieder different in neue Zusammenhänge gebracht und damit ihrer konventionellen Kontexte beraubt, eben aber auch diese ihrer Exklusivität. So pervertiert das Ritual der Züchtigungsszene in Teil 1 - „Stephen closed his eyes and held out in the air his trembling hand“ - die Eucharistie, über die es vormals lautete: „on the day when he made his first holy communion in the chapel he had shut his eyes and opened his mouth and put out his tongue a little“ (39). Beides erscheint als durch die Juxtaposition seiner Aura beraubtes, entwertetes Ritual, eine leere Gewohnheit. Nur ist es nicht mehr die Holzkohle des Weihrauchs, die brennt und vom Weihrauch zischt, sondern Stephens Hände, die vor Schmerz zu brennen und zu zischen scheinen. Dieses Verfahren des Sprachspiels zieht sich leitmotivisch durch den Roman, und insbesondere in den Passagen, in denen er politisch auf die Nationalsprache Irlands rekurriert, wird deutlich, dass Joyce eine tiefe Einsicht in den Sachverhalt hatte, dass jede Sprache dem Individuum ihre Regeln und Konventionen aufzwingt. Dass Joyce Stephen in dem Projekt, sich von allen Fesseln zu befreien und keiner Konvention zu Dienste zu sein, auch von der Sprache und der Eindeutigkeit abtrennt und diese in Myriaden von Möglichkeiten aufsplittert, erscheint nur zu folgerichtig. James Joyce A Portrait of the Artist as a Young Man 135 IV. Ästhetik Die kreative Umdeutung von tradierten Bedeutungszusammenhängen beeinflusst auch den von Stephen entwickelten, im Großteil auf Thomas von Aquin zurückgehenden Ästhetik-Entwurf im Portrait. Stephen bezieht sich auf drei zentrale Prämissen bei Thomas von Aquin: a) Die Kunst ist eine durch den formalen Rhythmus der Schönheit erzeugte stasis. b) Kunst und Schönheit sind, vom Guten und Bösen verschieden, mit der Wahrheit verwandt; wenn die Wahrheit am besten durch den Verstand erfasst werden kann, dann lässt sich die Schönheit also am besten durch die drei Schritte der Wahrnehmung erfassen. c) Die drei Eigenschaften der Schönheit, die den drei Schritten der Wahrnehmung entsprechen, sind, in der Terminologie Thomas von Aquins, integritas, consonatia, claritas. • Integritas ist Ganzheit - ein Ding. • Consonatia ist Harmonie - ein DING. • Claritas ist Ausstrahlung - das Ding. Am Beispiel der Tragödie zeigt Stephen (seinen Mitstudenten) auf, dass Mitleiden das hehre Gefühl ist, das uns gefangen nimmt, weil wir das Konstante am menschlichen Leid erfassen und das uns eins werden lässt mit dem Leidenden, dem Leid und der verborgenen Ursache - wir erreichen dadurch einen Zustand der Ruhe, und die tragische Empfindung ist, weil sie in sich ruht, STATISCH . Von dieser großen, hohen, eigentlichen statischen Kunst setzt er die uneigentliche KINETISCHE ab, die nicht Ruhe sondern entweder Verlangen oder Abscheu produziert. „Desire urges us to possess, to go to something; loathing urges us to abandon, to go from something. These are kinetic emotions. The arts which excite them, pornographical or didactic, are therefore improper arts. The esthetic emotion (I use the general term) is therefore static. The mind is arrested and raised above desire and loathing “ . (172) Mit der thomistischen Doktrin deckt sich auch die Bewertung des Schönen: obschon ein und derselbe Gegenstand nicht allen Menschen schön erscheinen mag, ist es dennoch so, dass alle Menschen, die einen schönen Gegenstand bewundern, in ihm bestimmte Relationen finden, die sie befriedigen und die mit den verschiedenen Stadien jeglicher ästhetischer Wahrnehmung selber zusammenfallen. Dies stimmt mit Thomas von Aquins Auffassung überein, der meinte, dass, „da das Wahre in dem Maße im Verstande ruht, wie er mit dem erkannten Objekt übereinstimmt, die Idee des Wahren notwendig vom Verstand in das Objekt des Verstandes übergehen muss, so dass das erkannte Ding wahr genannt werden kann, insofern es mit dem Verstand übereinstimmt.“ Einerseits erhält Stephens Kunsttheorie durch den thomistischen Rahmen Halt und Norm - andererseits säkularisiert Joyce die aquinische Lehre konsequent, indem er die moralischen Verpflichtungen des Künstlers natürlich ebenso ausklammert wie eine scholastische Interpretation des richtigen Maßes als Abbild göttlicher Ordnung. Martin Middeke 136 Joyce braucht Maß, Wahrheit liegt in der Übereinstimmung von Verstand und Objekt. So kann Joyce psychologische Wertmaßstäbe von Kunst rechtfertigen - und er kann sich dem Vorwurf, sich in konsequenzloser l’art pour l’art zu erschöpfen entziehen. Die Washeit eines Dinges zu wahrzunehmen, seine claritas oder, wie Joyce modifizierte, seine quidditas, stellt höchste Wahrheit dar, höchste Erkenntnis. Einzig im epiphanischen Moment können Verstand und Objekt eine Einheit bilden, eine momentane Einheit in einem ästhetischen Augenblick, die Erscheinung einer „jähen geistigen Manifestation“, wie es im Stephen Hero heißt, die uns die Seele des Anderen (ob Person oder Gegenstand) erkennen lässt. V. … Am Anfang war das Wort, und das Wort ist nicht bei Gott … Das Prinzip der Wiederholung mit Differenzen, das den einzelnen Signifikanten, das einzelne Motiv, die einzelne Phrase, den Rhythmus, den Aufbau und die Struktur bzw. das freie Wiederholen verschiedenster Intertexte mit einschließt, wie auch die Reflexion thomistischer Positionen deutlich machte, betont, dass der von Joyce durchreflektierte Prozess des Signifikationsvorgangs tatsächlich niemals abschließbar ist. So wird deutlich: Am Anfang ist das Wort, und das Wort ist nicht bei Gott. God was God’s name just as his name was Stephen. Dieu was the French for God and that was God’s name too; and when anyone prayed to God and said Dieu then God knew at once that it was a French person that was praying. But though there were different names for God in all the different languages in the world and God understood what all the people who prayed said in their different languages still God remained always the same God and God’s real name was God. (13) Joyce zerstört solche Gewissheiten. Schon das Portrait und die unzähligen Echos neuer Bedeutungszusammenhänge dekonstruieren die Idee des Zusammenhangs, der Identität, des logozentrischen Ideals des Ankommens auf der Suche nach der eigenen Identität durch Sprache. Vielmehr stellt sich die Sprache für Joyce als ein unerschöpfbares Potential fließender Signifikanten heraus, die konventionelle Rahmen in den kreativen Fluxus unendlicher Kombinationsmöglichkeiten auflösen. Beginnen wir ganz am Anfang, dann können wir schon dem Titel nicht trauen: „A Portrait of the Artist as a Young Man“ - ist mit „a“ die thomistische Idee von integritas = Ganzheit = EIN Ding gemeint? Kommen Objekt und reflektierender Verstand zuletzt zusammen? „A Portrait of the Artist“ --was meint das „of“? Ein Portrait des Künstlers? Die Akzentuierung „A Portrait of the Artist as a Young Man“ zeigt zumindest das Durchgangsstadium des Porträts im Zeitstrom auf. Und vom Ende aus betrachtet: Was ist gewonnen, was erkennt Stephen, was ist das Authentische, das er schafft? Stephen muss Irland verlassen, um das irische Gewissen zu kreieren: „to forge in the smithy of my soul the uncreated conscience of my race.“ (213) Joyce war so klug, mit diesem Wortspiel den Roman zu schließen, denn „ to forge “ bedeutet im Englischen sowohl „schmieden“, „zu einer Form hämmern/ schlagen“ als auch „fälschen“. Stephen ist sich dieser Ambivalenz gar nicht bewusst, aber die Erzählung in erinnernder erlebter Rede weiß das, Joyce weiß das, wir wissen es. Joyce hat ein le- James Joyce A Portrait of the Artist as a Young Man 137 bendiges, assoziationsreiches, ehrliches, an Stellen auch ironisches Portrait von Stephen geschaffen: A portrait - eine (! ) im Sinne Aristoteles veritable Möglichkeit dessen‚ was sein kann, das Als-Ob einer Fiktion und keine Autobiographie - eine konstantem Werden, dem Fluss und der Quelle allen Seins geschuldete genuine Fälschung des (eigenen) Lebens - die Vitalität der Differenz, der infiniten Kombinationsmöglichkeiten und die Freiheit des Spiels und im Spiel, das sind die Flügel des Ikarus bei Joyce. Und Joyce hat darin selbst-bewusst seine Einsicht, wenn er augenzwinkernd Stephen zuletzt den alten Vater Dädalus anrufen und den Triumph der Kunst beschwören lässt: „Old father, old artificer, stand me now and ever in good stead.“ (213) Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Joyce, James: - A Portrait of the Artist as a Young Man. Hg. Jeri Johnson. Oxford: Oxford University Press, 2000. - A Portrait of the Artist as a Young Man. Hgg. John Paul Riquelme und Hans Walter Gabler. Norton Critical Editions. New York: W. W. Norton & Co., 2007. Forschungsliteratur: Attridge, Derek: The Cambridge Companion to James Joyce. Cambridge: Cambridge University Press, 1990. Ders.: Joyce Effects. Cambridge: Cambridge University Press, 2000. Bowen, Zack/ James F. Carens (Hgg.): A Companion to Joyce Studies. Westport, Conn./ London: Greenwood Press, 1984. Ellmann, Richard: James Joyce. Oxford/ New York: Oxford University Press, 1959. Feshbach, Sidney: „ A Slow and Dark Birth: A Study of the Organisation of A Portrait of the Artist as a Young Man “ . James Joyce Quarterly 4 (1967): 289-300. Gabler, Hans Walter: „ Towards a Critical Text of James Joyce’s A Portrait of the Artist as a Young Man “ , Studies in Bibliography 27 (1974): 1-53. Ders.: „ The Seven Lost Years of A Portrait of the Artist as a Young Man “ , in: Staley, Thomas F./ Bernard Benstock (Hgg.) Approaches to Joyces ‚Portrait‘: Ten Essays. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1976. 25-60. Kenner, Hugh: Dublin’s Joyce. Bloomington, Ind.: Indiana University Press, 1956. Multhaup, Uwe: James Joyce. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980. Noon, William T.: Joyce and Aquinas. Baltimore, Md.: Johns Hopkins University Press, 1957. Reichert, Klaus (Hg.): Materialien zu James Joyces „ Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975. Martin Middeke 138 Senn, Fritz: Nichts gegen Joyce. Aufsätze 1959-1983. Zürich: Haffmans, 1991. Staley, Thomas F./ Bernard Benstock (Hgg.): Approaches to Joyces ‚Portrait‘: Ten Essays. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1976. Abbildungsnachweis: Abbildung 1: Dädalos und Ikaros. Relief Villa Albani, Rom. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 4. 6. Aufl. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1909. 412. Abbildung 2: Clongowes Wood College Castle and Chapel. <http: / / www.columbia.edu/ itc/ english/ seidel/ courseworks/ images.html> (aufgerufen am 18.09.2007). Virginia Woolf Kew Gardens Hans Ulrich Seeber 1. Ein experimenteller Text Virginia Woolfs „Kew Gardens“ wurde 1919 veröffentlicht, drei Jahre vor Joyces Ulysses und Eliots The Waste Land. Am experimentellen Charakter dieser Kurzgeschichte, welche gezielt auf die übliche Handlung verzichtet und wegen ihrer auffälligen perspektivischen und semantischen Mobilität verschärft Sinnzuschreibungsprobleme stellt, hat es nie einen Zweifel gegeben. In der Kritik ist immer wieder auf die impressionistische Technik hingewiesen worden, wobei statt oder zusammen mit „impressionistisch“ auch häufig das Adjektiv „symbolisch“ erscheint. 1 Zu überprüfen ist, inwiefern die Ästhetik der Bewegung 2 auch an dieser Skizze ihre erschließende Kraft unter Beweis zu stellen vermag. Unter Ästhetik der Bewegung verstehe ich vorgreifend jene experimentelle Entgrenzung traditioneller Literatur und Kunst nach 1900 auf allen Ebenen der Struktur, die als Konsequenz radikaler Modernisierung mit ihren Beschleunigungseffekten 3 angesehen werden kann. Modernistische Kultur spiegelt und interpretiert diese Erfahrung der Entgrenzung und Enthierarchisierung herkömmlicher Zuordnungen und Funktionen von Raum, Zeit, Perspektive und Kommunikationsmedien auf vielfältige Weise. Der Text will schon in seiner Wahl des Gegenstandes modern sein, ganz in dem Sinne, wie Baudelaire, die französischen Impressionisten und John Davidson (im Gedicht „The Crystal Palace“,1908) das Freizeitverhalten großstädtischer Menschen als geeigneten Stoff künstlerischer Darstellungen erkunden. Es geht darum, mit den Mitteln der Wortkunst (oder Malkunst) eine Deutung modernen Lebens zu versuchen. Zur Erholung, Zerstreuung und zum Vergnügen suchen die Großstädter einen künstlich geschaffenen Raum voller künstlicher Effekte auf, eine Natur, die zunächst menschlichen Raumkonzeptionen - ovales Blumenbeet in den Kew Gardens, Gewächshäuser - unterworfen ist. Der im Südwesten Londons gelegene naturkundliche Park Kew Gardens trennt die dort flanierenden Menschen nicht von der Metropole 1 Vgl. Karl J. Häussler, „Das beispielhafte Experiment: Virginia Woolfs ‚Kew Gardens ‘ “, LWU 15 (1982): 241-67. 2 Vgl. Verf., Mobilität und Moderne: Studien zur englischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (Heidelberg: Winter, 2007). Der vorliegende Aufsatz ist eine erweiterte Version der Studie über „Kew Gardens”, die in diesem Buch publiziert wurde (S.87-100). 3 Vgl. hierzu Hartmut Rosa, Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (Frankfurt: Suhrkamp, 2005) und Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880-1918 (Cambridge/ Mass.: Harvard University Press, 1983). Hans Ulrich Seeber 140 ab, sondern bildet einen Raum, der akustisch und visuell mit der Metropole in Kontakt bleibt. Und ohnehin ist die Welt der Technik und der modernen Verkehrsmittel, die am Ende in die Beschreibung der Menschen im Park eingefügt wird (Busse, Flugzeuge), schon in den Gesprächen der Flanierenden gegenwärtig. Der geistesgestörte alte Mann spielt nicht nur auf den Ersten Weltkrieg an („and now, with this war“) 4 , sondern schwadroniert auch von einer „electric battery“ (204) und einer „little machine“ (204), mit deren Hilfe die Witwe den Geist - welchen Geist? ihres gefallenen Mannes? - herbeizaubert und herbeibeschwört. Der Modernität eines solchen Raumes entsprechen Menschen, deren Kommunikation mehr oder minder gestört ist. Sie alle werden im Vorgang des Gehens und des Wechsels wie auf der Bühne vorgeführt. Da sie durchweg aus der Perspektive des Blumenbeetes und der Schnecke wahrgenommen werden, hat man davon gesprochen, dass Woolf für diese strukturelle Konstellation sich des Funktionsäquivalents der „fixed camera“ 5 bediene, die auch in Mrs. Dalloway Verwendung finde. Die körperlichen und geistigen Bewegungen der Menschen offenbaren allenthalben Dissonanzen und Abweichungen von der Norm harmonischer, gelingender Bewegungen. Held oder Heldin gibt es nicht mehr. Diese Position wird, möglicherweise in ironischer Absicht, von der beharrlich, rational und methodisch ihren Weg suchenden Schnecke eingenommen. An ihr, die sich langsam im Blumenbeet vorarbeitet, defilieren nacheinander, demonstrativ, gleichsam als Exempel modernen Lebens („thus“, 206), vier Gruppen von Menschen vorbei. Eingerahmt werden die Auftritte flanierender Menschen von der Beschreibung des Blumenbeetes bzw. der Kew Gardens, und zwar einleitend in fast mikroskopischer Nahaufnahme und abschließend aus panoramischer Perspektive. In Verbindung mit den zwei Auftritten der Schnecke ergibt sich folgendes Schema: I. Einleitung: Ortsbeschreibung (ovales Blumenbeet), mikroskopische Perspektive II. Auftritte: 1. Die Familie: Simon, Eleanor, die Kinder Caroline und Hubert 2. Die Schnecke 3. Die beiden Männer: der verrückte Alte und sein Begleiter William, wohl der Oberschicht zugehörig 4. Die beiden älteren Damen aus der unteren Mittelschicht 5. Die Schnecke 6. Der junge Mann und das Mädchen Trissie III. Schluss: Ortsbeschreibung (Kew Gardens, Tiere, Menschen, Pflanzen, Stadtgeräusche,Verkehr), panoramische Perspektive von oben 4 Virginia Woolf, „Kew Gardens “ , The Penguin Book of English Short Stories, ed. Christopher Dolley (Harmondsworth: Penguin, 1975) 203. Alle folgenden Zitate nach dieser Ausgabe. 5 Laura Marcus, Virginia Woolf (Plymouth: Northcote Home, 1997) 20. Virginia Woolf Kew Gardens 141 Die herumwandernden Menschen streben, falls sie in ihren ziellosen Bewegungen überhaupt ein Ziel haben, einer Tasse Tee im Parkcafé zu, erreichen dieses aber nicht. Ebensowenig vermag der Leser dem Text ein bestimmtes Sinnziel zu entnehmen, es sei denn, dieses bestünde darin, in - wie die abschließende Entgrenzung anzeigt - tendenziell totalisierender Weise das moderne Leben schlechthin in seiner Vitalität harmonisierend mit Hilfe einer fiktionalen Konstruktion zur Anschauung zu bringen, deren Sprache mitunter lyrische Intensitätsgrade erreicht. In dieser abschließenden Entgrenzung wird, wie noch zu zeigen sein wird, nämlich etwas anderes sichtbar, eine utopische Dimension. Woolfs kleine Skizze, die man nicht unbedingt zur Weltliteratur zählen muss, demonstriert vor allem ihre Abkehr vom herkömmlichen Realismus schon zu einer Zeit, als sie noch nicht von den Vorbildern Joyce und Proust wichtige Impulse erhielt. 2. Gehen im Park Wer sich im Park ergeht, wer dort dahinbummelt oder flaniert, verlässt nicht die Bewegungs- und Wahrnehmungsweisen des großstädtischen Lebens. Er löst nicht die ästhetischen und ideologischen Erwartungen ein, die sich seit Wordsworth und den Essayisten mit dem Wandern in der Natur verbinden. Wie Anne D. Wallace 6 plausibel argumentiert hat, ist die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sich ausbreitende Manie des Fußmarschierens und des Bergsteigens u.a. eine moralisch und ästhetisch motivierte Antwort auf die Revolution des Transportwesens um 1800. Sobald ferne Ziele mit Hilfe des verbesserten Kutschenservice und der neuen Eisenbahnen fast anstrengungslos erreicht werden konnten, bot sich das bisher nur als Plage und Mühe verstandene Gehen zu Fuß als bewusst zu wählende Alternative an. Durch sie erhoffte man sich eine Wiedergewinnung des Bezuges zur Natur, zur Erde, zu natürlichen Formen der Wahrnehmung und vor allem durch die Verbindung von Landschaftswahrnehmung und Erinnerung, den Kontakt mit den Werten des Landlebens. Der radikalen Veränderung der wirklichen Landschaft, den Wahrnehmungsverzerrungen und Entwirklichungserfahrungen, die sich mit den mechanischen Transportmitteln einstellten, sollte also durch die Erfahrung des Gehens entgegengewirkt werden. Im Gehen versichert man sich des natürlichen Raumes, nimmt seine natürlichen Dimensionen wahr, bildet sich selbst und versöhnt kraft der Arbeit der Erinnerung und der Phantasie moderne und alte Welt, Mensch und Natur, Individuum und Gesellschaft. Von solchen therapeutischen Wirkungen, die in der von Wordsworths Dichtung abgeleiteten Ideologie des Gehens behauptet werden, kann bei den Fußgängern in den Kew Gardens nicht die Rede sein. Da sie im Unterschied zum einsamen romantischen Wanderer in Gruppen auftreten, ist ihre Aufmerksamkeit aufeinander gerichtet; und ihre Erinnerung zielt auf meist erotisch gefärbte Erlebnisse. Das Gehen leitet nicht die versöhnte Idylle ein, eine Balance zwischen Bewegung und Ruhe im 6 Anne D. Wallace, Walking, Literature, and English Culture: The Origins and Uses of Peripatetic in the Nineteenth Century (Oxford: Clarendon, 1993). Hans Ulrich Seeber 142 Angesicht der organisch einbezogenen Natur. Sie offenbart vielmehr in der gestörten Kommunikation die mangelnde Korrespondenz von Mensch und Mensch, Sprache und Empfindung. Auffällige Parallelen zwischen Mensch und Natur zeigen im Bild der kreisenden Libelle oder im herzförmigen Blatt nicht die Entdeckung von verbindlichem moralischem Sinn an, sondern die Macht vitaler Energie und Sexualität bei Mensch und Tier. Dem langsam Gehenden unterstellt man gewöhnlich eine Nähe zur Natur, eine „natürliche“ oder „organische“ Wahrnehmung der Umwelt mit allen fünf Sinnen. Aber auch eine solche „normale“ Rezeptionsweise fehlt im Text. Die dort abgebildeten und reflektierten Wahrnehmungen erzeugen weit eher den Eindruck des durch ein technisches oder künstlerisches Medium Vermittelten. Die fast mikroskopische (Anfang), die an eine Luftaufnahme („were spotted for a second“, 207) erinnernde panoramische (Schluss) und die impressionistische Sehweise erinnern an Entgrenzungen und Verzerrungen, die durch moderne Transport- und Beobachtungsmittel ausgelöst wurden. Fraglich ist deshalb auch, ob die plötzliche Offenbarung der schönen Details des Blumenbeetes, welche die schwerfällige Dame überfällt und aus den mechanisierten Abläufen sinnentleerter, trivialer Konversation reisst, ob also das plötzliche Erwachen zur Wahrnehmungsfähigkeit beim Anblick des Blumenbeetes als organisch-romantische oder als moderne, technisch (z.B. Schnappschuss) vermittelte Epiphanie einzustufen ist. The ponderous woman looked through the pattern of falling words at the flowers standing cool, firm and upright in the earth, with a curious expression. She saw them as a sleeper waking from a heavy sleep sees a brass candlestick reflecting the light in an unfamiliar way and closes his eyes and opens them, and seeing the brass candlestick again, finally starts broad awake and stares at the candlestick with all his powers. So the heavy woman came to a standstill opposite the oval-shaped flowerbed, and ceased even to pretend to listen to what the other woman was saying. She stood there letting the words fall over her, swaying the top part of the body slowly backwards and forwards, looking at the flowers. Then she suggested that they should find a seat and have their tea (205). 3. Mobilisierung der Gegenstandswelt und Entgrenzungen, Impressionismus und Konstruktion Ein leichter Windhauch, der durch das Blumenbeet weht, bringt die Dinge im einleitenden Abschnitt zum Tanzen. Woolf vermeidet gezielt jegliche Statik in ihrer Wahrnehmung der Außenwelt. Indem die Blätter der Blumen sich bewegen, verändern sich die Lichtverhältnisse ständig. Das Blumenbeet löst sich in eine Serie von Farb- und Lichteindrücken auf, die von Augenblick zu Augenblick neue Einblicke und Durchblicke eröffnen. Das Licht, das auf vorher verborgene oder unauffällige Dinge fällt, „illuminiert“ („illumination“, 201) und „offenbart“ („revealing“, 201); die Farben der im Licht aufstrahlenden Blumenblätter färben auf die braune Erde darunter ab: The petals were voluminous enough to be stirred by the summer breeze, and when they moved, the red, blue and yellow lights passed one over the other, staining an inch of the brown earth beneath with a spot of the moist intricate colour (201). Virginia Woolf Kew Gardens 143 Das Licht, das auf Pflanze, Tier (Schnecke) und Steine fällt, erreicht schließlich auch das Auge der Spaziergänger in den Kew Gardens. Es entdeckt die Äderung der grünen Blätter und erleuchtet die grüne Dämmerung des Blattwerks. Am spektakulärsten ist aber, das sei hier schon betont, das dynamische Zusammenspiel von Wasser und Licht. Sobald das Licht auf den Wassertropfen fällt (201), scheinen Blau, Rot und Gelb die den Wassertropfen zusammenhaltende Spannung mit gesteigerter Intensität aufzubrechen. Einen Augenblick später ist der Wassertropfen wieder unauffällig grau. Was hier von den Dingen gesagt wurde, gilt auch für die Menschen. Deren äußerliches Erscheinungsbild entgrenzt sich, löst sich in unbestimmte Lichteindrücke auf, zumal aus der Distanz. Körper verlieren ihre prägnanten Umrisse, werden halb durchsichtig, verschwimmen als Objekte von Licht- und Schatteneffekten: They walked on past the flower-bed, now walking four abreast, and soon diminished in size among the trees and looked half transparent as the sunlight and shade swam over their backs in large trembling irregular patches (203). Woolf bringt am Ende des Textes diese Verwandlung von Substanz in Lichteindrücke und Atmosphärisches („vapour”, „atmosphere”, 206, 207) ausdrücklich auf den Begriff. Gleich zwei Mal werden die Ausdrücke „substance” und „dissolve” (206, 207) verwendet: Thus one couple after another with much the same irregular and aimless movement passed the flower-bed and were enveloped in layer after layer of green-blue vapour, in which at first their bodies had substance and a dash of colour, but later both substance and colour dissolved in the green-blue atmosphere (206/ 7). [...] they wavered and sought shade beneath the trees, dissolving like drops of water in the yellow and green atmosphere staining it faintly with red and blue (207). Woolf verwandelt die Wirklichkeit in ein unablässiges Spiel von Lichteffekten. Klare Konturen verschwimmen („dissolving like drops of water“) in einem Dunstkreis. Am Ende verselbständigen sich in diesem Verflüssigungsvorgang körpergebundene Farben zu körperlosen Farben und körperbezogene Stimmen zu frei schwebenden Stimmen („the voice of the summer sky“, 207). Es gibt kein unschuldiges Auge, keine objektive Wahrnehmung, keine reinen, transzendentalen, zeitlosen Anschauungsformen von Raum und Zeit. Fragt man nach den sozialen, philosophischen, naturwissenschaftlichen und technischen Quellen dieser auffälligen Mobilisierung und Perspektivierung der Wirklichkeit, dann macht es eigentlich keinen Sinn, einen einzigen Kontext als ausschlaggebend hervorzuheben. Der Text erweist sich vielmehr als Treffpunkt und Kombinationsraum unterschiedlicher diskursiver Traditionen. Die Erfahrung der Metropole, die zeitgenössische Lebensphilosophie 7 , Photographie und Film 8 und, wie neuerdings hervor- 7 Vgl. hierzu Otto Friedrich Bollnow, Die Lebensphilosophie (Berlin: Springer, 1958). 8 Vgl. Winifred Holtby, Virginia Woolf: A Critical Memoir (London: Wishart, 1932; Chicago: Academy Press, 1978) 111. Zitat bei Marcus 1997: 20. Hans Ulrich Seeber 144 gehoben wurde, Woolfs Interesse an den Entdeckungen der Astronomie 9 , der Impressionismus - sie alle haben zur Ausbildung einer Ästhetik beigetragen, welche Mobilität, Perspektivismus (einschließlich der Wichtigkeit der nicht-menschlichen und der globalen Perspektive), und die Abwendung von Abstraktionen betont. Zu Recht haben schon die Zeitgenossen vor allem auf die impressionistische Qualität dieser Beschreibungen aufmerksam gemacht. Und in der Tat lässt sich die Abhängigkeit solcher Textstellen von impressionistischen Vorbildern wesentlich schärfer als bisher fassen, wenn man den Zusammenhang von Wasser, Licht und Wahrnehmung ins Blickfeld rückt. Warum sieht man am Ende des 19. Jahrhunderts das Wasser anders als im 18. Jahrhundert, ja anders als jemals zuvor? Auch hier dürfte die allgemeine Antwort gelten, dass es eines individuellen Genius bedarf, der die Tendenzen der Zeit, beispielsweise die allgemeine Mobilisierung, Entgrenzung und Verflüssigung, erspürt und dafür neue ästhetische Darstellungsmittel findet. Die impressionistische Technik der unruhigen, unterbrochenen Linie ist eine solche technische Innovation. Dass sie bei den Impressionisten gerade im Zusammenhang mit der Repräsentation des Wassers (das ohnehin als Metaphorik sämtliche poetischen und nichtpoetischen Zeitdiagnosen des 19. Jahrhunderts beherrscht! ) zum ersten Mal Verwendung findet, nämlich in dem Bild „La Grenouillère“ von Renoir (1869), scheint mir kein Zufall zu sein. Kenneth Clark schreibt hierzu: Es war im Jahre 1869, als Monet und Renoir sich in einem Ufercafé, genannt La Grenouillère, zu treffen pflegten. Zuvor waren sie beide Anhänger des damals üblichen naturalistischen Stils gewesen. Aber als diese Wellen und Spiegelungen in ihr Blickfeld gerieten, hatte der beharrliche Naturalismus ausgespielt. Man konnte einzig und allein einen Eindruck wiedergeben - Impression wovon? vom Licht, denn das ist alles, was wir sehen. Schon lange zuvor war der Philosoph David Hume zu dem gleichen Schluss gekommen. Und die Impressionisten hatten keine Ahnung, dass sie eine philosophische Theorie nachvollzogen. Aber Monets Worte: „Das Licht ist die Hauptperson im Bild“ gab ihrem Werk so etwas wie eine philosophische Einheit; so hat die große Zeit des Impressionismus ebenso unsere Fähigkeiten erweitert wie sie unsere Augen erfreut. Unser Bewusstsein vom Licht ist Teil jenes allgemeinen Bewusstseins geworden, jene Erhöhung der Sensibilität, die Proust so wundervoll beschrieben hat, dass es uns bei der ersten Bekanntschaft mit seinen Romanen fast so vorkommt, als würden uns neue Sinne verliehen. 10 Monet, der vielleicht überragendste und konsequenteste Impressionist ist zeitlebens von seinem Kindheitserlebnis des spielenden Wassers fasziniert, das er immer wieder 9 Vgl. hierzu Holly Henry, Virginia Woolf and the Discourse of Science: The Aesthetics of Astronomy (Cambridge: Cambridge University Press, 2003) 91: “The new vistas of space contributed to her experiments with narrative, particularly her narrative rescaling from a microscopic to a macroscopic view of the world. Woolf linked a dramatic shift in the popular understanding of earth’s size in relation to the universe Hubble had unveiled to her own experiment in narrative perspective, as for instance, in “Kew Gardens” (1919) in which the narrator’s view scales from the minutiae of insects, struggling to cross the dome of a leaf, to the world of the garden, to the city and cosmos beyond.” 10 Kenneth Clark, Zivilisation (1969; Hamburg: Rowohlt, 1970) 321-22. Virginia Woolf Kew Gardens 145 aufsucht und malt. Ständig beschwört und umkreist er Wassereindrücke, den Fluss, das Meer und am Ende, mit symbolistischer Intensität, Rosen im Teich. Wo er städtische Massen zur Darstellung bringt (z.B. in „La rue Montorgueil“, 1878), betrachtet er sie - wie offenbar Woolf auch im abschließenden Abschnitt - als von oben gesehene Farbtupfer. Diese Farbtupfer sollen die Beweglichkeit und Unabgeschlossenheit des Lebens ausdrücken: Damit sie [die Welt, H.U.S.] als Augenblick ausgedrückt werden kann, bedarf es eines Farbtupfers, der das Bild zu einem Ganzen zusammenfaßt. Mit dem Tupfer wird nämlich aus den vorherigen geschlossenen und einsamen Welten eine zugleich zerstückelte und offene, in das Zeitgeschehen eingebettete Welt [...] 11 Den Zusammenhang der impressionistischen Kunst mit dem Erlebnis des spielenden, das Licht unendlich vielfältig reflektierenden Wassers hat Kerchove de Denterghem folgendermaßen erläutert: Er [Monet, H.U.S.] ließ sich verführen durch das Spiel der Spiegelungen, und seine Arbeit bestand darin, die Vibration des Lichtes, das sich auf der Wasserfläche spiegelt, in die Malerei umzusetzen. Dank seiner genauen Beobachtung entwickelte er die Technik des unterbrochenen Pinselstrichs. Durch das Aneinanderreihen von fertigen Kommas gelang es ihm, „die tänzelnde und magische Fröhlichkeit der wechselnden Wasserspiegelungen“ wiederzugeben. 12 Wenn das Licht nach Monet die „Hauptperson“ des Bildes ist, vibriert nicht nur das Wasser, sondern auch die Landschaft: Monet malt keine Landschaften, sondern Impressionen [...] genaueste Beobachtung des Lichts, dessen laufend changierende Valeurs und seine ständig wechselnde Wirkung auf eine Landschaft ist allerdings nur vor Ort, im Freien möglich. Um alle Schattierungen wiederzugeben wird dank einer unterbrochenen Pinselführung, dem ‚virgulisme ‘ und einer Aufhellung der Farbpalette, der Eindruck einer vibrierenden Landschaft vermittelt. 13 Nicht nur der impressionistische Blick relativiert in Woolfs Kurzgeschichte die Welt der Gegenstände. Auch der bewegliche, relativierende Wahrnehmungsstandort des Betrachters (mit dem die Impressionisten ebenfalls ausdrücklich experimentieren und der natürlich auch zum Repertoire des Films gehört und zu den Einsichten der Astronomie) und seine Phantasie unterwerfen sie einem Verwandlungsprozess. Während Menschen in der Distanz zu Farbtupfern schrumpfen, nehmen kleine Erdklümpchen und Wasserlachen aus der Perspektive der Schnecke die Dimension von Klippen und Seen an; die Blumen gleichen schwankenden Bäumen: 14 Brown cliffs with deep green lakes in the hollows, flat, blade-like trees that waved from root to tip, round boulders of grey stone, vast crumpled surfaces of a thin crackling texture (203). 11 Guy Vandelouise in Claude Monet, 18.6. - 31.8.1992, Ausstellungskatalog, Stadthalle Balingen, 32. 12 Ebd., 38. 13 Roland Doschke, ebd., 21. 14 Mit solchen Perspektivierungen spielt Woolf dann wieder am Anfang des Romans Jacob’s Room (1922). Hans Ulrich Seeber 146 Beispiele für diesen Vergrößerungseffekt finden sich recht zahlreich. Für die Schnekke bilden die Blätter einen „Dom“ (201); das abgefallene Blatt, unter das sie nach gründlicher Überlegung zu kriechen beschließt, wird als „roof“ (205) charakterisiert. Auf den Blickpunkt der Schnecke bezogen, erhalten die dem menschlichen Orientierungssystem entnommenen Begriffe einen ungewohnten Anwendungsbereich. Der Text führt mit demonstrativer Sinnfälligkeit, also reflexiv, den Prozess der perspektivischen und metaphorischen Verfremdung vor. Wirklichkeit ist nichts Substantielles, sondern mobil und relativ. Diese Einsicht ist von Dichtern in metaphorischen Transaktionen und Verschiebungen schon immer befolgt worden. So auch im Text der Woolf. Zu Recht ist gesagt worden, dass „die abschließende Rahmenszene eine Fülle entgrenzender Bildlichkeit“ 15 enthalte. Das hängt, wie schon oben angedeutet, mit der abschließenden semantischen Geste der Totalisierung bzw. utopischen Harmonisierung zusammen. Zwar knüpfen schon am Anfang die Metaphern „heart“, „tongue“, „throat“ und „flesh“ eine Verbindung zwischen Mensch und Natur. Jetzt werden aber die Entgrenzungen radikalisiert; man kann eine Vielzahl von Beziehungen feststellen, ein imaginatives Verkehrssystem, das Organisches und Mechanisches, Visuelles und Akustisches, Mensch und elementare Natur analogisch ineinander blendet, um den Zusammenhang und die Qualität der wahrgenommenen Welt zu suggerieren. Dabei lassen sich zwei Bewegungsformen unterscheiden; einmal die Bewegungen der Analogien erkundenden Phantasie des Erzählers, sodann die physische Beweglichkeit der dargestellten Sachverhalte selbst, von denen im Grunde keiner in statischer Ruhestellung vorgestellt wird. Die Drosseln hüpfen wie mechanische Blechvögel in abgehackten Bewegungen über den Rasen. Als Farbtupfer evozierte Menschen zerfließen wie Wassertropfen in Farbliches und Atmosphärisches. Das reflektierende Licht auf dem Palmenhaus löst dieses in eine Vielzahl kleiner grüner Schirme auf. Stimmen gleichen züngelnden Flammen, die von den Wachsleibern der Kerzen aufflackern. Bewegung spielt sich hier also vor einem Hintergrund von Ruhe und (scheinbarer! ) Stabilität ab, wie auch anderswo im Text Bewegung zumindest punktuell eingefroren und stillgestellt wird. Am auffälligsten ist in diesem Zusammenhang die imaginative Überführung von Beweglichkeit in Stein gewordene Statik. Die Bewegungen der tänzerisch kreisenden Schmetterlinge erinnern die Erzählstimme und Wortmalerin an die Konturen einer zerbrochenen Marmorsäule, verbinden also Natur und Kultur und suggerieren die Zeitlichkeit des Lebens. Woolf scheint hier eine Fundamentalopposition des Lebens andeuten zu wollen, das sich zwischen Sein und Zeit, Stillstand und Bewegung, Verfestigung und Fließen, mystischer, erfüllter Ruhe („silence“) und dem Lärm der vita activa abspielt. Nach Ausweis der gewählten Bildlichkeit zeichnet sich nun für Woolf die moderne Leonardo-Welt der Apparaturen und Strukturen, wie sie sich in der City konzentrieren, durch Künstlichkeit, Systemhaftigkeit und die grenzenlose Beweglichkeit eines perpetuum mobile aus. 15 Häussler 1982, 249. Virginia Woolf Kew Gardens 147 But there was no silence; all the time the motor omnibusses were turning their wheels and changing their gear; like a vast nest of Chinese boxes all of wrought steel turning ceaselessly one within another the city murmured (207). Die Assoziation der Stadt mit einem komplexen System ineinandergreifender, ständig sich drehender Räder und Schachteln gibt ihr ein bedrohliches Aussehen, das der ästhetisch verniedlichende Vergleich mit einem Kinderspiel („Chinese boxes“) teilweise wieder zurücknimmt, zugleich aber die Idee des unendlichen Regresses suggeriert. 16 Mit logischer Konsequenz auf die Spitze getrieben, verwandeln impressionistische und perspektivische Beweglichkeit Kunst in das So-Sein ungeformten Lebens, mithin in Nicht-Kunst, zurück. Im vorliegenden Text ist ersichtlich das Gegenteil der Fall. Er findet einen neuen Ausgleich zwischen Form und Leben, Struktur und Entgrenzung durch die Verbindung zweier Verfahren - Verräumlichung und quasiexemplarische Szenenbildung. Beide zusammen ergeben eine erstaunlich umfassende Deutung modernen Lebens und des Verhältnisses von Sprachkunst und Wirklichkeit, Natur und Kultur. Das neuartige symbolistisch-spatiale Konstrukt gewährt dem Text ein unerhörtes Maß an semantischer Offenheit und bewahrt ihn doch vor dem Verfließen. 4. Schnecke und Menschen: Zielgerichtete vs. ziellose Bewegung Die Gegenüberstellung einer zielgerichtet sich bewegenden und logisch denkenden Schnecke mit ziellos schlendernden, assoziativ denkenden Menschen verstört den Leser. Denn diese Opposition wird nirgendwo aufgelöst oder vereindeutigend entschieden. Man hat den Verdacht, dass gezielt ein offenes ironisches Spannungsfeld aufgebaut wird, das den Leser zu reflexiven Erkundungsbewegungen auffordert. Die Schnecke verhält sich wie ein zielbewusst handelnder und logisch denkender Mensch. Sie agiert wie das autonome Subjekt der aufklärerischen Tradition. Das Wort „goal“ taucht gleich drei Mal auf; ihr Denkprozess wird mit Begriffen wie „before he had decided ...“ (203), „the snail had now considered every possible method.“ (205), usw. charakterisiert. Selbst das entscheidende Stichwort „progress“, das intertextuell an den aufklärerischen Diskurs, die Geschichtsideologie des 19. Jahrhunderts und die christliche Tradition („pilgrim’s progress“) angeschlossen werden kann, fehlt nicht beim abschließenden „Auftritt“ der Schnecke: „- all these objects lay across the snail’s progress between one stalk and another to his goal“ (203). Die Ausstattung der Schnecke mit menschlichen Eigenschaften legt es nahe, ihr nach dem Muster der Fabel-Tradition eine symbolische oder emblematische Bedeutung zu unterstellen. Aber welche? Die Unabgeschlossenheit des Textes lässt der interpretatorischen Phantasie erheblichen Bewegungsspielraum. Ist die Schnecke, indem sie als Tier ein spezifisch menschliches Kulturkonzept („progress“, „goal“, Fortschritt) verkörpert, eine ironische Absage an den ererbten Fortschrittsglauben? Etwa in dem 16 Diese Lesart („Regress“) verdanke ich Martin Middeke. Hans Ulrich Seeber 148 Sinne, wie schon Swift mit der satirischen Konstruktion der weisen Pferde das aufklärerische Menschenbild als illusionär einstuft, ohne doch am normativen Charakter des Rationalen zu rütteln? Fortschritt bedeutet ja nichts anderes, als Bewegung schlechthin in sinngesteuerte Bewegung zu verwandeln. Das Ironiesignal läge dann darin, dass wir nie erfahren, welchem Ziel die Schnecke eigentlich zustrebt: „It appeared to have a definite goal in front of it [...]“ (203). Ist Sinn an die Natur schlechthin übergegangen? So dürfte das nicht zutreffen, denn die anderen Tiere vollführen ganz andere Bewegungen, kreisende wie die Libelle (202), chaotische wie das grüne Insekt (203) oder Zickzackbewegungen wie die Schmetterlinge (201). Oder soll suggeriert werden, dass Sinn sich gerade nicht mehr mit linearen Bildern zutreffend illustrieren lässt? Ist die lineare Fortschrittsbewegung ein problematisches männliches („his goal“) Konstrukt? Die Zeichen und Bilder des Textes lassen sich offenbar nicht allegorisch festlegen, verweisen aber immerhin auf die Anwesenheit von Vitalität, Leben gerade auch im biologischen Sinne, das Tiere und Menschen verbindet („not unlike that of of the white and blue butterflies“, 201). Tiefe und Beweglichkeit dieser irrationalen Vitalität des Lebens scheinen rational und sprachlich nicht auslotbar zu sein. Was nun die dargestellten Menschen betrifft, so bieten sich der ästhetischen Bewegungsanalyse vier Formen der menschlichen Bewegung an: körperliche Bewegungen im natürlichen und gesellschaftlichen Raum (a), Bewegungen in der Zeit und in die Zeit (b), Gedankenströme (c) und interaktive Bewegungen zwischen Menschen mit Sprache und Körper (d). (a) Die Gehbewegungen in den Kew Gardens beurteilt die Erzählstimme am Anfang und am Ende der Auftritte unzweideutig als „aimless“. Eine solche kulturkritische Bewertung findet sich schon in dem Gedicht („The Crystal Palace“) von Davidson. Sie berücksichtigt nicht den funktionalen Gesichtspunkt des Zerstreuungs- und Erholungswertes flanierenden Bewegungsverhaltens. Eher scheint dieses Bewegungsverhalten das Symptom einer modernen Malaise zu sein, die der verrückte alte Mann paradigmatisch verkörpert: The elder man had a curiously uneven and shaky method of walking, jerking his hand forward and throwing up his head abruptly, rather in the manner of an impatient carriage horse tired of waiting outside a house; but in the man these gestures were irresolute and pointless (263). Allerdings ist das Verhältnis zwischen den Eheleuten Eleanor und Simon noch so intakt, dass am Ende eine Harmonisierung der Familienbewegungen („now walking four abreast“, 202) gelingt. (b) Die Menschen in Kew Gardens haben einen Hang zu monologischer, ichzentrierter Selbstbezüglichkeit, die Kommunikation sichtlich erschwert oder gar unmöglich macht. Ihr Bewusstsein ist von vergangenen Erlebnissen, vor allem erotischen Erlebnissen, beherrscht. Die Außenwelt dient Simon und Eleanor lediglich als assoziativer Auslöser für Reisen in die jeweilige persönliche Vergangenheit, zu Lilly, der Simon in den Kew Gardens und ihren Lilien vergeblich einen Heiratsantrag machte, zu der alten, grauhaarigen Frau, die das Kind Eleanor auf den Nacken küsste. Diese an konkrete Dinge - Silberschuhe, Libelle, Warze - gekoppelten Erlebnisse Virginia Woolf Kew Gardens 149 und Erinnerungen, zumal an erotisches Glück, konstituieren nicht nur für die Erzählinstanz die eigentliche Wirklichkeit. Der alte Mann ist, angeregt vom Anblick einer aus seinem Blickwinkel schwarz gekleideten Frau, drauf und dran, auf sie zuzustürzen. Als sein Begleiter ihn erfolgreich mit einer Blume ablenkt, vermeint der alte Mann eine Stimme aus ihr zu hören, die aus der Vergangenheit zu ihm spricht. Denn er beginnt von den Urwäldern Uruguays zu reden, denen er vor Jahrhunderten mit der schönsten Frau Europas einen Besuch abstattete. Sein Bewusstsein ist mit romantischen Ikonen, gleichsam bildlichen Intertexten, gefüllt. Er murmelt von tropischen Rosen, Nachtigallen, Seestränden, Meerjungfrauen, im Meer ertrunkenen Frauen. Auch glaubt der verstörte Alte Kontakt mit den Geistern der Toten zu haben. Repräsentiert der alte Mann die Karikatur eines romantischen Okkultisten und Phantasten? Den Zusammenhang von romantischer und sexueller Phantasie? Oder die Pathologie der Moderne? Angesichts der gesellschafts- und zivilisationskritischen Dimension der Kunst von Virginia Woolfs drängt sich auch letztere Deutung auf. Auffällig ist, dass im Gegensatz zur Schnecke die Menschen sich durchweg Erfahrungen öffnen, die mehr oder minder stark ins Irrationale hinüberspielen. Die klassische Opposition Mensch vs. Tier wird also ins Gegenteil verkehrt. Allem Anschein nach ist der Rationalismus der Schnecke nicht fähig, der Tiefe und Unauslotbarkeit des Lebens gerecht zu werden. (c) So sehr die Kurzgeschichte im Umfeld realistisch-soziologischen Erzählens experimentell genannt werden muss, so vergleichsweise unauffällig sind ihre Verfahren der Bewusstseinsdarstellung. Gedanken werden als stilles Selbstgespräch des Denkenden in Ich-Form und als Rede (in Anführungszeichen) präsentiert (Simon), als gesprochene Rede einer Figur (seine Frau), als Gedankenbericht aus der Perspektive des Erzählers (Gedanken der Schnecke) und als erlebte Rede (das junge Paar), wobei im letzten Falle durch den Zusatz „so they thought“ (206) sogar noch sichergestellt wird, dass der Leser die Zuordnung des Mitgeteilten richtig vornimmt. But who knows (so they thought as they pressed the parasol into the earth) what precipices aren’t concealed in them, or what slopes of ice don’t shine in the sun on the other side? Who knows? Who has ever seen this before? (206) Das alles grenzt die Kurzgeschichte deutlich ab von den später verfassten großen Romanen, z.B. To the Lighthouse und The Waves, wo die Verfahren der erlebten Rede und des inneren Monologs eine beherrschende Rolle spielen, weil noch konsequenter als in der Prosaskizze die Simulation der entscheidenden Realität der inneren Erfahrungen in den Mittelpunkt rückt. (d) Problematischer als die Deutung der narrativen Bewusstseinsdarstellung ist die Bestimmung der dialogisch versprachlichten Bewusstseinsinhalte und Erlebnisrealitäten. Zumindest bei drei Paaren ist die Verständigung zwischen den Gesprächspartnern erheblich gestört, weil gleichzeitig das Verhältnis zur Wirklichkeit den Rahmen unproblematischer Normalität verlässt. Am offenkundigsten ist der Fall des alten Mannes. Sein bizarres Verhalten und seine bizarren Bewusstseinsinhalte lassen auf massive psychische Störungen schließen, die ihm eine wirkliche Kommunikation nicht erlauben. Anders der Fall der beiden aus der unteren Mittelschicht stammen- Hans Ulrich Seeber 150 den Frauen. Ihr Bewusstsein wird von banalen, stereotypen Denk- und Sprechformeln beherrscht. Wirklichkeit wird so überlagert von einer sinnentleerten kulturellen Routine, die den Dialog in einen Pseudodialog verwandelt, der bestenfalls die Funktion hat, nicht Wirklichkeit zu bezeichnen, sondern den Kontakt zwischen den Gesprächspartnern aufrechtzuerhalten und zu „ölen“. Für Virginia Woolf ist dieser Sachverhalt besonders kennzeichnend für die untere Mittelschicht, deren Dialogverhalten bei ihr deshalb in ironischer („their very complicated dialogue“, 204) und karikaturistischer Absicht zum sinnlosen (dadaistischen? ) Wasserfall aus Sprache - Eigennamen, Inquitfloskeln, Substantive, die Esswaren bezeichnen - wird: “Nell, Bert, Lot, Cess, Phil, Pa, he says, I says, she says, I says, I says - ” “My Bert, Sis, Bill, Grandad, the old man, sugar, Sugar, flour, kippers, greens, Sugar, sugar, sugar” (205). Dieser Alltagsdialog, weit entfernt davon, realistisch zu sein, kippt durch Verknappung und Selektion in eine spruchartig-poetische Beschwörungsformel um, von der man nicht genau weiß, was sie suggerieren soll: sozial- und kulturkritischen Tadel an kleinbürgerlicher Geistlosigkeit und Banalität? soziale Entfremdung in der Moderne? Die Kommunikationsschwierigkeiten des jungen Liebespaares schließlich rühren daher, dass es eine bestimmte Liebesrhetorik als kulturelle Selbstverständlichkeit nicht mehr zu geben scheint. Sie verheddern sich in ihren sprachlichen Bemühungen, dem gemeinten Gefühl Ausdruck zu geben. Der Dialog stockt („long pauses“, 205) deshalb, nimmt eine metasprachliche Wendung: “ Lucky it isn’t Friday, ” he observed. “Why? D’you believe in luck? ” “They make you pay sixpence on Friday.” “What’s sixpence anyway? Isn’t it worth sixpence? ” “What’s ‘it’ - what do you mean by ‘it’? ” “O, anything - I mean you know what I mean” (205). Beleuchtet man die schon erörterte Schlussvision im Lichte obiger Beobachtungen, dann lassen sich Struktur und Gestaltungsintention der Prosaskizze etwas genauer fassen. Der Dialog und das Verhalten des alten Mannes fallen derart inkongruent aus, wenn man sie an der Norm realistischer Mimesis misst, dass sie an groteske 17 Verwandlungen der Wirklichkeit erinnern, wie sie für die Moderne durchaus typisch sind. Die von der Tradition des realistischen Romans etablierte Norm psychischer und sozialer Realität wird also durch impressionistische und groteske Schreibweisen radikal aufgebrochen und entgrenzt. Diesen beiden Stilisierungstendenzen entspricht die Ambivalenz des Textes zwischen der Realität gesellschaftlich und historisch bedingter Verformungen und der (auch ökologisch relevanten) Utopie der Integration von Mensch und Natur, wie sie im Schlussabschnitt sichtbar wird. Denn in der abschließenden utopisch-panoramischen Vision von Mensch und Natur im Park kommen die ziellosen Bewegungen der verschiedenen Paare zur Ruhe. Feste Kontu- 17 Auf die Relevanz dieser Kategorie bin ich von Hubert Zapf aufmerksam gemacht worden. Virginia Woolf Kew Gardens 151 ren lösen sich in die „grün-blaue Atmosphäre“ eines schwülen, auch erotisch aufgeladenen Julitags auf. Solche atmosphärische Entgrenzung wirkt als Versöhnung im Sinne des Prinzips der Verknüpfung. Mechanisches und Organisches kommen zusammen („like a mechanical bird“), wenn eine Drossel wie ein mechanischer Vogel langsam in den Schatten hüpft. Die Bewegungen von Schmetterlingen markieren die Umrisse einer bewegungslosen Marmorsäule , das Dröhnen des Flugzeugs wird zur Stimme der „wilden Seele“ des Sommerhimmels, Schatten suchende und ruhende Menschen, als Farbtupfer von oben erkennbar, lösen sich in Wassertropfen auf. In den Stimmen artikuliert sich Zufriedenheit, die „Leidenschaft des Begehrens“ und kindliche Frische, aber auch die Stimme der nahen City wird hörbar und es scheint, entgegen des ersten Anscheins einer Opposition Natur vs. Stadt, eher so, als ob auch sie sich in die Vision aus Stimmen und Farben einfügt. Die aus der pastoralen Literatur vertraute Metapher „murmeln“ ersetzt nämlich nicht nur das Dröhnen des Flugzeugs und bringt die „wilde Seele“ des Sommerhimmels zum Ausdruck, sie kennzeichnet auch die Geräuschkulisse der Metropole („the city murmurs“), die deren unablässiger Verkehr verursacht. Sie wirkt als Bindeglied zwischen Natur und menschlicher Zivilisation, diesseitiger und vage transzendenter Erfahrung. Da Einheit, Verknüpfung 18 und Kooperation als zentrale Prinzipien ökologischen Denkens anzusehen sind, erweist sich die schöpferische metaphorische Phantasie der Woolf, wie später auch in The Waves, als Organon dieses Denkens. Indem die Komposition des Textes die gleichsam experimentellen Verhaltensstudien flanierender (und liegender) Männer und Frauen im Park mit Naturstudien einrahmt, werden der Reichtum, die Schönheit und Vitalität einer Umwelt auch formal betont, als deren Teil der Mensch offenkundig anzusehen ist: „...and the petals of myriads of flowers flashed their colours into the air (207).