eBooks

Points of Arrival: Travels in Time, Space, and Self / Zielpunkte: Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst

2007
978-3-7720-5241-5
A. Francke Verlag 
Marion Gymnich
Ansgar Nünning
Vera Nünning
Elisabeth Waghäll Nivre

The articles in this volume discuss different types of travel and migration narratives written in German, English, French and Spanish from the Early Modern period to the present. Travel and migration narratives are examined with respect to issues that are highly relevant from the point of view of literacy and cultural studies, such as the depiction of encounters between the self and the other, migration and exile, gender and national stereotypes. The authors whose works are discussed include Heinrich Böll, Judith Hermann, Katherine Mansfield, Ruth Klüger and Jean Rhys. Der Sammelband beschäftigt sich mit unterschiedlichsten Ausprägungen der Reise- und Migrationsliteratur. Anhand von Beispielen aus der deutschen, englischen, amerikanischen, französischen und spanischen Literatur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart werden aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht so relevante Themen wie Begegnungen mit dem Selbst und dem Anderen, Migration und Exil oder auch Gender und Nationalstereotype diskutiert. Zu den Autoren und Autorinnen, deren Werke behandelt werden, zählen Heinrich Böll, Judith Hermann, Katherine Mansfield, Ruth Klüger und Jean Rhys.

Marion Gymnich / Ansgar Nünning Vera Nünning / Elisabeth Wåghäll Nivre (Eds.) Points of Arrival: Travels in Time, Space, and Self Zielpunkte: Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst Points of Arrival: Travels in Time, Space, and Self Zielpunkte: Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst Marion Gymnich / Ansgar Nünning Vera Nünning / Elisabeth Wåghäll Nivre (Eds.) Points of Arrival: Travels in Time, Space, and Self Zielpunkte: Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8241-2 Inhaltsverzeichnis Einleitung Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst: Einleitung M ARION G YMNICH , A NSGAR N ÜNNING , V ERA N ÜNNING & E LISABETH W ÅGHÄLL N IVRE ......................................................... 1 I. Wegbeschreibungen - Vertextungsstrategien in Reiseliteratur Zur mehrfachen Präfiguration/ Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht: Grundzüge einer narratologischen Theorie, Typologie und Poetik der Reiseliteratur A NSGAR N ÜNNING ........................................................................... 11 Reisen durch und mit Text: Reiseliteraturtypische Intertextualität in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch T HORSTEN M. P ÄPLOW .................................................................... 33 II. Begegnungen mit dem Selbst und dem Anderen The Sorceror and the Priest: Wandering Souls in Canadian Forests, 1634 M ARY B AINE C AMPBELL .................................................................. 49 ‚Writing Selves and Others‘: Zur Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit V ERA N ÜNNING ................................................................................ 61 A Discourse of Patriots - Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Travel Writing: Alexander Jardine’s Letters from Barbary, France, Spain, Portugal and Daniel Defoe’s A Tour through the Whole Island of Great Britain B IRGIT N EUMANN ............................................................................. 79 Ästhetik der Mittelbarkeit: Goethes Reise nach Italien und ihre doppelte Literarisierung U LRICH K RELLNER ............................................................................ 95 vi Sich in der Ideologie einrichten: Die ‚Ankunft im Alltag‘ in Erik Neutschs Roman Spur der Steine J ENS P RIWITZER ............................................................................... 107 Die Unzuverlässigkeit des schuldigen Erzählers: Erzählerfiguren bei Günter Grass, ihr Verhältnis zur Schuld und das Häuten einer Zwiebel B EATE S CHIRRMACHER ................................................................... 119 Zwischen Berlin und Reykjavík: Zu Ankünften und der ‚Ästhetik des Augenblicks’ in Judith Hermanns Erzählungen J. A LEXANDER B AREIS .................................................................... 129 Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen: Das Unterrichtsprinzip Schülerorientierung A NGELA M ARX Å BERG ................................................................... 141 III. Aufbruch - Migration - Zuflucht ‘Believe it or not, you won’t find it so hot’: Californian Dreams and Californian Nightmares in the Songs of Woody Guthrie M ARTIN B UTLER .............................................................................. 159 Ungewisse Reise: Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs auf dem Weg ins Exil C LAUDIA N ICKEL ............................................................................ 171 Heim-Suchung: Victor Klemperers Tagebücher 1933-1945 als Orte der Autohospitalität in Zeiten von Heimatlosigkeit A RVI S EPP ........................................................................................ 183 IV. Gender und Reise- und Selbsterfahrung Eine Regentin, zwei Bilder: Konstruktionen von weiblicher Regentschaft in den Schriften der Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1510-1558) N INA J OHANSSON ........................................................................... 197 vii German Hausfraus Scolding English Suffragettes: Die Inszenierung von National- und Geschlechterstereotypen in Katherine Mansfields In a German Pension S TEFANIE B OCK ............................................................................... 209 Voyages Out - Voyages In: Travelling and Individual Development in Novels by Nineteenth-Century British Women Writers M ARION G YMNICH ......................................................................... 221 Forgetting in Paris, Remembering in London: Travel and Memory in Jean Rhys’s After Leaving Mr Mackenzie N AGIHAN H ALILOGLU ................................................................... 239 Erinnerung als Hexerei: Ruth Klügers weiter leben Eine Jugend als Reise in die Vergangenheit A NNA C ALLENHOLM ..................................................................... 249 Marion Gymnich, Ansgar Nünning, Vera Nünning & Elisabeth Wåghäll Nivre Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst: Einleitung „Ich könnte mir höchstens noch einmal ausmalen, daß ich bang auf sie wartete wie früher am gleichen Tisch. Sie läuft noch immer die Straßen der Stadt ab, die Plätze und Treppen, Hotels und Cafés und Konsulate auf der Suche nach ihrem Liebsten. Sie sucht rastlos nicht nur in dieser Stadt, sondern in allen Städten Europas, die ich kenne, selbst in den phantastischen Städten fremder Erdteile, die mir unbekannt geblieben sind. Ich werde eher des Wartens müde als sie des Suchens nach dem unauffindbaren Toten.“ (Anna Seghers, Transit: 281) Dem hochgradig experimentellen, postmodernen Roman In Transit (1969) der britischen Schriftstellerin Brigid Brophy und Steven Spielbergs Film Terminal (2004) mit Tom Hanks in der Hauptrolle liegt eine ganz ähnliche räumliche Prämisse zugrunde, die entscheidend zur Wirkung des Romans bzw. des Films beiträgt: Die jeweiligen Hauptfiguren befinden sich an einem internationalen Flughafen und sehen sich - freilich aus unterschiedlichen Gründen - nicht in der Lage, diesen begrenzten Raum zu verlassen. In Terminal wird der Protagonist zum Opfer politischer Ereignisse in seinem Heimatland - er wird staatenlos und kann deshalb nicht in die USA einreisen; in Brophys Roman hingegen wird nicht spezifiziert, weshalb die Hauptfigur am Flughafen bleibt, statt eine Reise anzutreten. Wenn auch die Gründe, die in Terminal und In Transit zu einem Ausharren der jeweiligen Hauptfigur am Flughafen führen, unterschiedlich sind, so werden doch die Rezipienten in beiden Fällen mit der gleichen, paradoxen Grundsituation konfrontiert: Der Flughafen, eigentlich ein Ort fortwährender Ankünfte und Abreisen, d.h. ein Raum, der geradezu als Inbegriff von räumlicher Mobilität betrachtet werden kann, wird für eine Figur zum dauerhaften Aufenthaltsort. Die Absurdität dieser Situation erscheint vor allem darin begründet, dass für die jeweiligen Protagonisten der Zielpunkt ihrer Reise, die Ankunft also, auf unbestimmte Zeit aufgeschoben zu sein scheint. Der absurde Charakter der in Terminal und In Transit gezeichneten Grundsituation vermag folglich den Blick dafür zu schärfen, welche Bedeutung Ankünfte und Zielpunkte in unserem Denken und Handeln einnehmen. Eine Reise ohne Ankunft erscheint sinnlos; nicht dem Weg, dem bloßen ‚Unterwegs Sein‘, sondern der Ankunft wird die Funktion zugeschrieben, der Reise einen Sinn zu geben. Die große Bedeutung, die der Ankunft, dem Zielpunkt einer Reise, beigemessen wird, wirft jedoch die Frage auf, wie endgültig denn Ankünfte gemeinhin sind - oder überhaupt sein können. Mit anderen Worten: Ist ein Verweilen im ‚Transitbereich‘ tatsächlich eine so paradoxe Ausnahmesituation wie es zunächst scheint oder vielleicht doch eher die Norm? Reiseberichte Marion Gymnich, Ansgar Nünning, Vera Nünning & Elisabeth Wåghäll Nivre 2 etwa stellen häufig die Reise selbst bzw. eine Vielzahl von Ankünften dar - und eben nicht nur eine Ankunft an einem Zielpunkt; dies reduziert die einzelnen Momente der Ankunft letztlich auf den Status des Erreichens einer Transitstation. Erscheint schon bei der Darstellung konkreter Reisen die Ankunft oftmals lediglich als Erreichen einer Zwischenstation, so gilt dies in wohl noch stärkerem Maße für Reisen im übertragenen, metaphorischen Sinne, insbesondere für die Identitätsentwicklung des Individuums, die ‚Reise in das Selbst ‘ . Die Vorstellung von der Ankunft als ‚Zwischenstation‘ wird auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes immer wieder thematisiert. Aus identitätstheoretischer Sicht lässt sich auf die oben aufgeworfenen Fragen nach der Möglichkeit einer endgültigen Ankunft eine klare Antwort geben: Eine ‚Ankunft‘ im Rahmen einer Reise in das Selbst kann stets nur vorläufigen Charakter haben; unterwegs zu sein ist in Bezug auf die Reise in das Selbst ein Dauerzustand. Ältere Modelle der Identitätstentwicklung, die bisweilen unterstellen, dass in einem bestimmten Entwicklungsstadium eine gefestigte, stabile Identität, ein Zielpunkt der Entwicklung also, erreicht wird oder doch zumindest erreicht werden kann, können inzwischen als obsolet betrachtet werden. In identitätstheoretischen Ansätzen neueren Datums herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Identitätsentwicklung vielmehr einen lebenslangen Prozess darstellt, also „keine Eigenschaft im Sinne eines dauerhaften Besitzes“ (Frey/ Haußer 1987: 11; Hervorhebung im Original) bildet, sondern „bestenfalls greifbar als momentaner, aber höchst fluktuierender Zustand“ (ebd.) sein kann. Besonders betont wird der dynamische, fluktuierende Charakter der Identität in interaktionistischen Modellen der Identitätsentwicklung, die davon ausgehen, dass individuelle Identität in potentiell jeder Interaktion neu ausgehandelt werden muss: Identität zu gewinnen und zu präsentieren ist ein in jeder Situation angesichts neuer Erwartungen und im Hinblick auf die jeweils unterschiedliche Identität von Handlungs- und Gesprächspartnern zu leistender kreativer Akt. Er schafft etwas noch nicht Dagewesenes, nämlich die Aufarbeitung der Lebensgeschichte des Individuums für die aktuelle Situation. (Krappmann 1982 [1969]: 11) 1 Die Vorstellung von einer das ganze Leben hinweg andauernden Dynamik der Identitätsentwicklung impliziert, dass eine subjektiv wahrgenommene ‚Ankunft‘ an einem Zielpunkt der Identitätsentwicklung allenfalls ein Indikator für eine vorübergehende Phase vergleichbarer Stabilität sein kann - oder aber sogar ein Anzeichen einer Stagnation, die einer produkiven Weiterentwicklung des Selbst im Wege steht und die insofern negativ zu bewerten ist. Wenngleich Identitätsentwicklung ein Prozess ist, der das ganze Leben hindurch andauert, suchen Individuen dennoch immer wieder nach Zielpunkten der Entwicklung und streben nach einer Stabilisierung der Selbsterfahrung. Auch wenn Identitätsentwicklung per se durch Fluktuation geprägt ist, kann doch ein Übermaß an Fluktuation zu einer Verunsicherung und 1 Vgl. auch (Straus/ Höfer 1997: 273): „Subjekte arbeiten (indem sie handeln) permanent an ihrer Identität.“ Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst: Einleitung 3 schlimmstenfalls zu einer Identitätskrise führen, ist doch eine gewisse Konstanz in der Selbstwahrnehmung unerlässlich für die subjektive Herstellung von Identität. Das interaktionistische Verständnis von Identitätsentwicklung bestätigt auch die Bedeutung, die dem Reisen (im wörtlichen Sinne) für die Identitätsentwicklung zugeschrieben wird - nicht zuletzt in literarischen Werken, in denen die Begegnung mit einem fremden Ort oft als entscheidender Wendepunkt in der Identitätsentwicklung einer Figur dargestellt wird. Folgt man der Annahme, dass Begegnungen und Interaktionen schon grundsätzlich einen wichtigen Motor der Identitätsentwicklung bilden, dann ist auch anzunehmen, dass Begegnungen mit dem Fremden und die damit einhergehende Konfrontation mit ungewohnten Interaktionsmustern eine besondere Herausforderung für die Identitätsentwicklung des Individuums darstellen, „denn wer in eine andere Kultur geht, wird nicht nur mit anderen Gebräuchen konfrontiert, sondern auch mit vollkommen anderen Rückmeldungen über sich selbst“ (Kumbier/ Schulz von Thun 2006: 26). Während anzunehmen ist, dass die Reaktionen auf die interaktiv dargestellte Identität sich innerhalb eines vertrauten Umfeldes in einigermaßen vorhersehbaren Bahnen bewegen, vermag die Auseinandersetzung mit einer unbekannten Umgebung auch zu neuen Einsichten in die Wirkung des interaktiv dargestellten Selbst zu führen. Dies kann eine Verunsicherung hinsichtlich des Selbstbildes nach sich ziehen und Anlass zu Selbstreflexion und u.U. einer kritischen Revision der Selbsteinschätzung geben. Dem soeben skizzierten Zusammenhang zwischen räumlicher Mobilität und Identitätsentwicklung zollen literarische Werke oftmals dadurch Tribut, dass sie Entwicklungsstufen aufzeigen, die mit einer räumlichen Veränderung einhergehen bzw. durch die Konfrontation mit Unbekanntem herbeigeführt werden. Aber auch das Auslösen von Identitätskrisen durch die Begegnung mit dem Fremden wird oftmals zum Gegenstand literarischer Texte. Besonders deutlich wird der Zusammenhang zwischen Reisen und Identitätsentwicklung beispielsweise in traditionellen Bildungsromanen, in denen die räumliche Mobilität der Hauptfigur nahezu einen konstitutiven Bestandteil des Handlungsverlaufs darstellt und oftmals als wichtige Voraussetzung für signifikante Entwicklungsschritte erscheint. 2 Identitätsentwicklung kann nicht nur durch Reisen im Raum entscheidend vorangetrieben werden, sondern auch durch Reisen, die das Individuum - in der Imagination - in die Vergangenheit führen. Bezüge zur eigenen Vergangenheit und, darauf aufbauend, ein individuelles Gefühl lebensgeschichtlicher Kontinuität herzustellen, in dem entwicklungsbedingte Veränderungen integriert werden können, gilt als grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung einer subjektiven Erfahrung von Identität. Mitunter gehen Reisen in die Vergangenheit freilich auch Hand in Hand mit Reisen im 2 Vgl. etwa Mary Ann Fergusons (1983: 228) Ausführungen zum Bildungsroman, in denen sie die Überprüfung des Selbstbildes durch „adventures in the outside world“ als typischen Bestandteil des klassischen Bldungsromans einschätzt. Marion Gymnich, Ansgar Nünning, Vera Nünning & Elisabeth Wåghäll Nivre 4 Raum, wird doch die (Wieder-)Begegnung mit vertrauten Räumen häufig zum Auslöser eines Erinnerungsprozesses. Fasst man die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit als Reise auf, dann leitet sich auch der Charakter des Erinnerns als Konstruktionsprozess, als Vorgang einer - potentiell immer wieder neue Einsichten eröffnenden - Entdeckung her. Einen festen, klar definierbaren Zielpunkt weisen solche Reisen in die Vergangenheit schon aufgrund des Konstruktcharakters der Erinnerung ebenso wenig auf wie die Identitätsentwicklung insgesamt, denn [d]as Gedächtnis ist […] keine Schublade für aufgezeichnete Wiederholungen von Lebensereignissen. Erinnerung ist eine partielle Rekonstruktion der Vergangenheit, die Gedächtnisspuren nach Maßgabe gegenwärtiger Bedürfnisse und Deutungen berücksichtigt und verknüpft. (Polkinghorne 1998: 24) Aber auch wenn die ‚Ankunft‘ in der Vergangenheit oftmals nur einen vorläufigen und hochgradig subjektiven Charakter aufweist, ist sie doch von zentraler Bedeutung für die Bestimmung der eigenen Identität. Subjektive Reisen in die Vergangenheit können ebenso wie Reisen im Raum entscheidende Wendepunkte in der Identitätsentwicklung markieren, sind sie doch oftmals Momente intensiver Selbstreflexion, die zu einer Neubestimmung der Identität Anlass geben. Die Beiträge in dem vorliegenden Band beschäftigen sich mit der Darstellung von Reisen in Zeit, Raum und Selbst in Texten aus verschiedenen Jahrhunderten und Nationalliteraturen und bieten damit ein breites Spektrum möglicher textueller Reisen, im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne. Im ersten Teil des Bandes („Wegbeschreibungen - Vertextungsstrategien in Reiseliteratur“) finden sich zwei Artikel, in denen unterschiedliche Möglichkeiten der Vertextung von Reiseerfahrungen vorgestellt werden. Ansgar Nünning entwickelt in seinem Beitrag eine Typologie und Poetik der Reiseliteratur, die es ermöglicht, die unterschiedlichen Ausprägungen dieser Gattung differenziert zu erfassen und zu beschreiben. In Thorsten M. Päplows Artikel steht hingegen die besondere Signifikanz von Intertextualität in Reiseliteratur im Mittelpunkt, exemplarisch aufgezeigt an Bölls Irischem Tagebuch, sicherlich einem der bekanntesten Beispiele für deutschsprachige Reiseliteratur. Bei der Auseinandersetzung mit Reisen in Zeit, Raum und Selbst kristallisieren sich einige Schwerpunkte heraus, die in den Teilen II bis IV des vorliegenden Bandes im Zentrum stehen. Einen dieser Schwerpunkte bildet die Darstellung der komplexen Zusammenhänge zwischen Selbsterfahrung und Begegnungen mit dem Anderen (Teil II). Wie oben bereits erläutert, können Reisen durch die Begegnung mit dem Fremden auch neue Perspektiven auf das Selbst eröffnen. Solche Begegnungen stellen deshalb eine besondere Herausforderung für das interaktive Aushandeln der Identität dar. In der Darstellung von Interaktionen mit dem Fremden wird aber nicht nur der Prozess der Identitätsentwicklung thematisiert, sondern auch die eng damit zusammenhängende Abgrenzung von dem ‚Anderen‘, die oftmals mit einer Stereo- Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst: Einleitung 5 typisierung des Fremden einhergeht. Begegnungen mit dem Anderen vermögen zwar das kulturelle Wissen des Reisenden zu erweitern, wie es das Ideal der klassischen Bildungsreise vorsieht, sie lassen vielfach aber gerade auch die Wirkmacht des bereits vorhandenen kulturellen Wissens aufscheinen. Das Unbekannte wird letztlich nicht neutral oder objektiv wahrgenommen, sondern immer nur durch den Filter bereits vorhandenen Wissens: Ein unverstellter Zugang zum Fremden ist deshalb unmöglich, weil Individuen (bewusst oder unbewusst) dazu tendieren, neue Eindrücke in bereits existierende Kategorien und etablierte kulturelle Interpretationsmuster einzufügen. Die Wirkmacht bestehenden Wissens im Prozess der Wahrnehmung manifestiert sich darin, dass die fremde Kultur in die Kategorien der eigenen Kultur integriert wird - und dabei u.U. hochgradig verzerrt wird. Zu den Beschreibungs- und Wahrnehmungskategorien, die eine Kultur für die Bezugnahme auf das Fremde und dessen Deutung bereitstellt, zählen auch Heterostereotype. Dass diese letztlich mindestens ebensoviel über die Kultur, in der sie geprägt und perpetuiert werden, aussagen wie über die Kultur, auf die sie Bezug nehmen, zeigen insbesondere die Beiträge von Mary B. Campbell, Birgit Neumann und Vera Nünning anhand ausgewählter Fallbeispiele aus der Frühen Neuzeit, dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. Mary B. Campbell setzt sich in ihrem Artikel mit der Darstellung der indigenen Bevölkerung Kanadas durch einen französischen Jesuiten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auseinander. Auch Vera Nünning beschäftigt sich mit Reiseberichten der Frühen Neuzeit, die die Entdeckung Amerikas zum Thema haben. Die Bedeutung der ‚Grand Tour‘ durch Europa und der gerade im 18. Jahrhundert bei britischen Reisenden ebenfalls sehr beliebten Reisen innerhalb des eigenen Landes für die Konstruktion von Britishness wird von Birgit Neumann am Beispiel von Alexander Jardine’s Letters from Barbary, France, Spain, Portugal and Daniel Defoe’s A Tour through the Whole Island of Great Britain diskutiert. Ulrich Krellner beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Goethes Darstellung seiner ersten Italienreise, die als entscheidender Wendepunkt im Leben und Werk des Dichters gilt; Krellner rekonstruiert, dass die hochgradige semantische Aufladung dieser Reise zu einem beträchtlichen Teil einen retrospektiven Prozess der Sinnstiftung darstellt. Jens Priwitzers Artikel problematisiert die Erfahrung der kollektiven Identitätsstifung als Ankunft im Eigenen am Beispiel des Romans Spur der Steine des DDR-Autors Erik Neutsch. Das Bewusstsein und die Verdrängung der eigenen Schuld prägt den Dialog der unzuverlässigen Erzähler mit den fiktiven Adressaten in Günter Grass‘ Texten - und damit auch die in Grass‘ Werken inszenierte Dialektik von Identitätsstiftung und Auseinandersetzung mit dem Anderen, wie Beate Schirrmacher in ihrem Beitrag aufzeigt. J. Alexander Bareis untersucht die Funktionen von Ankünften in den Erzählungen Judith Hermanns, in denen Reisen und gerade auch Ankünften eine zentrale Bedeutung zukommt, die sich zu einer ‚Ästhetik des Augenblicks‘ verdichtet. Angela Marx Åberg schließlich zeigt in ihrem Artikel, wie fruchtbar das Konzept der Reise und der Begegnung mit dem Fremden für die Konzeptualisierung des Um- Marion Gymnich, Ansgar Nünning, Vera Nünning & Elisabeth Wåghäll Nivre 6 gangs mit fremdsprachigen Texten im Rahmen der Fremdsprachendidaktik sein kann. Zu einem besonderen Problem und einer speziellen Herausforderung wird die Ankunft in solchen Texten, die sich mit einer erzwungenen Reise beschäftigen, mit einer Flucht oder einer Migration, die aufgrund einer Notsituation erfolgt. Dies zeigen exemplarisch die Artikel in Teil III des Bandes auf. Der Spanische Bürgerkrieg, die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland und die wirtschaftliche Notlage im amerikanischen Mittleren Westen in den 1930er Jahren gehören zu jenen Kontexten, in denen eine Migration großen Umfangs erfolgte. Die Ankunft ist gerade in solchen Fällen hochgradig semantisch aufgeladen und mit ambivalenten Emotionen belegt: Gefühle von Unsicherheit und Angst, aber auch eine Hoffnung auf einen Neuanfang können mit der Ankunft verknüpft sein. Martin Butler zeigt in seinem Beitrag, wie die Songs des amerikanischen Protestsängers Woody Guthrie den Wandel vom kalifornischen Traum zum kalifornischen Albtraum thematisieren, den viele Migranten aus den von Dürren sowie verheerenden Staubstürmen heimgesuchten Staaten im Mittleren Westen der USA bei ihrer Ankunft an der Wohlstand verheißenden Westküste erleben mussten. Vor allem Unsicherheit und Angst prägen auch die Migrationserfahrung der Flüchtlinge vor dem Spanischen Bürgerkrieg, die von den Flüchtligen selbst in unterschiedlichen fiktionalen und nicht-fiktionalen Textsorten dargestellt wurde, wie Claudia Nickel in ihrem Beitrag erläutert. Angesichts von Diskriminierung und Verfolgung können schließlich sogar der Text und das Schreiben selbst zum einzigen erreichbaren Zielpunkt einer Reise werden. Arvi Sepp zeigt am Beispiel der Tagebücher Viktor Klemperers aus den Jahren 1933-1945 auf, dass Schreiben gerade in Zeiten der Heimatlosigkeit eine Möglichkeit der Reise in das Selbst bietet und so zugleich eine neue Heimat schaffen kann. Die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Gender und Reise- und Selbsterfahrungen bilden den thematischen Schwerpunkt in Teil IV des Bandes. Nina Johansson zeigt in ihrem Beitrag, dass die Selbstdarstellungen der Herzogin Elisabeth von Braunschweig Lüneburg (1510-1558) in mehreren ihrer Schriften als eine bewusste - wenn auch oft unterschwellige —Auseinandersetzung mit vorherrschenden Frauenidealen gelesen werden kann. Stefanie Bock stellt die Relationen zwischen National- und Geschlechtsstereotypen in den Mittelpunkt einer Fallstudie zu Katherine Mansfields In a German Pension. Im Beitrag von Marion Gymnich werden die Funktionen von (tatsächlichen und virtuellen) Reisen in ausgewählten Romanen englischer Autorinnen des 19. Jahrhunderts untersucht, und Nagihan Haliloglu widmet sich in ihrem Artikel den Zusammenhängen zwischen Reisen, Erinnerung und Identitätsstiftung in dem Roman After Leaving Mr Mackenzie der modernistischen Autorin Jean Rhys. In Anna Callenholms Artikel, der sich mit der Darstellung der traumatischen Erinnerungen an die Shoah am Beispiel von Ruth Klügers weiter leben Eine Jugend beschäftigt, spielt ebenfalls die Erinnerung als Reise in der Zeit und zugleich in das Selbst eine zentrale Rolle. Unterwegs in Zeit, Raum und Selbst: Einleitung 7 *** Die Beiträge in dem vorliegenden Band basieren auf Vorträgen, die im Rahmen einer Tagung im Oktober 2006 an der Universität Stockholm gehalten wurden. Diese Tagung wurde vom Institut für Baltistik, Fennistik und Germanistik (Institutionen för baltiska språk, finska och tyska) der Universität Stockholm in Zusammenarbeit mit dem vom DAAD geförderten Internationalen Promotionsprogramm (IPP) ‚Literatur- und Kulturwissenschaft‘ der Justus-Liebig-Universität Gießen und dem von der DFG im Rahmen der Exzellenzinitiative geförderten International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) der Justus-Liebig-Universität Gießen organisiert. Ein besonderer Dank geht an die Stiftung Riksbankens Jubileumsfond (Bank of Sweden Tercentenary Foundation), die die Tagung großzügig gefördert hat. Außerdem danken wir dem Goethe-Institut Stockholm, in dessen Räumlichkeiten wir am letzten Tag der Konferenz getagt haben. Zwei Autorinnen, Donna Stonecipher und Lotta Lundberg, haben uns durch ihre inspirierenden Lesungen am zweiten Abend der Tagung wichtige Impulse für die Diskussion über die Reisethematik geboten. 3 Wir sind ihnen äußerst dankbar für ihre Teilnahme. Die Durchführung einer Tagung ist ohne praktische Hilfe nicht möglich. Die DoktorandInnen der germanistischen Institute an den Universitäten Stockholm und Växjö haben unter der Leitung von Dr. Louise Forssell für eine wunderbare Organisation der Konferenz gesorgt - jeder hat sich wohl gefühlt und die Kontakte, die geknüpft wurden, dehnen sich in Zeit und Raum aus. Auch bei der Erstellung des Bandes konnten wir auf kompetente Unterstützung zählen: Sara B. Young hat die englischsprachigen Beiträge Korrektur gelesen, und Alexandre Seg-o Costa hat wertvolle Hilfe beim Erstellen der Druckvorlage geleistet. Nicht zuletzt möchten wir allen Beiträgern ganz herzlich für die angenehme Zusammenarbeit danken. Marion Gymnich, Ansgar Nünning, Vera Nünning & Elisabeth Wåghäll Nivre Bonn, Gießen, Heidelberg & Stockholm, September 2007 3 Donna Stonecipher hat bei der Tagung zum ersten Mal aus ihrem Lyrikband Souvenir de Constantinople (2007) gelesen, Lotta Lundberg einen Abschnitt aus ihrem Roman Skynda kom och se (2006), in englischer Übersetzung. Marion Gymnich, Ansgar Nünning, Vera Nünning & Elisabeth Wåghäll Nivre 8 Bibliographie Ferguson, Mary Ann. 1983. „The Female Novel of Development and the Myth of Psyche.“ In: Elizabeth Abel, Marianne Hirsch & Elizabeth Langland (Hgg.). The Voyage In: Fictions of Female Development. Hanover/ London: University Press of New England. 228-243. Frey, Hans-Peter & Karl Haußer. 1987. „Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung.“ In: dies. (Hgg.). Identität: Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschungen. Stuttgart: Enke. 3-26. Krappmann, Lothar. 1982 [1969]. Soziologische Dimensionen der Identität: Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. 6. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Kumbier, Dagmar & Friedemann Schulz von Thun. 2006. „Interkulturelle Kommunikation aus kommunikationspsychologischer Perspektive.“ In: dies. (Hgg.). Interkulturelle Kommunikation: Methoden, Modelle, Beispiele. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 9-27. Lundberg, Lotta. 2006. Skynda kom och se. Stockholm: Bonniers. Polkinghorne, Donald E. 1998. „Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein.“ In: Jürgen Straub (Hg.). Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 12-45. Seghers, Anna. 1993. Transit. Berlin: Aufbau-Verlag. Stonecipher, Donna. 2007. Souvenir de Constantinople. Boulder, CO: Instance Press. Straus, Florian & Renate Höfer. 1997. „Entwicklungslinien alltäglicher Identitätsarbeit.“ In: Heiner Keupp & Renate Höfer (Hgg.). Identitätsarbeit heute: Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 270-307. I. Wegbeschreibungen - Vertextungsstrategien in Reiseliteratur Ansgar Nünning Zur mehrfachen Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht: Grundzüge einer narratologischen Theorie, Typologie und Poetik der Reiseliteratur 1. Zum Aufschwung der Reiseliteratur und zur Zielsetzung dieses Beitrags „Die vorliegende Skizze kann nicht auf methodische Muster oder thematische Vorläufer zurückgreifen“, bemerkt Wolfgang Neuber (1989: 50) zu Beginn seines Aufsatzes zum Thema „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts“. Auch wenn sich die Forschung in den letzten zwei Dekaden sehr viel intensiver mit diesem Genre beschäftigt hat als zuvor, gibt es für eine Theorie, Typologie und Poetik des Reiseberichts auch heute noch relativ wenige methodische Muster. Obgleich sowohl die Reiseliteratur als auch die Forschung zu diesem Genre in den letzten ein bis zwei Dekaden einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren haben, gehört der Reisebericht im Vergleich zu den literarischen ‚Hauptgattungen’ nach wie vor zu jenen Genres, die relativ stiefmütterlich behandelt worden sind. Überblickt man die Forschungslage, so kann man noch immer feststellen, dass sich an Peter Brenners (1989) nüchterner und ernüchternder Bestandsaufnahme zur Forschungslage nichts Grundlegendes geändert hat. Obwohl gerade in der anglistischen Forschung eine Reihe wegweisender Beiträge erschienen sind (vgl. Korte 1994, 1996), liegt bis heute weder eine Theorie noch eine Typologie der Reiseliteratur vor, und auch eine differenzierte Poetik dieses Genres sucht man vergeblich. Diese Defizite und Desiderate der Forschung bilden den Ausgangspunkt dieses Beitrags, der einige Grundzüge einer Theorie, Typologie und Poetik der Reiseliteratur zu umreißen versucht. Ausgehend von einigen grundsätzlichen Überlegungen zu den Paradoxien der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht soll zunächst die mehrfache Präfiguration und Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht herausgearbeitet werden (Abschnitt 2). Im Anschluss daran soll die narrative Repräsentation und Transformation von Wirklichkeit in der Reiseliteratur aus narratologischer Sicht beleuchtet und einige Bausteine für ein Kommunikationsmodell und eine Poetik des Reiseberichts skizziert werden (Abschnitt 3). Abgerundet wird der Beitrag durch einige Überlegungen zur Typologie und Poetik der Reiseliteratur (Abschnitt 4) sowie zum Funktionspotential dieser Gattung (Abschnitt 5). Auch wenn es sich bei einem so weiten Feld von selbst verstehen mag, sei dennoch vorausgeschickt, dass die hier skizzierten Grundzüge einer narratologischen Theorie, Typologie und Poetik der Reiseliteratur keinerlei Anspruch auf Ansgar Nünning 12 Vollständigkeit erheben können oder wollen. Dies gilt um so mehr, als gerade die Frage nach der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht deutlich macht, dass es sich bei Reiseliteratur in der Tat um ein „Paradigma von Welterfahrung“ (Bode 1994) handelt, die gerade auch aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht eine sehr aufschlussreiche Quelle ist (vgl. Harbsmeier 1982). 2. Die mehrfache Präfiguration/ Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht Der Reisebericht gehört ähnlich wie die Autobiographie zu jenen Genres, die noch in starkem Maße von den Mythen des Augenzeugen und des Authentischen geprägt sind. Autorität und Wahrheitsanspruch beider Gattungen gründen in der eigenen Beobachtung und Erfahrung des Autobiographen bzw. Reisenden, d.h. im Selbsterlebten. Bis heute gilt vielen Reiseschriftstellern die Gattung des Reiseberichts bzw. travelogue als das „letzte Refugium einer romantischen Unmittelbarkeitsästhetik, noch unangekränkelt vom postmodernen Bewußtsein der Verstrickung aller Erfahrung in textuell vermittelte Wahrnehmungsschemata und Erfahrungsdispositionen, der dialogischen Teilhabe jedes Textes an anderen Texten“ (Pfister 1993: 111). Gerade weil die Gattung des Reiseberichts seit jeher der „Programmatik des voraussetzungslosen Blicks“ (ebd.: 110) verpflichtet ist und ein Großteil der Gattungstheorie noch immer von der Annahme ausgeht, „daß eine objektive/ realistische/ authentische Wiedergabe von Realität im Text möglich ist“ (Opitz 1997: 55), drängen sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht die Fragen auf, wie voraussetzungslos bzw. voraussetzungsreich die Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht tatsächlich ist und durch welche Aspekte die Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht präfiguriert bzw. vorgeprägt wird. Überblickt man die Geschichte und Praxis des Reiseberichts, so wird deutlich, dass die Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht alles andere als unmittelbar oder voraussetzungslos ist. Vielmehr ist sie, wie in diesem Abschnitt gezeigt werden soll, in mehrfacher Hinsicht durch eine Vielzahl von kulturellen Mustern, Gattungen, Schemata und Texten vorgeprägt bzw. präfiguriert. Auch wenn sich Reiseschriftsteller seit jeher gerne auf ihre Augenzeugenschaft, ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen, berufen und ihre Texte als authentische Augenzeugenberichte ausgeben, lohnt es sich, der Frage nachzugehen, inwiefern man von einer Präfiguration und Prämediation des Reiseberichts sprechen kann. Gleichwohl ist unverkennbar, dass sich die Gattung des Reiseberichts und die Praxis vieler Reiseschriftsteller zunehmend durch eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit den Konventionen und Traditionen der eigenen Gattung, d.h. durch jene Tendenz zur Metaisierung auszeichnet, die als eines der Markenzeichen der Literatur in der Postmoderne gilt, aber auch in früheren Epochen schon zu beobachten ist. Durch eine veränderte Themenselektion und experimentelle Darstellungsverfahren tragen selbstreflexive Reisebe- Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 13 richte dazu bei, herkömmliche Vorstellungen von - literarischen und wissenschaftlichen - Darstellungen von Reiseerfahrungen, von Erinnerung und von Identität nachhaltig in Zweifel zu ziehen. Damit reflektieren solche selbstreflexiven Spielarten des Reiseberichts zugleich grundlegende Einsichten poststrukturalistischer Literaturkritik und dekonstruktivistischer Sprachkritik, die nicht nur zu einer Herausforderung anderer auf Wirklichkeitsdarstellung verpflichteter Gattungen wie der Biographie und der Autobiographie geworden sind, sondern auch die Reiseliteratur vor grundlegende epistemologische Probleme stellen: [T]he epistemological challenge to biography has been intensified by poststructuralist and postmodernist critiques of language, selfhood, and historical narrative. If language cannot transparently convey reality, if the self is a fictive construct or mere multiplicity of subject positions, if narrative itself imposes a false coherence on events, then no biographical account of someone’s life can be in any sense ‚true‘. (Hoberman 2001: 111) Gerade die Bewusstmachung der Konventionalität der Gattungsschemata sowie das Ausstellen von intertextuellen Echos haben weitreichende Konsequenzen, weil sie die Authentizität und den Zeugnischarakter, die traditionellerweise dem Reisebericht zugeschrieben werden, unterminieren. Je mehr ein Reisebericht als Montage von Zitaten und Echos aus Prätexten der Gattung erkennbar wird, desto mehr büßt er unweigerlich seinen Zeugnischarakter ein. Die Bedeutung selbstreflexiver Reiseberichte für die Forschung resultiert nicht zuletzt daraus, dass sie in ihrer komplexen Struktur, ihrem intertextuellen Geflecht und ihrer Selbstreflexivität grundlegende Paradoxien der Wirklichkeitsdarstellung thematisieren und inszenieren, welche die Begriffe der Historiographie und des Reiseberichts nicht ganz verschleiern können. Michel de Certeau hat dies in Bezug auf den Begriff ‚Historiographie’ treffend dargelegt: Historiography (that is, ‚history‘ and ‚writing‘) bears within its own name the paradox - almost an oxymoron - of a relation established between two antimonic terms, between the real and discourse. Its task is one of connecting them and, at the point where this link cannot be imagined, of working as if the two were being joined. (de Certeau 1988: xxvii) Anknüpfend an de Certeau kann also mit Recht argumentiert werden, dass es sich auch bei dem Begriff des Reiseberichts letztlich um ein Paradoxon - fast schon um ein Oxymoron - handelt. Ebenso wie etwa das Ziel einer konventionellen Biographie und Autobiographie darin besteht, Leben und Schreiben bzw. Selbst (auto), Leben (bios) und Schreiben (graphia) miteinander zu verknüpfen und an den Punkten, wo dies unmöglich ist, so zu tun, als seien diese miteinander verknüpft, ist es das hervorstechende Merkmal des Reiseberichts, ebenfalls so zu tun, als ließen sich Reisen bzw. die bereisten Orte und die während einer Reise gemachten Erfahrungen mehr oder weniger unproblematisch sprachlich in einem Bericht darstellen. Selbstreflexive Reiseberichte schaffen hingegen ein Bewusstsein für eben jene Mechanismen, Ansgar Nünning 14 Schreibweisen und Techniken, mittels derer traditionelle, dokumentarische Reiseberichte das Vorhandensein dieser Lücke zwischen dem Reisen und dem Bericht darüber, d.h. zwischen dem Wirklichen und der sprachlichen Repräsentation, zu verschleiern suchen. Für die Theorie der Reiseliteratur leitet sich daraus zugleich die Frage ab, inwiefern und durch welche Faktoren die Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht vorgeprägt ist. Einen geeigneten theoretischen Bezugspunkt zur Beantwortung dieser Frage bietet Paul Ricœurs prozesshaftes Mimesis-Modell. Ricœur unterscheidet zwischen drei Ebenen bzw. Stufen der Mimesis, die er als Präfiguration, Konfiguration und Refiguration bezeichnet. Grundlegende Denkfigur der im Folgenden vorgestellten Konzeption ist ein dreidimensionales Modell, das sich an Ricœurs Konzept eines ‚Kreises der Mimesis‘ mit seinen drei Stufen der Präfiguration, Konfiguration und Refiguration anlehnt (vgl. Ricœur 1988 [1983]). Erstens sind Reiseberichte bezogen auf und präformiert durch eine vorgängige, außerliterarische Wirklichkeit (Präfiguration): Ebenso wie literarische Werke entstehen Reiseberichte im Kontext von Kulturen, in deren symbolischen Ordnungen bereits bestimmte Versionen und Konzepte von Reisen und Identität (objektiviert in sozialer Interaktion, Texten der literarischen Tradition und Medien anderer Symbolsysteme) kursieren. Zweitens stellen Reiseberichte die während einer Reise besuchten Orte und die gemachten Erfahrungen mit bestimmten narrativen Mitteln dar (Konfiguration): Dabei rekurrieren sie in der Regel auf bestimmte „Wahrnehmungsformen“ (Brenner 1989), auf individuelle und kollektive Gedächtnisinhalte sowie auf Stereotypen vom Eigenen und vom Anderen bzw. Fremden, gestalten oder konfigurieren sie jedoch durch spezifisch ästhetische, narrative und deskriptive Verfahren jeweils modellhaft neu. Solche literarischen Konfigurationen bzw. Inszenierungen des Reisens vermögen drittens auf die außerliterarische Wirklichkeit zurückzuwirken (Refiguration): Ebenso wie Literatur sind auch Reiseberichte an der Ausformung und Reflexion von kollektiven Identitäten und von verbreiteten Vorstellungen vom Reisen, von anderen Ländern und Völkern sowie von Selbst- und Fremdbildern (individueller wie kollektiver Art) in nicht unwesentlichem Maße beteiligt. Die These einer generellen Präfiguration des Reisens und des Reiseberichts lässt sich in mehrfacher Hinsicht präzisieren und differenzieren. Als erstes wäre die Präformation des Reisens und der Reiseliteratur durch individuell-biographische, soziale, politische, ökonomische, religiöse und kulturelle Aspekte zu nennen. Wie etwa Brunnbauer (1995) anhand der Darstellung der Fremde im englischen Palästina-Reisebericht des 19. Jahrhunderts gezeigt hat, sind Reiseberichte in hohem Maße durch den eigenkulturellen Erfahrungshintergrund der Verfasser vorgeprägt. Dazu zählen nicht nur individuelle Aspekte wie die jeweilige Lebensgeschichte, das Geschlecht oder der Beruf der Verfasser, sondern auch kollektive wie die jeweiligen sozialen, politischen und nationalen Bedingungen. Darüber hinaus sind das Reisen und der Reisebericht in hohem Maße durch die Gattungen und Medien des kulturellen Gedächtnisses vorgeprägt. Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 15 Diese Prämediation des Reisens und der Reiseliteratur besteht darin, dass Reisende oftmals durch Bild- und Printmedien bereits Kenntnisse und Vorstellungen von den bereisten Orten und Ländern erworben haben, die dann die Auswahl und Repräsentation des Dargestellten im Reisebericht mindestens ebenso sehr prägen wie die eigenen Erlebnisse. Durch die Medien des kulturellen Gedächtnisses kam es im Bereich des Reisens und des Reiseberichts zu weitreichenden ‚Kanonbildungen’, von denen die sogenannte Grand Tour zahlloser britischer Reisender sicherlich die kulturell bedeutendste war: Die Grand Tour durch Kontinentaleuropa stellte für die englischen Reisenden des 17. und 18. Jahrhunderts ein solches kanonisiertes Reiseprogramm dar, das in unzähligen, vielfältig aufeinander bezogenen Reiseführern und Reiseberichten Routen, Verhaltensweisen, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, Interessensschwerpunkte und Sehenswürdigkeiten ‚vorschrieb’. (Pfister 1993: 113f.). Besonders deutlich werden diese Präfiguration des Reisens als kultureller Praxis und die Prämediation des Reiseberichts, wenn man sich die kanonbildende und standardisierende Funktion vergegenwärtigt, die Gattungen wie Reiseführer und Reisemethodiken seit Jahrhunderten erfüllen. Die mit diesen Gattungen einhergehende „Methodisierung des Reisens“ (Stagl 1989: 140, 149), die auf das 16. Jahrhundert zurückgeht, führte nicht nur zur Verbreitung von Ratschlägen für das Reisen und zur Herausbildung von kanonisierten Reiseprogrammen, sondern auch zur Verbreitung von konventionalisierten „Beschreibungsmustern und beispielhaften Deskriptionen“ (ebd.: 141). Vor allem durch Reisemethodiken entstand ein regelrechter „Schematismus zur Beschreibung von Land und Leuten“ (ebd.: 142). Es ist offenkundig, dass die von dieser Gattung verbreiteten Ratschläge für das Reisen und Modelle für Beschreibungen die Reisepraxis seit der frühen Neuzeit nicht nur widerspiegeln, sondern „sie ihrerseits nachhaltig beeinflußt haben, sowohl was die von den Reisenden mitgebrachten Erlebnisdispositionen und Beschreibungsschemata als auch was die tatsächliche Durchführung der Reise und die Abfassung der darauf folgenden Berichte anbetrifft“ (ebd.: 145). Die Präfiguration der Wahrnehmung und Wirklichkeitserfahrung durch Reiseführer und Reisemethodiken bestand vor allem darin, dass sie kulturelle Muster für das Reisen und für Reiseberichte etablierten und popularisierten. Diese medial verbreiteten Ratschläge und Wahrnehmungsschemata stellten Vor-Bilder sowie Wahrnehmungs- und Darstellungsmodelle bereit, die weitreichende Wirkungen für die Praxis des Reisens und für die Abfassung von Reiseberichten hatten. Diese Wirkungen bestanden vor allem in einer Normierung und Standardisierung von Wahrnehmungsformen, in der Etablierung eines „Kanons des Sehens- und Wissenswerten“ (Opitz 1997: 35) sowie in der Verbreitung „realitätsbildender Paradigmen“ (ebd.: 32). Besonders deutlich werden die bisher erörterten Dimensionen der Präfiguration des Reiseberichts anhand der Wahrnehmung, Erfahrung und Bilder des Fremden, die durch den eigenkulturellen Erfahrungshintergrund, vor allem durch Schemata, Topoi sowie Auto- und Heterostereotype, geprägt Ansgar Nünning 16 sind: „Das Bild des Fremden, das der Reisebericht in seiner Darstellung entwirft, unterliegt so von vorneherein Vorstellungen, welche die eigene Kultur hervorgebracht hat.“ (Brenner 1989: 15) Jedes Image enthält daher zugleich eine Bewertung der Nation, auf die es sich bezieht, und eine implizite Charakterisierung derer, die solche Bilder prägen, denn die Art und Weise, wie ein Reisender eine andere Nation beurteilt und darstellt, lässt zugleich Rückschlüsse zu über dessen eigenes Selbstverständnis und Werte- und Normensystem. Allerdings prägen nicht nur eigenkulturell bedingte Selbst- und Fremdbilder die Art und Weise, in der der Reisende das Fremde wahrnimmt und in seinen Berichten darstellt. Vielmehr bestimmt auch „die Form, in der er mit dem Fremden aufgrund seiner mitgebrachten Voraussetzungen umgeht, die Möglichkeiten und Grenzen seiner Fremderfahrung“ (ebd.: 14). Daher sind als weitere Dimension der Präfiguration des Reiseberichts die Prägung seiner narrativen Makrostruktur durch Gattungskonventionen, Diskurse und zeitgenössische Erwartungshaltungen an das Genre zu berücksichtigen. Wie im Kontext der Reisemethodiken bereits deutlich geworden sein dürfte, gab es nicht nur für das Reisen selbst eine Vielzahl praktischer, ärztlicher, religiöser und sonstiger Ratschläge. Darüber hinaus enthielten bereits die Reisemethodiken des 16. und 17. Jahrhunderts vorgefertigte Beschreibungsmuster, exemplarische Deskriptionen, kurzgefasste Beschreibungen der wichtigsten Nationen und Regierungssysteme sowie „Instruktionen dafür, wie man auf Reisen Beobachtungen macht und Fragen stellt, wie man die gewonnenen Informationen festhält, ordnet und auswertet und worauf man überhaupt seine Aufmerksamkeit richten soll“ (Stagl 1989: 156). Solche kulturellen Reisemuster prägten somit nicht nur die Praxis des Reisens, sondern mindestens ebenso sehr die Anordnung und Darstellung der Reise in der Gattung des Reiseberichts. Durch dessen Standardisierung und Normierung verfestigten sich wiederum zeitgenössische Erwartungshaltungen an das Genre, was die Tendenz zur Konventionalisierung und Präfiguration des Reiseberichts weiter verstärkt hat. Die Präfiguration des Reiseberichts lässt sich in vielen Fällen auch auf der Ebene der Vertextung und Konfiguration des Erzählten nachweisen, denn oftmals sind auch die Texte vermeintlicher Augenzeugenberichte durch Intertexte, kulturell vorgefertigte Plots und Erzählmuster, konventionalisierte Darstellungsverfahren sowie ästhetische und gesellschaftliche Normen geprägt. Wie vor allem Manfred Pfister in einer Reihe wegweisender Forschungsbeiträge gezeigt hat (vgl. Pfister 1991, 1993, 2000), können sich „Reisende gar nicht der prägenden Kraft vorgegebener Texte entziehen. Reisen folgt Kanonbildungen, die selbst auf Texten beruhen und in diesen fortgeschrieben werden“ (Pfister 1993: 113). Opitz (1997: 30) geht sogar so weit, den für die Gattung des Reiseberichts oftmals als konstitutiv angesehenen „Realitätsbezug und Wahrheitsgehalt“ als „intertextuelle Variablen“ zu bezeichnen. Ebenso könnte man auch den von Reiseberichten oftmals evozierten Eindruck der Authentizität als einen rhetorischen ‚Realitätseffekt’ (sensu Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 17 Roland Barthes) bezeichnen, der nicht zuletzt auf intertextuellen Verweisen beruht. Um die verschiedenen Formen der intertextuellen Präfiguration des Reiseberichts zu erfassen, hat Manfred Pfister (1993) in einem Pionieraufsatz eine nützliche Typologie der Intertextualität im Reisebericht entwickelt. Er unterscheidet vier Formen von Intertextualität in der Reiseliteratur: verdrängte bzw. negierte Intertextualität, kompilatorische Intertextualität, huldigende Intertextualität und dialogische Intertextualität. Während die verdrängte bzw. negierte Intertextualität, die Pfister als die „am weitesten verbreitete und gleichzeitig verdeckteste Form der Intertextualität im Reisebericht“ (ebd.: 112) bezeichnet, darin besteht, dass der Reiseschriftsteller seine Vorgänger verschweigt oder aber punktuell gegen die Übermacht und prägende Kraft der Prätexte anschreibt, zeichnet sich kompilatorische Intertextualität dadurch aus, dass der Reisende mit Reisekompendien oder Reiseführern reist, diese immer wieder konsultiert und durch eigene Beobachtungen ergänzt (vgl. ebd.: 119). Die beiden anderen Formen von Intertextualität bestehen in der Huldigung eines Reisenden an seine(n) illustren Vorläufer bzw. in einem kritischen Dialog mit ihnen, durch den der „Reiseschriftsteller die Texte seiner Vorgänger korrigieren und durch einen neuen Text ersetzen möchte, der eine angemessenere Sicht des Fremden verspricht“ (Pfister 1993: 126). Ebenso wie die verschiedenen Arten der Präfiguration und Prämediation des Reiseberichts und des Reisens als kultureller Praxis unterstreichen auch diese Formen der Intertextualität nochmals das hohe Maß an Mittelbarkeit und Vorprägung der Wirklichkeitsdarstellung in der Gattung des Reiseberichts. Auch wenn viele Reiseberichte in der Tat auf eigenen Beobachtungen, Erfahrungen und Erlebnissen des Reisenden und Reiseschriftstellers gründen mögen, ändert dies doch nichts daran, dass sie zugleich als Resultate und Medien nicht bloß des individuellen, sondern auch des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses aufzufassen sind. Das kulturelle Gedächtnis stellt für Reisende eine Vielzahl von kulturellen Mustern und Schemata bereit, die nicht nur die Praxis des Reisens und die Wahrnehmung des Reisenden prägen, sondern auch die sprachliche Repräsentation der Reise, des Wahrgenommenen und des Erlebten in der Gattung des Reiseberichts. Eine nicht minder wichtige präfigurierende Wirkung geht schließlich von den Gattungskonventionen des Reiseberichts selbst aus. Wie sehr Gattungskonventionen und Gattungserwartungen sowohl das Erinnern als auch das Erzählen von Geschichten prägen, haben vor allem Arbeiten aus dem Bereich der narrativen Psychologie gezeigt. Jerome Bruner (1998: 54) geht gar so weit, „Gattungen als generische Phänomene aufzufassen, die konkrete Erzählungen erzeugen“. Damit rückt der Zusammenhang zwischen literarischen Gattungen und Gedächtnis bzw. rücken die Fragen in das Blickfeld, inwiefern man von einem ‚Gattungsgedächtnis’ sprechen kann und inwiefern Gattungen als „repositories of cultural memory“ (van Gorp/ Musarra-Schroeder 2000) fungieren. Ansgar Nünning 18 Die Vorstellung von Gattungen als Orten des Gedächtnisses ist für die Forschung zum Reisebericht nicht zuletzt deshalb von erheblichem Interesse, weil sie nochmals das hohe Maß an Präfiguration und intertextueller Bedingtheit der Wirklichkeitsdarstellung in diesem Genre unterstreicht. Das Konzept von Gattungen als ‚Orten‘ des Gedächtnisses - bzw. wie van Gorp und Musarra-Schroeder (2000) es nennen: „genres as repositories of cultural memory“ - verweist in paradigmatischer Weise auf die Vielfalt und Komplexität der Beziehungen zwischen Literatur und Gedächtnis. Gattungen können in mehrfacher Hinsicht als konventionalisierte Orte des Gedächtnisses verstanden werden: Sie spielen eine Rolle für das literarische, das individuelle und das kulturelle Gedächtnis; zugleich stellen sie eine wichtige Schaltstelle bei der Verbindung von und dem Austausch zwischen diesen drei Ebenen dar. Obgleich die Existenz von Gattungen zunächst einmal ein Phänomen des innerliterarischen, sich über intertextuelle Relationen konstituierenden Gedächtnisses der Literatur, ist, prägen Gattungskonventionen auch die Wirklichkeitsdarstellung in vermeintlich nicht- oder semi-fiktionalen Genres wie dem Reisebericht. Die auf die literarische Gedächtnisebene fokussierten Gattungskonzepte stehen eng mit den Annahmen der Topos- und Intertextualitätstheorien in Verbindung, die - wie wir gesehen haben - auch für den Reisebericht in hohem Maße relevant sind. Gerade stark konventionalisierte Gattungen wie der Reisebericht, der gesellschaftlich vorherrschende Auffassungen vom Reisen und kulturell verfügbare Plots reflektiert, sind Ergebnis grundlegender Prozesse des Gedächtnisses: der im Verlauf der Zeit immer wieder stattfindenden Wiederholung und Aktualisierung bestimmter kultureller Muster. Die enge Verknüpfung von literarischer und individueller Ebene wird gerade am Beispiel des Gattungsgedächtnisses des Reiseberichts sehr deutlich: Literarische Gattungen und ihre formalen Merkmale sind eng mit konventionalisierten Erwartungssystemen (kognitionspsychologisch gewendet: mit Schemata) verbunden. Repertoires gattungsspezifischer Formen gehören als Gegenstände des kollektiven Gedächtnisses zum gemeinsamen Wissen von Gesellschaften, das Individuen durch Sozialisation und Enkulturation erwerben. Aufgrund der Tatsache, dass Leserinnen und Leser Kenntnisse über Gattungskonventionen des Reiseberichts besitzen (Inhalte des literarischen und kollektiven Gedächtnisses also im individuellen Gedächtnis aktualisieren), gehen sie bei der Lektüre autobiographischer Reisetexte etwa davon aus, dass ein Reisebericht die wichtigsten Stationen und Episoden einer Reise des Verfassers schildert. Gattungsmerkmale leiten als Inhalte des literarischen Gedächtnisses und als zu Schemata verdichtete Bestände des - von Leserschaft und Autoren geteilten - kollektiven Gedächtnisses Sinnstiftungsstrategien und Erwartungen in bestimmte Bahnen: For the reader, genres constitute sets of expectations which steer the reading process. Generic repertoires may be regarded as bodies of shared knowledge which have been inferred from perceived regularities in individual literary texts. As sets Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 19 of norms of which both readers and writers are aware, genres fulfil an important role in the process of literary communication. (Wesseling 1991: 18). Im Hinblick auf die Leitfrage nach der Präfiguration der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht ist hervorzuheben, dass Gattungskonventionen nicht nur ein abrufbarer Gegenstand des individuellen (semantischen) Gedächtnisses sind. Vielmehr prägen solche Konventionen zudem das individuelle autobiographische Gedächtnis, das sowohl die Erinnerung an eine Reise als auch deren Vertextung prägt. Sie spielen nicht nur eine Rolle bei der Rezeption von Literatur, sondern sind - wie Vertreter der narrativen Psychologie gezeigt haben - auch ein unverzichtbarer Bestandteil bei der (Re-)Konstruktion und Deutung von Lebenserfahrung. Individuelle Erinnerungen im Rahmen des autobiographischen Gedächtnisses beruhen auf „symbolischen Transformationen gelebter Erfahrung“ (Polkinghorne 1998: 23). Erzählmuster spielen dabei, wie Jerome Bruner in seinem grundlegenden Aufsatz „The Narrative Construction of Reality“ betont, eine besonders wichtige Rolle: „[W]e organize our experience and our memory of human happenings mainly in the form of narrative.“ (Bruner 1991: 4) Durch narrative Formen und Gattungsmuster werden zuvor pränarrative und ungeformte Erfahrungen und Geschehnisse symbolisiert, angeordnet, gedeutet und so mithin erst sinnhaft erinnerbar. Gattungen sind somit nicht bloß ein zentraler Bestandteil unseres individuellen und literarischen Gedächtnisses, sondern sie (über)formen individuelle Erinnerungen und spielen auch bei der Konstruktion und Vermittlung von Lebenserfahrung im Rahmen eines Reiseberichts eine wichtige Rolle. 3. Zur narrativen Repräsentation und Transformation von Wirklichkeit in der Reiseliteratur: Grundzüge einer Narratologie und eines Kommunikationsmodells des Reiseberichts Die These, dass die Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht weder voraussetzungslos noch unmittelbar, sondern in mehrfacher Hinsicht präfiguriert und damit äußerst voraussetzungsreich ist, lässt sich durch eine Analyse der narrativen Repräsentation und Transformation von Wirklichkeit in der Reiseliteratur weiter erläutern. Dadurch kann gezeigt werden, dass zwischen dem Reisen und dem Bericht darüber, d.h. zwischen den wirklichen Beobachtungen und Erfahrungen des Reisenden und ihrer sprachlichen Repräsentation unweigerlich eine letztlich unüberbrückbare Kluft liegt. Kategorien der Erzählforschung bieten Anhaltspunkte, um das Verhältnis zwischen der Reise und ihrer sprachlichen Repräsentation genauer zu bestimmen. Dazu bietet sich der Rückgriff auf die auf Arbeiten von Karlheinz Stierle (1975) zurückgehende Begriffstriade ‚Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte‘ an, die Wolf Schmid (2005) mit dem Begriff der ‚Erzählung’, angesiedelt zwischen ‚Geschichte’ und ‚Text der Geschichte’ in ein vierstufiges Modell weiterentwickelt hat. Dabei geht es zwar eigentlich um die Ebe- Ansgar Nünning 20 nen fiktionaler Erzählungen, aber die Modelle lassen sich mit Gewinn adaptieren, um die verschiedenen Ebenen bzw. Stufen der narrativen Repräsentation und Transformation von Wirklichkeit in der Reiseliteratur näher zu bestimmen. Die tatsächlichen Erlebnisse und Erfahrungen eines Reisenden während einer Reise entsprechen dem Begriff des Geschehens, der von der erzählten Geschichte und von der sprachlichen Repräsentation der Reise in einem Bericht zu unterscheiden ist. Unter ‚Geschehen‘ verstehen Stierle und Schmid die Gesamtheit bzw. Totalität aller Situationen, Begebenheiten und Handlungen. Geschehen ist zeitlich und räumlich zunächst unbegrenzt, ein Kontinuum ohne Anfang und Ende und ohne Sinn, wobei das Geschehen im Falle einer Reise freilich in der Regel durch deren Vorbereitung, Beginn, Durchführung und Ende eingegrenzt und vorstrukturiert wird. Zu einer Geschichte wird Geschehen erst, wenn aus ihm ein ganz bestimmter zeitlicher Ausschnitt herausgegriffen und wenn dieser dann - nicht zuletzt durch Selektion und Akzentuierung - mit einem Sinn unterlegt und damit bereits in einer bestimmten Weise gedeutet bzw. interpretiert wird. Die jeweils erzählte Geschichte ist demnach das Resultat einer Auswahl von bestimmten Momenten und Qualitäten aus dem Geschehen, dessen amorphe Unendlichkeit dadurch in eine begrenzte, strukturierte und mit Sinn angereicherte Form bzw. Gestalt überführt wird. Die Geschichte enthält die ausgewählten Geschehensmomente in deren natürlicher Zeitfolge, ohne sie aber schon in einen Plot zu überführen. Letzteres geschieht erst in der Erzählung, die das Resultat von kompositorischer Formgebung bzw. Gestaltung ist. Während es sich bei den Ebenen der ‚Geschichte‘ und der ‚Erzählung‘ in Stierles Sinne um gleichsam nur durch Abstraktion zu ermittelnde Tiefenstrukturen handelt, ist die Ebene des Textes der Geschichte bzw. der Präsentation der Geschichte die einzige, die direkt beobachtbar ist. ‚Text‘ bzw. ‚Präsentation‘ der Geschichte meint somit deren mediale bzw. sprachliche Fixierung in einem Bericht. Im Falle von narrativen Texten ist das konstituierende Verfahren dieser Ebene das der Verbalisierung und Narrativisierung, im Falle von Bildern etwa das der Ikonisierung bzw. malerischen Gestaltung. Wenn wir also Reiseberichte betrachten, so haben wir es stets mit einer medialen bzw. textuellen (Re-)Präsentationen von Geschehen, Geschichten und Erzählungen zu tun. Während die Reise selbst aus einer kontingenten Abfolge von Beobachtungen, Erlebnissen und Erfahrungen besteht, handelt es sich beim Reisebericht um die Ebene des Textes der Geschichte bzw. der Präsentation der Geschichte, die ein Ensemble von diskursiven Repräsentationen darstellt. Die unmittelbare Relevanz dieser erzähltheoretischen Überlegungen für Repräsentationen von Reisen in der Gattung des Reiseberichts und für die Frage nach der (Un-)Mittelbarkeit der Wirklichkeitsdarstellung in diesem Genre gründet darin, dass sie einsichtig macht, dass das Geschehen einer Reise erst dann gesellschaftlich kommuniziert werden kann, wenn es in verständliche Erzählmuster und gattungskonforme Geschichten überführt wird. Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 21 Dazu bedarf es wiederum narrativer und rhetorischer Strategien, die dem Geschehen der Reise keineswegs inhärent sind, sondern erst durch den narrativen Diskurs als formgebende Deutungsmuster dem eigentlichen Geschehen gleichsam übergestülpt werden. Aus der Unterscheidung von Geschehen, Geschichte, Erzählung und Text der Geschichte ergibt sich noch eine weitere folgenreiche Konsequenz für die Analyse von Reiseberichten: Allein schon weil jede in einem Reisebericht erzählte Geschichte nicht nur das Resultat einer Auswahl aus dem Geschehen, sondern auch das Resultat von bestimmten Verfahren der narrativen Anordnung und (sprachlichen, erzählerischen, literarischen etc.) Gestaltung der ausgewählten Geschehensmomente ist, kann es von jeder Reise ebenso wie von jedem historischen Geschehen demzufolge potentiell eine Vielzahl von Geschichten, Erzählungen und konkreten Texten geben. Das Geschehen einer Reise wird durch Geschichten und Erzählungen überhaupt erst strukturiert. Letztere manifestieren sich ihrerseits erst in medialen Erzeugnissen, die sich wiederum durch die im Folgenden beschriebenen Verfahren der Konfiguration und Perspektivierung auszeichnen. Bei der Transformation des Geschehens der Reise in eine gattungskonforme und sinnhafte Geschichte lassen sich demnach wiederum drei Stufen bzw. Verfahren unterscheiden, wobei die Verfahren der Konfiguration und der Perspektivierung für die zweite bzw. die dritte Stufe eine zentrale Stellung einnehmen. Als erstes ist zu nennen die paradigmatische Achse der Selektion beschriebener und berichteter Elemente; zweitens die syntagmatische Achse der Kombination und Relationierung der ausgewählten Elemente, d.h. die narrative Konfiguration und andere makrostrukturelle Arten der Verknüpfung des Dargestellten in der Reiseliteratur; und drittens die diskursive Achse der Kommunikation des Erzählten durch bestimmte Verfahren der narrativen Vermittlung und Perspektivierung des Geschehens. Bereits ein Blick auf die paradigmatische Achse der Selektion beschriebener und berichteter Elemente verdeutlicht zum einen, dass zwischen der tatsächlichen Reise und ihrer sprachlich-narrativen Repräsentation in einem Reisebericht unweigerlich eine mehr oder weniger große Diskrepanz besteht, weil nur ein Bruchteil des tatsächlich Wahrgenommenen und Erlebten Eingang in den Reisebericht findet. Zum anderen zeigt sich, dass es allein schon durch die Auswahl der Elemente zu einer Hierarchisierung von Bedeutungen durch unterschiedliche Gewichtung kommt. Wie sehr allein die Selektion beschriebener und erzählter Elemente durch Reiseführer und Reisemethodiken vorstrukturiert wurde, hat Justin Stagl (1989) überzeugend dargelegt. Ungeachtet der „Programmatik des voraussetzungslosen Blicks“ (Pfister 1993: 110) waren sowohl die Praxis des Reisens als auch die Gattungsmuster des Reiseberichts so stark durch Reisemethodiken, Reiseführer, Prätexte und Bildmedien vorstrukturiert und konventionalisiert, dass in vielen Fällen bereits die Auswahl des Beschriebenen und Erzählten weitgehend standardisiert war, so dass „die Suche nach unvertexteten Freiräumen jenseits der standardisierten Sehenswürdigkeiten und Wahrnehmungsschemata“ (Pfister Ansgar Nünning 22 1993: 115) für Reisende und Reiseschriftsteller etwa im Falle von stark kanonisierten Reiseorten wie Paris oder Venedig zum Scheitern verurteilt war. Nicht minder stark konventionalisiert ist auch die zweite Stufe der Transformation des während einer Reise Wahrgenommenen und Erlebten durch deren sprachliche Repräsentation in einem Reisebericht: Auch die syntagmatische Achse der Kombination und Relationierung der ausgewählten Elemente orientiert sich nicht primär an den eigenen Erfahrungen während der Reise, sondern an gattungskonformen Mustern der narrativen Konfiguration. Seit dem Aufschwung der Reisemethodiken im 16. Jahrhundert wurde der ohnehin in der Natur des Reisens liegende Dreischritt von Vorbereitung der Reise, Beginn und Durchführung sowie Rückkehr durch eine Vielzahl praktischer Reiseratschläge noch weiter standardisiert (vgl. Stagl 1989: 154). Dadurch wurde jedoch nicht nur die Reise selbst in hohem Maße vorstrukturiert, sondern auch deren sprachlich-narrative Repräsentation im Reisebericht. Dies zeigt sich an der dominant linear-chronologischen Erzählstruktur der meisten traditionellen Reiseberichte, deren Konventionalität erst in den letzten Dekaden durch prononciert selbstreflexive Reisefiktionen wie die von Bruce Chatwin, V.S. Naipaul und W.G. Sebald bloßgelegt worden ist. Auch andere makro- und mikrostrukturelle Arten der Beschreibung von Orten und der Relationierung der ausgewählten Elemente in der Reiseliteratur unterliegen zu einem erheblichen Teil vorgegebenen Gattungsmustern, die - wie oben gezeigt wurde - Teil des literarischen und kulturellen Gedächtnisses sind. Wichtig für die Analyse jeglicher Repräsentationen von Reisen in Reiseberichten ist somit nicht nur die Auswahl der Geschehensmomente, sondern vor allem auch die narrative Anordnung des Materials zu bestimmten Erzählungen. Die Bedeutung der Strukturierungs- und Erzählverfahren besteht darin, dass erst durch die Techniken der Konfiguration Beziehungen zwischen den ausgewählten Elementen hergestellt und diese zu einem geordneten, sinnvollen Ganzen verknüpft werden: „First, the configurational arrangement transforms the succession of events into one meaningful whole […]. Second, the configuration of the plot imposes the ‚sense of an ending‘ […] on the indefinite succession of incidents.” (Ricœur 1984: 65) Die Konfiguration der ausgewählten Geschehensmomente, Orte, Personen und Situationen besteht in deren Relationierung und Verknüpfung zu einer bestimmten Geschichte. Vor allem den Arbeiten von Hayden White verdanken wir vielfältige Einsichten in die konstitutive Bedeutung von Narrativität für die Repräsentation von Ereignissen - Einsichten, die auch für die Frage nach der Transformation einer wirklichen Reise in das dominant narrative Genre des Reiseberichts aufschlussreich sind. Mit dem von ihm geprägten Begriff des emplotment hat White darauf aufmerksam gemacht, dass historische Fakten und Ereignisse stets in einen übergeordneten Handlungs- und Sinnzusammenhang eingebettet sind. Strategien des emplotment dienen dazu, die Kontingenz des historischen Geschehens zu überwinden, die ausgewählten Ereignisse erzähle- Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 23 risch zu strukturieren und zu einer bestimmten Geschichte zu formen: „Emplotment is the way by which a sequence of events fashioned into a story is gradually revealed to be a story of a particular kind.“ (White 1973: 7) Der Sinnzusammenhang ist weder dem historischen Geschehen noch den Ereignissen während einer Reise inhärent, sondern wird erst durch die Wahl eines bestimmten Gattungsmusters erzeugt. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die von White in Anlehnung an Northrop Frye entwickelte Typologie narrativer Formen und Tropen zusammenzufassen, aber es verdient hervorgehoben zu werden, dass Whites Thesen zur Bedeutung des emplotment für die Frage, wie aus einer wirklichen Reise das Ensemble von Beschreibungen und Geschichten wird, das für die Gattung des Reiseberichts kennzeichnend ist, in mehrfacher Hinsicht von zentraler Bedeutung sind: Whites Arbeiten haben den Blick dafür geschärft, dass nicht bloß die Erzählstrukturen der Historiographie, sondern alle Erzählformen und Erzählmuster selbst semantisiert, d.h. mit Bedeutung sowie ideologischen und politischen Implikationen aufgeladen, sind. Zudem hat er gezeigt, dass der narrative Diskurs „keineswegs ein Medium sei, mittels dessen sich historische Ereignisse und Prozesse neutral darstellen ließen“ (White 1987: 7). Vielmehr ordne der narrative Diskurs durch Verfahren des emplotment Ereignisse überhaupt erst in Erzählzusammenhänge ein. Daher statte die Form der sprachlichen und narrativen Darstellungsweise ‚Fakten’ und Ereignisse unweigerlich mit Bedeutung aus. Ausgehend von dieser Einsicht, dass die narrative Konfiguration stets ein Modus der Sinnstiftung ist, hat Andrea Gutenberg in ihrer sehr lesenswerten Studie Mögliche Welten (2000) die verschiedenen Dimensionen der Bedeutungskonstituierung durch die Verfahren des emplotment präzise herausgearbeitet. Auf der paradigmatischen Achse kommt es bereits durch die Selektion und Gewichtung der ausgewählten Plotelemente zu einer „Hierarchisierung von Bedeutungen“ (ebd.: 118). Entscheidend für die narrative Sinnstiftung sind zweitens die Verfahren der Plotkonfiguration auf der syntagmatischen Achse, d.h. die Anordnung, Kombination und kausallogische oder sonstige Verknüpfung von Handlungselementen. Je nach den gewählten Prinzipien der Relationierung von Plotelementen und nach den favorisierten makrostrukturellen Konfigurationstypen kann ein Geschehen in ganz unterschiedliche Geschichten und Erzählungen transformiert werden (vgl. ebd.: 117ff.). Drittens spielt die diskursive Achse eine zentrale Rolle, denn die explizite und implizite Sinnkonstitution hängt sowohl in einem Roman als auch in einem Reisebericht nicht zuletzt maßgeblich von der erzählerischen Vermittlung und Perspektivierung ab. Diese dritte Stufe der Transformation und narrativen Repräsentation von Wirklichkeit in der Reiseliteratur wird durch Gattungskonventionen ebenfalls mehr oder weniger stark vorgeprägt. Es entspricht dem Mythos der Augenzeugenschaft, dass Reiseberichte in der großen Mehrzahl in der ersten Person Singular abgefasst sind und dass die Perspektive des Ich-Erzählers im Zentrum steht. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die diskursive Achse der Kommunikation des Erzählten, denn Ansgar Nünning 24 dadurch sind die erzählerische Vermittlung und Perspektivierung des Geschehens weitgehend an die eigenkulturell geprägte Wahrnehmungs- und Beurteilungsperspektive des ‚Reiseschreibers’ (Opitz 1997) gebunden. Gerade die weit reichende Bedeutung der Perspektivität ist durch die große Resonanz, die Hayden Whites metahistorische Arbeiten in den Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaften gefunden haben, zu Unrecht in den Hintergrund gerückt. Dabei ist diese jedoch ein zentraler Aspekt der Repräsentation von Geschichte(n) und Wirklichkeit in der Historiographie wie im Reisebericht und als mindestens ebenso wichtig anzusehen wie der Aspekt des emplotment. Bei allen Transformationsprozessen, durch die Begebenheiten oder Vorfälle zu Erzählungen werden, sind verschiedene Dimensionen von Perspektivität von konstitutiver Bedeutung (vgl. Schmid 2005: 241-272, bes. das Modell auf S. 267): Bereits bei der Auswahl bestimmter Geschehensmomente einer Reise spielen nicht nur die räumliche und zeitliche Wahrnehmungsperspektive des Beobachters bzw. Reisenden eine große Rolle, sondern auch dessen ideologische Perspektive, d.h. dessen Werte und Normen. Das gleiche gilt für die Prozesse der Komposition und Konfiguration, durch die aus einer Geschichte eine Erzählung wird, sowie der Verbalisierung, die den Text bzw. die Präsentation der Erzählung erzeugt. Die Erzähltheorie bekräftigt nochmals nachdrücklich die These, dass Mittelbarkeit ein grundlegendes Charakteristikum von Erzählungen ist und dass daher auch bei der narrativen Repräsentation von Reisen stets auf verschiedenen Ebenen Techniken der Perspektivierung eine Rolle spielen. Gerade im Falle von Reisen ist die weit reichende Bedeutung, die die Perspektive für die Repräsentation von Wahrnehmungen und Erfahrungen hat, unmittelbar evident. Die Relevanz der verschiedenen Dimensionen von Perspektivität, d.h. der räumlichen, zeitlichen, perzeptiven und ideologischen Dimension, für die oben erläuterten Ebenen der narrativen Textkonstitution gründet dabei darin, dass die von Reiseschreibern produzierten Repräsentationen, die von ihnen verwendeten Techniken der Wirklichkeitsdarstellung sowie ihr Anspruch auf Wahrheit maßgeblich von ihrer Wahrnehmungsperspektive, ihren Werten und Normen und ihren ideologischen Voraussetzungen abhängen. Wie die Geschichte dieser Gattung unterstreicht, gibt es überhaupt nur perspektivisch gefärbte Repräsentationen des Reisens. Allerdings sind nicht nur die Perspektiven der vermeintlichen Augenzeugen und Verfasser von Reiseberichten zu berücksichtigen, sondern auch die von der Gattung bereits vorgegebenen gattungsspezifischen Darstellungskonventionen. Die Narratologie hat ein differenziertes Instrumentarium für die Analyse von Formen und Verfahren der Perspektivierung entwickelt, das auch für die Untersuchung der Repräsentation von Reisen in der Gattung des Reiseberichts von einigem Nutzen sein kann (vgl. Nünning/ Nünning 2000, 2001/ 2006). Der Nutzen besteht zunächst einmal darin, dass vor dem Hintergrund der Erzähltheorie die stillschweigende Gleichsetzung von Autor, Erzähler und Protagonist, wie sie sowohl für die Autobiographie als auch für Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 25 die Reiseliteratur üblich ist, in Zweifel zu ziehen und durch ein differenzierteres Modell zu ersetzen ist. Geht man hingegen vom Kommunikationsmodell narrativer Texte aus, dann wird deutlich, dass einiges dafür spricht, ein analoges Kommunikationsmodell des Reiseberichts zu entwerfen und dabei verschiedene Ebenen und Instanzen zu unterscheiden. Ähnlich wie in der sogenannten Ich- Erzählsituation (sensu Stanzel) kann man auch im Falle des Reiseberichts zwischen einem erzählenden Ich und einem erlebenden Ich unterscheiden. Während das erzählende Ich diejenige Instanz ist, die aus der Rückschau ihre früheren Lebenserfahrungen und Reiseerlebnisse wiedergibt, handelt es sich beim erlebenden Ich um das ‚frühere Selbst’ des erzählenden Ich, um eine Figur in der erzählten Welt. Wie in der Autobiographie ist auch im Falle des Reiseberichts davon auszugehen, dass Autor, Erzähler und Protagonist zwar personal identisch sind, dass es aber durchaus sinnvoll ist, terminologisch zwischen dem tatsächlichen Autor (als historisch-biographischem Subjekt und Textproduzenten), dem Reiseschreiber (als dem im Text in Erscheinung tretenden Erzählsubjekt des Reiseberichts) und dem Reisendem (als einer erzählten Figur in der Welt, in der die Reise stattgefunden hat) zu unterscheiden. Bei dem Reiseschreiber handelt es sich, wie vor allem Alfred Opitz (1997) überzeugend herausgearbeitet hat, um eine genretypische Figur der Gattung des Reiseberichts, mithin selbst um eine Gattungskonvention und nicht einfach um den Verfasser selbst. Diese Gattungskonvention unterliegt ihrerseits natürlich historischer und kultureller Variabilität und hat im Laufe der Jahrhunderte durchaus „figurative Varianz“ (ebd.: 72) erfahren. Ebenso wie jeder Erzähler im Roman ein textuelles und rhetorisches Gestaltungsmittel ist, bietet auch die jeweilige Ausgestaltung der Figur des Reiseschreibers vielfältige Möglichkeiten der Stilisierung dieser Sprecherinstanz. Das gleiche gilt für die Formen der Leseranrede, die ebenfalls primär als ein rhetorisches Mittel aufzufassen sind. In Analogie zur Differenzierung von Autor, Reiseschreiber und Reisendem bietet es sich daher an, auch auf der Empfängerseite des Kommunikationsmodells zwischen den realen Lesern, dem textuellen Adressaten und den auf der erzählten Welt dargestellten Personen bzw. Kommunikationspartnern des Reisenden zu unterscheiden. Damit wird nochmals deutlich, dass die Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht weder unvermittelt noch authentisch, sondern vielmehr das Resultat eines mehrstufigen Transformationsprozesses ist, im Zuge dessen aus den Geschehnissen einer Reise eine mehr oder weniger kohärente Geschichte und Erzählung geformt wird, die ihrerseits durch Verfahren der Perspektivierung sowie durch rhetorische Strategien gekennzeichnet ist. Auch aus narratologischer Sicht ist somit die noch immer verbreitete Ansicht, der Reisebericht bzw. travelogue biete eine authentische und unvermittelte Wiedergabe rein individueller Eindrücke und Erlebnisse und sei das „letzte Refugium einer Ansgar Nünning 26 romantischen Unmittelbarkeitsästhetik“ (Pfister 1993: 111), grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. 