“ Mit diesem Satz endet der Text. Die Empfänger dieser von den Blumen ausgesandten Farbenblitze voller Schönheit und Freude sind die Menschen im Text und außerhalb des Textes. Anders als in der Romantik wird aber ihre erneuernde Kraft nicht mehr explizit benannt und inszeniert. Dennoch findet eine Erziehung der Sinne und der Reflexionsfähigkeit statt, jetzt aber mit Hilfe von perspektivischen Verfremdungen und Individualisierungsgewinnen, die paradoxerweise neuen technischen und künstlerischen Medien geschuldet sind. 5. Semantische Entgrenzung und semantische Verschlüsselung Welche Dunkelheit, welche Bezeichnungsschwierigkeit löst das im vorigen Abschnitt beschriebene unabgeschlossene Abtasten im Dialog des Liebespaares einschließlich der metasprachlichen Reflexionen der Erzählstimme aus? (a) Man könnte zunächst vermuten, dass die metasprachliche Reflexion auf der Figurenwie auf der Erzählerebene mit der alten Schwierigkeit zu tun hat, dem Irra- 18 Vgl. Natur denken: Eine Genealogie der ökologischen Idee, ed. Peter Cornelius Mayer-Tasch (Frankfurt: Fischer, 1991), 1, 11. Zum Verhältnis von Literatur und Ökologie vgl. die grundlegende Studie von Hubert Zapf, Literatur als kulturelle Ökologie: Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans (Tübingen: Niemeyer, 2002). Hans Ulrich Seeber 152 tionalen und Unaussprechlichen, auch dem Tabuisierten, der Intimerfahrung Liebe Worte zu leihen. Traditionelle Poesie hatte diese Schwierigkeit mit einer poetischen Rhetorik voller Übertreibungen und metaphorischer Substitutionen zu meistern versucht. Jetzt, in nach-realistischer, reflektierter Zeit, hat sich diese Rhetorik offenbar längst überlebt. Pausen und scheinbar banale Wörter und Aussagen wird die Last aufgebürdet, das an Empfindung anzudeuten, was eigentlich nicht sagbar ist: The couple stood still on the edge of the flower-bed, and together pressed the end of the parasol deep down into the soft earth. The action and the fact that his hand rested on the top of hers expressed their feelings in a strange way, as these short insignificant words also expressed something, words with short wings for that heavy body of meaning, inadequate to carry them far and thus alighting awkwardly upon the very common objects that surrounded them, and were to their inexperienced touch so massive; but who knows (so they thought as they passed the parasol into the earth) what precipices aren’t concealed in them, or what shapes of ice don’t shine in the sun on the other side? [...] Even when she wondered what sort of tea they gave you at Kew, he felt that something loomed up behind her words, and stood vast and solid behind them; and the mist very slowly rose and uncovered - O, Heavens, what were those shapes? - little white tables, and waitresses, who looked first at her and then at him; and there was a bill that he would pay with a real two shilling piece, and it was real, all real, he assured himself [...] (206). Dass es zwischen den jungen Leuten eine erotische Beziehung geben muss, auf die das nicht erklärte Pronomen „it“ umschreibend hinweist, wird erst aus der non-verbalen Geste des gemeinsamen („his hand rested on the top of hers“) Schiebens des Schirmes in die weiche Erde deutlich. Sowohl diese Handlung - warum gerade diese? - als auch die scheinbar belanglosen Worte, die sie wechseln, verweisen suggestiv und - vor allem die Worte - unbestimmt auf das Innenleben des Paares. Die Wörter, so die Erzählstimme, gleichen Flug- und Transportmaschinen, die nur beschränkt flugtauglich sind. Deshalb bezeichnen sie vordergründig nur die nächstliegenden Objekte und Bedeutungen, während sie in Wahrheit in der Phantasie des Gesprächspartners eine viel größere Bedeutungslast mitschleppen. Suggestion heißt deshalb, dass die Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem die Ermittlung des Letzteren an die schöpferische Phantasietätigkeit des Kommunikationspartners delegiert. Worte können also wie ein verbergender und verklärender Dunstschleier wirken, der schließlich die klaren und womöglich ernüchternden Umrisse der Alltagsrealität freigibt. (b) Ein Blick auf die fast gleichzeitig entstandenen theoretischen Äußerungen („Modern Fiction“, „Mr. Benett and Mrs. Brown“) von Woolf lehrt indes, dass der Text und seine Metasprache mehr und anderes anstreben als nur die Reform der Liebessprache. Es geht vielmehr um den problematisch gewordenen Zusammenhang zwischen herkömmlicher Sprache und neuer Wirklichkeitskonzeption, herkömmlichen Erzählkonventionen und neuem Realitätsbegriff schlechthin. Die neue Instabilität und Inkongruenz zwischen Sprache und Wirklichkeit entstand just deshalb, weil Realität in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Lebensphilosophie (Bergson, Nietzsche, Dilthey u.a.) auch und gerade von V. Woolf mit Leben gleichgesetzt wurde. Kennzeichen dieses durchaus nicht metaphysikfreien Lebens sind aber seine Virginia Woolf Kew Gardens 153 radikale Zeitlichkeit und rationale Undurchdringlichkeit, seine unordentliche Beweglichkeit und Unauslotbarkeit, seine Perspektivität („one’s reality“, 202) und Erlebnishaftigkeit: Life is not a series of gig-lamps symmetrically arranged; life is a luminous halo, a semitransparent envelope surrounding us from the beginning of consciousness to the end. Is it not the task of the novelist to convey this varying, this unknown and uncircumscribed spirit, whatever aberration or complexity it may display, with as little mixture of the alien as possible? 19 ‘The proper stuff of fiction’ does not exist; everything is the proper stuff of fiction, every feeling, every thought; every quality of brain and spirit is drawn upon; no perception comes amiss. 20 For the modern ‘that’, the point of interest lies very likely in the dark places of psychology. 21 Tolerate the spasmodic, the obscure, the fragmentary, the failure. 22 Whether we call it life or spirit, truth or reality, this, the essential thing, has moved off, or on, and refuses to be contained any longer in such ill-fitting vestments as we provide. 23 Die Sprache und die Erzählkonventionen des edwardianischen Romans (Plot, Realitätsillusion, Komik, Tragik, usw.) taugen für Woolf bekanntlich nicht mehr, eben jene entfesselte Beweglichkeit, Chaotik und Fragmentarität des „Lebens“, d.h. des modernen Lebens, insonderheit „die dunklen Orte der Psychologie“, angemessen zu repräsentieren. Das „Leben“ lässt sich in seiner Unbestimmtheit per definitionem nicht bestimmen und fixieren; das Obskure und Unbestimmte muss folglich ein integraler Bestandteil der Semantik des modernen Textes sein. Wörter können nur eine ungefähre Ahnung „des Lebens“ vermitteln. Die Sprache des Körpers, zumal wortlose Stimmen („Voices. Yes, voices. Wordless voices, ...“, „Kew Gardens“, 207) sagen ausdrucksstärker etwas über das „wahre“ Wesen des Lebens aus. Aber die Erzählstimme verwickelt sich hier selbst in das Paradox der Sprache. Was die wortlosen Stimmen sagen, bedarf, um mitteilbar zu sein, wiederum der Versprachlichung und der Verbegrifflichung. Solch abstrakte Konzeptualisierung meidet der Text in der Regel geflissentlich. Dennoch weiß die Erzählstimme am Ende, dass die Stimmen „depth of contentment“, „passion of desire“ bei Erwachsenen, „freshness of surprise“ bei Kindern anzeigen. Die Offenheit des Textes scheint doch, wie die Verwendung von definierenden abstrakten Begriffen anzeigt, deutlich begrenzt zu sein. Ist es falsch, in seinen Stimmen und Bewegungen letztlich einen Lobpreis vitaler Energie zu erblicken, die zwar schmerzhaft verstümmelt und eingeschränkt wird, letztlich aber triumphiert? 19 Virginia Woolf, „Modern Fiction“, Virginia Woolf: To the Lighthouse, ed. M. Beja (London, 1970) 69. 20 Woolf 1970, 73. 21 Woolf 1970, 71. 22 Virginia Woolf, „Mr. Bennett and Mrs. Brown“, Virginia Woolf: Collected Essays, vol. I (London, 1966) 337. 23 Woolf 1970, 68f. Zur Ästhetik von V. Woolf vgl. auch das Buch von Vera Nünning, Die Ästhetik Virginia Woolfs: Eine Rekonstruktion ihrer philosophischen und ästhetischen Grundanschauungen auf der Basis ihrer nichtfiktionalen Schriften (Frankfurt: Lang, 1990). Hans Ulrich Seeber 154 (c) Dieses Wechselspiel von Offenheit und Geschlossenheit hat aber, wie mir scheint, noch eine andere, gesellschaftlich vermittelte Dimension. Semantische Instabilität und Beweglichkeit ergibt sich nicht nur aus dem Postulat der Unkontrollierbarkeit und rationalen Unerfassbarkeit dessen, was Woolf totalisierend „Leben“ nennt. Die Wendung „passion of desire“ passt in den Zusammenhang der Vitalitätsthematik und lässt den hermeneutischen Verdacht aufkommen, dass Erotisches in der Form symbolischer Indirektion den Text viel mehr durchdringt als es zunächst den Anschein hat. Meine Vermutung lautet also, dass die Frauenschriftstellerin Woolf eben auch deshalb semantische Unbestimmtheit, Suggestivität und Dunkelheit erzeugt, weil sie über Erotisches nur gebrochen, verstohlen und andeutend sprechen kann. Ein wesentliches Hilfsmittel solcher Verstellung wäre, wenn meine Annahme denn richtig ist, die private Symbolik, die zugleich vom zeitgenössischen Diskurs der Psychoanalyse, den die Woolf kannte, 24 profitiert. Die aber ist, hat man einmal den Code erkannt, im Gegensatz zum semantisch entgrenzten Text durchaus entschlüsselbar. Zwei Beispiele mögen das Gesagte verdeutlichen. Da drei der vier Auftritte von Menschen am ovalen Blumenbeet teilweise massive erotische Anspielungen enthalten, wäre es verwunderlich, wenn dieses Leitmotiv beim Auftritt der beiden kleinbürgerlichen Damen gänzlich fehlte. Ich vermute, dass die Anspielung in diesem Falle so anstößig ist, dass sie einer symbolischen Camouflage bedarf. Erinnern wir uns: Im Angesicht der Blumen, die „kühl, fest und aufrecht in der (ovalen) Erde“ (205) stehen, zeigt sich die eine Dame plötzlich fasziniert. Sie ignoriert den Wortschwall ihrer Begleiterin und schwenkt, während sie sich in den Anblick der Blumen vertieft, ihren Körper langsam vor und zurück. Die Erzählstimme vergleicht ihr Erlebnis mit dem eines Schläfers (einer Schläferin? ), der beim Aufwachen plötzlich einen das Licht reflektierenden Kerzenständer erblickt. Der Kerzenständer wird gleich drei Mal erwähnt. So auffällig sind die bildlichen Entsprechungen, dass die Vorstellungen Geschlechtsakt, Penis (Blumen, Kerzenständer) und vulva (ovale Erde) mir nicht völlig abwegig erscheinen. Eine Variante dieser Bildkombination findet sich nämlich auch beim Auftritt der beiden Liebenden. Diese stehen am Rande des Blumenbeetes und pressen gemeinsam - seine Hand ruht auf der ihren - den Damenschirm in die weiche Erde hinein. Die Erzählstimme reflektiert die Bedeutung dieser Handlung ausdrücklich, wenn sie feststellt, mit ihr würden die Empfindungen der beiden auf merkwürdige Weise („in a strange way“, 206) ausgedrückt. Wenn man dann aber gegen Ende des Abschnitts liest, der junge Mann habe den Sonnenschirm mit einer ruckartigen Bewegung aus der Erde gezogen, erscheint zumindest demjenigen, der einmal Verdacht geschöpft hat, die gewählte Ausdruckshandlung keineswegs mehr merkwürdig, sondern durchaus sinnvoll. Und auch der Dialog verliert seine Dunkelheit, wenn man hinter dem Pronomen „it“ einen verschlüsselten Hinweis auf den Geschlechtsakt vermutet. Schließlich ist es ja auch Trissie, die sich am liebsten gleich niederlassen würde und dabei an einen „crimson crested bird“ (206) denkt. Es gibt noch weitere Bilder, die eine erotische Lesart na- 24 V. Woolf war u.a. mit den Psychoanalytikern Alix und James Strachey befreundet. Vgl. Luise Berg-Ehlers, Die Gärten der Virginia Woolf (Berlin: Nicolai, 2004) 75. Virginia Woolf Kew Gardens 155 helegen (die zugleich eine biologisch-ökologische wäre). Dass die nicht aus der Luft gegriffen ist, unterstreicht das folgende Zitat aus dem Buch von Berg-Ehlers, in dem deutlich wird, wie sehr die Phantasie von V. Woolf, auch die erotische, von Gärten, Pflanzen und Tieren angeregt wird: Garten und Pflanzen wirken sehr stark auf die Phantasie Virginia Woolfs - und ihre Phantasie wiederum bemächtigt sich der sie umgebenden Natur. Wenn sie an Ereignisse ihrer Jugend denkt - an ein Gespräch mit dem Trauernden Witwer Jack Hill oder an den Bericht von einem Selbstmord in St. Ives -, denkt sie an Bäume, die sie während des Gesprächs sah, an Äste und Blätter, in denen sich die Gedanken und Gefühle verfangen; ein Apfelbaum figuriert in der Erinnerung als Todessymbol. Und auch die Vorfreude auf einen Besuch Vitas in Rodmell, bei dem sie zwei Tage allein miteinander verbringen werden, findet ihren Ausdruck in einem sinnlichen Blick auf den sommerlichen Garten, wenn sie an ihre Schwester schreibt: „ [...] die Juni-Nächte sind lang und warm; die Rosen blühen, und der Garten ist voll mit Wollust und Bienen, die sich im Spargelbeet vereinigen.“ (13. Juni 1926) 25 Wenn es noch eines Beweises für die Kooperation zwischen poetischer Phantasie und wissenschaftlich-biologischem Denken und die ambivalente Herkunft des emphatischen Lebensbegriffs von Woolf sowohl aus dem Diskurs der Mobilisierung als auch aus dem Diskurs der Biologie (Darwins einflussreichem Paradigma) 26 bedurft hätte, so liefert ihn jene Stelle in dem gleichzeitig mit der Kurzgeschichte entstandenen Roman Night and Day (1919), wo das Liebespaar Katharine Hilbery und Ralph Denham die Blumen in den Kew Gardens unterschiedlich wahrnimmt, sie ästhetisch und er botanisch. Für Ralph verweisen die Blumen auf Lebensprozesse, auf Fortpflanzung und Sexualität: Denham was engaged in uncovering with the point of his stick a group of green spikes half smothered by the dead leaves. He did this with the peculiar touch of the botanist [...] She then asked him to inform her about flowers. To her they were variously shaped and coloured petals, poised, at different seasons of the year, upon very similar green stalks, but to him they were, in the first instance, bulbs or seeds, and later, living things endowed with sex, and pores, and susceptibilities which adapted themselves by all manner of ingenious devices to live and beget life [...] No discourse could have worn a more welcome sound in Katharine’s ears [...] 27 6. Schlusszusammenfassung Welches Fazit lassen die obigen Bewegungsanalysen im Blick auf die übergreifende Thematik von Mobilität und Moderne zu? 1) Die Bewegungen flanierender Parkbesucher sind ein Sujet, das die Erzählung oder besser Prosaskizze gezielt von der Ideologie des romantischen Wanderns ab- 25 Berg-Ehlers 2004: 122. 26 Vgl. zum Einfluss Darwinschen Denkens Gillian Beer, “Virginia Woolf and Prehistory”, in Arguing with the Past: Essays in Narrative from Woolf to Sidney (London: Routledge, 1989). 27 Zit. n. N.C. Thakur, The Symbolism of V. Woolf (London: Oxford University Press, 1985) 23. Hans Ulrich Seeber 156 hebt und der Moderne zuordnet. Der städtische Park ist darüber hinaus in der Moderne ein Ort des Vergnügens, zu dem alle Klassen Zutritt haben (das war auch in den Kew Gardens natürlich nicht immer so). 2) Durch die Ineinanderfügung gegensätzlicher Bewegungstypen - zielorientiert und ziellos, zukunfts- und vergangenheitsorientiert - wird dem Text eine strukturelle Reflexivität einkomponiert, die für modernes Erzählen charakteristisch ist. 3) Die Verknüpfung von Gegenwartserlebnis und Vergangenheitsassoziation kennzeichnet den modernen Erlebnisbegriff, der von einer Wechselwirkung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ausgeht. Die Arena dieser ständigen Begegnung ist das subjektive Bewusstsein, zumal die Erinnerung. 4) Wirklichkeit existiert nur in der subjektiven Augenblickswahrnehmung des Subjekts. Sie besteht aus Impressionen, die sich wandelnden inneren und äusseren Wahrnehmungsbedingungen, nicht zuletzt medialen, unterworfen sind. Eine absolut gültige Seinshierarchie gibt es nicht, nur Relationen und Perspektiven. 5) Semantische Dunkelheit ist eine Funktion semantischer Mobilität; die Beziehungen zwischen Zeichenkörper und Zeichenbedeutung, Bild und Bedeutung werden über das bislang bekannte Maß hinaus instabil und beweglich. 6) Diese semantische Verdunkelung ist zumindest auf zwei Ursachen zurückzuführen, eine gesellschaftliche und eine philosophische, denen die Typen der semantischen Verschlüsselung und der semantischen Entgrenzung entsprechen. Semantische Verschlüsselung im literarischen Text kann im Rahmen eines ästhetischen Gesellschaftsspiels als Ausweis von überlegenem wit dienen (vgl. Shakespeare, Donne, u.a.). Im vorliegenden Fall handelt es sich aber eher darum, durch symbolische Verschlüsselung ein gesellschaftliches Tabu, das für Frauen in erotischen Dingen länger wirksam war als für Männer, ungestraft zu brechen. Semantische Entgrenzung (die im Woolf-Text noch nicht sonderlich radikal ist) entwickelt sich zur ästhetischen Notwendigkeit in dem Augenblick, als der veränderte Lebens- und Wirklichkeitsbegriff durchsichtige und geschlossene Ordnungsentwürfe nicht mehr erlaubt. In beiden Fällen wird dem Leser eine gesteigerte geistige Beweglichkeit abverlangt. 7) Die Verschränkung von Groteske und Utopie, Dissoziation und harmonisierender Grenzüberschreitung, Natur und Kultur enthält ein verdecktes sozial- und zivilisationskritisches Potential, auch ein ökologisches. Woolfs metaphorische Phantasie löst ökologische Prinzipien (Einheit, Verknüpfung) in einem thematischen Umfeld (Vitalität, Natur, Kultur) ein, das diese abschließende Einschätzung erlaubt. Ihre kleine Prosaskizze „Kew Gardens“ wird Komplexitätserwartungen gerecht, weil sie nicht nur als Dokument der modernen Geschwindigkeitszivilisation gelesen werden muss, sondern auch als implizite Kritik an ihr. Die unorthodoxe, experimentell gesteigerte Beweglichkeit des Textes macht ihn einerseits zu einem Zeugnis der „expressiven Mobilmachung“ 28 , dessen perspektivische Technik das Vorbild von Photographie, Film und Astronomie erkennen lässt, zugleich aber zu einem Dokument ökologischer Vernetzung und Entgrenzung, das in der metaphorischen Verknüpfung von Natur, Mensch und Technik den Inbegriff der von Sloterdijk als „Mobilma- 28 Peter Sloterdijk, Eurotaoismus: Zur Kritik der politischen Kinetik (Frankfurt: Suhrkamp, 1989) 64. Virginia Woolf Kew Gardens 157 chung“ verstandenen Modernisierung, die linear-fortschrittliche Bewegung, in eine relativierende und ironisierende Beleuchtung rückt. Leben als Vitalität und Prozess drückt sich in einer Vielzahl von Bewegungen aus, vor deren Hintergrund zweckrationale, männlich konnotierte Linearität geradezu befremdlich wirkt. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Woolf, Virginia: - „Kew Gardens“, The Penguin Book of English Short Stories, ed. Christopher Dolley Harmondsworth: Penguin, 1975. - „Modern Fiction“, Virginia Woolf: To the Lighthouse, ed. M. Beja London, 1970. - „Mr. Bennett and Mrs. Brown“, Virginia Woolf: Collected Essays, vol. I. London, 1966. Forschungsliteratur: Beer, Gillian: „Virginia Woolf and Prehistory”. In: Arguing with the Past: Essays in Narrative from Woolf to Sidney. London: Routledge, 1989. Berg-Ehlers, Luise: Die Gärten der Virginia Woolf. Berlin: Nicolai, 2004. Bollnow, Otto Friedrich: Die Lebensphilosophie. Berlin: Springer, 1958. Clark, Kenneth: Zivilisation 1969. Hamburg: Rowohlt, 1970. Häussler, Karl J.: „Das beispielhafte Experiment: Virginia Woolfs ‚Kew Gardens‘“, LWU 15 (1982): 241-67. 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Wenn Prousts Roman ein Bild seiner Zeit darstellt, dann ist dieser Satz nur dann nicht trivial, wenn er um einen zweiten ergänzt wird: sein Werk bringt nicht nur die eigene Epoche, in der es entstand, das heißt die Belle Epoque, sondern auch die Zeit, die sich ihr zuwendet, also die unsrige, zur Darstellung. Wie lässt sich das heutige Zeitbewusstsein darstellen? Es ist frappierend zu sehen, dass wir heute fast kein Denken der Zeit mehr haben. Das Übermorgen ist abstrakt und das Gestrige unverständlich geworden. Wir sind in eine atemporale, instantane, präsentische Zeit eingetreten, eine Zeit, die nur noch den Willen zur Zählung hat: die Höhe des Einkommens, die Zahl der Arbeitslosen, die Einschaltquoten, die Steigerung des Wirtschaftswachstums, die Höhe der Studiengebühren, die Zählung der Toten der Kriege. Die Zahl interveniert als die eigentliche Qualität des „immer weiter so wie bisher“, nur noch von allem ein bisschen mehr. Unsere Zeit ist buchstäblich gezählt, im Kreislauf des allgemeinen Geldäquivalents. Die unendlich wiederholte Kreisbewegung gibt der Epoche den Namen: Nihilismus, der mit dem qualitativen Zeitbegriff auch den Zugang zum Sein und zur Wahrheit verloren hat. Was wir heute erleiden, ist die Paarung von totaler Raserei und Ruhe. Einerseits, so die Propagandisten des status quo, haben wir nur die Zeit, welche die Sklaverei des Augenblicks übrig lässt, denn in jeder Minute ändert sich alles: Handy, Internet, die stock options der new economy, der nächste Billigflug, die Altervorsorge. Andererseits verdeckt diese ununterbrochene Betriebsamkeit nur schlecht eine passive Unbeweglichkeit, ein stagnierendes Kreisen, eine Mischung aus Aufgeregtheit und Sterilität. Es ist eine Zeit, die dem Absolutismus des kapitalistischen Weltmarktes unterliegt, eine Zeit, auf die der individuelle oder kollektive Wille keinen Zugriff hat. Aus dieser Enteignung der lebendigen Gegenwart ergibt sich ein fetischisiertes Bild des Vergangenen, das den Namen „Kultur“ trägt. Im selben Maße, wie sich die ereignislose Gegenwart banalisiert, wird alles Frühere als fiktiver Horizont kultureller Dichte verklärt. Dazu reicht es, an jedes Wort das Präfix oder Suffix „Kultur“ anzuhängen, um die eigene Barbarei vergessen zu machen: Unternehmenskultur, Aktienkultur, Streitkultur, Industriekultur, Festivalkultur, Kultur des Genießens, Kulturraum Europa. Im selben geschichtlichen Augenblick, wo alle gesellschaftlichen Bereiche der Gewalt der Ökonomie unterliegen, sprechen alle, zumindest die Freunde der bestehenden Verhältnisse, überall von Kultur. Bedauerlich nur, dass die Geschäftsbedingung der geschätzten 834 Kulturen dabei nie zur Sprache kommt, die Henning Teschke 160 doch den größten, wenngleich unfreiwilligsten Zuspruch hat: die Kultur des Krepierens mit 30 Millionen Hungertoten jährlich. Infolge derselben Logik gibt es eine Kultur des Erinnerns, oder eine Gedächtniskultur. Die nihilistische Gegenwart weiß insgeheim, dass weder der Kapitalismus noch die formale Demokratie eine Zukunft hat, die universell präsentierbar ist. Aus dieser Zukunftslosigkeit der eigenen Lebensweise heraus wendet sie sich der Vergangenheit zu und erkennt in ihr immer nur Vorformen ihrer selbst: hier bereits ein bisschen Parlament, dort ein paar Menschenrechte, hier ein Quäntchen Vernunft, dort schon ein Jota Aufklärung, dort für 5 Pfennig Toleranz, selbstredend nie auf der Höhe der eigenen Zeit. Diese konstitutive Selbstverkennung beruht auf der schlichten Ignoranz des Verhältnisses von Geschichte und Macht. Walter Benjamin hat die Allianz von Herrschaft und Verfügung über das Bild der Vergangenheit so charakterisiert. Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davon trug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das so üblich ist, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. 1 In Prousts Epoche, der Belle Epoque, erreicht die koloniale Expansion ihren Gipfel als europäischer Zugriff auf fast die ganze Erde, einschließlich der Versklavung und Massaker ganzer Völker in Afrika. Ohne dass bei Proust von dem eben Geschehenen auch nur mit einer Zeile die Rede ist, bricht er mit der Kultur, die dafür verantwortlich ist, weil seine Idee von Zeit nicht die von Besitz und Verfügung ist. An der Gestalt des eigenen Lebens geht ihm auf, dass Eigentumsrechte weder gegenüber der Gegenwart noch der Vergangenheit erhoben werden können, sollen beide in ihrer Wahrheit erfasst werden. Mehr noch: zu erfahren, wie es wirklich gewesen ist, ist keine Sache des Wollens, keine Frage der Methode. Deshalb unterscheidet er das willkürliche vom unwillkürlichen Erinnern, das restaurative, erstarrte, beliebig oft wiederholbare Bild des Vergangenen vom Ausnahmezustand der Zeit, wo ein nie mit Bewusstsein gelebter früherer Moment mit Gewalt in die Gegenwart einbricht. Diese Differenz verdeutlicht, warum die in Ich-Form geschriebene Recherche nicht einfach nur zur Selbsterfahrung antritt. Das Wiederfinden der Zeit ist bei ihm nicht Resultat einer Suche gemäß den Bedingungen des Ich. Prousts Buch ist das Gegenteil von Autobiographie oder Memoiren. In der Hauptsache erzählt es auf über 3000 Seiten von der Schwierigkeit, sich ein Bild von sich und der Welt zu machen. Es ist nicht einfach, in Prousts Roman so etwas wie eine Handlung nachzuzeichnen, die kaum mehr als ein dünner Faden ist, unterbrochen von einer Vielzahl ande- 1 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1980, Bd. I, 2, 696. Marcel Proust A la recherche du temps perdu 161 rer Handlungsstränge und Episoden, die wie in musikalischer Komposition verbunden sind. Gleichwohl kann auch Proust, bei aller Gegnerschaft zum traditionellen realistischen Roman, nicht auf eine Fabel verzichten. Die gehobene Pariser Gesellschaft im Frankreich des fin de siècle bildet den Hintergrund. Der Ich-Erzähler Marcel, der nicht mit der Person des Autors zu verwechseln ist, stammt aus einer bürgerlichen Pariser Familie, die den Sommer bei Verwandten im Dorf Combray verbringt. In der ländlichen Idylle verbringt der verwöhnte und kränkliche Marcel glückliche Stunden und lernt Personen kennen, die für den weiteren Verlauf von Bedeutung sind: den Kunstliebhaber Charles Swann, seine Kurtisane Odette und deren Tochter Gilberte, den homosexuellen Dandy Baron de Charlus und die hochadlige Sippschaft der Guermantes; insgesamt beläuft sich das Romanpersonal auf über tausend Personen. Schon früh zeigt Marcel Interesse für Malerei (die Bilder Elstirs), Musik (die Kompositionen Vinteuils) und Literatur (die Werke Bergottes), ein Theaterbesuch in Paris bestärkt den Entschluss, Schriftsteller zu werden. Nachdem er Zugang zu den großbürgerlichen und adligen Pariser Salons der Jahrhundertwende (der Kreis um Mme. Verdurin mit dem Diplomaten Norpois, dem Mediziner Cottard und den jüdischen Blochs, der exklusivere Kreis um die Herzogin von Guermantes) gefunden hat, beginnt er allmählich zu begreifen, dass sich mondänes Leben und ernsthaftes literarisches Arbeiten ausschließen. Marcels prekäre Gesundheit macht ihn zur Mitte der Sorge der ganzen Familie; die Großmutter, die Mutter und das Dienstmädchen Françoise schirmen ihn vor den Härten der Realität ab. Sein Leiden führt den Heranwachsenden in verschiedene Sanatorien, an der Seite der Großmutter besucht er die Sommerfrische von Balbec, ein fiktiver Badeort in der Normandie, wo er Robert de Saint-Loup kennenlernt und sich in Albertine verliebt. Damit beginnt die Geschichte einer langen Passion, in der sich Glück und Besitzansprüche mit Eifersucht und Zweifel an der Treue der Geliebten, die zudem lesbisch ist, abwechseln. Am Ende verlässt ihn Albertine und kommt bei einem Unfall ums Leben. Frankreichs innenpolitische Querelen werden durch die Dreyfus-Affaire präsent gehalten, die in den Salons Anlass zu heftigen Kontroversen gibt. Als der Erste Weltkrieg beginnt, bleibt der als untauglich ausgemusterte Marcel im entvölkerten Paris zurück, Saint- Loup fällt an der Front, die Guermantes fallen in Ungnade, weil sie eng mit dem deutschen Adel verwandt sind; Charlus, dessen masochistisch gefärbte Homosexualität nunmehr offenkundig ist, wird geächtet. Für Marcel sind mit den Jahren die Zweifel an seiner dichterischen Berufung ebenso gestiegen wie die Notwendigkeit, endlich literarisch produktiv zu werden. Als er, gealtert und krank, nach dem Krieg noch einmal eine mondäne Gesellschaft aufsucht, sieht er mit klarsichtiger Bestürzung, wie die Zeit die ihm vertrauten Menschen so verwandelt und entstellt hat, dass er sie kaum wieder erkennt. Doch in diesem Augenblick erkennt er seine dichterische Berufung: sich der alles zerstörenden Macht der Zeit durch die Niederschrift eines Buches entgegenzustellen, das die Rettung des Vergangenen der Kraft der unwillkürlichen Erinnerung anvertraut. So endet das Buch, indem der Autor beginnt, es zu schreiben. Vier Anekdoten mögen helfen, ein erstes Bild von Proust zu gewinnen. In den Salons des Pariser Faubourg St. Germain, wo Proust in der Welt des Adels und der Henning Teschke 162 Großbourgeoisie verkehrte, war er berüchtigt für sein irres Lachen, in das er unverhofft ausbrach und das er an eine Hauptgestalt der Recherche weitergegeben hat: das „fou rire“ von Charlus, dessen vitaler Humor ihn von der Ironie 2 , dem routinierten Spiel auf der Klaviatur anerkannter Möglichkeiten, seiner revierbewussten Umgebung trennt. Das frenetische Gelächter teilt Proust mit Kafka, der sich beim öffentlichen Lesen seiner Texte manchmal minutenlang vor Lachen schüttelte. Bei aller Verschiedenheit der jüdisch-jiddischen Assimilation in Paris und Prag 3 war den beiden Juden Kafka und Proust die Ungläubigkeit über ein Publikum gemein, das allen Ernstes glaubte, es ginge ihnen lediglich um Literatur. Gerade so, als ob das „reçu“, die Aufnahme in die monde, einer Probe auf Assimilierbarkeit gleichkäme, die beide lieber nicht bestanden. Dabei war Proust von Snobismus, verstanden als erotische Besetzung gesellschaftlicher Hierarchien, durchaus nicht frei. Doch der Umschlag von Faszination in Verachtung, von Verachtung in Gelächter, gipfelt in einer Gesellschaftskritik, deren subversivste Seite die Komik ist. Ihr Ausdruck ist das Gelächter, das bei der Darstellung der ihrem Selbstverständnis nach „gehobenen“ gesellschaftlichen Schichten nie fürchten muss, leer auszugehen. Wenn das Wesen der Komik im Missverhältnis von Größen liegt, dann entdeckt Proust die komische Fallhöhe in den Prätentionen der Großbourgeoisie und nouveaux riches. So im Salon der Verdurins, deren Kretinismus Maßstäbe setzt und der Dummheit eine große Zukunft ermöglicht, sobald die bürgerliche Besitzgier ihr Ehre daran setzt, neben allen anderen Dingen auch die Kunst in Kapital, in kulturelles Kapital zu verwandeln. Für die oberen Zehntausend wird es in der Recherche zur überlebenswichtigen Aufgabe, ihre materielle Basis zu tarnen, kein Wort darüber zu verlieren, woher ihr Reichtum kommt, wer ihn erarbeitet hat. Weil sie dieses ökonomische Mysterium um keinen Preis wahrhaben dürfen, betrachten sie das Leben in der Haltung des Snobs: „als die konsequente, organisierte, gestählte Betrachtung des Daseins vom chemisch reinen Konsumentenstandpunkt […] Der reine Konsument aber ist der reine Ausbeuter.“ 4 Deshalb waren die oberen Zehntausend für Proust ein Verbrecherclan, seine Analyse eine Sache der Kriminalistik und Heiterkeit. 2 „L’humour juif contre l’ironie grecque […] l’humour-Proust contre l’ironie-Gide […] Il y a dans l’ironie une prétention insupportable: celle d’appartenir à une race supérieure, et d’être la propriété des maîtres (un texte fameux de Renan le dit sans ironie, car l’ironie cesse vite dès qu’elle parle d’elle-même). L’humour se réclame au contraire d’une minorité, d’un devenir minoritaire” (Gilles Deleuze, Dialogues, Paris 1996, 83-84). “Proust hebt die Welt nicht im Gelächter auf, sondern schleudert sie im Gelächter nieder. Auf die Gefahr, dass sie in Scherben geht, vor denen er nur selber in Tränen ausbricht. Und sie gehen in Scherben: die Einheit der Familie und der Persönlichkeit, der Sexualmoral und der Standesehre. Die Prätentionen der Bougeoisie zerschellen im Gelächter. Ihre Rückflucht, ihre Reassimilation durch den Adel ist das soziologische Thema des Werks“ (Walter Benjamin, „Zum Bilde Prousts“, in Gesammelte Schriften, Bd. II, 1, 316). 3 Vgl. Hartmut Binder, Franz Kafka - Leben und Persönlichkeit, Stuttgart 1979, 296-301; Jean Baumgarten, Le Yiddish - histoire d’une langue errante, Paris 2002; Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Kafka - Pour une littérature mineure, Paris 1975, 144. 4 Benjamin, „Zum Bilde Prousts“, 319. Marcel Proust A la recherche du temps perdu 163 Anfang der zwanziger Jahre kommt es zur Begegnung von Proust und James Joyce. Sie unternehmen eine Fahrt in der Kutsche von Paris nach Versailles. Auf dem mehrstündigen Weg fällt im Coupé kein einziges Wort, beide haben sich nichts zu sagen. Was immer es mit der Unverträglichkeit zweier Genies auf sich haben mag, bei Proust führt sie in das Zentrum seines Schaffens hinein. Mit den Jahren zieht sich der Asthmakranke immer mehr aus seiner Umgebung zurück. Die Verbindung zur Außenwelt bricht irgendwann ganz ab, als er die Decken und Wände seines Arbeitszimmers vollständig mit Kork ausschlagen lässt, um einen schallisolierten, abgedunkelten Raum für das Schreiben auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu haben. Für Proust ist der Mensch das Wesen, das die anderen nur in sich selbst kennt und lügt, wenn es das Gegenteil behauptet. Daher die Invektiven gegen die Freundschaft, daher die Unmöglichkeit von Liebe bei Proust. Samuel Beckett, der zwischenzeitliche Sekretär von Joyce, notiert: Wenn für Proust die Liebe eine Funktion der Trauer des Menschen ist, dann die Freundschaft eine Funktion seiner Feigheit […] Freundschaft impliziert ein fast mitleiderregendes Akzeptieren von Scheinwerten. Freundschaft ist ein gesellschaftliches Hilfsmittel wie Polstermöbel oder die Verteilung von Mülleimern. 5 Die dritte Anekdote führt in Prousts Korrespondenz. Proust hat mehrere tausend Briefe geschrieben, virtuose, geistvolle, geschmeidige, langatmige, uferlose, geschwätzige, darunter einen, in dem er sich an die Gastgeberin des Vorabends wendet, Mme Strauss, bei der er seinen Regenschirm vergaß. Diese Zeilen sind ein Kabinettstück an Galanterie und Verlegenheit, ihr Schreiber bittet tausendfach um Nachsicht, beteuert, wie peinlich ihm der Vorfall sei, bedankt sich für die Mühe, die das Zurückschicken des Schirms der Mme Strauss bereitet und versichert, alle anfallenden Kosten selbstredend zu übernehmen und ihr bei nächster Gelegenheit seinen Dank abzustatten. Mit einer arabesk gewundenen Grußformel schließt der Brief, den sein Verfasser unterschreibt. Darauf, ganz unten, folgt noch ein Zusatz; P.S.: habe den Regenschirm soeben gefunden. Erst jetzt schickt Proust den Brief ab. Was wie ein Zeremonial an Umständlichkeit und Koketterie erscheint, benennt Prousts Moral und Methode des Schreibens. Es ist die Quintessenz seiner Erfahrung, wie äußerst schwierig Vieles zu sagen ist, für das doch gewöhnlich ein paar Worte ausreichen, als ob die Wirklichkeit nur ein weiteres Zeugnis für die Möglichkeit wäre. So erklärt sich Prousts Stil, die endlosen parataktische Reihungen, die eine Handlung im Licht der unzähligen Motive zeigt, die ihr zugrunde gelegen haben könnten; so erklärt sich Prousts Hypotaxe mit ihren Duplikationen, Parenthesen, Parallelismen, Oppositionen, Korrespondenzen und Analogien, in denen die vielfach verschränkte Zeit zum Ausdruck kommt, was die Syntax zersetzt und die Kausalität des Erzählten untergräbt. 6 Proust intendiert eine Vollständigkeit der Beschreibung, oder, falls dies un- 5 Samuel Beckett, Proust, Frankfurt am Main 1989, 56-57. 6 Beispielhaft für die Parataxe ist die Schilderung, die Proust von der Begegnung zweier Homosexueller - und darin der zweier Juden - gibt (vgl. A la recherche du temps perdu, Bd. III, Paris 1988, 301). Modellhaft für den hypotaktischen Satztyp ist die Beschreibung eines Wintergartens. „Le ‚jardin d’hiver‘ que dans ces années-là le passant apercevait d’ordinaire, quelle que fût Henning Teschke 164 möglich ist, da der Begriff der Vollständigkeit in die Theologie gehört, doch immerhin die größtmögliche Präzision beim Versuch, es sich nirgendwo leicht zu machen. Die vierte Anekdote hat frühgeschichtlichen Klatsch zum Inhalt. Proust war ein Buch des Ägyptologen Maspero in die Hände gefallen. Es berichtet, dass man die Zahl und die Namen derjenigen Jäger genau kennt, die der Pharao Assurbanipal, 10 Jahrhunderte vor Christus, zu seiner Treibjagd eingeladen hatte. Diese an sich nichtige Episode findet sich im ersten Teil der Recherche wieder (I, 469), bedeutsam wird sie deshalb, weil Proust selten genug auf eine Vergangenheit ausgreift, die dem eigenen Leben voraus liegt. Die Lehre, die diese Bagatelle bereithält, betrifft sowohl das individuelle wie das kollektive Erinnern: nicht die Größe eines Ereignisses entscheidet über sein Fortleben im Gedächtnis, sondern die schwer ergründbaren Zufälle der Überlieferung. Ein ägyptisches Sprichwort sagt, dass alle vor der Zeit Angst haben, dass vor den Pyramiden aber die Zeit selbst Angst hat. Damit gelangt auch Prousts Konzeption der Erinnerung an ihren Grenzwert. Zum einen, das belegt die fidele Jagdgesellschaft vom Nil, ist von allem, was jemals geschah, nicht das Geringste verloren zu geben. Zum anderen aber kann das damit gesetzte Pensum kein menschliches mehr sein. Ob aber eine andere Instanz des Eingedenkens existiert, ist ungewiss. Gibt es sie nicht, bleibt von dem Augenblick an, wo die Präsenz des Menschen auf diesem Planeten zu Ende geht, nur noch das Futur II übrig: es wird uns nicht gegeben haben. Das vom Kapitalismus erzwungene Leben, das zusehends einem Überleben gleicht, samt der Domestizierung des Menschen zum korrekten Tier, samt dem Verwertungszwang der Natur, samt der Ressourcenvernichtung und Klimazerstörung, samt dem immensen Waffenarsenal von unvorstellbarer Zerstörungskraft rückt in Reichweite, dass die menschliche Geschichte nur ein kurzes Zwischenspiel der Naturgeschichte gewesen sein mag. Marcel Proust wird 1871 als Sohn einer sehr vermögenden Pariser Familie geboren. Von delikater körperlicher wie geistiger Verfassung besucht er mit Unterbre- la rue, si l’appartement n’était pas à un niveau trop élevé au-dessus du trottoir, ne se voit plus que dans les héliogravures des livres d’étrennes de P.- J. Stahl où, en contrast avec les rares ornements floraux des salons de Louis XVI d’aujourd’hui - une rose ou un iris du Japon dans une vase de cristal à long col qui ne pourrait pas contenir une fleur de plus -, il semble, à cause de la profusion des plantes d’appartement qu’on avait alors et du manque absolu de stylisation dans leur arrangement, avoir dû, chez les maîtresses de maison, répondre plutôt à quelque vivante et délicieuse passion pour la botanique qu’à un froid souci de morte décoration. Il faisait penser en plus grand, dans les hôtels d’alors, à ces serres minuscules et portatives posées au matin du 1 er janvier sous la lampe allumée - les enfants n’ayant pas eu la patience d’attendre qu’il fît jour - parmi les autres cadeaux du jour de l’An, mais le plus beau d’entre eux, consolant avec les plantes qu’on va pouvoir cultiver, de la nudité d’hiver; plus encore qu’à ces serreslà elles-mêmes, ces jardins d’hiver ressemblaient à celle qu’on voyait tout auprès d’elles, figurée dans un beau livre, autre cadeau du jour de l’An, et qui, bien qu’elle fût donnée non aux enfants, mais à Mlle Lili, l’héroïne de l’ouvrage, les enchantait à tel point que, devenus maintenant presque vieillards, ils se demandaient si dans ces années fortuneés l’hiver n’était pas la plus belle des saisons“ (A la recherche du temps perdu, Bd. I, Paris 1987, 582-583). Zu Stil und Satz bei Proust vgl. Jean Milly, La phrase de Proust, Paris 1975; Barbara Kleiner, Sprache und Entfremdung. Die Proust-Übersetzungen Walter Benjamins innerhalb seiner Sprach- und Übersetzungstheorie, Bonn 1980. Marcel Proust A la recherche du temps perdu 165 chungen das Lycée Condorcet und studiert danach Rechtwissenschaft und Literatur an der Sorbonne. Dort hört er Vorlesungen von Henri Bergson 7 , mit dem er weitläufig verwandt ist. Nebenher verkehrt er in der mondänen Pariser Gesellschaft, wo ihm mit der Zeit die exklusivsten Salons zugänglich werden. Wegen eines Asthmaleidens zieht er sich 1906 vom gesellschaftlichen Leben zurück, auch die von ihm an der Seite seines Chauffeurs so geliebten Reisen im Automobil nach Holland, Belgien und in die Normandie muss er nach und nach aufgeben. 