4. Grundriss einer Typologie und Poetik der Reiseliteratur Aus diesen narratologischen Überlegungen lassen sich zugleich einige Kriterien für eine Typologie und Poetik der Reiseliteratur ableiten, auch wenn diese im Rahmen dieses Aufsatzes nur noch skizziert, nicht aber vollständig entwickelt werden können. In Anknüpfung an die im vorigen Abschnitt dargelegten Überlegungen können zunächst einmal die Selektionsprinzipien und dominanten Strukturmerkmale zugrunde gelegt werden, um die Bandbreite der Formen von Reiseliteratur zu klassifizieren. Darüber hinaus wird eine Reihe von weiteren Kategorien herangezogen, die für die Beschreibung und typologische Differenzierung verschiedener Ausprägungen der Reiseliteratur relevant sind. Die Kriterien lassen sich fünf Gruppen zuordnen, je nachdem ob sie sich auf die Selektionsstruktur und die dominanten Referenzbereiche, die Relationierung und Gestaltung der Erzählebenen, den dominanten Zeitbezug und die Vermittlungsformen oder auf das Wirkungs- und Funktionspotential verschiedener Typen von Reiseliteratur beziehen. Nicht zuletzt angesichts der Zunahme selbstreflexiver Tendenzen in der Gattung des Reiseberichts, wie sie exemplarisch anhand der Werke von Bruce Chatwin und W.G. Sebald zu beobachten ist, liegt es nahe, in Analogie zu der Unterscheidung zwischen historischem Roman und historiographischer Metafiktion (vgl. Nünning 1995a und 1995b) und zwischen fiktionalen Biographien und Metabiographien (vgl. Nünning 2000) auch zwischen traditionellen realitätsbezogenen Reiseberichten und selbstreflexiven Meta- Reisefiktionen zu unterscheiden. Den einen Pol bilden solche Reiseberichte, die sehr heteroreferentiell sind und in denen die Erfahrungen des Reisenden den dominanten außertextuellen Referenzbereich bilden. Die Wirklichkeitsdarstellung konzentriert sich bei diesem Typus weitgehend auf die diegetische Kommunikationsebene der dargestellten bzw. erzählten Welt, auf der die Wiedergabe der Episoden der Reise und der Erlebnisse des Reisenden im Zentrum stehen. Hingegen dient die extradiegetische Ebene, die gemäß der Konvention des „transparenten Ich“ (Opitz 1997: 95) gestaltet ist, primär zur neutralen Vermittlung des Geschehens während der Reise, ohne Aufmerksamkeit auf die Erzählinstanz bzw. den Reiseschreiber, die Prozesse der narrativen Strukturierung oder die retrospektive Sinnbildung zu ziehen. Am entgegengesetzten Ende der Skala sind selbstreflexive Meta-Reisefiktionen wie die von Chatwin und Sebald angesiedelt, deren Selektionsstruktur primär autoreferentiell ist und die eine ausgeprägte Dominanz der intertextuellen fiktionalen und metafiktionalen Elemente gegenüber Aspekten der außertextuellen Realität aufweisen. In solchen Reisefiktionen stellen nicht die Ereignisse während der Reise den primären oder alleinigen Bezugspunkt dar, sondern sind Fragen der Reiseliteratur, ihrer Intertextualität sowie Geschichten anderer als der primäre Referenzbereich der außer- und intertex- Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 27 tuellen Bezüge anzusehen. Diese Verlagerung auf selbstbezügliche Komponenten und Reflexionen über Probleme des autobiographischen Schreibens über Reisen geht oft einher mit einem hohen Grad an Explizität der erzählerischen Vermittlung: Der Reiseschreiber fungiert nicht mehr als ‚transparentes Ich’ oder als ein transparentes Medium der Wirklichkeitswiedergabe; vielmehr sind die Ebene der narrativen Vermittlung und literarischen Gestaltung so auffällig gestaltet, dass sie gegenüber der Ebene des Geschehens in den Vordergrund rücken. Im Gegensatz zu konventionellen Reiseberichten verlagern selbstreflexive Meta-Reisefiktionen den Akzent somit von der Darstellung der Geschehnisse der Reise auf die oft selbstbezügliche Auseinandersetzung mit epistemologischen, methodischen oder darstellungstechnischen Problemen der Rekonstruktion und narrativen Wiedergabe einer Reise und eines Lebens. Nicht die bereisten Orte oder die Erfahrungen während der Reise - also das ‚eigentliche Objekt’ des traditionellen Reiseberichts - stehen somit im Mittelpunkt, sondern die rekonstruierende und reflektierende Tätigkeit des Reiseschreibers als forschendem und schreibendem Subjekt. Diese Akzentverlagerung verleiht solchen Werken ein hohes Maß an literarischer Selbstbezüglichkeit, was durch die Dichte und Streubreite intertextueller Bezüge noch unterstrichen wird. Die bisherige Kontrastierung von zwei diametral entgegengesetzten Idealtypen der Reiseliteratur darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich keineswegs um eine binäre Opposition handelt; vielmehr entfaltet sich zwischen diesen beiden Polen ein breites Spektrum verschiedener Erscheinungsformen. Im Gegensatz zu dichotomischen Klassifikationen ist daher von einer graduellen Skalierung verschiedener Ausprägungen von (Meta-) Reiseberichten auszugehen, der zufolge sich spezifische Realisationsformen auf einem Kontinuum einordnen lassen. Obgleich die Übergänge zwischen ihnen fließend sind und es gerade im Bereich zeitgenössischer (Meta-)Reiseliteratur viele hybride Genres bzw. Mischformen gibt, lassen sich mit Hilfe der genannten Kriterien verschiedene Abstufungen zwischen den Polen ermitteln und die Merkmale unterschiedlicher Gattungsausprägungen beschreiben. Überblickt man die Bandbreite der Gattungsausprägungen, so können unter Rückgriff auf die Kriterien der Selektionsstruktur, des dominanten Zeitbezugs (also des Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart) sowie der Ebenen und Formen der Wirklichkeitsdarstellung vier Typen von Reiseberichten unterschieden werden: dokumentarische Reiseberichte, realistische Reiseberichte, revisionistische Reiseberichte sowie selbstreflexive Meta-Reisefiktionen. Dokumentarische Reiseberichte weisen eine Vielzahl von Realitätsreferenzen auf und legen ihren Fokus auf die Darstellung historisch belegter Orte und Ereignisse. In realistischen Reiseberichten wird die Reise ohne Anspruch auf dokumentarische Exaktheit wiedergegeben, sondern mittels konventioneller erzählerischer Mittel repräsentiert. Fokus ist die Darstellung eines Plots, der vor dem Hintergrund einer Reise entfaltet wird. Ansgar Nünning 28 Obwohl dokumentarische und realistische Reiseberichte historisch die dominanten Gattungsausprägungen sein dürften, sind es doch die beiden anderen Typen, die von besonderem Interesse sind, wenn es um ein gesteigertes Maß an gattungsspezifischer Selbstreflexivität geht. Revisionistische Reiseberichte zeichnen sich durch ein hohes Maß an dialogischer und kritischer Intertextualität (vgl. Pfister 1993: 124ff.) aus. Im Zentrum steht dabei das Bemühen, konventionalisierte Beschreibungen umzuschreiben und dabei zugleich althergebrachte Gattungsmuster einer kritischen Prüfung zu unterziehen und zu verändern. Im Gegensatz zu selbstreflexiven Meta-Reisefiktionen fehlt ihnen jedoch ein ähnliches hohes Maß an Selbstbezüglichkeit bzw. Autoreferentialität, mit welchem der Prozess der (Re-)Konstruktion der Reise oder die Fiktionalität des Textes bewusst gemacht werden. Ähnlich wie der postmoderne historische Roman verändern revisionistische Reiseberichte dennoch sowohl den ‚Inhalt‘ als auch die Konventionen der Gattung. Bei dieser graduellen Skalierung von Gattungsausprägungen verlagern sich die Dominanzverhältnisse von links nach rechts zwischen Heteroreferentialität und Autoreferentialität, zwischen Wirklichkeitsdarstellung und Reflexion über Probleme des Be-Schreibens und Erzählens von Reisens sowie zwischen der Schilderung der Geschehnisse während einer Reise auf der diegetischen Ebene zur oftmals metafiktionalen Reflexion über Probleme der Gattung auf der extradiegetischen Ebene. 5. Ausblick: Zum Funktionspotential selbstreflexiver Meta-Reisefiktion Mindestens ebenso wichtig wie eine typologische Differenzierung der verschiedenen Erscheinungsformen von Reiseliteratur erscheint jedoch die Frage nach den Funktionen, die selbstreflexives Schreiben gerade in diesem Genre erfüllen kann. Eine zentrale Funktion selbstreflexiver Meta-Reisefiktionen besteht darin, jene Paradoxien von ‚Historio-graphie’, ‚Auto-bio-graphien’ und ‚Reise-berichten’ bloßzulegen, die mit jedem Versuch verbunden sind, die zwei bzw. drei Bestandteile dieser Komposita in den jeweiligen Gattungen zur Deckung zu bringen. Ebenso wie fiktionale Metaautobiographien mit literarischen Mitteln verdeutlichen, wie schwierig es ist, eine Beschreibung ( graphia) des Lebens (bios) eines Menschen durch diesen selbst (auto) zu liefern (vgl. Nünning 2007), decken auch selbstreflexive Meta-Reisefiktionen auf, dass zwischen der wirklichen Reise und ihrer sprachlich-narrativen Repräsentation in einem Bericht unweigerlich eine tiefe Kluft bleiben wird. Die Aufgabe eines Autobiographen und eines Reiseschreibers, die antinomischen Bereiche der Wirklichkeit (des eigenen Lebens bzw. einer Reise) und der sprachlichen Darstellung (des Lebens bzw. der Reise), zu verbinden und dort, wo die Verbindung schwer herzustellen oder gar unvorstellbar ist, so zu tun, als ob sie dennoch möglich wäre, wird in fiktionalen Metaautobiographien und selbstreflexiven Meta-Reisefiktionen als letztlich unlösbar dargestellt. Autoren fiktionaler Metaautobiographien und zeitgenössischer Me- Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 29 ta-Reisefiktionen verzichten bewusst darauf, im Stile einer herkömmlichen fiktionalen Autobiographie oder eines dokumentarischen Reiseberichts die Distanz, die zwischen dem Leben oder einer Reise und deren Darstellung im Medium eines Textes liegt, zu überdecken. Vielmehr nutzen sie ein breites Spektrum von innovativen literarischen, intertextuellen und intermedialen Darstellungstechniken, um die Unüberbrückbarkeit der Kluft zwischen der geschichtlichen Wirklichkeit und den traditionellen Gattungs- und Erzählmodellen der Autobiographie bzw. des Reiseberichts offenzulegen. Ähnlich wie fiktionale Metaautobiographien belassen es selbstreflexive Meta-Reisefiktionen, so die freilich erst noch zu belegende funktionsgeschichtliche These, jedoch keineswegs dabei, das Verhältnis zwischen Geschichte (im Sinne eines vergangenen Ereigniszusammenhangs) und Literatur - zwischen vergangenen Erfahrungen und Erlebnissen und deren sprachlicher Repräsentation in einem Text - zu problematisieren. Vielmehr übernehmen sie selbst aktive und produktive Funktionen als Medium der kulturellen Erinnerung, der autobiographischen Sinnstiftung, der gattungsbezogenen Selbstreflexion sowie der Gattungskritik. Sie reflektieren nicht bloß die postmoderne Einsicht in die Textualität der historischen und autobiographischen Überlieferung, sondern sie entwickeln selbst eigenständige neue Formen von Reisedarstellungen, die herkömmliche Ansichten von den Formen und Funktionen des Reisens und des Reiseberichts in Zweifel ziehen. Fungierten Reiseberichte traditionell u.a. als Medium individueller und nationaler Identitätskonstruktion, so avancieren selbstreflexive Meta-Reisefiktionen zu einem Medium des Gattungsgedächtnisses, der Gattungskritik (vgl. Nadj 2006) und der Reflexion über die Probleme und Grenzen der Wirklichkeitsdarstellung. Sie decken nicht nur die in diesem Beitrag analysierte mehrfache Präfiguration und Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht auf, sondern erschließen zugleich neue literarische Formen der Repräsentation von Erfahrungen, Reisen und Subjektivität. Für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts danke ich herzlich meinem Mitarbeiter René Dietrich. Ansgar Nünning 30 Bibliographie Bode, Christoph. 1994. „Beyond/ around/ into one’s own: Reiseliteratur als Paradigma von Welterfahrung.” In: Poetica 26: 70-87. ___ (Hg.). 1997. West Meets East. Klassiker der britischen Orient-Reiseliteratur. Heidelberg: Winter. Brenner, Peter J. (Hg.). 1989. Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. (mit einer ausführlichen „Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur zur Geschichte des Reisens und des deutschen Reiseberichts“, ebd. 508-538). Bruner, Jerome. 1991. „The Narrative Construction of Reality.“ In: Critical Inquiry 18: 1- 21. ___. 1998. „Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen.“ In: Jürgen Straub (Hg.). Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 46-80. Brunnbauer, Barbara. 1995. Die Darstellung der Fremde im englischen Palästina- Reisebericht des 19. Jahrhunderts. Trier: WVT. Certeau, Michel de. 1984. The Practice of Everyday Life. Berkeley: University of California Press (Franz. Orig.: Arts de faire. Paris: Union générale d’édition 1980). ___. 1988. The Writing of History. New York: Columbia University Press (Franz. Orig.: L’écriture de l’histoire. Paris: Gallimard 1975). Franke, Susanne. 1995. Die Reisen der Lady Craven durch Europa und die Türkei 1785- 1786. Text, Kontext und Ideologien. Trier: WVT. Gorp, Hendrik van & Ulla Musarra-Schroeder (Hgg.). 2000. Genres as Repositories of Cultural Memory. Amsterdam/ Atlanta: Rodopi. Graue, Frank. 1991. Schönes Land: Verderbtes Volk. Das Spanienbild britischer Reisender zwischen 1750 und 1850. Trier: WVT. Grzonka, Claudia. 1997. Weibliche Blicke auf den Mittleren Osten im 19. Jahrhundert. Die Erfahrung der Fremde und des Selbst bei Lucie Duff Gordon, Isabel Burton und Anne Blunt. Trier: WVT. Gutenberg, Andrea. 2000. Mögliche Welten. Plot und Sinnstiftung im englischen Frauenroman. Heidelberg: Winter. Harbsmeier, Michael. 1982. „Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher Reisebeschreibungen.“ In: Antoni Maczak & Habs Jürgen Teuteberg (Hgg.). Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung. Wolfenbüttel: Herzog-August Bibliothek. 1-31. Hoberman, Ruth. 2001. „Biography: General Survey.“ In: Margaretta Jolly (Hg.). Encyclopedia of Life Writing: Autobiographical and Biographical Forms. Vol. 1: A-K; Vol. 2: L-Z. London/ Chicago: Fitzroy Dearborn. Vol. 1. 109-112. Holfter, Gisela M.B. 1996. Erlebnis Irland. Deutsche Reiseberichte über Irland im zwanzigsten Jahrhundert. Trier: WVT. Koch, Dieter. 1989. Schönheit und Dekadenz. Die Italienerfahrung britischer Reisender im 19. Jahrhundert. Trier: WVT. Korte, Barbara. 1994. „Der Reisebericht aus anglistischer Sicht: Stand, Tendenzen und Desiderate seiner literaturwissenschaftlichen Erforschung.“ In: ZAA 42.4: 364-372. ___. 1996. Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Zur Präfiguration / Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht 31 Krafczyk, Judith. 1997. An Antipodean England. Erfahrungsberichte viktorianischer Frauen über Australien und Tasmanien 1830-1860. Trier: WVT. Maurer, Michael. 1989. „Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten. Deutsche Englandreiseberichte des 19. Jahrhunderts.“ In: Brenner 1989. 406-433. Nadj, Julijana. 2003. „Die fiktionale Metabiographie als kritisches Gattungsgedächtnis.“ In: Astrid Erll, Marion Gymnich & Ansgar Nünning (Hgg.). Literatur - Erinnerung - Identität: Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: WVT. 211-226. ___. 2006. Die fiktionale Metabiographie: Gattungsgedächtnis und Gattungskritik in einem neuen Genre der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. Neuber, Wolfgang. 1989. „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizzen einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik.“ In: Brenner 1989. 50-67. Nünning, Ansgar. 1995a. Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier: WVT. ___. 1995b. Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 2: Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen des historischen Romans in England seit 1950. Trier: WVT. ___. 2000. „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion.“ In: Christian von Zimmermann (Hg.). Fakten und Fiktionen: Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970. Tübingen: Narr. 15-36. ___ (Hg.). 2004 [1998]. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart/ Weimar: Metzler. ___. 2005. „Fictional Metabiographies and Metaautobiographies: Towards a Definition, Typology and Analysis of Self-Reflexive Hybrid Metagenres.“ In: Werner Huber, Martin Middeke & Hubert Zapf (Hgg.). Self-Reflexivity in Literature. Würzburg: Königshausen & Neumann. 195-209. ___. 2007. „Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen.“ In: Edgar Platen & Beactrice Sandberg (Hgg.). Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 2: Grenzen der Erinnerung. München: Iudicum (im Druck). Nünning, Ansgar & Vera Nünning (Hgg.). 2000. Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier: WVT. Nünning, Vera & Ansgar Nünning. 2006 [2001]. Grundkurs anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft. 5. Aufl. Stuttgart: Klett. Opitz, Alfred. 1997. Reiseschreiber. Variationen einer literarischen Figur der Moderne vom 18.-20. Jahrhundert. Trier: WVT. Pfister, Manfred. 1991. „ ‚ The Fatal Gift of Beauty’: Das Italien britischer Reisender.“ In: Hermann H. Wetzel (Hg.). Reisen in den Mittelmeerraum. Passau: Passavia Universitätsverlag. 55-101. ___. 1993. „Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext.” In: Herbert Foltinek, Wolfgang Riehle & Waldemar Zacharasiewicz (Hgg.). Tales and ‚their telling difference’. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Heidelberg: Winter. 109- 132. ___ (Hg.). 1997. Journal for the Study of British Cultures 4.1-2. The Discovery of Britain. Tübingen: Narr. ___. 2000. „Robert Byron and the Modernization of Travel Writing.” In: Poetica 31.3-4: 462-487. Pfister, Manfred & Barbara Schaff (Hgg.). 1999. Venetian Views, Venetian Blinds. English Fantasies of Venice. Amsterdam/ Atlanta: Rodopi. Ansgar Nünning 32 Polkinghorne, Donald E. 1998. „Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein.“ In: Jürgen Straub (Hg.). Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 12-45. Ricœur, Paul. 1988. Time and Narrative, Bd. 1. Chicago/ London: University of Chicago Press [Franz. Orig.: Temps et récit. Paris: Seuil 1983]. Schmid, Wolf. 2005. Elemente der Narratologie. Berlin/ New York: de Gruyter. Stagl, Justin. 1989. „Die Methodisierung des Reisens im 16. Jahrhundert.“ In: Brenner 1989. 140-177. Stammwitz, Kati. 2000. ‚Travel Writing the Empire doesn’t imply’. Studien zum postkolonialen Reisebericht. Trier: WVT. Stierle, Karlheinz. 1975. „Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte.“ In: ders. Text als Handlung. München: Fink. Straub, Jürgen. 1998. „Geschichten erzählen, Geschichten bilden: Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung.“ In: ders. (Hg.). Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 81-169. Wesseling, Elisabeth. 1991. Writing History as a Prophet: Postmodernist Innovations of the Historical Novel. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins. White, Hayden. 1973. Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe. Baltimore, Md./ London: Johns Hopkins University Press. ___. 1987. Die Bedeutung der Form: Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M.: Fischer. (Engl. Original: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore, Md./ London: Johns Hopkins University Press 1987). Wiedemann, Hermann. 1999. Montaigne und andere Reisende der Renaissance. Trier: WVT. Willhardt, Jens. 2000. Island. Von der Scheußlichkeit zum Schauspiel - Bilder und Topoi in deutschen Reiseberichten. Trier: WVT. Würzbach, Natascha. 2006. Raumerfahrung in der klassischen Moderne: Großstadt, Reisen, Wahrnehmungssinnlichkeit und Geschlecht in englischen Erzähltexten. Trier: WVT. Thorsten M. Päplow Reisen durch und mit Text: Reiseliteraturtypische Intertextualität in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch Die Bibliothek wird=ä - relativ wenig benützt. - Von den Wissenschaftlern ja. Aber die Herren Dichter ... (Schmidt 1993: 118) 1. Reiseliteratur und Intertextualität Reisetexten traut man in der Regel nicht viel zu. Unabhängig davon, mit welchem Etikett - Reisebericht, Reiseerzählung, Reisetagebuch, Reiseroman etc. - sie jeweils mehr oder weniger treffend versehen werden, werden Reisetexte in der Forschung auffallend „stiefmütterlich“ (11) behandelt, wie Ansgar Nünning in seinem Beitrag in dem hier vorliegenden Band festhält. Peter J. Brenners Anmerkung, dass der „Rang“ des Reiseberichts „als eine ernstzunehmende literarische Gattung“ (1989b: 7) mit deutlichen Fragezeichen versehen worden ist und immer noch wird, bietet nicht nur Anhaltspunkte für Rückschlüsse darauf an, weshalb sich die Literaturforschung verhältnismäßig wenig mit Reisetexten auseinandersetzt, sondern wirft hinsichtlich des Kontexts von Reiseliteratur und Zwischentextlichkeit gleichfalls eine weitere Grundfrage auf, nämlich ob Reisetexte überhaupt ‚intertextualitätsfähig’ sind. Dies steht neben der relativen Ungewissheit des Literaturstatus von Reisetexten in einem engen Zusammenhang damit, welchen Intertextualitätsbegriff man verwendet. Dazu schreibt Manfred Pfister in seinem Artikel „Konzepte der Intertextualität“ zusammenfassend: Die Theorie der Intertextualität ist die Theorie der Beziehungen zwischen Texten. Dies ist unumstritten; umstritten jedoch ist, welche Arten von Beziehungen darunter subsumiert werden sollen. Und je nachdem, wieviel man darunter subsumiert, erscheint Intertextualität entweder als eine Eigenschaft von Texten allgemein oder als eine spezifische Eigenschaft bestimmter Texte oder Textklassen. (Pfister 1985: 11) Dieses Grundproblem des Intertextualitätsbegriffes, auf dessen weitreichende theoretische Implikationen hier nicht ausführlich eingegangen werden kann, bedeutet für Reisetexte bzw. die Textklasse Reiseliteratur in der Praxis, dass kaum Untersuchungen zu zwischentextlichen Zusammenhängen in Reisetexten vorliegen. In „Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext“ schildert Pfister diesen Umstand folgendermaßen: In der aktuellen Intertextualitätsdiskussion hat der Reisebericht bislang kaum eine Rolle gespielt, und nämliches gilt für das Konzept der Intertextualität in aktuellen Darstellungen des Reiseberichts als Gattung. Das verwundert auch nicht, denn bisher hat sich die Diskussion um Intertextualität - wenn auch wider ihre bessere theoretische Einsicht! - fast ausschließlich an ‚hochliterarischen‘ Texten wie Miltons Paradise Lost, Eliots The Waste Land, Joyces Ulysses und Ecos Il Nome della Rosa Thorsten M. Päplow 34 festgemacht und damit eine so randständige literarische Gattung wie die des Reiseberichts gar nicht erst ins Blickfeld bekommen. (Pfister 1993: 109) Eine einzige nennenswerte Ausnahme in Bezug auf dieses Phänomen besteht nach Pfister darin, dass Reisetexte in intertextuellen Zusammenhängen lediglich herangezogen werden, wenn sie „als ‚Prätext‘ für hochliterarische Texte“ gelten können, d.h. wenn sich das Hauptaugenmerk einseitig auf einen Erkenntniszugewinn über ein solches ‚hochliterarisches‘ Werk richtet und nicht auf den Reisetext (vgl. ebd.: 109f.). Als Grund für diesen Umgang mit Intertextualität bzw. mit Reisetexten, der, wie Pfister betont, hinter die theoretischen Erkenntnisse der Intertextualitätsforschung zurückfällt, gibt er die Vorstellung des „theoretischen Selbstverständnisses“ der Gattung Reisebericht als „Gattung der ‚Autopsie’“ (ebd.: 110) an, die sich über einen starken Wirklichkeits- und Authentizitätsanspruch definiert. 1 Pfister fasst dieses Selbstverständnis einiger Reiseschriftsteller und das daraus folgende und verbreitete Gattungsverständnis zusammen, indem er feststellt, dass Reisetexte oft eine Art „letzte[s] Refugium einer romantischen Unmittelbarkeitsästhetik“ darstellen, das „noch unangekränkelt vom postmodernen Bewußtsein der Verstrickung aller Erfahrung in textuell vermittelte Wahrnehmungsschemata und Erfahrungsdispositionen, der dialogischen Teilhabe jedes Textes an anderen Texten“ (ebd.: 111) ist. Dass das stark autoptisch geprägte Gattungsverständnis sicherlich dazu beiträgt, dass Reisetexte oft als nicht-fiktionale Texte angesehen und losgelöst von ihrer Textlichkeit - und somit ihrer Zwischentextlichkeit - untersucht wurden und werden, ist nicht von der Hand zu weisen. 2 Ob diese Gattungsbestimmung der alleinige Grund ist, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Im Falle des Irischen Tagebuchs (IT) zumindest bestätigt sich Pfisters These, denn eine intertextuelle Lesart zu Bölls Irlandbuch ist bisher kaum unternommen worden. Die einzige vorliegende Untersuchung, die sich explizit mit der Frage der Intertextualität im Irischen Tagebuch, genauer mit einem möglichen Einfluss von James Joyces Ulysses und Dubliners auf Bölls Text beschäftigt, kommt zu dem Schluss, dass eine solche Beziehung zwar „probable, but not provable, and certainly of little exegetical value“ (Weninger 1998: 142) sei, was jedoch nicht ausschließt, dass Bezugnahmen zu anderen Texten für Bölls Irlandbuch relevant sein könnten. Mithilfe einer von Pfister entwickelten Typologie reiseliteraturtypischer Intertextualität, die zunächst präsentiert wird, soll in einem zweiten Schritt gezeigt werden, dass zwischentextliche Aspekte neue Perspektiven und Deutungsmöglichkeiten zu Bölls Irlandbuch eröffnen. 1 Zum Autopsiebegriff vgl. auch Stewart (1978: 74-100). 2 Zum Aspekt der Reiseliteratur als autoptische Textsorte vgl. auch Josts Ausführungen zum „Mythos des empirischen Blicks in der Reiseliteratur“ (Jost 2005: 20f.). Reiseliteraturtypische Intertextualität in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch 35 2. Eine Typologie reiseliteraturtypischer Intertextualität Als grobe Einteilung von Intertextualitätsstrategien in Reisetexten isoliert Pfister vier verschiedene Typen von Zwischentextlichkeit. Da die ersten beiden Kategorien der „verdrängte[n]“ oder „negierte[n]“ und der „kompilatorischen“ (Pfister 1993: 112-116, 116-120) Intertextualität bereits in Ansgar Nünnings Beitrag in diesem Band erklärt sind und für die folgende Analyse des Irischen Tagebuchs keine größere Rolle spielen, sei an dieser Stelle auf Nünnings „Zur mehrfachen Präfiguration/ Prämediation der Wirklichkeitsdarstellung im Reisebericht“ (11ff.) verwiesen. Eine weitere, für diese Untersuchung relevante Form von reiseliteraturspezifischer Zwischentextlichkeit ist Pfisters dritte Kategorie, die er ‚huldigende Intertextualität’ (vgl. Pfister 1993: 120-124) nennt. Darunter fallen z.B. Reisetexte, die eine „literarische Bildungsreise, die zu den Geburts-, Wirkungs- und Grabesstätten berühmter Autoren führt“ (ebd.: 120), beschreiben und bei denen sich oft Lobpreisung, Huldigung oder sogar Verehrung für verstorbene literarische Größen niederschlägt. Die vierte Form von Intertextualität bezeichnet Pfister als „[d]ialogische“ (ebd.: 124; Hervorhebung im Original). Darunter will er solche Arten von Bezugnahmen auf andere (Reise-)Texte verstanden wissen, die sich dialogisch-kritisch zu Prätexten oder anderen Autoren verhalten (vgl. ebd.: 124f.). Pfisters Begriff der ‚dialogischen Intertextualität’ mag auf den ersten Blick tautologisch erscheinen, da eine - wie auch immer geartete - Form von Austausch, d.h. eine dialogische Grundhaltung, einer der zentralen Pfeiler des Intertextualitätsgedankens überhaupt ist. Pfister unterscheidet jedoch zwischen huldigender und dialogischer Intertextualität wie folgt: Nicht immer aber gestaltet sich der Dialog zwischen den Reisenden so spannungsfrei wie bei den genannten Beispielen huldigender Intertextualität - so harmonisch, daß man von einem Monolog mit verteilten Rollen sprechen kann, einer Einstimmigkeit wechselseitiger Bestätigung. (Ebd.: 124f.) ‚Dialogisch‘ und ‚monologisch‘ zielen demnach nicht auf Dialog oder Monolog im engen Sinne ab, sondern auf die Art der Bezugnahme. 3 Als Beispiele dialogischer Intertextualität in Reisetexten führt Pfister z.B. die Auseinandersetzungen zwischen Samuel Sharp und Joseph Baretti im 18. Jahrhundert, bei denen es um das ‚richtige‘ Italien(bild) ging, an (vgl. ebd.: 126). Dazu zählen ebenfalls solche Reisetexte, die sich explizit intertextuell im Rahmen eines „Travelling in the Traces of ...“ (ebd.: 127) abspielen. 4 Gerade dialogischkritisch orientierte Reisetexte haben nach Pfister die modernen Formen von Reiseliteratur, den travelogue, den quest, die „Meta-Reise“ (ebd.: 128f.) hervorgebracht, entscheidend mitgeprägt und auch dazu geführt, 3 Zu den Begriffen ‚Dialogizität‘ und ‚Monologizität‘ im Zusammenhang mit Intertextualität vgl. auch Pfister (1985: 1-5). 4 Zum Nach-Reisen bzw. zu von Literatur inspiriertem oder beeinflusstem Reisen vgl. auch Henderson (1992) und Lidström (2005: 154f.). Thorsten M. Päplow 36 [...] daß im Zeichen der Intertextualität Reisebericht und Roman in einen neuen Dialog miteinander getreten sind, der die alten Gattungsgrenzen von Fiktion und Sachprosa und die traditionelle Hierarchisierung von ‚hoher‘ Literatur und ‚bloßem‘ Reisebericht auflöst. (Ebd.: 131f.) Zu den Beispielen für diese Entwicklungen in der deutschsprachigen Literatur, in denen Reisetexte zur Vermittlungsinstanz zwischen den traditionellen Gattungsgrenzen, also zu Intertexten werden, zählt Pfister u.a. Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit, Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis und W.G. Sebalds Schwindel. Gefühle. 3. Elemente huldigender und dialogischer Intertextualität im Irischen Tagebuch Geht man von Pfisters letzten beiden Kategorien aus, erweist sich schnell, dass das Irische Tagebuch durchaus typische Elemente von reiseliteraturspezifischer Intertextualität aufweist. Die Serie von Reiseartikeln, die den Grund für das im Jahr 1957 erschienene Irische Tagebuch legte, begann Weihnachten 1954 mit dem Artikel „Der erste Tag“ in der FAZ. Überschrieben ist dieser Artikel mit „TAGEBUCH AUS IRLAND“ „VON HEINRICH BOELL“ (Böll 1954; Hervorhebung im Original). Als der ersten Böllschen Veröffentlichung zu Irland kommt diesem Artikel somit eine gewisse Bedeutung zu; er wird mit für Reisetexte nahezu beispielhaften Bestandteilen eingeleitet: Der Fremde, der müde vom Schiff in den Zug, müde aus dem Zug durch den dunklen Bahnhof Westland Row in Dublin taumelte, zufällig im Morgengrauen auf Oscar Wildes Geburtshaus stieß, vor lauter Benommenheit diese historische Stätte gar nicht zu würdigen wußte - der Fremde, dem sich hinter Wildes Geburtshaus ein Netz von Straßen zu öffnen schien, die ihn an Köln-Ehrenfeld erinnerten, taumelte müde zum Bahnhof zurück. Wäre er von so ungebrochener Naivität gewesen wie jener deutsche Handwerksbursche, der in Amsterdam Leben und Tod, Armut und Reichtum des Herrn Kannitverstan studierte, und dabei zu großartigen Erkenntnissen kam - so wäre ihm in Dublin die Möglichkeit geblieben, Leben und Tod, Armut und Reichtum des Herrn Sorry zu studieren, denn wen er auch fragte, nach was er auch fragte, er bekam die einsilbige Antwort: Sorry. (Ebd.) Dieser erste Absatz beinhaltet Muster und Topoi, die für Reiseliteratur geradezu klassisch sind: es wird deutlich, dass es sich beim Reisenden um einen ‚Fremden‘ handelt; Elemente „räumlicher und zeitlicher Bewegung“ (Klátik 1969: 126) werden in der Erwähnung des Reiseweges nach Dublin genannt; die erste Sehenswürdigkeit, Oscar Wildes Geburtshaus, taucht unvermutet auf; 5 auch der Vergleich mit heimischen Gefilden, in diesem Falle Köln- 5 Zur Frequenz und Bedeutung von Sehenswürdigkeiten in Reisetexten vgl. z.B. Brenner (1990: 585f.) und Pfister (1993: 113f.). Reiseliteraturtypische Intertextualität in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch 37 Ehrenfeld, wird unmittelbar angestellt. 6 In diesen Punkten verhält sich die Einleitung traditionell. Interessanterweise ist im Irischen Tagebuch, in das „Der erste Tag“ als zweites Kapitel in überarbeiteter Form eingeht, jedweder direkte Hinweis auf Oscar Wilde getilgt. Stattdessen führen die Wanderungen des Ich-Erzählers in Dublin an das Grab eines anderen bekannten irischen Autors, Jonathan Swift. Jedoch verläuft der Besuch an Swifts Grab keineswegs so, wie Pfister es als typisch für ‚huldigende Intertextualität‘ beschreibt. Swifts Grab veranlasst den Ich-Erzähler nicht zur Kontemplation oder dazu, die Verdienste Swifts zu loben, aus seinen Werken zu zitieren oder ähnliche Formen von Huldigung zu unternehmen. Das Ich ist vielmehr abgeschreckt und flieht buchstäblich: An Swifts Grab hatte ich mir das Herz erkältet, so sauber war St. Patrick’s Cathedral, so menschenleer und so voll patriotischer Marmorfiguren, so tief unter dem kalten Gestein schien der desperate Dean zu liegen, neben ihm Stella: zwei quadratische Messingplatten, blank geputzt wie von deutscher Hausfrauenhand […]; Disteln hätte ich haben mögen, hart, groß, langstielig, ein paar Kleeblätter, und noch ein paar dornenlose, milde Blüten, Jasmin vielleicht oder Geißblatt: das wäre der rechte Gruß für die beiden gewesen, aber meine Hände waren so leer wie die Kirche, so kalt und so sauber. […] [E]s war mir, als würde mit Eisnadeln auf mich geschossen, ich floh, entdeckte erst am Eingang, daß noch ein Mensch in der Kirche war: die Putzfrau, die mit Lauge den Eingang aufwusch, sie machte sauber, was sauber genug war. (IT 200) Diese unvorteilhafte Beschreibung der Grabesstätte Swifts im dritten Kapitel des Tagebuches vollzieht sich als eine Art Gegensatz zu dem, was Pfister als huldigende Intertextualität einer traditionellen Bildungsreise charakterisiert. Es liegt also nahe zu vermuten, dass im Tagebuch direkt gegen diese Tradition oder Konvention verstoßen wird. Eine ähnlich gelagerte Verwendung von Elementen huldigender Intertextualität stellt der zweite Besuch des reisenden Ichs am Grabe eines weiteren bekannten irischen Schriftstellers dar, der direkt mit den Empfindungen am Grabe Swifts in Verbindung gebracht wird. Auf dem Friedhof von Drumcliff, wo W.B. Yeats begraben ist, knüpft der Ich-Erzähler an seine Empfindungen in der St. Patrick’s Cathedral an: Krähen flogen von alten Grabsteinen auf, krächzten um den alten Kirchturm herum. Naß war Yeats’ Grab, kalt der Stein, und der Spruch, den Yeats sich hatte auf seinen Grabstein schreiben lassen, war kalt wie die Eisnadeln, die aus Swifts Grab heraus auf mich geschossen worden waren: Reiter, wirf einen kalten Blick auf das Leben, auf den Tod - und reite weiter. 7 Ich blickte hoch: waren die Krähen verzauberte 6 Zum Phänomen des Vergleichs des bereisten Landes mit dem Heimatland als Gattungskonvention von Reisetexten vgl. z.B. Holfter (1996: 170f.). 7 Das Ende des Gedichts „Under Ben Bulben“ erteilt die Anweisung: „No marble, no conventional phrase, / On limestone quarried near the spot / By his command these words are cut: / / Cast a cold eye / On life, on death. / Horseman, pass by! “ (Yeats 1992: 376; Hervorhebung im Original) Thorsten M. Päplow 38 Schwäne? Sie krächzten mich höhnisch an, flatterten um den Kirchturm herum. Flach, vom Regen erdrückt lagen die Farnkräuter auf den Hügeln ringsum, rostfarben und welk. Mir war kalt. [...] Felsen im Dunst, die einsame Kirche, von schwarzen Krähen umflattert, und viertausend Kilometer Wasser jenseits von Yeats’ Grab. Kein Schwan war zu sehen. (Ebd.: 269; Hervorhebung im Original) In beiden Textpassagen treten gleich mehrere Bestandteile einer Art von huldigender Intertextualität auf, die Pfister unter dem Begriff „tombstone traveller“ (Pfister 1993: 121) nennt. Diese Art von Zwischentextlichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass das Ich des Reisetextes „von einem Grabmal der Geistesgrößen“ zum andern pilgert und den eigenen Text „mit Huldigungsadressen an diese“ Größen sowie mit „Zitaten aus ihren Werken und mit Denkmalinschriften“ (ebd.: 121) anreichert. Das Tagebuch wäre demnach, so möchte man zumindest meinen, ein klassischer Fall. Doch von Huldigung und Wallfahrt kann bei den Empfindungen und Schilderungen von Kälte und Todesstimmung an beiden Gräbern nicht die Rede sein, was, wenn man Bölls Selbstaussage folgt, zumindest im Falle von Yeats nicht als Abwertung zu verstehen ist. Ein Kritiker der Welt wirft Böll eben dies vor, wenn er in seiner Rezension schreibt: „Vielleicht sieht Böll das nächste Mal die Schwäne über Yeats’ Grab, und nicht nur die Krähen ...“ (Rosenstock 1957), worauf Böll in einem privaten Brief an den Kritiker offensichtlich verärgert antwortet: Sollte es schließlich so wahnsinnig schwer sein, zu erkennen, dass die Krähen über Yeats [sic] Grab nichts anderes sind als Todessymbole, alles andere als eine Herabsetzung von Yeats, den ich seit meinem 15. Jahr liebe und bewundere? (V. Böll 2005: 697) Auch wenn diese Erklärung Bölls den Besuch des Ichs an Yeats’ Grab, wie er in „Kein Schwan war zu sehen“ geschildert wird, nicht wesentlich erhellt, wird jedoch offenbar, dass das Hauptaugenmerk dieses Besuches nicht in erster Linie auf Yeats oder dessen schriftstellerisches Werk gerichtet ist, sondern auf den Reisenden, den Ich-Erzähler selbst. Die Worte des Taxifahrers, der dem Ich-Erzähler auf sein „Zum Drumcliff Churchyard“ verständnislos antwortet: „Aber da wohnt doch niemand“ (IT 268), bewahrheiten sich am Grab von Yeats: dort fühlt sich das Ich von Kälte und Tod umgeben und statt der Yeatsschen weißen Schwäne sind nur schwarze Krähen zu sehen (vgl. Holfter 1996: 197). Holfter folgert daraus, dass das Ich, das sie mit dem Autor Böll gleichsetzt, weder an Swifts noch an Yeats’ Grab dem „anscheinend gesuchte[n] Reiseziel der Vergegenwärtigung der Literatur“ näher kommt und deswegen „danach auf eine ausführliche Beschäftigung mit der von ihm sonst so hoch geschätzten irischen Literatur“ (ebd.) verzichtet. Dass dieser Ausflug des reisenden Ichs u.a. einen vergeblichen Versuch darstellen könnte, sich die Literatur Yeats’ zu vergegenwärtigen, gleichsam als missglücktes Beispiel für Pfisters ‚huldigende Intertextualität‘ in Form einer Reise zur Reiseliteraturtypische Intertextualität in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch 39 Grabstätte eines berühmten Schriftstellers, ist zwar denkbar, aber der Text legt eine andere Lesart näher. Bei aller Kälte, Morbidität und vielleicht Enttäuschung, die aus „Kein Schwan war zu sehen“ sprechen, klingt ebenfalls eine gewisse Ironie oder Selbstironie mit, die diese durch Tod geprägte Atmosphäre relativiert. Verfolgt man das Gespräch zwischen dem reisenden Ich und dem Taxifahrer, der den Reisenden zum Grab Yeats’ bringen soll, im Detail, wird deutlich, wie das Unverständnis des Taxifahrers über das Vorhaben des Reisenden die Szene um das Element des leicht Absurden bereichert. Am Bahnhof beginnt der Dialog: ‚Wohin? ‘ fragte er. ‚Zum Drumcliff Churchyard.‘ ‚Aber da wohnt doch niemand.‘ ‚Mag sein‘, sagte ich, ‚aber ich möchte hin.‘ ‚Und zurück? ‘ ‚Ja.‘ ‚Gut.‘ (IT 268) Dem Taxifahrer scheint unbegreiflich, weshalb jemand zum Friedhof in Drumcliff fahren möchte, er gibt sich jedoch angesichts des Geldes, das eine Fahrt von Sligo nach Drumcliff und zurück einbringt, offenbar zufrieden. Die Frage scheint dennoch an ihm zu nagen, und nach einigen Minuten Fahrt erkundigt er sich erneut: ‚Sind Sie ganz sicher‘, fragte mich der Fahrer leise, ‚daß Sie wirklich zum Drumcliff Churchyard wollen? ‘ ‚Ich bin ganz sicher‘, sagte ich. (Ebd.: 268) Diese Versicherung scheint den Fahrer jedoch ebenfalls nur wenige Minuten zu beruhigen, und da ihm eine Fahrt zum Friedhof in Drumcliff auch nach kurzer Bedenkzeit immer noch sehr sonderbar vorkommt, spekuliert er: ‚Ich glaube‘, sagte der Fahrer, ‚Sie suchen das alte Schlachtfeld.‘ ‚Nein‘, sagte ich, ‚ich weiß nichts von einer Schlacht.‘ ‚Im Jahre 561‘, fing er in mildem Fremdenführerton an, ‚wurde hier die einzige Schlacht geschlagen, die je auf der Welt um ein Copyright geschlagen wurde.‘ Ich sah ihn kopfschüttelnd an. (Ebd.: 269) Inzwischen schütteln folglich beide Gesprächsteilnehmer über das Unverständnis des jeweils anderen den Kopf. Dem Reisenden ist nicht ersichtlich, dass einem Taxifahrer, d.h. jemandem, der sich in der Gegend gut auskennt, die Nennung des Friedhofs in Drumcliff nichts sagt. Der Taxifahrer scheint den Fremden für verrückt zu halten: ‚[...] Sie wollen also nicht das Schlachtfeld sehen? ‘ ‚Nein‘, sagte ich, ‚ich suche ein Grab.‘ (Ebd.: 269) Die Bedenken des Taxifahrers zerstreuen sich und weichen der Aussicht auf weitere Einnahmen, die ihm dieser sonderliche Fremde durch zusätzliche ‚literarische‘ Reisestationen einbringen könnte: Thorsten M. Päplow 40 ‚Ach‘, sagte er, ‚Yeats, ja - dann wollen Sie sicher auch noch nach Innishfree.‘ ‚Ich weiß noch nicht‘, sagte ich, ‚warten Sie, bitte.‘ (Ebd.: 269) Was in diesem Gespräch soweit nur anklingt und zunächst durchaus dem vermeintlichen Unwissen und dem Geschäftsinteresse des Taxifahrers zuzuschreiben zu sein scheint, entpuppt sich letztendlich als Torheit des Reisenden. Der Einwand des Taxifahrers - „Aber da wohnt doch niemand“ (ebd.: 268) - war berechtigt; der Besuch an Yeats’ Grab ist eine Enttäuschung, wie der Reisende bei seiner Rückkehr zum Taxi indirekt zugibt oder zugeben muss: ‚Weiter‘, sagte ich zu dem Fahrer. ‚Also doch nach Inishfree? ‘ ‚Nein‘, sagte ich, ‚zum Bahnhof zurück.‘ 8 (Ebd.: 269) Der Reisende tritt, enttäuscht oder verbittert dadurch, dass er an Yeats’ Grab nicht das gefunden hat, was er gesucht hat, und wahrscheinlich auch dadurch, dass der Fahrer in seinem Unverständnis in Bezug auf das Ziel der Taxifahrt von Anfang an Recht gehabt hatte, tritt der Reisende wie schon an Swifts Grab, wenn nicht die Flucht, so doch den Rückzug an. Das Tagebuch weicht also zunächst nur insofern von Pfisters Kategorie ‚huldigender Intertextualität‘ ab, als der Besuch am Grabe Yeats’ nicht so ausfällt wie anvisiert oder erhofft. Das Interessante und Wesentliche dieser Szene besteht jedoch in der Aufspaltung des Ichs in ein reisendes Ich und ein erzählendes Ich. 9 Oberflächlich betrachtet schildert der zweite Teil von „Kein Schwan war zu sehen“ den missglückten Versuch des reisenden Ichs, eine Art huldigende Wallfahrt zu Yeats’ Grab zu unternehmen. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass sich das erzählende Ich über die Torheit des reisenden Ichs belustigt. Dazu bedient sich das erzählende Ich, d.h. der Erzähler, zunächst der Stimme des Taxifahrers, der das Unterfangen des reisenden Ichs durch sein Unverständnis fortwährend in Frage stellt und am Ende Recht behält. Die Trennung zwischen reisendem Ich und erzählendem Ich sowie das Komische und Selbstironische dieser Szene entfalten sich jedoch erst mithilfe einer Reihe oder Reihung intertextueller Verweise, die mit dem Zitat der letzten Strophe aus Yeats’ „Under Ben Bulben“, 10 das die Grabinschrift des Dichters bildet und das vom Erzähler ins Deutsche übersetzt - „Reiter, wirf 8 Die abweichenden Schreibweisen von ‚Innisfree‘ im laufenden Text bzw. in Zitaten ergeben sich aus unterschiedlichen Schreibweisen in den jeweiligen Texten. Bei Yeats ist die Schreibung „Innisfree“ (Yeats 1992 „The Lake Isle of Innisfree“: 60), im Irischen Tagebuch sowohl „Innishfree“ (IT 269), „Inishfree“ (IT 269) als auch „Inishfree“ (IT 224; Hervorhebung im Original). 9 Zur Unterscheidung zwischen reisendem und erzählendem Ich vgl. auch Lidström (2005: 151f.). 10 In „Kein Schwan war zu sehen“ weist der Taxifahrer den Reisenden auf Ben Bulben, den Tafelberg außerhalb von Sligo, hin: „‚Benbulben und Knocknarea‘, sagte der Fahrer, als stelle er mir zwei weitläufige, gleichgültige Verwandte vor.“ (IT 268) Reiseliteraturtypische Intertextualität in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch 41 einen kalten Blick auf das Leben, auf den Tod - und reite weiter“ (IT 269; Hervorhebung im Original), eingeleitet wird. Dieses ‚weiter‘ wiederholt sich daraufhin in der oben bereits zitierten Anweisung des Reisenden an den Taxifahrer 11 und offenbart sowohl das Komische als auch das Selbstironische dieser Szene: das reisende Ich nähert sich Yeats’ Grab keineswegs als „Horseman“ (Yeats 1992 „Under Ben Bulben“: 376; Hervorhebung im Original), als „Reiter“ (IT 269; Hervorhebung im Original), sondern wird mit dem Taxi zum Friedhof gefahren, dessen Fahrer darüber hinaus unvermittelt einen „milde[n] Fremdenführerton“ (ebd.: 269) anschlägt. Rosenstock behauptet zwar mit gewissem Recht, dass die Böllsche Übersetzung des Yeats-Verses nicht besonders gelungen ist, verkennt aber die Funktion des Yeats-Zitats für „Kein Schwan war zu sehen“, nämlich die (Selbst-)Ironie, die in der Paarung „Reiter“ mit Taxifahrendem und der Wiederholung des ‚weiter‘ steckt. Dass das Zitat auf diese Weise verwendet wird, relativiert Rosenstocks Feststellung: „Böll hätte diesen wundervollen Vers von Yeats unübersetzt stehenlassen sollen, wenn er ihn nicht schöner übertragen kann…“ 12 (Rosenstock 1957). Der Ich-Erzähler kommentiert das Geschehen und das Handeln des reisenden Ichs demnach mithilfe einer Abfolge von intertextuellen Verweisen, Anspielungen und Zitaten, die sich chronologisch rückwärts durch das Werk Yeats’ bewegen, je weiter sich das reisende Ich von dessen Grab, sowohl in Bezug auf die tatsächliche als auch auf die gefühlsmäßige Distanz, entfernt. Während das reisende Ich sich unmittelbar am Grabe aufhält, steht die letzte Strophe aus „Under Ben Bulben“ (1939) im Vordergrund. Die darauf folgende Frage „Ich blickte hoch: waren die Krähen verzauberte Schwäne? “ (IT 269) verbindet als Verweis auf „Coole and Ballylee, 1931“ das bereits eingeführte Reitermotiv mit der Yeatsschen Schwan-Symbolik: We were the last romantics - chose for theme Traditional sanctity and loveliness; [...] But all is changed, that high horse riderless, Though mounted in that saddle Homer rode Where the swan drifts upon a darkening flood. (Yeats 1992: 294f.) In „Kein Schwan ist zu sehen“ ist das ‚hohe Ross‘, auf dem das lyrische Ich in „Coole and Ballylee, 1931“ Homer und die Gruppe der letzten Romantiker, zu der es sich selbst zählt, noch sieht, ebenfalls reiterlos, schlicht, weil das Ich, als Zeichen der Moderne, mit der Bahn bzw. mit dem Taxi ankommt. Der Schwan, der in „Coole and Ballylee, 1931“ in den bedrohlich dunkler werdenden Fluten bereits scheinbar willenlos umher treibt, ist im Irischen Tagebuch gänzlich verschwunden, wie auch in Yeats’ „The Wild Swans at Coole“ (1916), in dem die Möglichkeit des Fortfliegens der beobachteten Schwäne das lyrische Ich zu der Frage veranlasst: 11 „‚Weiter‘, sagte ich zu dem Fahrer.“ (IT 269.) 12 Vgl. dazu auch Holfter (1996: 196, Fußn. 499). Thorsten M. Päplow 42 Among what rushes will they build, By what lake’s edge or pool Delight men’s eyes when I awake some day To find they have flown away? (Yeats 1992: 181) In „Kein Schwan war zu sehen“ muss das reisende Ich feststellen, dass es sich bei Krähen nicht um verzauberte Schwäne handelt, da sie kein auch nur in geringster Weise an Schwäne erinnerndes Verhalten an den Tag legen: „Sie krächzten mich höhnisch an, flatterten um den Kirchturm herum.“ (IT 269) So entschließt sich das reisende Ich in „Kein Schwan war zu sehen“, in Umkehrung des Vorsatzes des lyrischen Ichs in Yeats’ „The Lake Isle of Innisfree“ (1888) - „I will arise and go now, and go to Innisfree“ (Yeats 1992: 60) - eben nicht nach Innisfree zu fahren. Mit dieser chronologischen Rückwärtsbewegung durch die Gedichte Yeats entfernt sich der Reisende gleichzeitig von Yeats’ Grabstätte und vollzieht oder vervollständigt mithilfe intertextueller Verweise somit ebenfalls eine Bewegung der Abstandnahme, die in der Erzählhaltung, d.h. durch die Distanzierung des erzählenden Ichs vom reisenden Ich, schon angelegt ist. Diese Rückwärtsbewegung oder Abstandnahme an Yeats’ Grab geht gleichzeitig mit einer Umorientierung in Form einer intratextuellen Bezugnahme einher. Mit dem Verlassen des Friedhofs in Drumcliff fasst das erzählende Ich zusammen: „Felsen im Dunst, die einsame Kirche, von schwarzen Krähen umflattert, und viertausend Kilometer Wasser jenseits von Yeats’ Grab.“ (IT 269) Die Wendung ‚viertausend Kilometer‘ verweist gleich auf mehrere Stellen innerhalb des Tagebuchs. Die erste Nennung geschieht im Rahmen eines weiteren intertextuellen Zusammenhangs, der nicht nur irische Literatur betrifft: „Ich wußte zwar, daß Oblomow runde 4000 Kilometer weiter östlich beheimatet war, ahnte aber auch, daß er nicht schlecht in dieses Land paßte, wo man das Frühaufstehen haßt.“ (Ebd.: 199) Die Wiederholung der Angabe ‚4000 km‘ findet sich in Form einer intertextuellen Verknüpfung von Elementen der griechischen Antike mit der von Swift sowie dem Ich des Tagebuchs beobachteten Armut und Hoffnungslosigkeit in Irland, in „den dunklen Hinterhöfen, die Swifts Auge noch gesehen hat“, und in den Kneipen, wo die Trinkenden in den Einzelsäuferkojen „unweigerlich auf die dunklen Wasser der Styx“ zutreiben, und nur in Amerika oder in Australien, d.h. „[...] irgendwo westlich, 4000 Kilometer Wasser bis dahin, und irgendwo östlich, zwei Meere zu überqueren bis dahin - gibt es solche, die an Tätigkeit und Fortschritt glauben.“ (Ebd.: 201) Die dritte Anführung bezieht sich erneut auf den Atlantischen Ozean bzw. das ‚harte‘ Los der Auswanderung vieler Iren in die Vereinigten Staaten: „Wasser ist hart. / Und wieviel Wasser sammelt sich über viertausend Kilometern Ozean“ (ebd.: 234). „Inishfree“ (ebd.: 224; Hervorhebung im Original) spielt jedoch nicht nur in „Kein Schwan war zu sehen“ eine wichtige, sinnstiftende Rolle, sondern verweist intratextuell auf ein anderes Kapitel des Tagebuches zurück, in dem Verschwendung und Großzügigkeit als Phänomene der Armut in Irland, unter besonderer Berücksichtigung der Situation irischer Kinder, beschrieben Reiseliteraturtypische Intertextualität in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch 43 werden. In „Limerick am Abend“ wird ‚Inishfree‘ zwar nur einmal, allerdings an zentraler Stelle, genannt: Murmeln rollen über den Gehsteig; hin und wieder einen Blick ins Wettbüro geworfen, wo Vater gerade einen Teil der Arbeitslosenunterstützung auf Purpurwolke setzt. [...] Geht Vater noch zum nächsten Wettbüro, um auf Nachtfalter zu setzen, zum dritten, um auf Inishfree zu setzen? Wettbüros gibt es genug, hier in Alt- Limerick. Die Murmeln rollen gegen die Stufe, schneeweiße Tropfen Eiskrem fallen in die Gosse, wo sie einen Augenblick wie Sterne auf dem Schlamm ruhen, einen Augenblick nur, bevor ihre Unschuld im Schlamm dahinschmilzt. Nein, Vater geht nicht in ein anderes Wettbüro, nur noch in die Kneipe; [...] ob Vater noch Geld für ein Eis gibt? Er gibt. (Ebd.; Hervorhebung im Original) Auch das Farbenmotiv ‚hell-dunkel‘ oder ‚schwarz-weiß‘, das in den „schwarzen Krähen“ und den abwesenden weißen Schwänen (ebd.: 269), bzw. dem Vergleich „wie schwarze Schneeflocken“ (ebd.: 268f.) in „Kein Schwan war zu sehen“ durch Wiederholung und Variation in den Vordergrund gerückt wird, wiederholt sich in den ‚schneeweißen Tropfen Eiskrem‘, die sich, die Unschuld der Kinder symbolisierend, im dunklen Schlamm auflösen. 13 Kurz, der Rückzug von Yeats’ Grab geht mit intratextuellen Rückbezügen auf das Tagebuch selbst und dessen Hauptthemen einher. Aus diesen Überlegungen ergibt sich als Schluss, dass sich im Irischen Tagebuch durchaus intertextuelle Elemente ausmachen lassen, die auf die traditionelle literarische Bildungsreise, d.h. den Besuch von z.B. Geburts-, Wirkungs- oder Grabesstätten berühmter Schriftsteller (vgl. Pfister 1993: 120- 124), hindeuten, wobei auffällt, dass gerade die Grabstätten im Vordergrund stehen. Die Nennung des Geburtshauses Oscar Wildes aus „Am ersten Tag“ findet sich im Tagebuch nicht mehr. Dahingegen erfährt das Milieu der Geburtshäuser von Joyce und O’Casey eine knappe Erwähnung: „kleinbürgerlich, muffig, trostlos würde der unverbesserliche Ästhet sie nennen (aber Vorsicht, Ästhet: in einem von diesen Häusern wurde James Joyce geboren, im anderen Sean O’Casey).“ 14 (IT 205) Weiter lässt sich feststellen, dass im Falle des Tagebuchs die Besuche an den Gräbern Swifts und Yeats’ in Verkehrung des traditionellen oder typischen „Huldigungscharakter[s]“ (Pfister 1993: 120f.) geschehen. Das Aufsuchen von Swifts und Yeats’ Grabstätten ist weniger eine Wallfahrt als vielmehr ein Beispiel für das Scheitern, vielleicht sogar für die Frag- 13 Es kann nur vermutet werden, dass die Textstelle „schneeweiße Tropfen Eiskrem fallen in die Gosse, wo sie einen Augenblick wie Sterne auf dem Schlamm ruhen“ (IT 224; Hervorhebung T.M.P.), eine Anspielung auf bzw. eine Umdeutung des oft zitierten Satzes aus Oscar Wildes Lady Windermere’s Fan ist: „No, we are all in the gutter, but some of us are looking at the stars.“ (Wilde 1991: 464) 14 Dabei muss beachtet werden, dass viele bekannte irische Autoren außerhalb von Irland gestorben und begraben sind, so z.B. James Joyce in Zürich oder Oscar Wilde in Paris. Auch W.B. Yeats starb im Ausland und wurde 1948, knapp zehn Jahre nach seinem Tod, nach Drumcliff umgebettet. (Sean O’Casey starb 1964 in England, sieben Jahre nach dem Erscheinen des Tagebuchs.) Thorsten M. Päplow 44 würdigkeit solcher Reiseunterfangen. Damit sei die Nützlichkeit von Pfisters Kategorie ‚huldigender Intertextualität‘ keinesfalls angezweifelt. Im Gegenteil: das Irische Tagebuch weist deutliche Zeichen dieser für Reisetexte charakteristischen Form von Intertextualität auf, nimmt diese jedoch nur als Ausgangspunkt und überwindet sie. Gerade diese Überwindung und Ausweitung verstärkt den Veranschaulichungscharakter von Pfisters Kategorie, da sich das Tagebuch offenbar eben von dieser Wallfahrts-Intertextualität absetzt und weder einem Autorennoch einem „Klassikerkult“ (ebd.: 124), denen sich nach Pfister viele Reisetexte im Form huldigender Intertextualität ergeben, verfällt. Im Tagebuch wird huldigende Intertextualität zum Thema gemacht; der Befund des erzählenden Ichs lautet, dass diese Form des Reisens und dieser Umgang mit Texten nicht den geeigneten Reise- oder Schreibmodus darstellen, zumindest nicht für die eigene Reise bzw. das eigene Schreiben. In dieser Hinsicht weist das Irische Tagebuch nicht nur bedeutungserweiternde „selbstreflexive[] Tendenzen“ (A. Nünning in diesem Band: 26) auf, sondern verhält sich mit der Zurückweisung huldigender Intertextualität sogar in gewisser Weise gattungsreflexiv oder -reflektierend. Aus diesem Grund handelt es sich in der bisher beschriebenen Form von Intertextualität im Irischen Tagebuch bereits um eine Sonderform dessen, was Pfister unter dialogischer Intertextualität in Reisetexten versteht, denn in diesem Vorgehen wird im Tagebuch explizit „gegen eine breite Texttradition“ (Pfister 1993: 125), d.h. in diesem Falle die huldigende Intertextualität, angeschrieben. Der Dialog, der dabei entsteht, findet auf mehreren Ebenen statt: zum Einen ist es ein kritischer Dialog des erzählenden Ichs mit dem reisenden Ich; weiter ein Dialog mit irischen Schriftstellern oder einigen ihrer Texte, hier stellvertretend an den Bezügen zu Swift und vor allem Yeats veranschaulicht; zum Dritten gestalten sich die Momente anfänglich huldigend anmutender reisetexttypischer Intertextualität in der Hinsicht dialogischkritisch, als dass das Irische Tagebuch eine Auseinandersetzung mit und schließlich eine Verabschiedung von huldigender Intertextualität darstellt. Somit ist festzuhalten, dass die Abstandnahme, die sich im Tagebuch in den Besuchen an Swifts bzw. Yeats’ Grab vollzieht, in erster Linie eine Entfernung von der reiseliteraturspezifischen Texttradition vom Typus huldigender Intertextualität, nicht aber - oder nicht notwendigerweise - eine Distanzierung von bestimmten irischen Autoren oder gar der irischen Literatur im Allgemeinen darstellt. Reiseliteraturtypische Intertextualität in Heinrich Bölls Irischem Tagebuch 45 Bibliographie Albright, Daniel (Hg.). 1992. W.B. Yeats - The Poems. London: Campbell. Brenner, Peter J. 1989a. Der Reisebericht - Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ___. 1989b. „Einleitung.“ In: Brenner 1989a. 7-13. ___. 1990. Der Reisebericht in der deutschen Literatur - Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Niemeyer. Böll, Heinrich. 1954. „Der erste Tag.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.12.1954. ___. 2005. Irisches Tagebuch. In: Viktor Böll 2005. 191-277. Böll, Viktor (Hg.). 2005. Heinrich Böll. Werke. Kölner Ausgabe Bd. 10. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Broich, Ulrich & Manfred Pfister (Hgg.). 1985. Intertextualität - Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer. Eagleton, Terry (Hg.). 1991. Oscar Wilde: Plays, Prose Writings and Poems. London: Campbell. Fischer, Joachim, Gisela Holfter & Eoin Bourke (Hgg.). 1998. Deutsch-irische Verbindungen - Akten der 1. Limericker Konferenz für deutsch-irische Studien, 2.-4. September 1997. Trier: WVT. Foltinek, Herbert, Wolfgang Riehle & Waldemar Zacharasiewicz (Hgg.). 1993. Tales and ‚their telling difference‘: Zur Theorie und Geschichte der Narrativik - Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Heidelberg: Winter. Henderson, Heather. 1992. „The Travel Writer and the Text: ‚My Giant Goes with Me Wherever I Go‘.“ In: Kowalewski 1992. 230-248. Holfter, Gisela. 1996. Erlebnis Irland: Deutsche Reiseberichte über Irland im zwanzigsten Jahrhundert. Trier: WVT. Jost, Erdmut. 2005. Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780-1820. Sophie von La Roche - Frederike Brun - Johanna Schopenhauer. Freiburg/ Berlin: Rombach. Klátik, Zlatko. 1969. „Über die Poetik der Reisebeschreibung.“ In: Zagadnienia rodzajow literackich 11: 126-153. Kowalewski, Michael (Hg.). 1992. Temperamental Journeys - Essays on the Modern Literature of Travel. Athens, GA: University of Georgia Press. Lidström, Carina. 2005. „All Travellers Are Liars - On Fact and Fiction in the Travellers Tale.“ In: Skalin 2005. 143-170. Paßmann, Dirk Friedrich. 1987. ‚Full of Improbable Lies‘: Gulliver’s Travels und die Reiseliteratur vor 1726. Franfurt a.M.: Lang. Pfister, Manfred. 1985. „Konzepte der Intertextualität.“ In: Broich/ Pfister 1985. 1-30. ___. 1993. „Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext.“ In: Foltinek/ Riehle/ Zacharasiewicz 1993. 109-132. Rosenstock, Georg. 1957. „Manche Länder muß man dreimal sehen.“ In: Die Welt 08.06.1957. Schmidt, Arno. 1993. Die Gelehrtenrepublik - Kurzroman aus den Rossbreiten. Bargfeld: Arno Schmidt Stiftung. Skalin, Lars-Åke (Hg.). 2005. Fact and Fiction in Narrative: An Interdisciplinary Approach. Örebro: Örebro University. Stewart, William E. 1978. Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Bonn: Bouvier. Thorsten M. Päplow 46 Weninger, Robert K. 1998. „Böll on Joyce, Joyce on Böll - A Gnomonical Reading of Heinrich Böll’s ‚Die Schönsten Füße der Welt‘.“ In: Fischer/ Holfter/ Bourke 1998. 133-143. Wilde, Oscar. 1991. Lady Windermere’s Fan - A Play About a Good Woman. In: Eagleton 1991. 423-479. Yeats, William Butler. 1992. „Coole and Ballylee, 1931.“ In: Albright 1992. 293-295. ___. 1992. „The Lake Isle of Innisfree.“ In: Albright 1992. 60. ___. 1992. „The Wild Swans at Coole.“ In: Albright 1992. 180f. ___. 1992. „Under Ben Bulben.“ In: Albright 1992. 373-376. II.Begegnungen mit dem Selbst und dem Anderen Mary Baine Campbell The Sorceror and the Priest: Wandering Souls in Canadian Forests, 1634 No, it is not these drinks that take away our lives, but your writings: for since you have described our country, our rivers, our lands, and our woods, we are all dying, which did not happen until you came here. (Anonymous Huron, 1639) This essay will be about a high-stakes encounter between an early seventeenth-century French Jesuit in Québec and the Montagnais ‘sorcerer’ he treats as his rival, but who is also one of his hosts during a dark, frigid, hungry season at the winter camp of a hunting people to whom he can offer neither food nor fuel, nor even matches. 1 Despite the early substitutions of the terms ‘encounter’ and ‘contact’ for ‘discovery’ (in titles like Stephen Greenblatt’s New World Encounters and phrases like Mary Louise Pratt’s ‘contact zone’), there has been relatively little work on individual encounters of the early period of colonial exploration and conquest in the ‘New World’. The sad fact is that we have no direct textual evidence of the non-European side of such encounters in the early modern period. This means that analytical work on personal encounter is and must remain heavily speculative. And speculation is fraught with risk: the unconscious operates in such waters with less regulation from above. Deep layers of wish and ideology form the basement of all such work. Anthropology could help us understand the conditions of the encounter, despite the fact that its terms of art have their sources in part in these early ethnographic texts themselves. Historians have pieced together the unpleasant facts of the economic basis in an already global economy of the relations among the Algonkin, Huron and Iroquois tribes (as well as between them, separately) and the French, English, and Dutch fur trades. I have depended on their research, and it has informed my reading. But I will attempt here a transdisciplinary reading - what the French scholar Laurent Loty calls an ‘indisciplinary’ reading - of a text, and of the experience that can be sensed within it. Despite the probability that I will ‘get it wrong’. So I am looking at what we do when we read. But also hoping and believing that we do read, and wish to read, the experience of the dead in the sentences they - and their killers - have given us. Perhaps it is a lesson - an extreme case of the difficult fact that all important encounters must be read in the context of a maximum of knowledge and of self-forgetfulness: from the 1 What follows is the text of my presentation to the conference on which this collection of essays is based, without revision except for deletion of references to the conference. I thank Linda Gardiner for her help with a couple of tricky points in my translations from Le Jeune’s French. Mary Baine Campbell 50 early encounters of love to those of nations whose political mythologies require mutual alienation. The first definition of the word ‘encounter’ in the Oxford English Dictionary is ”battle” or “duel”. The second is “amatory interview”, or the meeting of lovers. One might argue that missionary travel is bound to lead to incurious and hostile social encounters, as the missionary has come to the distant place about which he writes with the express intention of changing its inhabitants and their cultural system. However, the well-educated Jesuit missionaries’ accounts were and are among the most valuable of all documents available to social scientists, and indeed one of the later Jesuits who went to Québec, Joseph Lafitau, is often labelled ‘The Father of cultural anthropology’ for his attempt, in Moeurs des sauvages ameriquains (1724) to systematize the previous accounts into a general theory of culture. Missionaries were indeed hostile to the beliefs and knowledges about the spiritual world they encountered in Canada (confusingly indistinguishable for the indigenous people from the natural and cultural world). But they were of necessity curious, too - one must know what one intends to change. Lafitau was the first to describe the matrilineal structure of aboriginal Iroquois kinship, and he had to depend on the writings of earlier missionaries to do it, as he saw that contact with Europeans had drastically altered Amerindian societies by the time of his arrival in 1712. But of course this means that his theorizing was based on reported encounters like the one I want to focus on - and even his own universalist category of religion was established to counter the influence of Enlightenment ‘libertinism’, which saw Christianity, like other belief systems, as a cultural object rather than a unique revelation. He wanted to persuade his readers that worship of a supreme deity was universal in human society, however limited the knowledge of this deity might be among those who had not had the privilege of apostolic teaching disseminated in the ‘Old World’ by the gospels. Lafitau’s motive was not Paul Le Jeune’s in writing up his Canadian “relations” - of which there were many during the 18 years of his mission in Québec. Le Jeune’s more immediately pragmatic aim was to extirpate any and all beliefs and practices he saw as blocking the way to acceptance of Christian revelation and its requirements. And like so many of the Jesuit missionaries, he saw their beliefs regarding dream - with its related practices of trance, vision, prophecy and, in short, ‘sorcery’, - as his greatest obstacle: according to a later Jesuit, “[t]hey have, properly speaking, only one Divinity - the dream” (Jesuit Relations 54: 97). The theological problem exhibited itself as one based in an apparently different understanding of the soul’s relation to the body and to its natural life. Montagnais souls, like the bodies of this hunting people, were errant, nomadic. They could leave the body while asleep or entranced. They could visit their earthly homes - and even eat the leftovers of feasts - for as long as 12 years after death. And once properly dead they could, like divinities, speak in dreams to their still-living kin. Indeed, the mind of the living sleeper was The Sorceror and the Priest: Wandering Souls in Canadian Forests, 1634 51 open to many spiritual visitations, as had been the minds of Mediterranean peoples during Antiquity and as were still, but more dangerously, those of medieval and early modern Christians. But the period of Le Jeune’s youth and training had seen a sharp increase of scepticism both within and outside the Church. Dreams and visions were increasingly attributed to medical causes, and even when granted to be actual instances of contact with the spiritual world were usually judged to be demonic. The techniques of ‘spiritual discernment’ were exclusively ecclesiastical, and manuals were published in great numbers for the use of pastors. The spiritual night-wandering of witches were illusions brought on by illness or drugs, or both. As Nancy Caciola and Moshe Sluhovsky have demonstrated, this was part of an effort to curtail the burgeoning influence of women, lay and religious both, in popular religion, convent life, and even medicine. It may owe more than they have considered to the missionary labours of Europeans in the far-flung Americas. Father Le Jeune gave most of his career to Québec: after spending 18 years with the Montagnais and the Huron he spent the rest of his life in France as procurator for the mission, making a final visit to Québec at the age of 68. He was the Jesuit superior his first several years, and editor and frequent contributor to the Jesuit Relations for many years thereafter. Although trained in philosophy, a professor of rhetoric and literature, he took to his missionary assignment with enormous if forbidding zeal. Some of this zeal - and surely some of his withering contempt for the belief systems he went to replace - must have come from the important fact that he was himself a convert to Catholicism, having been born in Huguenot country to Protestant parents. He saves his most merciless abuse for the few Protestants he encounters or hears tell of, and expresses a more specifically moral outrage at European Protestantism than at the merely ‘ridiculous’ beliefs and rituals of the people he calls ‘our savages’. He is hard for a modern, secular reader to like, but we must stay aware of his unusual courage and persistence in a climate and an environment of what must have been for him almost unbearable ferocity. The important text to which I would like to turn our attention now, Le Jeune’s Relation of 1634, is itself a trace of that courage. It is not his first. His previous two ‘relations’, long private letters based on his diaries, were published after they reached France, and this one as a result was composed with publication in mind: it is divided into titled chapters mostly on Montagnais folkways and beliefs. It thus translates a difficult personal experience into a kind of ethnological account of a culture Le Jeune hopes to eradicate, not merely by converting it to Christianity but by first, as he stressed repeatedly, converting the hunting culture of the Montagnais into a sedentary farming one. For only as farmers, he believed, would they have the necessary freedom from want to turn their minds to spiritual things - i.e. to the religion of an agricultural society and the cities it supported. There is some irony here, as the actual consequence of the French fur trade abetted by the missions on the Algonkin, Huron and Iroquois nations was to drive them from the farming Mary Baine Campbell 52 they already did to the more lucrative hunting and trapping for which the Europeans paid. But the Montagnais, who lived in the cold and infertile region along the St. Lawrence River and Seaway, were already subsistence hunters, increasingly distracted from food hunting by the lure of the fur trade, and lived close to starvation in winter. Le Jeune’s major problem during his first two years in Québec was that of the language barrier: Christian theology, as he ruefully admits, is hard to convey by gestures. So he determined to withdraw with a band of Montagnais to their winter hunting ground, to get to know them better and to learn their language. He made some progress, at least with the language: he transcribes and translates a fair amount of Montagnais, a dialect of Algonkin, and had some real, if maddening, conversations. He was sick much of the winter, and his mere physical survival was itself something of an accomplishment, for him as well as for his generous hosts. Le Jeune’s chief interlocutors during this hard winter are never referred to by name, perhaps because they are not and do not become Christians. They include his rival, whom he calls ‘the Sorceror’, the Sorceror’s brother and assistant, whom he usually calls ‘the Apostate’ or the renegade, and his host, whom he refers to as ‘vieillard’, the old guy. The Apostate has a name when first introduced in an earlier chapter. He had apparently been converted earlier, in France itself, but later ‘lost among the English’ he had regressed to either Protestantism or atheism - the enraged language of Le Jeune on this point leaves unclear the state of his beliefs: “This worthless young man […] has become apostate, renegade, excommunicated, atheist, assistant to the Sorceror his brother: these are the attributes by which I will refer to him from now on when speaking of him” (Le Jeune 1635: 15). Le Jeune uses no names; he also refuses to make the comparisons central to later writers in the region, above all Lafitau. The practices of significant dreaming, trance and vision, haruspication, ‘night wandering’ and petitioning the divine for material favors were widespread among rural and even urban Europeans of the time, and the object, as I have said, of determined opposition by the ecclesiastical elite. The only open comparisons he permits himself are the by now classic traveler’s rebuke of the devotional laziness of French Christians by means of the barbarians’ recourse to prayer and ceremony at all hours, and that between shamanistic performance and folk entertainers - the ‘jongleurs’ and puppeteers of the French folk. This latter will have a profound future, via Lafitau in part, in the conceptual language of anthropology, and I will return to it later. Le Jeune’s major methods of argumentation belong to the rhetorical tropes of irony, from his irritating sarcasm to the reductio ad absurdum with which he imagines himself demolishing the logic of his informants. When he inquires into beliefs about the life of the spirit after death, and during sleep and trance, he takes the answers he gets with absolute literalism and proceeds to demonstrate their literal impossibility. When asked where souls go after death - which are likened to shadows by the Montagnais and granted to The Sorceror and the Priest: Wandering Souls in Canadian Forests, 1634 53 every living and even useful thing - he is told that they go to a great “village” situated at the setting of the sun. He tells them “all your country, that is, all of America, is a big island […]. How is it that the souls […] of all who die […] can pass over the water to go to this great village: do they find vessels ready to embark and cross the waters? ”(ibid.: 59) They tell him that in fact the American continent is all connected, by land and ice, which turned out, alas for the Europeans, to be true. They do not ask him how Christian spirits get to their celestial Jerusalem, or how the bodies of Elisha, Jesus and Mary were assumed into Heaven. All winter long, the cold and hungry Montagnais put up with Le Jeune, feeding him and even trying to cure him of his stubborn illness. Unfortunately their method involved a good deal of singing - ‘shouting’, he was driven to call it - and beating on tambourines filled with little rocks. The good father is not grateful. Though he is described as ‘uncomplaining’ by his Jesuit biographer in the Dictionary of Canadian Biography, he describes himself as begging his hosts repeatedly to stop, and recounts their ‘noise’ for several disparaging and repetitive pages. It is not of course ‘noise’, but the Montagnais equivalent of his own ‘oraisons’, which they apparently enjoy. But it must be ‘noise’ to Le Jeune, who senses blasphemy, since it is done to cure his body and he only sings to cure his soul. Alas, he sighs, they have never heard of purely spiritual things, without a body - thus admitting that he too separates souls from bodies - and after all he expects his own spirit to travel boatless after death to an impossibly distant place. This problem of ‘noise’ as we understand the term in contemporary ‘information theory’ is of course an abiding one for ethnography: to make oneself a proper ‘terminal’ in which the noise, or rather ‘information’, of another culture is readable, is to flirt dangerously with enculturation. And thus for modern ethnographers, to lose their ‘objectivity’, by which we seem to mean, among other things, a loyalty to our own thought-ways, our own culture. It is a commonplace of travel writing that the return from afar is never, or rarely, narrated - a commonplace Jonathan Swift points to in the radical enculturation of Lemuel Gulliver, who sadly withdraws to the country after his sojourn among the utopian Houhouynhms, to consort with his horses. But to the encounter: I want to look with special attention at Le Jeune’s most closely narrated experience of Montagnais spiritual activity, in his long chapter on the “Beliefs, superstitions, and errors of the Montagnais Savages”: the trance in which a ‘jongleur’ (his word for persons of special spiritual ability), with the aid of the Sorceror, his great antagonist in the winter camp, contacts the ‘spirits of the Day, or air’, and speaks their messages to the attending hunters. Entering this encounter, let us remember that Le Jeune is not only threatened by and jealous of the Sorceror’s influence in the community, he is also facing what to him - if real and not feigned - was the Devil at work. I doubt that many Europeans today believe in the real and supernatural power of embodied demons, but such people number in the millions in the United States of the present day. And these millions have had the power Mary Baine Campbell 54 to elect a government beholden to their beliefs and desiring, as did Le Jeune’s government, a global empire. It is not enough to be annoyed or amused. Now, as then, the desire for the triumph of Good over Evil is useful to the desire for hegemonic power itself. And it need not be generated by the lust for power: Le Jeune’s self-sacrifice, his readiness for death in the service of the infidel’s salvation, is genuine, as ‘sublime’, in its way, as his Jesuit biographer claims. The jongleur’s encounter with the spirits from whom the Sorcerer desires information - spirits who can tell him what is going on, among other things, in the enemy territory of the Gaspé - takes place in a special teepee, erected in the large cabin of Le Jeune’s host and sealed after his entry so the only access is through a hole in the top. All burning logs and charcoal are removed from the cabin and the event is witnessed by men only. They encourage the jongleur to call to and speak with the spirits who enter from above and seem to take possession of the jongleur’s entranced body. Le Jeune is convinced that he counterfeits the voices he and the other witnesses proceed to hear, and likens the whole ceremony to the performances of French puppeteers. The comparison to theatrical performance, with its own unsettling disjunction between the body and individual spirit of the performer has, as I have said, a history, which belongs to the histories of both ethnology and the theatre itself. In Montaigne’s lifetime, ‘savages’ had been brought from Brazil to Rouen and made to stage a famous performance of their ritual dances. Such performances quickly entered the theatrical repertoire, in several ways: they became a stock scene in seventeenth-century drama and opera (consider Molière’s Bourgeois Gentilhomme); the ‘ballets’ that were beginning to appear as interludes began as displays of exotic costume, and in one famous case included an Amerindian feather skirt brought home to London from Surinam by the playwright Aphra Behn, borrowed for the first production of Dryden and Purcell’s Fairy Queen. Jumping off in part from this scene in Le Jeune’s text, Lafitau would use theatrical metaphors consistently in his multi-volume account of early modern Algonkin and Iroquois cultures. The links between progressive ethnology and performance studies have multiplied into what amounts to a branch of anthropology since the period of Clifford Geertz’s (in)famous “Deep Play: Notes on the Balinese Cock Fight” (1973). Our social being, we have come to believe, is a performance, and Irving Goffman’s influential 1959 book The Presentation of Self in Everyday Life set the stage for an equally fruitful study of Western-urban culture-performance. For Le Jeune, though, there remains a fundamental distinction between representation and what Michael Taussig once called “the really made-up” (1993: xvii): Christian prayer, song, sacrament and ceremony are to him “really real”, super-real, as opposed to the merely imitative illusions of puppeteers and jongleurs. I will cite Le Jeune extensively below, to give a taste of his rhetoric and of the scene of this encounter, and to illustrate my arguments: The Sorceror and the Priest: Wandering Souls in Canadian Forests, 1634 55 They believe in certain demi-gods [or spirits] of the day, or […] of the air, [whom] they call Khichikouai, from the word Khichikou…day or air. The spirits know future things; this is why the Savages consult them. They see very far, not everyone but certain jongleurs who know best how to play the clown and amuse the rest. I found myself among them when they consulted these grand Oracles […]. (Le Jeune 1635: 48) The jongleur having entered [the tabernacle] [...] shook the tent at first without violence; then becoming animated little by little, he commenced to whistle in a hollow tone, and as if it came from afar; then to talk as if in a bottle; to cry like the owls of these countries [...] then to howl and sing [...] counterfeiting the voice so that it seemed to me I heard those marionettes which certain acrobats exhibit in France. He spoke mostly Montagnais, sometimes Algonkin, keeping always the Algonkin accent, which is gay like Provençal. (ibid.: 49) As he changed his voice the Savages cried out [to him] at the beginning moa, moa, listen, listen; then inviting these spirits they said [to them] Pitoukhecou, Pitoukhecou, enter, enter […]. I was seated like the others watching this grand mystery, having been forbidden to talk, but as I had never vowed my obedience to them, I did not neglect to say a word or two, against the rules: ‘I pray you earnestly to have pity on this poor jongleur who is killing himself in this tabernacle’. At another time I said to them that they should cry out more loudly and that their Genies must be sleeping (ibid.: 49). Some of the Barbarians imagined that the jongleur was not inside [the tabernacle] at all, that he had been transported without knowing where or how. Others said that his body was at rest on the earth while his soul was above the tabernacle where it spoke in the beginning, calling the spirits and sometimes throwing out some sparks of fire […]. Then addressing themselves to him they cried pouachi, tepouachi, call, call […] [and] the jongleur above, making like some spirits, changing his tone and voice, called them. Meanwhile our Sorceror, who was present, took his tambourine and sang with the jongleur […] inside the tabernacle; the others responded. They made certain young men dance, among them the Apostate, who didn’t want to listen but the Sorceror made him obey. (ibid.: 52-53) And finally after a thousand cries and shouts, after a thousand songs, […] the Sorceror consulted [the Spirits]. He asked them about his health (because he is sick) [and] that of his wife who was also [sick]. These spirits, or rather the jongleur who counterfeited them, responded that as for his wife, she was already dead, as I had indeed already told him, because one need not be a prophet nor a sorcerer to divine that the poor creature already had death in her teeth; as for the sorcerer, they said he would see the Spring. Now knowing his illness, which was a pain in his kidneys or rather the result of his lechery and bawdy ways […] I tell him seeing that he is otherwise healthy, and eats and drinks very well [with kidney disease? ! ], that not only will he see the Spring but also the Summer, if some other accident did not occur. I wasn’t wrong. (ibid.: 52-53) Unable to speak with the jongleur, who slips out quickly in the dark, the priest asks the Apostate if he really believes in all this. “He pledged his word, which he had lost and perjured, that it wasn’t the jongleur at all who spoke but these spirits of the day, and my host said to me ‘Enter the tabernacle yourself and you will see that your body will stay below and your spirit Mary Baine Campbell 56 mount on high’.” Le Jeune’s host clearly sees him as a ‘jongleur’ himself, who would have had the jongleur’s power to travel out of his body. The fiercely competitive priest is tempted, but since he is alone with no presumably Christian witness, he fears that they would boast “that I would have recognized and admired their mysteries“ (ibid.: 54). Now I had a great desire to know of what nature they made out these spirits to be. The Apostate knew nothing about it. The sorcerer, seeing that I was exposing his deceptions and that I disapproved of his trifles, didn’t want to teach me about it, [refusing] so firmly that I had to employ a ruse: I spoke to him as though admiring his doctrine, saying he was wrong to turn away from me since I responded openly to all the questions he had asked about our beliefs, without closing my ears. Finally he let himself earn some praise for himself, and revealed his [school] secrets to me. Here is the fable he recounted on the nature and essence of these spirits. (ibid.: 54-55) The Sorcerer tells him an unsettling resonant origin story - one of many he is told about encounters between a pair of beings representing opposed forces. There had once been two different men consulting the spirits in two different tabernacles, of whom one was a wicked man who had killed three other men with a hatchet and was put to death by the Genies. They then went to the other tabernacle, to take the other man’s life […] but were surprised themselves, because this jongleur defended himself so well that he killed one of the Genies, and they knew this was a fact because the Genies remained in the place. I asked him then of what form he was; he was as big as a fist, he told me, his body of rock and a little elongated […]. They believed that in this body of stone there is flesh and blood because the hatchet with which the Genie was killed remained bloodied. I asked if they had feet and wings, and when he said No, ‘how then,’ I said, ’could they enter or fly into these tabernacles if they have neither feet nor wings? ’ The Sorceror began to laugh, saying as a solution ‘in truth, this block robe has no mind.’ Voilá [sic] how they pay me when I make an objection to which they can’t respond! (ibid.: 55- 56) Because they make such a big deal of the fire which these jongleurs toss from the tabernacle, I tell them we French would throw it better than he did, because he could only make some sparks fly from a piece of rotten wood he carried with him, as I am persuaded, and if I had had any resin, I could have made whole flames leap out [‘anything you can do I can do better! ’]. They argued that he had entered the tabernacle without any fire, but by good fortune I had seen given to him a large glowing coal that he asked for. (ibid.) Voilá how he pays them when he does not know how to respond to their challenges! To do Le Jeune justice, he might well have reacted with equal severity to the statues of the Virgin Mary that wept tears of blood or oozed breast milk in European ‘tabernacles’ - at least if he had happened to observe the backstage preparation of these petty miracles. But the most important point here is the failure of comparison - not just to petty miracles but to the mystery of the Eucharistic communion itself, in which a priest, possessed of a special spiritual power handed down to him literally from an ancient culture-hero in The Sorceror and the Priest: Wandering Souls in Canadian Forests, 1634 57 the ritual of ordination, invokes in a piece of ordinary bread, and by means of a strange tongue, the actual flesh and blood of that great Spirit of the Day, Jesus the incarnate son of God. In a ceremony of call and response, music and ritualized movement, that recalls forcibly the antiphonal structure of the Montagnais ceremony we have been observing. Le Jeune’s unsarcastic (for once) use of the word ‘tabernacle’ for the teepee in which the jongleur communes with his divinites suggests that he senses this himself at some level, and he must surely have felt as keenly as we do the comparison implicit in his host’s invitation to enter the tabernacle himself. This is the recourse to sarcasm and reductio ad absurdum we have seen already. Here, however, Le Jeune permits himself to interrupt with his insulting rhetoric a sacred ceremony during which he has been forbidden to speak! It is a wonder that the Montagnais will talk to him at all. What did they make of his claim that he could have made a better sacred fire in the tabernacle than their shaman - if only he had some resin. And why didn’t he? I am curious about the treatment Le Jeune receives at the hands of his host and close associates. The initial response of the insulted Sorcerer, after a long, exhausting ceremony in which he has learned that his wife is dead, is not a mystery: why indeed try to explain anything to such an interlocutor! The harder question is, why does the Sorcerer open up after a little feigned encouragement? A ruse Le Jeune permits himself to expose the ruses of others! The language of payment and exchange Le Jeune employs from time to time in this account suggests one possible answer: because he has previously answered the Sorceror’s questions about Christian beliefs, answers are now reciprocally due from the Sorceror about Montagnais beliefs. One wonders how Le Jeune explained the consecration of the Mass, the real presence of the incarnate Christ in the host, the winged immaterial angels of Christian belief, the ‘heavenly kingdom’ to which Christian souls would, with any luck, travel after death, the miracles and supernatural light shows that so often gave the French encouragement and victory in battle, Christian petition to God for health and good harvests, the visions and trances of early modern saints and holy women, the practice of pilgrimage, the veneration of relics, and the firm belief in supernatural cures. That winter Le Jeune may have occasionally found his weak command of Montagnais a blessing. The rest of the chapter suggests that as the insults mount, the Sorceror becomes less willing to tolerate his rival’s taunts. ‘Tu n’as point d’esprit’ - ‘you have no mind’ - becomes his refrain. ‘You speak of things you know nothing about.’ Le Jeune is increasingly dependent on the Apostate, who probably speaks a little French, and his host, both of whom he often describes as ‘knowing nothing about it’. Undoubtedly they know less than the Sorceror, but one might wonder whether they are becoming taciturn themselves. They may need to retain friendly relations with the French because of the fur trade, but they show little desire for a religion that cannot help them discern the direction and location of their prey, or keep their enemies at bay. A few years later the Huron will be less welcoming still, blaming not only the ‘black Mary Baine Campbell 58 robes’ but their writing itself for the smallpox epidemic that would shortly wipe out their nation, and putting to death several Jesuits (now Canadian culture-heros themselves). As one Huron said in answer to the charge that the Indians were drinking themselves to death: “No, it is not these drinks that take away our lives, but your writings: for since you have described our country, our rivers, our lands, and our woods, we are all dying, which did not happen until you came here.” A serious charge, for critics of travel writing! For Le Jeune, in the end, ‘our Savages’ understood nothing of their own mythology or the rituals it supported: they could not answer him in his own terms. For the Montagnais, Le Jeune also understood nothing of their sacred rites and narratives. Misunderstanding his irony, they see brainlessness in his persistent reductio ad absurdum of their fully ensouled world. The real audience of Le Jeune’s interrogative ironies was probably his European readership. This time he knows he is writing a book for publication. He succors himself in his extreme isolation with a knowledge of that more ‘knowing’ audience, and would have been horrified to think of our ineluctable sympathy for his stubborn subjects. And even more, for the secularism which in large part we owe to the anthropological revelation that all culture, and all behavior related to the world of the dead and the divine, is performance: we are, indeed, jongleurs all. In the efforts of the Sorceror we can see one origin of what has been a persistent effort of resistance among those Canadians who have managed to maintain some cultural continuity with their past and even, in recent years, to win back territories from the government. In 1999 Canada gave up its sovereignty over Nunavut, the huge northern territory where the melting of glaciers and the Arctic ice cap proceeded to make its Inuit government proprietors of a land which, though now more difficult for the dead - and the living - to traverse by foot, is of major commercial and strategic importance: Voilá the Northwest Passage! The biggest problem for most contemporary readers is, I think, feeling sympathy for Le Jeune: scornful, sarcastic and even resistant to knowledge, though he knows he must learn much in order to ‘save’ ‘our Savages’ and destroy their own coherent way of relating to their environment. Their irritation with their guest’s arrogant ignorance is palpable, as is their fear of disease and death in the harsh winter. And it quickly becomes our own. This in turn offers us a complex kind of imaginary resolution: identifying with ‘Indians’ is for me and most of us a darkly pleasurable way of dis-identifying the massively destructive colonizing efforts on which the continued power and wealth of ‘the West’ is based, and many of our disciplines as well. Le Jeune’s debates with his hosts, however discourteous, may remind social scientists of some of their own struggles, who fear in ‘going native’ the undermining of the entire construct of social science itself: our modern faith. What does it mean, what does it matter for us to go on reading these fatal accounts so closely? After all, the big lesson has been learned already - that The Sorceror and the Priest: Wandering Souls in Canadian Forests, 1634 59 anthropology and its categories have a history founded in colonialist ‘encounters’. And even offshoot disciplines like cultural studies are despised by those whose past and continuing oppression kindly western scholars try to understand. But we are interested as well in what after all remains a form of literature. Paul Le Jeune is an important travel writer, who left us fascinating books composed in situ over two decades in the fabulous alterity of a now-lost world. What lessons lurk in such texts for the imagination itself? We are not only teachers and historians, we are readers and writers. What good can be made from these bloody texts? What can we make with them in new encounters that will begin to pay the terrible price of their composition? Mary Baine Campbell 60 References Caciola, Nancy. 2003. Discerning Spirits: Divine and Demonic Possession in the Middle Ages. Ithaca/ London: Cornell University Press. Dictionary of Canadian Biography. 1966. Toronto: University of Toronto Press. Geertz, Clifford. 1973. “Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight.” In: The Interpretation of Cultures. New York, NY: Basic Books. Goffman, Erving. 1959. The Presentation of Self in Everyday Life. Garden City, New York: Doubleday. Greenblatt, Stephen. 1993. New World Encounters. Berkeley: University of California Press. Lafitau, Joseph, SJ. 1724. Moeurs des sauvages amériquains. Paris. Le Jeune, Paul. 1635. Relation de ce qui s’est passé en la Nouvelle France en l’année 1634. Paris: Sebastien Cramois. Loty, Laurent. 2005. “Pour l'indisciplinarité.” In: Julia Douthwaite & Mary Vidal (eds.). The Interdisciplinary Century: Tensions and Convergences in Eighteenth-Century Art, Literature and History. Oxford: Voltaire Foundation. 245-259. Oxford English Dictionary (online). 1989-. Oxford/ New York: Oxford University Press. Pratt, Mary Louise. 1992. Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation. London/ New York: Routledge. Shluhovsky, Moishe & Nancy Caciola. 2006. “Spiritual Physiologies: The Discernment of Spirits in Medieval and Early Modern Europe.” In: Fernando Vidal (ed.). Miracles as Epistemic Things. Leiden/ Boston: Brill. Thwaites, Ruben Gold. 1959. The Jesuit Relations and Allied Documents. 73 vols. Cleveland; rpt. New York: Pageant Book Company. Taussig, Michael. 1993. Mimesis and Alterity: A Particular History of the Senses. New York: Routledge. Vera Nünning ‚Writing Selves and Others’: Zur Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit Ein ‚neuer Kosmos’ öffnete sich - will man Peter Brenner Glauben schenken - den Menschen in der Frühen Neuzeit, eine offene Welt, in der im Gegensatz zu mittelalterlichen Weltbildern nicht jeder Gegenstand seinen natürlichen Ort und seine Bestimmung hatte. Anstelle des althergebrachten Glaubens an eine fest gefügte Weltordnung, in der Neues und Fremdes als Kurioses und Monströses begriffen werden mussten, wurden nun, so Brenner, ganz neue Erfahrungen des Fremden ermöglicht (vgl. Brenner 1989: 21, 30). Diese grundsätzliche Offenheit, die es erlaubte, Fremdes in das eigene Weltbild zu integrieren, wurde jedoch gleich strapaziert. Die europäische Entdeckung Amerikas und besonders die Begegnung mit anderen Ethnien stellten eine große Herausforderung dar, deren Reichweite heute kaum überschätzt werden kann. Zunächst hatte sich das englische Interesse an Amerika zwar recht lange darauf beschränkt, die Fischgründe vor Neufundland auszubeuten und die Nordwestpassage zu finden. Bis in die 1580er Jahre wurde Amerika vor allem als ein lästiges Hindernis auf dem Weg zu den Reichtümern Asiens angesehen: „In the beginning, America was in the way“ (Cressy 1986: 44). Dies sollte sich jedoch rasch ändern: Ein neuer Kontinent, eine gänzlich andere Flora und Fauna, vor allem ganz andere Menschen forderten die Vorstellungskraft der Europäer heraus. Immer mehr Reisende schilderten völlig unbekannte Verhältnisse in einer Neuen Welt, und Reiseberichte erhielten einen sehr hohen Stellenwert. Diese Schilderungen nahmen sehr unterschiedliche Formen an: Teilweise waren es recht nüchterne Berichte über Flora, Fauna und Bevölkerung, die potentielle Seefahrer und Siedler darüber informieren wollten, was sie erwartete. In diesen Kontext gehören auch die berühmten Bilder von Theodor de Bry und anderen Malern und Kupferstechern. Diese Künstler wurden mit auf die Reisen genommen, um der heimischen Bevölkerung ein wirklich anschauliches Bild von der neuen Welt vermitteln zu können. Andere Berichte sind offensichtlich von ideologischen Erkenntnisinteressen geprägt. Im Kontext der spanischen Kolonisierung der Amerikas entspann sich eine Debatte, die ganz offensichtlich von der Legitimation - bzw. der nicht möglichen Legitimation - spanischen Verhaltens gegenüber den Indianern geprägt war. Gonzalo Fernández de Oviedo etwa vertrat in diesem Kontext einen aristotelischen Standpunkt und unterschied in diejenigen, die zum Befehlen bzw. Gehorchen geboren seien. Die minderwertigen - d.h. die Indianer - könnten problemlos versklavt werden. Bartolomé de Las Casas setzte dem ein idealisierendes Indianerbild gegenüber, in dem die Spanier als Wölfe die unschul- Vera Nünning 62 digen Indianer zerfleischen. Dies beförderte die ‚Black Legend’, die vor allem von den Gegnern Spaniens gern aufgenommen und ausgeschmückt wurde. Dass die daraus erwachsenden gegensätzlichen Vorstellungen von den Indianern wesentlich mehr über die Europäer und ihr eigenes Selbstbild aussagen als über die Fremden, die sie vermeintlich beschreiben, ist offensichtlich. Was mich in diesem Kontext interessiert, ist jedoch das Wechselspiel zwischen Fremdem und Eigenem, das in vermeintlich neutralen Berichten von Indianern zum Ausdruck kommt. Das Bild der Fremden ist weniger von dem abhängig, was der Reisende in der neuen Umgebung vorfindet, als von dem Reisenden selbst, von seinem Werte- und Normensystem, von seinen Intentionen und seiner Erwartungshaltung, die von sehr unterschiedlichen Faktoren geprägt ist. Die Persönlichkeit des Reisenden, sein Erfahrungshorizont und seine Werthierarchien bestimmen die Möglichkeiten und Grenzen der Fremderfahrung. Dass Reiseberichte darüber hinaus zumindest ebenso sehr Auskunft über das kulturelle Selbstverständnis geben wie über die bereisten Regionen, möchte ich anhand der ersten englischen Berichte über Begegnungen mit Indianern veranschaulichen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen wird die Frage stehen, welche Vorstellungen englische Reisende von Indianern entwickelten und welcher Zusammenhang zwischen ihrem Selbstbild und ihren Vorstellungen von den Fremden bestand. Dabei werden aus der Fülle zeitgenössischer Texte einige stereotype Merkmale herausgearbeitet, um die Mechanismen zu rekonstruieren, die am Prozess des Fremdverstehens beteiligt waren. Gerade weil viele damalige Vorstellungen aus heutiger Sicht ungewohnt und merkwürdig erscheinen, fällt eine distanzierte Analyse leichter als die Isolierung vergleichbarer gegenwärtiger Überzeugungen, die wir für selbstverständlich halten und unbefragt als zutreffend akzeptieren. 1. Europäische Vorannahmen Schon bevor die Engländer von der Existenz der Neuen Welt erfuhren, bestanden eine Reihe von Vorannahmen darüber, was die ‚anderen’, was nicht zivilisierte Menschen auszeichnete. Dieser Fundus von vermeintlichen Charakteristika war Bestandteil einer langen Tradition bekannter Schriftsteller, die von Herodot über Plinius und Isidor von Sevilla bis zu Peter Martyr reichte. Die Erwartungshaltung gebildeter Europäer war geprägt von aus heutiger Sicht mehr oder weniger glaubwürdigen Texten, deren Wahrscheinlichkeitsgehalt damals kaum abzuschätzen war, zeigten doch die vielen bislang unbekannten Pflanzen und Tiere des amerikanischen Kontinents, dass sehr seltsame Dinge und Lebewesen existierten, die es in der eigenen Erfahrungswelt schlicht nicht gab. Daher konnte auch der einflussreiche Reisebericht, der 1396 angeblich von einem John Mandeville geschrieben worden war, von Generationen von Lesern nicht leicht als fiktiv desavouiert werden. Diese äußerst populäre Schrift handelte zwar von einer Reise nach China, aber das spielte kaum eine Rolle, denn die interessanten Passagen handelten Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit 63 nicht von Chinesen. Vielmehr wies der Bericht viele intertextuelle Referenzen zu früheren, sehr angesehenen Texten auf und bestärkte den Glauben an die Existenz von Amazonen, an hundsköpfige Wesen, an Menschen ohne Kopf, deren Gesicht in ihrem Brustkorb zu finden war, und an ‚Einfüßler’, deren einziger Fuß so groß war, dass er im Bedarfsfall auch als Sonnenschirm dienen konnte. Natürlich waren auch Kannibalen weithin bekannt, und obgleich Amerika eigentlich der ideale geographische Standort für die Lokalisierung des Paradieses war, vermutete man auch an diesem Ort die Existenz solcher Monster, deren Zähne ganz so aussahen wie die von Hunden. Die Bedeutung solcher Vorannahmen, die wir im Gegensatz zu damaligen Lesern heute selbstverständlich in den Bereich von Mythen und Legenden einordnen können, wirkte noch mehrere Jahrhunderte fort. So suchten Repräsentanten vieler Nationen (unter anderem der Deutsche Philipp von Hutten oder die Spanier Francisco de Orellana und Gonzalo Pizarro) auf dem amerikanischen Kontinent in beschwerlichen Expeditionen nach wundersamen Dingen, etwa nach dem sagenhaft reichen El Dorado, nach dem Jungbrunnen und nach einem Reich, in dem die Menschen nicht stürben. Dass sogar Columbus gegen die Wirkung solcher Mythen nicht gefeit war, zeigt ein Eintrag in seinem Logbuch vom Herbst 1493 während seiner zweiten Reise. Er habe zwar eine Meerjungfrau gesehen - aber die Sirenen der Karibik seien weniger schön als die bei Horaz. Tatsächlich begegneten die ersten Engländer Indianern erst recht spät, als der frühe Rausch der großen Entdeckungen bereits nachgelassen hatte und man sich andernorts daran machte, das gewonnene Material zusammenzustellen. Führend war in dieser Hinsicht Venedig. Dort veröffentlichte Giovanni Battista Ramusio, ein hoher Beamter der Republik, das einflussreiche Sammelwerk Delle Navigationi et Viaggi (3 Bde., 1550, 1556, 1559), dem knapp zwei Jahrzehnte später das englische Pendant von Richard Hakluyt dem Jüngeren (1598-1600) folgte. Der bediente sich übrigens recht schamlos bei den Erfahrungen anderer Nationen, bezeichnete das ganze jedoch als englisches Projekt und schuf damit ein Werk, das England als seefahrende Nation mit einer vermeintlich langen Tradition von Reisebeschreibungen auswies. Als es zu den ersten Begegnungen zwischen Engländern und Indianern kam, konnten die Reisenden daher auf ein breites Spektrum von Vorstellungen zurückgreifen, die zur Kategorisierung und zum Verständnis des Fremden dienen konnten. Die gebildeten Leserinnen und Leser, die Reisebeschreibungen des 16. und 17. Jahrhunderts zur Kenntnis nahmen, waren vermutlich dazu in der Lage, entsprechende intertextuelle Referenzen zu bekannten früheren Schriften zu verstehen und die aufgerufenen Bilder zu vervollständigen. 2. Die englischen Bilder der Indianer Zu intensiveren Begegnungen zwischen Engländern und amerikanischen Ureinwohnern, denen wir die ersten englischen Beschreibungen indianischer Vera Nünning 64 Kulturen verdanken und die im Folgenden Grundlage der Untersuchung sind, kam es im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts, nachdem sich Richard Hakluyt und Dr. John Dee für die Kolonisierung von Landstrichen in Amerika eingesetzt hatten. Besonderes Interesse verdient in diesem Zusammenhang Sir Walter Ralegh, der elisabethanische Höfling, Poet, Geschäftsmann, Soldat und Historiker. Ralegh organisierte in den 1580er Jahren die erste englische Besiedelung im heutigen Virginia. Darüber hinaus reiste er 1595 den Orinoko hinauf, um El Dorado und die Goldschätze Südamerikas für die englische Krone zu erobern. Bemerkenswert ist zunächst, dass in den Schriften in der Regel eine recht kleine Zahl von stereotypen Merkmalen hervorgehoben wird, die als charakteristisch für die indianische Bevölkerung gelten. Die englischen Bilder der Indianer lassen sich schematisch zwei Typen zuordnen: ‚guten’ und ‚schlechten Wilden’. Anfangs werden in den Berichten großenteils ‚gute Wilde’ beschrieben. Im späten 16. Jahrhundert erschienen die Indianer Arthur Barlowe, der neben Thomas Hariot die genaueste Darstellung der Einwohner von Roanoke lieferte, schon auf den ersten Blick als „very handsome, and goodly people“ (Barlowe 1955: 98). Außerdem seien sie einfach, sehr großzügig und gastfreundlich. Ralegh meinte am Orinoko einige Indianer getroffen zu haben, die trotz ihres biblischen Alters von über 100 Jahren noch ziemlich rege waren. Besonders beeindruckt waren die Engländer von vielen Häuptlingen, die sie als erstaunlich weise und ehrwürdig einschätzten. Eine konzise Zusammenfassung der Merkmale, die das Bild des ‚guten Wilden’ prägten, gab Barlowe (1955: 8): „Wee found the people most gentle, louing, and faithfull, void of all guile, and treason, and such as liued after the manner of the golden age.” 1 Diese Beschreibung ist auch insofern typisch, als sie Merkmale auflistet, die mit dem Goldenen Zeitalter verbunden wurden, das in vielen klassischen Texten der Antike beschrieben worden war. Autoren wie Barlowe konnten daher auf Vorstellungen rekurrieren, die ein ganzes Bündel von Konnotationen wach riefen, die nicht eigens ausführlich thematisiert werden mussten und dennoch mit der Neuen Welt verbunden wurden. Gleichzeitig vermitteln die Berichte oft den Eindruck, als bestünden keine tief greifenden Unterschiede zwischen ‚guten Wilden‘ und Engländern. Herausragende Indianer wurden häufig dadurch gelobt, dass sie in bestimmten Belangen fast als Engländer durchgehen konnten. So beschränkte sich das hohe Lob, dass Ralegh der Ehefrau eines Kasiken zollte, nicht auf eine Beschreibung ihres Aussehens, an dem er besonders hervorhob, dass sie „of good Stature, with black Eyes, fat of Body“ sei. Vielmehr betonte Ralegh, dass sie einer englischen Schönheit verblüffend ähnlich sehe: „I have seen a Lady in England so like her, as but for the Difference of Colour I would have sworn might have been the same” (Ralegh 1751: 197f.). Als gut galten India- 1 Ralegh beschreibt paradiesähnliche Zustände auch im Orinokogebiet; vgl. Ralegh (1751: 191, 208). Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit 65 ner offenbar vor allem dann, wenn sie englische Qualitäten aufwiesen. Diese Einstellung zeigt sich auch in der Würdigung der unerlässlichen Dienste, die Manteo, einer der Algonkin-Indianer in Roanoke leistete. So urteilte John White: „[Manteo] behaued himselfe toward vs as a most faithfull English man” (White 1955: 530). Besonders gewürdigt wurden demzufolge solche indianischen Eigenheiten, die englischen Idealen entsprachen. Wenn Barlowe den großen Respekt betonte, den Indianer ihren Häuptlingen entgegenbrachten, so kommt darin das englische Leitbild einer hierarchischen Gesellschaft zum Ausdruck. Eine ähnliche Form der Angleichung des Fremden an das Eigene nahm Thomas Hariot vor, der in seinem Bericht Strafen für Gesetzesübertretungen auflistete, die zwar in seinem Heimatland praktiziert wurden, nicht aber von den Indianern in Roanoke. Vollends deutlich wird die Tendenz, ‚gute Wilde’ an Engländer zu assimilieren, wenn diese als ‚zivilisiert’ beschrieben werden. So verkündete Barlowe (1955: 98f.), das Benehmen der Indianer sei „as mannerly, and ciuill, as any of Europe“ 2 . Diese Betonung von vermeintlichen Ähnlichkeiten zwischen Engländern und Indianern ließ Spezifika der indianischen Kulturen kaum in den Blick geraten. Das Bild der ‚guten Wilden’ kennzeichnete im Wesentlichen Menschen, die noch keine negativen Charakteristika ausgeprägt hatten und einige - natürlich positiv konnotierte - englische Eigenschaften besaßen. Diese Vorstellung von ‚guten Wilden’ leistete zudem der Annahme Vorschub, dass die Indianer die Moralvorstellungen und Verhaltensweisen der Engländer schnell übernehmen würden. So schrieb Thomas Hariot (1955: 372) zuversichtlich, dass es nicht lange dauern werde, bis die Indianer zivilisierte und christliche Menschen würden: „[I]f meanes of good gouernment bee vsed, [...] they may in short time be brought to ciuilitie, and the imbracing of true religion“. 3 Angesichts solcher Hoffnungen war eine baldige Ernüchterung absehbar. Die enttäuschten Erwartungen der Siedler in Roanoke und in Jamestown schlugen sich rasch in einem negativen Konzept von ‚schlechten Wilden’ nieder, mit dem von Beginn an alle Indianer charakterisiert wurden, die sich englischen Anforderungen widersetzten. Obgleich es zu jeder Zeit unterschiedliche Bilder von ‚Wilden’ gab und in einzelnen Texten teilweise widersprüchliche Darstellungen zu finden sind, waren die Beschreibungen, die im späten 16. Jahrhundert verfasst wurden, insgesamt gesehen viel positiver als diejenigen, die von Engländern in Virginia im 17. Jahrhundert, insbesondere nach 1622 verbreitet wurden. 4 2 Zum Vorherigen vgl. Hariot (1955: 374f.) sowie Barlowe (1955: 103). 3 Vgl. zu dem mangelnden Interesse an den Spezifika der indianischen Kulturen auch Pagden (1982: 5). 4 In vielen Texten finden sich zudem teilweise widersprüchliche Aussagen, was sich durch die unterschiedlichen Kontexte erklärt. Zum Wandel der englischen Bilder der ‚Wilden’ vgl. auch Andrews (1984: 324). Vera Nünning 66 Ein zentrales Merkmal der dämonisierten ‚schlechten Wilden’ war englischen Beobachtern zufolge deren Neigung zum Diebstahl. John Smith, der 1608-9 Gouverneur der Kolonie Virginia war, betonte außerdem die Habgier, die sich auch noch auf wertlose Gegenstände richtete: Indianer seien vor allem auf Glasperlen - „and such like trash“ - versessen (vgl. Smith 1966: 30). Beschreibungen des ‚schlechten Wilden’ hoben zudem die Grausamkeit der Indianer hervor, betonten aber gleichzeitig ihre Ängstlichkeit. In der Charakterisierung von ‚schlechten Wilden’ wurde daher auch der Respekt vor Häuptlingen negativ gedeutet. Smith erwähnte zwar, dass die Indianer Gesetze einhielten; er betonte jedoch, dass sie die tyrannischen Maßnahmen ihres Anführers Powhatan lediglich aus Angst vor den drohenden barbarischen Strafen befolgten. 5 Smith‘ Schilderung der Beziehung der Indianer zu ihrem despotischen Führer bringt daher gleichzeitig die Feigheit und die Grausamkeit dieser vermeintlichen Barbaren zum Ausdruck. Statt der geordneten hierarchischen Gesellschaftsstruktur hob Smith die angeblich despotische politische Ordnung hervor. Wie unzutreffend die Charakterisierung von ‚schlechten Wilden’ war, zeigt sich besonders daran, dass ihnen eine Neigung zu Verrat zugeschrieben wurde - obgleich sich doch gerade die Briten selbst durch nicht eingehaltene Versprechungen und Vertragsbrüche auszeichneten. Eine Fülle von Verhaltensweisen wurde auf die betrügerischen Absichten der Indianer zurückgeführt. Heimtücke, Falschheit und Betrug zählten zu den herausragenden Merkmalen, die das Bild vom ‚schlechten Wilden’ prägten. Die Projektion der eigenen unlauteren Absichten prägt auch die Beschreibung der Art und Weise, wie die Engländer Pocahontas, die sagenumwobene indianische Vermittlerin beider Gemeinschaften und Helferin der Kolonisten, in ihre Gewalt bekamen. 6 Eigentlich hatten die englischen Siedler allen Grund, dieser Tochter Powhatans dankbar zu sein. Dennoch nahmen sie Pocahontas durch eine List als Geisel, um Powhatan zu weiteren Zugeständnissen zu zwingen. In Smith’ Bericht über diese unrühmliche Tat werden jedoch zwei Indianer für den Betrug verantwortlich gemacht, die von den Engländern dazu überredet worden waren, ihnen bei der Gefangennahme behilflich zu sein. Aus englischer Sicht waren es die beiden Indianer, die „the poor innocent Pocahontas“ 7 betrogen. Ebenfalls sehr wichtig war die Charakterisierung der Ureinwohner als ‚unmenschlich’. Der vermeintliche Mangel an Menschlichkeit zeigt sich in den Schriften vor allem an der Betonung des Kannibalismus. Selbst Ralegh, 5 Vgl. Smith (1966: 38). Kupperman (1980: 48) deutet hingegen alle Beschreibungen des Respekts der Indianer vor Gesetzen und Stammesoberhäuptern als Anzeichen für ein positives Indianerbild. 6 Zu den Mythen um Pocahontas vgl. Tilton (1994). 7 Das Verhalten der Indianer wird darüber hinaus durch den geringen Lohn für diesen Betrug abgewertet; vgl. dazu Smith (1966: 112): „[T]he Saluage for the Copper Kettle would haue done any thing“. Eine andere Deutung des immer wiederkehrenden Vorwurfs des Verrats findet sich bei Kupperman (1980: 127-129). Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit 67 der insgesamt ein sehr positives Bild der Indianer zeichnete, wies mehrfach darauf hin, dass es am Orinoko Kannibalen gebe, die für einen geringen Profit sogar ihre engsten Verwandten verkauften. 8 Der Kapitän von Raleghs Schiff, Lawrence Keymis, weiß dem in seinem Bericht noch hinzuzufügen, dass Kannibalen wie die Ipaios keine vergifteten Pfeile benutzten, weil ihnen dadurch ja das spätere Mahl verdorben würde. 9 Ein Bericht, den Hakluyt abdruckte, lässt den Bezug auf frühere Texte klar erkennen: Die Kannibalen seien „a cruell kinde of people, whose foode is mans flesh, and [who] have teeth like dogges“ (Peckham o.J.: 51). 10 Dabei ist festzuhalten, dass keiner der Berichtenden selbst jemals einen Kannibalen gesehen hatte. Ein früher Reisebericht von David Ingram berichtete denn auch von Kannibalen in Nordamerika, wo sie heutigen Kenntnissen zufolge nie zu finden waren. ‚Schlechten Wilden’ wurden auch über den Vorwurf des Kannibalismus hinaus animalische Züge zugeschrieben; oft wurden sie als brutish charakterisiert. Dies war im 16. und frühen 17. Jahrhundert ein wesentlich schwerwiegenderer Vorwurf, als man heute meinen könnte. In der chain of being waren Menschen über den Tieren eingeordnet, da sie fähig waren, ihre destruktiven animalischen Instinkte einzudämmen bzw. zu beherrschen. Aufgrund der hierarchischen Struktur innerhalb jedes Gliedes der ‚Kette des Seins’ waren sozial niedrig gestellte Schichten daher viel näher an der Grenze zum Tierreich als die Oberschichten. Ein Abgleiten in den animalischen Bereich, der gemäß frühneuzeitlicher Konventionen als bedrohlich und bestialisch eingeschätzt wurde, war daher durchaus denkbar - und konnte zu entsprechenden Repressionen führen. Noch abwertender war die häufig vorzufindende Verbindung von ‚schlechten Wilden’ mit dem Teufel. In Zeiten, in denen sich Christen unterschiedlicher Glaubensrichtungen gegenseitig der Ketzerei bezichtigten und Todesstrafen auch für vermeintliche Hexerei skrupellos umgesetzt wurden, konnten solche Konnotationen eine große Wirkung entfalten. Wie nah die amerikanischen Ureinwohner an der Grenze zum Dämonischen angesiedelt wurden, belegt die Tatsache, dass selbst einige Berichte über positive Begebenheiten von dieser Einschätzung geprägt sind. Vor einer Gleichsetzung mit höllischen Wesen war selbst Pocahontas nicht gefeit, die als Tochter des einflussreichen Powhatan, der einer Vereinigung von dreizehn Algonkin- Gruppen vorstand, einen sehr hohen sozialen Rang innehatte. Hinzu kam, dass sie dem Briten John Smith das Leben gerettet hatte. Die Beschreibung 8 Vgl. Ralegh (1751: 179): „[T]he Canibals [...] are of that barbarous Nature, as they will for 3 or 4 Hatches sell the Sons and Daughters of their own Brethren and Sisters, and for somewhat more even their own Daughters”. Vgl. auch ebd. (211). 9 Keymis (o.J.: 395). Vgl. auch die Beschreibung eines kannibalischen Rituals von Ralegh (1751: 187): „Those Nations which are called Arwacas which dwell on the South of Oroonoko [...] do use to beat the Bones of their Lords into Powder, and their Wives and Friends drink it all in their several Sorts of Drinks”. 10 Einige Siedler in Virginia beschreiben Kannibalen, schränken aber ein, dass sie diese nicht selbst gesehen hätten. Vgl. dazu auch Kupperman (1980: 43f., 127). Vera Nünning 68 ihres Versuchs, mit einigen Gefährtinnen englische Gäste zu unterhalten, zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der Engländer unbekannte Sitten dämonisierten. Besonders deutlich wird dies in der Art und Weise, wie Smith das Tanzen und Singen der Indianerinnen schilderte: [T]hirtie young women came naked out of the woods, onely covered behind and before with a few greene leaues [...]. These fiends with most hellish shouts and cryes [...] cast themselues in a ring about the fire, singing and dauncing [and] oft falling into their infernall passions (Smith 1966: 67). Dass Smith in den jungen Indianerinnen nur Dämonen sah, die höllische Laute von sich gaben, sagt wenig über die Besonderheiten indianischer Kulturen, dafür aber viel über die Ängste der englischen Beobachter aus. Das Bild des ‚schlechten Wilden’, das in den Schriften über englische Erfahrungen in Jamestown im frühen 17. Jahrhundert vorherrscht, wird den Spezifika der indianischen Kulturen insgesamt ebenso wenig gerecht wie die frühere idealisierte Vorstellung von den ‚guten Wilden’. 3. Prägende Faktoren Daraus ergibt sich die Frage, welche Faktoren die englische Wahrnehmung der Indianer prägten. Zunächst ist festzuhalten, dass es den Reisenden des 16. Jahrhunderts nicht darum ging, ein umfassendes Bild indianischer Kulturen zu geben. Vielmehr hielten sie vor allem das fest, was sie und spätere Siedler gebrauchen konnten. Interessant waren Indianer aus englischer Sicht als potentielle Informanten - vorzugsweise über Fundstellen von Gold und anderen Edelmetallen -, als Lieferanten von Nahrungsmitteln sowie als Objekte religiöser Bekehrung und wirtschaftlicher Ausnutzung. 