1914 aus gesundheitlichen Gründen vom Kriegsdienst befreit, widmet sich Proust bis zu seinem Tod 1922 nahezu ausschließlich der Arbeit an der Recherche. Alles an Prousts Existenz ist ungewöhnlich: ein ungewöhnlicher Reichtum, eine ungewöhnliche Krankheit, eine ungewöhnliche sexuelle Veranlagung, eine ungewöhnliche Begabung. Proust ist exzentrisch durch ein Zuviel an Sehkraft. Das lässt ihn die Fähigkeit verlieren, an den gesund genannten Selbsttäuschungen der anderen teilzunehmen. Soviel Differenz erzeugt Vorbehalte. Bereits die ersten Reaktionen der Zeitgenossen auf seine Schriften werfen ihm Dilettantismus vor. Die Reaktionen der professionals der Kritik ma- 7 Bergsons Begriff der durée ist das philosophische Double von Prousts mémoire involontaire. Bei Bergson ist das Grundverhältnis der Zeit das größte Paradox des Gedächtnisses: unsere ganze Vergangenheit koexistiert mit jeder Gegenwart, die Vergangenheit folgt nicht auf die Gegenwart, die sie gewesen ist, sondern ist mit ihr gleichzeitig. Mit jedem Wahrnehmungsakt ist unsere Vergangenheit als ganzes im Spiel, doch für gewöhnlich ist jede Wahrnehmung nur noch Anlass zur Wiederholung. In Erinnerung an frühere, analoge Wahrnehmungen werden in der aktuellen Wahrnehmung diejenigen Elemente selektiert, welche „in der Praxis die Realität eines Sinneseindrucks am Grade seiner Nützlichkeit messen“ (Henri Bergson, Materie und Gedächtnis, Frankfurt am Main/ Berlin/ Wien 1982, 54). Der Automatismus der Anpassung der Vergangenheit an die Gegenwart, der Wahrnehmung und Erinnerung im cliché identifiziert, verlängert das Bild in die Bewegung hinein: jedes Sehen ist der Beginn einer Handlung. „Le mécanisme cérébral a précisment pour fonction ici de nous masquer le passé, de n’en laisser transparaître, à chaque instant, que ce qui peut éclairer la situation présente et favoriser notre action: c’est même en obscurcissant tous nos souvenirs sauf un […] ce souvenir utile“ (Bergson, L’Énergie spirituelle, Paris 1993, 76-77). Dieses sensomotorisch grundierte habituelle Gedächtnis entspricht Prousts mémoire volontaire. Zwischen Erinnerung und Wahrnehmung besteht lediglich ein Gradunterschied, die Zeit ist verräumlicht. Von der zur Wiederholung erstarrten temps unterscheidet Bergson die durée als bewegend-bewegte unfassbare Dauer. „L’univers dure. Plus nous approfondirons la nature du temps, plus nous comprendrons que durée signifie invention, création de formes, élaboration continue de l’absolument nouveau“ (Bergson, L’évolution créatrice, Paris 1994, 11). Anschluss an die permanent schöpferische Bewegung des Lebens gewinnt das Bewusstsein, sobald es sich von der Mechanik der psycho-physischen Wiederholungen befreit und als intuition das Wesen der durée zum eigenen macht: „une invention continue de formes nouvelles“ (L’évolution créatrice, 343). Das intuitive Erfassen der qualitativen Diferenz jedes Augenblicks, mit der das Leben sich jederzeit erneuert und über alles Vorhandene hinausgeht, ist kein kontemplativer, sondern ein kreativer Akt, der sich in der Schöpfung des Künstlers vollendet. Die ästhetische Intuition, souvenir pur, reichert die präsentische Wahrnehmung um die inaktuellen Aspekte des Gedächtnisses an, die nicht in nützliches Tun übersetzbar waren. Die Koexistenz von Gegenwart und Vergangenheit realisiert die Zeit als beständige Dynamik des Neuen. Souvenir pur steht bei Bergson an derselben Stelle wie die mémoire involontaire bei Proust, allerdings mit dem Unterschied, dass bei Bergson der Zugang zur durée, zur reinen Zeit, eine Sache des freien Entschlusses, bei Proust dagegen vom Zufall abhängig bleibt. Henning Teschke 166 chen deutlich, wo hier die eigentlichen Widerstände liegen. Adorno, der das am eigenen Leibe zu spüren bekam, hat den ersten Aphorismus der Minima Moralia 8 Marcel Proust gewidmet. Nachdem die Beschäftigung mit geistigen Dingen selber „praktisch“ geworden ist, ein Geschäft mit strenger Arbeitsteilung, ein akademischer Betrieb mit Branchen und Spezialisten, die vor allem darum besorgt sind, die soziale Rentabilität von Literatur nachzuweisen, macht sich der Privatier verdächtig, dessen ökonomische Lage ihn vor der Schmach des Geldverdienens ebenso bewahrt wie vor der entschlossenen Borniertheit, Karriere zu machen. So privilegiert das Leben Prousts auch gewesen sein mag, so diskret er als höchster Insasse seiner Klasse von der eigenen ökonomischen Basis abstrahierte, so sehr enthält es einen Hinweis auf einen gesellschaftlichen Stand von Freiheit, den die Gegenwart verwirklichen könnte, anstatt die Menschen unter dem zusammenzubrechen zu lassen, was sie sich gegenseitig antun. „Proust selbst hat es seinen Lesern an vielen Stellen erleichtert, auch dieses oeuvre unter der altbewährten, bequemen Perspektive der Entsagung, des Heroismus, der Askese zu betrachten. Nichts leuchtet ja den Musterschülern des Lebens so ein, als eine große Leistung sei die Frucht von nichts als Mühen, Jammer, Enttäuschung. Denn dass am Schönen auch das Glück noch Anteil haben könnte, das wäre zuviel des Guten, darüber würde ihr Ressentiment sich niemals trösten.“ 9 Die fixe Idee der heutigen Gesellschaft ist die Arbeit, der Zwang zur Arbeit, wo unter den Bedingungen der Hochtechnologie etwas vom biblischen Fluch Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Leben verdienen wiederkehrt. Das kann auch nicht anders sein, solange an der bestehenden Eigentumsordnung der Produktionsmittel festgehalten wird. Doch im Gegensinn zu den sehr realen, sehr irrationalen Entwicklungstendenzen - mehr arbeiten, härter arbeiten, länger arbeiten, billiger arbeiten - liegt das vernünftige Ziel gar nicht in der Vollbeschäftigung, sondern in der Minimierung der gesamtgesellschaftlich anfallenden Arbeit, die nach der digitalen Revolution immer geringer wird. Selbst kapitalfreundliche Analytiker sprechen davon, dass im 21. Jahrhundert nur noch 20% der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung gebraucht werden, um die zum Leben notwendigen Waren und Dienstleistungen herzustellen. Proust antizipiert etwas von dieser allgemeinen Arbeitslosigkeit, verstanden als sehr reale Hoffnung. Zum Werk. 1896 erscheint Les Plaisirs et les Jours, eine Sammlung von Prosaskizzen und Gedichten mit einem Vorwort von Anatole France. Das zwischen 1896 und 1904 entstandene, erst 1952 veröffentlichte Romanfragment Jean Santeuil ist als unmittelbare Vorstufe des Hauptwerks zu betrachten. Proust verfügt hier noch nicht über ein narratives Strukturprinzip, um die Unterscheidung von willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung literarisch zu funktionalisieren. Im bis 1908 entstehenden Essay Contre Sainte-Beuve formuliert Proust die Prinzipien seiner Ästhetik durch Kritik am Methodenideal von Sainte-Beuve. Dazu zieht er die Ausführungen des Literaturkritikers zu Baudelaire, Nerval und Balzac heran, Dichter und Romanciers, die für 8 Vgl. Theodor W. Adorno, Mimima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1985, 15-16. 9 Walter Benjamin, „Zum Bilde Proust“, in Gesammelte Schriften, Bd. II, 1, 313. Marcel Proust A la recherche du temps perdu 167 Prousts Romanform- und technik, noch wo er ihnen widerspricht oder über sie hinausgeht, entscheidend sind. Sainte-Beuves Begriff und Praxis von Literaturkritik, so Proust, gelangt nicht über den Stand biographischer Indiskretion hinaus, weil er das Werk des Schriftstellers von seiner Biographie nicht trennt und so das empirische Ich mit dem ästhetischen Ich zusammenfallen lässt. Für Proust steht zwischen beiden eine ganz Welt. Daher der Vorwurf an Balzac, das in der Comédie humaine Erzählte wie etwas Erlebtes mitzuteilen und umgekehrt die Existenz wie ein Kunstwerk zu gestalten. Pastiches et Mélanges, 1919 erschienen, vereint eine Reihe von Stilimitationen, die den sprachlichen Duktus von Chateaubriand, Michelet, Flaubert, Renan und die Brüder Goncourt persiflieren. In stilistischen Exerzitien erprobt Proust auf diese Weise sein vergleichloses Talent zur Mimikry, das er in der Recherche dann zum Medium seiner schlagendsten Erkenntnisse umformt. In der Essais- Sammlung der Mélanges ist die Auseinandersetzung mit dem englischen Kunsthistoriker John Ruskin (1819 - 1919) zentral. Proust hatte dessen Werk The Bible of Amiens, wo die Kathedrale von Amiens, das Vorbild für den Kölner Dom, als eine in Stein geschlagene Bibel beschrieben wird, ins Französische übersetzt und mit einem Vorwort versehen; Gelegenheit zur Reflexion des Bezugs von Wahrheit und Schönheit. Der Betrachtung des Schönen, so Proust mit Wendung gegen Ruskin, darf keine moralisch-religiöse Doktrin zu Grunde gelegt werden. Schönheit dient nicht der Illustration einer vorgängigen Wahrheit, denn das war sie schon bei Platon nicht. Gegen die Idolatrie selbstvergessener Betrachtung konzipiert Proust eine wesentlich schöpferische Idee von vérité und beauté, die sich in der im Erinnerungsmodell der Recherche bewahrheitet. Der siebenteilige Romanzyklus A la recherche du temps perdu integriert folgende Teile: Du côté de chez Swann, A l’ombre des jeunes filles en fleurs, Le côté de Guermantes, Sodome et Gomorrhe, La Prisonnière, La Fugitive, Le Temps retrouvé. Der erste Band erscheint 1913, die weitere Folge der Publikationen wird zum Wettlauf mit der Zeit. Als Proust im November 1922 stirbt, liegt das Werk bis einschließlich Sodome et Gomorhe vor. Die übrigen Bände werden posthum herausgegeben. Die Recherche ist Bildungsroman, Liebes-, Gesellschafts-, Künstlerroman, philosophischer und psychologischer Roman zugleich. Dichtung, Moral, Analytik, Mystik, Kommentar, Satire und Prosa gehen eine bis dahin unbekannte Verbindung ein. Jedes Element des traditionellen Romans: Kontinuität der Handlung, Einheit der Person und geschlechtliche Identität, Einheit des Satzes, Kausalität und Linearität des Erzählten wird der Wirkmacht der Zeit unterworfen und damit grundlegend verändert. Die eigentliche Geschichte, die erzählt wird, ist auf ein Minimum reduziert, denn es geht nicht um die Abfolge von Ereignissen, sondern um vielschichtige Form, in der sie der Ich-Erzähler Marcel, der nicht mit Proust zu verwechseln ist, erinnert. Die Themenkreise: Traum und Erwachen, Kindheit in Combray, die eingeschobene Geschichte von Charles Swann und Odette, Namen und Eigennamen, die erste Liebe zu Gilberte, die Aufenthalte im Badeort Balbec, die männliche und weibliche Homosexualität, der Sadomasochismus und der Hermaphroditismus des Baron de Charlus, die Freundschaft zu Robert de Saint-Loup, die Begegnung mit Albertine, das Drama der Eifersucht, Albertines Flucht, die Kunst des Schriftstellers Bergotte, des Malers Elstir, des Kom- Henning Teschke 168 ponisten Vinteuil, der Eintritt in die großbürgerliche und adlige Salonwelt der Verdurins und der Guermantes, die Dreyfus-Affaire, die Reise nach Venedig, die Pariser Reaktionen auf das Kriegsgeschehen zwischen 1914 und 1918, die Zweifel an der eigenen Berufung zum Schriftsteller, das Schlusstableau, wo die Figuren des Romans noch einmal auf der Matinée der Princesse de Guermantes zusammenkommen, alle sichtbar gealtert, so als ob die unsichtbare Zeit, um kenntlich zu werden, ihre Gewalt in die Gesichter eingedrückt hätte - all das wird durch eine einzige Dimension zusammengehalten. Denn Proust beschreibt nicht ein Leben, wie es sich zugetragen hat, sondern wie der, der es erinnert, dieses Leben in der Erinnerung zusammenträgt. Proust unterscheidet die unwillkürliche Erinnerung von der willkürlichen Erinnerung, die jederzeit abrufbar das Vergangene reproduziert. Die beschleunigte Umwälzung der Merk- und Lebenswelt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verändert die Zusammensetzung der Erfahrungsinhalte und wirkt in den Aufbau des Gedächtnisses hinein. Die geschichtliche Spezifikation des Gedächtnisses bei Proust liegt in seiner Privatform. Alles, was Marcel erinnert, hat strikt privaten Charakter, der Zusammenhang mit der Tradition ist ebenso abgebrochen wie die Verbindung zu irgendeiner Form kollektiver Erfahrung. Proust gehörte zu einer Generation, die noch in der Pferdekutsche zur Schule fuhr und die 20 Jahre später traumatisiert aus den Materialschlachten des 1. Weltkriegs zurückkam. Eine Gegenwart, die der Vergangenheit immer unähnlicher wird, eine technisch produzierte Dingwelt, die für die Erfahrung immer schwerer assimilierbar wird, rufen das Bewusstsein als Chocabwehr und Registratur von Reizen auf den Plan, um die Wahrnehmung möglichst überraschungsfrei zu halten. Die Kontinuität der Zeitempfindung herzustellen ist die Aufgabe der mémoire volontaire, der willkürlichen Erinnerung. Sie entspricht dem Erlebnis, das „dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewusstsein“ 10 anweist. Mit dem integralen Bild eines Augenblicks hat das nichts zu tun, Proust ist Platoniker genug, um zu wissen, dass das Wichtigste unsichtbar ist. „Übertragen in Prousts Redeweise: Bestandteil der mémoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich und mit Bewusstsein ist ‚erlebt‘ worden, was dem Subjekt nicht als ‚Erlebnis ‘ widerfahren ist.“ 11 Deshalb wird die wahre Erinnerung, verstanden als Emanzipation von Erlebnissen, bei Proust zu einer Sache des Zufalls. In einer sprichwörtlichen Passage der Recherche schildert Proust dieses Geschehen, als der Geschmack des in den Tee getauchten Madeleine-Gebäcks mit einem Schlag das verloren geglaubte Combray, den Ort der Kindheit, wiederauferstehen lässt. Prousts Romanuniversum zeigt die Welt im Stand der Ähnlichkeit. Jeder gelebte Augenblick kennt einen zweiten Augenblick, der ihm ähnlich ist. Gelingt es, wie bei der Madeleine, ihn zu erinnern, was heißt zu vergegenwärtigen, verschränken sich Gegenwart und Vergangenheit miteinander. In diesem Sinn allein ist Prousts Platonismus zu verstehen, sofern das Unendliche nicht etwas Getrenntes oder Ideales ist, sondern durch ein endliches Ereignis realisiert wird, gleichbedeutend mit einer unendlichen Öffnung. Zeit und Ewigkeit, anstatt sich auszuschließen, sind ver- 10 Walter Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“, in Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, 615. 11 Ibid., 613. Marcel Proust A la recherche du temps perdu 169 schränkt. Spricht Proust von der reinen Zeit, „un peu de temps à l’état pur“ 12 , dann ist diese Ewigkeit keine jenseitige, sondern eine rauschhafte, erfüllte Zeit. Ewigkeit meint keine endlos in die Länge gezogene, sondern eine qualitativ andere Zeit, eine Zeit, die nicht mehr vergeht, sondern deren Augenblicke reich und weit und intensiv sind. Nehmen Sie die fünf glücklichsten Augenblicke ihres Lebens und Sie erhalten eine Ahnung von der Zeit, welche die Religion in Aussicht stellt, wenn sie vom ewigen Leben spricht. Die Differenzierung zweier Erinnerungsformen ist keine Entdeckung Prousts, sie findet sich in der Literatur bereits früher, so in Chateaubriands Mémoires d’outre-tombe. Ebenso gab es Kindheitsromane wie Georges Dariens Bas les coeurs! (1889), L’enfant von Jules Vallès und Alain-Fourniers Le Grand Meaulnes (1913). Die mémoire involontaire jedoch nicht mehr zur Zuflucht, sondern poetisch wie philosophisch zur Mitte von Werk und Welt zu machen, ist das unerhört Neue bei Proust. Gegen Ende des letzten Bandes, Le temps retrouvé, und nach weiteren Illuminationen der unwillkürlichen Erinnerung wird dem Ich-Erzähler klar, dass die verlorene Zeit allein dadurch dem Vergessen entgeht, wenn sie zum Kunstwerk gestaltet wird. Aufgabe des Schriftstellers wird es, alles Erinnerte zu Sprache und Schrift zu machen. Nichts anderes ist die vorliegende Recherche. Das gesuchte Kunstwerk gibt sich retrospektiv als das soeben vollendete zu erkennen, das Wesen der Geschichte ist der Prozess ihrer Entstehung selbst. Verlorenes und Wiedergefundenes sind am Ende dasselbe. Die längste Zeit herrschte in der Proust-Forschung Einigkeit darüber, dass das Ende in den Anfang zurückläuft und die Rechtfertigung der Realität als ästhetisches Phänomen gelingt. 13 Erst später sind Zweifel erhoben worden. Ist das zukünftige Werk, von dem Proust spricht, tatsächlich mit dem vorhandenen identisch? 14 Denn nicht alles in der Recherche ist Erinnerung, nicht durch Erinnerung allein suchen Personen und Erzähler des Romans ein Bild der Wirklichkeit zu bekommen. Kann sich Prousts fanatische Suche nach Glück wirklich mit etwas nur Fiktivem, nur Imaginärem begnügen? Sein Buch gibt Hinweise auf eine andere, letzte Dimension diesseits und jenseits des Ästhetischen. Zu den bewegendsten Seiten der Recherche gehört die Schilderung des Todes des Schriftstellers Bergotte, hinter dem die Gestalt von Anatole France zu erkennen ist. Bergotte sucht an seinem letzten Lebenstag eine Ausstellung des holländischen Malers Vermeer im Pariser Jeu de Paume-Museum auf. Vor der Ansicht von Delft hält er inne. Im Angesicht des kleinen gelben Mauerstücks am äußersten rechten Bildrand ruft er aus „so hätte ich schreiben sollen“, erleidet einen Schlaganfall und ist wenig später tot. Für das eigene Schreiben kommt diese Einsicht zu spät. Was macht nun 12 Proust, A la recherche du temps perdu, Bd. IV, Paris 1989, 451. 13 Vgl. Ernst Köhler, Marcel Proust, Göttingen 1958, 20; Gérard Genette: „Proust palimpseste“, in Figures I, Paris 1966, 62-63; Hans-Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts ‚A la recherche du temps perdu‘, Frankfurt am Main 1986, 282. 14 Vgl. Lucius Keller: „Literaturtheorie und immanente Ästhetik im Werke Marcel Prousts“, in Marcel Proust. Lesen und Schreiben, hrsg. v. E. Mass/ V. Roloff, Köln 1983, 153-169; Rainer Warning: „Supplementäre Individualität. Prousts ‚Albertine endormie‘“, in Poetik und Hermeneutik: Individualität, hrsg. v. M. Frank/ A. Haverkamp, München 1988, 440-468. Henning Teschke 170 Vermeers Bild so unerreicht? Zunächst ist das realistische Missverständnis auszuräumen, das um 1660 entstandene Bild verweise auf einen außerhalb liegenden Referenten mit dem Namen Delft. Vermeer verwendete beim Malen zwar eine camera obscura, doch hinter der photorealistischen Klarheit der Wiedergabe verbirgt sich ein andere Transparenz: die Verwandlung der Dinge durch ihr eigenes Licht. Das Licht ist der eigentliche Gegenstand des Bildes. 15 Die Lichtsituation in der Ansicht von Delft ist nicht natürlich wiedergegeben. Trotz des genauen Nachempfindens der Materialität und Stofflichkeit der Dinge kommt eine andere Qualität hinzu, die aus keiner optisch so zu beobachtenden Lichtsituation hervorgehen kann. Das Licht hat überwirklichen Charakter. Vermeer ist in Einsatz und Behandlung von Licht, Luft und Farbe unübertroffen präzis. Die Delfter Silhouette liegt da wie taufrisch nach dem Regen, durch nichts in ihrer Stille unterbrochen. Der rötliche Sand, das funkelnde Wasser, die Wolken des Himmels, der lichtdurchtränkte Kanal, der dichte Schatten der Türme, die mit leichterem Pinselstrich im Wasser aufgelösten Fassaden der Stadttore, die blauen und roten Dächer - alles trägt dazu bei, die Entzifferung des Sichtbaren so schwierig zu machen. Denn so groß die Raumwirkung des Gemäldes, so vollkommen die Gestaltung des atmosphärischen Freilichts sein mögen: woher kommt, wo liegt die Quelle des Lichtes? Denn wo immer die Sonne an diesem holländischen Himmel hängen mag, zu sehen ist sie nicht. Was also sehen wir, wenn wir die Stadt Delft wahrnehmen? Was gibt der ganzen Erscheinung die Dichte einer objektiven Notwendigkeit, welchen Weg hat Vermeer bis zur Offenbarung dieses Augenblicks zurückgelegt? Woher die ungreifbare Dauer, woher der Glanz, woher die Abgeschiedenheit, die über allem liegt, woher das schwerelos Heitere? Was sind die Taten und Leiden des Lichts in der Kunst des 17. Jahrhunderts? In der clair-obscur-Malerei bei Caravaggio, Rembrandt und Vermeer, unterwirft sich die Kraft des Lichts nicht mehr der Ordnung der Formen. Die Formen lösen sich im selben Maße auf, wie sie ans Licht steigen. Das 17. Jahrhundert befreit das Licht, emanzipiert die Farben von der berührbaren Form und schafft einen rein optischen Raum. 16 Im Vergleich zu Rembrandt hat sich die Funktion des Lichts bei Vermeer jedoch geändert. Die Figuren treten nicht mehr aus einem dunklen Hintergrund in das Licht hervor, sondern sind in eine luminose Atmosphäre getaucht. Das erlaubt, die Ausdrucksqualität des Lichts in den philosophischen Begriffen von Spinoza zu reflektieren. 17 Zur Jugendzeit Spinozas lebten er und Vermeer 17 Jahre lang im selben Viertel von Amsterdam. Ob beide sich persönlich kannten, ist ungewiss, unübersehbar bleibt, dass beide über das Jahrhundert und die Stadt hinaus die rätselhafte Klarheit des Ausdrucks miteinander teilen. Beide sind auf denselben metaphysischen Hintergrund beziehbar. In seinem Hauptwerk, der Ethik, unterscheidet Spinoza drei Formen des Ausdrucks: die Zeichen, die Begriffe, und die 15 Vgl. Jorge Semprún, Das zweite Leben des Ramón Mercader, Frankfurt am Main 1974, 9-34; Daniel Arasse, Vermeers Ambition, Dresden 1996; Hubertus Schlenke, Vermeer, mit Spinoza gesehen, Berlin 1998. 16 Vgl. Gilles Deleuze, Francis Bacon - Logique de la sensation, Bd. 1, Paris 1981, 80-81, der sich auf Heinrich Wölfflin bezieht. 17 Vgl. Gilles Deleuze: „Spinoza et les trois ‚Ethiques‘“, in Critique et Clinique, Paris 1993, 172-189. Marcel Proust A la recherche du temps perdu 171 Essenzen. Ihnen ist ein je eigenes Regime des Lichts zugeordnet: das Dunkle der Logik der Zeichen, die Farben der Logik der Begriffe, das reine Licht der Logik der Essenzen oder Wesenheiten. In der Ansicht von Delft steigert sich die Helligkeit zur visionären Gleichheit von Licht und Materie. Alles ist Licht, die Schatten lediglich seine Wirkung. Vermeer hebt im spinozistischen Sinn die Unterscheidung von Ursache und Wirkung auf. Die Ursache ist nicht mehr zeitlich und räumlich abgetrennt von der Wirkung, sondern bleibt, sofern die Dinge selber zu leuchten beginnen, der Wirkung immanent 18 - eine Gerechtigkeit aus Licht, eine Verwandlung der Dinge durch ihr eigenes Licht. Vermeer hat die christliche Ikonographie in der bürgerlichen Genremalerei säkularisiert. Zentrale religiöse sujets werden selten unmittelbar dargestellt, sondern in alltäglichen Szenen expressiv. So wäre es nicht ausgeschlossen, dass im Bild von Delft die Gestalt des neuen Jerusalems vor Augen steht, die Stadt Gottes, die vom Anblick einer holländischen Stadt so gut wie ununterscheidbar geworden ist. So läge in der Durchdringung des Augenblicks ein Ausblick auf die dichte Transparenz der Dinge und Menschen als Abglanz eines anderen Leuchtens. In einem letzten Schritt wird die Formel: Materie = Licht, erweitert: Materie = Licht = Zeit. Das Besondere der bildnerischen Realisierung der Zeit in der Ansicht von Delft ist darin zu suchen, dass Zeit nicht als Zahl oder Quantität fassbar ist, sondern von jeder räumlichen Vorstellung eines Ablaufs befreit wird. Mit der Lichtwerdung der Bildinhalte wird eine Gegenwart sichtbar, der kein Augenblick vorausgeht, auf die kein Augenblick folgt; ein Ereignis, das außerhalb von zeitlich messbaren Kategorien steht, ein Ereignis, das die Ewigkeit schon beinhaltet, ein sich nie erschöpfender Akt ohne Anfang und Ende. Eingeschmolzen in ein alltägliches Sujet, im Portrait einer Stadt, bringt Vermeer eine originäre Zeit zum Ausdruck, die den Dualismus von Zeit und Ewigkeit in der Vollkommenheit des erfüllten Augenblicks auflöst. Daraus empfängt auch die Kunst ihre Rechtfertigung, die Kunst Vermeers, die Kunst des Schriftstellers Bergotte wie die des Schriftstellers Proust. Die großen Kunstwerke, die moralische Kraft der Dichter, Musiker und Maler, die sie schufen, gehören einer anderen Ordnung als der natürlichen an und verheißen, dass dieses Leben nicht das letzte sei. In der ganzen Recherche ist nirgendwo von Religion die Rede, nur einmal, beim Tode Bergottes, hat Proust der Hoffnung auf Auferstehung - aber wie umständlich, wie vorsichtig, wie sehr im Konditional - Ausdruck verliehen. Ce qu’on peut dire, c’est que tout se passe dans notre vie comme si nous y entrions avec le faix d’obligations contractées dans une vie antérieure; il n’y a aucune raison dans nos conditions de vie sur cette terre pour que nous nous croyons obligés à faire le bien, à être délicats, meme à être polis, ni pour l’artiste athée à ce qu’il se croie obligé de recommencer vingt fois un morceau dont l’admiration qu’il excitera importera peu à son corps 18 „Die verstandesmäßige Liebe des Geistes zu Gott ist Gottes Liebe selbst, womit Gott sich selbst liebt, nicht sofern er unendlich ist, sondern sofern er durch die unter der Form der Ewigkeit betrachtete Wesenheit des menschlichen Geistes erklärt werden kann, d.h. die verstandesmässige Liebe des Geistes zu Gott ist ein Theil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt“ (Spinoza, Ethik, Darmstadt 1967, 5. Buch, 36. Lehrsatz, 545-547. Vgl. Sara Hornäk, Spinoza und Vermeer - Immanenz in Philosophie und Malerei, Würzburg 2004, 207-212). Henning Teschke 172 mangé par les vers, comme le pan de mur jaune que peignit avec tant de science et de raffinement un artiste à jamais inconnu, à peine identifié sous le nom de Ver Meer. Toutes ces obligations qui n’ont pas leur sanction dans la vie présente semblent appartenir à un monde différent, fondé sur la bonté, le scrupule, le sacrifice, un monde entièrement différent de celui-ci, et dont nous sortons pour naître à cette terre, avant peut-être d’y retourner, revivre sous l’empire de ces lois inconnues auxquelles nous avons obéi parce que nous en portions l’enseignement en nous, sans savoir qui les y avait tracées, ces lois dont tout travail profond de l’intelligence nous rapproche et qui sont invisibles seulement - et encore! - pour les sots. De sorte que l’idée que Bergotte n’était pas mort à jamais est sans invraisemblance. 19 Nach seiner weltlichen Seite erinnert Proust mit diesem Passus, dass jede große ästhetische Schöpfung den spurenhaften Entwurf einer offenen Gesellschaft, einer Gesellschaft von schöpferischen Menschen hinterlässt, wo jeder seine produktiven Kräfte so entfaltet, dass auch die Kunst von ihrer kontemplativen Schranke befreit wird, immer nur Kunst und Kommentare darüber zu erzeugen. Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Proust, Marcel: A la recherche du temps perdu, Bd. I - IV, Paris 1987-1989. Forschungsliteratur: Adorno, Theodor W.: „Für Marcel Proust“, in Mimima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1985, 15-16. Arasse, Daniel: Vermeers Ambition, Dresden 1996. Baumgarten, Jean: Le Yiddish - histoire d’une langue errante, Paris 2002. Beckett, Samuel: Proust, Frankfurt am Main 1989. Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1980-1991, Bd. I, 2, 691-707. Ders.: „Zum Bilde Prousts“, in Gesammelte Schriften, Bd. II, 1, 310-324. Ders.: „Über einige Motive bei Baudelaire“, in Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, 605-653. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis, Frankfurt am Main/ Berlin/ Wien 1982. Ders.: L’énergie spirituelle, Paris 1993. Ders.: L’évolution créatrice, Paris 1994. Binder, Hartmut: Franz Kafka - Leben und Persönlichkeit, Stuttgart 1979. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Kafka - Pour une littérature mineure, Paris 1975. Deleuze, Gilles: Dialogues, Paris 1996. 19 Proust, A la recherche du temps perdu, Bd. III, 693. Marcel Proust A la recherche du temps perdu 173 Ders.: Francis Bacon - Logique de la sensation, 2 Bde. Paris 1981. Ders.: „Spinoza et les trois ‚Ethiques‘“, in Critique et Clinique, Paris 1993, 172-189. Genette, Gérard: „Proust palimpseste“, in Figures I, Paris 1966, 39-67. Hornäk, Sara: Spinoza und Vermeer - Immanenz in Philosophie und Malerei, Würzburg 2004. Jauß, Hans-Robert: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts ‚A la recherche du temps perdu‘, Frankfurt am Main 1986. Keller, Lucius: „Literaturtheorie und immanente Ästhetik im Werke Marcel Prousts“, in Marcel Proust. Lesen und Schreiben, hrsg. v. E. Mass/ V. Roloff, Köln 1983, 153-169. Kleiner, Barbara: Sprache und Entfremdung. Die Proust-Übersetzungen Walter Benjamins innerhalb seiner Sprach- und Übersetzungstheorie, Bonn 1980. Köhler, Ernst: Marcel Proust, Göttingen 1958. Milly, Jean: La phrase de Proust, Paris 1975. Schlenke, Hubertus: Vermeer, mit Spinoza gesehen, Berlin 1998. Semprún, Jorge: Das zweite Leben des Ramón Mercader, Frankfurt am Main 1974. Spinoza: Ethik, Darmstadt 1967. Warning, Rainer: „Supplementäre Individualität. Prousts ‚Albertine endormie‘“, in Poetik und Hermeneutik: Individualität, hrsg. v. M. Frank/ A. Haverkamp, München 1988, 440-468. Thomas Mann Der Erwählte. Heimkehr aus dem Exil Sandra Schwarz Dass Thomas Manns Roman Der Erwählte nicht nur größtenteils in Pacific Palisades, Kalifornien, entstand, 1 sondern letztlich auch im Exil geblieben ist, lässt sich an seiner Rezeption ablesen: Sie bestätigt exemplarisch die These, der deutschen Exilliteratur sei die Repatriierung versagt worden. 2 Hierzulande noch jüngst zum nach wie vor ungelesensten der Werke Thomas Manns gekürt (von Rüdiger Görner, 2005) und schon im Erscheinungsjahr 1951 heftig umstritten, wurde The Holy Sinner in den USA hingegen umgehend zum Buch des Monats September „erwählt“. 3 Dies frappiert umso mehr, als Thomas Mann seinen Roman ursprünglich nur auf deutsch erscheinen lassen wollte, da er befürchtete, Der Erwählte könnte durch die Übersetzung ebenso „denaturiert“ werden wie sein Verfasser im amerikanischen Exil: 1 Zit. wird folgende Ausgabe (mit Titel und S.-Zahl): Thomas Mann: Der Erwählte. Roman. Frankfurt am Main 1991 (Berlin und Frankfurt am Main 1951). Soweit nicht anders ausgewiesen, folgen alle übrigen Zitate den Gesammelten Werken in 13 Bänden. Frankfurt am Main 1990 (1960), jeweils zit. mit Titel, Bd.- und S.-Zahl. Thomas Manns Tagebücher 1933-1934, Tagebücher 1940- 1943 (jeweils hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1977/ 1982), Tagebücher 1946- 1948, Tagebücher 1949-1950 und Tagebücher 1951-1952 (jeweils hg. von Inge Jens. Frankfurt am Main 1989/ 1991/ 1993) werden zit. als Tagebuch mit Datumsangabe. - Vgl. zum Entstehungsprozess des Erwählten die chronologische Übersicht bei Klaus Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns: „Joseph der Ernährer“, „Das Gesetz“, „Der Erwählte“. Frankfurt am Main 1998. S. 137f.; ferner ausführlich Peter de Mendelssohn: „Der Erwählte“. In: Ders.: Nachbemerkungen zu Thomas Mann 1. Frankfurt am Main 1982. S. 199-233. Th. Manns Arbeit beginnt bereits mit Mittelalter-Studien im Dezember 1947, Schreibbeginn ist lt. Tagebuch der 21.1.1948. Beendet wird Der Erwählte am 25.11.1950 und erscheint Ostern 1951 auf deutsch und englisch. 2 „Für die Bundesrepublik Deutschland blieb die deutsche Exilliteratur im Exil“, heißt es bei Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart/ Weimar 2003. S. 68f.; vgl. zur Nachkriegsdebatte Th. Manns mit der ‚inneren Emigration‘ (Walter von Molo, Frank Thieß) Hermann Kurzke: Thomas Mann: Epoche - Werk - Wirkung. 3., erneut überarbeitete Aufl. München 1997. S. 36f., wo auch der Publikumsverlust vieler Exilschriftsteller im geteilten Nachkriegsdeutschland betont wird. 3 An Alfred Neumann am 19.6.1951. In: Thomas Mann: Selbstkommentare: „Der Erwählte“. Informationen und Materialien zur Literatur. Frankfurt am Main 1989 (Teildruck aus: Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 14/ III. Thomas Mann. Teil III: 1944-1955. München/ Frankfurt am Main 1981. S. 346-433 und 590-602) [künftig ohne S.-Angabe zitiert]. - Rüdiger Görner nennt den Erwählten den „nach wie vor wohl ungelesensten der Romane Thomas Manns“ (Thomas Mann: Zauber des Letzten. Düsseldorf/ Zürich 2005. S. 185). Vgl. zur widersprüchlichen zeitgenössischen Reaktion an Alfred Neumann am 19.6.1951. Sandra Schwarz 176 Die Deutschen sind ein recht unausstehliches Volk, aber ein deutscher Schriftsteller und Diener der deutschen Sprache bin ich nun einmal durchaus, und mein Leben in deutscher Sprach-Sphäre, in der Schweiz, zu beschließen, davon träume ich doch oft. 4 Die im Folgenden vorzutragende Lesart geht dahin, dass Der Erwählte, den Thomas Mann als Inbegriff deutscher Sprachkunst versteht, diesen Traum vorwegnimmt, bevor er sich in Wirklichkeit erfüllt: mit dem Umzug nach Erlenbach an Weihnachten 1952. Zur geplanten Heimkehr aus dem Exil leistet ausgerechnet besagte Wahl des Book of the Month Club einen wesentlichen Beitrag: „Bedeutet gewiß 25 000 Dollars“, notiert Thomas Mann - bzw. eine Europareise, 5 die ihn unter anderem nach Zürich führt und die in Hinblick auf die bereits geplante ‚Heimkehr‘ sondierenden Charakter hat. 6 Bei finanziellen Vorüberlegungen zur Übersiedlung spielt ferner der Verkaufserlös des Holy Sinner eine beträchtliche Rolle, den Thomas Mann mit 50.000 Dollar ebenso hoch veranschlagt wie den Wert seines Hauses in Pacific Palisades. 7 Das heißt, er profitiert in jeder Hinsicht gerade von der amerikanischen Ausgabe und tröstet sich damit über die deutsche Resonanz auf den zeitgleich erschienenen Erwählten hinweg: Zwar kauft „das Publikum das Buch begierig, obgleich es 15 D.M. kostet“, 8 doch ist es bei seinen Rezensenten alles andere als populär, Thomas Mann wenig amused: „Bermann hat mich eine ganze Menge deutscher Besprechungen lesen lassen, - es war eine recht widerwärtige Lektüre“, heißt es am 13. Mai 1951 brieflich, 9 und am 18. Juni bestätigend im Tagebuch: „Von S. Fischer neue deutsche Kritiken des ‚Erwählten‘. Unbekömmliche Lektüre, grausig zum Teil“. 10 Nicht nur, dass der Roman viele befremdet, 11 Prädikate wie „widerlich“, „schäbig“, „abstoßend“ und „volksfremd“ - unter anderem einer Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung entnommen 12 - rufen unwillkürlich das Verdikt der ‚entarteten Literatur‘ in Erinnerung, und Thomas Manns Resümée lautet entsprechend: 4 An Agnes E. Meyer am 30.8.1950. 5 Tagebuch. 5.6.1951. S. 70; vgl. an Caroline Newton am 23.6.1951: „[D]a uns ja mit der Wahl des ‚Holy Sinner‘ durch den Book of the Month Club ein kleines großes Los in den Schoß gefallen ist, wollen wir nun unsere Europa-Reise doch noch unternehmen“. 6 Vgl. Tagebuch. 9.6.1951: „Als einfache Ferienreise gedacht, aber versuchend, sondierend“. 7 Vgl. Tagebuch. 1.6.1951; dies ist auch der tatsächliche Erlös lt. Eintrag vom 19.12.1952. 8 An Otto Basler am 12.4.1951, vgl. ebd: „Es wird schon das dritte Zehntausend bereitgestellt“. Th. Mann hätte nichts dagegen, „wenn es [das Buch Der Erwählte] populär wird“ (an Hans Reisiger bereits am 2.4.1951). - Vgl. zur amerikanischen Ausgabe, „die ich weiß Gott nicht missen kann“, an Otto Basler am 25.3.1951. 9 An Emil Belzner am 13.5.1951. 10 Tagebuch. 18.6.1951. 11 Vgl. an Hans Ulrich Staeps am 9.6.1952: „Der Erwählte hat viele befremdet“; „strange“ nennt Th. Mann ihn selbst (an Alfred A. Knopf am 17.10.1950). 12 Die ersten drei Zuschreibungen entstammen der Rez. „Der Erwählte“. Zum neuen Roman von Thomas Mann von Werner Weber (in: Neue Zürcher Zeitung. Nr. 683. 31.3.1951) und werden dems. gegenüber brieflich zit. am 6.4.1951, hier auch „volksfremd“ (vgl. an Otto Basler am 12.4.1951). Thomas Mann Der Erwählte 177 Mit einem Wort, es sind lauter Nazis, die dank der Gunst (der Ungunst) der Zeiten wieder von sich hören lassen dürfen. 13 Zwischen den Zeilen steht die Befürchtung, es werde abermals der Stab über ihm gebrochen, die deutsche (aber auch die Schweizer) Kritik aktualisiert den nie verwundenen „Choc des Exils“. 14 Mit seinem Erwählten sieht sich Thomas Mann aufs neue aus der (Wahl-)Heimat verbannt - und dies zu einem Zeitpunkt, als er im ‚faschistischen‘ Amerika der McCarthy-Ära mit ihrem fremdenfeindlichen Klima zunehmend unter Druck gerät. 15 Bereits im Sommer 1950 zieht er „eine zweite Emigration“ in Erwägung: 16 „Aber wohin? “ „Als amerik[anischer] Flüchtling in der Schweiz? “ 17 Diesen doppelt, biographisch wie zeitgeschichtlich, bedrängenden Horizont, in dem Der Erwählte fertiggestellt wird, bezieht Thomas Mann explizit auf den Gang ins Exil vor 17 Jahren und „kehrt gewissermaßen zu seinem Beginn, Arosa 1933, zurück“ mit den Worten: „Die Situation ärger und gefährlicher als 1933“. 18 Eine so frappierende Analogie eröffnet aber zugleich die Möglichkeit, „in das Gewe- 13 An Emil Belzner am 13.5.1951; vgl. zum potentiellen Vorwurf „‚bastardisierten Dichtertums‘“ an Gerty Agoston am 19.5.1951. 14 Im Anhang zum Tagebucheintrag vom 21.7.1946. 15 Von „Fascismus“ spricht Th. Manns Tagebuch am 3.12.1950 (vgl. „stetige Weiterentwicklung zur facistischen Diktatur“ [1.3.1952] bzw. „Dollar-Diktatur“ [16.3.1952]). Sein „Anti- Amerikanismus“ (22.4.1951) ist eine Folge des „sanften Faschismus“ (Richard Sennett), der in den USA nach Roosevelts Tod (1945) unter Präsident Truman mit Senator Joseph R. Mc- Carthys Commitee on Un-American Activities, einem permanenten Untersuchungsausschuss, Einzug hält (vgl. Hans R. Vaget: Schlechtes Wetter, gutes Klima: Thomas Mann in Amerika. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Stuttgart 1990. S. 68-77, hier S. 74f.; dazu Christian Mayer: Ein Fanatiker zeigt sein Gesicht. Aufstieg und Selbstdemontage des amerikanischen Kommunistenjägers Joseph McCarthy. In: SZ am Wochenende. 71. 25./ 26.3.2006. S. VI). Th. Mann selbst weiß sich „‚listed‘ von Un-American Commitee“ (Tagebuch. 4.4.1951): Als Landesfremder (vgl. Vorwort ebd. S. VI) gerät er unter den Verdacht, ein kommunistischer Trittbrettfahrer bzw. fellow traveller zu sein (vgl. Helmut Koopmann: Thomas Mann - Heinrich Mann: die ungleichen Brüder. München 2005. S. 409). Lt. Tagebuch wird Erika Mann am 24.10.1951 sogar vom F.B.I. als mutmaßliche Stalin-Agentin oder Mitglied der KPdSU verhört. Ihr Vater befürchtet seine rückwirkende Ausbürgerung (vgl. 27.1. und 5.11.1952; Th. Mann hatte 1936 die tschechoslowakische, 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten) wegen seiner Vortragsreise nach Ostdeutschland (Weimar 1949). 16 Adorno gegenüber heißt es am 11.7.1950: „Wer hätte noch vor drei Jahren eine zweite Emigration für möglich gehalten! “ (vgl. auch die Replik vom 1.8., jeweils in: Theodor W. Adorno/ Thomas Mann: Briefwechsel 1943-1955. Hg. von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2003. S. 80) Und Th. Manns Tagebuch vermerkt am 18.7.1950 in St. Moritz: „Der Gedanke einer wiederholten Emigration spukt längst, und dies Tagebuch kehrt gewissermaßen zu seinem Beginn, Arosa 1933, zurück“. 17 Tagebuch. 6.4.1950; vgl. 12.8.1950: „Neue, schwer belastende Aktualisierung dieser Frage. [...] Als amerik. Flüchtling in der Schweiz? “ 18 Tagebuch. 16.8.1950; vgl. 18.7.1950 („kehrt gewissermaßen zu seinem Beginn, Arosa 1933, zurück“), dann 29.10.1952: „Bedeutender denkwürdiger Tag in der Epoche meiner Aufzeichnungen seit Arosa 1933. Neunzehn Jahre seit wir München verließen [...]. 14 Jahre Amerika und nun Rückkehr in die Schweiz [Erlenbach am Zürichsee] ‚zur Verbringung des Lebensabends‘“. Sandra Schwarz 178 sene heimzukehren“ und es wieder-holend ins Positive zu wenden. 19 Vor dem skizzierten Rezeptionshintergrund empfiehlt sich eine Lektüre des Erwählten als Exilroman, der namentlich Helmut Koopmann im Thomas-Mann-Handbuch den Weg geebnet hat. 20 Im Zuge einer solchen Lesart wird sich erweisen, dass Der Erwählte, bei dessen Konzeption Thomas Mann erklärtermaßen „viel lachen muß“ und dessen Komik und Heiterkeit zu betonen er nicht müde wird, 21 letztlich eine ‚Komödie des Exils‘ inszeniert und dessen Tragik humoristisch transzendiert. 22 Der Erwählte hat lange Wurzeln in Thomas Manns Lebenswerk. Diese reichen bis in seine Münchner Studienzeit zurück, als er im WS 1894/ 95 bei Wilhelm Hertz die Vorlesung „Höfische Epik“ hört. Sie macht ihn unter anderem mit Hartmann von Aue und dessen Sünderheiligen-Legende Gregorius (um 1200) bekannt, deren Inhalt Thomas Mann in seinem Kollegheft kommentierend zusammenfasst. 23 Fünfzig Jahre später (1943-47) begegnet er dem Stoff im Zuge der Arbeit am Dr. Faustus wieder: in den spätmittelalterlichen Gesta Romanorum unter dem Titel Von der wundersamen Gnade Gottes und der Geburt des seligen Papstes Gregor (um 1230). Die „erzählerische[n] Möglichkeiten“, die sich aus der Vita von Gregorius ergeben, nutzt Thomas Mann schließlich für eine eigene Version, den Roman Der Erwählte: „Sein Ursprung ist Schande, sein Leben Sünde und schonungslose Buße, sein Ende Verklärung durch 19 Der Erwählte. S. 149. - Vgl. [On Myself]. Vortrag, gehalten 1940. XIII,127-169, hier S. 165: „Alles Leben ist Wiederkehr und Wiederholung“. 20 Vgl. Helmut Koopmann: Der Erwählte. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von H.K. Stuttgart 1990. S. 498-515, hier S. 507[ff.]: „Der Roman als Exilroman“ (vgl. Anm. 121). Andernorts betont Helmut Koopmann, „daß kein Werk der Exilzeit freigeblieben ist von den Spuren dieses Exils“ (Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. In: Katalogheft zur Sommerausstellung 50 Jahre Thomas Manns „Felix Krull“ - Szenen einer schönen Welt im Buddenbrookhaus. Hg. vom Heinrich- und Thomas-Mann-Zentrum. Lübeck 2004. S. 6-19, hier S. 14). Von seiner „Emigrantenliteratur“ ist bei Th. Mann selbst die Rede in der Ansprache im Goethejahr 1949. XI,481-497, hier S. 485. 21 An Agnes E. Meyer am 17.2.1948; vgl. an Hermann Hesse am 1.6.1948: „amüsiere mich königlich“. 22 Vgl. an Lion Feuchtwanger am 26.4.1951: „Humor und ‚menschliche Verzweiflung‘, da besteht wohl irgend ein Zusammenhang“, sowie an Agnes E. Meyer am 10.10.1947: „Das Komische, das Lachen, der Humor erscheinen mir mehr und mehr als Heil der Seele“ (vgl. dazu Helmut Koopmann: Humor und Ironie. In: Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart 1990. S. 836-853, ferner Th. Manns eigene Unterscheidung von Humor und Ironie als „Arten des Komischen“ mit Reinhard Baumgart am 29.9.1951). - In diesem Zusammenhang bietet sich die Lektüre des Erwählten als Komödie des Exils an, analog zu Franz Werfel: „Jacobowsky und der Oberst“, vgl. Helmut Koopmann in: Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck. Hg. von Hans Dietrich Irmscher und Werner Keller. Göttingen 1983. S. 259-267, sowie Helmut Koopmann: Franz Werfel: „Jacobowsky und der Oberst“. Der Sieg der Vernunft über die Angst der Verfolgten. In: Hitler im Visier: literarische Satiren und Karikaturen als Waffe gegen den Nationalsozialismus. Hg. von Viktoria Hertling, Wulf Koepke und Jörg Thunecke. Wuppertal 2005. S. 25-38. 23 Vgl. de Mendelssohn: „Der Erwählte“. S. 200f.; ferner Silke Grothues: Thomas Manns Roman „Der Erwählte“ als im Mittelalterbild vermittelte ironische Referenz zu seinem Lebenswerk. In: Thomas Mann (1875-1955). Hg. von Walter Delabar und Bodo Plachta. Berlin 2005 (Memoria. Bd. 5). S. 285- 304, hier S. 285ff. - Die älteste Fassung der Gregorius-Legende datiert um 1190: Das anon. altfranzösische Gedicht La vie (du Pape) de Saint-Grégoire war eine Vorlage für Hartmanns Gregorius. Thomas Mann Der Erwählte 179 die göttliche Gnade“. 24 Dieser extreme Dreischritt wird in 31 Kapiteln nachgezeichnet: Gregorius kommt als Geschwisterkind der Zwillinge Wiligis und Sibylla zur Welt, wo er von vornherein keinen Platz hat. Kurz nach der Geburt ausgesetzt, wächst er als Findling auf einer fernen Insel auf, zunächst in einer Fischerfamilie, dann als Klosterschüler in der Obhut eines Abtes, auf dessen Namen er getauft wird. Nach der Aufklärung über seine adelige Abkunft geht Gregorius auf Ritterfahrt, die ihn ausgerechnet in sein Mutterland führt. Indem er es aus Feindeshand befreit, gewinnt er die Landesherrin Sibylla zur Frau, wird Herzog und doppelter Vater. Als die Entdeckung des erneuten Inzests alles Glück schlagartig zunichte macht, büßt Gregorius seine Sünden so lange auf einem Stein in der Einöde ab, bis ihm das Wunder der Erwählung zum Papst zuteil wird und auch ein Wiedersehen mit seiner Familie beschert. „Ich denke manchmal, was der gute von Ouwe Hartmann für Augen machen würde, wenn er meine Bearbeitung sähe! “ Wie Thomas Mann wiederholt zu verstehen gibt, hält er seine Version der Gregorius-Legende in formaler wie inhaltlicher Hinsicht für ein Novum. 25 Diese Selbsteinschätzung beruht auf gezielten Abweichungen von der mittelalterlichen Vorlage, die parodistisch verfremdet wird. Doch auf den ersten Blick erzählt auch Der Erwählte eine wahrhaft unerhörte Geschichte, deren Inhalt Thomas Mann selbst wie folgt rekapituliert: Mein Gott, es ist weiter nichts daran: eine Amplifikation von Hartmann von Aues „Gregorius auf dem Stein“ [...] und von einem gewissen religiösen Humor, insofern als der von Geschwistern Erzeugte, der aus Versehen dann auch noch seine Mutter heiratet, schließlich von Gott selbst zum Papst erwählt wird - eine Geschichte also von Sünde und Gnade. 26 Mit diesen Worten wird heruntergespielt, was viele Romanleser so befremdet, dass sie in den Augen Thomas Manns „auch garkeinen Spaß verstehen“: 27 der doppelte Inzest - jeder für sich genommen selbst in unserer heutigen, weitgehend liberalisierten Gesellschaft noch Straftatbestand. Paragraph 173 des StGB spricht zwar nicht mehr von „Blutschande“, doch wird das Delikt, der „Beischlaf zwischen Verwandten“, derzeit mit bis zu drei Jahren Haft geahndet. 28 Das moralische Tabu des Mut- 24 Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“. XI,687-691, hier S. 687f. 25 An Hans Reisiger am 13.12.1949. - Vgl. an Eberhard Hilscher am 3.11.1951: „In aller Unbescheidenheit darf ich sagen, daß ich damit etwas Neues in die deutsche Literatur gebracht habe“. Und Th. Mann fährt fort: „etwas, was es vorher nicht gab, ein Einmaliges“. Die „Neuformung der vielerzählten Gregorius-Legende“ (an Käte Hamburger am 28.10.1950) ist im Roman dem ‚Geist der Erzählung‘ aufgegeben (vgl. Der Erwählte. S. 11). „Neuigkeit“ heißt Der Erwählte vorübergehend im Tagebuch (vgl. 20.-22.4.1948, dazu de Mendelssohn: Der Erwählte. S. 215). Ursprünglich wollte Th. Mann aus der Legende „eine merkwürdige Novelle“ machen (an Agnes E. Meyer am 25.10.1945, vgl. Tagebuch. 25.10.1945, „zu der mittelalterlichen Novelle“ auch noch ebd. 3.8.1947). 26 An Ludwig Lewisohn am 3.9.1950; vgl. Der Erwählte. S. 242: „ganz unerhörte Geschichte“. 27 An Kuno Fiedler am 2.6.1951, vgl. an Hermann Kesten am 23.5.1951. 28 Helmut Kerscher: Ein Tabu auf dem Prüfstand. In: SZ. 45. 23.2.2007. S. 4; vgl. Gisela Friedrichsen: Sex zwischen Bruder und Schwester. In: Der Spiegel. 44. 