11 Die Beschreibung und Beurteilung von Indianern hing auch von deren potentiellem Nutzen ab. Zu den wichtigsten Faktoren, die das englische Indianerbild beeinflussten, gehört die Verwendung von Kategorien und Denkmustern aus der englischen Kultur, die das Verständnis indianischer Sitten und Gebräuche eher behinderten als ermöglichten. Wichtig waren darüber hinaus die Vorannahmen der Reisenden, die aus deren Kenntnis früherer, mit phantasievollen Beschreibungen gespickten Texte resultierten und sich in intertextuellen Bezügen manifestierten. Zudem dienten die Ureinwohner oftmals als Projektionsfläche für englische Wunschvorstellungen. Nicht zuletzt sind die Inte- 11 Dass Indianer in erster Linie als Mittel zu spezifischen Zwecken betrachtet wurden, prägte die Beschreibungen und Handlungen der Kolonisatoren. So war es für Gouverneur Ralph Lane völlig gleichgültig, ob er den gewünschten Kontakt mit den Mangoak- Indianern bekam, indem er freundschaftliche Beziehungen aufnahm, oder einige von ihnen gefangennahm. Vgl. Lane (1955: 268): er wünschte sich den Kontakt „either in friendship or otherwise to haue had one or two of them prisoners”. Ein ähnliches Verhalten legte auch Ralegh an den Tag, der häufig Geiseln nahm; vgl. etwa Ralegh (1751: 185). Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit 69 ressen und Bedürfnisse der Kolonisten von großer Bedeutung für die Erklärung des verzerrten Indianerbildes. Ein Umstand, der die Wahrnehmung indianischer Charakteristika behinderte, war die Übertragung von Kategorien und Wertvorstellungen aus der englischen Kultur. Englische Berichterstatter gingen davon aus, dass indianische Gemeinschaften in einer ähnlichen Weise strukturiert seien wie die eigene. Dies zeigt sich schon in dem Gebrauch einiger Begriffe. So beschrieb Barlowe den Respekt der Indianer vor deren „King, Nobilitie, and Gouernors“ und unterstellte damit, dass die Indianer nicht nur einen König und Adlige hatten, sondern auch ein politisches System, in dem bestimmte Personen mit Regierung und Verwaltung betraut waren. 12 Wie sehr englische Konzepte die Wahrnehmung leiteten, wird etwa daran deutlich, dass immer nur die Ranghöchsten mit positiven Attributen belegt und als schön und weise beschrieben wurden. Einige Häuptlinge verstanden nach der Ansicht englischer Beobachter darüber hinaus erstaunlich viel von Politik, wie etwa der Gouverneur der ersten Kolonie in Roanoke, Ralph Lane feststellte: „The King of the sayd prouince is called Menatonon [...] for a Sauage, a very graue and wise man, and of very singular good discourse in matters concerning the state“ (Lane 1955: 259). 13 Allerdings wurden nur solche Häuptlinge positiv charakterisiert, die den Engländern halfen. Das Bild des ‚schlechten Wilden’ - insbesondere der Vorwurf des Kannibalismus - war von der europäischen Einteilung in zivilisierte und barbarische Völker geprägt. In dieser Polarisierung wurden Barbaren als diejenigen ausgegrenzt, die weder über (die eigenen, absolut gesetzten) Sprachen noch über Gesetze oder Moral verfügten. 14 Außerdem war in der mittelalterlichen Folklore die Figur des ‚wilden Manns‘, des homo silvaticus, sehr populär. Solche Wesen trieben gängigen Vorstellungen zufolge in Wäldern ihr Unwesen: Angeblich waren sie sehr stark, am ganzen Körper behaart, nackt, wollüstig 12 Viele Beobachter glaubten sogar, dass indianische Adlige neben anderen Vorteilen auch Handelsprivilegien genössen und dass Eheschließungen nur innerhalb der eigenen sozialen Schicht vorgenommen würden. Vgl. zu diesen Fehleinschätzungen Kupperman (1980: 50). In ähnlicher Weise projizierte Ralegh (1751: 203f.) den politischen Wert der Freiheit auf einen von ihm positiv geschilderten Indianer: „[Ein König] answered with a great Sigh (as a Man which had an inward Feeling of the Loss of his Country and Liberty [...])“. 13 Vgl. auch Ralegh (1751: 205): „I marvelled to find a Man of that Gravity and Judgment, and of so good Discourse, that had no Help of Learning nor Breed.” Quinn (1955: 237) weist darauf hin, dass ranghöhere Indianer wesentlich besser angesehen und behandelt wurden. Auch die Annahme, dass Indianer sich als gute Handelspartner erweisen würden, basiert auf europäischen Auffassungen vom Wert von Waren. Die Nacktheit oder spärliche Bekleidung der Indianer wird u.a. deshalb häufig erwähnt, weil man sie als künftige Abnehmer englischer Tuche ansah. Ob Indianer an wollener Kleidung interessiert waren oder nicht, war eine Frage, die nicht gestellt wurde. Man ging schlicht davon aus, dass auch Bewohner tropischer Gegenden an ‚zivilisierter’ Kleidung interessiert wären, sobald sie diese kennen lernten. Vgl. etwa Peckham (o.J.: 61). Zur Sicht von Indianern als Abnehmer englischer Tuche vgl. auch Kupperman (1980: 40). 14 Vgl. Pagden (1982: 20f.). Vera Nünning 70 und unbeherrscht. Bereits die im 16. Jahrhundert geläufigste englische Bezeichnung für Indianer, savages oder salvages verweist darauf, dass die Einwohner Amerikas in die Nähe tierähnlicher Wesen gerückt wurden. 15 Einige Charakterzüge, die ‚schlechten Wilden’ zugeschrieben wurden, können dadurch erklärt werden, dass englische Beobachter ihr eigenes Fehlverhalten auf die Indianer übertrugen. So trifft etwa die Anschuldigung, habgierig zu sein und zu viel für die eigene Ware zu verlangen, in größerem Maße auf die Engländer zu als auf die Indianer. Zunächst versuchten englische Kolonisten, die Indianer durch möglichst wertlose Geschenke gewogen zu stimmen, um sie dann umso besser ausnutzen zu können. Fügten sich die Indianer den Engländern nicht freiwillig, das war von Anfang an klar, so würde man militärisch gegen sie vorgehen. 16 Das Bild des ‚guten Wilden’ kann als eine Projektion von Wunschvorstellungen gedeutet werden, in die auch intertextuelle Bezüge Eingang fanden. Die Wahrnehmung der paradiesischen Zustände, die englische Reisende anfangs in Amerika vorzufinden glaubten, 17 war von europäischen Vorstellungen über glückselige Gemeinschaften vorgeprägt. Ihre Bewohner waren tugendhaft, glücklich, schön, gerecht und, was im 16. Jahrhundert besonders attraktiv war, sie lebten lange und gesund. Diese Vorstellungen beeinflussten etwa die Wahrnehmung Raleghs, der in Guiana ein „very earthly Paradise“ 18 vorzufinden glaubte und sich nicht über das biblische Alter einiger Könige wunderte. Auch Barlowes Darstellung der Indianer in Roanoke, die wie im Goldenen Zeitalter lebten, ist von europäischen christlichen Auffassungen geprägt: „The earth bringeth foorth all things in aboundance, as in the first creation, without toile or labour.“ (Barlowe 1955: 108) 19 Allerdings lassen sich nicht sämtliche Beschreibungen indianischer Kulturen auf das Vorwissen der Berichtenden zurückführen; vielmehr werden durchaus auch Elemente der tatsächlichen Lebensweise der Indianer erwähnt. Nicht in das Bild der paradiesischen Zustände, in denen der Boden alles „ohne Mühsal und Arbeit“ hervorbrachte, passt etwa der Hinweis, dass die Indianer Ackerbau betrieben. Schließlich mussten die Indianer mit ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen auch noch die ersten Kolonisten mit durchfüttern, die ohne ihre Hilfe verhungert wären. Außerdem berichtete Barlowe, dass die Indianer einen „deadlie and terrible warre“ mit benachbarten Stämmen führten und deshalb großes Interesse an den Schwertern der Engländer bekundeten - beides Züge, die nicht mit dem Bild des goldenen 15 Vgl. zur Popularität des ‚wilden Mannes’ etwa Dickason (1984: 70-77) sowie Berkhofer (1978: 13). 16 Vgl. dazu etwa Quinn (1955: 210f.). 17 Besonders Kritikern der zeitgenössischen Verhältnisse in England dienten solche Vorstellungen eines Paradieses auf Erden als Beispiel dafür, wie ein gutes und gerechtes Zusammenleben geregelt sein könnte. Vgl. dazu etwa Sheehan (1980: 33f.). 18 Zitiert nach Sheehan (1980: 14). Vgl. zu ähnlichen Aussagen auch Ralegh (1751: 191, 208). 19 Diese Stelle wird in Hakluyts Abdruck bezeichnenderweise ausgelassen. Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit 71 Zeitalters oder dem Paradies auf Erden vereinbar sind. 20 Dass Barlowe selbst nicht so recht an seine positiven Charakterisierungen der ‚guten Wilden‘ glauben konnte, zeigt sich in dem anhaltenden Misstrauen, das sein Verhalten gegenüber den Indianern prägte. Um die Glaubwürdigkeit der eigenen Schilderungen zu bekräftigen, pflegten englische Reisende Kuriositäten zur Besichtigung mit nach Europa zu bringen. So nahm Ralegh von seiner Fahrt den Orinoko hinauf einige goldhaltige Steine mit, die die Existenz reichhaltiger Goldminen beweisen sollten, und den Sohn eines Kasiken, der die nötige indianische Unterstützung für die Eroberung von El Dorado zusichern konnte. 21 Sowohl Ralegh als auch sein Kapitän Keymis bedauerten darüber hinaus, erst zu spät erfahren zu haben, dass am Orinoko ein Stamm von Menschen ohne Kopf lebte. Beide versicherten ihren Lesern, dass sie gern einen dieser kopflosen Menschen mitgebracht hätten, um deren Existenz endlich zweifelsfrei zu beweisen. 22 Demgegenüber fällt auf, dass beide von Amazonen berichten, ohne den Wunsch zu äußern, ein Exemplar dieser Spezies mit nach England zu nehmen. Für die Klärung der Frage nach den Faktoren, die das Bild der ‚Wilden’ prägten, sind außerdem die Motive der Berichtenden von Bedeutung. Sehr viele Berichte wurden mit der Absicht verfasst, für bestimmte Kolonien zu werben oder zum Aufbau des englischen Empire beizutragen. Hinzu kommt bei den Schriften von John Smith und späteren Siedlern das Motiv, das eigene - im Regelfall doppelzüngige und brutale - Vorgehen gegenüber den Indianern rückblickend zu rechtfertigen. Die Bilder der ‚Wilden’, die Reisende in England verbreiteten, sind daher stark von den Intentionen der Berichterstatter geprägt. Viele Aussagen über die Indianer in Roanoke und Jamestown erscheinen vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht. Im Falle der von Ralegh in Auftrag gegebenen Berichte über Roanoke beeinflusste die Absicht, für die neue Kolonie zu werben, die Beschreibung der ‚guten Wilden’. Barlowes Schilderung der großen Gastfreundschaft der Indianer suggerierte englischen Lesern, dass die Ureinwohner weiße Siedler freundlich aufnehmen würden. Seine Evozierung paradiesischer Zustände suggerierte Lesern, dass sie in der Neuen Welt ein angenehmes, glückliches und von Müßiggang geprägtes Leben führen könnten, das in scharfem Kontrast zur Situation in England 20 Vgl. Barlowe (1955: 101). Zu dieser Diskrepanz zwischen dem ‚Goldenen Zeitalter’ und dem Interesse an Schwertern vgl. auch Greenblatt (1991: 94). 21 Zu Berichten anderer Reisender vgl. Ralegh (1751: 160, 167), zu Vergleichen mit historischen spanischen Eroberungen Ralegh (1751: 158, 228f.). Zur Mitnahme bzw. Entführung von Gold und Menschen vgl. etwa Fuller (1991: 46f.). Greenblatt (1973: 106f.) bezeichnet das häufige Einfügen indianischer Bezeichnungen als einen Versuch, die Authentizität des Berichteten zu bezeugen. 22 Zu den kopflosen Menschen in diesem Zusammenhang vgl. Ralegh (1751: 210) sowie Keymis (o.J.: 372f.). Vera Nünning 72 stand. Dies diente den Zielen Raleghs, der Investoren und Siedler brauchte, ohne die seine Kolonie zum Scheitern verurteilt war. 23 Das Bild der verräterischen und teuflischen Wilden, das Smith verbreitete, rechtfertigte hingegen seine von Beginn an harte Politik gegenüber den Indianern. Durch seine negative Charakterisierung legitimierte Smith sein konsequentes Eintreten für Zwang und Unterwerfung. Smith wies mit Nachdruck die Auffassung zurück, dass erst der indianische Überfall von 1622, bei dem fast 350 Weiße getötet worden waren, die Engländer zur gezielten Ausrottung der Indianer berechtigt habe. Seiner Meinung nach hatten die Indianer den Engländern vorher schon Hunderte von Gründen dafür geliefert, sie zu bekämpfen. 24 Das Bild der ‚schlechten Wilden’ rechtfertigte daher das englische Verhalten gegenüber den Indianern, das von ökonomischer Ausbeutung über vorsorgliche Geiselnahme bis zu Mord reichte. Diese Handlungen waren mit dem positiven Selbstbild einer ‚zivilisierten‘ und christlichen Nation nur schwer in Einklang zu bringen. 25 4. Das englische Selbstbild Wenngleich die englischen Beschreibungen der Ureinwohner nur wenige Rückschlüsse auf deren Charakteristika zulassen, so können sie doch Aufschluss über das englische Selbstbild vermitteln. Dieses Selbstbild zeigt sich etwa in der Auffassung, dass Gott die Besiedelung des nördlichen Amerikas der eigenen Nation vorbehalten habe, damit sie die Indianer zum Protestan- 23 Auch Barlowes nicht recht in dieses Bild passender Hinweis auf die vielfältigen Kriege zwischen den Stämmen, die seines Erachtens ständig zu einer Vernichtung eines großen Teils der indianischen Bevölkerung führten, diente den Zielen der Kolonisierung und der Beruhigung der Engländer. Barlowe suggerierte damit zum einen, dass die Indianer nicht in der Lage sein würden, auch noch die Engländer zu bekämpfen. Zum anderen verdeutlichte er, dass man in Virginia ebenso vorgehen könne wie Cortés in Mittelamerika und indianische Zwiste durch geschicktes Taktieren ausnutzen konnte. 24 Vgl. Smith (1966: 147): „[They] haue giuen vs an hundred times as iust occasions long agoe to subiect them”. In diesem Fall empfahl Smith sogar die Spanier als Vorbild, die richtig gehandelt hätten: „The Spaniards] forced the treacherous and rebellious Infidels to doe all manner of drudgery worke and slauery for them” (ebd.). Tatsächlich dienten viele faktisch unzutreffende Annahmen - auch der angebliche Kannibalismus der ‚schlechten’ Wilden - dazu, das Verhalten der Kolonisatoren zu rechtfertigen. Zur Rechtfertigung der spanischen ‚conquista‘ durch den Bezug auf Religion und Mythen vgl. auch Ette (1991: 171-3). 25 Die Ausbeutung der Indianer bereitete vielen Engländern kein Kopfzerbrechen. So erklärte Smith (1966: 82) den geringen Profit, den die Kolonie anfangs einbrachte, mit dem Bild der ‚schlechten’ Wilden, die erst unterworfen werden mussten, bevor sie ausgebeutet werden konnten: „[E]re we could bring to recompence our paines, defray our charges, and satisfie our Adventurers; we were to discover the Countrey, subdue the people, bring them to be tractable, civill and industrious, and teach them trades, that the fruits of their labours might make vs some recompence, or plant such Colonies of our owne, that must first make prouision how to liue of themselues, ere they can bring to perfection the commodities of the Country”. Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit 73 tismus bekehren könnte. In Bezug auf die Missionierung bestand jedoch eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Selbstbild und den Handlungen der Engländer: Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert unternahmen die englischen Siedler keinerlei Missionierungsversuche. Raleghs Pläne für die Eroberung von Guiana zeichnen sich sogar dadurch aus, dass in ihnen jeglicher Hinweis auf geplante Missionstätigkeiten fehlt; nicht einmal vor dem Katholizismus wollte Ralegh die Indianer retten. Die idealisierte Selbsteinschätzung der Briten ließ sich daher nicht immer mit ihren Handlungen vereinbaren. Das positive Selbstbild der Engländer, die sich als Wohltäter der Indianer sahen, manifestiert sich dennoch in zahlreichen Berichten. Obgleich heute nur schwer nachvollziehbar ist, wie sich diese Auffassung mit dem eigenen Verhalten in Einklang bringen ließ, wiesen Befürworter von Koloniegründungen gern darauf hin, dass die Anwesenheit englischer Siedler den Ureinwohnern in vielfacher Weise nutze. 26 So zeigt das gesamte sechste Kapitel eines Traktats von Sir George Peckham, „that the traffique and planting in those countries, shall be unto the Savages themselves very beneficiall and gainefull”. 27 Schließlich würden die ‚Wilden’ dadurch nicht nur von ihren unsittlichen Gebräuchen abgebracht und zivilisiert, sondern sie kämen auch in den Genuss vieler nützlicher technischer Fertigkeiten. Selbst in Gewalt resultierende Konflikte mit den Indianern vermochten dieses schmeichelhafte Selbstbild kaum zu beeinträchtigen. John Smith schreckte noch 1624 nicht davor zurück, die Engländer als „Benefactors“ 28 , als Wohltäter der Indianer, zu bezeichnen. Das englische Selbstbild, das in den Berichten über Raleghs Entdeckungsreise in Südamerika zum Ausdruck kommt, ist ähnlich positiv. In diesen Schriften stilisieren sich die Engländer im Gegensatz zu den Spaniern als Befreier und Beschützer der machtlosen, aber guten indianischen Bevölkerung. Dieses Bild der englischen Nation wurde von Ralegh gezielt verbreitet. Um die Indianer für die eigene Seite zu gewinnen, versuchte er sie davon zu überzeugen, dass die englische Nation alle Völker Europas von der Tyrannei der Spanier befreit habe und dass er selbst ausgeschickt worden sei, um die Indianer vom spanischen Joch zu erlösen. Für diese Selbststilisierung ist die 26 Vgl. Peckham (o.J.: 68). Vgl. zum Folgenden ebd. (69): „[O]ver and beside the knowledge how to till and dresse their grounds, they shal be reduced from unseemly customes to honest maners, from disordered riotous routs and companyes to a well governed common wealth, and withall, shalbe taught mechanicall occupations, arts, and liberall sciences: and which standeth them most upon, they shalbe defended from the cruelty of their tyrannicall and blood sucking neighbors the Canibals, whereby infinite number of their lives shalbe preserved. And lastly, by this meanes many of their poore innocent children shall be preserved from the bloody knife of the sacrificer, a most horrible and destestable custome in the sight of God and man”. 27 Diese Schrift wurde in gekürzter Form in Hakluyts Sammlung von Reiseberichten abgedruckt, nach der hier zitiert wird: Peckham (o.J.: 68). 28 Smith (1966: 145). Smith hob außerdem hervor, dass die Engländer den Indianern täglich „many benefits“ (ebd.) gebracht haben. Vera Nünning 74 Beziehung zu den Indianern, die angeblich von den freiheitsliebenden Engländern befreit werden sollten, ebenso von Bedeutung wie die Abgrenzung vom Erzfeind, den Spaniern. Ganz im Einklang mit John Foxes Vorstellung von der elect nation, 29 die durch Königin Elisabeth endgültig von katholischen Repressionen befreit worden war, schicken sich die Engländer nun an, auch die Indianer an diesem Glück teilhaben zu lassen. Dementsprechend verteilte Ralegh auch Goldmünzen mit Elisabeths Konterfei. Dass die Engländer dadurch im Gegensatz zu den Spaniern als Gebende und nicht als Ausbeuter erschienen, ließ Ralegh sich einiges kosten; er zeigte sich sogar betont desinteressiert an Goldminen. Gleichzeitig ließ er keinerlei Zweifel daran, dass dies lediglich eine Strategie war, die „our Desire of Gold“ und „our Purpose of Invasion“ (Ralegh 1751: 217) 30 zugleich verdecken und befördern sollte. Die ostentative Abgrenzung von den Spaniern ging über die Selbstdarstellung als Befreier und Gönner noch hinaus. Bei Ralegh erscheint die englische Nation als eine gerechte Gemeinschaft, der die Indianer angeblich „true love and admiration“ entgegenbrachten (Keymis o.J.: 379). Viele Maßnahmen Raleghs entsprachen dieser positiven Einschätzung. So duldete er keine Verletzung der Rechte freundlich gesonnener Indianer. Es war zwar nicht einfach, englische Matrosen zur Achtung indianischen Eigentums zu bringen, aber Ralegh verließ kein Dorf, ohne gestohlene Güter zu ersetzen und Übeltäter demonstrativ zu bestrafen. Dadurch sollten die Engländer im Gegensatz zu den ausbeuterischen Spaniern als freundlich und gerecht erscheinen. 31 In einer Schilderung von Keymis wird besonders deutlich, wie sehr dieses Verhalten, das den englischen Matrosen und Soldaten aufgezwungen werden musste, umgedeutet und als bloßer Ausdruck natürlicher englischer Umgangsformen präsentiert wird. Im pointierten Anschluss an eine Schilderung spanischer Grausamkeiten stilisiert Keymis das außergewöhnliche Tun Raleghs im scharfen Kontrast zu dem der Spanier, denn die englische Mäßigung erscheint in seiner Deutung nur als „a matter but of small and ordinarie respect“ (Keymis o.J.: 379). Mehr noch als die Respektierung des Eigentums der Indianer fällt der Verzicht auf indianische Frauen ins Auge. Diese Selbstbeherrschung der Engländer schilderte Ralegh in den schillerndsten Farben. Dabei betont er den Kontrast zu dem Verhalten der Spanier: 29 Vgl. Foxe, Acts and Monuments (1563); dieses äußerst populäre und immer wieder neu aufgelegte Werk ist bekannter unter dem Titel Book of Martyrs. 30 Vgl. auch ebd. (193). 31 Vgl. Ralegh (1751: 194f.): „Nothing got us more Love among them than this Usage, for I suffered not any Man to take from any of the Nations so much as a Pina, or a Potatoe Root, without giving them Contentment [...] But I confess it was a very impatient Work to keep the meaner Sort from Spoil and Stealing, when we came to their Houses, which because in all I could not prevent [...] and if ought were stolen or taken by Violence, either the same was restored, and the Party punished in their Sight, or else it was paid for.” Vgl. zu Raleghs Kritik an den Spaniern, die die unschuldigen Indianer nur ausnutzten (Ralegh 1751: 174), auch Quinn (1955). Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit 75 the Spaniards [...] took from them both their Wives and Daughters daily, and used them for the satisfying of their own Lusts, especially such as they took in this Manner by Strength. But I protest before the Majesty of the living God, that I neither know nor believe, that any of our Company one or other, by Violence or otherwise, ever knew any of their Women, and yet we saw many Hundreds, and had many in our Power, and of those very young, and excellently favoured, which came among us without Deceit, stark naked (Ralegh 1751: 194). Wenn Ralegh hervorhebt, dass die Engländer Hunderte von hübschen, arglosen, nackten und wehrlosen Frauen unberührt ließen, so wird deutlich, dass ihnen ihr tugendhaftes Verhalten nicht eben leicht fiel. Tatsächlich sprach Ralegh damit einen außergewöhnlichen Zug der englischen Männer während der Erkundungen von Roanoke, Virginia und des Orinokogebiets an. Während Spanier Aruak-Indianerinnern auch als Lustobjekte betrachteten, hielten sich die englischen Reisenden von Indianerinnen fern. 32 Die vermeintlichen englischen Selbstmodelle als Befreier, Beschützer und Wohltäter entsprachen ihren Handlungen zwar nicht, aber zumindest die Eigencharakterisierung als selbstbeherrscht stimmt mit ihrem Verhalten überein. Hervorstechend ist darüber hinaus die tiefe Überzeugung der Engländer von ihrer umfassenden Überlegenheit gegenüber den Indianern. Gleichgültig, ob sie sich mit ‚guten’ oder ‚schlechten Wilden’ konfrontiert sahen, die Berichtenden betonten immer wieder die eigenen herausragenden Qualitäten. In der Forschung wird oft auf das Staunen hingewiesen, mit dem die Europäer auf die Phänomene in der neuen Welt reagierten (vgl. Greenblatt 1991: bes. 14-24). Was an den hier untersuchten Berichten über die indianischen Kulturen darüber hinaus auffällt, ist die Behauptung, dass auch die Indianer über die wundervollen englischen Eigenschaften staunten. ‚Marvellous‘ sind nicht nur die paradiesischen Zustände in Amerika, sondern auch die Vorstellungen der Indianer von den überlegenen Engländern. Deutlich wird dies etwa in Barlowes Schilderung des Bildes, das die Indianer vermeintlich von den Engländern hatten: „[T]hey wondred meruelously when we were amongest them, at the whitenes of our skinne, euer coueting to touch our breastes, and to view the same: besides they had our shippes in maruelous admiration” (Barlowe 1955: 111f.). 33 Besonders der Eindruck, den englische Waffen, Bücher und Instrumente auf die staunende indianische Bevölkerung machten, wurde immer wieder hervorgehoben. Durch diese Beschreibung der Bewunderung, die Indianer englischen Errungenschaften entgegenbrachten, wurde das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit gestärkt. In kaum einem Bericht fehlt ein Hinweis darauf, dass die Engländer 32 Vgl. Bitterli (1992: 83f.). Hariot (1955: 379) betont, dass den Indianern in Virginia auffiel „that we had no women amongst vs, neither that we did care for any of theirs.” Auch Lane waren keine sexuellen Kontakte zwischen Indianerinnen und Engländern bekannt. 33 Es handelt sich um einen Stamm in Sequotan in der Nähe von Roanoke. Selbst der eher prosaische John Smith (1966: 47) beschrieb die Reaktion von Indianern auf seine Vorführung einiger Errungenschaften der Zivilisation in fast poetischer Weise: „[T]hey all stood as amazed with admiration.“ Vera Nünning 76 den Indianern fast wie Götter erschienen. Selbst in Hariots wohlwollender Schilderung indianischer Kulturen tritt dieses Bewusstsein schrankenloser Überlegenheit zutage: Kompasse, Uhren und andere Dinge seien den Indianern so fremd gewesen, dass sie geglaubt hätten, diese seien „rather the works of gods then of men“ (Hariot o.J.: 376). 34 Die englischen Kolonisten benutzten Indianer daher primär als eine Art Vergrößerungsspiegel, der das Bild der Engländer in mindestens doppelter Größe zurückwarf. Im Hinblick auf die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdbild lässt sich festhalten, dass englische Berichte über die ersten Begegnungen mit indianischen Kulturen mehr über die Engländer aussagen als über die Indianer. Obgleich insofern eine gewisse Offenheit vorherrschte, als die Fremden nicht von vornherein als Kuriosa ausgegrenzt wurden, blieben die englischen Bilder der Indianer doch sehr schablonenhaft. Damit bestätigen die Berichte die Skepsis derjenigen, die die Möglichkeit des Fremdverstehens grundsätzlich in Zweifel ziehen. Dies sollte man den Reisenden jedoch nicht zum Vorwurf machen; schließlich waren sie keine Ethnologen, die eine systematische Beschreibung indianischer Kulturen verfassen wollten, sondern Entdecker, Kolonisten und Abenteurer. Zudem verfügten sie über einen eingeschränkten, teils von Mythen geprägten Kenntnisstand, der ein einigermaßen angemessenes Erfassen der Situation in Amerika stark behinderte. Und dennoch sind ihre Vorstellungen nicht viel entstellender als die Bilder von Indianern, die in Deutschland heute kursieren, und die vom Ideal des ‚edlen Wilden’ zeugen: Karl May lässt grüßen. Populäre Filme verbreiten weiterhin das Bild der nomadenhaften, edlen Indianer, die in Wigwams wohnen und aufrecht gegen die bösen Weißen kämpfen. Unsere Auffassungen sind daher zwar nicht weniger verzerrend, aber schwerer zu rechtfertigen als die der Engländer: Schließlich gehen unsere Fehleinschätzungen nur auf Bequemlichkeit und das Bedürfnis nach Unterhaltung zurück, während sich die Reisenden mit einer neuen Welt konfrontiert sahen, die so gar nicht zu ihren Vorkenntnissen passen wollte. 34 Vgl. auch ebd. (379) sowie Smith (1966: 24). Zu den Gründen, warum Europäer Indianern als gottähnliche Wesen erschienen, vgl. Axtell (1992: 33, 37). Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in Reiseberichten der Frühen Neuzeit 77 Bibliographie Andrews, Kenneth R. 1984. Trade, Plunder and Settlement. Maritime Enterprise and the Genesis of the British Empire, 1480-1630. Cambridge: Cambridge University Press. Axtell, James. 1992. Beyond 1492. Encounters in Colonial North America. Oxford: Oxford University Press. Barlowe, Arthur. 1955. „Arthur Barlowe’s Discourse of the First Voyage [1589].” In: David Beers Quinn (Hg.). The Roanoke Voyages 1584-1590. Documents to Illustrate the English Voyages to North America under the Patent Granted to Walter Raleigh in 1584. Bd. 1. London: For the Hakluyt Society. 91-116. Berkhofer, Robert F. Jr. 1978. The White Man’s Indian. Images of the American Indian from Columbus to the Present. New York: Vintage. Bitterli, Urs. 1992. Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München: Beck. Brenner, Peter J. (Hg.). 1989. Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Cressy, David. 1986. „Elizabethan America: ‚God’s Own Latitude’? ” In: History Today 36: 44-50. Dickason, Olive Patricia. 1984. The Myth of the Savage, and the Beginnings of French Colonialism in the Americas. Edmonton: University of Alberta Press. Ette, Ottmar. 1991. „Funktionen von Mythen und Legenden in Texten des 16. und 17. Jahrhunderts über die Neue Welt.“ In: Karl Kohut (Hg.). Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas. Frankfurt a.M.: Vervuert Verlag. 161-182. Fuller, Mary C. 1991. „Ralegh’s Fugitive Gold: Reference and Deferral in The Discoverie of Guiana.” In: Representations 33: 42-64. Greenblatt. Stephen J. 1973. Sir Walter Ralegh. The Renaissance Man and His Roles. New Haven, Conn: Yale University Press. ___. 1991. Marvelous Possessions: the Wonder of the New World. Oxford: Clarendon Press. Hakluyt, Richard. o.J. The Principal Navigations, Voyages, Traffiques and Discoveries of the English Nation. Made by Sea or Overland to the Remote and Farthest Distant Quarters of the Earth at any Time within the Compasse of these 1600 Yeares [1598-1600]. 8 Bde. London/ New York: Dent Dutton. Hariot, Thomas. 1955. „A Briefe and True Report [Februar 1588].“ In: David B. Quinn (Hg.). The Roanoke Voyages 1584-1590. Documents to Illustrate the English Voyages to North America under the Patent Granted to Walter Raleigh in 158. Bd. 1. London: For the Hakluyt Society. 317-387. Keymis, Lawrence. o.J. „The Second Voyage of Guiana Performed and Written in the Yeere 1596.” In: Richard Hakluyt. The Principal Navigations Voyages, Traffiques and Discoveries of the English Nation. Made by Sea or Overland to the Remote and Farthest Distant Quarters of the Eart at any time within the compasse of these 1600 Yeares [1598]. Bd. 7. London/ New York: Dent Dutton. 362-398. Kupperman, Karen Ordahl. 1980. Settling with the Indians. The Meeting of English and Indian Cultures in America, 1580-1640. Totowa, N.J.: Dent Dutton. Lane, Ralph. 1955. „Discourse on the First Colony [17.8.1585- 18.6.1586].” In: David B. Quinn (Hg.). The Roanoke Voyages 1584-1590. Documents to Illustrate the English Voyages to North America under the Patent Granted to Walter Raleigh in 1584. Bd. 1. London: For the Hakluyt Society. 255-294. Vera Nünning 78 Pagden, Anthony. 1982. The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology. Cambridge: Cambridge University Press. Peckham, Sir George. o.J. „A Discourse of the Necessitie and Commoditie of Planting English Colonies upon the North Partes of America.” In: Richard Hakluyt. The Principal Navigations Voyages, Traffiques and Discoveries of the English Nation. Made by Sea or Overland to the Remote and Farthest Distant Quarters of the Earth at any time within the compasse of these 1600 Yeares [1598]. Bd. 6. 42-78. Ralegh, Walter. 1751. „Voyage for the Discovery of Guiana.” In: The Works of Sir Walter Ralegh, Political, Commercial, and Philosophical; Together with his Letters and Poems. Bd. 2. London: R. Dodsley. 137-245. Sheehan, Bernard W. 1980. Savagism and Civility. Indians and Englishmen in Colonial Virginia. Cambridge: Cambridge University Press. Smith, John. 1966. „The Generall Historie of Virginia, New-England, and the Summer Isles [London, 1624].” In: March of America Facsimile Series, no. 18. Ann Arbor: University Microfilms. Tilton, Robert S. 1994. Pocahontas. The Evolution of an American Narrative. New York: Cambridge University Press. White, John. 1955. „John White’s Narrative of His Voyage 1587.” In: David B. Quinn (Hg.). The Roanoke Voyages, 1584-1590. Documents to Illustrate the English Voyages to North America Under the Patent Granted to Walter Raleigh in 1584. Bd. 2. London: Hakluyt Society. 515-543. Birgit Neumann A Discourse of Patriots - Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Travel Writing: Alexander Jardine’s Letters from Barbary, France, Spain, Portugal and Daniel Defoe’s A Tour through the Whole Island of Great Britain With greatly increased trade, industry and traffic, the eighteenth century witnessed an unparalleled growth in travelling and travel writing: “Travel is everywhere in the eighteenth-century British literature.” (Buzard 2002: 37) Throughout the century, the English cross the Channel in impressive numbers and for a variety of motives. In his lively Letters to a Young Gentleman on his Setting out for France published in 1784, the physician Dr John Andrews observed: “It is much to be regretted that the majority of our travellers run over to France from no other motives than those which lead them to Bath, Tonbridge, or Scarborough. Amusement and dissipation are their principal, and often their only, views.” (Quoted in Gibson 2004 [1995]: 64) The pursuit of somewhat loftier goals was attributed to the plentiful young gentlemen who set off on the Grand Tour in the course of the eighteenth century. As Richard Hurd, Bishop of Lichfield, argued in 1764, the aim of travelling was to broaden the gentlemen’s horizons, thus making them ‘citizens of the world’. He declares: “Our northern climate has never been famous for the civility of it’s [sic] inhabitants, who have rather been stigmatized, in all ages and are still considered by the rest of Europe as proud, churlish, and unsocial.” (Hurd 1764: 26) The Grand Tour, its proponent maintained, could usher the unformed young Englishman into the domain of good manners (cf. Gibson 2004 [1995]: 70). The Tour could round out his formal education by exposing him to the precious artifacts and ennobling society of the Continent (cf. Buzard 2002: 38). As Thomas Nugent (1778 [1756], I: xi) put it, the Grand Tour was conducive “to enrich[ing] the mind with knowledge, to rectify[ing] the judgment, to remov[ing] the prejudices of education, to compos[ing] the outward manners, and in a word form[ing] the complete gentleman”. There is, however, a great deal of evidence that foreign travel clearly failed to open the visitor’s mind. In his clear-eyed View of Society and Manners in France, Switzerland and Germany (1779), Dr John Moore noted that there are instances of Englishmen who, while on their travels abroad, shock foreigners by an ostentatious preference of England to the rest of the world, “and ridicule the manners, customs and opinions of every country but their own” (Moore 1779, I: 72-73). One of such xenophobic travellers was surely Dr Johnson, presumably “voice of blunt common sense” (Gibson 2004 [1995]: 70), who states: “The French are a very Silly People” and “[a] Frenchman must always be talking, whether he knows anything of the matter or not; an En- Birgit Neumann 80 glishman is content to say nothing, when he has nothing to say” (Boswell 1792, III: 188). As we all know, Dr Johnson himself rarely had ‘nothing to say’ but while he was in France, according to Boswell, “he was generally very resolute in speaking Latin” (Boswell 1792, II: 266). While travelling and travel writing in the eighteenth century may have failed to enlarge horizons and to foster intercultural understanding, it clearly did not fail to construct and disseminate notions of Britishness. I want to argue that in the eighteenth century, travelling abroad is - mainly, but of course not exclusively - to be understood as part of the nascent British nation’s effort to define its ethnic, cultural and political identity. In fact, the narrative of travel is inextricably linked to notions of national self and thus fulfilled important functions for the invention of Britishness. More so than the novel, which in fact often employs the travelogue’s conventions and recycles its construction of identity and alterity, travel writing has proved essential for shaping Britain’s autoand heterostereotypes, that is, its definition of identity in terms of cultural difference. It is in the contrastive space afforded by the narrative exploration of foreign nations that British identity seems to consolidate itself. As Philip Dodd (1986: 12) reminds us, “the definition of the English is inseparable from that of the non-English; Englishness is not so much a category as a relationship”. Evidently, Great Britain at the beginning of the eighteenth century - that is, in the decades after the proclamation of the Act of Union - was much less a self-contained nation than a rather heterogeneous patchwork in which uncertain areas of Welshness, Scottishness and Englishness were cut across by strong regional attachments (cf. Colley 2005 [1992]: 17). 1 If some of these internal differences would be smoothed out as the century progressed it was not so much by the advance of cultural integration throughout the island. Instead, as Linda Colley (ibid.) pointed out, “men and women came to define themselves as Britons […] because circumstances impressed them with the belief that they were different from those beyond their shores”, in particular different from their ‘best of enemies’ (Gibson 2004 [1995]), the French. Not so much internal consensus or cultural integration at home, as a strong sense of dissimilarity from those without came to be the crucial cement of Britishness (cf. Colley 2005 [1992]: 17). In the eighteenth century, national self-assurance is first and foremost achieved through attributions of otherness and alterity, through the imaginative invention of foreign people and foreign lands and concomitant processes of inclusion, exclusion and transformation of the other. National alterity and national identity are thus not to be seen as opposites, but rather as two sides of the same coin (cf. Nünning 2002: 71). National identity emerges due to the multifaceted transfer of projections, i.e. to what Monika Fludernik (1999) has called ‘cross-mirrorings of alterity’. The notion 1 I am aware that, strictly speaking, the terms ‘Englishness’, ‘Scottishness’ and ‘Welshness’ are, with regard to the eighteenth century, anachronisms. The terms are relatively modern inventions, having emerged only at the beginning of the nineteenth century. Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Travel Writing 81 of foreign countries came to embody an essential quality of difference against which Britishness could materialise with much greater clarity. I should like to show that the travelogue with its descriptive tradition of Others offered itself as one of the favourite grounds on which the battle for the definition of British identity could be fought. The trope of travel creates narratives that are highly concerned with self-realization in the space of the other (cf. Gikandi 1996). Travelling into the realm of the other opens up a symbolic space in which the imagined character of the nation can be understood, thus fostering a definition of identity in terms of difference. 2 Once confronted with a - real or imaginary - alien ‘them’, an otherwise heterogeneous community can become a reassuring ‘us’. Of course, representations of foreign nations, of their geography, inhabitants and customs, are no mere descriptions of what is there, simply, positively, naturally. As ‘placemakers’, writers craft textual maps of their imaginative worlds. These maps represent people’s habits and ideas, their knowledge and - more important - their ignorance, their likes and dislikes. They inform their readers about how foreign people of a certain class, race or gender place themselves in a space that is not merely geographical, but also social, cultural, economic, historical and gendered: Travelogues depict “a space that is constituted by the interweaving of various discourses” (Bode 1997: 95) as they are experienced and evaluated by an outside observer, thus also suggesting problems, conflicts and norms for evaluating the writer’s imagined world (cf. Goetsch 1996: 15). To the extent that the construction of such ‘literary landscapes’ is heavily guided by culture-specific norms, values and interpretational habits of the writer, travelogues often tell more about the presuppositions and intentions of the narrator than about the foreign space itself. Hence, travelogues are not so much about foreign countries and their inhabitants as such, but rather they are about views and uses of them: The real object of their representation is ideas (cf. Bode 1997: 97). By drawing lines that include and exclude people, by ascribing otherness and imaging a foreign territory travelogues do creative work: They create, in the act of discourse, that very object which they purport to describe and thus shape prevailing views of the relationship between Great Britain and foreign countries. Travelogues not only popularised certain ideas of national others, they also provided agreed-upon codes of understanding Great Britain, forging a consensus by drawing upon culturally established views and values. Travel writing is based on the imaginative analysis of one group by another, an analysis which usually produces a collective notion distinguishing ‘self ’ from ‘otherness’ (cf. Feldmann 1997: 31). The discursive strategies of travel accounts foster the notion of a cultural hierarchy while permitting - even reinforcing - the illusion of national homogeneity. By maximising the diffe- 2 See Johnson (1987: 2) who states: “The differences between entities […] are shown to be based on a repression of differences within entities, ways in which an entity differs from itself.” Birgit Neumann 82 rence between the British self and the alien other travel writing throws into high relief the uniqueness of Britishness. Hence, in the eighteenth century, travelling and travel writing came to be a patriotic asset, which helped fashion the British nation as an imagined homogeneous community. One of the most notorious of these ‘patriotic travellers’, as they were called at that time, was the English officer Alexander Jardine, whose outspoken Letters from Barbary, France, Spain, Portugal, published in 1758, abound with xenophobic representations of foreigners in general and the French in particular. Even before having entered France, the narrator is convinced of the natural superiority of the English. He maintains: Small as the distance is that separates the two nations, in the first boat you may observe upon their coast, may be seen the great difference between the two races of people, and that difference appears, especially at first, to be much in favour of our countrymen. The English sailors who navigate our vessels are strong, silent, laborious, methodical; those on board the French vessels and boats are a poor, weak, and ragged race […]. In some cases we will still think our prejudice not ill founded, of one Englishman being equal to two Frenchmen. (Jardine 1788 [1758]: 196-198) Like so many of his contemporaries, Jardine apparently found the subject of comparing the French manners and characters to the English so fascinating as to be almost inexhaustible. The pattern which he employs throughout his travelogue is always the same: In his contrast between France and England he recurrently employs a juxtaposition of opposite national character traits. From an ethnocentric point of view, one’s own nation seems to be different from all other nations. At the same time, this singular instance is paradoxically taken to be the norm by which every foreign culture is measured and evaluated (cf. Stanzel 1980: 105-107): Proclaiming a power of comparison conferred by the experience of travel, the narrator adopts his own country as a constant point of reference and insistently, by means of hyperboles, dramatises cultural difference. In order to convince his audience about the essential difference between the British and the French Jardine resorts to a salient feature associated with the notion of the British national character in the eighteenth century, i.e. to the proverbial good sense of the British. While Jardine characterises the British as the epitome of reason, virtue and natural good sense, he describes the French as a backward and rather dull people. Jardine (1788 [1758]: 245) points out that only few “chosen” French “seem to have any minds, the rest have only sense: nor can I yet find any one term in their language to express what I here mean by mind. Even their sense appear to us defective, or different from ours, as if two [sic! ] quick and too weak.” Jardine goes on to make a couple of rather unfavourable observations about French affection and vanity, insisting that “[i]n them, all is borrowed, pastiche, and very little natural; ils veulent toujours representer - their life is a mere parade” (ibid.: 241). Functioning as a touchstone of the national characteristics of the British, the French are represented as vain, pretentious and despicable fops given to love of absurd Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Travel Writing 83 fashions and extravagant manners. Against these foreign vices the British superiority is repeatedly asserted: The British appear as the personification “of solid sense, and independent spirit” (ibid.: 238). Jardine is certainly at “his patriotic and xenophobic best” (Nünning 2002: 74) when he proposes that the best the French could do is leave their country and forget their national roots: “I doubt if the French have any other way left to be great in any thing, but by leaving their country very young, and staying away till they almost forget they are French.” (Jardine 1788 [1758]: 249) Jardine, however, is not one who is at loss for an explanation. In order to account for the weakness of the French mind and body, he resorts to one of the most notorious elements of the xenophobic discourse, namely to what has been called “gastronomic chauvinism” (Duffy 1986: 34). Though this may surely surprise us today, in the eighteenth century French cooking was generally held to be considerably inferior to the British cuisine. As Duffy (ibid.) notes, in the “course of the 18 th century, […] pride of place in symbolic […] propaganda against the French despotism came to be taken by food. This had the additional advantage that it enabled direct comparisons to be made with English prosperity and contentment.” The many examples of gastronomic chauvinism contrast a well-fed Englishman, devouring huge amounts of English beef and ale, with his undernourished French counterpart, who has to content himself with such awful food as the proverbial French frogs, ragouts and soup maigre. In this vein, Jardine points out that: the difference of bodily figure and proportions may be ascribed to […] the […] poorness of food. Not only the quantity, but likewise the nutritive quality, of both animal and vegetable food are I believe generally inferior, in a state of poor cultivation; and it does not then produce that strength and vigour of body or mind necessary to exertion. […] So that weakness and inability, like many other evils, tend in various ways to perpetuate themselves. (Jardine 1788 [1758]: 201-202) All of the differences between the Frenchmen and the Englishmen finally converge on the essential contrast between the supposed French tyranny and the proverbial British love of freedom. In the course of the eighteenth century, the supposed British characteristic of liberty was referred to more and more often, making them stand out against all the subjugated European peoples, especially the French. Like countless other writers Jardine claims that Great Britain is the only truly free nation on earth, stressing time and again “with how little force and coercion” (ibid.: 216) the British people is governed, thus elevating liberty to a national ideal. In this vein, Samuel Raphael (1989: xxxi) observes: “The freeborn Englishman has a long lineage, but it was in the eighteenth century, when the ‘liberty ad rights’ of the subject were the dominant idiom of politics, that he came into his own, serving as an ideological fiction for interests […] of all kinds.” Unsurprisingly, this love of liberty finds its most obvious and powerful expression in the abhorrence of French tyranny and slavery. Jardine repeatedly states how much he detests Birgit Neumann 84 French monarchy, holding it responsible for the general servility of the French people: The general ideas of law, justice, government, here, after all their fine writings upon it, are yet too slavish […]. That of governing too much is perhaps one of the worst, and yet the most common, faults of modern policy; and one of its worst effects […] is, that in the progress towards slavery the people gradually lose their powers and exertions, and at length become so weak as to look up to government for almost every thing (Jardine 1788 [1758]: 208-211). Given these deplorable and pitiable circumstances Jardine maintains that the best the French can do is to “learn from England” (ibid.: 208), hence to borrow the English laws and institutions, thereby once again asserting the superiority of the English. Obviously, negative and disparaging images of foreigners bring to the fore, by way of contrast, positive national auto-stereotypes, thus fostering a favourable national self-esteem. More specifically, as Ansgar Nünning (2002: 85) put it, “[t]he discourse of patriotic xenophobia helped the British maintain positive distinctiveness from other nations, strengthening a sense of Britain’s superiority that was based on the principle of inequality”. This sense of distinctiveness was crucial to the formation of a common British identity because it relegated differences between British regional cultures as well as between Englishness, Scottishness and Welshness to the background. At the end of his travel through France Jardine “rises once again to his antigallican worst and his patriotic best” (Nünning 2002: 75) and self-consciously declares what was clear all along. He maintains: “We do [not] find reason to change our opinion on going-a-shore - whether we inspect the town or country, the shops, houses, offices, the fields, fences, carriages, cattle, or their different tradesmen at work, the English superiority is everywhere manifest.” (Jardine 1788 [1758]: 166-167) Thus, as in many instances, the tour becomes a form of retour: opinions formed before the beginning of the voyage are not invalidated by experience; on the contrary they are authorised by the weight of personal observations. But, one may well wonder, if everything out there is already known, why bother to travel at all? It is important to remember that journeys that began with anxieties about Great Britain end with an empirical affirmation of Britishness, though, one might want to add, this development of a British identity may largely have been an “English construction of British culture” (Black 1997: 12). The journey abroad confers a certain authority on the traveller, the authority of eyewitness testimony (cf. Gikandi 1996). The claim of facticity and the authority of the eyewitness are, of course, closely related to the Enlightenment ideal of an empirical quest for knowledge, which informs most of the travel literature of the eighteenth century (cf. Ghose 1997: 58). Paul Fussell (1987: 129) even assumes that travel accounts owe their pervasive appeal to the high degree of acceptance which philosophical empiricism gained in Britain by the beginning of the eighteenth century. According to the Lockean empiricist conception, the object is assumed to exist in a reality Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Travel Writing 85 which is supposedly pregiven so that the only challenge for knowledge is, as it were, to go, look and see what things are there (cf. Easthope 1999: 88). The narrators of travelogues suggest that they do exactly that: They go, look and see what things are there. 3 If, according to the empiricist conception, reality is thought of as simply given, then conversely the national other and British self are envisaged not as the effect of a process of construction but as always already there as the subject of or for knowledge and experience (cf. ibid.). Hence, after travelling a few weeks through France and having experienced the national other, Jardine is confident enough to claim that he has concrete and empirically confirmed knowledge about the national other and the British self. Whereas it might be a critical commonplace that accounts of travels abroad contributed to the illusion of national unity, it is often ignored that this process is complemented and propelled by domestic travels (cf. Feldmann 1997). Interestingly, it is during the heyday of travel abroad and the discovery of foreign lands that the discovery of Britain - by Britons and for Britons - sets in. The eighteenth century is not only obsessed with foreign lands and the national other; rather it also witnesses an unprecedented growth in domestic travelling and domestic travel writing (cf. Pfister 1997: 7). And this coincidence is no mere coincidence, because both projects - the travel abroad and the travel within - are part of the emergent British nation’s efforts to assert its dominion and to define its identity. Whereas the accounts of the voyages abroad contributed to maximising the difference between the British self and the foreign other, the discovery of Britain contributed to minimising the difference within, thus projecting an image of Britain as a rather homogeneous and unified community. By means of “exploring Britain, mapping Britain, constructing Britain, making Britain - indeed, inventing Britain” (Pfister 1997: 5) domestic travelling becomes an important complement to the travel abroad. In particular, the home tour helped assimilate what from an anglocentric perspective has been called the Celtic fringe (cf. Connolly 1995: 200) - that is Scotland and Wales - into the British nation state. Interestingly, however, the discursive strategies of travel accounts, which foster the notion of a cultural hierarchy while purporting the illusion of national homogeneity, are also at work within domestic travel writing (cf. Feldmann 1997: 31; Kuczynski 1997). In this vein, domestic travel accounts not only assert a common identity between England, Wales and Scotland, rather they also insist on essential differences between the English centre and the Celtic margins. As will be shown, domestic travelogues of the eighteenth century represent Scotland and Wales as both ‘exclusive’ and ‘expansive’ of Englishness: English attitudes towards Scotland and Wales in the eighteenth century were marked by the contradiction between the insistence on absolute 3 See also Buzard (2002: 37) who stresses: “If knowledge is rooted in experience and nowhere else, travel instantly gains in importance and desirability.” Birgit Neumann 86 Welsh and Scottish otherness, epitomised in a fundamental incivility, and the need to assimilate the Celtic fringe into the national framework of Great Britain. Daniel Defoe’s Tour through the Whole Island, “a survey of Great Britain in the guise of a guidebook” (Feldmann 1997: 32), is a particularly remarkable example of these unifying cultural forces. The narrator tries to assert a shared British identity as a symbol of what unifies the English, Scots and Welsh across diverse geographical spaces, while at the same time insisting on the difference between the English centre and its Celtic margins. The Tour explicitly offers the written account of the nation as an authoritative substitute for actual travel - a representation which allows the consumers to participate in a public discourse: “[We give] the reader […] a view of our country, such as may […] qualify him to discourse of it, as one that had a tolerable knowledge of it, though he stayed at home.” (Defoe 1986 [1971]: 239-240) By directly addressing his readers, Defoe succeeds in establishing a communicative situation which imitates the immediacy of oral narrative. Narrator and reader thus become accomplices, who mutually witness and judge the state of Britain. As if to assert the authenticity of his survey, Defoe maintains that his goal is to describe, not to evaluate the British people. Having said that, he almost immediately and apparently involuntarily falls back on xenophobic patterns, thus underlining once again the extent to which the sense of a national self is linked to attributions of otherness: “A description of the country is the business here, not descanting upon the errors of the people; and yet, without boasting, we may venture to say, we are at least upon a level with the best of our neighbours, perhaps above them in morals” (ibid.: 2). If, as Foucault (1980: 73-74) has remarked, a rhetoric of nationhood presupposes a geographical discourse that allows for the definition of frontier, Defoe’s travelogue constitutes a powerful medium in which the geographical referent of the emergent British nation was given both shape and meaning. In the Tour, Defoe’s narrator uses a rhetoric device similar to the one he employs in Robinson Crusoe (1719), in which the eponymous hero travels around ‘his’ island. The narrator of the Tour, who initially intended to “have coasted the whole circuit of Britain by sea” (Defoe 1986 [1971]: 241), determines the national boundaries by travelling to “the farthest land” (ibid.) of the island, so that the routes taken yield the outline map of Great Britain (cf. Feldmann 1997: 33). Supposedly, Britain’s physical identity as an island is the ultimate proof for its being a pre-ordained entity: the limits of the traveller’s representation fall together with the points “where Nature ended her account, when she meted out the island” (Defoe 1986 [1971]: 241). Defoe’s narrator delineates Britain’s interior by limiting and by enclosing it, thus identifying geographically the unique and special status of Britain. The systematic representational pattern subsumes the topographical difference under structural unity and stresses the natural bond between England, Wales and Scotland. Besides repeatedly exploiting the phrase “Whole Island”, he uses what he calls “a circuit, if not a circle” (ibid.: 47) as a defining category of the country (cf. Hill Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Travel Writing 87 1990) and thereby underlines the self-contained status of Great Britain. This strategy is quite typical of national discourse, which has a strong tendency to naturalise historical contingency, thus suggesting natural development. In this way, Great Britain can appear as an inevitable and teleological necessity. The surrounding sea, an extremely effective border, which mythically unites as potential equals the island’s inhabitants within its confines, also contributes to underlining Britain’s greatness: “Defoe’s narrator finds the coasts remarkable because of the military and commercial significance of ports, harbours and the mouths of rivers.” (Feldmann 1997: 33) For Defoe, the sea appears to be a comforting sight, not just as “a kind of emotional guardrail - a confirmation that the tour will not slip away off the island” (Rogers 1982: 108), but also as an emblem for Britain’s economic progress and growth. He recurrently describes in great detail British naval power, its fleet and overseas trade and thus explicitly advocates a mercantilist ethos. At the public works at Woolwich Defoe’s narrator approvingly observes: “At this dock the Royal-Sovereign was built, once the largest ship in the whole royal navy, and in particular esteem’d, for so large a ship, the best sailor in the world. Here also was rebuilt the Royal Prince, now call’d the Queen, a first rate, carrying a hundred guns” (Defoe 1986 [1971]: 98). Considering the enormous role that commerce, particularly foreign commerce, played for the national wealth it is highly plausible that Defoe extensively contemplates the sea. Commerce, both overseas and domestic, was first and foremost an ocean-going enterprise. Coastal shipping was regarded as the major source of Great Britain’s material blessings and thus constituted an important factor of its self-understanding. Linda Colley (2005 [1992]: 56) remarks that “a cult of commerce became an increasingly important part of being British”. In 1718, the chapter on ‘Trade’ in the annual directory The Present State of Great Britain opened with the promising assertion that: “Next to the purity of our religion we are the most considerable of any nation in the world for the vastness and extensiveness of our trade.” (Chamberlayne 1718, I: 33) Trade was not only materially desirable; rather, for Britons in this period, it was also proof of their status as the freest nation. Because Britain’s commercial success in the eighteenth century was mainly based on the naval power, the fleet and the ocean became privileged symbols of national identity (cf. Colley 2005 [1992]: 65-66). It therefore comes as no surprise that the lengthy and manifold descriptions of the marine contexts are accompanied by countless superlatives, praising Britain’s supreme wealth and commercial success. Obviously, these descriptions have nationalistic implications, implications which thirty-five years earlier, in 1668, found their succinct expression in John Denhman’s poem “Cooper’s Hill”, in which he projects the promise of a new form of mercantile imperialism: the world-benevolent mode of English commerce in which exchange brings prosperity and wealth wherever it spreads. Hence, more than simply an illustration of English, Welsh and Scottish geographic, social and economic characteristics, Defoe’s Birgit Neumann 88 Tour is a description of the land’s inherent ‘Britishness’, the idealised emblem of the nation’s defining characteristics. In accordance with the blunt mercantile ethos that Defoe’s traveller embraces, the city of London clearly figures as the centre of the Tour. Although the reader might at first glance assume that the traveller makes a tour around Great Britain, he actually takes a series of trips from and to London, reserving the “centre of this work” for a description of “the great centre of England, the city of London” (Defoe 1986 [1971]: 286). Defoe’s traveller presents his readers with various views of Great Britain arranged according to a well defined and privileged point of reference - and this point of normative reference is London (cf. Hackos 1979). Even when he finally gets to Northern Scotland he contemplates its relation to London, if only in terms of difference and “distance, being above 450 measured miles from London” (Defoe 1986 [1971]: 659). The specifications tame and domesticise the frightful distance, establishing a sense of a well-ordered itinerary. The journey may lead us into unknown territory, but the manifest destiny of the tour is to deposit the traveller (and reader) back at the starting and reference point that is London (cf. Rogers 1982: 107). Presented as “the most glorious sight without exception, that the whole world at present can show” (Defoe 1986 [1971]: 176), London appears as the most potent locus of traffic and commercial exchange. According to the narrator the metropolis is “so infinitely great” (ibid.: 295) that it can metonymically stand for Great Britain as a whole (“the situation of affairs in this great British Empire”; ibid.: 44). His representation of London as a unity of heterogeneous elements resembles in many ways his discursive synthesis of England, Wales and Scotland to a more or less united Kingdom: “Supposing now, the whole body of this vast building to be considered as one city, London” (ibid.: 306). However, in the next moment, he goes on to divide this fictitious, seemingly inseparable body of the metropolis into three different parts, “viz. the city, the Court and the out-parts” (ibid.). As was to be expected, his description focuses on the city because it is “the centre of the money, as well as of the credit and trade of the kingdom” (ibid.: 308). Because the city of London is at the peak of its current power, it also figures as the centre of Great Britain, as insignia of a condensed Britishness. Repeatedly, Defoe’s narrator stresses that London is the heart of Britain’s economic life, thus evoking once again the notion of a seemingly organic national body, which owes its vitality to the pulsating city of London. In the Tour, the city is pervasive, powerful, and ubiquitous, the object of admiration and desire. As the main signifier of a mercantile ethos London appears to structure Great Britain hierarchically (cf. Feldmann 1997: 34): the rest of the country is gauged against the potency of London. Nostalgia for economic functionality increases with the traveller’s distance to London. For that reason, the narrator deems only those places worthy of consideration “which furnish something […] to supply the city of London with provisions” (Defoe 1986 [1971]: 54). According to the criterion of economic exploitation, even the detested moun- Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Travel Writing 89 tains of Wales do not prove entirely useless: “[F]rom hence they send yearly, great herds of black cattle to England, and which are known to fill our fairs and markets, even that of Smithfield it self” (ibid.: 377). In symbolically elevating London as the exemplary emblem of Britishness the narrator inevitably derogates the more rural parts of the country. The interplay between aggrandisement and degradation reveals the extent to which the description - or rather the ‘making’ - of Great Britain is subject to culture-specific needs and ideals of the narrator-protagonist. What is passed off as a comprehensive Britishness, as a collective identity shared by the whole Union, is largely based on a hypostatisation of genuine norms and values of an English and Whig traveller. Determined to subsume the diversity of Great Britain under unifying criteria, that is, the criteria of economic growth and organisation, it comes as no surprise that Defoe’s narrator is distressed by wide open, vast space, by landscapes which are “such, that we know no bounds set to them” (ibid.: 479). For the first time, the narrator’s travel emphasises difficulty, uncertainty. A sense becomes palpable that he may have come along the wrong track and may have to retrace his steps. Where the eyes of the traveller (as tradesman and artist) fail to visually master the landscape, to organise its components from a well-defined perspective, thus limiting and enclosing it, the nation’s unity is at stake. The narrator’s distress becomes obvious in the way he portrays the countryside. Particularly, huge parts of Wales and Scotland represent what critics have described as the “literal and metaphoric barren grounds for Defoe’s Britain” (Feldmann 1997: 35). “Dry, barren, and mountainous” (Defoe 1986 [1971]: 380), Wales is a “country looking so full of horror, that we thought to […] have left Wales out of our circuit” (ibid: 377). A “mountainous barren and frightful country” (ibid: 672), the north Highlands, “cannot call for a distinct description, because it is all one undistinguished range of mountains and woods” (ibid.: 661). Being unable to oversee the landscape and thus construct a national topography as the correlate of the traveller’s political interests, the narrator experiences insecurity and disintegration, which threaten the national unity. 4 The diversity and vastness of the land challenges any monolithic view of the nation’s cultural and economic configuration. Defoe’s narrator yearns for a “more civilized” (ibid.: 379), populous and productive landscape, which is “enclosed, cultivated and improved” (ibid.: 620). The ideal landscape of the Tour, one consistently admired by the traveller, is the well ordered English countryside, in which art, manmade and cultivated, is most obvious (cf. Fabricant 1987: 265). In describing the gardens of rich English gentlemen, the narrator defines beauty as “a 4 See Hackos (1979: 255) who states: “Defoe equates the problem of the traveler with the problem of the landscape artist in adequately capturing a beautiful scene. He views his own dilemma as author of a tour which propounds a complete description of Britain as similar to the problem of the portrait painter who seeks to capture in a single pose the likeness of a changing sitter.” Birgit Neumann 90 glorious show of wealth and plenty” (Defoe 1986 [1971]: 177), thus powerfully uniting the ethics of economic usefulness with aesthetic pleasure: “In a word, nothing can be more beautiful; here is a rich fertile soil, cultivated and enclosed to the utmost perfection of husbandry” (ibid.: 176). The shift from gardening to husbandry and economics seems easy, effortless (cf. Hackos 1979: 250): The countryside is beautiful because it is superbly productive and ordered. Evidently, Defoe’s aesthetics of landscape serves important ideological functions: “Defoe makes clear that the controlling factor in landscaping a nation was not to be an accident of nature, but the influence of the artist in league with the farmer and the architect.” (Hackos 1979: 250) The imagined national topography helps solve an essential paradox of British national discourse to the extent that it purports a common British identity while also insisting on differences between the English centre and the Celtic fringe. The narrator remembers “with satisfaction” (Defoe 1986 [1971]: 343) that at Bushy Heath, a foreign gentleman remarked “that England was not like other countries, but it was all a planted garden” (ibid.). Evoking the rhetoric of eighteenth-century garden description, Defoe’s narrator moulds the accidental scene before him into the form of a well-ordered poetic garden. Moreover, the phrase ‘planted garden’ anticipates its subsequent use as a metaphor for Britain as a whole. In repeatedly praising the garden views which open up to include the neighbouring countryside (cf. ibid.: 304, 475), Defoe’s traveller evokes the newly-prevailing “notion of extending the garden beyond the artificial boundaries of property line” (Hackos 1979: 253), thus making the countryside part of the garden. Clearly, this evocation is far from being unintentional. Rather, the image or metaphor of the well-ordered garden of England which is set off by the disorganised and disunified ‘wilderness’ at its boundaries, allows the acceptance of Wales and Scotland as a foil (cf. Feldmann 1997: 36), as a foil which is at once inside and outside the privileged territory of the English Eden. In this way, the metaphor of a garden contains in a nutshell the idea which would become a stock element in the future patriotic discourse of English travellers on Scotland and Wales, that is, the improvement of their country by the cultivation of the Celtic wilderness (cf. Womack 1987). Defoe (1986 [1971]: 560) claims: “they are where we were, I mean as to the improvement of their country”. The metaphor of Great Britain as one huge garden is intended to affirm the predestined unity of England, Wales and Scotland but at the same time to denote the difference between them. England, Wales and Scotland do belong together, but the latter need to be cultivated so that they, in the words of Defoe, “may be where we are” (ibid.). Hence, by comparing Great Britain to a garden and outlining a method of cultivating it, Defoe’s traveller transforms the tour into an intriguing symbol of the merchant’s economic potential. To conclude, rather than just taking travelogues at face value or even mistaking them for a simple reflection of any givens (such as the preceding journey), one should understand them as a historical audience-oriented practice Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Travel Writing 91 and look more closely at the functions they served to fulfil in eighteenthcentury culture. One of these functions was surely the formation of collective identity and cultural nationalism. By dividing the world into ‘them’ and ‘us’ travelogue helped the British establish positive distinctiveness from other nations, strengthening not only a sense of national togetherness and homogeneity but also “a sense of Britain’s superiority that was based on the principle of inequality” (Nünning 2002: 84). The emergence of Britishness in the eighteenth century was, at least partly, achieved through the practice of travel writing and the imaginary explorations of internal and external spaces of the nation. Britain’s correlation with territory, ethnicity, language or shared history is extremely instable and precarious, and so are the historical terms that denote it: England, the United Kingdom, Great Britain, the British Isles and the British Empire …. This very instability puts ‘Britain’ at the disposal of a wide range of political interests, which define by exclusions and inclusions what is ‘naturally’ English or ‘typically’ British. Thus, no description of the foreign countries or Britain is innocent, a mere representation of what is there, simply, positively, naturally (cf. Pfister 1997: 8). Rather they are actively designed constructs fulfilling current needs of identification. British national identity as represented in eighteenth-century travel writing must be seen as a discursive process, an ongoing negotiation between self and other, which serves exclusion no less than inclusion: “In meeting the needs for specific ideological structures, the concept of Britishness takes on multiple meanings, meanings which are fraught with conflicts and contradictions.” (Feldmann 1997: 43) Literary and cultural critiques of travel writing can contribute to uncovering these contradictions and thus debunk any assertion of universality that is usually linked to representations of national identity. Thus, the study of travel writing may not only help illuminate the process which is often considered - rather broadly - as ‘forging the nation’, but also foster intercultural understanding. Birgit Neumann 92 References Black, Jeremy. 1997. “Introduction.” In: Jeremy Black (ed.). Culture and Society in Britain 1660-1800. Manchester/ New York: Manchester University Press. 1-28. Bode, Christoph. 1997. “Putting the Lake District on the (Mental) Map: William Wordsworth’s Guide to the Lakes.” In: Journal for the Study of British Culture 1-2: The Discovery of Britain: 95-112. Boswell, James. 1792. The Life of Samuel Johnson, Comprehending an Account of his Studies and Numerous Works. 3 vols. Dublin: John Chambers. Buzard, James. 2002. “The Grand Tour and after (1660-1840).” In: Peter Hulme & Tim Young (eds.). The Cambridge Companion to Travel Writing. Cambridge: Cambridge University Press. 37-52. Chamberlayne, John. 1718. Magnae Britanniae notitia, or: The Present State of Great- Britain. 2 vols. London: Timothy Goodwin. Colley, Linda. 2005. [1992]. Britons, Forging the Nation 1707-1837. New Haven, CT: Yale University Press. Connolly, S.J. 1995. “Varieties of Britishness. Ireland, Scotland and Wales in the Hanoverian State.” In: Grant Alexander & Keith J. Stringer (eds.). Uniting the Kingdom? The Making of British History. London/ New York: Routledge. 193-207. Defoe, Daniel. 1986 [1971]. A Tour through the Whole Island of Great Britain [1724-6]. Edited by Pat Rogers. London: Penguin. Dodd, Philip. 1986. “Englishness and the National Culture.” In: Robert Colls & Philip Dodd (eds.). Englishness. Politics and Culture 1880-1920. London: Croom Helm. 1- 28. Duffy, Michael. 1986. The Englishman and the Foreigner. Cambridge: Chadwyck-Healey. Easthope, Antony. 1999. Englishness and National Culture. London: Routledge. Fabricant, Carole. 1987. “The Literature of Domestic Tourism and the Public Consumption of Private Property.” In: Felicity Nussbaum & Laura Brown (eds.). The New Eighteenth Century. Theory, Politics, English Literature. New York/ London: Methuen. Feldmann, Doris. 1997. “Economic and/ as Aesthetic Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Domestic Travel Writing.” In: Journal for the Study of British Culture 1-2: The Discovery of Britain: 31-46. Fludernik, Monika. 1999. “Cross-Mirrorings of Alterity. The Colonial Scenario and its Psychological Legacy.” In: Ariel 30: 29-62. Foucault, Michel. 1980. “Questions on Geography.” In: Colin Gordon (ed.): Michel Foucault: Power/ Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972-1977. New York: Pantheon Books. 63-77. Fussell, Paul (ed.). 1987. The Norton Anthology of Travel. New York: Norton. Ghose, Indira. 1997. “The Fictive Stranger: Oliver Goldsmith’s The Citizen of the World and Robert Southey’s Letters from England.” In: Journal for the Study of British Culture 1-2: The Discovery of Britain: 47-62. Gibson, Robert. 2004 [1995]. Best of Enemies. Anglo-French Relations Since the Norman Conquest. London: Sinclair-Stevenson. Gikandi, Simon. 1996. Maps of Englishness. Writing Identity in the Culture of Colonialism. New York: Columbia University Press. Goetsch, Paul. 1996. “North and South in Victorian Fiction.” In: Journal for the Study of British Culture 3: Regional Cultures: The Difference Within: 15-30. Constructions of Britishness in Eighteenth-Century Travel Writing 93 Hackos, Jo Ann T. 1979. “The Metaphor of the Garden in Defoe’s A Tour thro’ the Whole Island of Great Britain.” In: Papers on Language and Literature 15: 247-262. Hill, Gerald. 1990. “Circling Defoe.” In: Ariel 21.4: 69-84. Hurd, Richard. 1764. Dialogues on the Uses of Foreign Travel; considered as a part of an English Gentlemen’s Education: between Lord Shaftesbury and Mr. Locke. Dublin: Peter Wilson. Jardine, Alexander. 1788 [1758]. Letters from Barbary, France, Spain, Portugal, etc. 2 vols. London: T. Cadell. Johnson, Barbara. 1987. A World of Difference. Baltimore/ London: Johns Hopkins University Press. Kuczynski, Ingrid. 1997. “A Discourse of Patriots: The Penetration of the Scottish Highlands.” In: Journal for the Study of British Culture 1-2: The Discovery of Britain: 73-93. Moore, John. 1779. A View of Society and Manners in France, Switzerland, and Germany: With Anecdotes Relating to Some Eminent Characters. 2 Vols. London: W. Strahan & T. Cadell. Nugent, Thomas. 1778 [1756]. The Grand Tour; or A Journey through the Netherlands, Germany, Italy and France. 4 Vols. London: J. Rivington and Sons. Nünning, Ansgar. 2002. “Historicizing British Cultural Studies. Patriotic Xenophobia and the Rhetoric of National Character in Eighteenth-Century British Literature.” In: Journal for the Study of British Culture 1: 69-94. Pfister, Manfred. 1997. “Editorial.” In: Journal for the Study of British Culture 1-2: The Discovery of Britain: 5-10. Raphael, Samuel. 