2005. S. 64f. - Der seit dem Dritten Reich antisemitisch konnotierte Begriff der „Blutschande“ (Th. Mann an Hermann Hesse am Sandra Schwarz 180 ter-Sohn-Inzests lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen, wo auch die psychoanalytische Theorie des Ödipuskomplexes ansetzt. Im Lichte von Freuds ‚Psychomythologie‘ 29 erscheint Gregorius als mittelalterlicher Oedipus, 30 der zwar keinen Vatermord begeht, aber als Geschwisterkind bereits mit der (Erb-)Sünde behaftet auf die Welt kommt und 17 Jahre später seine Mutter zur Frau nimmt. Motiviert Hartmann von Aue Gregorius’ Schuld noch religiös: als Werk des Teufels, dem Gott aber das Handwerk legt, so deutet Thomas Mann „Satans Lust“ 31 am doppelten Inzest tiefenpsychologisch um. „Die schlimmen Kinder“ Wiligis und Sibylla sind zugleich „völlig exceptionelle Kinder“, die das Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde aus der frühen Novelle Wälsungenblut wieder auferstehen lassen, indem auch sie sich nur der gegenseitigen Liebeswahl für würdig erachten. 32 So bekennt Gregorius’ Mutter ihm 1.6.1948 oder an Paul Amann am 26.6.1948) übertrug sich nach 1945 auf den ‚Mythos Geschwisterliebe‘, der entsprechend tabuisiert wurde (vgl. Katharina Grabbe: Geschwisterliebe: verbotenes Begehren in literarischen Texten der Gegenwart. Bielefeld 2005. S. 11f.). 29 Karl Kerényi gegenüber plädiert Thomas Mann am 18.2.1941 für „Mythos plus Psychologie“: „Diese Verbindung repräsentiert mir geradezu die Welt der Zukunft“ (XI,651; vgl. bereits [On Myself], 1940. XIII,164: „Mythos und Psychologie“). Damit greift er Sigmund Freuds Theorie der „endopsychischen Mythen“ auf: „Darstellungen unseres psychischen Inneren ... Psycho- Mythologie“ (an Wilhelm Fließ am 12.12.1897. In: Briefe an Wilhelm Fließ. 1887-1904. Ungekürzte Ausgabe. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson. Bearbeitung der deutschen Fassung von Michael Schröter. Frankfurt am Main 1986 [Cambridge/ London 1985]. S. 310ff., hier S. 311). 30 Vgl. Th. Manns Not. 35. Zit. bei Hans Wysling: Thomas Manns Verhältnis zu den Quellen. Beobachtungen am „Erwählten“. In: Thomas-Mann-Studien. 1. Bd. 1967. S. 258-324, hier S. 260: „Ein mittelalterlicher Oedipus. Ohne es zu wissen der Mann seiner Mutter, mit der Zutat, daß er aus Inzest geboren“. Lt. Ernst Robert Curtius war die Geschichte von Theben und speziell die Oedipus-Gestalt im Mittelalter populär (vgl. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 7 1969 [1948]. S. 28). Für den Erwählten, „die mittelalterliche Oedipus-Legende“ (an Hermann Hesse am 1.6.1948), betreibt Th. Mann entsprechende Studien: „Sophokles’ Oedipus nebst Kommentar“ (Tagebuch. 12.2.1948). „Ödipus-Studien schon wieder für die Legende“ (21.8.1948). Von besonderem Interesse dürfte für ihn gewesen sein, dass Karl Reinhardts Sophokles-Monographie den antiken Oedipus als „Tragödie des menschlichen Scheins“ neu akzentuiert (Frankfurt am Main 3 1947. S. 108; vgl. Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen. S. 148). Mit Freud nennt Th. Mann die Neigung zum Mutter-Inzest Ödipuskomplex, den jener am König Oedipus des Sophokles beschreibt (vgl. Makoschey. S. 147ff. und 128f., ferner Renate Böschenstein: Der Erwählte - Thomas Manns postmoderner Ödipus? In: Colloquium Helveticum. 26. 1997. S. 71-101). 31 Der Erwählte. S. 35, vgl. S. 33: „nach Valandes argem Ratschlag“, „unter Valandes Stachel“. 32 Der Erwählte. S. 26, vgl. das Kap. „Die schlimmen Kinder“ - die „in aller Welt von niemand andrem wissen wollten als von uns besonderen Kindern“. Sie machen sich der „Sünde des Hochmuts“ schuldig (S. 38, vgl. S. 54 und 111). - Wälsungenblut (1905/ 21) ist eine Walküre- Travestie des frühen Th. Mann, in deren Mittelpunkt ein dekadentes jüdisches Zwillingspaar steht, das sich um seiner erlesenen Extravaganz willen narzißtisch liebt. Siegmund betrachtet Sieglinde als sein „Ebenbild“ (VIII,380-410, hier S. 393). Grothues geht davon aus, dass Der Erwählte 43 Jahre später Siegmund und Sieglinde in Wiligis und Sibylla „wieder auferstehen läßt“ (Thomas Manns Roman „Der Erwählte“. S. 293). Dies begründet ihre als inzestuöse „Absonderung“ gestaltete Besonderheit mit (vgl. Mechthild Curtius: Erotische Phantasien bei Thomas Mann: Wälsungenblut, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Der Erwählte, Die vertauschten Köpfe, Joseph in Ägypten. Königstein/ Ts. 1984. S. 13-20: „Leben im Zubehör: Inzest als Absonderung“; Thomas Mann Der Erwählte 181 am Ende, sie habe „heimlich alles gewußt“ und nur aus „Ebenbürtigkeitswonne“ den eigenen Sohn zum Mann genommen. Dem korrespondiert das Eingeständnis von Gregorius, dass er „dort, wo die Seele keine Faxen macht, ebenfalls recht gut wusste, dass es seine Mutter war, die er liebte“. 33 Gerade in Verbindung mit dem Auserwähltheitsmotiv verweist das komplementäre Unterbewusstsein der Figuren auf das Künstlertum, bei dem laut Thomas Mann „das Unbewußte jeden Augenblick ins lächelnd Bewußte [...] hinüberspielt“. 34 Spätestens in der Audienzszene des Erwählten relativiert sich das Inzestgeschehen, da Gregorius und Sibylla ihrem Eingeständnis nach in Spuren gehen 35 - zumal auf komödiantische Weise. Ihr Rollen- Spiel 36 folgt offenbar einer Regieanweisung in Thomas Manns Exilvortrag Freud und die Zukunft bzw. „Freud und der Mythos“ (1936): dazu auch Herwig Gottwald: Das Inzest-Motiv bei Richard Wagner und Thomas Mann. In: Androgynie und Inzest in der Literatur um 1900. Hg. von Hans Weichselbaum. Salzburg/ Wien 2005. S. 181- 203). Tatsächlich hört Th. Mann zu Beginn der Arbeit am Erwählten „die Geschwisterszene I. Akt Walküre“ mit der Erkenntnis: „Der Inzest mit Frühlingspoesie, geht nicht mehr“ (Tagebuch. 13.4.1948). 33 Der Erwählte. S. 248ff., vgl. ebd.: „unwissentlich-wissend [...] das eigene Kind zum Manne genommen, weil es der einzig Ebenbürtige wieder gewesen“. Nicht umsonst verwechselt Sibylla beim Abschied die Namen von Vater und Sohn: „‚Wiligis! ‘ rief sie aus tiefster Brust und besann sich“ (S. 177). 34 Freud und die Zukunft (Vortrag, gehalten in Wien bei der Feier von Sigmund Freuds 80. Geburtstag am 8.5.1936). IX,478-501, hier S. 499. 35 Vgl. zur „Selbstanalyse“ seiner Figuren in der Audienzszene Th. Mann an Erwin Loewy- Halberhof am 15.9.1954; zur „Form der mythischen Identifikation, des Nachlebens, des In- Spuren-Gehens“ Freud und die Zukunft (1936). IX,478, ferner [On Myself] (1940). XIII,165: „Leben heißt: in Spuren gehen, Nachleben, Identifikation mit einem [...] überlieferten, mythischen Vorbild! [...] Alles Leben ist Wiederkehr und Wiederholung, und der sogenannte ‚Charakter‘ des Individuums eine mythische Rolle, die in der Illusion origineller Einmaligkeit gespielt wird, gleichsam nach eigenster Erfindung und auf eigene Hand“. - Werner Frizen weist darauf hin, dass die bewusste Imitation des Urbildes und v.a. das Wissen um das gute Ende der Handlung dem Inzestgeschehen den Schrecken nehme (vgl. Thomas Mann und das Christentum. In: Thomas- Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Stuttgart 1990. S. 307-326, hier S. 322). „Daß es eine Wirklichkeit aus 2. oder 3. Hand ist, eine zum vorherein vergeistigte, humanisierte Wirklichkeit, die mit dem Zitat ins eigene Werk übernommen wird“, betont auch Hans Wysling (Die Technik der Montage. Zu Thomas Manns „Erwähltem“. In: Euphorion. 57. 1963. S. 156-199, hier S. 188). Vgl. ferner Grabbe: Geschwisterliebe. S. 63 (und 66): „Er [der Tabubruch] wird als kein ‚außerhalb‘ der Ordnung lesbar, sondern erhält einen zitathaften Charakter: Der Inzest ist keine Bedrohung der sinnstiftenden Ordnung, sondern vielmehr ihre Bestätigung in der Wiederholung ihrer bekannten Motive“. - Vgl. im übrigen zur seinerzeit in Adelskreisen praktizierten Endogamie Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen: ein Versuch. Frankfurt am Main 2 2000. S. 133f.: Nach der seitens der Kirche erwirkten vorübergehenden Erweiterung des Inzesttabus bis hin zur Verwandtschaft siebten Grades wurde die Inzestschranke 1215 wieder auf den vierten Verwandschaftsgrad herabgesetzt, um der machtorientierten Heiratspolitik des Adels neuen Spielraum zu geben. 36 Der Erwählte. S. 249, vgl. dass sich Gregorius „gar komödiantisch darüber entsetzt(e)“ und dass er und Sibylla zusammen ein „Spiel [...] treiben“, um „Gott eine Unterhaltung damit zu bieten“ (S. 251f.). Analog zu Joseph ist v.a. Gregorius „ein Künstler, insofern er spielt“ (Freud und die Sandra Schwarz 182 Es gibt eine mythische Kunstoptik auf das Leben, unter der dieses als farcenhaftes Spiel, als theatralischer Vollzug von [...] Vorgeschriebenem, als Kasperliade erscheint, worin mythische Charaktermarionetten eine oft dagewesene, feststehende und spaßhaft wieder Gegenwart werdende ‚Handlung‘ abhaspeln [...]. Und es fehlt nur, daß diese Optik in die Subjektivität der handelnden Personnagen selbst eingeht, in ihnen selbst als Spielbewußtsein, [...]mythisches Bewußtsein vorgestellt wird [...]. 37 Tatsächlich erinnert Der Erwählte frappierend an das volkstümliche Marionettenspiel, das schon Adrian Leverkühn auf der Grundlage der Gesta Romanorum, der erwähnten Sammlung von „Mythen des Mittelalters“, fabriziert hatte; 38 dafür sprechen neben den mittelalterlichen Kulissen des Romans seine ‚mythologischen Puppen‘. 39 Ihr Drahtzieher ist der Erzähler Clemens - eine wesentliche formale Zutat Thomas Manns zu Hartmanns Legende, die eine weitgehende Identifikation mit dem sogenannten „Mittelsmann“ impliziert, wenn es im März 1948 heißt: Habe ein ganz schnurriges Einleitungskapitel zu ‚Gregorius auf dem Steine‘ geschrieben, als irischer Mönch verkleidet. 40 Mit Clemens partizipiert Thomas Mann selbst am Rollenspiel seiner Figuren, denn in dem ‚kunstliebenden Klosterbruder‘, der den Erwählten in der mittelalterlichen Bibliothek zu St. Gallen niederschreibt, wird wiederum der sogenannte ‚Geist der Erzählung‘ lebendig. Seine Schalkhaftigkeit verrät, dass Thomas Manns Roman vom „Geist der Ironie“ durchwaltet ist. 41 Sie schlägt sich schon darin nieder, dass Cle- Zukunft, 1936. IX,499) - nämlich eine „mythische Rolle“ ([On Myself], 1940. XIII,165). Gregorius selbst sieht „in sich den Helden einer Geschichte“ (Der Erwählte. S. 114, vgl. S. 242f.). 37 Freud und die Zukunft (1936). IX,497f. 38 Dr. Faustus (1947). VI,419, vgl. zum fünften Kernstück der Gesta Romanorum, Von der Geburt des seligen Papstes Gregor, S. 422ff.: Bezeichnenderweise geht Gregorius hier nach der Enthüllung seiner Herkunft auf Bußfahrt ins Heilige Land. Vgl. zu den „genialischen Puppengrotesken“ S. 419, zur „Puppenoper“ Adrian Leverkühns S. 423. Mit dem Erwählten verwirklicht Th. Mann die Absicht, dass er jenem die Gregorius-Legende „am liebsten wegnähme“ (an Agnes E. Meyer am 25.10.1945). 39 Da der ‚Geist der Erzählung‘ die Fäden des Erwählten zieht, stellt sich ebenfalls der Eindruck eines Puppenspiels ein; nicht umsonst spricht Wysling von den „mythologischen Puppen“ im Roman (Die Technik der Montage. S. 187). 40 An Erika Mann am 8.3.1948. Im Tagebuch heißt Der Erwählte am 25.2.1948 auch „Mönchsgeschichte“, „Der Mönch“ (2.3.1948) oder „Geist der Erzählung“ (1.3.1948). 41 An Käte Hamburger am 28.10.1950. - „Der Geist der Erzählung“ begegnet zuerst in Der Erwählte. S. 8 (i.O. kursiv) als Säkularisierung des Heiligen Geistes (vgl. S. 12: „Gott ist Geist“, dazu Benedikt Jeßing: Der Erzählte. Roman eines Romans. Zu Thomas Manns „Der Erwählte“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. 108. 1989. S. 575-596, hier S. 577). Der „Genius der Epik“ wird jedoch bereits in Thomas Manns Essay Die Kunst des Romans (1939) beschworen, „der epische Kunstgeist ist der Geist der Ironie“, der über den Dingen schwebt (X,348-362, hier S. 352f.) und sie relativiert (vgl. dazu bzw. zum Erzählprinzip der ‚doppelten Optik‘ Helmut Koopmann: Thomas Mann. Theorie und Praxis der epischen Ironie. In: Deutsche Romantheorien: Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland. Hg. und eingeleitet von Reinhold Grimm. Bonn 1968. S. 274-296, hier S. 284ff.). Thomas Mann Der Erwählte 183 mens um 1100, also weit vor Hartmann schreibt, 42 aber sogar dessen Iwein kennt, der erst nach Gregorius (nach 1203) entstand. Unverhohlen treibt der Erzähler mit der Überlieferung sein Spiel, Der Erwählte „parodiert viel Tradition“ zum Zwecke ihrer ‚frommen Zerstörung‘. 43 So scheint die aus verschiedensten Wort- und Bildquellen kompilierte mittelalterliche Welt teils wirklichkeitgetreu bis ins Detail, etwa was die Beschreibung der Sitten und Gebräuche am Hof von Belrapeire anlangt, doch wird dieser in das fiktive Herzogtum Flandern-Artois und damit ins Sagenhafte entrückt. 44 Dadurch entsteht eine zwischen Realismus und Imagination changierende „Mittelwelt“, die für das höfische Mittelalter durchaus repräsentativ war. 45 Besonders plastisch wird sie im „Geschwisterbild“, der Darstellung des Zwillingspaares Wiligis und Sibylla, dem neben dem Vorbild der Gralsjungfrauen in Wolframs Parzival das Ulmer Verlöbnis (vom oberrheinischen Meister, um 1470) zugrundeliegt: Dieses zeigt ausgerechnet ein Brautpaar und spielt somit bereits auf den Geschwisterinzest an. Dass die Rückseite des Bildes ursprünglich ein Verwesendes Paar zierte, verstärkt die vorausdeutende epische Ironie noch, 46 mit der Der Erwählte das „Skurrile, [...] im Erotischen 42 „Er schreibt um 1100, vor Hartmann (1190-1205)“, heißt es in Th. Manns Not. 36, die Wysling zitiert (Thomas Mann und die Quellen. S. 261); vgl. auch an Samuel Singer am 13.2.1948. Lt. Wysling tritt Clemens zugleich dem Kompilator der spätmittelalterlichen Gesta Romanorum (um 1230), einem Mönch namens Elimandus, zur Seite. 43 An Käte Hamburger am 22.4.1951; vgl. Entstehung des Dr. Faustus (1949). IX,145-301, hier S. 180: „Ich kenne im Stilistischen nur noch Parodie“. Für diese plädiert bereits Th. Manns Goethe-Roman Lotte in Weimar (1939): „Parodie ... Über sie sinn ich am liebsten nach. [...] Fromme Zerstörung, lächelnd Abschiednehmen ... Bewahrende Nachfolge, die schon Scherz und Schimpf“ (II,365-765, hier S. 680). Im Einklang damit heißt es in Th. Manns Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“ (1951). XI,690, dieser treibe „mit Alt-Ehrwürdigem, einer langen Überlieferung sein Spiel [...]. Viel Travestie [...] mischt sich hinein [...]. Merkmale einer Spätheit, für die Kultur und Parodie nah verwandte Begriffe sind“. Der Erwählte gilt in der Forschung als Thomas Manns Mittelalter-Parodie, vgl. Karl Stackmann in: Euphorion. 53. 1959. S. 61-74. 44 Vgl. Der Erwählte. S. 14, dazu an Samuel Singer am 13.2.1948, ferner Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“ (1951). XI,690: „Den Schauplatz verlegte ich aus dem ‚Aquitanien‘ der Legende in ein scheinhistorisches Herzogtum Flandern-Artois und erfand mir ein zeitlich ziemlich unbestimmtes [...] Mittelalter“. 45 Jacques Le Goff: Ritter, Einhorn, Troubadoure: Helden und Wunder des Mittelalters. München 2006, o.S. zit. bei: Christian Schnitzler: Das strahlende Mittelalter. In: AZ. 299. 28.12.2006. S. 11; vgl. bereits Erich Auerbach: Mimesis: dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 5 1971 (1946). S. 9, wo der „Realismus des höfischen Romans“ mit einer „Märchenatmosphäre“ in Verbindung gebracht wird. Vgl. zur mittalterlichen Scheinwelt des Erwählten einerseits, zur „Realisierung“ andererseits Th. Manns Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“ (1951). XI,690. 46 Tagebuch. 2.1.1951. - Der Beschreibung Sibyllas (vgl. Der Erwählte. S. 23: „Wollt ihr wissen, wie das Fräulein zur Feier des Tages gekleidet war“) liegt das Ulmer Verlöbnis bzw. Brautpaar (um 1470) vom oberrheinischen Meister (des Sterzinger Altars) zugrunde, das Th. Mann mit Wolframs Schilderung der auf der Gralsburg aufwartenden Jungfrauen im Parcival anreichert (vgl. Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen. S. 224ff. [im Rückgriff auf Wysling: Thomas Manns Verhältnis zu den Quellen. S. 276f., Abb. S. 273], hier auch eine Schwarz-Weiß-Abb.; vgl. die farbige Abb. des Brautpaares mit dem Hinweis auf das rückwärtige Verwesende Paar in: The Cleveland Museum of Art: Meisterwerke von 300 bis 1550. hg. von Renate Eikelmann. München 2007. Abb. 97 (S. 260f.). Eine Reproduktion des Originals aus dem Museum of Art in Cleve- Sandra Schwarz 184 Possenhafte“ der Inzestlegende betont. 47 Das hintersinnige Doppelbild beschreibt Clemens detailrealistisch wie folgt: Wollt ihr wissen, wie das Fräulein [Sibylla] zur Feier des Tages [von Wiligis’ Schwertleite] gekleidet war, so war sie angetan mit einem Kleide, so grün wie Gras, [...] schön weit und lang und luxuriös gerafft, und wo es vorn in breiten Falten gerafft war, sah man daß das Unterkleid aus weißer Seide war. An ihrem elfenbeinfarbenen Halse schloß es rund und war, wie an den Handgelenken, mit Perlen und Steinen gesäumt [...], und der Jungfrauenkranz in ihrem offenen Haar, er ebenfalls, bestand aus kleinen Rubinen und Granatstein grün und rot [...]. 48 Doppelbödigen Charakter hat auch das Erzählverhalten, Der Erwählte macht sich laut Thomas Mann „als ‚Geschichte‘ über sich selber lustig“. 49 Das in der Forschung sogenannte ‚dargestellte Erzählen‘ bedeutet, dass dieses gleichberechtigt neben die erzählte Welt tritt, 50 die „Mönchsgeschichte“ 51 setzt mit der Geschichte des Erwähl- land, Ohio, erwarb Thomas Mann (vgl. Wysling: Die Technik der Montage. S. 173). Sie befindet sich heute im Zürcher Thomas-Mann-Archiv. 47 Dr. Faustus. VI,426. 48 Der Erwählte. S. 23f.; besagte farbige Abb. (wie Anm. 46), die eine Frau im roten Kleid zeigt, kompiliert Th. Mann mit der Beschreibung der Gralsjungfrauen in Wolframs Parcival: „Ein Kleid, noch grüner als das Gras/ Trug von den acht jedwede Maid“ (zit. Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen. Anhang. S. 226). Die Farbe Grün ist bereits beim frühen Th. Mann positiv konnotiert, wie das Meerkapitel der Buddenbrooks belegt: „Sie lag da, die See, in Frieden und Morgenlicht, in flaschengrünen und blauen [...] Streifen“. Das „hellgrüne, kristallklare Wasser“ assoziiert „die grüne und blaue Unendlichkeit“ (I,631f.). - Bei der Beschreibung Sibyllas kommt Th. Manns Absicht der „Realisierung der Geschichte“ von Gregorius zum Ausdruck (an Oscar Schmitt-Halin am 7.4.1951): „ein Amplifizieren, Realisieren und Genaumachen des mythisch Entfernten“ (Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“. XI,690; vgl. an Ida Herz am 10.9.1951) - um sich nicht der „lebendigen Wirklichkeitsdarstellung [zu] entfremden“ (an Erich Auerbach am 23.9.1949. Erstmals zit. bei Martin Vialon: Passion und Prophetie. In: SZ. 121. 27./ 28.5.2006. S. 16). Th. Manns „scheinbaren Realismus“ betont Børge Kristiansen unter der Überschrift „‚Maskenhafter Realismus‘“ (Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. In: Thomas- Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Stuttgart 1990. S. 823-835, hier S. 827ff., hier S. 827): „Dieser Realismus, der vordergründig und ‚maskenhaft‘ bleibt, wird dann auf einer anderen Ebene des Erzählens [...] unterwandert“, etwa durch mythische Strukturen und Leitmotivtechnik (S. 829f.). 49 An Emanuel Schwarz am 5.9.1951 und an Eberhard Hilscher am 3.11.1951. 50 Titelgebend wird Der Geist der Erzählung bei Hans Rudolf Picard: dargestelltes Erzählen in literarischer Tradition. Bern u.a. 1987. S. 121-133 („Thomas Mann: Der Erwählte“), hier S. 125f.: Der ‚Geist der Erzählung‘ sei ausschlaggebend für zwei fiktive Ebenen, die des Erzählers und die der legendären Ereignisse: „Mit der Personifizierung der Erzählerinstanz macht Thomas Mann das dargestellte Erzählen zu einem zentralen Thema des Romans, das gleichberechtigt neben [...] die Ebene der Geschehnisse tritt. [...] Der wesentliche Gewinn besteht darin, dass die Aufmerksamkeit des Lesers vom Faktischen weg und zum Akt der Darstellung hin gelenkt wird“. Wie auch Jeßing betont, sei Der Erwählte ein selbstreflexiver Roman, „in dem der Vorgang des Erzählens selbst in die Roman-Fiktion integriert wird“, daher Der Erzählte (S. 581): Die Welt des Erzählens tritt also gleichberechtigt neben die erzählte Welt (in Anlehnung an: Erzählte Welt - Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Hg. von Rüdiger Zymner u.a. Köln 2000). Vgl. zur Selbstreflexivität als doppelbödigem Spiel, bei dem die Ebenen des Er- Thomas Mann Der Erwählte 185 ten sich selbst ironisch in Szene. Das heißt mit Thomas Mann, „die Kunstarbeit wird nicht, wie im realistischen Roman nach Möglichkeit verborgen, sondern parodistisch ans Licht gestellt“ 52 . Dieses „Offen-Artistische“ macht einem zeitgleichen Tagebucheintrag Max Frischs zufolge „das Spielbewußtsein in der Erzählung“ aus und wird, wie die Rezeption des Erwählten zeigt, tatsächlich „von den meisten Deutschlesenden als ‚befremdend‘ empfunden“: 53 Thomas Manns Exilroman wirkt formal wie inhaltlich irritierend und deshalb „mit fast fremden Augen schon angesehen von der Zeit“. 54 Dabei trägt diese selbst ein „Fremdlingsgesicht“ zur Schau, 55 das Thomas Mann einer wirren, ja „verrückten [...] Welt“ anlastet. 56 Die Jahre nach 1945 erscheinen ihm als Spätzeit, die vor der Barbarei komme 57 bzw. auf diese folge und die somit den Charakter eines epochalen Übergangs hätte, wie er selbst Ende 1951 im Einklang mit Hans Mayer formuliert. 58 Allerdings macht Thomas Mann bereits kurz nach Erscheinen des Erwählten das „Grauen der Zeit“ fest an ihrer „Nacht, Katastrophe und zählens und Erzählten in- und durcheinander wirken, auch Paola Albarella: Roman des Übergangs: Max Frischs „Stiller“ und die Romankunst um die Jahrhundertmitte. Würzburg 2003. S. 14. 51 „Mönchsgeschichte“ (Tagebuch. 28.2.1948) und „Geist der Erzählung“ (1.3.1948) sind gleichbedeutend - und alternative Bezeichnungen für den Erwählten. 52 Diese Textstelle Th. Manns bezieht Picard auf den Erwählten (vgl. Der Geist der Erzählung: dargestelltes Erzählen. S. 129 [mit falschem Nachweis zit.]). - Koopmann verbindet den grundlegenden stilistischen Wandel nach dem Dr. Faustus mit der Parodie - diese sei „die eigentliche Erzählschicht, nicht mehr die scheinhafte Realität“ (Der Erwählte. S. 511f.). Victor Žmega bezeichnet die Parodie bei Thomas Mann als „Ironie in bezug auf die Form“ (Konvention, Modernismus und Parodie. In: Thomas Mann und die Tradition. Hg. von Peter Pütz. Frankfurt am Main 1971. S. 1-13, hier S. 6; vgl. zur Rolle von Humor und Ironie bei Th. Mann Koopmann im Thomas-Mann-Handbuch). 53 Max Frisch: Tagebuch 1946-1949 [1950]. In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Jubiläumsausgabe in sieben Bänden 1931-1985. Bd. II. 1944-1949. Hg. von Hans Mayer. Frankfurt am Main 1986. S. 347-750, hier S. 600f. [23.8.1948]: „das Spielbewußtsein in der Erzählung, das Offen- Artistische, das von den meisten Deutschlesenden als ‚befremdend‘ empfunden und rundweg abgelehnt wird, weil es ‚zu artistisch‘ ist, weil es die Einfühlung verhindert, [...] die Illusion zerstört, [...] daß die erzählte Geschichte ‚wirklich‘ passiert sei usw.“. 54 Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“ (1951). XI,691 (vgl. auch an Werner Weber am 6.4.1951). 55 Der Erwählte. S. 101. 56 Tagebuch. 27.11.1952; vgl. zu den „wirren Zeiten“ ebd. 1.6. und 15.7.1952. Schon am 13.1.1951 konstatiert Th. Mann, dass Amerika „dem Wahnsinn in die Arme taumelt“. 57 Vgl. Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“ (1951). XI,691, sowie an Werner Weber am 6.4.1951. 58 Vgl. Hans Mayer: Literatur der Übergangszeit: Essays. Berlin 1949 (dazu Adorno an Th. Mann am 28.12.1949 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 49). Eberhard Hilscher gegenüber heißt es am 3.11.1951, Der Erwählte sei charakteristisch „für diese Übergangszeit“. In ihr kristallisiere sich „das Übergängliche der Geschichte“ (Meine Zeit. Vortrag, gehalten an der Universität Chicago am 22.4.1950. XI,302-324, hier S. 305), das auch Walter Höllerer konstatiert: „Das menschliche Selbst in der Jahrhundertmitte geht durch das Gestrüpp seiner Epoche hindurch; aber es kommt - zumindest ist das zu hoffen - in seinen besten Augenblicken auch darüber hinaus“ (ohne Nachweis zit. bei Albarella: Roman des Übergangs. S. 164). Sandra Schwarz 186 Barbarei“ 59 - also scheint ihm gerade deren Kontinuität ausschlaggebend für die Nachkriegsära. Die Weltlage schildern seine Tagebücher in düsteren Farben, der beginnende Kalte Krieg und das zunehmend fremdenfeindliche Klima in Amerika lassen bei Thomas Mann Endzeitstimmung und ein Gefühl der Ausweglosigkeit aufkommen, „gefangen in einer Welt des Unheils“ 60 notiert er: „Leiden, Seelenqual, Grauen, Fluchttrieb“. 61 Der Gedanke „einer wiederholten Emigration“ besteht bereits seit Sommer 1950, ohne dass er sich umgekehrt der einstigen Heimat vergewissern könnte. 62 Das geteilte Deutschland und ‚alte Europa‘ ist auch Thomas Mann so fremd geworden wie die Fremde, 63 wovon er sich auf seinen alljährlichen Reisen in den Jahren 1949 bis 1952 überzeugt: „Mit anderen Worten, man ist nirgends mehr zu Hause“. 64 Jenseits der aktuellen Vertriebenenproblematik bringt ein Buchtitel wie Der unbehauste Mensch, im selben Jahr erschienen wie Der Erwählte, eine geradezu existentielle Ortlosigkeit zum Ausdruck, die der Exulant Thomas Mann am eigenen Leibe erfahren hatte. 65 Auch von einer Rückkehr verspricht er sich keinen festeren Boden unter den Füßen; 66 in seiner Ansprache im Goethejahr 1949, gehalten in Weimar und Frankfurt am Main, beschreibt er Nachkriegsdeutschland als „zerrissen“, in „steinernen und [...] menschlichen“ Trümmern liegend. 67 Besonders plastisch wird dieser Eindruck ein Jahr nach Kriegsende in Frischs Tagebuch 1946-1949, wo es heißt: 59 An Käte Hamburger am 28.4.1951. 60 Tagebuch. 22.4.1951; vgl. an Agnes E. Meyer am 10.10.1947: „bei düsterer Weltlage“, ferner an Hermann Stresau am 27.4.1951: „die Ausweglosigkeit der Weltlage“. Th. Mann beherrscht die Angst vor einem dritten Weltkrieg (vgl. Tagebuch. 26.12.1951 und 8.1.1952). 61 Tagebuch. 9.4.1951. 62 Tagebuch. 18.7.1950 (St. Moritz). - Vgl. zur „fremden Heimat“ an Adorno am 9.1.1950 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 55; Helmut Koopmann zufolge trat bei Th. Mann eine allmähliche Entfremdung von der Heimat bereits 1938, mit dem Gang nach Amerika, ein (vgl. Das Phänomen der Fremde bei Thomas Mann. Überlegungen zu dem Satz: „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur“. In: Leben im Exil: Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933-1945. In Verbindung mit Walter Hinck hg. von Wolfgang Frühwald und Wolfgang Schieder. Hamburg 1981. S. 103- 114, hier S. 109). Im Offenen Brief an Walter von Molo, Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe (7.9.1945), heißt es, dieses sei ihm „doch recht fremd geworden“ (XII,953-962, hier S. 957). Vgl. zur „fremden und unheimlichen Heimat“ S. 958, zur „Verfremdung“ S. 962. 63 So Adorno an Th. Mann am 13.4.1952 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 103; vgl. dessen Tagebuch. 26.11.1951: „Hier [in Amerika] fremd und unerkannt“. 64 Adorno an Th. Mann am 3.6.1950 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 62; vgl. zur drohenden gänzlichen Heimatlosigkeit Th. Manns Tagebuch. 18.8.1950. 65 Vgl. Hans Egon Holthusen: Der unbehauste Mensch: Motive und Probleme der modernen Literatur. München 1951 (vgl. allerdings zur Kritik am Exilautor Th. Mann S. 142). - Th. Mann selbst spricht in bezug auf die erwogene Rückkehr von „Lebensfragen“ (Tagebuch. 11.5.1952). 66 Vgl. Tagebuch. 6.1.1951: Th. Mann fürchtet, er könnte „den Boden unter den Füßen verlieren“, die geplante Übersiedlung hat den Charakter eines „Umsturzes“ (15.12.1951). Sein Fazit lautet: „Außer der Schweiz, die freilich kompakt pro-amerikanisch [...] bietet der europäische [Kontinent] keinen festen Boden“ (15.4.1952). In der Schweiz fühlt sich Th. Mann aber zumindest willkommen (vgl. 12.12.1951 und 13.2.1952). 67 Ansprache im Goethejahr 1949. XI,488 („zerrissen“, vgl. S. 487: „Trümmer umgeben mich“), von „steinernen und [...] menschlichen“ Trümmern ist die Rede in Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe (1945). XII,957; vgl. bereits Tagebuch. 21.7.1946: „das ganze Elende [sic], die ganzen Thomas Mann Der Erwählte 187 München kann man sich vorstellen, Frankfurt nicht mehr. Eine Tafel zeigt, wo das Goethehaus stand [...]: die Ruinen stehen nicht, sondern versinken in ihrem eigenen Schutt. 68 Noch im Herbst 1948 formuliert der heimgekehrte Bertolt Brecht lakonisch: „Berlin, der Schutthaufen bei Potsdam“. 69 Eine derart unbewohnbare „Trümmerwelt“ 70 macht das „Elend der Heimat“ 71 fasslich und reicht mitten in eine Dichtung hinein, die sich mit Heinrich Böll als „Trümmerliteratur“ versteht. 72 Ihren erinnerungsfeindlichen Gestus von ‚Kahlschlag‘ 73 und ‚Nullpunkt‘ 74 assoziiert Thomas Mann gerade nicht mit Neuanfang, sondern mit ausgeprägtem Traditionsbruch und mit dem Abschneiden der eigenen Wurzeln, wofür er als Exulant besonders sensibilisiert war. 75 Es mutet ihn als Selbstverlust einer ganzen Nation unnatürlich, ja geradezu un- Trümmer“. Im übertragenen Sinne erwähnt noch Mayer „die Zerrissenheit unserer Tage“ (Literatur der Übergangszeit. S. 213). 68 Frisch: Tagebuch 1946-1949. GW 2,374. - Th. Mann selbst finanzierte etwa die Reparatur der Weimarer Herderkirche (vgl. Tagebuch. 27.2.1951); seine Ansprache im Goethejahr 1949 fand vor Ort im Nationaltheater, in Frankfurt in der Paulskirche statt. 69 Brechts Bonmot findet sich in: Arbeitsjournal. 2. Bd. 1942-1955. Hg. von Werner Hecht. Frankfurt am Main 1955. S. 528 (27.10.1948). 70 Werner Bergengruen: Über abendländische Universalität (1948). In: Hoffnung Europa: deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1994. S. 372- 386, hier S. 372. 71 Albarella: Literatur der Übergangszeit. S. 75. 72 Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. In: Die Literatur. 15.5.1952; vgl. den Kommentar Urs Widmers: „Insbesondere die Literatur der Deutschen war ein Trümmerhaufen“ (zit. bei Hans-Herbert Räkel: Orpheus und die Seinen [Rez. der Neuausgabe von: Walter Muschg: Tragische Literaturgeschichte. Mit einem Nachwort von U.W. Zürich 2006, zuerst Bern 1948]. In: SZ. 189. 18.8.2006. S. 14). Th. Mann zählt den Erwählten ausdrücklich zur „Gegenwartsliteratur“ (Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“. XI,691). 73 Vgl. Wolfgang Weyrauchs Begleitwort zu der von ihm hg. Anthologie Tausend Gramm (1949), das nicht nur eine Schneise, sondern „einen Kahlschlag“ i.S. einer Tendenzwende in der gegenwärtigen deutschen Prosa konstatiert (zit. Meier, Andreas: Zwischen ‚Kahlschlag‘ und Weltliteratur. Martin Walser und die Literaturästhetik der Nachkriegsjahre. In: Erzählte Welt - Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Hg. von Rüdiger Zymner u.a. Köln 2000. S. 121-136, hier S. 124. Anm. 17). In diesem Kontext stehen die Bemühungen der ‚jungen Generation‘ (vgl. Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation. Hg. von Hans Werner Richter und Alfred Andersch 1946-49) und speziell der ‚Gruppe 47‘ um den literarischen Neubeginn. 74 Vgl. zum „Mythos vom Nullpunkt“ als literarischer Zäsur Peter J. Brenner: Nachkriegsliteratur. In: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995: eine Sozialgeschichte. Hg. von Horst Albert Glaser. Stuttgart/ Wien 1997. S. 33-57, hier S. 41, dazu auch Eva Vinke: Heiterkeitsdiskurse: Annäherung an eine Tendenz in der Literatur 1945-60. München 2005. S. 9. Helmut Koopmann konstatiert: „Dieser ‚Nullpunkt‘ [der Jahre um 1947], das Ende des alten und der zaghafte Beginn des neuen Erzählens, bedeutet also vor allem Traditonsverlust“, ja „Traditionsbruch“ (Nullpunkt und Kontinuität des Ich im deutschen Roman der Nachkriegszeit. In: Literatur und Medien in Wissenschaft und Unterricht: Festschrift für Albrecht Weber zum 65. Geburtstag. Hg. von Walter Seifert. Köln/ Wien 1987. S. 27-36, hier S. 30, vgl. S. 27). 75 Vgl. an Eduard Korrodi am 3.2.1936 in: Thomas Mann: Briefe 1889-1936. Hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1962. S. 413: Th. Mann sieht sich gerade in der geistigen Überlieferung Deutschlands tief verwurzelt. Sandra Schwarz 188 menschlich an: „Barbarei senkt sich herab, [...] ein tiefes Vergessen“. 76 Zynisch wendet sich Thomas Mann gegen den akuten Hang seiner Landsleute, mit dem Gedanken an das Dritte Reich auf einmal Jahrhunderte der eigenen Geschichte (von Friedrich dem Großen bis Bismarck) abschütteln zu wollen: „Vielleicht gelangen sie in mittelalterlich fromme u. biedere Zustände zurück“. 77 Aus Sicht Thomas Manns sind Vergangenheitsleugnung bzw. Geschichtsklitterung und „Menschenfremde“ 78 die entscheidenden Koordinaten der ‚verkehrten Welt‘ nach ’45. Vor diesem Zeithintergrund ist ein Mittelalter-Roman wie Der Erwählte doppelt motiviert: Er beschwört die „wohnlichen Regionen der Überlieferung“ 79 in Form von Zitat und Parodie herauf - einerseits um falsche Geschichtsbilder wie die ‚gute alte Zeit‘, das ‚völkisch‘ gedeutete Mittelalter oder auch das ‚finstere, barbarische‘ Mittelalter 80 zu relativieren; andererseits um das Vergangene erinnernd zu bewahren 81 und für die Deutung der eigenen Gegenwart fruchtbar zu machen. Dazu dient die bewusst enthistorisierende, ins Zeitlose hinüberspielende „Endform der Legende“ 82 wie auch eine ausgefeilte Montagekunst. 83 Schon seit den Josephs-Romanen 76 An Werner Weber am 6.4.1951. 77 Tagebuch. 3.1.1948: „Unmögliche Lage der Deutschen, die in Mißerfolgs-Anbetung nun gegen Friedrich, Bismarck, Nietzsche, Wagner wüten und Jahrhunderte ihrer Geschichte abschütteln wollen. Vielleicht gelangen sie in mittelalterlich fromme u. biedere Zustände zurück“. 78 Tagebuch. 11.4.1943 (in bezug auf Amerika); vgl. das Vorwort zu Tagebücher 1951-1952. S. V: „sich selbst entfremdete Menschheit“. 79 Dr. Faustus. VI,73. 80 Gegen letzteres wendet sich Christian Schnitzler: Das strahlende Mittelalter. In: AZ. 299. 28.12.2006. S. 11; vgl. auch Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. S. 25: „so dunkel, wie es [das Mittelalter] - fälschlich - den italienischen Humanisten erschien“. - Vgl. zum ‚völkisch‘ verstandenen Mittelalter Deborah Lund/ Karen Jankowsky/ Karen Thompson: Mittelalterliche Legende im 20. Jahrhundert. Hartmann von Aue und Thomas Manns Gregorius. In: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur. Hg. von James F. Poag und Gerhild Scholz- Williams. Königstein/ Ts. 1983. S. 168-181, hier S. 175. In bezug auf eine für den Erwählten herangezogene Quelle, Ferdinand Gregorovius’ Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter (neu hg. 1926), äußert sich Th. Mann in Meine Zeit (1950) wie folgt: „Wie ist das? Legenden können, ‚wenn die Welt sie anerkennt‘, zur Wahrheit - Mythen, Märchen, Fälschungen, Lügen zur Grundlage der geschichtlichen Wirklichkeit werden? [...] Dann ist sie [...] die Poesie der Gewalt [...]. Genau dies aber [...] ist es, was der Totalitarismus der Geschichte abgelernt hat“ (XI,317). 81 Vgl. zum „Erinnern und späten Heraufbeschwören einer langen Kulturtradition, die man noch in der Parodie bewahrt“, an Wolf Jobst Siedler am 23.4.1951; im Tagebuch (14.3.1949) vergleicht sich Th. Mann diesbzgl. mit Autoren wie T.S. Eliot und James Joyce, die in Deutschland nach 1945 eine verspätete Rezeption erfuhren. 82 Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“. IX,691; es sei „die letzte Form, die das viel versuchte Gedicht annimmt in der Fülle der Zeit“ (Tagebuch. 20.12.1949). Als „Legende“ (Tagebuch. 16.12.1947, 25.2.1948 u.ö.) ist Der Erwählte „dem Geschichtsroman, dem Zeitroman bewußt entgegengesetzt; Thomas Mann nutzt die Form der Legende, die die Geschichte nicht überhöht, sondern sie gleichsam widerlegt“, für die Absage an eine Zeitdarstellung, konstatiert Koopmann (S. 498). Das Geschichtliche und Zeitgenössische werde „travestiert, in eine quasi zeitlose Legendenhaftigkeit verwandelt“ (S. 503). 83 Für Gottfried Benn ist die „Montagekunst“ der „Stil der Zukunft“: „Bedarf größten Geistes und größten Griffs, [...] wenn der Mann danach ist“ (Doppelleben [1950]. Kap. VII/ 5. In: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgagbe. In Verbindung mit Ilse Benn hg. von Gerhard Schuster. Bd. Thomas Mann Der Erwählte 189 macht sie sich nicht mehr verdeckt, sondern als ‚höheres Abschreiben‘ geltend, indem Thomas Mann Anleihen aller Art „sozusagen aufklebte [...] offenkundig und citatweise“. Dass Der Erwählte das Verfahren, Fremdes zu integrieren, 84 noch perfektioniert, verrät sein kombinatorischer Anspielungsreichtum; dessen mannigfaltige Bezüge haben die intensiven Quellenstudien von Hans Wysling (1963/ 1967) und Klaus Makoschey (1998) in ihrerseits archivalischer Kleinarbeit zutage gefördert. 85 Die Romanlektüre verspricht dem Belesenen einen hohen Wiederkennungseffekt: Was Thomas Mann herablassend als „vages Mittelalter“ bezeichnet, 86 entpuppt sich bei genauerer Recherche als überaus kunstvoll montierte, aber kulissenartige „Zitatwirklichkeit“. Sie hat im doppelten Wortsinne synthetischen Charakter, 87 wobei die entsprechenden Versatzstücke der höfischen Epik allerdings oft nur aus zweiter Hand stammen. Dass sich Thomas Mann weniger auf das jeweilige mittelhochdeutsche Original als auf seine Kommentare stützt, illustrieren Makoscheys Quellenkritische Untersuchungen zum Ritterschaftstraum von Gregorius. Dieser verschmilzt zwei Vorlagen: zum einen die erste aventiure aus Hartmanns Iwein, die aber einer Fußnote zur Parzival-Übersetzung von Karl Pannier (1897) entnommen ist, und zum anderen Chrétien de Troyes’ Yvain nach einer Zusammenfassung in Erich Auerbachs Mimesis V. Prosa 3. Stuttgart 1991. S. 168f.). Für Koopmann ist Der Erwählte „in höherem Maße noch als seine Vorgänger Zitat und Montagewerk“ (S. 502). Vgl. zur Montagetechnik Thomas Manns im allgemeinen Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne: Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. S. 303 und S. 529. Anm. 19; zum Montagestil (zeitgleich etwa bei Arno Schmidt: Leviathan, 1949; Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras, 1951) ferner S. 431 und 439. Wysling betont, Die Technik der Montage bei Thomas Mann sei für viele Dichter des 20. Jahrhunderts verbindlich geworden (S. 176), so dass insofern durchaus eine Traditionsbildung stattfand (die Kurzke weitgehend negiert: Thomas Mann: Epoche - Werk - Wirkung. S. 13ff.). 84 An Adorno am 30.12.1945 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 19f.: Das ‚höhere Abschreiben‘ sei eine „Vergeistigung des mechanisch Angeeigneten“. In bezug auf Dr. Faustus heißt es Adorno gegenüber am 5.10.1943. S. 9: „Ich scheue [...] vor keiner Montage zurück [...]. Was in mein Buch gehört, muss hinein und wird von ihm auch resorbiert werden“. Helmut Koopmann kommentiert dies wie folgt: „Fremdes integrieren: das ist Thomas Manns lebenslange Arbeitsformel gewesen“ (Das Thomas-Mann-Archiv und die Thomas-Mann-Forschung. In: Im Glücke der Genauigkeit. 50 Jahre Thomas-Mann-Archiv. Frankfurt am Main 2006 [Thomas-Mann-Studien 35]. S. 439-488, hier S. 479). 85 Vgl. Klaus Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns: „Joseph der Ernährer“, „Das Gesetz“, „Der Erwählte“. Frankfurt am Main 1998, sowie Hans Wysling: Thomas Manns Verhältnis zu den Quellen. Beobachtungen am „Erwählten“. In: Thomas-Mann-Studien 1. 1967. S. 258-324, und ders.: Die Technik der Montage. Zu Thomas Manns „Erwähltem“. In: Euphorion. 57. 1963. S. 156-199 (hier S. 174 zur „Demontage“ seitens der Forschung). 86 An Samuel Singer am 13.4.1948. 87 Wysling: Thomas Manns Verhältnis zu den Quellen. S. 274ff., hier S. 278; es komme zu einer „neuen Scheinwirklichkeit des Sprachwerks“ (ebd.), zu einer „Kunstwelt“ (S. 280). Th. Manns „Wirklichkeits-Montage“ (an Schönberg am 17.2.1948) impliziere gerade „Wirklichkeitsferne“ (Wysling. S. 281f.; vgl. zum Zusammenhang von Montageprinzip und einer zitierten bzw. „geborgten Realität“ auch Koopmann: Der Erwählte. S. 511). Gerade der Beginn des Erwählten sei konstitutiv für „das Gegenwirkliche“ bzw. „einen poetischen Spielraum [...], der jenseits der Realität lag“ (S. 500f.). Sandra Schwarz 190 von 1946. Die Kompilation der Übernahmen kulminiert in der Formulierung vom „Herrn der Quelle“, dem imaginären Gegner von Gregorius im Erwählten, denn Panniers Iwein spricht vom „Herrn des Brunnens“, Auerbachs Yvain vom „Ritter der Quelle“: Von Artus’ Gentlevolk träumte er einer zu sein, und wenn er einsam am Strande lag, in seinem Chorkleid, den Kopf auf einem Stein, so sah er sich in anderem Kleide [...], - darin kam er zu einer Quelle im dichten Wald, [...] und mit Fassung sah er der Ankunft des geharnischten Herrn der Quelle entgegen [...]. Der zornige Herr der Quelle war zweimal so groß und stark wie er, aber er wußte sich im Kampf nicht [...] so zusammenzunehmen wie Grigorß, und darum erschlug ihn dieser, nicht ohne sich danach die holdselige Witwe des Gefällten günstig zu stimmen. 88 Doch beschränkt sich Der Erwählte nicht auf ein derart ‚intertextuelles‘ Mittelalter, 89 sondern nimmt auch Bezug auf den Zeichencharakter der mittelalterlichen Welt und ihr sogenanntes ‚symbolisches Universum‘. Speziell die Frage nach den göttlichen Bedeutungen der Dinge beantworteten seinerzeit Enzyklopädien, die das Weltwissen antiquarisch versammelten und ihm einen höheren Sinn gaben. 90 So gilt die hämische Anspielung, dass Wiligis „das Einhorn fange, wenn es entschlummert sei in seiner keuschen Schwester Schoß“, zwar dem Geschwisterinzest, ist aber zugleich ein erster Fingerzeig auf die Stilisierung des Inzestkindes Gregorius zum eingeborenen Sohn Gottes. 91 Ein weiteres Indiz dafür stellt der Fisch dar, „das Symbolum Christi“, 92 wie es im Erwählten heißt, dem hier aber mancherlei Sinn zukommt: „Es ist auch das Symbolum des Wassers“, auf dem Gregorius auf die Klosterinsel in die Fischerhütte und von dort aus ins Mutterland zurück gelangt, wo er einst auf einer Wasserburg zur Welt kam. Als Ritter vom Fisch führt er „das Zeichen der Männlichkeit“ 93 und zugleich „das Zeichen Gottes“, 94 denn der so genannte „Schlüsselträger“ im Auffindungskapitel ist sowohl ein großer Fisch als auch der zum Papst Er- 88 Der Erwählte. S. 87; vgl. Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen. S. 194f. 89 Vgl. Jeßing: Der Erzählte. S. 589 (und 592), als Fazit S. 590f. (und 595): „Die mittelalterliche Wirklichkeit [...] verdankt sich einzig anderen, vorgängigen Texten“. Jeßing geht von der „Erzeugung eines textlichen Mittelalters“ u.a. durch literarische Quellen aus. Der Erwählte sei aus jenen Versatzstücken ‚montiert‘ (S. 587f.), die Wysling namhaft gemacht habe, und spreche mit der „‚Stimme der Intertextualität‘, er zitiert ‚explizit‘ und ‚erkennbar‘, er spielt offensichtlich und ironisch mit der ‚Intertextualität‘“ (S. 592). Dafür gebraucht Th. Mann den Begriff der ‚Bastelei‘ (an Agnes E. Meyer am 17.3.1948 und im Tagebuch Ende Juni und 19.11.1950; vgl. Marcel Reich-Ranicki: Über den „Erwählten“ von Thomas Mann. In: Thomas Mann Jahrbuch. 4. 1991. S. 99-108, hier S. 99). Aufgrunddessen wurde Der Erwählte in der Forschung in den Kontext der Postmoderne gerückt, vgl. etwa Böschenstein: Der Erwählte - Thomas Manns postmoderner Ödipus? (1997). 90 Vgl. Umberto Eco: Symbol und Allegorie [aus: Kunst und Schönheit im Mittelalter. Übersetzt von Günter Memmert. München 3 1995. S. 79-84 und 92-108]. In: Lebendiges Mittelalter: ein Lesebuch. Hg. von Brigitte Hellmann. München 1995. S. 283-297. 91 Der Erwählte. S. 36. - Vgl. zum Einhorn als christologischem Symbol Eco: Symbol und Allegorie. S. 286. 92 Der Erwählte. S. 114. 93 Der Erwählte. S. 125. 94 Der Erwählte. S. 215. Thomas Mann Der Erwählte 191 wählte. 95 Dieselbe imitatio Christi evoziert der Vergleich von Gregorius mit einem borstigen Igel, den der frühmittelalterliche Physiologus als Sinnbild des Gläubigen verstand, 96 zumal der Büßer bei Thomas Mann „der christliche Ödipus“ ist. 97 Die Motivwahl an sich impliziert mit seinen Worten eine „kulturell hoch produktive Krankheitswelt von Inzestangst, Mördergewissensnot und Erlösungsdrang“. 98 Mit Blick auf den zeitgeschichtlichen Kontext liegt eine allegorische Lesart des Erwählten selbst nahe. Denn die Schande des doppelten Inzests aktualisiert jene „Schandgeschichten“, die zu Thomas Mann „täglich aus dem verlorenen, verwildernden, wildfremd gewordenen Land herüberdrangen“, das einst seine Heimat war. 99 Der der Romanhandlung unterlegte Ödipuskomplex wiederum reflektiert unterschwellig 100 die unmittelbar nach Kriegsende von Thomas Mann selbst aufgeworfene und anfangs der schamkulturell geprägten 1950er Jahre weiterhin virulente (Kollektiv-) Schuldfrage. 101 So besehen entpuppt sich Der Erwählte als Deutschland-Roman - 95 Der Erwählte. S. 217 (in bezug auf den Fisch, in dem sich der Schlüssel zum Beineisen des Büßers findet, vgl. S. 214f.) und S. 225 (in bezug auf Papst Gregorius, dem die Schlüsselgewalt Petri gegeben ist; vgl. auch seinen Fischerring, S. 232). 96 Vgl. zum Igel (Der Erwählte. S. 220f.) als christologischem Symbol Eco: Symbol und Allegorie. S. 292. 97 Thomas Mann: Collegheft 1894-1895. Hg. von Yvonne Schmidlin und Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2001. S. 103. 98 Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929). X,256-280, hier S. 260 (in bezug auf Freud: Totem und Tabu, 1913; vgl. Wysling: Die Technik der Montage. S. 181). 99 Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe. Offener Brief an Walter von Molo (September 1945). XII,954; vgl. Die Lager (wie Anm. 101). XII,951ff., hier S. 951: Diese „Schandstätten“ seien Mahnmale der „in kranker Lust“ begangenen deutschen Untaten. 100 Vgl. an Emanuel Schwarz am 5.9.1951, zur unterschwelligen Abbildung des deutschen Schicksals aber an Erwin Loeweson am 23.8.1953: „Dies mag sogar für die Assoziationen gelten, die sich auf Deutschland und die Deutschen erstrecken“. 101 Die Schuldfrage (Karl Jaspers, 1946) wurde von Th. Mann selbst aufgeworfen: in der Rundfunkrede Die Lager am 8. Mai 1945 (gedruckt in der Bayerischen Landeszeitung am 18.5.1945 u.d.T. Thomas Mann über die deutsche Schuld). Hier betont Th. Mann „unsere Schmach“ (XII,951). Auch in seinem Offenen Brief an von Molo, Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, vertritt Th. Mann die Kollektivschuldthese; den Büchern der Inneren Emigration hafte ein „Geruch von Blut und Schande“ an, „sie sollten alle eingestampft werden“ (XII,957). Und Dr. Faustus (1947) thematisiert ebenfalls die „Schuld der Zeit“ (VI,662). - Nach 1945 wird C.G. Jungs These vom kollektiven Unbewussten relevant: „So muß es wohl typische Mythen geben, die recht eigentlich die Instrumente sind zur völkerpsychologischen Komplexbearbeitung“ - wie etwa der Ödipusmythos (Wandlungen und Symbole der Libido [1912], vgl. Joachim Schulze: Joseph, Gregorius und der Mythos vom Sonnenhelden. Zum psychologischen Hintergrund eines Handlungsschemas bei Thomas Mann. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. 15. 1971. S. 465-496, hier S. 492). Dies bekräftigt Alfred Döblins Roman November 1918, wo es im Rückblick auf die Zwanziger Jahre heißt: „Mit Ödipusphantasien befaßte sich diese Epoche viel. Sie fühlte sich schuldig, belastet“ (eine deutsche Revolution. Vollständige Ausgabe in vier Bänden mit einem Nachwort von Heinz D. Oesterle. München 1978 [deutscher Erstdruck 1947/ 48-50]. IV,609). Vgl. analog „das Schuldproblem, das viele Nachkriegsautoren erörterten“ (Frank Trommler: Realismus in der Prosa. In: Tendenzen der deutschen Literatur seit 1945. Hg. von Thomas Koebner. Stuttgart 1971. S. 179-275, hier S. 237), auch noch zu Beginn der „schamkulturell geprägten“ 1950er Jahre (Peter Hur- Sandra Schwarz 192 zumal er auch das ausgeprägte Bewusstsein des christlichen Mittelalters von Sünde und Gnade überliefert, 102 das der schuldbeladenen ‚Welt ohne Transzendenz‘ nach ’45 gerade abging. 103 Am Schicksal des Sünderheiligen Gregorius demonstriert Thomas Mann seine zu Deutschland und den Deutschen vertretene Theorie, dass am Ende aus dem Bösen das Gute komme - durch jenen göttlichen Gnadenakt, den sein Dr. Faustus bei aller „Apokalyptik“ noch angedacht hatte: Das religiöse Paradoxon [...], daß aus tiefster Heillosigkeit [...] die Hoffnung keimte [...], die Transzendenz der Verzweiflung, - [...] das Wunder, das über den Glauben geht. 104 Ein nachdrücklicher Fingerzeig auf die intakte Ordo-Vorstellung des christlichen Mittelalters ist Thomas Manns Weigerung, seinen Roman „als ein Mosaik entliehener Steinchen hinzustellen“. 105 Der Erwählte gilt in der Forschung aufgrund seines Materialreichtums zwar als „Steinbruch“ der Überlieferung, doch bietet Thomas Manns relbrink: Der 8. Mai 1945: Befreiung durch Erinnerung. Bonn 2005, zit. in der Rez. von Norbert Seitz: Umstrittenes Gedenken. In: D IE Z EIT . L ITERATUR . Dezember 2005. S. 43). 102 Vgl. Thomas Nipperdey: Die Aktualität des Mittelalters. Über die historischen Grundlagen der Modernität. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. 32. 1981. S. 424-431, hier S. 426ff. (vgl. auch S. 431): „Das Europa des Mittelalters ist christlich“, die Religion des Gewissens das Zentrum von Leben und Welt. Die „Transzendenz des europäischen Menschen“ impliziert das Problem von Sünde und Gnade. 103 Vgl. Hans Egon Holthusen: Die Welt ohne Transzendenz: eine Studie zu Thomas Manns „Dr. Faustus“ und seinen Nebenschriften. Hamburg 1949; Th. Mann sieht darin ein „Spott- und Dummheitsliedchen“ (an Erika Charlotte Regula am 9.8.1953). - Vgl. zu Adenauers Kampf „um sein vatikanisch-amerikanisches Westdeutschland“ Th. Manns Tagebuch. 27.4.1952, zu „jener Epoche religiöser Restauration“ Böschenstein: Der Erwählte - Thomas Manns postmoderner Ödipus? S. 77. 104 Dr. Faustus. VI,651; von „der Apokalyptik“ des Dr. Faustus grenzt Th. Mann den Erwählten Ludwig Muth gegenüber am 27.5.1951 ab. Vgl. auch Grothues’ Auffassung, dass dieser Roman „den vorangegangenen sozusagen ins Versöhnliche wendet: Ihn ihm findet ‚das Wunder, das über den Glauben geht‘, der Gnadenakt wirklich statt“ (Thomas Manns Roman „Der Erwählte“. S. 290f.). Als Vorausdeutung kann der Ausklang von Adrians „Lied an die Trauer“ gelten: „das hohe g eines Cello, das letzte Wort“ im Dr. Faustus (VI,651). Diese Thematik greift Th. Manns Vortrag Deutschland und die Deutschen wieder auf (Rede anlässlich seines 70. Geburtstages in der Library of Congress in Washington am 29.5.1945; auf deutsch im Oktober 1945 in der Deutschen Rundschau), den er in seinem Offenen Brief Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe im September 1945 zitiert: „Ich sprach von der gnadenvollen Tatsache, daß am Ende aus dem Bösen oft das Gute kommt“ (und umgekehrt). „Die Theorie von den beiden Deutschland, einem guten und einem bösen, lehnte ich ab. Das böse Deutschland, erklärte ich, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang“ (XII,960). Wie schon Adrian Leverkühn gibt der ‚gute Sünder‘ Gregorius eine mögliche „Allegorie für Deutschland“ ab, wobei seine „Repräsentation“ ebenfalls darüber hinausgeht (an Erwin Loewenson am 23.8.1953). Auch insofern ist Der Erwählte ein Nachspiel zu Dr. Faustus (an Agnes E. Meyer am 17.3.1948 und an Helen T. Loewe-Porter am 9.2.1951), das im Verhältnis der „Versatilität“ zu ihm steht (an Henry Hatfield am 28.5.1951). 105 An Erich Auerbach am 12.10.1951. - Vgl. zur „Ordnung der Welt“ im Mittelalter Eco: Symbol und Allegorie. S. 286, zu ihrem „geordneten Kosmos“ Roland Dauber: Mittelalter und Postmoderne - Gedanken zum Spiel mit der Vergangenheit. In: Skizzen aus der Mainzer Volkskunde. Festgabe für Herbert Schwerdt. Hg. von Hildegard Frieß-Reimann, Christina Riem und Thomas Schneider. Mainz 1999. S. 65-77, hier S. 75. Thomas Mann Der Erwählte 193 Montagekunst der ‚Trümmerliteratur‘ ebenso die Stirn wie dem von der ‚Stunde Null‘ suggerierten Kontinuitätsbzw. Traditionsbruch. 106 Der damit verbundene Vorsatz, „aus seinem Leben und Werk eine Kultur, einen kleinen Kosmos zu machen“, hat den Erwählten zum Vorbild: ein „bei aller Diversität geschlossenes [...] Ganzes“. 107 Begünstigt wird dieser synthetische Effekt der Montagekunst dadurch, dass das Mittelalter seit der Romantik als letzte universelle Kulturepoche gilt. ‚Die Geburt Europas im Mittelalter‘ belegen nicht zuletzt zwei maßgebliche philologische Studien: 1946 erschien von Erich Auerbach Mimesis: dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, eine Abhandlung zum europäischen Realismus, 1948 folgte Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von Ernst Robert Curtius. 108 Zur Aktualität des Mittelalters nach 1945 trug die Europa-Idee bei, die zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn des Kalten Krieges kurzfristig in Blüte stand. 109 Der Erwählte beschwört sprachlich-stilistisch ein „übernationales Mittelalter“ herauf, von dem schon Theodor W. Adorno auf ein künftiges Europäisch bzw. Esperanto schloss, bevor es in der Forschung als Gegenentwurf zum aufkommenden Nationalismus der Nachkriegszeit gedeutet wurde. 110 Inspirieren ließ sich Thomas Mann dabei von seiner Wahlheimat, dem Ursprung seines Exils, an den er Ende 106 Helmut Koopmann: Warnung vor Wirklichem. Zum Realismus bei Thomas Mann. In: Wegbereiter der Moderne. Festschrift für Klaus W. Jonas. Hg. von H.K. und Clark Muenzer. Tübingen 1990. S. 68-87, hier S. 75 (in bezug auf die Materialien, die in Thomas Manns Erwählten einflossen), vgl. dazu Wysling: Die Technik der Montage. S. 165, ferner S. 177: Die Notizblätter Th. Manns seien „eigentliche Raritätenkästen“ für die „Fossilien der gesichteten Wirklichkeit“. - In dieser Form wendet sich Der Erwählte gegen den von Koopmann diagnostizierten „Überlieferungsschwund“, den Kontinuitätsverlust und „das fast völlige Abreißen von Traditionen“ nach ’45 (Nullpunkt und Kontinuität des Ich im deutschen Roman der Nachkriegszeit. S. 27). 107 An Hermann J. Weigand am 29.04.1952. 108 Vgl. neben Jaques Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter (2004) einerseits Erich Auerbach: Mimesis: dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1946; dazu bemerkt Th. Mann brieflich am 23.9.1949: „Sein zentrales Thema, der europäische Realismus, hat die grösste Anziehungskraft für mich“ (an Auerbach. Zit. bei Vialon [wie Anm. 48]). Vgl. andererseits Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 7 1969 [1948], hier z.B. S. 17: „Europäisierung des Geschichtsbildes ist heute politisches Erfordernis geworden und nicht nur für Deutschland“. 109 Vgl. Nipperdey: Die Aktualität des Mittelalters. S. 425: „Die europäische Kultur der Neuzeit, die zu Weltkultur geworden ist, konnte [...] nur auf dem Boden des Mittelalters entstehen“. Dies bezeichnet Jacques Le Goff als Die Geburt Europas im Mittelalter (2004). - Vgl. noch Frisch: Homo Faber (1957). GW 4,8: „[D]ann machte er [der Deutsche], wie üblich nach dem zweiten Weltkrieg, sofort auf europäische Brüderschaft“. 110 An Julius Bab am 30.5.1951; vgl. an Samuel Singer am 13.4.1948: „sprachlich im Internationalen schwebend“, sowie an dens. am 13.2.1948: „ein internationales, deutsch-französischenglisches Mittelalter“. - Adorno schreibt Th. Mann am 25.8.1951: „Manches klingt, als wäre Ihnen an einer Verfallsstufe der Sprache, dem Emigrantendeutsch, die latente Möglichkeit eines Europäisch aufgegangen, die durch die nationale Spaltung verhindert ward“ (in: Briefwechsel 1943-1955. S. 87). Böschenstein versteht die mittelalterliche Sprachmischung des Erwählten „als positives Gegenbild zur Ideologie des Nationalen“ in der Nachkriegszeit (Der Erwählte - Thomas Manns postmoderner Ödipus? S. 79). Sandra Schwarz 194 1952 zurückkehrt: „Die Schweiz, neutral, mehrsprachig, [...] von westlicher Luft durchweht“, hat seiner Auffassung nach etwas Weltbürgerlich-Universelles. 111 Alles in allem gaukelt Thomas Manns Roman den Zeitgenossen einen ‚Mythos Mittelalter‘ vor, der bis heute lebendig geblieben ist und unter anderem deshalb wieder populär wird, weil er Entlastung von der Alltagswirklichkeit verspricht. 112 Dies war ein ungleich vitaleres Bedürfnis nach ’ 45, als es die Deutschen ebenso nach Heilsgeschichten verlangt haben dürfte 113 wie zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Damals wurde die spätmittelalterliche Legendensammlung Gesta Romanorum neu ediert, auf der Der Erwählte Thomas Manns ursprünglich fußt. 114 Dass die von ihm gewählte Endform der Legende Zeitlosigkeit impliziert, 115 erweist sich als ausgesprochener Glücksgriff. Während Frischs Tagebuch, das 1950 erschien, seiner Authentizität und intendierten Zeitzeugenschaft wegen auf geringe Resonanz stieß, weil kein Mensch „über seine eigenen Ruinen hinaussehe“, solange ihn „das Elend [...] beherrscht“, fand Thomas Manns Mittelalter-Roman zunächst reißenden Absatz. 116 Dabei kehrt Der Erwählte der Nachkriegszeit nur oberflächlich betrachtet den Rücken, tatsächlich eröffnet Thomas Manns Roman seinerseits eine fremde, teils be- 111 Dr. Faustus. VI,239; Th. Manns Brief über die Schweiz propagiert die helvetische Republik als Vorbild der erhofften europäischen Nachkriegs-Konföderation: „dies freie, kleine, aber nicht enge, sondern vielgestaltige und mehrsprachige, von europäischer Luft durchwehte [...] Land“ (XI,527-531, hier S. 528). Vgl. zum „europäische[n] Boden“ der Schweiz Tagebuch. 30.4.1951 (u.ö.); dazu Thomas Sprecher: Thomas Mann und die Schweiz. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. Stuttgart 1990. S. 78-93. Th. Manns Versuch über Schiller. Zum 150. Todestag des Dichters (1955) bekräftigt sein europäisches Denken: „Tief sinkt die nationale Idee [...] ins Gestrige ab. [...] Der universelle Aspekt ist die Forderung der Lebensstunde“ (IX,870-951, hier S. 949). 112 Vgl. Matthias Schulz: Mythos Mittelalter. In: D ER S PIEGEL . 44. 2005. S. 168-182. - Lund/ Jankowsk/ Thompson (Mittelalterliche Legende im 20. Jahrhundert. S. 172) konstatieren in bezug auf den Erwählten: „Kein Erzählstoff könnte besser dem Nachkriegspublikum zur Flucht vor der Gegenwart dienen als das Mittelalter“. Vgl. zur aktuellen Weltflucht David Weigend: Aus der Zeit gefallen. Abenteuerurlaub von der Alltäglichkeit: Die Mittelalterszene boomt auch in München. In: SZ. 230. 6.10.2005. S. 54; Fried, Johannes: Die Aktualität des Mittelalters: gegen die Überheblichkeit unserer Wissensgesellschaft. Stuttgart 2002; Fuhrmann, Horst: Einladung ins Mittelalter. München 1987. S. 262-280: „Das Interesse am Mittelalter in heutiger Zeit. Beobachtungen und Vermutungen“. 113 Vgl. Christopher Schmidt: Klopfzeichen. Gefühlte Geschichte und wahre Helden haben Konjunktur. In: SZ. 263. 15./ 16.11.2003. S. 13; eine „Welt des Unheils“ konstatiert Th. Manns Tagebuch am 22.4.1951. 114 Die Gesta Romanorum, lt. Dr. Faustus „Quelle der meisten romantischen Mythen des Mittelalters“ und „Legendensammlung“ (VI,419), liegen 1914 in einer von Hermann Hesse edierten Ausgabe vor (vgl. Sibylle Schneider-Philipp: Überall heimisch und nirgends: Thomas Mann - Spätwerk und Exil. Bonn 2001. S. 119). 115 Vgl. Anm. 82. 116 Frisch: Tagebuch 1946-1949. GW 2,383. - Vgl. Th. Mann an Otto Basler am 12.4.1951: „[D]as Publikum kauft das Buch begierig, obgleich es 15 D.M. kostet [...]. Es wird schon das dritte Zehntausend bereitgestellt“. Die Erstauflage (das erste Zehntausend) war bereits bei Erscheinen vergriffen (vgl. Tagebuch. 19.3.1951). Thomas Mann Der Erwählte 195 fremdliche, ja „entsetzliche“ Welt. 117 Der auf der Inhaltsebene aufgebotene „Kulissenzauber, [die] Kostümpracht und Requisitenfülle“ 118 des Mittelalters verdecken eine ebenfalls gestörte Ordnung und „schwindelnde Verkehrtheit“, die aus dem doppelten Inzest resultiert. 119 Augenfällig macht dies das Motiv der Heiligen Familie, das Der Erwählte ins Gegenteil verkehrt. So kommentiert Ritter Eisengrein Sibyllas Schwangerschaft von ihrem Bruder mit den Worten, die Geschwister wüssten nicht, was sie „angestellt“ hätten in der Welt: Größte Unordnung habt ihr angerichtet [...]. Eine solche Unordnung und Konfusion habt ihr Unbedachten in die Gotteswelt gebracht! 120 Die dem Geschwisterkind eingepflanzte Verkehrtheit manifestiert sich in aller Deutlichkeit als Heimatlosigkeit und kommt in der Exilmotivik von Thomas Manns Roman zum Ausdruck. 121 Ein inzestuös „verkehrtes Dasein“ 122 trägt dieselben Merkmale und wird mit derselben Metaphorik veranschaulicht wie das Exilschicksal, das Thomas Mann seinerseits als unnatürlich, ja als „etwas Unmoralisches“ empfand. 123 Sein Gregorius ist und bleibt zeitlebens in der Fremde, wie das Attribut des 117 Der Erwählte. S. 12. - Vom „Fenster in eine fremde Welt“ (des Mittelalters) spricht Ingeborg Seltmann: Handwerker, Henker, Heilige: Bilder erzählen vom Mittelalter (2006). Zit. bei Christian Schnitzler: Das strahlende Mittelalter. In: AZ. 299. 28.12.2006. S. 11. 118 Reich-Ranicki: Über den „Erwählten“ von Thomas Mann. S. 99. 119 Der Erwählte. S. 35; vgl. S. 158: Die Natur habe zugelassen, „daß ihre eigene Richtung, Zeit und Zeugung sich verkehren“, sowie S. 69: Der Teufel habe die Liebe „verkehrt“. 120 Der Erwählte. S. 42; vgl. bereits S. 35: „Aber wie äußerlich war diese Ordnung“ (nach der Inzestnacht). Auch trifft Gregorius der Vorwurf, er bringe „die Welt durcheinander“ (S. 95). „Dies ist der Welt Untergang! “ (S. 174) - Helmut Koopmann schließt aus dem doppelten Inzest auf die Preisgabe „der überlieferten Ordnung der Welt“ und die „abstrusesten neuen Beziehungen“: Der Erwählte. In: Ders.: Thomas Mann: Konstanten seines literarischen Werks. Göttingen 1975. S. 75-78, hier S. 76. 121 Vgl. Koopmann: Der Erwählte. S. 507: „Man kann das abenteuerliche Umgetriebenwerden des Gregorius, kann seine wahnwitzige Irrfahrt, seine Heimatlosigkeit, seine Armut, die Aussichtslosigkeit seiner Lage, die Dunkelheit seiner Zukunft und die eigentümliche Identitätslosigkeit [...] durchaus in Beziehung setzen zu Exilerfahrungen“. Vgl. ferner Grothues: Thomas Manns Roman „Der Erwählte“. S. 297: „Das Kind der Zwillinge ist durch die sündigen Umstände seiner Geburt schon zu Beginn seines Lebens ausgegrenzt“ (zum Außenseitertum S. 299). Schneider- Philipp deutet „sein ganzes Leben [...] als Paradigma der unbehausten Existenz“ (Überall heimisch und nirgends. S. 50). 122 Der Erwählte. S. 135; vgl. S. 35: „schwindelnde Verkehrtheit“ (über den Geschwisterinzest), S. 158 zum Gleichmut der Natur, die das Verkehrte zulasse. Gregorius selbst zweifelt an seiner „Richtigkeit“ (S. 87f., 102) - wie Th. Mann die „Falschheit“ seiner Exilsituation beklagt (Tagebuch. 14.3.1934). 123 An Adorno am 9.1.1950 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 55: „Wir [...] leben im Grunde am falschen Ort, was unserem Dasein etwas Unmoralisches verleiht“. Es handelt sich um ein „Nomadendasein“ (Tagebuch. 24.7.1952), dessen Faktoren Th. Manns Offener Brief Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe resümiert (September 1945). XII,954f.: „das Wanderleben von Land zu Land, die Paßsorgen, das Hoteldasein, [...] das Herzasthma des Exils, die Entwurzelung, die nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit“. Sandra Schwarz 196 Elends, 124 mittelhochdeutsch ellende, lateinisch exilium, zum Ausdruck bringt. Die Lebensform des Erwählten ist die Verbannung, er selbst wortwörtlich ein Unbehauster: „ein Ausgesetzter und Angeschwemmter, ein Findling und Fremdling“. 125 Schon seinen Eltern Wiligis und Sibylla haftet etwas ursprünglich Fremdartiges an, 126 das sie selbst mit den Sichelzeichen auf ihrer Stirn in Verbindung bringen. Was die Zwillinge als Hinweis auf „exceptionelle“ Ebenbürtigkeit deuten, 127 ist ihrem Geschwisterkind als unsichtbares Kainsmal aufgeprägt, als angeborener Makel, unter dem auch jeder Exulant zu leiden hatte. Bereits vor seiner Geburt derart stigmatisiert, gilt Gregorius als das „unstatthafte und stättenlose Kind“, das seinen Eltern ebenfalls „die Stätte unter den Füßen wegzieht“. 128 Sibylla bringt es nicht zuhause in Belrapeire, sondern auf der abgeschiedenen Wasserburg von Ritter Eisengrein zur Welt; dieser schickt Wiligis aus seinem eigenen Herzogtum fort auf Buß- und Kreuzfahrt zum Heiligen Grab. Unterwegs stirbt der des Landes Verwiesene an gebrochenem Herzen, noch bevor er den Hafen Massilia bzw. Marseille erreicht - während des Zweiten Weltkrieges ein bekannter Transit-Ort deutscher Emigranten. 129 Das auch im übertragenen Sinne „verirrte“ Geschwisterpaar nimmt die konkrete Irrfahrt von Gregorius bereits vorweg: 130 Nach der Geburt wie Moses „aufs wilde Meer verstoßen“, 131 gelangt das gerade 17 Tage alte Kind nach weiteren 17 Tagen auf die Klosterinsel St. Dunstan im Ärmelkanal, wo der „Meerstreicher“ Asyl findet. 132 17 Jahre später begibt er sich auf ritterliche Irrfahrt, die ihn nach Bruges (Brügge) führt, wo Sibylla mittlerweile Hof hält. Durch ihre Ehe gehen Mutter und Sohn der Heimat abermals verlustig, Herzog Gregorius, mittlerweile doppelter Vater, tritt die Bußfahrt zu jener Steininsel an, wo er weitere 17 Jahre bis zu seiner Erwählung in regredierter Gestalt ausharrt. Seine Lebensgeschichte ist also gekennzeichnet von wiederholten 124 Vgl. zum „Elenden“ Der Erwählte. S. 119, zum „Elend“ der ‚unheiligen Familie‘ bereits S. 40, ferner S. 46f.: Sibylla ist „elend“, ihr Bruder-Gatte Wiligis noch „elender“. 125 Der Erwählte. S. 101, vgl. zum „Unbehausten“ S. 51, dazu S. 85 (ferner S. 80, 101, 125 u.ö.): „ein heimlich Fremder“. - Das Exil als geistige Lebensform thematisiert Helmut Koopmann in: Exil: transhistorische und transnationale Perspektiven. Hg. von H.K. und Klaus Dieter Post. Paderborn 2001. S. 1-19. 126 Der Erwählte. S. 17; die Mutter der Zwillinge verstarb unter „fremdartigen Schreien“, für die Kinder sind alle „anderen [...] fremde Stücke“ (S. 25). Vgl. auch Sibyllas „von oben beschienene Fremdheit“ (S. 18). 127 Vgl. Der Erwählte. S. 26 (ferner S. 9 und 21): „zusammen aus dem Tode geboren mit unseren vertieften Zeichen [Windpockennarben] ein jedes auf seiner Stirn“. 128 Der Erwählte. S. 38, vgl. S. 39: „für das eine Stätte gefunden werden muß auf Erden und im Himmel“, ferner S. 43: „Außer Landes? [...] Das ist [...] sehr mild gesagt, denn in den umliegenden Reichen der Kristenheit wird unter so beschaffenen Umständen keine Stätte für Euch sein“. Das Kind Gregorius „hat keine Stätte, obgleich es da ist“ (S. 51, vgl. S. 53). 129 Vgl. Der Erwählte. S. 47/ 58, dazu Schneider-Philipp: Überall heimisch und nirgends. S. 48f., wo von einer lokalen Reminiszenz des Exils die Rede ist, wie sie namentlich Anna Seghers Roman Transit (deutsch 1948) illustriert. 130 Der Erwählte. S. 35; vgl. zur „Irrfahrt“ von Gregorius S. 104, 108, 113, 117 und 124. 131 Der Erwählte. S. 52. 132 Der Erwählte. S. 100. Thomas Mann Der Erwählte 197 Vertreibungen, Aufbrüchen und Abschieden, 133 wie sie auch Thomas Mann kannte, der 1938 aus der Schweiz (Zürich) nach Amerika (Princeton) gelangte und im Jahr der Fertigstellung des Erwählten seit 17 Jahren im Exil weilt. 134 Mit der 17jährigen Verbannung auf den Stein, „die eigentliche Gregorius-Insel“, wird dem Erwählten allerdings ein noch extremeres Schicksal zuteil. 135 Selbst dessen Gewährsmann Clemens befindet sich nicht in seiner irischen Heimat, er ist ebenfalls unterwegs und bewohnt eine Gastzelle im Kloster zu St. Gallen, wo er geraumere Zeit Station macht. Während er jedoch aus freien Stücken auf Reisen ging, 136 geschieht dies bei Gregorius stets gezwungenermaßen und im Wissen, keinen „Platz [...] unter den Menschen“ zu haben: 137 Deutlicher könnte Thomas Mann sein Leiden an der „Menschenfremde“ 138 des Exils nicht zum Ausdruck bringen. Die extreme bzw. außerordentliche Geschichte 139 des Erwählten resultiert aus einem Dasein, das „nicht in der Ordnung“ ist, was hieße „zu Hause hier unter [...] Verwandten“. 140 Gregorius scheint aus der Art geschlagen, ihm haftet etwas Barbarisches an: „Ich gehöre gar nicht der Menschheit zu! Ich bin ein Scheusal, ein Monster, ein Drache, ein Basilisk! “ 141 Dieses Selbstverständnis konkretisiert sich in der „Verkleinerung“ ins Tierische, die der Büßer auf dem wilden Stein erleidet, 142 bevor ihn seine Erwählung ins Übermenschliche katapultiert: Der sehr große Papst gleicht schließlich Herkules. 143 Dass Thomas Manns Nachkriegs-Anthropologie nicht „ohne das Ungeheuer im Halbgott“ auskommt, 144 bezeugt das von ihm ausgeschnittene Pressefoto eines jungen amerikanischen „Totschlägers“, das ihm laut Tagebuch (März 1949) als Vor-Bild des Erwählten dient: „so schön und so meiner 133 Vgl. die Kap. „Die Aussetzung“ und „Der Abschied“ im Erwählten. 134 1952 blickt Th. Mann auf 19 Exiljahre zurück (vgl. Tagebuch. 29.10.1952). 135 An Samuel Singer am 8.3.1948. S. 11. - Vgl. Schneider-Philipp: Überall heimisch und nirgends. S. 50 (und 62): „die sicher extremste Form der Heimatlosigkeit, die der Autor je beschrieben hat“. 136 Vgl. Der Erwählte. S. 8f. 137 Der Erwählte. S. 225; vgl. S. 77 (ferner S. 74 und 115): „seine Reise“. 138 Tagebuch. 11.4.1943: „Amerika ist Menschenfremde“. 139 Vgl. Der Erwählte. S. 248 und 252. 140 Der Erwählte. S. 100 und 110 („nicht in der Ordnung“). 141 Der Erwählte. S. 110, vgl. zum „Unbekannten und Unverwandten“ S. 101: Gregorius ist „was andres“ (S. 94f.) und steht „außerhalb der Menschheit“ (S. 222). Vgl. zum „Monstertum“ S. 111: „Aber daß ich ein Drache und Monster sei“ (ferner S. 55 und 68; zu Sibyllas Traum S. 49f. und 174; zu Gregorius‘ eigenem ‚Drachenkampf‘ S. 143 und 148). 142 Der Erwählte. S. 225 (Kap. „Die Wandlung“). 143 Vgl. Der Erwählte. S. 233. 144 Ansprache im Goethejahr 1949. XI,492 (Selbstzitat aus Lotte in Weimar, [1939]. II,653). - Th. Mann plädiert schon im Exil für einen „künftigen Humanismus, [...] der zu den Mächten der Unterwelt, des Unbewußten, des ‚Es‘ in einem keckeren, freieren und heitereren, einem kunstreiferen Verhältnis stehen wird, als es einem in neurotischer Angst und zugehörigem Haß sich mühenden Menschentum von heute vergönnt ist“ (Freud und die Zukunft, [1936]. IX,500). Als „Entwurf des ‚neuen Menschen‘“ firmiert Gregorius bei Eberhard Scheiffele: Die „Joseph“-Romane im Lichte heutiger Mythos-Diskussionen. In: Thomas Mann Jahrbuch. 4. 1991. S. 161-183, hier S. 173. Anm. 42. Sandra Schwarz 198 Vorstellung vom Grigorß entsprechend“. 145 Wie jeder Exulant leidet dieser zutiefst an seinem Anderssein bzw. an seiner Identität, die Frage, wer er sei, treibt ihn um 146 und kulminiert im Gefühl, nichts und „Niemand“ zu sein. In Verbindung mit dem Motiv der Irrfahrt(en) und der kuriosen Wortfindung „Meerstreicher“ spiegelt ein derart verunsichertes Selbstverständnis das Exilbewusstsein: Nicht umsonst war Odysseus eine beliebte Identifikationsfigur der verbannten deutschen Dichter und in der Exilliteratur als leibhaftiger Mythos des Exils eingebürgert. 147 Dieses Urbild lebt in Gregorius in verschärfter Form wieder auf, als heimatloser ‚guter Sünder‘ ist er gleichsam ein Über-Odysseus, Der Erwählte also zweifellos ein „Identitätsroman“, wie Helmut Koopmann schon 1983 betont hat. 148 Die zugespitzte Ich-Problematik verdeutlicht die Namens- und Rollenvielfalt des Protagonisten: 149 Ursprünglich namenlos, heißt er als Klosterschüler Grigorß oder auch Credemi, bevor er Tristan, der Trauerer, genannt wird. 150 Ein solcher bleibt er auch als Ritter vom Fisch, Herzog von Bruges und Gregorius vom Stein, bis ihn die Erwählung zum Papst von seiner Traurigkeit erlöst. Nun macht er sich einen Namen als „Das Apostolische Orakel“ oder „doctor mellifluus, [...] das ist: ‚Der Lehrer, welcher von Honig fließt‘“. 151 Dass er in der Audienzszene als regelrechter Schauspieler agiert, deutet bereits auf Felix Krull alias Armand und seine Hochstapelei als Marquis de Venosta voraus, die in eine schelmisch verzerrte Identität mündet: „Armand de Kroullosta“. 152 Bei Gregorius zeugt die offenkundige Identitätsvielfalt letztlich von mentaler Verirrung, die ein Symptom der ver-rückten Ordnung ist. Kann Gregorius die „irre Weise“ seiner Abkunft nicht verleugnen, 153 so droht Sibylla nach dem abermaligen Inzest der „Wirrsinn“ bzw. Wahnsinn. 154 Bevor er Landesherr wird, fehlt es ihrem Sohn wie den meisten Verbannten in jeder Hinsicht an Eigenem, also auch an Eigentum, seine Habseligkeiten bestehen aus der mütterlichen Mitgift von Kleiderstoff und ursprünglich zwanzig Goldmark. Als ‚Ausweis‘, den er immer mit sich führt, dient eine einst 145 Tagebuch. 14.3.1949; vgl. die Abb. des Zeitungsausschnitts bei Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen. Anhang. S. 231. 146 Vgl. Der Erwählte. S. 106: „wer ich bin“, „Fahrt nach mir selbst“, ferner S. 85 und 109. 147 Der Erwählte. S. 100. - Vgl. Wolfgang Frühwald: Odysseus wird leben. Zu einem leitenden Thema in der deutschen Literatur des Exils 1933 bis 1945. In: Schriftsteller und Politik in Deutschland. Hg. von Werner Link. Düsseldorf 1979. S. 100-113. 148 Helmut Koopmann: Doktor Faustus und sein Biograph. Zu einer Exilerfahrung sui generis. In: Thomas Manns „Doktor Faustus“ und die Wirkung. Hg. von Rudolf Wolff. Teil 2. Bonn 1983. S. 8-26, hier S. 23. 149 Vgl. auch Schneider-Philipp: Überall heimisch und nirgends. S. 142. 150 Vgl. Der Erwählte. S. 171: „Das Kind hieß nicht Grigorß, - das heißt, es hieß überhaupt nicht“; vgl. ferner zur Taufe auf den Namen des Abts von Agonia Dei S. 78f., zum Rufnamen S. 83, zum neuen Tristan S. 88f. im Kap. „Der Trauerer“. 151 Der Erwählte. S. 238, vgl. S. 254. 152 Vgl. Koopmann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. S. 15f.; zum „Komödiantentum“ der Audienzszene im Erwählten Friedhelm Marx: „Ich aber sage Ihnen ...“: Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt am Main 2002 (Thomas-Mann-Studien 25). S. 303-315, hier S. 311ff. 153 Der Erwählte. S. 48, vgl. zum „Irr-Gatten“ S. 36, zur Identitätsverwirrung auch Grothues: Thomas Manns Roman „Der Erwählte“. S. 298. 154 Der Erwählte. S. 171, vgl. bereits zur „ganz unsinnigen“ Empfängnis S. 48. Thomas Mann Der Erwählte 199 von Sibylla beschriftete Tafel - „seines Sündenstandes Urkunde und Diplom“. 155 Viel schwerer als an seiner leichten Habe trägt Gregorius also an der Schande, ein unbekannter Fremder zu sein: „Weiß doch niemand [...], wer der ist, noch woher der schwamm! “ 156 Dass eine solche Infragestellung seiner selbst die gesamte Existenz in Mitleidenschaft zieht bzw. deren Vernichtung bedeutet, illustriert die typisch exulantische Metapher vom ‚lebendigen Leichnam‘. Das Geschwisterkind kommt gleichsam tot zur Welt und in „das bauchige Särglein“, in dem es von dannen schifft, um fern der Heimat wiedergeboren zu werden. 157 Doch gilt sein Landeplatz, die Insel St. Dunstan, wegen ihrer Weltabgeschiedenheit, wegen des Klosternamens Agonia Dei und wegen der Tristan-Anspielung in der Forschung ebenfalls als Jenseits, Gregorius als fortgesetzt Toter. 158 Überhaupt steht Der Erwählte größtenteils nicht im Zeichen des Lebens. Bereits die Zwillinge Wiligis und Sibylla sind „des Todes allerliebste Sprossen“, ihre Liebesnacht fällt in die Todesnacht des Vaters. 159 Als nächster segnet Wiligis auf seiner Kreuzfahrt das Zeitliche, Sibylla kasteit sich nach dem Verlust von Mann und Sohn zur „Nonnenfürstin erstorbenen Herzens“. 160 Ihre Todeslüsternheit wird vom ‚Geist der Erzählung‘ allerdings sprachlich-stilistisch relativiert: Zum einen nimmt Clemens dem Tod gleichsam den Stachel, indem er spielerisch mit der Vokabel verfährt und Sibyllas Belagerer, den Burgunderherzog Roger, „auf den Tod nicht leiden kann“. 161 Zum anderen ist es zwar der Erzähler, „der tötet, die da im Liede sterben“, 162 doch verewigt er die Verstorbenen auch. Auf diese Weise versichert sich der späte Thomas Mann nicht zuletzt seiner eigenen Vitalität, die er während der Entstehung des Erwählten durch Todesfälle im engsten Familienkreis infragegestellt sah: durch den Verlust seines Sohnes Klaus im Mai 1949 163 und seines Bruders Heinrich im März 1950. 164 Nicht minder existentiell bedroht fühlte sich Thomas Mann durch die erwogenen „chthonischen Veränderungen“ eines erneuten Wohnsitzwech- 155 Der Erwählte. S. 229; vgl. zur übrigen Mitgift S. 112. 156 Der Erwählte. S. 100. 157 Der Erwählte. S. 55, vgl. S. 51: „Tot [...] kam es zur Welt, obgleich es lebt, das ist der Zwiespalt“, ferner S. 73f. 158 Vgl. zur Abgeschiedenheit der Insel St. Dunstan von der Welt Der Erwählte. S. 68 und 77; ferner Schulze: Joseph, Gregorius und der Mythos vom Sonnenhelden. S. 478f.: Der Name Tristan geht bei Gottfried mit dem Gerücht einer Totgeburt einher. 159 Der Erwählte. S. 26; die Zwillinge sind „des Todes liebste Sprossen“, „aus dem Tod geboren“ (S. 17, vgl. S. 35). Vgl. zur Todes- und Liebesnacht S. 33. 160 Der Erwählte. S. 60; bezeichnenderweise gibt es bei Sibylla „kein Lachen“ (ebd.), auch Bruges wird „die Tote“ genannt (S. 118). Vgl. zum Tod des geliebten Bruders S. 57f. 161 Der Erwählte. S. 61. 162 Der Erwählte. S. 57. 163 Nach dem ersten Selbstmordversuch von Klaus Mann am 11.7.1948 konstatiert Th. Manns Tagebuch am 22.5.1949: „schwerster Chock [...]: Mitteilung seines Todes. Langes Beisammensein in bitterem Leid“. Vgl. rückblickend auf den „Trauer- und Schreckenseinbruch“ am 6.8.1949. 164 Heinrich Mann verstarb lt. Tagebuch am 12.3.1950, was Thomas Mann erschüttert (vgl. 21.3.1950). Sandra Schwarz 200 sels. 165 Die damit verbundenen „Todesgedanken“ 166 implizieren weniger „Lebensmüdigkeit“ 167 als die Furcht, in der Fremde zu sterben, Thomas Mann will, wie es im Tagebuch immer wieder heißt, „[s]einen Stein in der Schweiz haben“. 168 Doch obwohl Der Erwählte im Schatten des Todes steht, ist er, wie nicht zuletzt das entschiedene happy end zeigt, ein „zutiefst optimistischer Roman“ und als solcher bahnbrechend für Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull: 169 Weist die beispiellose Erhöhung des zutiefst Erniedrigten den Weg vom Tod zum Leben, so wird neben Thanatos ja auch Eros verhandelt, vom betagten Verfasser „ganz in verschämten Scherz gehüllt“. 170 Thomas Manns Exil, der „schwere(r) Stil- und Schicksalsfehler [s]eines Lebens“, 171 spiegelt sich aber nicht nur inhaltlich, sondern auch formal; neben der beschriebenen Exilmotivik und -metaphorik zeitigt die Verbannung den in der Forschung sogenannten „Emigranten-Stil“ des Erwählten. 172 Rief gerade die Montagekunst Thomas Manns, die mit Zitat und Parodie des Mittalters einhergeht, das Befremden vieler Leser hervor, so maß Adorno dem zitierenden Verfahren sogar den „Charak- 165 Adorno an Thomas Mann am 13.4.1952 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 103. 166 Tagebuch. 4.5.1951. 167 Tagebuch. 19.12.1952; verbunden ist diese mit der Angst, „daß ich nicht mehr schreiben kann, während der Körper verhältnismäßig jugendlich aushält“ (23.12.1951). 168 Tagebuch. 6.6.1952. Th. Mann fürchtet, durch den Tod in der Fremde könnte das Exil ewig währen. Er möchte „in europäischem Boden (Schweiz) ruhen“ (Tagebuch. 30.4.1951, vgl. 4.5., 31.5. und 30.11.1951), „möchte weniger leben als sterben und ruhen in der Schweiz“ (5.12.1951). 169 Koopmann: Der Erwählte. S. 503; von einem „happy end“ spricht Thomas Mann selbst (an Udo Rukser am 4.11.1951). 170 An Karl Boll am 29.10.1950. - Adornos Lektüre des Erwählten als „Requiem für Klaus“ (an Th. Mann am 25.8.1951 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 85) befremdet Th. Mann zwar (vgl. Tagebuch. 1.9.1951), doch kann Der Erwählte als insgeheimer Rekurs auf die Homoerotik und auch insofern als Vorläufer von Felix Krull gelten: „Der homosexuelle Roman“ und die Fertigstellung des Erwählten finden in ein- und demselben Tagebucheintrag Erwähnung (25.11.1950). Wie Th. Mann einer englischen Broschüre über die männliche Inversion entnimmt, könne diese „Ergebnis der Inzestangst in Beziehung auf die Mutter“ sein (Tagebuch. 30.8.1950), also „eine sexuelle Abweichung [...] für die andere einstehen“ (Böschenstein: Der Erwählte - Thomas Manns postmoderner Ödipus? S. 84f.). Eine jede ist ‚verbotenes Begehren‘ (vgl. Grabbe: Geschwisterliebe: verbotenes Begehren in literarischen Texten der Gegenwart) und narzisstischer Natur (vgl. zum Erwählten als Gnadenmär vom Narziß Peter Szondi [1951], dazu Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen. S. 169. Anm. 4, sowie S. 169ff.). Noch plausibler wird diese Hypothese der im Inzestmotiv verschlüsselten Homoerotik dadurch, dass Th. Mann im Sommer 1950 von seiner ‚letzten Liebe‘ zum jungen Kellner Franz Westermeier im Zürcher Waldhaus Dolder ergriffen wird (vgl. Tagebuch. 16.7. und 3.7.1950), den er auch im Essay Die Erotik Michelangelos verewigt (vgl. 30.7.1950). Seine Neigung drückt er im Tagebuch mit denselben Versen aus, die er ein halbes Jahr zuvor der in Gregorius verliebten Sibylla in den Mund gelegt hatte: „Gern [...], das ist wahr,/ küßt ich ihn auf das Haar,/ und, gäb’ er Freude kund,/ dann auf den Mund“ (18.7.1950; vgl. Der Erwählte. S. 153 [verfasst im Dezember 1949]). 171 Tagebuch. 14.3.1934. 172 Walter Jens: „Der Erwählte“. Über Thomas Mann und seinen Roman. In: Thomas Mann Jahrbuch. 4. 1991. S. 89-98, hier S. 94; negativ konnotiert ist die Th. Mann von Hermann J. Weigand attestierte „durch das Exil erzeugte Schreibweise“ (an dens. am 29.4.1952). Thomas Mann Der Erwählte 201 ter der Exterritorialität“ bei. 173 Allerdings steht diese im Dienste einer sprachlichstilistischen Utopie, deren Träger der ort- und zeitlose ‚Geist der Erzählung‘ ist. Die von ihm inspirierte Mönchsgeschichte kultiviert eine ‚geistige Lebensform‘ par excellence, die der Geistliche Clemens idealtypisch verkörpert. 174 Als polyglotter Schreiber bekennt er sich zur „Sprache an sich“, die mit den europäischen Idiomen - genannt werden Lateinisch, Französisch, Angelsächsisch und (Mittelhoch-)Deutsch - Landesgrenzen und Kommunikationsprobleme aufhebt und damit Thomas Manns eigene Exilerfahrung transzendiert - „über den Sprachen ist die Sprache“ heißt es programmatisch. 175 Im Internationalen schwebend, 176 wird Der Erwählte ganz unabhängig von „sprachlichen Landesgöttern“. 177 Außerdem setzt sich der Roman mit spielerischer Leichtigkeit über moralische Schranken hinweg, seine „sprachliche Promiskuität“ verstand Adorno als Pendant der inhaltlichen Enttabuisierung - „es geht auf eine zarte Weise den Ordnungen an den Kragen“. 178 So kommen die in- 173 Adorno an Th. Mann am 1.12.1952 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 127; von „Exterritorialität“ spricht Adorno auch in bezug auf Beethovens Spätstil (Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2004. S. 200, vgl. S. 193: „extraterritorial“), Th. Mann selbst im Dr. Faustus von stilistischer „Entfremdung [...] ins nicht mehr Heimatliche und Geheure“ (VI,72). - Vgl. an Hans Ulrich Staeps am 9.6.1952: „‚Der Erwählte‘ hat viele befremdet“, ferner Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“. XI,691: „mit fast fremden Augen schon angesehen von der Zeit“, ebenso an Werner Weber am 6.4.1951, wo dies mit der Artistik des Romans begründet wird: „Ein Werkchen wie dieses [...] hat für sie zu viel Gedanken, Anspielung, Citat, Travestie“. 174 Vgl. zur Ort- und Zeitlosigkeit des ‚Geists der Erzählung‘ Der Erwählte. S. 8 und 12. - In Anlehnung an Th. Manns Rede Lübeck als geistige Lebensform (1926) prägte Jan Assman die Formulierung „Mythos als geistige Lebensform“ u.d.T. Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Überlieferung. In: Thomas Mann Jahrbuch. 6. 1993. S. 133-158, hier S. 138, in bezug auf Freud und die Zukunft (1936). IX,494 und 497: „Erst das [...] wäre ‚gelebter Mythus‘. [...] Das zitathafte Leben, das Leben im Mythus“ (die Wendung ‚gelebter Mythos‘ geht zurück auf Ernst Kris’ Aufsatz Zur Psychologie älterer Biographik, der den ‚biographischen Typus‘ als ‚gelebte Vita‘ bezeichnet). 175 Der Erwählte. S. 11f.; vgl. S. 8f. - Es handelt sich letztlich um die in Frischs Tagebuch 1946-1949 bezeichnete „Sprache in der Kunst, die immer zur Sprache schlechthin wird“ (GW 2,486). Von einer „Sprache über der Sprache“ kündet bereits Hugo von Hofmannsthals Rede über Beethoven (1920). In: Ders.: Reden und Aufsätze II: 1914-1924. Hg. von Bernd Schoeller. Frankfurt am Main 1979. S. 82-86, hier S. 84, vgl. S. 86. 176 Die Mehrsprachigkeit im Erwählten nennt Th. Mann „Schweben der Sprache im Übernationalen“ (an Agnes E. Meyer am 22.5.1948); es handelt sich um „ein internationales, deutschenglisch-französisches Mittelalter“ (an Samuel Singer am 13.2.1948). 177 Der Erwählte. S. 12. 178 Adorno an Thomas Mann am 25.8.1951 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 87: „Die Kühnheit und Modernität dieser Dinge ist [...] beispiellos“. Gemeint ist die Ironisierung des Inzesttabus mit dem Effekt, „daß dies Verbotene nicht gar so schlimm sei“. Diese „Rettung des Inzests“ (S. 86f.) hält Görner für das Anzeichen eines „‚neuen‘ Moralismus“ bei Th. Mann (Der Zauber des Letzten. S. 136). - Das Inzesttabu gehört zu den „Eckpfeilern der Freudschen Psychoanalyse“ (Peter Widmer: Inzest und Inzestverbot bei Freud. In: Ders.: Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder die zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1990. S. 102-107, hier S. 102). Die Herleitung des Verbots entwickelt Freud in Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (1913), insbesondere u.d.T. Die Inzestscheu. Sandra Schwarz 202 zestuösen Liebkosungen in dem, was Thomas Mann selbst das „Kosen der Sprache“ nennt, zum Ausdruck. 179 Wenn Wiligis und Sibylla „über allerlei Dinge kosten“, hat ihr vertrautes Gespräch auch eine zärtliche Komponente, der Bruder turtelt mit seiner Schwester. 180 Das sich anbahnende Inzestgeschehen wird durch die sprachlich-stilistische Assoziation relativiert, der anstößige Romaninhalt formal ausbalanciert. Darüber hinaus emanzipiert sich Der Erwählte von sprachlichen Verfallsstufen wie „Emigrantendeutsch“ 181 oder ‚Asylantenenglisch‘. 182 Die der Romanhandlung unterlegte mittelhochdeutsche Vokabel ellende führt auf die lateinische Wendung ex lingua zurück und deutet insgeheim auf ein Sprachexil: Thomas Manns Bedauern, kein native speaker zu sein, resultiert aus seinem jahrelangen „Leben in fremder Sprachsphäre“, das er sich im zeitlichen Umkreis des Erwählten wiederholt bewusst macht. 183 Ein Reflex dessen sind anachronistische Einsprengsel wie ein Boxkampf und football-Match auf der Inhaltsebene, aber auch verfremdete Anglizismen wie smoothlich oder puhr Pipel. 184 Die von Thomas Mann selbst beklagte sprachliche Obdachlosigkeit spiegelt sich in der 17jährigen absoluten Isolation von Gregorius auf dem wilden Stein wider. 185 Gerade deswegen zieht Der Erwählte alle stilistischen Register zur „Rekapitulation und Vorwärtstreibung deutscher Sprachzustände und Ausdrucksmöglichkeiten deutscher Prosa“. Mit dem ausdrücklich als Sprach(kunst)werk verstandenen Roman bekennt sich Thomas Mann zu seiner Muttersprache, „dieser wahren und unverlierbaren Heimat“. 186 Der exul poeta ist mit 179 Th. Manns Pariser Rechenschaft (1926) vergleicht das französische causer und deutsche ‚kosen‘, das „auch einmal ‚reden‘, ‚verhandeln‘ bedeutet hat; sein heutiger Sinn ist zärtlich einschlägig in jenem ‚causer‘, es ist ein Kosen der Sprache“ (IX,9-97, hier S. 16). Vgl. Der Erwählte. S. 25: Sibylla will ebenso mit Wiligis über den Buhurd „kosen“ wie ihr Vater Grimald mit ihr (S. 27). 180 Vgl. Der Erwählte. S. 27: „Und er küßte sie“. 181 Tagebuch. 26.4.1952; vgl. Adorno an Th. Mann am 25.8.1951 in: Briefwechsel 1943-1955. S. 87: „Manches klingt, als wäre Ihnen an einer Verfallsstufe der Sprache, dem Emigrantendeutsch, die latente Möglichkeit eines Europäisch aufgegangen, die durch die nationale Spaltung verhindert ward“. 182 In der Entstehung des Dr. Faustus (1949) hält Thomas Mann die Mehrsprachigkeit Strawinskys fest, gesprächshalber „im Ausdruck zwischen Deutsch, Englisch und Französisch wechselnd“ (XI,197). 183 [Wiedersehen mit der Schweiz] (1947). XIII,215-219, hier S. 217; vgl. Th. Manns „Neid auf den Vorteil in die englische Kultur u. Sprache hineingeboren zu sein“ (Tagebuch. 16.11.1948), ferner seinen Stoßseufzer am 23.12.1948, also zu Beginn der Arbeit am Erwählten: „Wäre ich nur in die angelsächsische Kultur hineingeboren! Ich wollte euch ein Englisch schreiben! “ 184 Der Erwählte. S. 72f. („puhr Pipel“) und 67 („smoothlich“), vgl. zum Fußballspiel S. 90; zu weiteren Anachronismen wie dem von Joseph Bernhart übernommenen neuzeitlichen Vatikan als Thron der Welt Ruprecht Wimmer: Der sehr große Papst. Mythos und Religion im „Erwählten“. In: Thomas Mann Jahrbuch. 11. 1998. S. 91-107, hier S. 98. 185 Hier wird er sogar „obdachlos“ in der Zeit (Der Erwählte. S. 190). 186 Ansprache im Goethejahr 1949. XI,483: „[I]m Gegenteil wurde mir [...] mein Tun [...] mehr und mehr zum bewußten Sprachwerk, zur versuchenden Lust, alle Register des herrlichen Orgelwerks unserer Sprache zu ziehen, zu einem Bestreben nach Rekapitulation zugleich und Vorwärtstreibung deutscher Sprachzustände und Ausdrucksmöglichkeiten deutscher Prosa“. Th. Mann bekennt sich „zur deutschen Sprache, dieser wahren und unverlierbaren Heimat, die ich mit mir ins Exil genommen und aus der kein Machthaber mich vertreiben konnte“. - Analog Thomas Mann Der Erwählte 203 Clemens auch „in allem, wovon er kündet, [...] zu Hause“ 187 und richtet sich im Erzähl(t)en gleichsam häuslich ein. Während er Gregorius auf die Klosterinsel im Ärmelkanal und später auf die Steininsel in einem flandrischen Binnensee verbannt, fungiert Der Erwählte seinerseits als epische Insel, die Thomas Mann in Übersee vorübergehend Aufenthalt bietet und die kompensatorische Funktion einer ‚Kunstheimat‘ gewinnt. 188 Abgesehen davon ist der Roman als sprachliche Schöpfung eine wahre Allmachtsphantasie, die mit der Genesis konkurriert, 189 zumal der ‚Geist der Erzählung‘ den Heiligen Geist säkularisiert. Derart inspiriert, redet Clemens gleichsam in fremden Zungen, seine „Gnadenmär“ evoziert mit dem biblischen Pfingstwunder ein neues Evangelium 190 - nicht umsonst wird Gregorius zur Christusfiguration stilisiert. Im Wunder seiner Erwählung dokumentiert sich mit dem Glauben, dass „aus der Unordnung etwas sehr Ordentliches“ komme, 191 Thomas Manns ungebrochener Glaube an die Sprache, die ihn in seinem Roman selbst „zu hohen Flügen trägt“. 192 Mit seiner Utopie einer Über-Sprache antizipiert Der Erwählte, der stellt Frisch in seinem Tagebuch 1946-1949 Überlegungen zur „inneren Heimat“ der Sprache an (GW 2,526 und 697). 187 Der Erwählte. S. 11. - Trotz seiner „Scheingeläufigkeit“ (S. 22f.) ist Clemens dank des ‚Geists der Erzählung‘ weltmächtig (vgl. S. 156). 188 Vgl. an Hermann J. Weigand am 29.4.1952. 189 Vgl. an Otto Basler am 8.1.1951: „Nicht alles ist ‚sehr gut‘ darin, wie der Herr das Seine fand am Siebenten Tage“; ferner Beate Müller: „... über den Sprachen ist die Sprache“. Mythogene narrative Strukturen in Thomas Manns Roman „Der Erwählte“. In: Weimarer Beiträge. 2. 1996. S. 207-230, hier S. 213: „Die absolute Sprache [...]. Das klingt wie der Allmachtstraum eines Erzählers“, den ferner Jeßing betont: Der Erzählte. S. 587. Vgl. in diesem Zusammenhang Th. Manns Bekenntnis im [Fragment über das Religiöse] (1931). XI,423-425, hier S. 424: „Ein ‚Werk‘, eine ‚Welt‘ [...] herstellen kann ich auch; das ist keine Kunst, vielmehr: es ist nichts weiter als Kunst“. 190 Der Erwählte. S. 13, vgl. S. 12: „Keineswegs behaupte ich, daß ich die Sprachen alle beherrsche, aber sie rinnen mir ineinander in meinem Schreiben und werden eins, nämlich Sprache“. Sie evoziert das biblische Pfingstwunder (Apostelgeschichte, Lukas 2), wo die vom Heiligen Geist inspirierten Jünger in fremden Sprachen reden und die Frohe Botschaft der Auferstehung und das Evangelium verkünden - wie der vom ‚Geist der Erzählung‘ inspirierte Clemens seine „Gnadenmär“ (S. 13), die ihn gleichsam zum Evangelisten macht. Beide Implikationen versteht auch Jeßing als Beitrag zur Selbstreflexivität des Erwählten, vgl. Der Erzählte. S. 579ff., v.a. S. 581: „Dieser Geist fließt, wie der Geist Gottes in die Apostel, in ‚Clemens den Iren‘ über“. 191 Der Erwählte. S. 110; vgl. den Rat, „im Sünder den Erwählten zu ahnen, und [...] die Sündhaftigkeit fruchtbar zu machen, so daß sie ihn zu hohen Flügen trägt“ (S. 254f.). - Eine umfassende christologische Deutung des Erwählten bietet Marx: „Ich aber sage Ihnen ...“: Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. S. 303-315; vgl. zur Christusnachfolge auch Wimmer: Die altdeutschen Quellen im Spätwerk. S. 294. 192 Der Erwählte. S. 255. - Koopmann betont Th. Manns durchgängigen Glauben an die Sprache und ihre Realitätsmächtigkeit, den Willen, „mit Hilfe der Sprache der Wirklichkeit Herr zu werden“ (Warnung vor Wirklichem. S. 84). Ein „ungebrochenes Verhältnis zur Sprache“ attestiert Th. Mann auch Victor Lange (Tradition und Experiment [1975]. In: Thomas Manns Dr. Faustus und die Wirkung. Hg. von Rudolf Wolff. Teil 2. Bonn 1983. S. 113-133, hier S. 124f.). Sandra Schwarz 204 pünktlich zu Ostern 1951 erscheint, bereits die ‚frohe Botschaft‘ vom „idealen Exil“, die Felix Krull verkünden wird. 193 Zugleich eröffnet der Roman die von Odo Marquard 1976 sogenannten Exile der Heiterkeit 194 - der Emigrantenstil Thomas Manns hat neben der utopischen auch eine dezidiert humoristische Seite, die zunächst „Sprachscherze“ zeitigt. 195 Dazu zählt er selbst das mit Plattdeutsch vermischte Englisch, das in Erinnerung an das Lübecker „Missingsch“ sogenannte „Messingsch“, 196 wie z.B in ‚Dat’s nu’n little bit tau veel verlangt! ‘ ‚Dat’s‘ ist ja schon das englische ‚That’s‘, und das nachfolgende ‚’n little bit‘ fügt sich, obgleich es nicht mehr plattdeutsch, sondern rein englisch ist, ganz glatt ein, so daß man die Mischung kaum merkt. 197 Einen komischen Effekt hat ferner das bereits erwähnte ‚dargestellte Erzählen‘: Der Erwählte macht „sich als ‚[Mönchs-]Geschichte‘ über sich selber lustig“ 198 - obwohl die Lachkultur gerade im monastischen Mittelalter verpönt war, weil Christus zeitlebens nicht gelacht haben soll. So verurteilt Thomas Manns Klosterbruder zwar die mit dem Lachverbot verschwisterte Körperlichkeit, neigt aber zu Heiterkeitsbekundungen, wie sie erst die scholastische Vorstellung vom homo ridens et ludens im 13. Jahrhundert salonfähig gemacht hat, 199 während Clemens ja bereits um 1100 193 Koopmann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. S. 17: „Das ist der gute Mythos vom Exulanten, der hier zur frohen Botschaft geworden ist“, und S. 15: „In Thomas Manns letztem Roman ist die Exulantenexistenz immer und überall vergoldet“ - zum „idealen Exil“ (vgl. auch Helmut Koopmann: Moral und Sittlichkeit als Überlebensstrategien im Exil. In: Innen-Leben: Ansichten aus dem Exil. Ein Berliner Symposium. Hg. von Hermann Haarmann. Berlin 1995. S. 70-90, hier S. 84: „Im Krull ist die Exilexistenz glorifiziert und idealisiert“). Bereits Der Erwählte ist „eine Vertreibungs- und zugleich eine Überwindungsgeschichte“ (Koopmann: Warnung vor Wirklichem. S. 75). 194 Vgl. Odo Marquard: Exile der Heiterkeit. In: Das Komische. Hg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976. S. 133-151, hier v.a. „2 Kunst als Heiterkeitsexil“. S. 135(ff.): „Wo die Wirklichkeit offiziell zum nur noch Ernsten wird, emigriert ihre Heiterkeit in jenen Teil dieser Wirklichkeit, der kompensatorisch [...] ihre Heiterkeit bewahrt: in die Kunst. ‚Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst‘: das hat Schiller formuliert“ (im Prolog zur Wallenstein- Trilogie). 195 An Paul Amann am 3.6.1951. 196 Der Erwählte. S. 83f.; vgl. das Lübecker „Missingsch“: eine Mischung aus dem Hoch- und Niederdeutschen. 197 An Julius Bab am 30.5.1951; vgl. an Paul Amann am 3.6.1951. 198 An Emanuel Schwarz am 5.9.1951. - Vgl. zur Schalkhaftigkeit des Erzählers Der Erwählte. S. 56, dazu Müller: Mythogene narrative Strukturen. S. 213: „Der ausgeprägt humoristische Charakter dieses Romans basiert in erster Linie auf der Erzählerfigur“. Scherers Literaturgeschichte nennt bereits „die Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg und viele Andere [...] parodistische Übersetzer“ (zit. bei Wysling: Thomas Manns Verhältnis zu den Quellen. S. 290. Hervorhebung bei Th. Mann [vgl. auch Wysling: Die Technik der Montage. S. 186: Th. Manns Unterstreichung]). 199 Vgl. Jaques Le Goff: Das Lachen im Mittelalter [1989]. Mit einem Nachwort von Rolf Michael Schneider. Aus dem Französischen von Jochen Grube. Stuttgart 2 2004. S. 17ff./ 47f./ 54: Dass Christus in seinem Erdenleben nie gelacht haben soll, steht dem aristotelischen Topos vom homo risibilis entgegen (vgl. zum risus monasticus S. 23/ 34). Von wahrer Spiritualität zeugt seit der Scholastik des 13. Jahrhunderts hilaris vultus, ein lächelndes Gesicht (S. 40), also das Bild des lachenden und spielenden Menschen (homo ridens, homo ludens: S. 65). Einen solchen verkörpert Thomas Mann Der Erwählte 205 schreibt. Auch wenn Gregorius, wie der Ritterschaftstraum zeigt, Hartmanns höfisches Versepos Iwein und seine französische Vorlage kennt, 200 entsteht ein humoristischer Effekt, der Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit und vor allem an der Ernsthaftigkeit des Erzählers aufkommen lässt. Ihre Berechtigung unterstreicht der ausgesprochen schelmische, weil mehrdeutige Romantitel: ‚Der Erwählte‘ ist nicht bloß der neue Papst oder der ‚Sohnemann‘ Sibyllas, 201 sondern auch Clemens, den „der Geist der Erzählung zum Gefäß erwählt“ 202 - und dem infolgedessen selbst der Schalk im Nacken sitzt. Dies zeigt sich etwa daran, dass der Mönch, der alle Ritterschaft weit von sich weist und Wigilis’ Schwertleite noch aus seiner Erzählung ausspart, 203 ursprünglich den heidnischen Namen Morhold trug: also jenes wilden Ritters, der im Zweikampf mit Gottfrieds Tristan unterliegt. Obwohl die Kutte angeblich einen „neuen Menschen“ aus Clemens gemacht hat, 204 tritt er im Erwählten als martialischer Herr über Leben und Tod auf und nimmt das gewaltsame Ende derer, die „nur Nebenpersonen“ sind, lakonisch in Kauf. 205 Jedes „Prügelfest“, sei es der Boxkampf, in dem Gregorius seinen Ziehbruder mit einem Faustschlag niederstreckt, oder sei es sein Gefecht mit dem Burgunderherzog im Minnekrieg, gibt der Erzähler ausführlich wieder. In besagtem Zweikampf lässt der junge Ritter nicht locker und zieht den entwaffneten, zur Spottfigur degradierten Gegner mit Hilfe seines Streitrosses Sturmi ins eigene Lager hinüber, was nicht nur Clemens „den Sinn erheitert“: „Das gab ein großes Lachen unter den burgundischen Rittern und Mannen“. 206 Bei dieser Szene dürfte sich vor allem Thomas Mann selbst ins Fäustchen Th. Manns Erzähler-Mönch: „Für mein Teil muß ich lachen“ (Der Erwählte. S. 15). - Erst eine von Antonio Rossellino um 1465 geschaffene Tonstatuette stellt Maria mit lachendem Christusknaben dar (Abb. S. 117 bei Le Goff), die an Gottes Verheißung von Er lacht (Isaak) für Abraham und Sara erinnert (AT 1. Buch Mose). 200 Vgl. Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen. S. 197, und Anm. 88: Gregorius imganiert die Quell-Aventiure, mit der Hartmanns Iwein beginnt, in seinem Ritterschaftstraum als selbsterlebt (vgl. Der Erwählte. S. 87; dazu bereits Anm. 88). 201 Vgl. Gottfried Keller: Sieben Legenden. [5.] Der schlimm-heilige Vitalis. In: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 7. Das Sinngedicht. Sieben Legenden. Hg. von Walter Morgenthaler u.a. Zürich 1998. S. 386-410, hier S. 405, wo es heißt, daß Joles Vater „nach dem Erwählten, nach dem Männchen auslaufe“. Thomas Mann liest „Kellers ‚Legende‘ vom schlimmheiligen Mönch“ im Zusammenhang des Erwählten (Tagebuch. 12.9.1950). 202 Der Erwählte. S. 47. 203 Vgl. Der Erwählte. S. 22: „Was weiß ich von Ritterschaft [...]! Ich bin ein Mönch, im Grunde unkund“; vgl. S. 28 zum „Fest der Schwertleite, - was weiß ich davon“. 204 Der Erwählte. S. 11, dazu Böschenstein: Der Erwählte - Thomas Manns postmoderner Ödipus? S. 80. 205 Clemens ist Herr über Leben und Tod der Figuren (vgl. Der Erwählte. S. 57). So holen sich bei Gregorius’ Landung im ‚Mutterland‘ „zweie der Mannschaft [...] blutige Köpfe. Doch waren sie ja nur Nebenpersonen“ (S. 116). Und in bezug auf den Ritterkampf lautet der Kommentar: „Nicht wenige städtische Streiter waren leider ausgesperrt; die wurden wohl erschlagen. Aber sie waren ja nur Nebenpersonen“ (S. 143). 206 Der Erwählte. S. 140(ff.). - Zur Komik trägt auch bei, dass „Sturmi“ der Name des ersten Abtes von Fulda war (vgl. Wysling: Thomas Mann und die Quellen. S. 269). Sandra Schwarz 206 gelacht haben, denn das Leitmotiv der festhaltenden Hand 207 ist ein persönliches Attribut und darauf bezogen, dass er sein Schreiben im Griff hat. Seinem ‚Mittelsmann‘ Clemens teilt es sich insofern mit, als der Erzähler die ganze Geschichte „im Zaum zu halten“ weiß. 208 Der von ihm verkörperte humoristische Kontrast von Schein und Sein kommt insbesondere im „Auffindungs“-Kapitel des Erwählten zum Tragen, als die römische Delegation mit unverhohlenem Entsetzen des Verheißenen ansichtig wird: Soll ich [rief der Prälat] heimkehren, eine Larve von wenig mehr als Igelsgröße an der Brust, sie mit der Tiara krönen, sie auf die Sedia gestatoria setzen und Stadt und Welt zumuten, sie als Papst zu verehren? „Es ist sehr borstig. [...] Seine Erscheinung ist verbesserungsfähig“, heißt es schließlich ergeben über Gregorius: „ein Ding, ein Wesen, eine lebende Creatur, wenig größer als ein Igel [...]. Das Geschöpf! “ 209 Dass das Entsetzliche eine „heitere Form“ hat, 210 ist für Thomas Manns Roman überhaupt symptomatisch und betrifft auch die Rolle des Erzählers, der unvermittelt aus der dritten Person („Er ist’s“) in die erste Person wechselt („Ich bin es“). 211 Wenn den inneren Monolog des Abtes eine betont unrealistische Außenperspektive unterbricht: „Jetzt bleibe ich wie angewurzelt stehen“, wird der Erzählvorgang als solcher ebenfalls bewusst. Diese aufdringliche Demonstration der erzählerischen Mittel zerstört die Illusion und lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Fiktionalität des Geschehens. 212 Letztlich bewirkt das ironisch ‚dargestellte Erzählen‘ den Sieg über den Ernst des Lebens, den schon der frühe Thomas Mann als Chaosdrachen 213 des allzu Wirklichen verstand. Der Erwählte wirkt somit „heiter in seiner [Gottes] Gnadengabe, der Kunst“, 214 der dezidiert humoristische Emigrantenstil beschwört das ästhetische ‚Exil der Heiterkeit‘ herauf und relativiert so die inhaltlichen Konturen des Exilromans. 207 Vgl. einerseits Der Erwählte. S. 148f. (und 146): „die so ausnehmend festhaltende Hand“; „Grigorß‘ unbedingt griffeste Hand“; andererseits S. 177: „Mit der Hand begann es“. 208 Der Erwählte. S. 16; vgl. an Ferdinand Lion am 28.4.1952: „Nicht umsonst habe ich meinem Grigorß die ‚festhaltende Hand‘ zugeschrieben und bin eigentlich [...] ein Vollbringer“. 209 Der Erwählte. S. 221f. und 224. 210 Versuch über Tschechow (1954). IX,843-869, hier S. 869: Dadurch wolle die Kunst „die Welt auf ein besseres, schöneres, dem Geiste gerechteres Leben vorbereiten“. 211 Der Erwählte. S. 8. 212 Der Erwählte. S. 70. - Entsprechend heißt es bei Theodor W. Adorno 1954 zum Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman (in: ders.: Noten zur Literatur I. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1965. S. 61-72, hier S. 68f.), dass Th. Mann im Erwählten „mit dem ironischen Gestus [...] der Sprache [...] die Unwirklichkeit der Illusion einbekennt“. 213 Vgl. Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschlands (1926). XIII,581-593, hier S. 586f.: „[A]ls mythische Figur wird er [Goethe] vielleicht einmal jenen göttlichen Bekriegern und Besiegern des Chaosdrohens [sic] zum Verwechseln gleichen“ (berichtigend als „Chaosdrachen“ zit. bei Friedhelm Marx: „Die Menschwerdung des Göttlichen“. Thomas Manns Goethe-Bild in „Lotte in Weimar“. In: Thomas Mann Jahrbuch. 10. 1997. S. 113-132, hier S. 116. Anm. 2). 214 An Albrecht Goes am 21.4.1951; vgl. an Rulf Jakob Humm am 21.11.1953: „Ich glaube [...] an die souveräne Heiterkeit der Kunst“. Thomas Mann Der Erwählte 207 Im Auffindungskapitel entpuppt er sich vollends als „fromme Groteske“ 215 und verlässt den theologischen Horizont: Da den Erwählten neben einer kunst-religiösen „Idee von Sünde und Gnade“ 216 Thomas Manns „Glaube [...] an die Autonomie der Kunst“ beherrscht, 217 bezeichnet Werner Frizen den Roman im Thomas-Mann- Handbuch als ‚ästhetische Theodizee‘. 218 Der im filmischen Genre sogenannte ‚transzendentale Stil‘ besagt, dass die Geschichte eines Menschen im Elend aus vollkommener Entfremdung in Erlösung münde. 219 Im Einklang damit koppelt Thomas Mann die Begnadigung und Erhöhung der „Künstler-Kreatur“ gedanklich an ihr maximales Elend - das im Erwählten die ausgestoßene „Creatur“ auf dem wilden Stein symbolisiert. 220 Der Büßer Gregorius erscheint als alter ego des Dichters im Exil, der Roman selbst als subtile Form der künstlerischen Wiedergutmachung. 221 Auch Thomas Mann darf mithin als Erwählter gelten, nicht umsonst resümiert er nach seiner Privataudienz bei Papst Pius XII. am 29. April 1953: „O seltsames Leben, wie es ebenso noch keiner geführt, leidend und ungläubig erhoben. Elend, Begnadigung“. 222 Dieses Selbstverständnis verdichtet sich im Bild des Säulenheiligen: „Auf 215 An Agnes E. Meyer am 17.2.1948; vgl. an Samuel Singer am 13.2.1948. Thomas Mann beruft sich auf „das groteske Übermaß“ der Sündhaftigkeit von Gregorius, „dem die Gnade sich humoristisch gewachsen zeigt“ (an Eberhard Hilscher am 3.11.1951; vgl. „zum „Scherzen mit dem Grotesken“ an William H. McClain am 13.2.1952), dazu Margret Eifler: Thomas Mann: das Groteske in den Parodien „Joseph und seine Brüder“, „Das Gesetz“, „Der Erwählte“. Bonn 1970. S. 3ff. (Forschungsüberblick): Lt. Wolfgang Kayser ist Das Groteske (seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenbourg 1957. S. 198f., 202) Ausdruck einer entfremdeten Welt. In Th. Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) heißt es, die „Groteskkunst“ mache „das Überwahre und überaus Wirkliche“ lächerlich und dadurch kenntlich (XII,7-589, hier S. 565). Beispiele im Erwählten sind die „gierige Beistandsfreudigkeit“ der Hebamme Eisengrein, selbst bei einer Inzestgeburt (vgl. S. 47ff.), oder die Tiergestalt von Gregorius auf dem Stein, die seine Wider-Borstigkeit veranschaulicht (vgl. S. 221). 216 Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“ (1951). IX,691; vgl. zur „Sünden- und Gnadenlegende“ auch an Agnes E. Meyer am 17.3.1948. - Die „religiöse Schönheit“ (VI,106) der Kunst lässt sich mit Dr. Faustus ebenfalls als „dialektische Verbundenheit des Bösen mit dem Heiligen und Guten“ (S. 138) bestimmen. 217 An Eberhard Hilscher am 3.11.1951, vgl. auch an Rudolf Jakob Humm am 21.11.1953: „Ich glaube [...] an die souveräne Heiterkeit der Kunst“. 218 Frizen: Thomas Mann und das Christentum. S. 322ff.; Helmuth Kiesel spricht in diesem Zusammenhang von „Kunstreligion“ und dem „scheinbar letzten Ende der Kunstperiode“ (Thomas Manns „Doktor Faustus“. Reklamation der Heiterkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift. 64. 1990. S. 726- 743, hier S. 738). 219 Vgl. Georg Seeslein: Muss. Will nicht. Muss! In: DIE ZEIT. 34. 17.8.2006. S. 37. 220 Der Erwählte. S. 221, und an Eberhard Hilscher am 3.11.1951: „Ich bin überzeugt, daß Er [Gott] Spaß versteht; Er hätte sonst die Künstler-Kreatur überhaupt nicht ins Leben gerufen [...,] die eine zweideutige Kreation ist“. 221 Vgl. Meine Zeit (1950). XI,303: „Vermutlich erachtet die Theologie die künstlerische Bemühung gar nicht als ein Rechtfertigungs- oder Erlösungsmittel. [...] In Wirklichkeit aber setzt der Prozeß der Schuldbegleichung, der [...] Drang nach Gutmachung des Lebens durch das Werk sich im Werk selbst fort“. Wohl auch deshalb liegt Th. Mann „das Thema erwählter Sündhaftigkeit“ besonders am Herzen (an Eberhard Hilscher am 3.11.1951). 222 Tagebuch. 20.5.1952; auch den Erwählten nennt Th. Mann anfangs den „Begnadeten“ (Tagebuch. 21.2.1948). - Für Jens besteht kein Zweifel, „daß hier [...] ein Erwählter den Erwählten Sandra Schwarz 208 einem wilden Stein sitzt der Erwählte ganz allein seit vollen siebzehn Jahren“, lautet die Offenbarung im Roman. 223 Gregorius, der bereits vor seiner Buße explizit als Heiliger erscheint, wird ironisch ein „holdes Heim“ in der Einöde angewiesen: 224 „der wilde Stein“, ein schroffer „Fels [...] in leerer Weite [...], ein kegelförmiges Riff, recht hoch“. 225 Diese Beschreibung weckt nicht nur die Assoziation des Felsen Petri, 226 sondern ruft auch Thomas Manns eigenen Standpunkt in Erinnerung: „Künstler sind Säulenheilige; jeder lebt in seiner ‚Menschenleere‘ wie die Einsiedler“, 227 heißt es im Juni 1950, als der bereits Erwählte noch der Auffindung harrt. „Nach mir, denke ich, wird niemand mehr die oft erzählte Geschichte erzählen“: 228 Mit diesen Worten beansprucht Thomas Mann jene Endbzw. Mustergültigkeit für den Erwählten, 229 die sich seinen mythischen Bezügen verdankt. Wie bereits erwähnt, geht Gregorius bewusst in Spuren, sein Schicksal verläuft „in Gestalt mythischer Klischees“, 230 die Thomas Mann in der Rolle des mittelalterlichen Mönchs schreibt“ („Der Erwählte“. S. 93). Und Görner kommentiert: „Mann selbst war ein ‚Erwählter‘“ (Der Zauber des Letzten. S. 234). Das „Thema erwählter Sündhaftigkeit“ (an Eberhard Hilscher am 3.11.1951) steht in engster Beziehung zum „Auserwähltheitsmotiv des Artisten“ (Koopmann: Der Erwählte. S. 505), seit Königliche Hoheit (1909) Leitmotiv im Werk Thomas Manns. 223 Der Erwählte. S. 196. 224 Der Erwählte. S. 182, vgl. S. 184ff., 215f. und 220 zum Heiligen. 225 Der Erwählte. S. 219 und 184 („der wilde Stein“). 226 Vgl. Der Erwählte. S. 218, 216, 221, ferner „die erzenen Statuen der Apostel Paulus und Petrus auf ihren Säulen“ (S. 232). 227 An Hans Mayer am 23.6.1950. In: Thomas Mann: Briefe 1948-1955 und Nachlese. Hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1979 (1965). S. 152. - Vgl. in diesem Zusammenhang Mathias Mayer: Wer still steht, sieht klar. Erhöhte Unbeweglichkeit: Der Säulenheilige war immer schon Schutzpatron der ästhetischen Moderne. In: FAZ. 272. 4.12.2003. S. 44, sowie speziell zum Erwählten Grothues: Thomas Manns Roman „Der Erwählte“. S. 303: „17 Jahre verbringt er als ‚Säulenheiliger‘ auf einem Stein“. 228 An Walter A. Berendsohn am 31.3.1951; auch Th. Manns Bemerkungen zu dem Roman „Der Erwählte“ (1951) gehen dahin, dass nach ihm diese Geschichte nicht noch einmal erzählt werde (XI,691). Vgl. Görner: Zauber des Letzten. S. 195: „Tatsächlich hat niemand nach Thomas Mann [...] die Gregor-Legende noch einmal erzählt [...] Mußte mit einem solchen Thema nicht der Anspruch, Abschließendes zu sagen, seinerseits zum Gegenstand von Parodie werden? “ Eine ‚gnadenlose‘ Parodie bietet Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1994 (1985): Im Gegensatz zu Gregorius auf dem Stein hat Grenouille auf bzw. in dem Berg „mit Gott nicht das geringste im Sinn“ (S. 157f.). Dies spiegelt die trotz „ihrer gottverlassenen Öde“ (S. 152) „begnadete Gegend“ (S. 155). 229 Vgl. Der Erwählte. S. 13: Clemens will seine „Gnadenmär [...] so musterhaft ausgestalten und gültig darstellen, daß viele Spätere noch, Franzosen, Angeln und Deutsche, daraus schöpfen“. Laut Th. Mann sei seine Version des Gregorius „die letzte Form, die das viel versuchte Gedicht annimmt in der Fülle der Zeit“ (Tagebuch. 20.12.1949), die „gewiß letzte Version der oft erzählten Geschichte“ (an Maurice Boucher am 29.6.1951): „Richtig die Charakterisierung als Spätwerk, Summe, etwas Letztes, Äußerstes, nach dem nichts mehr kommt. Habe nichts dagegen, ein Spätester und Letzter, ein Erfüller zu sein. Damit repräsentiert man das Abendland“ (Tagebuch. 3.4.1951). 230 Der späte Thomas Mann ist gewohnt, „alles Leben als Kulturprodukt und in Gestalt mythischer Klischees zu sehen“ (Die Entstehung des Dr. Faustus, 1949. XI,248), was sich im Erwählten Thomas Mann Der Erwählte 209 verschiedentlich kombiniert und montiert. Da Clemens umfassend gebildet ist, kommen antike Mythen (von Odysseus oder Oedipus) ebenso zur Geltung wie biblische Bezüge (auf Moses, Petrus und Christus) 231 oder Rollenvorbilder aus der mittelalterlichen Epik, die als bevorzugte Identifikationsmuster dienen. So ist Gregorius nicht nur der ‚gute Sünder‘ Hartmanns, sondern sitzt auf einem Stein wie Walther von der Vogelweide (im Codex Manesse), gibt den Trauerer wie Gottfrieds Tristan und den quester hero wie Parcival. 232 Der bei Wolfram von Eschenbach gestaltete Traum Herzeloides wird Sibyllas Traum vom Drachen Gregorius als Folie unterlegt, der sich auch selbst als solchen versteht und, in Abweichung von Hartmann, wie Gottfrieds Tristan zum Drachenkämpfer wird. Gerade dieses Motiv macht Gregorius wiederum als mittelalterlichen Oedipus kenntlich, der die Sphinx besiegte und als Abkömmling der Spartoi zum ‚Drachen‘-Geschlecht gehörte. 233 Sophokles’ Oedipus auf Kolonos, der wie folgt niederschlägt: „Das Menschenleben verläuft nach abgebrauchten Mustern, ist aber nur in Worten alt und hergebracht“ (S. 16). 231 Makoscheys Quellenkritische Untersuchungen kommen zu dem Schluss, „daß Grigorß in keinem seiner mythischen Vorbilder ganz aufgeht, daß er weder dem Muster von Hartmanns Gregorius noch dem von Sophokles’ und Freuds Ödipus ganz entspricht, ebensowenig einer Christus- oder Petrus-Nachfolge“ (S. 215). Dies ist symptomatisch für die synkretistische Art und Weise, wie Thomas Mann „in seinen drei letzten Romanen Mythen und Mythologeme abwandelt, umstellt, arrangiert und verschmelzt [sic]“ (Scheiffele: Die „Joseph“-Romane im Lichte heutiger Mythos- Diskussionen. S. 180). 232 Lt. Wimmer (Die altdeutschen Quellen im Spätwerk. S. 290[ff.]; vgl. auch ders.: Der sehr große Papst. S. 100ff.) spielen in der Figur des Gregorius „die Mythen des europäischen Mittelalters“ samt ihrer Wiederkehr in Wagners Opern ineinander, wenn der Protagonist Tristan, Parzival, Siegfried oder auch Lohengrin gleicht. Ergänzen läßt sich das fiktive Dichterbild des Walther von der Vogelweide in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse, um 1300, gestaltet nach Walthers Reichston, um 1200). - Vgl. zum Tristan-Vergleich Der Erwählte. S. 88, und Th. Manns Not. 4/ 2 aus Hertz’ Anmerkungsapparat (! ) zu seiner Übersetzung von Gottfrieds Tristan und Isolde (zit. bei Wysling: Thomas Mann und die Quellen. S. 266, vgl. S. 267f.). In [On myself] (1940) erwähnt Th. Mann Howard Nemerows Studie The Quester Hero. Myth as a Universal Symbol in the Works of Thomas Mann und benennt „The Quester Legend“ als Dichtungstypus, zu dem auch der Gralssucher Parcival gehöre (XIII, 158). 233 Ödipus stammt aus dem Geschlecht der Spartoi, dem genus draconteum, wie Makoschey in bezug auf Bachofen betont (vgl. Quellenkritische Untersuchungen. S. 163). Vgl. einerseits den Traum Herzeloides im 2. Buch von Wolframs Parcival (Th. Manns Not. 44. Zit. bei Wysling: Thomas Mann und die Quellen. S. 267) mit Sibyllas Traum im Erwählten. S. 49f.: „Ihr träumte, sie gebäre einen Drachen, der ihr dabei gar grausam den Mutterschoß zerriß. Danach flog er fort, was ihr sehr großen Seelenschmerz bereitete, kehrte aber wieder und drängte sich zu ihrem noch größeren Schmerze in den zerrissenen Mutterschoß zurück“. Gregorius selbst bezeichnet sich als „Drache“ (S. 110). Vgl. andererseits den Kampf Gregorius’ mit dem „Drachen“ Herzog Roger (S. 148, zur Abweichung von Hartmann auch Schulze: Joseph, Gregorius und der Mythos vom Sonnenhelden. S. 476 und 480f.), den Makoschey als ‚mittelalterlichen Sphinx‘ deutet (vgl. Quellenkritische Untersuchungen. S. 161f.). - Vgl. zusammenfassend Schulze, der C.G. Jungs Wandlungen und Symbole der Libido (1912) zitiert: „Der den Drachen bekämpfende Held hat vieles mit dem Drachen gemeinsam [...]. Als Psychologem übersetzt, ist der Drache auch nur die nach der Mutter strebende verdrängte Libido des Sohnes, also sozusagen der Sohn selber. So ist der Sohn der Drache, wie auch Christus sich selbst mit der Schlange identifiziert [...] (Joh. 3,14)“ (S. 344f.). „Der Sandra Schwarz 210 sogenannte „Heiland für Attika“, 234 deutet wiederum auf die imitatio Christi von Gregorius voraus, die seine Passion und Auferstehung impliziert. Wird unmittelbar nach seiner Geburt auf die Weihnachtsgeschichte angespielt mit den Worten: „Willst du es totmachen, du Herodes? “, 235 so gilt das Inzestkind bald darauf als wahres „Gotteskind“. 236 Trägt der Büßer die Hakenleiter zum Stein „wie der Herr Christ sein Kreuz“, so folgt die Ankunft des Erwählten in Rom dem Vorbild des Einzugs Jesu in Jerusalem. 237 Die „Drei-Einheit“ von Gregorius in der Audienzszene (als Sohn, Gatte und Papst) impliziert die Heilige Dreieinigkeit, zumal Sibylla zur Mariengestalt, zu „des Obersten Kind, Mutter und Braut“ stilisiert wird. In der Zusammenschau erscheint der Inzest, den Thomas Mann ohnehin als Vorrechtstabu deutet, geradezu sakrosankt 238 - ein Eindruck, den der mittelalterliche Darstellungstypus von sponsus und sponsa noch bestätigt. Alles in allem gibt Thomas Mann „unter der Hand zu verstehen [...], daß das ‚Unnatürliche‘ doch eigentlich etwas recht Natürliches ist, da man sich nicht wundern darf, wenn Gleich und Gleich sich liebt.“ 239 Diese Auffassung teilt Clemens, der mit dem Erwählten eine durch und durch „mythische Geschichte“ hervorbringt. 240 Existiert der Mythos nur mehr als epische Rede, 241 die es zu lesen gilt, so rückt seine von Hermann Broch angedachte populäre Variante in greifbare Nähe: Als Legende erreiche der Mythos den „Gipfel seiner Held ist als zur Mutter Strebender der Drache und als aus der Mutter Hervorgehender der den Drachen überwindende Held“ (S. 351). 234 H.F. Müller (zu Sophokles’ Tragödien, 1912). Zit. bei Makoschey: Quellenkritische Untersuchungen. S. 166. Anm. 98 (und S. 206); vgl. zum ‚Apostolischen Orakel‘ Der Erwählte. S. 238. 235 Der Erwählte. S. 51. 236 Der Erwählte. S. 95 und 107, vgl. zum „Segen des Kindes“ S. 79. 237 Der Erwählte. S. 184. - In Rom, „wo das neue Jerusalem steht“ (S. 212), wird der neue Papst mit Palmen- und Ölzweigen königlich empfangen (vgl. S. 231). 238 Der Erwählte. S. 154 („Sibylla’s Gebet“; vgl. zur inzestuösen Deutung auch Marx: „Ich aber sage Ihnen ...“. S. 308f.); dem korrespondiert „die Drei-Einheit [...] von Kind, Gatte und Papst“ (Der Erwählte. S. 252). - Aus der Geschwisterehe von Zeus und Hera oder Isis und Isiris leitet Thomas Mann die Bewertung des Inzests „als übermenschlich“ ab (an Karl Kerényi am 5.7.1950): Das ägyptische und antike Muster belegen „ein Vorrechts-Tabu“ (an Eberhard Hilscher am 20.2.1952). 239 An Walter Rilla am 11.1.1951. - Vgl. das Kapitel „sponsus-sponsa-Motivik“ samt Abb. aus dem Beda-Kommentar zum Hohen Lied (Cambridge, 12. Jahrhundert) bei Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. S. 52-56 (Abb. S. 53); dazu den Ausdruck „kristliche Gesponsen“ (in bezug auf Grimald und Baduhenna) im Erwählten. S. 30. 240 An Bruno Boesch am 15.9.1952: „humoristisch realisierte mythische Geschichte“; Clemens ist „der mythisch orientierte Erzähler“ (Freud und die Zukunft, 1936. IX,494). 241 Der Erwählte ist ‚der Erzählte‘ (vgl. S. 255), vgl. neben Jeßing: Der Erzählte Picard: Der Geist der Erzählung. S. 125: „Der Gegenstand kann für ihn [Th. Mann] nur noch als erzählter [...] erscheinen“. Dass „das Erzählen selbst [...] entgrenzt und mythisiert“ werde, betont Müller: „... über den Sprachen ist die Sprache“. S. 213. Vgl. bereits Hans Wysling: ‚Mythus und Psychologie‘ bei Thomas Mann [1969]. In: Ders.: Dokumente und Untersuchungen: Beiträge zur Thomas-Mann-Forschung. Bern/ München 1974. S. 167-180, hier S. 178: „Der Mythos sichert nicht mehr nur (als Substrat) die Form der Erzählung, er ist die Erzählung [...] im [...] Erwählten“. Vgl. zur „spezifisch mythischen Poetik“ des Exils Bettina Engelmann: Poetik des Exils: die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur. Tübingen 2001. S. 195. Thomas Mann Der Erwählte 211 Vermenschlichung und Allgemeingültigkeit“. 242 Auch in eigener Sache ist die Rückkehr des Erwählten zum Mythos ein Scheitelpunkt und mit Thomas Mann „als eine eigentliche Heimkehr“ aufzufassen. 243 Wenn er diese bald darauf selbst in die Tat umsetzt, so reklamiert er die Amerika abgesprochene „mythische Idee des Anbruchs neuer Zeit des Glücks“ für sich. 244 Lediglich der Schweizer Fremdenausweis, der Thomas Mann allerdings dauerhaftes Niederlassungsrecht gewährt, trübt als Wermutstropfen „das neue Heim“ in Erlenbach, das an Weihnachten 1952 bezogen wird. 245 Das biographische happy end scheint im Roman mit den Worten vorweggenommen: „So lebten sie alle in gemeinsamer Freude“. 246 Der Erwählte selbst ist zweifellos nicht nur ein Exilroman, sondern auch der Roman einer Heimkehr aus dem Exil, nicht umsonst steht am Ende die Familienzusammenführung bei Gregorius im Vatikan, „seinem Hause, dem Lateran“. 247 Dass der Protagonist auch zuvor immer wieder und ausdrücklich heim findet, sei es auf der Klosterinsel, im Mutterland und sogar auf dem Stein, den er „seit 17 Jahren bewohn[t]e“, 248 ist eine Reminiszenz insbesondere des amerikanischen Asyls, das Thomas Mann weit mehr als ein „Notheim“ bot. 249 Als Exilroman gehört Der Erwählte in eine Reihe mit Joseph in Ägypten (1936), Lotte in Weimar (1939) und noch Felix 242 Hermann Broch: Mythos und Altersstil (1947 u.d.T. The Style of Mythical Age). In: Kommentierte Werkausgabe. Hg. von Paul Michael Lützeler. Bd. 9/ 2. Schriften zur Literatur. 2. Theorie. Frankfurt am Main 1976. S. 212-233, hier S. 219: Der ‚große Stil‘ bzw. Spätstil gehe mit Legendenbildung einher. Die dadurch erzeugte Popularität des Mythos bilde den „Gipfel seiner Vermenschlichung und Allgemeingültigkeit“. Vgl. zur Beziehung Broch/ Th. Mann, die von der Nähe in Princeton begünstigt und von Paul Michael Lützeler Freundschaft im Exil (Briefwechsel, hg. als Thomas-Mann-Studien 31. 2004) betitelt wurde, Koopmann: Das Thomas-Mann-Archiv. S. 453f. - Vgl. Th. Manns Tagebucheintrag vom 2.10.1951: „Der Sinner soll unglaublich populär sein“, ferner an Hans Reisiger am 2.4.1951 und an Otto Basler am 12.4.1951. - Erwähnenswert im Gesamtzusammenhang ist, daß auch der ‚Magische Realismus‘ der ‚jungen Generation‘ nach 1945 „den Vorgang der Wirklichkeit in das Legendäre, überraschend Gültige hob“ (Gerhart Pohl: Magischer Realismus? In: Aufbau. 1948. H. 8. Zit. bei Trommler: Realismus in der Prosa. S. 192; dazu Michael Scheffel: Magischer Realismus: die Geschichte eines Begriffes und der Versuch seiner Bestimmung. Tübingen 1990. S. 28-32, 35ff., 109). 243 An Karl Kerényi am 24.3.1934. XI,634; vgl. zur „späten Heimkehr“ auch Broch: Mythos und Altersstil (1947). S. 212. - Die Brücke von Th. Mann und Kerényi zu Broch schlägt bereits Dieter Borchmeyer: Mythos und Romanstruktur - Thomas Manns Joseph und seine ästhetischen Brüder. In: Mythos im Text: zur Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. von Rolf Grimminger und Iris Hermann. Bielefeld 1998. S. 195-215, hier S. 200f. und 215. 244 Tagebuch. 5.11.1952. 245 Tagebuch. 4.12.1952; der Umzug erfolgt am 25.12.1952. - Vgl. zum Schweizer Fremdenausweis Tagebuch. 20.12.1952, zum Niederlassungsrecht unter Umgehung bloßer Aufenthaltserlaubnis 7.11.1952 und 27.11.1952. 246 Der Erwählte. S. 254. 247 Der Erwählte. S. 233. 248 Der Erwählte. S. 222, vgl. S. 182: „holdes Heim“, zur „Heimat“ auf der Klosterinsel S. 101. 249 Tagebuch. 19.9.1939; vgl. am 2.8.1950: Amerika sei „gewissermaßen heimatlich“, ferner an Adorno am 9.1.1950 zur „heimatlich gewordenen Fremde“ (in: Briefwechsel 1943-1955. S. 55). Dies begünstigt Th. Manns „schönes Heim am Pazifik mit den Zitronenbäumen im Garten“, so Vaget: Amerika. S. 75, vgl. S. 72. Sandra Schwarz 212 Krull (1954), die der Verfasser selbst als „Werke der Freiheit und Heiterkeit und, wenn Sie wollen, der Überlegenheit“ verstand. Dazu verhilft nicht zuletzt der auch dem Leser abverlangte Humor, 250 stellt doch gerade Der Erwählte die „Komödie einer Tragödie“ bzw. die „Komödie des Exils“ dar, und das heißt mit Helmut Koopmanns Worten: „lachen wir über Trauriges, so erheben wir uns darüber“. 251 Im Unterschied zur deutschen Unfähigkeit zu trauern (Mitscherlich, 1967) kultiviert ein neuer Tristan wie Gregorius aber auch das Leiden an seiner defizitären, ja traumatisierten Existenz. Der Erwählte leistet also doppelte literarische Trauerarbeit, zumal Thomas Mann der Kunst ohnehin „eine läuternde, befreiende, befriedende Wirkung auf den Menschengeist“ beimaß. 252 Das seinem Roman eingeschriebene Plädoyer für „die souveräne Heiterkeit der Kunst“ wendet sich gegen die offenkundige ‚Entheiterung‘ der deutschen Nachkriegsliteratur 253 und trägt späte Früchte in der Bilanz, die deutsche Literatur sei nach 1945 heiterer und humaner geworden. 254 War dem Erwählten mit seiner verteufelt „humanen Komik“ 255 also zumindest die Heimkehr ‚durch die Hin- 250 An Agnes E. Meyer in: Dichter über ihre Dichtungen. Thomas Mann. Teil II: 1918-1943. Hg. von Hans Wysling unter Mitarbeit von Marianne Fischer. Frankfurt am Main 1979. S. 586. - Dass Der Erwählte „eine Vertreibungs- und zugleich eine Überwindungsgeschichte ist“ (Koopmann: Warnung vor Wirklichem. S. 75), lässt sich speziell auf das humoristische Erzählen zurückführen, „ein gleichsam kontrastives Erzählen“, das souverän mit der Realität verfahre (ders.: Humor und Ironie. S. 840f.), ja eine „Gegensphäre zur Realität“ erzeuge (S. 851). Nicht umsonst bemerkte Th. Mann Ida Herz gegenüber am 10.9.1951: „Etwas Sinn für Humor gehört zum Lesen des ‚Erwählten‘“. 251 Koopmann: Franz Werfel: „Jakobwosky und der Oberst“: Komödie des Exils. S. 259; vgl. auch ders.: Franz Werfel: „Jacobowsky und der Oberst“. 252 An Eberhard Hilscher am 3.11.1951. - Vgl. das Kap. „Der Trauerer“ im Erwählten; die 1967 von Alexander und Margarete Mitscherlich diagnostizierte Unfähigkeit zu trauern macht die Erneuerung der individuellen und gesellschaftlichen Situation gerade von der Trauerarbeit abhängig. Unter der Überschrift Literarische Trauerarbeit untersucht Helmuth Kiesel das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins (Tübingen 1986), und Vinke attestiert sogar der heiteren Literatur nach 1945 „Trauerarbeit“ (Heiterkeitsdiskurse: Annäherung an eine Tendenz in der Literatur 1945-60. S. 12), wobei sie speziell auf die Altersromane Th. Manns zu sprechen kommt (vgl. S. 14, sowie wiederum Kiesel: Thomas Manns „Doktor Faustus“. Reklamation der Heiterkeit). 253 An Rudolf Jakob Humm am 21.11.1953. - Vgl. zur ‚Entheiterung‘ als Charakteristikum der Nachkriegsliteratur im Stofflichen (Trümmerliteratur) und Formalen (Kahlschlagprinzip) Kiesel: Thomas Manns „Dr. Faustus“. Reklamation der Heiterkeit. S. 731f. (zur Vertilgung des Humors im Nationalsozialismus S. 739). Für solche Tendenzen - entsetzliche Stoffe in abstoßender Form (formale Dissonanzen, sprachlich-stilistische Ungereimtheiten) - dürfte aus Th. Manns Sicht wohl Wolfgang Borcherts Programmschrift Das ist unser Manifest von 1947 charakteristisch gewesen sein (vgl. Kiesel. S. 735). 254 Vgl. Hermann Kesten: Deutsche Literatur zwanzig Jahre danach. In: Zwanzig Jahre danach: eine deutsche Bilanz 1945-1965. Achtunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten. Hg. von Helmut Hammerschmidt. München 1965. S. 506-519, hier S. 519 (Hervorhebung von mir). 255 An Ida Herz am 1.12.1949; vgl. an Hans Reisiger am 2.4.1951: „der fromme Spaß“. - Bereits Th. Manns Fragment über das Religiöse (1931) spezifiziert die religiöse Frage als „Frage des Menschen nach sich selbst“ (XI,424); diesbzgl. spricht Koopmann von einer „Humanitätsreligion“ (Der Erwählte. S. 514). „Zwar würde ich mir nie den Gedanken eines homo religiosus anmaßen“, schreibt Th. Mann an Karl Boll am 29.10.1950, doch vertritt er mit dem Erwählten eine Thomas Mann Der Erwählte 213 tertür‘ beschieden, so sah sich Thomas Mann noch im Exil als Humorist rehabilitiert: „Aber ungeliebt war ich nicht, bin ich nicht, will ich nicht sein, leugne, es zu sein. W[...]ie stände es um mein Nachleben? “ 256 Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Mann, Thomas: - Der Erwählte. Roman. Frankfurt am Main 1991 (Berlin und Frankfurt am Main 1951). - Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt am Main 1990 (1960). - Briefe 1889-1936. Hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1962. - Briefe 1948-1955 und Nachlese. Hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1979 (1965). - Collegheft 1894-1895. Hg. von Yvonne Schmidlin und Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2001. - Selbstkommentare: „Der Erwählte“. Informationen und Materialien zur Literatur. Frankfurt am Main 1989 (Teildruck aus: Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 14/ III. Thomas Mann. Teil III: 1944-1955. München/ Frankfurt am Main 1981). - Tagebücher 1933-1934. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1977. - Tagebücher 1940-1943. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main 1982. - Tagebücher 1946-1948. Hg. von Inge Jens. Frankfurt am Main 1989. - Tagebücher 1949-1950. Hg. von Inge Jens. Frankfurt am Main 1991. - Tagebücher 1951-1952. Hg. von Inge Jens. Frankfurt am Main 1993. - Briefwechsel 1943-1955 (mit Theodor W. Adorno). Hg. von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Frankfurt am Main 2003. Adorno, Theodor W.: - Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman. In: Ders.: Noten zur Literatur I. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1965. S. 61-72. Art ‚Weltfrömmigkeit‘ i.S. Goethes. Toleranz, Weltoffenheit, Nachsicht und Humanität verkörpert der ‚sehr große Papst‘ Gregorius mit seiner Neigung „zu lösen“ (Der Erwählte. S. 234f.), dahinter verbirgt sich lt. Wimmer „eine Summe guter und großer Päpste“ (Der sehr große Papst. S. 103, vgl. das gleichnamige Kap. im Erwählten): „Das alles, kann man wohl sagen, hat etwas Humanes“ (an Eberhard Hilscher am 20.2.1952). Th. Mann selbst findet es wieder in der ihm gewährten Privataudienz bei jenem „milden Idol, das 2 abendländische Jahrtausende vergegenwärtigt“ (Tagebuch. 1.5.1953). 256 An Hans Mayer am 23.6.1950 (wie Anm. 227). S. 153. - Ein heimliches Selbstporträt liefert auch diesbzgl. Der Erwählte bzw. ‚der sehr große Papst‘ - „ein herrlicher Mann“: „‚Der‘, sagt das Sprichwort, ‚wird gern gehört, den man liebt‘. Und er wurde geliebt [...], weil man ihn gerne hörte“ (S. 138). Sandra Schwarz 214 - Beethoven: Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 2004. Bergengruen, Werner: Über abendländische Universalität (1948). In: Hoffnung Europa: deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1994. S. 372-386. Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. 2. Bd. 1942-1955. 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Er wählte den 30. September 1937. Wie kann jemand seinen Geburtstag nicht wissen? Die jüdische Familie Jurek Beckers wurde 1940 in das Ghetto in Lodcz in Polen eingewiesen, und sein Vater machte Jurek auf den Dokumenten älter, um ihm bessere Überlebenschancen zu ermöglichen (vgl. zur Biographie und den Selbstaussagen Heidelberger-Leonhard 1992, hier z. B. 347). Schon hier kann man das Motiv der „lebensnotwendigen Lüge“ erkennen. Jurek Becker überlebte das Ghetto und die Konzentrationslager von Ravensbrück und Sachsenhausen, in denen seine Mutter umkam. Etwa 20 weitere Mitglieder einer intakten Großfamilie waren, so Jurek Becker, „vergast oder erschlagen worden oder verhungert“ (309). 1945 fand der Vater, der überlebt hatte, seinen Sohn wieder mit Hilfe einer amerikanisch-jüdischen Organisation, die sich um Schoah- Überlebende kümmerte. Aufgewachsen ist Jurek Becker in Ost-Berlin: „Schließlich sind es ja nicht die polnischen Anti-Semiten, die den Krieg verloren haben“, sagte der Vater. In den Romanen Der Boxer und Bronsteins Kinder kann man erzählerisch freie Variationen dieser Kindheit und Jugend nachlesen. Und hier setzt sich Jurek Becker auch mit den Motiven seines Vaters auseinander. Auf alle Fälle lernte er erst jetzt die deutsche Sprache: mit acht Jahren, aber dafür sehr genau und grammatisch 1 „The child that was saved from the Holocaust, […] this child is Jurek Becker himself“, so begann ein Vortrag, den ich unter dem Titel Dialogue of Hope / Der Dialog der Hoffnung 1995 an mehreren amerikanischen Universitäten gehalten habe und dessen Druckfassung ich Rabbi Al Axelradt zu seinem 60. Geburtstag widmen wollte. Rabbi Axelradt, ein bedeutender, international wirksamer jüdischer Theologe, war damals an der Brandeis-University in Boston tätig. Er ist ein besonderer Freund unserer Universität und Förderer des akademischen Austauschs zwischen Augsburg und Brandeis. Leider kam der Band über deutsch-jüdische Literatur damals nicht zu Stande. Ich freue mich dafür jetzt, diesen Vortrag Rabbi Al Axelradt widmen zu können, der mir seit den ersten Aufzeichnungen dazu immer als Publikum und Gesprächspartner vor Augen gestanden war. Hans Vilmar Geppert 220 sauber, entschieden besser als die meisten Deutschen. Er machte 1945 Abitur, studierte ab 1957 Philosophie an der Humboldt-Universität und wurde 1960 wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ relegiert. Über ein Volontariat fand er zur Arbeit als Drehbuchautor bei der DEFA: Diese Zeit, v. a. die Frustration der immer neuen Anpassung hat er später in dem Roman Irreführung der Behörden (1973) verarbeitet. 1963 und 1965 legte er der DEFA Fassungen des Projekts eines Films über ein Ghetto und einen Mann mit einem Radio vor. Frank Beyer, der Regisseur des DDRkritischen Films Spur der Steine (1966), sollte den Film Jakob der Lügner realisieren. Die Zensur ließ das nicht zu, Becker hielt an Beyer fest, verzichtete vorerst auf den Film und schrieb stattdessen einen Roman. Jakob der Lügner erschien 1969 im Aufbau- Verlag und wurde ein Welterfolg, inzwischen in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Und 1974 verfilmte Frank Beyer Jakob der Lügner dann doch. Jurek Becker erhielt den Nationalpreis der DDR. Der Film wurde später sogar für den „Oscar“ nominiert - der einzige DEFA-Film, der es so weit brachte. Und nicht nur das: 1999 gab es ein Hollywood-Remake unter der Regie von Peter Kassovitz mit einem richtigen Hollywood-Star, dem mehrfachen Oscar-Preisträger Robin Williams in der Hauptrolle. Ich werde die Filme selektiv und umrissartig in den Vortrag einbeziehen und ein paar Szenen auch zeigen. Wie auch immer: Literarisch innovativ und auch repräsentativ - davon später - mehrfach übersetzt, mehrfach verfilmt, Jakob der Lügner ist ein „großes Werk der Literatur“. 1976 protestierte Jurek Becker öffentlich gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, und dann gegen die Behandlung von Rainer Kunze, wurde aus der SED ausgeschlossen, trat aus dem Schriftstellerverband aus, siedelte 1977 mit Genehmigung der Behörden in die Bundesrepublik um und blieb ein anerkannter, mehrfach ausgezeichneter Autor; unter anderem war er auch „Gastpoet“ in Augsburg. Ein letzter großer Publikumserfolg neben vielen anderen waren seine Drehbücher für die Fernsehserien Liebling Kreuzberg (1986 ff.) und Wir sind auch nur ein Volk (1994). Am 14. März 1997 ist Jurek Becker gestorben. Nächstes Jahr, wenn Bd. X der Großen Werke erscheinen wird, wird also 10 Jahre nach seinem Tod, 70 Jahre nach seiner „amtlichen“ Geburt, auch ein Jurek-Becker-Jahr sein. Die Erfindung der verlorenen Zeit „Die Zeit bis zur Befreiung“ ist „aus meinem Gedächtnis gelöscht“ schreibt Jurek Becker, gelöscht vielleicht nicht „absolut […] vollständig […]. Aber doch so gründlich, daß das bißchen, was übriggeblieben ist, kaum Erinnerung genannt werden darf“ (292/ 293). Und speziell über das Ghetto schreibt er: „Ich kann mich an nichts erinnern“, es ist für mich eine „unsichtbare Stadt“ (303). Er gibt die „Dumpfheit“ des Lebens im Lager als Grund dafür an, in dem die Tage, insbesondere „für Kinder […] öde und ununterscheidbar“ verliefen, „nicht wert, daß (sie) in der Erinnerung bewahrt“ werden (292). Wer Der Boxer gelesen hat, wird allerdings auch die dort erzählte, nahezu vollständige Auslöschung aller physischen und psychischen Reaktion mit einbeziehen. Wenn Becker immer wieder erklärt hat, selbst an seine Mutter habe er keine Erinnerung, dann kann man Traumatisierungen vermuten, die nach Jurek Becker Jakob der Lügner 221 Hilfe verlangen. Auch sein Vater vermied es, mit ihm über die Vergangenheit zu sprechen oder von ihr zu erzählen. Und mit dieser Haltung des Verdrängens und Verschweigens hat Becker sich wiederholt und kritisch auseinandergesetzt. Die Vaterfigur in Der Boxer, Aaron Blank, wechselt seinen Vornamen in Arno und will „blank“ neu beginnen, als sei nichts gewesen. Aber er bleibt ganz wörtlich in seiner Vergangenheit genau wie in seiner Berliner Wohnung gefangen. Er wird weltfremd, hält z. B. die Ereignisse des 17. Juni 1953 für ein „antisemitisches Pogrom“. In einer interessanten Szene werden die west- und ostdeutschen Radioberichte einander gegenübergestellt, was zugleich eine komplementäre Kontrastspiegelung zu den Radioszenen in Jakob der Lügner darstellt. Aber hier gibt es im Gegensatz zu dort keine Orientierung oder Perspektive. Mit der Erinnerung scheint auch die Vorstellungskraft blockiert. Noch konsequenter: Das verdrängte Trauma macht aggressiv. Es verbindet Opfer und Täter. Eine kindliche Prügelei hält der Vater für eine gezielte Judenverfolgung. Er schickt seinen Sohn in die Boxschule, und der wird ein Schläger, einer, der andere Kinder willkürlich verprügelt, sich auch im Westen nicht ‚durch-schlagen‘ kann und schließlich in Israel im Sechs-Tage-Krieg getötet wird. Noch näher rücken Opfer und Täter, Leiden und Aggression in Bronsteins Kinder zusammen, wenn drei Überlebende der Lager einen ehemaligen Aufseher gefangen nehmen und foltern. Auf alle Fälle wird klar, wie wichtig es für Jurek Becker war, dass er sich eine Vergangenheit er-schreibt, so wie der Romanerzähler in Der Boxer eine Art Alternativ-Sohn des verirrten Aaron/ Arno wurde, und so wie der Ich- Erzähler Hans - der aller-allgemeinste deutsche Name - in seinem „deutschen Bildungsroman“ - der ursprünglich vorgesehene Untertitel lautete: Wie ich ein Deutscher wurde -, so wie dieser „Hans“, der ein „Jedermann“ werden möchte, erzählend die Probleme zu verarbeiten beginnt, mit denen sein Vater nicht fertig wurde. Wenn man die Romanstrukturen des zweiten und dritten Buchs der Trilogie zurückverfolgte, dann würde sich vielleicht eine Erzählform ergeben, wie man sie in Leon de Winters Place de la Bastille (1981) findet oder in W.G. Sebalds Austerlitz (2001). Dort begegnet man Holocaust-Überlebenden, die vollständig von aller Erinnerung und Tradition abgetrennt sind, sich also noch radikaler in derselben Situation befinden, in die Jurek Becker sich in seinen autobiographischen Skizzen gestellt hat. Doch diese Romane haben nun wirklich die Form einer „Suche nach der verlorenen Zeit“, (Proust wird z. B. bei Sebald mehrmals als Erzählfolie erkennbar zitiert), auch wenn diese tief traumatisierte Suche hier im Gegensatz zu Proust fragmentarisch und sprunghaft verläuft und sich schließlich in ein endgültiges Verlieren hinein entfernt. Jurek Becker dagegen findet und erfindet sich, aber bewusst nur im literarischen Spiel, wenn man will, in der „Lüge“. Auf alle Fälle wählt er nicht wie Sebald die Erzählform einer Suche nach Spuren, Dokumenten, Plätzen, Zeitzeugen und schließlich Erinnerungen. Er wählt die Form bewusster, spielerischer Erfindung der für ihn verlorenen Zeit. Hans Vilmar Geppert 222 Die Geschichte als Leerstelle Jurek Beckers Vater hatte seinem Sohn einmal von einem Mann im Ghetto erzählt, der ein - bei Todesstrafe verbotenes - Radio besaß, Nachrichten weitergab, sehr schnell denunziert und schließlich erschossen wurde. „Das war ein Held“, sagte der Vater, über den solle Jurek schreiben. Aber der entgegnete sofort: „Viel interessanter ist ein Romanheld, der besitzt kein Radio und verbreitet dennoch hoffnungsvolle Nachrichten.“ Hier haben wir den Kern des Romans. Dieser Kern ist zugleich viel repräsentativer und enthält einen weitergehenden Sinnanspruch als es jede Authentizität vermöchte. Schon der Name des Romanhelden weist auf die spielerische Neuübersetzung eines zentralen jüdischen Mythos hin. Jakob ist ein Erzvater seines Volkes. Israel ist sein zweiter Name: einer, der „kämpft mit und gegen Gott“. So ist auch Jakob einer, der sich mit seinem Schicksal nicht einfach abfindet. Und vor allem war der biblische Jakob eben ein heilsgeschichtlicher Lügner; er hatte sein Erstgeburtsrecht und den Segen seines Vaters Isaak durch Betrug an seinem ältern Bruder Esau und durch Täuschung seines Vaters an sich gebracht. Aber die Zukunft seines Volkes hat ihm Recht gegeben. Bei Jurek Becker heißt Jakob mit Nachnamen Heim. Darin steckt sowohl das hebräische „Chaim“: Leben, als auch das deutsche „Heim“: Geborgenheit, Heimat. Man sieht, wie die Sehnsucht nach Heilsgeschichte und die Suche nach einer über die historische Faktizität hinausreichenden Sinnperspektive im Mittelpunkt dieses Romans stehen. Was ist an dieser Perspektive wahr, was ist Lüge? Diese Frage stellt sich immer wieder. Und es kommt wie so oft nicht so sehr darauf an, sie zu beantworten, sondern sie richtig zu stellen. Nicht: Wie wahr kann diese Lüge sein? , sondern: Wie wahr kann diese Erfindung einer Lüge sein? Der Romanheld mit dem sprechenden Namen Jakob Heim ist ein stiller, bescheidener, sehr gutherziger, aber auch kluger Mann. Der Roman, genauer, die eigentliche Handlung, beginnt damit, dass mit ihm ein grausamer Scherz getrieben wird. Der deutsche Posten auf dem Holzturm an der Ghettogrenze hält ihn mit dem Scheinwerfer fest und sagt: „Irre ich mich, oder ist es verboten, nach acht auf der Straße zu sein? “ Aber die Juden dürfen neben so vielem anderem keine Uhren besitzen. Der Posten schickt Jakob ins Wachgebäude: „Du meldest dich beim Wachhabenden, sagst ihm, daß du nach acht auf der Straße gewesen bist, und bittest um eine gerechte Bestrafung.“ Jakob weiß, „daß die Aussichten, als Jude lebend aus diesem Haus herauszukommen, sehr gering sind. Bis heute kennt man keinen solchen Fall“ (14). Langsam und genau wird erzählt, wie Jakob das Innere „dieses Hauses“ erlebt, was er sieht, riecht und hört, darunter und vor allem Fetzen einer Radio-Nachricht: „In einer erbitterten Abwehrschlacht gelang es unseren heldenhaft kämpfenden Truppen, den bolschewistischen Angriff zwanzig Kilometer vor Bezanika zum Stehen zu bringen. Im Verlauf der Kampfhandlungen, die von unserer Seite….“, mehr hört er nicht. Jakob weiß, Bezanika ist etwas über 400 km entfernt, Befreiung ist in Sicht, aber was nützt ihm und den anderen das jetzt? „Ein Toter hat eine gute Nachricht gehört“ (13-17). Jurek Becker Jakob der Lügner 223 Man denkt sich nun, die Deutschen lassen Jakob so lange warten, bis es tatsächlich nach acht ist. Aber diesmal ist der Wachhabende gut gelaunt, es ist nur kurz nach halb acht, und Jakob kann gehen. Doch wer wird ihm die gute Nachricht glauben, dass die Russen schon bei Bezanika stehen? Wenn er sagt, wo er lebend wieder herausgekommen ist und was er da erfahren hat, wäre „das Ghetto“ lediglich „um einen vermeintlichen Spitzel reicher“ (29). Als Jakobs Freund Micha für ein paar Kartoffeln sein Leben riskieren will, hält Jakob ihn mit der Aussicht auf baldige Befreiung davon ab und fügt hinzu, denn Micha glaubt ihm nicht: „Ich habe ein Radio“ (34). Nach einem Tag wissen es alle, und nun muss Jakob immer weiter lügen: „Hört auf, euch das Leben zu nehmen, bald werdet ihr es wieder brauchen […]. Überlebt bloß noch die letzten vierhundert Kilometer, dann hört das Überleben auf, dann beginnt das Leben“ (36), so leiht der Erzähler ihm seine Stimme. Man sieht, wie Jakob auch diesem Teil seines Namens „Chaim“: „Leben“ gerecht wird. Überall kommt Hoffnung auf, „seit gestern (und) ganz plötzlich ist morgen auch ein Tag“ (52 und 34), Pläne für die Zukunft werden gemacht, Liebende finden zusammen, manche wollen schon den Hochzeitstermin beim Rabbiner reservieren, „die Selbstmordziffern sinken auf Null“ (86). Um diesen Erwartungen gerecht zu werden lügt Jakob immer gekonnter, spielerischer, kunstvoller - ein wichtiger Aspekt -, wobei es immer wieder auch zu durchaus lustigen und komischen Szenen kommt. Dies ist ein Buch das Lachen und Weinen macht. Am Ende des Romans freilich werden alle Personen, mit ihnen die Leser, in die Sinnlosigkeit und die Schrecken der Geschichte entlassen. Das Ghetto wird geräumt; die Szene verengt sich zu einem Eisenbahnwagen mit fiktiv unbekanntem, historisch aber nur zu gut bekanntem Ziel: „Wir fahren wohin wir fahren“ (288), so der letzte Satz des Romans. Man möchte sich beim Lesen an diesem Satz geradezu festhalten, denn wenn man weiter denkt, wenn man nachdenklich die weiße halbe Seite entziffert, die dann kommt, ist man unweigerlich in der historischen Realität angekommen: aufgewacht aus dem Traum der Fiktion im Albtraum der Geschichte. Becker hat sich in Archiven und Dokumentationen, auch durch eigene Reisen möglichst genau über die Ghetto-Realität orientiert, er hat so z. B. die eigene Ghettoanmeldung und die seiner Eltern gefunden. Aber er stellt die Ghetto-Realität nicht wirklich dar. Sein Vater hat nach Erscheinen des Romans deswegen ein Jahr lang nicht mit ihm gesprochen. (Man vergleiche zum Kontrast etwa den unbeschönigt harten Ghetto-Roman von Edgar Hilsenrath Nacht, 1964.) In Jakob der Lügner hat das freundliche und solidarische Zusammenleben der Personen um Jakob Heim herum etwas von einer minimalistischen, armen aber tapfer fröhlichen Idylle - allerdings mit harten Rändern, hinter denen das Grauen lauert. Auf alle Fälle wird sehr viel Negatives oder Störendes weggelassen: Es gibt in Beckers Roman keine Sinti oder Roma, die ebenfalls im Ghetto waren (bis zu 5.000, vgl. 316), es gibt keinen jüdischen „Ordnungsdienst“ (eine Ghetto-Polizei im deutschen Auftrag), keinen Ältestenrat (der die Vernichtungstransporte zusammenstellte), keine Kollaboration und Denunziation, nicht den unausweichlichen, erbarmungslosen Kampf der Opfer untereinander ums Überleben. Auch das alltägliche „Grauen“ (316) wird immer nur angedeutet. Manchmal hat es, wie der böse Scherz am Romananfang, etwas Komi- Hans Vilmar Geppert 224 sches, etwa wenn ein kleingewachsener deutscher Posten in das Gesicht eines größeren Juden sich „hinaufzuschlagen“ bemüht (35 f.), oder wenn ein ehemaliger Boxer im Ghetto keine Gewichtsprobleme mehr hat. Oft bekommt die völlige Rechtlosigkeit etwas still und klein Heroisches, wenn eine Erschießung vielleicht ein klug kalkulierter und provozierter Suizid war, oder wenn der Arzt sein Gift als Magentabletten ausgibt und davon auch seinem Bewacher anbietet. Die Transporte in die Vernichtungsanlagen - sie begannen im Mai 1942, die letzten 2.000 Bewohner des Ghettos wurden noch am 18. Januar 1945 an Ort und Stelle ermordet; als das Ghetto von Lodz/ Litzmannstatt einen Tag später von sowjetischen Truppen befreit wurde, hatten von den etwa 160.000 Bewohnern, die dort im Juni 1940 gelebt hatten, nur um eine Zahl zu nennen, „870 Menschen […] überlebt“ (319) - die Transporte in die Ermordung werden meist nur als „Abreise“ oder als Weg zum Bahnhof usw. dargestellt („sie sind in den Güterzug gestiegen und weggefahren“, 78, jemand „mußte […] in den Zug steigen“, 182, der „Transport“ ist „auf seinem Weg nach da und da“, 242). „Majdanek oder Auschwitz“ werden zwar genannt (86), aber als etwas, dem man durch „höchste Vorsicht und keinen unüberlegten Schritt“ vielleicht entgehen kann (ebd.). Meist aber wird die Vernichtung als „das Ende“ (79) umschrieben oder und mehrfach als „das und das“ (11, 15), was die Deutschen mit uns „vorhaben“ konsequent ausgespart und das bis zuletzt: „Wir fahren wohin wir fahren.“ Die Befreiung, die im Mittelpunkt der fiktiven Handlung steht, hat es historisch nie gegeben, auf die Vernichtung, die die Historie bereithält, wird fiktional zwar sehr klar hingewiesen, aber sie wird nicht dargestellt oder explizit genannt. Fiktion und Historie definieren sich wechselseitig als Leerstellen. So wird nicht nur ihre Differenz ausgesprochen; beide Diskurse sind nicht einfach ineinander übersetzbar; das ist sehr schnell klar und daher zu kritisieren müßig. Zu fragen ist, welche ästhetischen und dann auch hermeneutischen Wirkungen und Folgen so, in dieser Poetik der Leerstelle, entstehen können. Was will diese Romanform sagen? Sie stellt, wenn sie einen kleinen Exkurs gestatten, eine spezifische Möglichkeit des modernen und postmodernen historischen Romans dar und lässt sich in dessen Poetik recht genau verorten. In Erweiterung von Hayden Whites Metahistory (1973, vgl. einführend White 1986, 64 ff.) könnte man von einer „Ana-Synekdoche“ sprechen, pars / partes pro toto futuro, ein Teil bzw. Teile eines Geschehens stehen für ein zukünftiges Ganzes. Und dieses Ganze - das scheint mir nun sehr wichtig, dadurch unterscheidet sich diese literarische Figur (nach White auch die historische) von der rhetorisch-konventionellen - dieses Ganze bleibt prinzipiell offen. Die Geschichte bleibt hinter dem Horizont der erzählten Handlung; und der Verallgemeinerung der erzählten Bedeutungen bzw. des entworfenen Sinnanspruchs sind interpretatorisch, also beim Lesen und Nachdenken, keine Grenzen gesetzt. Erlauben Sie zur Veranschaulichung dieser im Prinzip schon von Walter Scott entwickelten Erzählform ein paar Beispiele aus der deutschen Literatur. Theodor Fontanes Schach von Wuthenow (1888) spielt am Vorabend des preußischfranzösischen Krieges von 1806 und vor allem der Niederlage von Jena und Auerstädt. Aber dieses für die preußische Geschichte traumatische Ereignis wird weder Jurek Becker Jakob der Lügner 225 dargestellt noch genannt, auch nicht die Vorbereitung auf den Krieg, das Bündnis mit Russland, das Ultimatum, die Mobilisierung der preußischen Armee, und all das obwohl, nein weil ein ehrgeiziger preußischer Offizier und sein Eliteregiment im Mittelpunkt stehen. Die ganze Aufmerksamkeit der Handlung gilt dem Drama, das vor dieser Kulisse abläuft: Ein Rittmeister hat, dem Vorbild eines Prinzen folgend, ein pockennarbiges Mädchen aus vornehmer Familie verführt, sie wird schwanger, der König befiehlt ihm die Hochzeit; noch am Abend der Hochzeit, ein paar Wochen vor Ausbruch des Krieges, erschießt sich der Romanheld. Und die Kritik an seiner pathologisch-ästhetischen Ehrauffassung, an dieser „Welt des Scheins“ (Fontane, 680) wird genau dadurch sowohl über den historischen Kontext als auch über Fontanes eigene Gegenwart hinaus der Verallgemeinerung fähig, als das zukünftige Ganze, auf das sich diese kleine Geschichte bezieht, eine gezielte Leerstelle bleibt. Es ist keine Überinterpretation, wenn man sagt, dass vielleicht erst die Zerstörung Preußens im 20. Jahrhundert die Leerstelle gefüllt hat, die der Roman am Ende öffnet: „Wir werden an derselben Welt des Scheins zugrunde gehen, an der Schach zugrunde gegangen ist“ (ebd.). Alfred Andersch hat ziemlich sicher diesen Roman von Fontane gekannt, Uwe Johnson zitiert ihn ausführlich. Beide setzen dieselbe Erzählform ein, aber mit neuer und nun auch mit Becker vergleichbarer Intention. Um das einfachere Beispiel zuerst vorzustellen. Die Romanheldin befindet sich am Ende von Uwe Johnsons Jahrestagen (1970-1983) auf dem Weg von New York nach Prag. Man schreibt den 20. August 1968, sie will zwischen dem Reform-Sozialismus des „Prager Frühling“, für den sie begeistert ist, und der liberalen Wirtschaftskraft der USA vermitteln. Und der Roman bricht ganz gezielt ab, ohne den am selben Tag erfolgten Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in die damalige Tschechoslowakei zu erzählen. Das utopische Moment im illusionären Engagement, das historisch ein Selbstbetrug ist, aber human überlebensnotwendig, diese offene Zukunftsperspektive soll unabgegolten bleiben. Alfred Andersch erzählt in seinem Roman Winterspelt (1974) die Schicksale einer Gruppe von Personen am Vorabend der historischen Ardennenoffensive, die auch geographisch an der Grenze, teilweise im Niemandsland zwischen den Fronten spielen. Die Offensive selbst, bei der die Deutschen dank der Überraschung tatsächlich zunächst im Vorteil waren, wird in einem historischen Dokumentationsteil breit in Zahlen und Zitaten dargestellt, aber fiktional völlig ausgespart. Die Handlung bricht vorher in allen ihren Strängen ab. Und umgekehrt ist der Kern der Fiktion historisch leer, ja der Roman hat metapoetisch diese Leere zum Thema. Es geht neben vielem anderem um das Gedankenspiel eines deutschen Offiziers, sein Bataillon gesondert und in aller Form kampflos an die Amerikaner zu übergeben, was sich mehrfach als undurchführbar erweist. Andersch erzählt eine Möglichkeit, die nie Geschichte geworden ist, und eine Geschichte, die diese Möglichkeit konsequent ausschließt. Noch interessanter ist ein weiterer Handlungsstrang in diesem Roman: die Rettung eines Gemäldes von Paul Klee vor den Nazis. Denn dieses Bild hat nun in der Tat eine Leerstelle zum Thema: Polyphon umgrenztes Weiß wirkt wie ein „Plan“ zu diesem Roman: Die Interferenz qualitativ verschiedener Werteparadigmen (Farben bzw. menschliche Schicksale) kreist um eine offene Mitte bzw. Zukunft, die „vielleicht Hans Vilmar Geppert 226 eine höchste Lichtquelle war, vielleicht aber auch bloß etwas Weißes, ein Nichts“ (Andersch, 271). Mit Lichtmetaphern und -symbolen wird auch die Hoffnung, die Jakobs Lügen erzeugen, immer wieder umschrieben. Die kleine Lina beispielsweise sucht das Radio und findet eine Öllampe: Das muss das Radio sein, Jakob wird wissen, wie man es zum Spielen bringt. Die Hoffnung ist in der Tat eine „Quelle von Licht“. Aber am Ende wird die Zuversicht der Personen, befreit zu werden, auch hier zu einem „Nichts“. Schwellensituationen So wie die Poetik der Leerstelle immer wieder auf eine offene Zukunft weist - das ist die Lesart, die Andersch für das Bild von Paul Klee vorschlägt -, so erzeugt die Lüge bei Becker Dynamik, sie erzeugt Leben. Die Lüge ist eine Schwelle, die die Leser überschreiten sollen auf dem Weg zur Wahrheit. Zunächst könnte man meinen, der „Chronotopos“, das räumlich-zeitliche Schema, die Form und Inhalt vermittelnde prägende Anschauungsform des Romans (Bachtin, 7 ff.), sei das Gefängnis. Aber dieses Raum-Zeit-Schema verwandelt sich beim Lesen und wird offener und dynamischer. Wir befinden uns zwar zunächst in einem begrenzten Raum, nach allen Seiten eingesperrt, eben im Ghetto, und in einer begrenzten Zeit, sofern die Zeit vor und nach der guten Nachricht allenfalls nur ein paar Wochen umfasst. Und, wie wir gesehen haben, die Welt draußen, die Realität der Geschichte, wird nicht dargestellt, während die Welt drinnen bereits Lüge ist: eine erfundene verlorene Zeit, eine arme Idylle mit harten Rändern. Noch konsequenter: Diese Innenwelt wird nochmals verinnerlicht und das mehrfach. Alles wird ja nur in der Erinnerung (Er-Innerung) eines Überlebenden präsentiert, der es von Jakob und anderen erfahren haben will; dieser ‚testimoniale‘ Ich-Erzähler tritt sehr personal, fast mündlich hervor: „Wir wollen jetzt ein wenig schwätzen“ (26), „oder nehmen wir eine andere Möglichkeit“ (29), „wir haben einige Phantasie, und darum wissen wir, was geschehen wird“ (36), „ich sage mir, so und so muß es ungefähr gewesen sein“ (47), „ich kann es mir nur so oder ähnlich vorstellen“ (58). Solche Wendungen finden sich immer wieder. Und für dieses Erzähl-„Spiel“ (9) bezeichnend sind auch Anfang und Schluss des Romans: Ich höre schon alle sagen, ein Baum, was ist das schon […], hast du nichts Besseres, woran du denken kannst, damit sich deine Blicke verklären […]? (9) Bäume befinden sich in der Außenwelt des Ghettos, aber sie erfüllen in teils liebevoller, teils traumatischer Erinnerung die Innenwelt des Erzählers. Am Anfang und am Ende des Romans gehen beide ineinander auf: Vor allem aber sehe ich Bäume, die ich fast schon vergessen hatte […], Unmengen von Bäumen […], du lieber Gott, was sehe ich für Bäume, die Bäume hören nicht auf […]. Manche sagen, die Bäume verwirren meinen Sinn, ich stehe und stehe, mitunter setze ich mich heute noch in einen Zug, auf besonders waldreicher Strecke […]. Bis ich Jakobs Stimme höre: „Willst du nicht endlich schlafen? “ Jurek Becker Jakob der Lügner 227 „Laß mich noch ein bißchen stehen“, sage ich. „Aber du siehst doch gar nichts mehr“, höre ich ihn sagen. „Doch“. Denn ich sehe noch die Schatten von Bäumen, und schlafen kann ich nicht, wir fahren, wohin wir fahren. (287/ 288) Zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Vorstellung, Abwesenheit und Anwesenheit, Geschichte und Natur, und Natur ihrerseits als etwas Eigengesetzliches und als „Spiegel der Seele“, gehen hier die Assoziationen hin und her. Bäume stehen hier doch wohl für eine „gute Natur“, eine heile Welt, aber nur durch einen Blick von innen nach außen, durch eine „Luke“ (287) hindurch werden sie bedeutsam. Die entscheidenden, prägenden Raum-Zeit-Modelle und -Situationen in diesem Roman sind die von Übergängen, von Schwellen. Jakob steht zwischen Türen, bewegt sich an den Rändern von Straßen und Plätzen oder überquert sie, er und auch andere Personen, sofern sie etwas Bedeutsames agieren, kommen und gehen. Im Film von Frank Beyer werden immer wieder solche Schwellen-Einstellungen gesucht. Wir werden den Film morgen zeigen. Der Vorspann beispielsweise zeigt Bilder eines eben verlassenen Ghettos, den Übergang von bewohnt und leer, damit auch von Leben und Tod, ineins damit den Übergang von historischer Rekonstruktion der Vergangenheit und filmisch erfundener, ja „produzierter“ Gegenwart. Und er zeigt eben architektonische Schwellen: Türen, Fenster, schräg angeschnittene, wegführende Gänge und Gassen, Hausecken, die Richtungsänderungen des Blickes anbieten und so fort. Hans Vilmar Geppert 228 Blickt man von hier auf den Roman zurück, dann sieht man die Gemeinsamkeit. Immer wieder leisten gerade Schwellensituationen die eigentliche historische Mimesis. Die Schoah, der Holocaust, die Verfolgung und Vernichtung der Juden „geschieht“ hier im Verweisen auf sie, da wo sie jederzeit beginnen könnte oder tatsächlich beginnt. Jakob entgeht knapp dem Tod und hört durch eine geöffnete Tür die gute Nachricht; auch die alternativ erfundene Schlussversion des Romans, das „Ende, das sich nie ergeben hat“ (263, vgl. ebd. ff.), erzählt geradezu die Parabel einer versuchten und ideell erfolgreichen Grenzüberschreitung. Der fromme Herschel (vgl. 137 ff.) wird erschossen beim Versuch, Menschen in einem vorübergehend „auf einem Weg nach irgendwo“ (139) abgestellten Transport-Waggon die gute Nachricht weiterzusagen. Er überschreitet eine Schwelle, um eine andere Schwelle zu erreichen. Der berühmte Arzt (vgl. 200 ff.) vergiftet sich beim Verlassen des Ghettos in der für ihn aussichtslosen Situation, den Chef der Gestapo behandeln zu sollen. Jakob sieht im Vorübergehen von der Straße (vgl. 259 f.) wie sein Freund Kowalski - ihm hatte er tags zuvor seine „Lüge“ gestanden - sich im Fensterkreuz, also auch hier zwischen drinnen und draußen, erhängt hat, eine im Roman wie im Film sprechende Situation. Aber andererseits wird sich auch die Semantik der Lüge als transitiv, als Anstoß zu Grenzüberschreitungen erweisen. Jurek Becker Jakob der Lügner 229 Diese Schwellen von Innen und Außen funktionieren auch für die Leser des Romans. Man fragt sich, ob die eben beschriebene transitive Mimesis des Schreckens, da sie ja immer auch die Grenze überschreitet zwischen einer Gerade-noch- Normalität, einer Lebenswelt, an der auch die Leser teilnehmen können, und einem Grauen, das sie in seiner Unvorstellbarkeit belässt, ob diese konsequent indirekte, doch präzise auf ihn verweisende Darstellung des Holocaust nicht vielleicht für spätere Leser „draußen“ wirksamer ist als fiktiv-illusionäre Vergegenwärtigungen mit all den Blocker-Mechanismen, die sie auslösen. Stockt einem nicht noch beim vierten oder fünften Lesen der Atem, wenn man dem Blick zweier Liebender aus dem Fenster folgt - wieder eine Schwellensituation - und mit ihnen einen „kleinen […] grauen Zug“ von Menschen näher kommen sieht, auf dem Weg zum Bahnhof, und unter ihnen immer genauer die eigenen Eltern (232-234)? Die Semantik der Lüge Die Reaktion der Tochter auf diesen Schock und zugleich auf das magische Wort „Jakob hat gesagt“, ist verständlich: „Ihr lügt alle! Ihr redet und redet, und nichts ändert sich! “ (235). So wie die Personen im Ghetto eingesperrt sind, der Diskurs des Romans aber dieses Gefängnis in Schwellensituationen, Grauen, aber auch Hoffnung eröffnend, transzendiert, so ist auch die Kommunikation der Personen gefangen in der Ja-Nein-Logik der Lüge, während für die Leser gerade deren Überschreitung Möglichkeiten eines Dialogs der Alternativen erschließt. Diese dynamisierende, transitive Semantik der Lüge beginnt schon damit, dass es im Roman ja ein ganzes Feld von Betrug, Täuschung, Schwindel, Schutzbehauptungen usw. gibt. Der Friseur Kowalski gibt gern zu, dass bei seinem Haarwuchsmittel seinerzeit „alles Schwindel“ (75) war, Jakob beichtet, dass er einmal für einen Freund gegen einen Wucherer vor dem Staatsanwalt bewusst die Unwahrheit gesagt hat; und „die ganze Straße hat gejubelt“ (135). Micha redet seiner geliebten Rosa ein, sein Zimmernachbar, der hinter einem Raumteiler wohnt, sei taubstumm, damit sie nachts in sein Bett kommt. Das ist „eine Geschichte […], wie jemand belogen werden muß, damit er ein bißchen glücklich sein kann“ (63), ein „winziges Lustspiel“ (66), mit durchaus weiterreichender transitiver Bedeutung: Die kleine Lüge nimmt eine Zeit vorweg, in der die beiden sich nicht mehr verstecken müssen, und sie appelliert an den höheren Wert von Liebe gegenüber dem der, sagen wir, Diskretion. Solche Konstellationen wiederholen sich: Der fromme Herschel rettet seine Schläfenlocken durch eine Sommers wie Winters getragene Pelzkappe, „er schmuggelt sie durch die Zeit“ (71). Die kleine Lina, die nur das Ghetto kennt, kann sich nicht vorstellen, dass sie einmal ganz einfach „satt zu essen kriegen (kann: ) Das schwindelst du“ (122). Und Jakobs Lüge hat prinzipiell dieselbe Semantik. Der Kern seiner Nachrichten ist ja, soweit sich das überhaupt beurteilen lässt, wahr. Unwahr sind lediglich seine Angaben über die Quelle seiner Nachrichten, das Radio. Würden die Ghettobewohner Jakob vertrauen - so wie das Kind, die kleine Lina, dazu gleich -, dann bräuchte er das Radio nicht. Aber warum trauen die anderen niemandem, der den Deutschen Hans Vilmar Geppert 230 irgendwie einmal eine gute Nachricht verdankt? Das ist der erste entscheidende, transitive Schritt in dieser Semantik der Lüge: Das Ghetto bereitete immer und ganz die organisierte Ermordung vor (vgl. 314 ff.). Die, hart gesagt, Vernichtungsprämisse der Ghettokonstruktion schließt jede positive Folgerung aus. Dieser allgemeine Verhaltens- und Denkzwang besteht, bevor die Faktizität oder Nichtexistenz des Radios relevant wird. Denkt man das weiter bzw. verfolgt es zurück, dann kehren sich die Wahrheitsvorzeichen um. Das ist der zweite notwendige Schritt. Denn die Vernichtungsprämisse selbst ist ja nicht einfach gegeben. Sie beruht ihrerseits auf Voraussetzungen. Und hier stoßen wir auf die erste Lüge, die alles weitere bedingt: die Lüge, dass Juden geringerwertige „Untermenschen“ seien, ja eine schädliche menschliche Rasse. Die Lüge der NS-Ideologie ist die Bedingung dafür, dass man Jakobs Wahrheit nicht glauben kann. Und Jakobs Lüge wird dann zum Anstoß, die Prämissen zu überprüfen, die sie zur Lüge machen. Sie wird transitiv und dialogisch. Spätestens bei der Lektüre also, im Denken und Folgern der intendierten Leser, muss sie zur Gegenrede werden gegen die größere Lüge, die vorübergehend historische Realität geworden ist. Ist das Haarspalterei? Wir müssen uns von der Lesart verabschieden, der Roman zeige, dass Hoffnung lebensnotwendig ist, selbst wenn sie die Form der Lüge annehmen muss. Die Rede vom „Prinzip Hoffnung“ ist heute leider zu billiger Beliebigkeit verkommen. Bei Ernst Bloch handelt es sich um eine sehr tief und auch „hart“ begründete existenziale Analyse von Humanität. Und durchaus in diesem Sinne argumentiert auch Beckers Roman für ein „Prinzip Hoffnung“ ohne Illusion und untrennbar mit einem „Prinzip Wahrheit“ verbunden, kritisch, und, wenn man will, aussagenlogisch und argumentatorisch durchaus „hart“ gedacht. Genauso wie die Frage: Radio oder nicht? nur vorübergehend, man kann sagen: als Denk-Schwelle relevant ist, so ist auch der Schluss des Romans gegen die wahre Hoffnung in ihm kein Widerspruch. Jakobs Lüge korrigiert sich nicht nur im Hinblick auf ihre Voraussetzungen selbst, sondern auch im Hinblick auf ihre Folgen. Und das hat etwas noch Härteres, Illusionsloseres als die eben untersuchte Kritik des Wertediskurses an der Nazi-Ideologie, die ja letztlich die Radio-Lüge erzwungen hat. Betrachten wir nochmals den Satz: „Jakob […] lügt. […] Ihr lügt alle! Ihr redet und redet, und nichts ändert sich! “ (235). Nachdem ihre Eltern abtransportiert wurden, ist es für Rosa nicht mehr „erlaubt […], in ihrer Lage solche Hoffnungen zu wecken“ (240). So sieht es Kowalski, der sich erhängt, weil er das Eingeständnis, Jakob habe kein Radio, nicht erträgt. Die übrigen, als der allgemeine Abtransport bevorsteht, schauen Jakob mit „Entsetzen“ an, schweigend, eine Gasse für ihn bildend, „wie geprellte Gläubiger“ (279). Die Personen müssen es so sehen und haben trotzdem nicht Recht. Die Nachricht, dass die Russen immer näher kommen, bleibt ja richtig; dass dies nicht die Befreiung bedeutet, ist eine Folgerung, für die Jakob nicht verantwortlich ist. Jakob hat nicht gelogen. Erst recht gilt das, wenn man, wie es für Erzähler, Autor und Leser unvermeidlich ist und auch intendiert ist, über die Grenzen der Romanhandlung hinausblickt. Der Erzähler, der ja schon immer spielerisch-betroffen seine Unzuverlässigkeit betont hat, identifiziert sich mit Jakob genau voll bewusst und explizit eben in der Jurek Becker Jakob der Lügner 231 Schwellen-Funktion der Lüge: „Er hat zu mir gesprochen, aber ich rede zu euch“ (46). Der Erzähler öffnet die Innenwelt der Personen, die selbst im Gefängnis des Ghettos eingeschlossen sind, die auch gefangen sind in jenem realen Zwang, der sich selbst der Lüge der Nazi-Ideologie verdankt: Aus dieser feindlichen Außenwelt heraus öffnet er die Innenwelt von Hoffnung, die Jakob geweckt hat; und er öffnet sie vor allem für die Leser. Wenn der Erzähler am Ende des Romans auf seine geliebten Bäume blickt, dann öffnet er seinen Innenraum der Wünsche für den Außenraum der Romanhandlung genau so, dass dieser wieder zum Weltinnenraum der Leser werden kann. Und auf dieselbe Weise übersetzt der Erzähler die zukunftsbezogene Wahrheitsfunktion der Lüge in eine anschauliche Parabel. Der erfundene Romanschluss ist erfüllt von jener komplexen, transitiven Schwellen-Semantik, die wir immer wieder beobachtet haben. Und mit ihm macht sich der Erzähler ausdrücklich selbst zum Lügner. Er verstößt mit einem „Ende, das sich nie ergeben hat“ bewusst gegen die „Wahrhaftigkeit“ des anderen, des „nichtswürdigen Endes“. Denn „eine so schöne Geschichte“ hat „ein besseres Ende verdient“ (262). Der Chronotopos der Schwelle wird dabei zu einer anschaulichen Parabel auserzählt. Jakob versucht, den Stacheldraht der Ghetto-Grenze zu überwinden, um endlich „brauchbare Informationen zu beschaffen“ (274) und nicht mehr lügen zu müssen. Genau auf dieser räumlichen Schwelle wird er erschossen. Aber dieser Augenblick stellt sich selbst wieder und sofort als Zeit-Schwelle heraus, denn dies ist die „Nacht, in der die Russen kommen“, und „sofort nach der Salve, die Jakob gegolten hat, hebt ein ohrenbetäubendes Donnern“ der russischen Artillerie an. Das Ghetto ist frei, Jakob aber ist kein Lügner mehr, sondern „muß verrückt geworden sein. Er wußte doch genau, daß sie (die Russen) kommen. Er hatte doch ein Radio….“ Solcherart „kopfschüttelnd“ geht es „hinaus in die Freiheit“ (275/ 276). Man sieht, wie die Lügen-Parabel die Verständnisebene der Personen überschreitet, wie sie aber auch, so wie Michas oder eben Jakobs Lügen, die Zeit zusammenzieht und eine Zukunft vorwegnimmt, die, wie oben gezeigt, für den Romandiskurs eine Leerstelle bleibt. Was Jakob und nun auch der Erzähler nur noch herbeilügen konnten, das Ende des Holocaust, ist für Autor und Leser eingetreten. Ob sich damit die „größere Hoffnung“, wie Ilse Aichinger es nannte, von mehr Humanität rechtfertigt, blieb damals und bleibt noch heute bestenfalls offen. Aber erst eine solche Zukunft würde die Lügen-Parabel des „besseren Endes“ zur Wahrheit machen. Die Hollywood- Verfilmung hat im Prinzip solch einen Schluss gewählt: Jakob lacht vor seiner Hinrichtung seinen Mördern ins Gesicht. Immerhin hat Jurek Becker dieses Drehbuch noch autorisiert. Damit komme ich zum letzten Abschnitt meines Vortrags „Das gerettete Kind“ Der Erzähler und sein alternatives Romanende bekennen sich zur Wahrheitsfunktion der Lüge. Im Roman selbst ist nur eine Person mit der tieferen Wahrheit in Jakobs Lüge solidarisch. Die kleine Lina hat von dem Radio gehört, sie sucht und findet eine symbolische Lampe, aber dann setzt sie ihren Willen durch, Jakob nimmt Hans Vilmar Geppert 232 sie mit in den Keller, damit sie das Radio hören kann. Sehen darf sie es aber nicht, das wäre zu gefährlich. Sie muss hinter einer Trennwand bleiben, hinter der Jakob nach viel Pfeifen und Krächzen das Radio in Gang bringt. Nachrichten werden verlesen, dann folgt ein Interview mit Mr. Winston Churchill, der leider erkältet ist, und beide Gesprächspartner müssen gleichzeitig niesen, eine ganze Musikkapelle spielt einen Marsch - wie, ist schwer nachvollziehbar, aber Jurek Beckers Darstellung wirkt sehr überzeugend - und zum Schluss ist noch Kinderstunde und ein Märchen wird erzählt. Die Verfilmung von 1999 erzählt hier eine wesentlich andere Geschichte. An die Stelle des Märchens tritt der Tanz, und auf deren Hoffnungs-Bedeutung wird in beiden Verfilmungen verwiesen. Da dies gleichwohl eine der bezeichnendsten Szenen im Kassovitz-Williams-Film ist, will ich sie Ihnen kurz vorstellen: Jurek Becker Jakob der Lügner 233 Im Roman und im DEFA-Film ist es anders. Lina schaut um die Mauer herum und sieht, dass Jakob gar kein Radio hat, aber sie lässt sich nicht anmerken, was sie weiß, und vor allem: Sie glaubt Jakob trotzdem, dass er die Wahrheit sagt: „Lina ereifert sich […] so sehr, daß einem angst werden kann. Denn ihr Onkel ist alles andere, nur kein Lügner […] Wo sie doch selbst auf seinem Radio gehört hat, daß die Russen bald hier sein werden, mit ihren eigenen Ohren, was sagst du jetzt? “ (243). Man muss beides zusammen sehen, die Sicht Jakobs, der „mit steinernem Gesicht“ anhört, „wie Lina ihn mit Lügen verteidigt hat, mit seinen eigenen Waffen“ (244, 251), und die Sicht, die der Autor den Lesern vermitteln will, dass das gerettete Kind die tiefere, wahrere, die „größere Hoffnung“ vertritt, dass dieser Schrecken des Holocaust zu Ende gehen wird, so wie der dritte große Lügner, der Erzähler, ebenfalls im Sinne des Autors und ebenfalls ein Sprachrohr Jakobs für die Leser an seinem hoffnungsvollen Romanende und seinem „Trost der Bäume“ (eine Gedichtzeile von Günter Eich, 1955) festhält. Hans Vilmar Geppert 234 Dass Linas Lüge die tiefere Wahrheit und die größere Hoffnung vertritt, das zeigt das Märchen „von der kranken Prinzessin. Natürlich ist das wahr“ (285): Um die Wahrheit dieses Märchens unterhalten sich bezeichnenderweise die drei Erzlügner, Jakob, der Erzähler und Lina am Ende des Romans. Nach Jakobs, das heißt ‚seines Radios‘ Version, wünschte sich die kranke Prinzessin eine Wolke, man gab ihr ein Stück Watte so groß wie ein Kissen, und sie wurde gesund. Lina selbst erzählt das Märchen anders. Es war ein guter Einfall, dass der Film von Frank Beyer mit ihr und ihrem Märchen schließt. (Um Ihnen einen Eindruck von dem Film zu geben, zeigen wir die ganze Schluss-Sequenz, die mit dem Befehl zum Abtransport beginnt. Man kann sehen, wie hier immer wieder filmische Chronotopen der Schwelle und ein über die Szene hinausweisender Überschuss von Bedeutungen aufgebaut werden.) Jurek Becker Jakob der Lügner 235 Lina verkörpert im Roman wie im Film die Wahrheit, die als Voraussetzung und Folge die Lüge korrigiert und die Hoffnung begründet. Diese Hoffnung ist so fragil Hans Vilmar Geppert 236 wie das Märchen, das ein Kind erzählt. Sie darf nicht aus dem Kontext dieser ganzen Erzählung - ich erinnere an die Stichworte: Geschichte als Leerstelle, Chronotopos der Schwelle, transitive Semantik der Lüge - gelöst werden. Jurek Becker betrifft diese Hoffnung existenziell, denn Lina verkörpert ja auch seine „erfunden-gefundene verlorene Zeit“. Insofern hat die Symbolik des geretteten Kindes auch mit seinem Judentum zu tun, aber sie ist damit nicht identisch. Becker legte immer Wert auf den Satz: „Meine Eltern waren Juden.“ Er selbst sah sich dadurch nicht festgelegt, so dass „die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen, die ‚die Juden‘ heißt, eine freiwillige Angelegenheit bedeutet“ (295). Er wurde nie im jüdischen Glauben unterrichtet oder erzogen und versteht sich als Jude allenfalls in dem Sinne, dass einer ein Jude auch als „der zu sein hat, für den die anderen einen halten“ (297). Aber dann erzählt er ein Erlebnis aus seiner Kindheit in Berlin, als er „etwa elf Jahre alt gewesen sein“ muss (298, vgl. ebd. ff.). Es kam ein alter bärtiger Mann zu Besuch mit einem eigenartigen, vorher nie gesehenen Käppchen auf dem Kopf. Er betrachtete den kleinen Jurek lange, plötzlich schloss er ihn fest in die Arme und weinte. Für diesen frommen Juden war das aus dem Holocaust gerettete Kind eine Bestätigung seines Glaubens, ein authentisches, an der Wahrheit teilhabendes Symbol. Aber Becker erzählt diese Geschichte um sich von ihr abzugrenzen, allerdings nicht ganz. Sein Judentum bedeutet für ihn „ein Geheimnis […], ohne das mein Leben ärmer wäre“ (303). Wie ist das Motiv des geretteten Kindes, das ja letztlich Jurek Becker selbst vertritt, zu deuten? Es repräsentiert nicht, zumindest nicht spezifisch, das Überleben des jüdischen Volkes. So klar es ein Stück romantisches Erbe darstellt - „wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter“ (Novalis) -, so wenig kann man es auf seine direkte poetische Überzeugungskraft begründen. Dazu ist sein Schicksal hier und in den anderen Variationen, die Becker erzählt, zu negativ. So gesehen muss es dann andererseits doch wohl mehr bedeuten als einen Teil von Beckers Autobiographie. Sicher scheint: Was das Symbol des „geretteten Kindes“ sagen soll, muss immer weiter und immer wieder neu gesucht werden. So hatte schon die kleine Lina in Jakob der Lügner eine „größere Hoffnung“ verkörpert, die das Geschehen, konsequent gesagt, die Vernichtung der Juden, transzendiert, aber nicht sie irgendwie heilen kann. In einer kurzen Erzählung Die Mauer, die im Band Nach der ersten Zukunft (1980) steht, wird das Motiv des geretteten Kindes noch härter, noch stärker auf eine Leerstelle bezogen, ja traumatischer variiert: Der Junge hier wird unfreiwillig zum Denunzianten (ein alter Mann hat liebevoll einen verbotenen blühenden Kaktus „gerettet“), ihm gelingt aus dem „Lager“ im Ghetto, also unmittelbar vor dem Abtransport über die Mauer hinweg zu fliehen; aber ein gutgelaunter deutscher Bewacher hilft ihm wieder zurück. Die Befreiung wird nicht offen gelassen, sondern durchgestrichen. In Der Boxer schlägt die Freiheit um in Aggression. Der Roman nähert sich einerseits eng Beckers eigener Biographie, spaltet sie andererseits aber dann konsequent ab. Der zum Boxer erzogene Überlebende stirbt einen ‚Heldentod‘, dessen Sinn zumindest fragwürdig ist. Ein Ich-Erzähler aus Westberlin, der den offenen Dialog mit der Vergangenheit sucht, tritt an seine Stelle. Und wie sollen wir in dieser Kontinuität die Jurek Becker Jakob der Lügner 237 Variation des Motivs „Das gerettete Kind“ im Roman Bronsteins Kinder verstehen? Ich versuche lediglich die Skizze einer Antwort. Lina aus Jakob der Lügner kehrt hier - verkürzt, aber nicht falsch gesagt - wieder als Insassin einer Nervenheilanstalt. Ihr jetziger Name „Elle“, französisch „Sie“ ist so allgemein wie der ihres Bruders, des Ich-Erzählers, des anderen Bronstein-Kindes. Man sieht, wie zumindest die Frage wach gehalten wird nach der allgemeinen Wahrheitsfunktion dieses Symbols, das Becker durch sein ganzes Œuvre begleitet hat. „Elle“ kann aber auch als Verkürzung des Namens „Ellen“ gelesen werden. Meiner Überzeugung nach erinnert das an die Heldin des Romans Die größere Hoffnung (1948) von Ilse Aichinger. Dort spielt eine Gruppe von Kindern an gegen die Judenverfolgung in Wien und rettet sich in ihre Welt aus Phantasie, Märchen und letztlich jenseitiger Hoffnung. Ich bin überzeugt, dass dieser Roman Jakob der Lügner beeinflusst hat und dass Becker in Bronsteins Kinder diesen Einfluss weiter fort- und umerzählt. Es geht um die Phantasie von Hoffnung und die Erfindung von Wahrheit. Angespielt aber wird hier sicher auch auf geistig verwirrte, ausgegrenzte Dichterschicksale wie Lenz, Hölderlin und insbesondere Alexander Merz und Robert Walser, die Becker während der Entstehung von Bronsteins Kinder gelesen hat. Denn diese Elle, die genauso alt ist wie Jurek Becker selbst und wie es Lina beim Erscheinen des Romans gewesen wäre, ist eine Dichterin. Sie schreibt Briefe von eigenartig bizarrer, zugleich tief humaner Schönheit, die sich manchmal Prosagedichten nähern (Bronsteins Kinder, 121 ff. und 191 ff.): „Das Gute an der Nacht ist / du hörst die Gegenstände / deutlicher als am Tage“. Auf alle Fälle geht sie mit Sprache spielerisch und kreativ um. Sie zieht Pronomina expressiv zusammen: „Dumich“, „ichdich“, „meinlieber“, verwendet verfremdende und verallgemeinernde Großschreibungen, z. B. „Nicht“ schreibt sie immer groß, oder: „So laß uns Lieber warten“; Trennungen, aber auch Kontaminationen, erzeugen neue Wörter, also einerseits: „Scharf sinnig“ oder „hart Näckigkeit“, andererseits etwa „Meinrat“ oder „Vielgeld“. Noch kreativer wirken ihre spontanen Paronomasien (Wortveränderungen) wie „Wirrenhaus“ oder „Nachtdenken“ oder „wenn ich mich Nicht verinnere“ oder etwa eine Synästhesie wie „Augenlärm“ und so fort. Das gerettete, aber weltfremd gewordene Kind sucht eine „neue Sprache“. Das passt vielleicht zur Bedeutung des Namens Bronstein; so hatte ursprünglich Leo Trotzki geheißen. Geht es um eine Revolution des Denkens und der Gefühle? Das andere Bronstein-Kind hebt das Trauma seines Vaters und seiner Familie auf in sein Erzählen, in die Kommunikation mit sich und den Lesern. „Wir gehen und gehen“ (Bronsteins Kinder, 292): Erinnert das an den Schluss von Jakob der Lügner, „wir fahren wohin wir fahren“, und bezeichnet es sozusagen Jurek Beckers Erzählweg? „Mir kommt alles […] geheimnisvoll und vieldeutig vor“ (ebd.), ist die letzte Aussage des Hans Bronstein, der als „Deutscher“ überlebt hat. Heißt das nicht, auf das Ganze dieses Romans bezogen: Die Erinnerung an den Holocaust und die Auseinandersetzung mit dem Trauma der Väter-Generation sollen in einen radikalen Neuanfang übergehen? Dann wäre dieser ‚deutsche Hans Jedermann‘ sozusagen auch der ideale Leser von Jakob der Lügner. Die Erfindung der verlorenen Zeit, Geschichte als Leerstelle, die Chronotopen der Schwelle und die Semantik der Lüge hatten immer wie- Hans Vilmar Geppert 238 der die Aktivierung der Leser zum Ziel gehabt, anders gesagt, die Suche nach einem Dialog mit der Geschichte als einem Dialog der Hoffnung. Wären dann nicht, mit dieser Frage will ich schließen, die „geretteten Kinder“ wir, die Leser von Jurek Beckers und anderen solchen Erzählungen? Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Becker, Jurek: - Jakob der Lügner. Roman. Mit einem Kommentar von Thomas Kraft. Frankfurt: Suhrkamp, 2000 (Suhrkamp Basis Bibliothek 15). Diese Ausgabe wird im Text zitiert. - Der Boxer. Frankfurt: Suhrkamp, 1978. - Bronsteins Kinder. Frankfurt: Suhrkamp, 1988. - Nach der ersten Zukunft. Erzählungen. Frankfurt: Suhrkamp, 1983. Forschungsliteratur: Aichinger, Ilse: Die größte Hoffnung. Frankfurt: Fischer, 1974. Andersch, Alfred: Winterspelt. Zürich: detebe, 1977. Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Jurek Becker. Text und Kritik 116. München, 1992. Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Edward Kowalski und Michael Wegner (Hg.) Frankfurt, 1989. de Winter, Leon: Place de la Bastille. Dt. Von Hanni Ehlers, Zürich 2005. Eich, Günter: Botschaften des Regens. Frankfurt: Suhrkamp, 1955. Fontane, Theodor: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger (Hg.) Bd. 1, München, 1970. Heidelberger-Leonhard, Irene (Hg.): Jurek Becker. Frankfurt, 1992. Hilsenrath, Edgar: Nacht. Frankfurt: dtv, 2005. Johnson, Uwe: Jahrestage. 4 Bde., Frankfurt, 1970-1983. Sebald, W.G.: Austerlitz. Frankfurt: Fischer, 2003. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Dt. von Peter Kohlhaas, München, 1991. Ders.: Auch Klio dichtete oder Die Fiktionen des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Dt. von Brigitte Brinkmann-Siep und Thomas Siepmann, Stuttgart, 1986. Abbildungsnachweis: Jakob der Lügner. Reg. Frank Beyer. Darst. Vlastimil Brodský, Erwin Geschonneck, Manuela Simon. DEFA, 1974. Jurek Becker Jakob der Lügner 239 Jakob der Lügner. Reg. Peter Kassovitz. Darst. Robin Williams, Bob Balaban, Hannah Taylor-Gordon. Columbia, 1999. Bernhard Schlink Der Vorleser Eva Matthes 1. Der Autor Bernhard Schlink wurde am 6. Juli 1944 in Bethel als jüngstes von vier Kindern geboren. Er wuchs in Mannheim und Heidelberg auf, da sein Vater Edmund Schlink 1946 einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Systematische und Ökumenische Theologie an der Universität Heidelberg annahm. Nach dem Abitur an einem humanistischen Gymnasium studierte Schlink in Heidelberg und Berlin Rechtswissenschaft. Sein eigentlicher Studienwunsch war Geschichte und Soziologie gewesen, dieses Studium war ihm aber von seinem Vater verboten worden. Doch auch sein Jurastudium erfüllte ihn mit einer großen Zufriedenheit, denn: „Wer Freude an Sprache hat, wer weiß, daß alles auch ganz anders sein kann, wer Positivismus und Zweifel verbindet, wer Phantasie hat und mathematisch denken kann, der hat auch Spaß an der Juristerei“, so Schlink (zit.n. Schäfer 2002, S. 22). 1968 legte er die erste, 1972 die zweite juristische Staatsprüfung ab. Nach Assistentenjahren in Heidelberg, Darmstadt und Bielefeld wurde er 1975 mit einer Arbeit über Abwägung im Verfassungsrecht an der Universität Heidelberg promoviert. 1981 habilitierte er sich mit einer von Ernst- Wolfgang Böckenförde betreuten Arbeit über die Amtshilfe. 1982 übernahm er an der Universität Bonn eine Professur für Verfassungs- und Verwaltungsrecht und wurde 1987 Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen. Seit 1992 hat er den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität Berlin inne. 1993 und 1997/ 98 lehrte er als Gastprofessor an der Yeshiva-University in New York. Schlink war und ist wissenschaftlich sehr produktiv; zu erwähnen sind hier seine Neubearbeitung alter juristischer Fachbücher und seine Mitherausgabe eines Standardkommentars zu den „Grundrechten“. Ein kontinuierliches Thema seines wissenschaftlichen Nachdenkens stellt die Frage nach der Vergangenheitsbewältigung durch das Recht dar, wobei er den Begriff der „Bewältigung“ als nicht einlösbar interpretiert (vgl. etwa Schlink 1998). Die Nachwirkungen der nationalsozialistischen Vergangenheit beschäftigten Schlink so sehr, dass er sich dieser Thematik nicht nur rechtswissenschaftlich, sondern auch literarisch widmen wollte. Außerdem wollte er eine freiere, ergebnisoffenere, Fragen bestehen lassende Art des Schreibens ausprobieren. 1987 erschien ein in Gemeinschaftsarbeit mit Walter Popp verfasster Kriminalroman „Selbs Justiz“, der 1992 unter dem Titel „Der Freund kam als Tod“ von Nico Hoffmann verfilmt wurde. In dem Kriminalroman geht es darum, dass der Privatdetektiv Dr. Gerhard Selb beauftragt wird, eine Computermanipulation in einem Chemiewerk aufzuklären. Eva Matthes 242 Die Umstände des zu lösenden Falls stellen unerwartet einen verhängnisvollen Zusammenhang zwischen dem Auftrag und der Tätigkeit des Protagonisten während seiner Zeit als systemloyaler Staatsanwalt unter dem NS-Regime her. 1988 erschien in Alleinautorenschaft Die gordische Schleife, 1992 publizierte Schlink Selbs Betrug, 1995 den Vorleser, der ihn in kurzer Zeit weltberühmt machen sollte - hierzu später mehr. Als weitere literarische Werke sind noch zu nennen: Die Erzählungen „Liebesfluchten“ aus dem Jahr 2000 und die Beendigung der Geschichten um den Privatdetektiv mit „Selbs Mord“ 2001. 2. Der Vorleser - die Handlung In dem ersten Teil der Geschichte erzählt der ca. 50-jährige fiktionale Ich-Erzähler Michael Berg über seine 50er Jahre-Jugend, in der mit 15 Jahren, ausgelöst durch eine Gelbsucht, eine entscheidende Zäsur erfolgte. Michael musste sich auf der Straße übergeben, eine Frau nahm sich seiner an, kümmerte sich um seine und die Reinigung der Straße und brachte ihn nach Hause. Ein Arzt diagnostizierte Gelbsucht; in der Zeit seines Krankenlagers erzählte er seiner Mutter von der Frau; jene verlangte von ihm, sich, sobald es ihm besser ginge, bei der Frau mit einem Blumenstrauß zu bedanken. Diese Begegnung wurde für den 15-Jährigen zu einem erotischen Erweckungserlebnis; als sie sich umzog, konnte er „die Augen nicht von ihr lassen“ (Schlink 1997, S. 15). Als sie ihn dabei ertappte, stürzte er mit hochrotem Gesicht aus der Wohnung. Da er sie nicht vergessen konnte, stand er eine Woche später wieder vor ihrer Tür. „Ich erfuhr Tag um Tag, daß ich die sündigen Gedanken nicht lassen konnte. Dann wollte ich auch die sündige Tat“ (S. 21). Frau Schmitz war zunächst nicht zu Hause, sie kam schließlich mit einer Uniform gekleidet, durch die er sie als Straßenbahnschaffnerin identifizieren konnte. Sie bat ihn, Kohlen zu holen, dabei machte er sich schmutzig, worauf sie ihn drängte, ein Bad zu nehmen. Als er der Badewanne entstieg, erwartete sie ihn nackt und rieb ihn trocken. „Sie legte die Arme um mich, die eine Hand auf meine Brust und die andere auf mein steifes Geschlecht. ‚Darum bist du doch hier! ‘“ (S. 26). So kam es zum ersten Geschlechtsverkehr des 15-Jährigen. Diesen empfand er als Initiation in das Erwachsensein und somit als Abschied von der Kindheit. Beim Abendessen mit den Eltern und Geschwistern hatte er den Eindruck, „als redeten wir das letzte Mal so vertraut miteinander. Ich fühlte mich wie bei einem Abschied. Ich war noch da und schon weg. Ich hatte Heimweh nach Mutter und Vater und den Geschwistern, und die Sehnsucht, bei der Frau zu sein“ (S. 32). Täglich besuchte er nun die Frau, sie „duschten und liebten“ sich, obwohl er das Duschen lieber gelassen hätte. Er erfragte ihren Vornamen - Hanna -, sie erfragte seinen Namen - Michael Berg - obwohl seine Schulhefte mit seinem Namen offen herumlagen. Er schwänzte die Schule, um bei ihr sein zu können - als er ihr mitteilte, dass er das Schuljahr wiederholen müsse, reagierte sie empört und forderte von ihm, sich in der Schule absolut anzustrengen. Er tat dies und schaffte das Schuljahr. Bernhard Schlink Der Vorleser 243 Hanna war sehr verschwiegen, sie erzählte ihm sehr wenig über ihre Vergangenheit, er erfuhr nur, dass sie in Siebenbürgen aufgewachsen und mit 17 nach Berlin gekommen, Arbeiterin bei Siemens geworden und mit 21 zu den Soldaten geraten war, keine Familie hatte und 36 Jahre alt war (S. 40). Sie lebte zu seinem Erstaunen völlig in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft blendete sie aus. Bei den täglichen Besuchen blieb es nicht beim Duschen und Lieben; das Ritual wurde um etwas Entscheidendes erweitert: das Vorlesen, das nun immer am Anfang stand. Michael las Hanna aus den Werken vor, die sie gerade im Deutschunterricht durchnahmen - „Emilia Galotti“, „Kabale und Liebe“ -, Hanna war „eine aufmerksame Zuhörerin“ (S. 43). Sobald in der Beziehung Konflikte auftraten, war jedoch keine Kommunikation möglich, das Verhältnis zwischen Hanna und Michael war nicht im Gleichgewicht, Michael war von Hanna abhängig: Wenn sie drohte, habe ich sofort bedingungslos kapituliert. Ich habe alles auf mich genommen. Ich habe Fehler zugegeben, die ich nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nie gehegt hatte. Wenn sie kalt und hart wurde, bettelte ich darum, daß sie mir wieder gut ist, mir verzeiht, mich liebt [...] Das Reden über unser Streiten führte nur zu weiterem Streit. Ein oder zweimal habe ich ihr lange Briefe geschrieben. Aber sie reagierte nicht, und als ich nachfragte, fragte sie zurück: ‚Fängst du schon wieder an? ‘ (S. 50). Einige Episoden seien noch herausgegriffen: Auf einer viertägigen Fahrradtour in den Osterferien erlebten Hanna und Michael Stunden der Innigkeit und des Glücks, aber es kam auch zu einem großen Streit: Michael war früh aufgewacht, hatte sich leise angezogen und aus dem Zimmer gestohlen. Er wollte das Frühstück hochbringen und eine Rose für Hanna kaufen. Er hatte ihr einen Zettel auf den Nachttisch gelegt, auf dem er ihr seine Abwesenheit erklärte. Als er wiederkam, „stand sie im Zimmer, halb angezogen, zitternd vor Wut, weiß im Gesicht“ (S. 54) und war außer sich, dass er einfach so gegangen sei. Sie zog ihm ihren schmalen ledernen Gürtel mitten durchs Gesicht, so dass seine Lippe platzte und er Blut schmeckte. Sie holte nochmals aus, ließ dann aber den Arm sinken und weinte. Als Grund ihrer Wut stellte sich schließlich heraus, dass Hanna dachte, dass Michael einfach weggegangen sei; einen Zettel habe sie nicht gesehen. Als seine Eltern verreist waren, lud Michael Hanna einmal zu sich nach Hause ein; die bürgerliche Lebenswelt der Familie Berg - Michaels Vater war Philosophieprofessor - betrachtete sie mit Scheu und Ehrfurcht. Ihr Blick tastete alles ab, die Biedermeiermöbel, den Flügel, die alte Standuhr, die Bilder, die Regale mit den Büchern, Geschirr und Besteck auf dem Tisch. [...] Sie war von Zimmer zu Zimmer gegangen und stand im Arbeitszimmer meines Vaters. [...] Sie ließ ihren Blick über die Bücherregale wandern, die die Wände füllten, als lese sie einen Text. Dann ging sie zu einem Regal, fuhr in Brusthöhe mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam die Buchrücken entlang, ging zum nächsten Regal, fuhr mit dem Finger weiter, Buchrücken um Buchrücken, und schritt das ganze Zimmer ab (S. 60f.). Eva Matthes 244 Sie fragte nach, ob Michaels Vater die Bücher nur gelesen oder auch geschrieben habe und wollte schließlich aus von Michaels Vater über Kant und Hegel geschriebenen Büchern vorgelesen bekommen. Eines Tages war Hanna verschwunden. Sie war vorher zunächst „tagelang in sonderbarer Stimmung gewesen, launisch und herrisch und dabei spürbar unter einem Druck, der sie aufs äußerste quälte und empfindlich, verletzlich machte. Sie nahm, sie hielt sich zusammen, als müsse sie verhindern, unter dem Druck zu zerspringen“ (S. 76). Eines Tages sei allerdings der Druck weggewesen und Hanna habe sich in einer bis dato nicht vorhandenen Intensität Michael hingegeben. „[...] es war, als wolle sie mit mir zusammen ertrinken“ (S. 77). Danach ging Michael zu seinen Freunden ins Schwimmbad; nach kurzer Zeit tauchte - was vorher noch niemals geschehen war - Hanna auf und schaute zu ihm herüber. Michael sah ebenfalls zu ihr hin, konnte sich allerdings zunächst nicht entscheiden, ob er zu ihr gehen solle, ob er also mit ihr gesehen werden wolle; als er aufstand und kurz von ihr wegblickte, war sie danach verschwunden. An dieser Stelle beginnt der zweite Teil des Romans. Der Ich-Erzähler räsoniert zunächst darüber, dass er „die Erinnerung an Hanna zwar verabschiedet, aber nicht bewältigt hatte“ (S. 84). Das zweite Kapitel beginnt dann mit dem Satz: „Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder“ (S. 86). Sie war zusammen mit vier anderen Frauen in einem Prozess gegen KZ-Wärterinnen angeklagt. Michael Berg hatte ein Jurastudium aufgenommen und war Teilnehmer eines Seminars über Gerichtsverhandlungen die NS-Zeit betreffend. In diesem Seminar hatte er sich von dem Eifer der Kommilitonen, die Vergangenheit „aufzuarbeiten“, anstecken lassen. Zu diesem Seminar gehörte, regelmäßig an der Gerichtsverhandlung zu hospitieren und diese zu protokollieren. „Wir fühlten uns nicht als bloße Zuschauer, Zuhörer und Protokollanten. Zuschauen, Zuhören und Protokollieren waren unsere Beiträge zur Aufarbeitung“ (S. 90). Und nun sah er Hanna wieder. Er erfuhr durch die gerichtliche Befragung, dass Hanna 1943 freiwillig zur SS gegangen war, obwohl ihr bei Siemens eine Stelle als Vorarbeiterin angeboten worden war; dass sie bis Frühjahr 1944 in Auschwitz und bis Winter 1944/ 45 in einem kleinen Lager bei Krakau eingesetzt war, dass sie mit den Gefangenen nach Westen aufgebrochen und dort auch angekommen war, dass sie bei Kriegsende in Kassel und seitdem hier und dort gelebt hatte, am längsten acht Jahre in Michael Bergs Heimatstadt Heidelberg. Es gab zwei Hauptanklagepunkte: Der eine galt den Selektionen in dem kleinen Lager bei Krakau. Jeden Monat wurden aus Auschwitz ca. 60 neue Frauen geschickt und waren eben so viele nach Auschwitz zurückzuschicken, abzüglich derer, die in der Zwischenzeit gestorben waren. Allen war klar, dass die Frauen in Auschwitz umgebracht wurden. Der andere Hauptanklagepunkt galt der Bombennacht auf der Flucht nach dem Westen. Die Wachmannschaften und Aufseherinnen hatten die Gefangenen, mehrere hundert Frauen, in die Kirche eines Dorfes gesperrt, das von den meisten Einwohnern verlassen worden war. Es fielen nur ein paar Bomben, eine traf das Pfarrhaus, in dem die Wachmannschaften und Aufseherinnen schliefen; eine andere schlug in den Kirchturm ein. Die Kirche fing Feuer, die schweren Türen hielten allerdings stand. Die Angeklagten schlossen sie nicht auf, und die in der Kir- Bernhard Schlink Der Vorleser 245 che eingeschlossenen Frauen starben - mit zwei Ausnahmen, einer Frau mit ihrer Tochter. Diese hatte ein Buch über ihre Zeit im Lager geschrieben, das den Prozessbeteiligten zugänglich war. Michael versäumte keinen Tag der Gerichtsverhandlung. Er sah Hanna von hinten. Wenn es um sie ging, hielt sie den Kopf besonders hoch. Wenn sie sich ungerecht behandelt, verleumdet, angegriffen fühlte und um eine Erwiderung rang, rollte sie die Schultern nach vorne, und der Nacken schwoll, ließ die Muskelstränge stärker heraus- und hervortreten. Die Erwiderungen mißlangen regelmäßig, und regelmäßig sanken die Schultern herab (S. 96). Hanna belastete sich im Prozessverlauf zunehmend selbst, denn „[...] sie hatte kein Gefühl für den Kontext, für die Regeln, nach denen gespielt wurde, für die Formeln, nach denen sich ihre Äußerungen und die der anderen zu Schuld und Unschuld, Verurteilung und Freispruch verrechneten“ (S. 105). Auf das Abstreiten von Taten zielende Entlastungsstrategien der vier anderen Angeklagten bzw. ihrer Anwälte machte Hanna zunichte, da sie vorgeworfene Geschehnisse und Handlungen nicht leugnete, allerdings dem Richter die - ihn sichtlich irritierende - Frage stellte: „Was hätten Sie denn gemacht“ (S. 107), wenn Sie in meiner Situation gewesen wären? Die Anwälte der Mitangeklagten änderten daraufhin ihre Strategie und versuchten sie zur Hauptschuldigen zu erklären. Dies gelang auch auf der Basis der als Zeugin zum Prozess eingeladenen Frau, die zusammen mit ihrer - inzwischen verstorbenen - Mutter den Brand überlebt hatte. Diese berichtete, dass Hanna Schmitz Lieblinge unter den Häftlingen hatte, unter den jungen, schwachen und zarten sich welche auswählte, diese besser unterbrachte und sich Abend für Abend von ihnen vorlesen ließ. Nach einer Weile kamen sie in den nächsten Transport nach Auschwitz. Auch im Blick auf den zweiten Hauptanklagepunkt wurde Hanna Schmitz zur Hauptbeschuldigten; zum einen, da sie - als einzige der fünf Angeklagten - das bewusste Nicht-Öffnen der Kirchtüren zugab und damit begründete, dass sie die Gefangenen nicht einfach hätte fliehen lassen dürfen; zum zweiten, dass ihr von den Mitangeklagten unterstellt wurde, sie hätte den in den Akten der SS gefundenen und die Angeklagten belastenden Bericht geschrieben. Dies wies sie zunächst zurück; nachdem allerdings der Staatsanwalt vorschlug, einen Sachverständigen die Schrift des Berichts und die Schrift der Angeklagten Schmitz miteinander vergleichen zu lassen, erklärte sie die Anschuldigung als wahr. Indem Hanna zugab, den Bericht geschrieben zu haben, hatten die anderen Angeklagten leichtes Spiel. Hanna habe, wo nicht allein gehandelt, die anderen bedrängt, bedroht, gezwungen. Sie habe das Kommando an sich gerissen. Sie habe Feder und Wort geführt. Sie habe entschieden (S. 130). Michael Berg fiel es während seines beständigen Nachdenkens über den Prozess und die Angeklagte Schmitz auf einem seiner sonntäglichen Spaziergänge plötzlich wie Schuppen von den Augen: Hanna konnte nicht lesen und schreiben! Für Michael stellte sich somit eine ganz neue Herausforderung: Eva Matthes 246 Ich war Zuschauer gewesen und plötzlich Teilnehmer geworden, Mitspieler und Mitentscheider. Ich hatte diese neue Rolle nicht gesucht und gewählt, aber ich hatte sie, ob [...] ich etwas tat oder mich völlig passiv verhielt (S. 131). Sollte bzw. musste er zum Vorsitzenden Richter gehen und ihm mitteilen, dass Hanna Analphabetin war oder sollte/ musste er ihre Lebenslüge decken, weil für sie anscheinend ihre Bloßstellung als Analphabetin schlimmer als alles andere war? Michael suchte das Gespräch mit seinem Vater, dem Philosophieprofessor - gerade wegen der Distanz, die zwischen ihnen bestand. Er ließ sich deshalb einen Termin bei seinem Vater geben - dieser behandelte - zumindest formal - Gesprächswünsche seiner Kinder wie die seiner Studenten. Er nahm im Gespräch folgende Position ein: Unter Erwachsenen sei es nicht zu rechtfertigen, das, was ein anderer für sie für gut hält, über das zu setzen, was sie selbst für gut halten. Allerdings müsse man, wenn man glaube zu wissen, was für den anderen gut sei und dass er die Augen davor verschließe, ihm die Augen zu öffnen versuchen, also mit ihm, aber niemals hinter seinem Rücken mit einem anderen reden. Berg schaffte es nicht, zu Hanna zu gehen; er suchte schließlich doch den Vorsitzenden Richter auf, da er es ebenso wenig aushielt, nichts zu unternehmen. In dem Gespräch mit dem Richter erzählte er diesem jedoch nichts von Hannas Analphabetismus, unterhielt sich mit ihm vielmehr über das Seminar und den - glatten - Lebensweg des Richters. Auf der Heimfahrt spürte er, „wie sich die Betäubung, unter der ich den Entsetzlichkeiten der Verhandlung gefolgt war, auf die Gefühle und Gedanken der letzten Wochen legte. Daß ich darüber froh gewesen wäre, wäre viel zu viel gesagt. Aber ich empfand, daß es richtig war. Daß es mir ermöglichte, in meinen Alltag zurückzukehren und in ihm weiterzuleben“ (S. 155). Schließlich wurde das Urteil verkündet. Hanna Schmitz bekam lebenslänglich, die anderen vier Angeklagten bekamen zeitliche Freiheitsstrafen. Damit kommen wir zum dritten und letzten Teil des Romans. Der Ich-Erzähler Michael Berg berichtet nun über die Zeit nach dem Prozess, in der er zunächst wie betäubt war. Er beendete - nach einer ihn aus der Betäubung befreienden Krankheit - schließlich sein juristisches Studium, wurde Referendar und heiratete die Juristin Gertrud, mit der er eine gemeinsame Tochter, Julia, hat. Als diese fünf war, folgte die Scheidung - Hanna und alles, was mit ihr zusammenhing, stand zwischen Michael und Gertrud. Auch die weiteren Beziehungen, die Michael einging, waren brüchige. Beruflich wurde er Assistent eines Professors für Rechtsgeschichte und wechselte schließlich in ein juristisches Forschungsinstitut. Nach der Scheidung von Gertrud, in schlaflosen Nächten, las er sich laut vor. Und weil im wirren, von Erinnerungen und Träumen durchsetzten, in quälenden Zirkeln kreisenden, halbwachen Nachdenken über meine Ehe und meine Tochter und mein Leben Hanna immer wieder dominierte, las ich für Hanna. Ich las für Hanna auf Kassetten (S. 174). Er fand heraus, in welchem Gefängnis sie einsaß und schickte ihr die Kassetten kommentarlos zu. Er begann sein Vorlesen mit der gesamten Odyssee, dann las er ihr Tschechow, Schnitzler, Keller, Fontane, Heine, Mörike, eben den gesamten bil- Bernhard Schlink Der Vorleser 247 dungsbürgerlichen Kanon vor. Als er selbst zu schreiben begann, las er ihr auch seine eigenen Texte vor. Im vierten Jahr dieses Kontakts kam ein schriftlicher Gruß von Hanna. Ihrer Schrift sah man die Mühe des Schreibens an und die geforderte Energie. Der Erzähler kommentiert: „Indem Hanna den Mut gehabt hatte, lesen und schreiben zu lernen, hatte sie den Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit getan, einen aufklärerischen Schritt“ (S. 178). In steter Folge kamen nun weitere Grüße, immer waren es wenige Zeilen. Michael las Hanna auch nach der Überwindung ihres Analphabetismus weiter vor. „Das Vorlesen war meine Art, zu ihr, mit ihr zu sprechen“ (S. 180). Auf diese Weise war Hanna Michael „auf so freie Weise sowohl nah als auch fern“ (S. 181), als mitten hinein ein Brief der Gefängnisleiterin bei ihm eintraf, dass der Gnadenausschuss einem für das folgende Jahr vorgesehenen Gnadengesuch stattgeben werde und Hanna dann bald entlassen werden würde. Er sei der einzige, zu dem sie Kontakt habe; er möge doch bitte entsprechende Vorbereitungen für Hanna Schmitz’ Rückkehr in das gesellschaftliche Leben treffen und sie bald besuchen kommen, um mit ihr die Dinge zu klären. Michael erledigte alles Äußere, besuchte Hanna jedoch nicht im Gefängnis. „Wie sollten wir uns von Angesicht zu Angesicht begegnen, ohne daß alles hochkam, was zwischen uns geschehen war“ (S. 183). So verstrich das Jahr; nachdem die Entscheidung gefallen war, dass Hanna begnadigt und entlassen werden sollte, rief ihn die Gefängnisleiterin an und bat ihn zu kommen. Michael unternahm daraufhin seinen ersten Besuch im Gefängnis und erkannte Hanna fast nicht wieder. Ihm begegnete eine ältliche Frau, die sich nicht mehr pflegte. Er konnte seine Distanz nicht überwinden. Hanna war darüber sichtlich enttäuscht. An dem Tag, als sie entlassen werden sollte, wurde sie tot in ihrer Zelle aufgefunden; sie hatte sich erhängt. Als Michael kam, um Hanna abzuholen, erfuhr er, dass sie Selbstmord begangen hatte. Er wurde von der Gefängnisleiterin in Hannas Zelle geführt und entdeckte, dass sie sich eine Vielzahl von Werken über den Nationalsozialismus ausgeliehen hatte: „Primo Levi, Elie Wiesel, Tadeusz Borowski, Jean Améry - die Literatur der Opfer neben den autobiographischen Aufzeichnungen von Rudolf Höss, Hannah Arendts Bericht über Eichmann in Jerusalem und wissenschaftliche Literatur über Konzentrationslager“ (S. 193). Aber auch noch etwas anderes entdeckte Michael über ihrem Bett: ein Zeitungsphoto, das ihn zeigt, als er von seinem Rektor bei der Abiturfeier einen Preis überreicht bekommt - ein klares Zeichen, wie sehr Hanna an ihm hing. Die Anstaltsleiterin teilte Michael Berg mit, dass Hanna Schmitz mit seinen Kassetten lesen gelernt habe. „Sie hat sich in der Bibliothek die Bücher geliehen, die Sie auf Kassette gesprochen haben, und Wort um Wort, Satz um Satz verfolgt, was sie gehört hat“ (S. 195). In einem Brief hatte Hanna folgendes für Michael hinterlassen. Er sollte das sich in einer Teedose befindliche Geld zusammen mit 7000 Mark, die auf der Sparkasse liegen, der Tochter geben, die mit ihrer Mutter den Kirchenbrand überlebt hat. Sie solle entscheiden, was damit geschieht. An Michael finden sich darüber hinaus nur Grüße. Eva Matthes 248 Einige Zeit später suchte Michael die Tochter in New York auf. Er erzählte ihr von Hannas Tod und Auftrag. Sie wies den Auftrag zunächst völlig zurück; sie konnte und wollte Hanna Schmitz keine Absolution erteilen. Er erzählte ihr von Hannas Analphabetismus und von seiner Beziehung zu Hanna. Die Tochter bedauerte ihn für diese. Schließlich schlug sie ihm vor, das Geld in seinem Sinne für eine gemeinnützige Stiftung für Analphabeten zu verwenden und sie behielt die Dose in Erinnerung an eine solche, die ihr im Lager gestohlen worden war. Bald nach dem Tod von Hanna Schmitz fasste Michael Berg den Entschluss, ihre Geschichte zu schreiben - er hat sie uns soeben erzählt, allerdings aus der Perspektive des 50-Jährigen; er bricht somit immer wieder die Perspektive des erlebenden Ichs, „indem er sie an der des schreibenden, sich erinnernden und Erinnerungen abwehrenden Erwachsenen sich reiben läßt“ (Schneider 1998, S. 3); hierzu gehören auch die Brechungen durch die Reflexionen des erzählenden Ichs. Nun sind wir bereits bei Fragen der Interpretation angelangt, deshalb also: 3. Einige Gedanken zur Interpretation des Romans Bitte sehen Sie mir nach, dass ich den Roman als Erziehungswissenschaftlerin, die sich ausführlich mit Politik, Gesellschaft und Erziehung in der NS-Zeit und deren Nachwirkungen beschäftigt hat, interpretiere und nicht als Literaturwissenschaftlerin. Deshalb werde ich im Folgenden auch keine intertextuelle Analyse vorlegen, die zumindest teilweise in der Literaturwissenschaft bereits geleistet wurde. Ich werde zunächst einen intensiven Blick auf Hanna und ihre Bedeutung in dem Roman werfen. In einem Gespräch mit Gunhild Kübler in der „Weltwoche“ äußert Schlink folgendes: Wenn die Täter Monster gewesen wären, hätten wir ja kein Problem. Mit Monstern haben wir nichts gemein, man kann sie sich vom Leib halten. Gerade dass die Täter keine Monster waren, macht die Sache so vertrackt (hier zit.n. Ostermann 2004, S. 71). Diese Aussage erinnerte mich an folgende Formulierung Gotthard Jaspers in seinem Buch „Die gescheiterte Zähmung“: „Die Diabolisierung Hitlers entlastet“ (1986, S. 132) - ebenso die Diabolisierung anderer NS-Täter. Entsprechende Zuschreibungen verhindern die in vieler Hinsicht für jeden einzelnen viel herausforderndere Auseinandersetzung mit der „Banalität des Bösen“ (vgl. Arendt 1964). Dementsprechend wird Hanna zwar ambivalent, aber keinesfalls als Monster geschildert. Schon im ersten Teil des Romans wird sie zweideutig gezeichnet. Einerseits als hilfsbereite Person, die dem Jüngling, der sich auf der Straße übergeben muss, sofort hilft und ihn nach Hause bringt; als gewissenhafte Arbeiterin, die sowohl ihre berufliche Tätigkeit als auch ihre häusliche Arbeit mit Sorgfalt erfüllt; als um Michaels Zukunft besorgter Mensch, der entsetzt ist darüber, dass Michael wegen ihrer Liebesbeziehung seine schulischen Pflichten vernachlässigt und somit sein Fortkommen gefährdet; als an geistigen Inhalten interessierter Mensch, der sich stundenlang vorlesen lässt und hochkonzentriert dabei ist und das Gehörte förmlich Bernhard Schlink Der Vorleser 249 in sich hineinsaugt, als schüchtern-ehrfurchtsvoller Mensch, wenn sie in der Wohnung von Michaels Eltern über die Bücherrücken in seines Vaters Arbeitszimmer streicht; als fröhlich-naturverbundener Mensch auf der Radtour. Andererseits als erwachsene Verführerin eines 15-Jährigen, als misstrauisch-verschlossene Person, die nicht über Vergangenheit und Zukunft sprechen möchte; als kommunikationsgestörter Mensch, der nicht in der Lage ist, einen Konflikt verbal auszutragen und in höchster hilfloser Erregung Michael sogar mit einem Gürtel schlägt (danach allerdings einen Weinkrampf bekommt), als dominante Person, die mit Liebesentzug arbeitet, sobald es nicht nach ihrem Kopf geht. Auch im zweiten Teil des Romans setzt sich gewissermaßen diese Ambivalenz fort; auch wenn diese überwölbt wird davon, dass Hanna KZ-Aufseherin war und Verbrechen während der NS-Zeit begangen hat. Einerseits ist Hanna ehrlich; sie gibt ihre Taten zu; sie ist nicht bemüht, sich reinzuwaschen, sie nimmt die Aussagen des Richters sehr ernst und sie versucht nicht, Mitangeklagte zu belasten. Sie möchte, dass die Wahrheit gesagt wird. Andererseits sieht sie ihre ungeheuren Verbrechen nicht ein, fragt den Richter vielmehr naiv-dreist danach, was er an ihrer Stelle gemacht hätte und schildert ihre Taten ohne Unrechtsbewusstsein. Ihre damaligen Beweggründe, die Türen der brennenden Kirche nicht aufzuschließen, bringt sie ungebrochen als vor Gericht zu gelten habende Entlastungsgründe an. Für das weitere Verschweigen ihrer „Lebenslüge“ - dass sie Analphabetin ist - nimmt sie schließlich die Hauptschuld auf sich. Sie ist zur Scham fähig - aber sie schämt sich für ihren Analphabetismus, nicht aber für ihre Verbrechen während der NS-Zeit. Auch im dritten Teil des Romans ist Hanna nicht die geläuterte Heldin, sondern nach wie vor ambivalent. Sie setzt sich zwar - nachdem sie lesen und schreiben gelernt hat - während ihrer Haft ausführlich mit den KZ-Verbrechen auseinander, sie liest Berichte von Opfern und Tätern der NS-Zeit, wovon die Literatur in ihrer Zelle Zeugnis abgibt. Sie unterstützt den Hilfsdienst blinder Strafgefangener. Sie ist - wie gewohnt - arbeitsam und tüchtig. Sie wird von den Mithäftlingen geachtet. Im Laufe der Haft zieht sie sich immer mehr in sich zurück. Wie sehr sie selbst jedoch ihre eigene Schuld anerkennt, lässt der Roman offen. Manche Stellen weisen darauf hin, dass ihr Schuldanerkenntnis nicht sehr tief geht. Sie ist verletzt darüber, dass Michael sie nicht mehr liebt - man denke etwa an die Begegnungsszene im Gefängnishof, in der es heißt: Ich sah die Erwartung in ihrem Gesicht, sah es in Freude aufglänzen, als sie mich erkannte, sah ihre Augen mein Gesicht abtasten, als ich näherkam, sah ihre Augen suchen, fragen, unsicher und verletzt schauen und sah ihr Gesicht erlöschen (S. 185). Aber auch folgende Äußerung Hannas im Gefängnishof, auf die Frage Michaels, ob sie vor dem Prozess nie an ihre Taten gedacht habe, gibt zu denken: Ich hatte immer das Gefühl, daß mich ohnehin keiner versteht, daß keiner weiß, wer ich bin und was mich hierzu und dazu gebracht hat. Und weißt du, wenn keiner dich versteht, dann kann auch keiner Rechenschaft von dir fordern. Auch das Gericht konnte nicht Rechenschaft von mir fordern. Aber die Toten können es. Sie verstehen (S. 187). Eva Matthes 250 Auch ihr Selbstmord kurz vor der Haftentlassung ist nicht zwingend als Sühnetat angesichts ihrer begangenen Verbrechen zu lesen, zumal sie vorher ein Gnadengesuch gestellt hat. Er lässt sich auch als Ausdruck letzter Enttäuschung darüber lesen, dass Michael offensichtlich keine Liebe mehr für sie empfindet. Und auch das Testament Hannas zeigt die Ambivalenz: Sie möchte, dass ihr noch vorhandenes Geld von Michael der überlebenden Tochter des Kirchenbrandes gegeben wird, die entscheiden solle, was damit geschieht. Michael versucht dieses Anliegen auszuführen - und es geschieht, was geschehen musste: Die Überlebende des Holocaust interpretiert dieses so, als wolle sich Hanna damit von ihrer Schuld freikaufen, als solle sie Hanna die Absolution erteilen; selbstverständlich weist sie dieses Ansinnen zurück. Hanna hat ihre Lebenslüge im Gefängnis überwunden, nicht aber ihre Schuld - deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Tochter ablehnt, dass das Geld für irgendetwas verwendet wird, was mit dem Holocaust zu tun hat und vorschlägt, dass es für Analphabeten gespendet werden solle, die lesen und schreiben lernen wollen (S. 203). Zum zweiten will ich nun fragen, welche Schlüsselaussagen sich seitens des Ich- Erzählers zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit finden: Seine Einstellung unterscheidet sich zunächst wenig von seinen Kommilitonen der 68er- Generation, von deren „Eifer“ er sich nach anfänglicher kühler Zurückhaltung schnell anstecken lässt. Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir Studenten sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung. Wir rissen die Fenster auf, ließen die Luft herein, den Wind, der endlich Staub aufwirbelte, den die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der Vergangenheit hatte sinken lassen. Wir sorgten dafür, daß man atmen und sehen konnte. [...] wir setzten nicht auf juristische Gelehrsamkeit. Daß verurteilt werden müsse, stand für uns fest. Ebenso stand für uns fest, daß es nur vordergründig um die Verurteilung dieses oder jenes KZ- Wächters und -Schergen ging. Die Generation, die sich der Wächter und Schergen bedient oder sie nicht gehindert oder sie nicht wenigstens ausgestoßen hatte, als sie sie nach 1945 hätte ausstoßen können, stand vor Gericht und wir verurteilten sie in einem Verfahren der Aufarbeitung und Aufklärung zu Scham (S. 87). Der Ich-Erzähler hatte, bevor er Hanna vor Gericht sah, „das gute Gefühl, dazuzugehören und mit mir und dem, was ich tat, und denen, mit denen ich’s tat, im reinen zu sein“ (S. 89). Und dann brach Hanna erneut in sein Leben hinein und der Ich- Erzähler versucht schonungslos seine Gefühle zu rekapitulieren: Er habe Hannas Haft „als natürlich und richtig empfunden“, aber „nicht wegen der Anklage, der Schwere des Vorwurfs und der Stärke des Verdachts, wovon ich noch gar nichts Genaues wußte, sondern weil sie in der Zelle raus aus meiner Welt, raus aus meinem Leben war“ (S. 93). Aber dennoch: die Zugehörigkeit zu seiner Generation war ihm ein für alle Mal verloren gegangen, er konnte keinen „aufklärerischen Eifer“ mehr zeigen, dieser war ihm nach seiner Wiederbegegnung mit Hanna „peinlich“ geworden (S. 162). Der Ich-Erzähler fühlt sich nämlich in gewisser Weise mit auf der Anklagebank sitzend; denn: er hatte sie geliebt und fühlt sich schuldig, da er eine Verbrecherin geliebt hat (S. 129). Bernhard Schlink Der Vorleser 251 Ich hatte sie nicht nur geliebt, ich hatte sie gewählt. Ich habe versucht, mir zu sagen, daß ich, als ich Hanna wählte, nichts von dem wußte, was sie getan hatte. Ich habe versucht, mich damit in den Zustand der Unschuld zu reden, in dem Kinder ihre Eltern lieben. Aber die Liebe zu den Eltern ist die einzige Liebe, für die man nicht verantwortlich ist. Und vielleicht ist man sogar für die Liebe zu den Eltern verantwortlich (S. 162), tritt vielleicht mit der Liebe zu den Eltern die Verstrickung in deren Schuld unwiderruflich ein (S. 163). Seine gefühlsmäßige Verstrickung war jedoch eine so intensive, nachwirkende, dass er sich ihr nicht durch offensives Anklagen entziehen konnte. Er wollte bzw. fühlte für sich als einzige Möglichkeit, Hanna zu verstehen und zu verurteilen zugleich, aber er scheiterte daran (S. 150f.). So versucht sich der Ich-Erzähler zwischendurch immer wieder dadurch zu helfen, dass er gedanklich Hannas Schuld relativiert (vgl. z.B. S. 128). Andererseits treten ihm ihre Taten immer wieder in aller Schonungslosigkeit vor Augen: Ich sah Hanna Lagerstraßen entlanggehen und in Häftlingsbaracken treten und Bauarbeiten überwachen. Sie tut alles mit demselben harten Gesicht, mit kalten Augen und schmalem Mund, und die Häftlinge ducken sich, beugen sich über die Arbeit, drücken sich an die Wand, in die Wand, wollen in der Wand verschwinden (S. 141). Aber er sieht eben auch die anderen Bilder - „Hanna, die in der Küche die Strümpfe anzieht, die vor der Badewanne das Frottiertuch hält, die mit wehendem Rock auf dem Fahrrad fährt“, Hanna, die ihn anlacht, die ihn liebt (ebd.). Nicht selten vermischen sich die Bilder auch. Er erkannte auch, dass das Leiden in den Konzentrationslagern für ihn sehr weit weg war, keine Anschaulichkeit für ihn besaß. Um diesem Gefühl abzuhelfen, trampte er während einer Prozesspause in das nächstgelegene Konzentrationslager Struthof im Elsaß. Aber auch dort schaffte er es nicht, sich das Leiden konkret vorzustellen „Aber es war alles vergebens, und ich hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens“ (S. 149). „In mir fühlte ich eine große Leere, als hätte ich nach der Anschauung nicht da draußen, sondern in mir gesucht und feststellen müssen, daß in mir nichts zu finden ist“ (S. 150). Die Pose des selbstgerechten Anklägers konnte sich so nie mehr einstellen. Als er Hannas Lebenslüge, ihren Analphabetismus erkennt, kann und will er kein Gespräch mit ihr führen. Zu groß ist sein Zorn über die ihm von ihr zugefügte Verstrickung. Deshalb besucht er sie auch nicht im Gefängnis und schreibt ihr - nachdem sie ihren Analphabetismus überwunden hat - keine Zeile, aber er liest ihr vor und schickt ihr die Kassetten ins Gefängnis. Hanna ist ihm damit auf „so freie Weise sowohl nah als auch fern“ (S. 181), dass er es gut aushalten kann. Ihr Selbstmord kurz vor ihrer Entlassung erlöst ihn von der Notwendigkeit, sein Verhältnis zu ihr neu zu bestimmen, doch seine Fragen bleiben. 4. Zur Rezeption des „Vorlesers“ Der Roman erreichte unmittelbar nach seiner Publikation im Jahr 1995 Bestseller- Status. Bis zum 21. Mai 2001 war der Roman seit seinem Erscheinen am 9. Oktober Eva Matthes 252 1995 insgesamt 32 Wochen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste. Im „buchreport.magazin“ erreichte er für das Jahr 1999 den ersten Platz der Kategorie „Longseller Belletristik Taschenbuch“ und hielt sich dort 134 Wochen lang. Innerhalb kürzester Zeit ist der Roman zu einem Teil des Literaturkanons der Schulen in Deutschland geworden. Die von Ria Proske und Adelheid Schmitz 1998 herausgegebene kommentierte Auswahlbibliographie von Jugendbüchern über Nationalsozialismus und Neonazismus empfiehlt den „Vorleser“ für Jugendliche ab 16 Jahren. Der Roman wurde inzwischen in 35 Sprachen übersetzt und gehört mit Günter Grass’ „Blechtrommel“ und Patrick Süskinds „Parfüm“ weltweit zu den erfolgreichsten Werken der deutschen Nachkriegsliteratur. Schlink erhielt für den Roman eine Vielzahl von Preisen, so den Premio Grinzane Cavour (Italien) in der Sparte „Ausländische Literatur“; den Prix Laure Bataillon, den bestdotierten französischen Preis für übersetzte Literatur, den Hans-Fallada-Preis der Stadt Neumünster, den Evangelischen Buchpreis des Deutschen Verbandes der Evangelischen Büchereien, den Sonderkulturpreis der japanischen Tageszeitung Mainichi Shibun, der jedes Jahr an einen japanischen Buchbestseller vergeben wird. Am 30. März 1999 trat Bernhard Schlink als erster deutscher Schriftsteller in der US-amerikanischen TV-Show „Oprah’s Book Club“ von Oprah Winfrey (die über 40 Millionen Zuschauer erreicht) auf, nachdem „Der Vorleser“/ „The Reader“ als Buch des Monats März ausgewählt worden war. Im Jahr 2000 betrug die USamerikanische Gesamtauflage von „The Reader“ 1,8 Millionen Exemplare. Er hatte es als erstes deutsches Buch überhaupt geschafft, auf Platz eins der Bestsellerliste der „New York Times“ zu gelangen. 1999 erschien „Der Vorleser“ außerdem auf Platz 71 der britischen Jahresbestsellerliste für Belletristik und wurde hier ebenfalls zum ersten deutschen Roman auf dieser Liste. In der Rezeptionsgeschichte des Romans sind allerdings zwei Phasen zu unterscheiden: In der ersten, die der Publikation im Jahr 1995 unmittelbar folgte, wurde Schlinks Roman enthusiastisch gefeiert. Nur selten wurde in dieser Zeit Anstoß an einzelnen Äußerungen im Roman genommen oder gar die gesamte Konzeption als auf Minimierung deutscher Schuld angelegt verstanden. Besonders überzeugt zeigten sich nahezu alle Rezensenten der ersten Phase von Schlinks Sprache und seiner Erzählhaltung. Als ein Beispiel sei die Rezension von Marion Löhndorf in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 28.10.1995 herausgegriffen: Sie zeigte sich beeindruckt von der „schnörkellosen Erzählweise“ des Romans und der „Ich-Perspektive, die eine in ihrer Rückhaltlosigkeit intime, drängende, keinen Abgründen ausweichende Introspektion zulässt [...].“ „Aufrichtigkeit“ wurde dem Roman immer wieder als wichtigste Eigenschaft attestiert. Uwe Wandrey etwa schrieb im „Sonntagsblatt“ vom 15. Dezember 1995: Schlink verzichtet auf Bilder und Metaphern. Das Unfaßbare verbietet den Vergleich. Mit kurzen Sätzen, in sprachlicher Selbstbescheidung, nüchtern und doch nicht ohne Poesie formuliert der Autor ein schonungsloses Gefühlsprotokoll, ein analytisches Selbstgericht, die aufrührende Geschichte einer Liebe. Bernhard Schlink Der Vorleser 253 Eine der ganz wenigen kritischen Stimmen jener ersten Phase stellte Claus-Ulrich Bielefeld dar, der in seiner Besprechung des Romans vom 4./ 5. November in der „Süddeutschen Zeitung“ Schlink vorwarf, „keine Sprache“ für seine Geschichte zu finden, „in der sich das Monströse und das Banale untrennbar mischen“. „Mit enervierender Selbstgewißheit, ohne je zu stocken“, werde „über alles hinwegerzählt“. Schlink sei „Sprachoptimist, dem Selbstzweifel fremd“ seien, der nie befürchte, „daß ‚das Wort versagt ‘ “. So müsse er „scheitern“. Auch die Rezensionen im Ausland fielen weitgehend positiv aus. Die großen Rezensionen aus Frankreich bewerteten den Roman als superbe (Le Monde) und magnifique (Télérama). Darüber hinaus betonten sie seinen Beitrag zur ethischpolitischen Selbstverständigung der Deutschen. Gleichfalls überzeugt zeigte sich 1997 die angelsächsische Kritik. Christopher Hart in „Literary Review“ attestierte dem Roman „enormous moral force“, George Steiner in „The Observer“ nannte ihn „a touchstone of moral literacy“ und der Schriftstellerkollege Philipp Kerr sah in seiner Besprechung in der „Sunday Times“ die exzellente Qualität des Romans nicht zuletzt in „the way it addresses the subject of guilt“ (zit.n. Köster 2000, S. 20). Im Jahr 2002 wurde Schlinks Erzählungsband Liebesfluchten auf Englisch publiziert. Als eine lobende Besprechung dieses Buches im renommierten „Times Literary Supplement“ erschien, hagelte es plötzlich Leserbriefe den Vorleser betreffend. Und es äußerten sich nun renommierte Kritiker mit einer Wut und Empörung, wie man es in diesem Blatt nur selten liest, allen voran Jeremy Adler, Germanist am Londoner King’s College und Sohn eines Holocaust-Überlebenden. Ich zitiere aus der von Thomas Steinfeld für den Abdruck in der „Süddeutschen Zeitung“ im April 2002 ins Deutsche übertragenen Stellungnahme: Im Umgang mit Klischees, mit seiner Mischung von Halbwahrheiten und Verdrehungen steht er allein, und das umso deutlicher, als von empfindlichen Dingen die Rede ist [...] Die Massenmörderin wird als virtuelle Heilige präsentiert, der Leser dazu angehalten, die heilende Kraft der Dichtung zu bestätigen. In Bernhard Schlinks dialektischer Kaffeestube scheint man tatsächlich den Kuchen behalten zu dürfen, während man ihn verzehrt: nicht nur ‚alle menschlichen Gebrechen ‘ , sondern ‚jedes Verbrechen ‘ kann hier versöhnt werden [...] Schlinks postmoderner Brei ist nicht nur deshalb so ungenießbar, weil er eine ernsthafte Auseinandersetzung zu sein beansprucht, während er tatsächlich eine Travestie der Wahrheit darstellt. Er ist so abstoßend, weil er auf tückische, pornographische Weise aus menschlichen Nöten und Schwächen Kapital schlägt. Warum ist dieses Buch dann aber so erfolgreich? Zum Teil, weil es die Geschichte so vereinfacht, dass sie breiten Leserschichten entgegenkommt, von mitleidigen Liberalen, denen es lieber gewesen wäre, wenn die Auslöschung des europäischen Judentums weniger grausam verlaufen wäre, bis zu verkappten Nationalsozialisten, die gerne behaupten, das große Verbrechen habe gar nicht stattgefunden (zit.n. Heigenmoser 2005, S. 124ff.). Bereits Ende März 2002 hatte Willi Winkler in einem Beitrag in der „Süddeutschen Zeitung“ die englischen Kritiker massiv unterstützt. So schrieb er unter anderem: Auf seine wenig subtile Art variiert Schlink das Klischee vom schäferhundliebenden und abends geigespielenden KZ-Kommandanten, indem er seine Hanna wenigstens nachträglich in das Reich der Dichter & Denker beruft. Die ehemalige Lageraufseherin ist nämlich Eva Matthes 254 Analphabetin, deshalb braucht sie den Vorleser. Weil sie nicht lesen konnte, weil sie die Entdeckung fürchtete, hat Hanna, armes Ding, ihre Laufbahn bei Siemens aufgeben müssen und bei der SS Unterschlupf gefunden, wo ihre Leseschwäche nicht weiter auffiel. Man kennt sie doch, die brutale SS. So was nennt man am besten beim Namen, und der heißt Holo-Kitsch (zit. n. Heigenmoser 2005, S. 66f.). In Leserbriefen in der „Süddeutschen Zeitung“ wurde daraufhin teilweise heftige Kritik an den vorgebrachten Aussagen geübt; auch in den Feuilletons anderer Zeitungen wurde der Vorleser erneut zum Thema gemacht; im „Spiegel“ erfolgte durch Volker Hage die wohl vehementeste Zurückweisung der Generalabrechnung mit dem Vorleser (vgl. „Der Spiegel“ 2002, H.15, S. 178-181). Die Polemik und Schärfe, mit der die Kritik geäußert wurde, macht es schwer, sie ernst zu nehmen; allerdings gilt es dennoch, ihre Kernaussagen zu bedenken. In meiner persönlichen Einschätzung kann ich mich allerdings nur folgender Aussage Marion Löhndorfs anschließen: „Die Fragen bilden den Kern seines [Schlinks] Buches, treiben es voran, machen sein Wesen aus. Dabei findet er weder eine Lösung noch eine Erlösung“ (Neue Zürcher Zeitung 28./ 29.10.1995). Literaturverzeichnis: Primärliteratur: Schlink, Bernhard: - Der Vorleser. Zürich, 1997. - Recht - Schuld - Zukunft. In: Jörg Calließ (Hg.): Geschichte - Schuld - Zukunft. Rehburg- Loccum, 1988, 57-78. - Die Bewältigung von Vergangenheit durch Recht. In: Helmut König e.a. (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Opladen u.a., 1998, 433-451. - Auf dem Eis. Von der Notwendigkeit und der Gefahr der Beschäftigung mit dem Dritten Reich und dem Holocaust. In: Der Spiegel, Heft 19. (07.05.2001), 82-86. Forschungsliteratur: Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München, 1964. Bielefeld, Claus-Ulrich: Die Analphabetin. Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“. In: Süddeutsche Zeitung. 4. (5.11.1995), IV. Brazaitis, Kristina: What Would You Have Done? The Dilemma of the Reader. In: Journal of Genocide Research. (Abingdon 2004), 583-599. Feuchert, Sascha/ Hofmann, Lars: Lektüreschlüssel. Bernhard Schlink. Der Vorleser. Stuttgart, 2005. Hage, Volker: Gewicht der Wahrheit. Ein Roman des deutschen Schriftstellers Bernhard Schlink macht weltweit Furore - die Filmrechte wurden nach Hollywood verkauft. In: Der Spiegel, Heft 13. (29.03.1999), 242-243. Bernhard Schlink Der Vorleser 255 Ders.: Unter Generalverdacht. Kulturkritiker rüsten zu einer bizarren Literaturdebatte: Verharmlosen erfolgreiche Bücher wie Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ oder Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ die Schuld der Deutschen an Holocaust und Zweitem Weltkrieg? In: Der Spiegel, Heft 15. (08.04.2002), 178-181. Heigenmoser, Manfred: Erläuterungen und Dokumente. Bernhard Schlink. Der Vorleser. Stuttgart, 2005. Jasper, Gotthard: Die gescheiterte Zähmung. Frankfurt a. M., 1986. Köster, Juliane: Bernhard Schlink: „Der Vorleser“ (1995) - Eine Interpretation für die Schule. In: Der Deutschunterricht 4 (1999), 70-81. Dies.: Bernhard Schlink, Der Vorleser. München, 2000. Löhndorf, Marion: Die Banalität des Bösen. Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“. In: Neue Zürcher Zeitung. 28. (29.10.1995), 46. Moers, Helmut: Bernhard Schlink, Der Vorleser. Freising, 1999. Niven, Bill: Bernhard Schlink’s Der Vorleser and the Problem of Shame. In: The Modern Language Review, vol. 98, no. 2. (Leeds, 2003), 381-396. Ostermann, Micha: Aporien des Erinnerns - Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“. Bochum, 2004. Reisner, Hanns-Peter: Lektürehilfen Bernhard Schlink, Der Vorleser. Stuttgart, 2005. Schäfer, Dietmar: Bernhard Schlink, Der Vorleser. 3. Auflage, München, 2002. Schneider, Peter: Rede zur Verleihung des Fallada-Preises an Bernhard Schlink. Dokumentationen des Diogenes Verlages. Zürich, 1998. Schödel, Kathrin: Jenseits der political correctness - NS-Vergangenheit in Bernhard Schlink, Der Vorleser und Martin Walser, Ein springender Brunnen. In: Stuart Parkes und Fritz Wefelmeyer (Hg.): Seelenarbeit an Deutschland. Amsterdam/ New York, 2004, 307-322.