1989. “Introduction. The Figures of National Myth.” In: Samuel Raphael (ed.). Patriotism. The Making and Unmaking of British National Identity. Vol. 3: National Fictions. London: Routledge. xi-xxxvi. Rogers, Pat. 1972. “Literary Art in Defoe’s Tour. The Rhetoric of Growth and Decay.” In: Eighteenth-Century Studies 6: 153-185. ___. 1982. “Speaking Within Compass. The Ground Covered in Two Works by Defoe.” In: Studies in the Literary Imagination 15: 103-113. Stanzel, Franz K. 1980. “National Character as Literary Stereotype. An Analysis of the Image of the German in English Literature before 1800.” In: London German Studies 1: 101-115. Womack, Peter. 1987. Improvement and Romance. Constructing the Myth of the Highlands. London: Macmillan. Ulrich Krellner Ästhetik der Mittelbarkeit: Goethes Reise nach Italien und ihre doppelte Literarisierung I. Als Goethe am 2. September 1786 einen „unbestimmten Urlaub“ (An Carl August, 2. September 1786; FA II 2: 648) 1 antrat, ohne vorher mit seinem Gönner Carl August und den nächsten persönlichen Vertrauten Rücksprache genommen zu haben, war zunächst kaum absehbar, dass er damit sowohl in biographischer wie literarischer Hinsicht eine markante Schwelle überschritten hatte. Aus dem historischen Abstand (nicht erst) des heutigen Lesers erscheint dieser Aufbruch jedoch als einer der zentralen Wendepunkte in seiner Schriftstellerlaufbahn, in der zäsurierenden Wirkung wohl nur mit der Entscheidung vergleichbar, im Winter 1775 nach Weimar - und nicht Italien - aufzubrechen. Bekanntlich vollzog der Dichter auf der schließlich fast 22 Monate dauernden Reise eine umfassende Erneuerung seines Lebensgefühls und Dichtungsverständnisses und wurde bei seiner Rückkehr nach Weimar von den meisten administrativen Aufgaben entbunden, 2 so dass er sich in der Folgezeit vorrangig seinen literarischen und wissenschaftlichen Ambitionen widmen konnte. Über diese subjektive Zäsur hinaus, die das Fundament für einen „nationalen Individualmythos“ (Barner 1988: 92) schuf, gilt Goethes italienische Reise auch literarhistorisch als eine der folgenreichsten Fremderfahrungen und wurde in ihrer publizierten Form gar als „Gründungsurkunde seiner klassischen Ästhetik“ (Osterkamp 1987: 148) angesehen - und damit als eines der prominentesten Dokumente für jene Epoche der deutschen Literatur, der gemeinhin kanonische Bedeutung zugeschrieben wird. Eine Neubewertung dieses literarisch-biographischen Komplexes ist ein reizvolles, aber auch in mehrerer Hinsicht kompliziertes Unterfangen. Wie bei vielen wirkungsgeschichtlich einflussreichen Texten sieht sich der heutige Leser am Ende einer Rezeptionskette stehen, deren Wertungen zeitweise so emphatisch ausfielen, dass die Italienische Reise zum „meistgelesene[n] Buch Goethes“ (Wild 1997: 368) avancierte - noch vor Werther und Faust. In jünge- 1 Goethe-Zitate hier und im Folgenden nach der (inzwischen bis auf die Registerbände abgeschlossenen) Frankfurter Ausgabe (FA): Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Zwei Abteilungen. Hrsg. v. Friedmar Apel et al. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985ff. 2 Entgegen der verbreiteten Ansicht, Goethe habe seit der Italienreise sämtliche Regierungsgeschäfte ruhen lassen, weist Reinhard Kluge im Frankfurter Kommentar zu Goethes Amtlichen Schriften darauf hin, „daß die italienische Reise in seiner [Goethes] amtlichen Tätigkeit nicht den Schlußstein setzte, sondern nur einen wichtigen Einschnitt bedeutete“ (FA I 26: 843). Ulrich Krellner 96 rer Zeit forderte die als erdrückend empfundene ‚Klassizität‘ des Textes jedoch auch zu polemisch-ironischer Distanzierung heraus, beispielsweise wenn man dem Italienfahrer eine Wahrnehmungshypertrophie vorwarf, die „jeden kleinen Katzenschiß bewundert“ (Brinkmann 1979: 115). Die umfangreiche (wenn auch bisher noch nicht systematisch erforschte) 3 Wirkungsgeschichte der Italienischen Reise könnte den Eindruck erwecken, als sei der Text in seinen Dimensionen als Reisebericht, autobiographisches Dokument und ästhetische Programmschrift umfassend behandelt und in jeder nur denkbaren Hinsicht gewürdigt worden. Dem steht allerdings die Einschätzung eines jüngeren Forschungsüberblicks gegenüber, der zum Schluss kommt, dass das Werk „nicht in dem Maße zum Gegenstand ernsthafter germanistischer Forschung [wurde], wie das seine öffentliche Wirkungsgeschichte erwarten ließe“ (Brenner 1990: 277). Die Gründe für diese Diskrepanz zwischen populärer Wertschätzung und wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis sind vielfältig. Auf der einen Seite enthält die Italienische Reise Zeugnisse einer intensiven existenziellen Erfahrung, die eine breite Leserschaft zur unmittelbaren Identifikation einluden. „In Rom“ - so eines der vielleicht bekanntesten Goetheschen Bekenntnisse - „hab’ ich mich selbst zuerst gefunden, ich bin zuerst übereinstimmend mit mir selbst glücklich und vernünftig geworden“ (FA I 15.1: 568). Dem Reisedrang des aufstrebenden deutschen Bürgertums, dem die politische Emanzipation und Mitbestimmung im eigenen Land verwehrt blieb, stiftete Goethes Bericht zwei psychologisch wichtige Motive, die fortan das Italienerlebnis der Deutschen maßgeblich prägen sollten: nämlich (1) das der „Flucht aus den bedrückend empfundenen deutschen Verhältnissen“ und (2) das der „Selbstfindung unter den günstigen Bedingungen des Südens, der Freiheit, des Umgangs mit Kunst und Altertum“ (Maurer 1991: 228f.). Zu den weitreichenden Folgen der Italienischen Reise gehört eine Wahrnehmungskultur, die Italien als „ideale Ergänzung zu Deutschland“ (ebd.) zu begreifen begann und das Reiseverhalten (nicht nur) der Deutschen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beeinflussen sollte. Versucht man hinter die immense mentalitätsgeschichtliche Bedeutung von Goethes Italienreise und die daran geknüpften Rezeptionsschemata zurückzutreten und dieses Ereignis literaturwissenschaftlich einzuordnen, so stößt man auf eine Reihe von Problemen. Das erste bildet die veröffentlichte Textgestalt, in der die - dem allgemeinen Verständnis nach als Einheit geltende - Italienische Reise die Leserschaft erreichte. Publiziert in drei Teilen (1816, 1817 und 1829) bildet das Buch eine Art Mittelstück von Goethes so genannten autobiographischen Schriften. Es setzt - nach auffälliger Auslassung des ersten in Weimar verbrachten Lebensjahrzehnts 4 - die autobiographischen Schilderungen von Dichtung und Wahrheit (1814) fort und bildet seinerseits den chronologischen Vorläufer der 1792 an der Seite Carl Augusts 3 Vgl. Wild (1997: 367). 4 Das bemerkte Mayer (1963: 60). Goethes Reise nach Italien und ihre doppelte Literarisierung 97 unternommenen (und 1822 publizierten) Campagne in Frankreich. Im Gegensatz zur narrativen Form besonders dieses letzten Werkes weist die Struktur der Italienischen Reise jedoch bemerkenswerte Diskrepanzen auf (vgl. Boerner 1985: 348). Allenfalls der erste, der Etappe von Karlsbad bis Rom und dem dortigen Aufenthalt bis Februar 1787 gewidmete Teil besitzt eine, an den Reiseverlauf angelehnte, erzählerische Kontinuität. Der die Reise nach Neapel und Sizilien schildernde zweite Abschnitt erscheint chronologisch wie erzähllogisch bereits weniger stringent, verarbeitet er doch „einzelne, nur noch locker miteinander verbundene Briefe“ (ebd.: 349), die durch „aus der Erinnerung“ (FA I 15.1: 319) verfasste Episoden ergänzt werden. Zieht man den dritten Teil hinzu, der Goethes zweiten römischen Aufenthalt zum Gegenstand hat, so tritt die mangelnde innere Einheit des Gesamtwerks noch deutlicher hervor. Die Darstellung stützt sich auf die monatsweise gebündelte Korrespondenz und wird flankiert durch - zum Teil von anderen Verfassern stammende 5 - kunsthistorische Essays, biographische Abhandlungen und protosoziologische Beschreibungen. Untersucht man dieses polymorphe Werk unter konzeptionellen Gesichtspunkten, stellt sich die Frage, ob „einem derartig disparat-komplexen Text so viel innere Harmonie entsprechen kann“ (Boerner 1985: 351) wie allgemein angenommen wird. Über der unbestreitbaren „Wirkungsklassizität“ (Barner 1988: 68) der Italienischen Reise sollte nicht vergessen werden, dass die Ereignisse zum Zeitpunkt ihrer Publikation 27 oder - im Fall des zweiten römischen Aufenthalts - gar 41 Jahre zurück lagen. Es ist daher notwendig, sich von Goethes retrospektiver Literarisierung nicht den Blick auf die biographische Wirklichkeit der Reise selbst verstellen zu lassen. 6 Nur im rekonstruktiven Rekurs auf diese primäre Erfahrungsebene wird es möglich, den Stellenwert der italienischen Erfahrungen genauer zu bestimmen. Verzichtet man auf eine solche Unterscheidung, macht sich die Analyse abhängig von den um Stilisierung der italienischen Erfahrung bemühten Selbstaussagen des alten Goethe, die am 9. Oktober 1828 gegenüber Eckermann in folgender Formulierung verdichtet wurden: Ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. - Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustand in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden. (FA II 12: 282) Diese - als eine Art Lebensbilanz formulierte - Behauptung des 79-Jährigen bietet eine griffige Formel, die durch ihre Eindringlichkeit besticht und in ihrem Vermächtnischarakter über jeden Zweifel erhaben zu sein scheint. In ihrer Grundsätzlichkeit wirft sie allerdings nur wenig Licht auf die Eigenart der Erfahrungen, die Goethe auf der Reise seinerzeit tatsächlich gemacht hat. 5 Hier ist vor allem Karl Philipp Moritz‘ Aufsatz „Über die bildende Nachahmung des Schönen“ zu nennen, der lange als ein Werk Goethes gegolten hat. 6 Das fordert - unter Verweis auf einen Beitrag Albert Meiers - auch Peter J. Brenner (1990: 311). Ulrich Krellner 98 Versucht man sich diesem Komplex zu nähern, so fällt zunächst ins Auge, dass der direkte literarische Ertrag der Reise in den ersten Jahren nach der Rückkehr denkbar gering ausfällt. Zwar gelingt es Goethe, bis 1790 beim Leipziger Verleger Göschen seine achtbändigen Schriften herauszubringen, deren Vollendung als einer der wichtigsten Anlässe für die Reise gelten kann. 7 Über den Abschluss bzw. die Umarbeitung von Iphigenie, Tasso und Egmont hinaus entsteht jedoch wenig Neues - auch Faust bleibt ein Fragment. Der einzige tatsächlich neue Text hingegen, die Römischen Elegien, hat seinen Erfahrungsgrund bekanntermaßen keineswegs allein in einem römischen Erlebnis, sondern vielmehr in der unmittelbar nach Goethes Rückkehr eingegangenen Verbindung mit Christiane Vulpius, in deren Folge diese Gedichte auch erst entstanden. Goethe selbst ist das Missverhältnis zwischen der von ihm klar empfundenen Bedeutung seiner italienischen Erfahrungen und der Schwierigkeit, diese literarisch zu artikulieren, sehr deutlich gewesen. Als Schiller, dem es 1794 schließlich gelungen war, Goethes Aufmerksamkeit und Wohlwollen zu erlangen, im Herbst 1796 um einen Italien-Beitrag für die Horen bat und sich selbst dafür als Redakteur anbot, antwortet Goethe wie folgt: Was ich von alten Sachen habe, hat keine rechte Gestalt und ist eigentlich verlegene Ware. Das Tagebuch meiner Reise von Weimar bis Rom, meine Briefe von dort her, und was sonst allenfalls davon unter meinen Papieren liegt könnte nur durch mich redigiert werden und dann hat alles, was ich in dieser Epoche aufgeschrieben habe mehr den Charakter eines Menschen der einem Druck entgeht als der in Freiheit lebt, eines Strebenden, der erst nach und nach gewahr wird daß er den Gegenständen die er sich zuzueignen denkt, nicht gewachsen ist und der am Ende seiner Laufbahn erst fühlt, daß er erst jetzt fähig wäre von vorn anzufangen. Zu einer absichtlichen Komposition umgearbeitet würden solche Aktenstücke wohl einigen Wert erlangen, aber so in ihrer lieben Natur sind sie gar zu naiv. (An Schiller, 26. Oktober 1796; FA II 4: 255) Die Antwort belegt, wie der nachitalienische Goethe die Zeugnisse seiner Reiseerfahrungen gehandhabt und gedeutet wissen wollte. Es ging ihm nicht um Dokumentation der seinerzeitigen Erlebnisse, sondern um deren Einfügung in eine Bildungsgeschichte, die auf der Reise zwar begann, aber erst viel später zu jenem Leben in ‚Freiheit‘ führte, als das Goethe seine von lästigen Amtspflichten befreite nachitalienische Existenz in Weimar verstand. Der Weg dorthin wäre in einem Werk darzustellen, das die Bemühungen des „Strebenden“ auf dieses Ziel hin perspektiviert. Keine Frage, dass bei einem solchen Projekt das Bedürfnis nach Stilisierung der ursprünglichen Erlebnis- 7 Als weitere Reisemotive kommen in Betracht: (1) die frühe Orientierung auf Italien durch das Vorbild der Reise des Vaters, (2) die Unzufriedenheit mit der Rolle als Weimarer Minister und (3) die Unzulänglichkeiten im Liebesverhältnis mit Charlotte v. Stein. Goethes Reise nach Italien und ihre doppelte Literarisierung 99 se eine zentrale Rolle spielen musste. 8 Für ein solches literarisiertes Zeugnis hielt Goethe 1796 die Zeit aber noch nicht für gekommen, er hat es sich - ohne die Mithilfe eines Redakteurs in Anspruch zu nehmen - erst zwanzig Jahre nach Schillers Aufforderung in Gestalt der Italienischen Reise selbst ausgestellt. Der an Schiller gerichtete Brief belegt aber auch, dass - entgegen der Intention des klassischen Goethe - zur Rekonstruktion der Reiseerfahrungen noch ein anderer Weg offen steht, nämlich die Auswertung der erhaltenen Tagebücher und Briefe, die noch nicht ‚absichtlich‘ redigiert sind. Als keineswegs „naive“, sondern die konkrete Situation des Reisenden beleuchtende Schriftstücke können sie eine innere Entwicklung erhellen, die schließlich zu jener nachitalienischen Ästhetik führte, auf die Goethe bei Abfassung der Italienischen Reise so großen Wert legte. Wendet man dieses historischkritische Verfahren an, wird es möglich, einen Prozess mit zu vollziehen, anstatt lediglich ein Ergebnis zur Kenntnis zu nehmen - ein Ergebnis freilich, das weniger die seinerzeitige Reise, sondern vor allem die Intentionen und Selbstinterpretationen des klassisch gewandelten Goethe dokumentiert. 9 II. Unter den erhaltenen Dokumenten von Goethes Italienreise besitzt das für Frau von Stein verfasste Reisetagebuch eine besondere Bedeutung, denn es ist - neben den Briefen - eine der wenigen authentischen Quellen, die einer rigorosen redaktionellen Bearbeitung für die Italienische Reise entgangen sind, bzw. nach deren Drucklegung nicht vernichtet wurden (vgl. FA I 15.2: 1453). Es enthält die Aufzeichnungen eines Reisenden, dessen Wahrnehmungen von einem klassisch geläuterten Kunst- und Lebensideal noch denkbar weit entfernt sind. Helmut Koopmann (2002: 211) fasst den Eindruck, den diese Aufzeichnungen hervorrufen, folgendermaßen zusammen: „Er [Goethe] geht herum, studiert[,] aber alles doch nur oberflächlich, verhält sich wie ein Dilettant des 18. Jahrhunderts, notiert in einem wilden Durcheinander Geographisches, Geologisches, Architektonisches, Kunsteindrücke.“ Spekulationen über die Gründe für die unterschiedliche Physiognomie der Bewohner nörd- 8 Goethe hat diesen Tatbestand selbstverständlich reflektiert; in einem Brief an Zelter vom 21. Mai 1828 gibt er nicht ohne Ironie bekannt, er habe soeben „das Märchen [s]eines zweiten Aufenthalts in Rom zu diktieren angefangen“ (FA II 11: 611). 9 Obwohl Goethe bei der 1813 beginnenden Redaktion seiner Aufzeichnungen für die Italienische Reise offensichtliche Anachronismen zu vermeiden suchte (und deshalb u.a. auf eine explizite Polemik gegen die Romantik verzichtete), hatten die damaligen Projekte der Weimarer Kunstfreunde, insbesondere Johann Heinrich Meyers (dogmatischer) Entwurf einer Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts (1805) nach Ansicht von Christoph Michels doch zur Folge, „daß die in diesen Jahren entfaltete normative Ästhetik in die Italienische Reise hineingewirkt und nicht nur Urteile forciert, sondern auch die Aufnahme früherer, unbefangener Äußerungen verhindert hat“ (FA I 15.2: 1066). Vgl. dazu auch Barner (1988: 85-87). Ulrich Krellner 100 lich und südlich der Alpen 10 oder die Effektivität des Weinanbaus im Gebirge und in der Ebene 11 wechseln ab mit Reflexionen über die gesehenen Kunstgegenstände und Auskünften über die praktischen Begleitumstände der Reise. Diese Dimension der Aufzeichnungen könnte Goethe im Blick gehabt haben, als er nach seiner Rückkehr gegenüber Herder die „Pudenda“ 12 (Peinlichkeiten) dieses Texts kritisierte, die keinesfalls publiziert werden dürften und in der Druckfassung der Italienischen Reise durchgehend eliminiert wurden. Als „peinlich“ oder „naiv“ erschiene das Reisetagebuch jedoch allenfalls einem Betrachter, der darin die Kunstmaximen einer späteren Zeit suchte. Beurteilt man es im Kontext seiner Entstehung, bezeugt es die Reaktionen eines anschauungs- und erlebnisfähigen Menschen, der die Loslösung von den Zwängen des Weimarer Hoflebens als einen Befreiungsschlag erlebte. Drei Wochen nach seinem Aufbruch notiert der Verfasser für Charlotte v. Stein: Ich kan dir nicht sagen was ich schon die kurze Zeit an Menschlichkeit gewonnen habe. Wie ich aber auch fühle was wir in den kleinen Souveränen Staaten für elende einsame Menschen seyn müssen weil man, und besonders in meiner Lage, fast mit niemand reden darf, der nicht was wollte und mögte. (25. September 1786, Vicenza; FA I 15.1: 668) Goethes Triumph über die geglückte Flucht aus diesen ständisch beengten Verhältnissen begünstigt einen expressiven Wahrnehmungsstil, der als eine Spätfolge des Sturm und Drang begriffen werden kann. Ähnlich wie zu Zeiten von Götz und Werther reagiert der flüchtige Geheimrat auf die ersten Relikte antiker Architektur in Verona mit emotionalem Überschwang: „Mir war die Gegenwart der Steine höchstrührend daß ich mich der Trähnen nicht enthalten konnte.“ (FA I 15.1: 645; vgl. 46) Diese Tränen fehlen in der Italienischen Reise ebenso wie die Bekundung „einige[r] unterthänige[r] Scrupel“ (Vicenza, 20. September 1786; FA I. 15.1: 658) angesichts einer Besichtigung der Villa Rotonda bei Vicenza, die der Goethe der Italienischen Reise später als „Prachthaus“ und Inbegriff von Palladios Architektur bewunderte: „Vielleicht hat die Baukunst ihren Luxus niemals höher getrieben.“ (FA I 15.1: 60) Obwohl in der Forschung überzeugend nachgewiesen wurde, dass die sachbezogene Subjektivität von Goethes Reisetagebuch „Kennzeichen einer neuen Wahrnehmungsweise in der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts“ (FA I 15.2: 1060) ist und sich beispielsweise von dem im Geist der Aufklärung stehenden Reisebericht seines Vaters deutlich unterscheidet (vgl. Meier 1989), 10 Die bleiche Gesichtshaut der Südtiroler ist demzufolge auf den Maisbrei, das dortige Hauptnahrungsmittel, zurückzuführen: „der Wälsche Tyroler isst ihn so weg, manchmal Käse drauf gerieben und das ganze Jahr kein Fleisch, nothwendig muß das alle Gefäse verkleben und verstopfen besonders bey Kindern und Frauen“ (FA I 15.1: 637). 11 „Der Wein will magre Nahrung an Bergen und viel Sonne haben in der Plaine wird er zu schwer. Die Feuchtigkeit die zudringt kann nicht genug ausgekocht werden es giebt einen ungeschlachten Tranck.“ (FA I 15.1: 736) 12 An Herder Ende Juli/ Anfang August 1788; FA II 3: 416. Goethes Reise nach Italien und ihre doppelte Literarisierung 101 weist die strukturelle und inhaltliche Gestaltung dieses Textes doch keineswegs allein voraus in eine Zeit der beginnenden Klassik, sondern dokumentiert gleichermaßen die Nachwirkung von Dichtungspositionen des Sturm und Drang. Dass diese Rückbindung für Goethe explizit wichtig bleibt, bestätigt eine Tagebucheintragung aus Vicenza vom 25. September 1786. „Was mich freut“ - heißt es dort - „ist daß keine von meinen alten Grundideen verrückt und verändert wird, es bestimmt sich nur alles mehr, entwickelt sich und wächst mir entgegen.“ (FA I 15.1: 667) Das in diesem Satz formulierte paradoxe Bekenntnis zu Beharrung und Weiterentwicklung ist symptomatisch für Goethes innere Situation während der ersten Wochen. Ein Blick auf den weiteren Verlauf der Reise belegt allerdings, dass wichtige Grundideen der Genieästhetik faktisch suspendiert und durch eine neue Wahrnehmungsweise ersetzt werden, die als Ästhetik der Mittelbarkeit beschrieben werden kann und auf die ästhetischen Maximen der Weimarer Klassik hindeutet. Der Vorzug des Reisetagebuchs gegenüber der Italienischen Reise erweist sich hier ein weiteres Mal darin, dass es die schrittweise Verlagerung hin zu einer neuen Wahrnehmungs- und Erlebenskultur im Text selbst abbildet. Dazu einige Beispiele. Am 22. September besucht Goethe eine Akademie-Versammlung im Teatro Olimpico in Vicenza. Der Präsident dieser Institution hat den Mitgliedern die kunsttheoretische Frage zur Diskussion vorgelegt, „ob Erfindung oder Nachahmung den schönen Künsten mehr Vortheil gebracht habe? “ (FA I 15.1: 662) und bittet um Wortmeldungen. Der durchreisende deutsche Dichter hätte sich zu dieser Problemstellung, über die man „hundert Jahre hinüber und herüber reden kann“ (ebd.), gern geäußert und kommentiert die lebhafte Debatte in kraftgenialischer Manier: „Wenn das meine Nation und meine Sprache wäre ich wollte sie toll machen.“ (ebd.) Von einer ganz anderen ästhetischen Distanziertheit zeugt dagegen eine Reflexion über die Reiseerlebnisse vom Vortag, in der es heißt: Ich gehe nur immer herum und sehe und übe mein Aug und meinen innern Sinn. Auch bin ich wohl und von glücklichem Humor. Meine Bemerckungen über Menschen, Volck, Staat, Regierung, Natur, Kunst, Gebrauch, Geschichte gehen immer fort und ohne daß ich im mindsten aufgespannt bin hab ich den schönsten Genuß und gute Betrachtung. (FA I 15.1: 660) Dieses Bekenntnis zu einer reflektierten, kontemplativ-unaufgeregten Verarbeitung der Reiseerfahrungen sollte schließlich eine Suspension des spontanen Urteils und vorschnell-forscher Kommentare zur Folge haben. Wenige Tage nach dem obigen Zitat notiert Goethe: „Ich lebe sehr diät und halte mich ruhig damit die Gegenstände keine erhöhte Seele finden, sondern die Seele erhöhen.“ (24. September 1786; FA I. 15.1: 665f.) Wie sich diese diätetisch kontrollierte Fremdwahrnehmung allmählich gegenüber einer genialisch-expressiven Rezeptionsweise durchsetzt, kann auch anhand von Goethes Beschreibung zweier Kirchen illustriert werden. Nach seiner Ankunft in Venedig besucht er am Michaelistag (29. September) Ulrich Krellner 102 den Markusdom. Goethes bekannte antiklerikale Ressentiments verdichten sich über diesem Erlebnis zu folgendem, an Charlotte v. Stein gerichteten, Kommentar: „Die Markus Kirche muß in einem Kupfer von dir gesehen werden die Bauart ist jeden Unsinns werth der jemals drinne gelehrt oder getrieben worden seyn mag. ich pflege mir die Facade zum Scherz als einen kolossalen Taschenkrebs zu dencken.“ (FA I 15.1: 682) Obwohl für diese drastisch-genialische Schilderung (deren Gestus auf Interpunktion und Kleinschreibung abgefärbt hat) auch die objektive Gestalt der byzantinisch inspirierten Architektur der Kirche eine Rolle gespielt haben mag, die Goethes Reiseführer Volkmann ebenfalls kritisiert, ist der Unterschied zu Goethes Beschreibung des Petersdoms dreieinhalb Wochen später doch bemerkenswert: Nachdem wir alles wieder und wieder gesehn, [...] gingen [wir] nach der Peterskirche, die von dem heitern Himmel das schönste Licht empfing und in allen Theilen klar und hell war. Wir ergötzen uns als genießende Menschen, an der Größe und Pracht, ohne durch allzuecklen und zu verständigen Geschmack uns dies mal irre machen zu lassen und unterdrückten jedes schärfere Urtheil. Wir erfreuten uns des Erfreulichen. (An den Weimarer Freundeskreis, 22. November 1786; FA II 3: 171) Dass dieses Dokument einer konzentrierten und beruhigten, auf kontextuelles (wenn man will: ganzheitliches) Erkennen der Phänomene bezogenen Anschauungsweise einer anderen Wahrnehmungsepoche angehört, belegt auch sein Überlieferungsstatus. Es stammt aus einem an den Freundeskreis in Weimar adressierten Brief - und nicht mehr dem Reisetagebuch, das Goethe abbricht, weil nach seiner Ankunft in Rom mit dem Unmittelbarkeitspathos der ersten Reisephase auch das Bedürfnis verflogen war, deren Eindrücke sofort schriftlich zu fixieren. „In Rom“ - heißt es - „konnt ich nicht mehr schreiben. Es dringt zu eine grose Masse Existenz auf einen zu, man muß eine Umwandlung sein[er] selbst geschehen laßen, man kann an seinen vorigen Ideen nicht mehr kleben bleiben, und doch nicht einzeln sagen worinn die Aufklärung besteht.“ (An Charlotte v. Stein, 17.-20. Januar 1787; FA II 3: 227) Diese Selbstdeutung - nicht einmal vier Monate nach der Behauptung, keine seiner „alten Grundideen“ sei verändert worden, - kündigt eine definitive Abwendung von den ästhetischen Grundsätzen der Geniezeit an. Goethe ist nunmehr entschlossen, „das Gebildete und Hervorgebrachte nicht nach dem Effeckt den es auf uns macht, sondern nach seinem innern Werthe zu beurtheilen“ (An Herzogin Louise, 12.-23. Dezember 1786; FA II 3: 195). Die Maßstäbe dafür erwirbt er sich u.a. durch eine dezidierte Abgrenzung von seinen eigenen Frühwerken, die im Licht der neuen Erfahrungen nun einer überholten Epoche anzugehören scheinen. Goethes Reise nach Italien und ihre doppelte Literarisierung 103 III. Anderthalb Wochen vor der Ankunft in Rom macht Goethe für einige Tage Station in Bologna und besichtigt dabei u.a. die dortigen Gemäldesammlungen der Bologneser Schule. Die Eindrücke, die er dabei empfing, gingen denkbar weit auseinander: Im Pallast [...] hab ich eine St. Agatha von Raphael gefunden, die wenn gleich nicht ganz wohl erhalten ein kostbares Bild ist. [...] Ich habe sie mir wohl gemerckt und werde diesem Ideal meine Iphigenie vorlesen und meine Heldinn nichts sagen laßen was diese Heilige nicht sagen könnte. (19. Oktober 1786; FA I 15.1: 727) Mit Blick auf die übrigen Gemälde heißt es: Von allem andern muß ich schweigen. [...] Man ist immer auf der Anatomie, dem Rabenstein, dem Schindanger, immer Leiden des Helden nie Handlung. Nie ein gegenwärtig[es] Interesse, immer etwas phantastisch Erwartetes. Entweder Mißethäter oder Verzückte, Verbrecher oder Narren. (ebd.) Zwar ist weder die Identität des Palastes noch die der gesehenen Werke bisher zweifelsfrei ermittelt worden, so dass eine heutige Überprüfung des Goetheschen Kunsterlebnisses schwer fällt. 13 Instruktiv ist der Kommentar dennoch, nicht nur weil er Goethes bis dahin schwerwiegendste ästhetische Irritation auf der Reise dokumentiert, sondern weil er Bezüge zu zweien seiner Werke herstellt, die während der Italienreise neu gestaltet bzw. neu bewertet werden. Der erste Verweis bezieht sich auf das seit 1779 in Prosaform vorliegende Iphigenie-Drama, dessen Manuskript Goethe im Anschluss an eine „letzte Conferenz mit Herder“ (FA I 15.1: 610) nach Italien mitnahm und über dessen voranschreitende Umarbeitung das Tagebuch regelmäßig und ausführlich berichtet. 14 Obiges Zitat gibt einen Hinweis darauf, von welchen künstlerischen Ambitionen er sich bei der Neufassung leiten lässt. Kein antikes Bildwerk, sondern ein Renaissancegemälde Raffaels, dessen klassizistische Glätte dem kommenden 19. Jahrhundert als ideale Verkörperung eines überzeitlichen Schönheitsideals erscheinen sollte, gilt Goethe als adäquater Spiegel für seine veränderten ästhetischen Bedürfnisse, denen die „schlotternde Prosa“ (An Herder, 13. Januar 1787; FA II 3: 220) der ersten Fassung nun nicht mehr genügt. Der Anspielungsgehalt des folgenden Hinweises auf Bildwerke, über die er „schweigen“ müsse, weil deren „unsinnige Süjets“ (FA I 15.1: 727) seinem Empfinden zuwiderliefen, ist auf den ersten Blick schwerer zu entschlüsseln. Ruft man sich aber in Erinnerung, dass Goethe die letzten Tagen vor seiner Abreise aus Karlsbad mit der Redaktion des Romans Die Leiden des jungen Werther für die Göschen-Ausgabe zubrachte, so stutzt man über einem 13 Das legen die Ausführungen von Christoph Michel im Kommentar der Frankfurter Ausgabe nahe (FA I 15.2: 1237). Norbert Miller (2002: 102) glaubt hingegen, die von Goethe gesehenen Gemälde in den Kirchen der Stadt wenigstens zum Teil identifizieren zu können. 14 Vgl. FA I 15.1: 610, 631, 648, 658, 663, 666, 685, 703, 712. Ulrich Krellner 104 Kommentar, der sich scharf von einer künstlerischen Gestaltung distanziert, die immer nur die „Leiden des Helden“, „nie“ aber dessen „Handlung“ thematisiert. Keine acht Wochen nachdem er Weimar den Rücken gekehrt hatte, wendet Goethe sich entschieden gegen die künstlerische Gestaltung der Schicksale von problematischen Helden, zu denen der Protagonist seines Erstlingsromans zweifellos gehört. Einen ähnlichen versteckten Selbstkommentar enthält ein an Charlotte v. Stein gerichteter Brief vom 24. November 1786. Goethe fasst darin den Eindruck zusammen, den die Stadt Rom nach dreiwöchigem Aufenthalt auf ihn gemacht hat. „Könnt ich dir nur“ - heißt es dort - „das beste zeigen, was ich sehe, ja nur manchmal das zu genießen geben, was ich in dem Augenblick nicht genießen kann. So ein Element hab ich mir lange gewünscht, um auch einmal zu schwimmen und nicht immer zu waten.“ (An Charlotte v. Stein, 24. November 1786; FA II 3: 173) Das Bild des in ein begünstigendes Element eingetauchten Schwimmers bildet einen eindrucksvollen Kontrast zu den Anstrengungen eines Watenden, der sich gegen die andrängende Flut (im Unwetter) zu behaupten sucht. Genau diese Gegenposition hatte Goethe jedoch in der Geniezeit eingenommen, als er in der Hymne „Wanderers Sturmlied“ den trotzigen Widerstand des einsamen Wanderers gegenüber allen Unbilden glorifiziert und mit den Versen endet: „Dort ist meine Hütte - / Zu waten bis dort hin.“ (FA I 1: 145) Der hier an einzelnen Zitaten nachgewiesene ästhetische Paradigmenwechsel bestätigt sich beim Blick auf Goethes Werk insgesamt und rechtfertigt damit die These von der „Wiedergeburt“ (FA I 15.1: 158) in Italien. Insbesondere die Aufzeichnungen im Tagebuch, aber auch die während der Reise verfassten Briefe beglaubigen jene fundamentale Neuorientierung, deren poetologische Konsequenz auf eine „Relativierung des Unmittelbaren“ (Fischer 1997: 96) 15 hinausläuft, die in der retrospektiven Konstruktion der Italienischen Reise dann zum durchgängigen Darstellungsprinzip des ‚Klassikers‘ Goethe wird. 15 Fischer arbeitet - dem vorliegenden Ansatz vergleichbar - die Mittelbarkeit des Goetheschen Kunsterlebnisses heraus; er lässt allerdings die Differenz in der Darstellungsstrategie der frühen Dokumente gegenüber der literarisierten Italienischen Reise unberücksichtigt. Goethes Reise nach Italien und ihre doppelte Literarisierung 105 Bibliographie Barner, Wilfried. 1988. „Altertum, Überlieferung, Natur. Über Klassizität und autobiographische Konstruktion in Goethes Italienischer Reise.“ In: Goethe-Jahrbuch 105: 64-92. Boerner, Peter. 1985. „Italienische Reise (1816-29).“ In: Paul Michael Lützeler & James E. McLeod (Hgg.). Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart: Reclam. 344-362. Brenner, Peter J. 1990. Der Reisebericht in der deutschen Literatur. IASL 2. Sonderheft. Tübingen: Niemeyer. Brinkmann, Rolf Dieter. 1979. Rom. Blicke. Reinbek: Rowohlt. Fischer, Markus. 1997. „Augenblicke des Wiedererkennens. Zur Kategorie des Erlebnisses in Goethes Italienischer Reise.“ In: Moritz Baßler, Christoph Brecht & Dirk Niefanger (Hgg.). Von der Natur zur Kunst zurück. Neue Beiträge zur Goethe- Forschung. Gotthart Wunberg zum 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer. 95-107. Goethe, Johann Wolfgang von. 1985ff. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Zwei Abteilungen. Hrsg. v. Friedmar Apel et al. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. Koopmann, Helmut. 2002. Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe. München: Beck. Maurer, Michael. „Italienreisen. Kunst und Konfession.“ In: Hermann Bausinger (Hg.). Reisekultur. München: Beck. 221-229. Mayer, Hans. 1963. „Italienische Reise.“ In: ders. Zur Deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen: Neske. 51-81. Meier, Albert. 1989. „Von der enzyklopädischen Studienreise zur ästhetischen Bildungsreise. Italienreisen im 18. Jahrhundert.“ In: Peter J. Brenner (Hg.). Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 284-305. Miller, Norbert. 2002. Der Wanderer. Goethe in Italien. München: Hanser. Osterkamp, Ernst. 1987. „Zur Geschichte der deutschen Sizilienwahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert.“ In: Albert Meier (Hg.). Ein unsäglich schönes Land. Goethes Italienische Reise und der Mythos Siziliens/ Un paese indicibilmente bello. Il Viaggio in Italia di Goethe e il mito della Sicilia. Palermo: Sellerio. 138-157. Wild, Reiner. 1997. „Italienische Reise.“ In: Bernd Witte et al. (Hgg.). Goethe-Handbuch. Bd. 3. Stuttgart/ Weimar: Metzler. 331-369. Jens Priwitzer Sich in der Ideologie einrichten: Die ‚Ankunft im Alltag‘ in Erik Neutschs Roman Spur der Steine Um das Jahr 1960 herum wurde eine Veränderung der DDR-Literatur offensichtlich, die aus der thematischen Neuorientierung einer neuen Schriftstellergeneration resultierte. Junge Autoren wie Christa Wolf, Brigitte Reimann oder Erik Neutsch setzten sich in ihren Werken nicht mehr mit den Aufbauleistungen aus der Frühphase der DDR auseinander, sondern suchten die Lebens- und Arbeitswirklichkeit der Menschen in einer „entfalteteren Phase des Sozialismus“ (Dieter Schlenstedt) zu beschreiben. Diese Hinwendung zu veränderten Gegenwartsthemen und die Darstellung von Konflikten, die sich innerhalb des Lebens in der DDR entwickelten, wurden rasch als ‚Ankunft im Alltag‘ interpretiert. Doch was nach einer pragmatischen Kehre in der Stoffbehandlung in Abgrenzung zu den Aufbau-Epen der 1950er Jahre, wie Hans Marchwitzas Roheisen (1952), klingt, stellt sich als ein ideologisches Konstrukt heraus, das genauso wie die frühe DDR-Literatur kulturpolitischen Entscheidungen der SED und einem dominanten Diskurs folgt. 1 Erik Neutschs Roman Spur der Steine aus dem Jahr 1964 soll im Folgenden daraufhin befragt werden, welcher Art die dort beschriebene ‚Ankunft‘ ist und welche Form der erzählte ‚Alltag‘ annimmt. Als frischer Absolvent der Leipziger Journalistenschule kam Erik Neutsch in das entstandene Chemiekombinat Bitterfeld, eine der größten Industrieanlagen der jungen DDR, um vor Ort über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter zu recherchieren. Wie Neutsch in einem Interview mit der Berliner Zeitung 45 Jahre später rückblickend erklärt, empfand er damals schnell die professionelle Distanz als seiner Arbeit hinderlich. Nur einen Blick von außen auf die Beschäftigten zu werfen, erschien ihm als zu wenig; vielmehr wollte er aus der Innensicht berichten. Auch wenn Neutsch nicht direkt im Chemiekombinat arbeitete, war er zumindest bestrebt, den Erfahrungshorizont der Arbeiter in ihrem alltäglichen Leben zu rekonstruieren. Als äußeres Zeichen für den Wunsch Neutschs, sich so weit wie möglich in die Lebenswirklichkeit im Bitterfelder Großbetrieb einzufügen, kann sein Umzug von einem Gästehaus in eine Wohnbaracke des Chemiekombinats gedeutet werden. Auch wenn er diesen Raum nun, wie sein Zimmer zuvor, nicht mehr allein bewohnte, sondern mit drei Arbeitern teilen musste, bedeutete dies für Neutsch einen Schritt in Richtung größerer Integration in die Belegschaft. Retrospektiv war dies für ihn ein bedeutender Moment. „Was sollte ich hier [d.i. das Gästezimmer; J.P.]. Mich lockte doch nicht die Einsamkeit, mich lockte das pralle, das bunte Leben.“ (Neutsch, zitiert nach Müller 2001: 15) 1 Für einen Überblick über die kultur- und literaturpolitischen Entwicklungen in der frühen DDR-Literatur bis Anfang der 1960er Jahre vgl. Gansel (1996). Jens Priwitzer 108 Der Wunsch, in „das pralle, das bunte Leben“ einzutauchen, wie Neutsch ihn formulierte, veranlasste ihn, die Arbeitswirklichkeit seiner Zeit kennenlernen und literarisch gestalten zu wollen. Seine in Bitterfeld gemachten Erfahrungen wurden für den Journalisten und Schriftsteller die Grundlage von Reportagen und Erzählungen. Von den Bitterfelder Geschichten, die 1961 als erstes umfangreiches Erzählwerk Neutschs erscheinen, bis zum Roman Auf der Suche nach Gatt aus dem Jahr 1973 basieren die meisten Fabeln auf den im Chemiekombinat gewonnenen Erfahrungen. Die Entstehung von Arbeitsbrigaden, das alltägliche Leben der Beschäftigten in DDR-Betrieben oder der Einsatz für ungerecht behandelte Kollegen bilden ihre Themenschwerpunkte. Im Zentrum der Handlung stehen oft technische Probleme, die von den Protagonisten bewältigt werden müssen. Bei diesen handelt es sich zum großen Teil um Arbeiter, die sich auf ihre berufliche Erfahrung und die Fähigkeit zur genauen Beobachtung berufen, um auch unter schwierigen Umständen eine Lösung zu präsentieren. Die Figuren müssen sich in Konfliktsituationen bewähren, in denen sie zeigen, dass sie Verantwortung für sich und andere übernehmen können. Neutschs Romane und Erzählungen greifen Themen auf, die charakteristisch für eine Reihe von Erzähltexten sind, die zwischen 1960 und 1965 in der DDR publiziert wurden. Mit ihrer Erzählung Ankunft im Alltag aus dem Jahr 1961 lieferte die Schriftstellerin Brigitte Reimann das Stichwort für diese Gruppe von Prosatexten, in denen zumeist jugendliche Protagonisten beschrieben werden, die in den Anfangsjahren der DDR sozialisiert wurden und sich nun, nach dem Ende von Schule, Lehre oder Studium, einen Platz im bestehenden Gesellschaftssystem erkämpfen wollen. Der DDR-Sozialismus erscheint in der so genannten ‚Ankunftsliteratur‘ 2 als endgültig etabliert. ‚Ankommen‘ bedeutet in vielen literarischen Texten der 1960er Jahre das Akzeptieren eines Status quo, den die Protagonisten nicht hervorgebracht oder gegen Widerstände durchgesetzt haben. In den Romanen und Erzählungen wird daher die Systemfrage auch nicht gestellt und nicht darüber verhandelt, ob der Sozialismus eine gerechte Sozialstruktur darstellt, sondern wie er dazu gemacht werden kann. Das Schlagwort vom ‚Ankommen‘ enthält somit schon das ideologische Bekenntnis, den Sozialismus (und zugleich auch die DDR) nicht in Frage zu stellen. Die Ankunftsliteratur funktioniert daher in ihrer Grundstruktur als systemkonform, wenn auch kritische Äußerungen im Einzelnen auffindbar sind. Zum Hauptschauplatz der Repräsentation der sozialistischen Lebenswelt in der Literatur wird daher der Alltag erklärt. 3 Dass in allen Werken der Ankunftsliteratur die Arbeitswelt besonders dargestellt wird, ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die herausgehobene Stellung der Arbeit als Feld menschlicher Betätigung seit der Staatsgründung der DDR als Rahmenbe- 2 Dazu gehören u.a. Christa Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel und der Roman Ole Bienkopp von Erwin Strittmatter, die beide 1963 publiziert wurden. 3 Für einen literaturgeschichtlichen Überblick vgl. Heukenkamp (2006). Die ‚Ankunft im Alltag’ in Erik Neutschs Roman Spur der Steine 109 dingung der sozialistischen Gesellschaftsordnung immer wieder öffentlich artikuliert wurde. 4 Zum anderen gilt auch hier Christoph Kleßmanns Beobachtung, dass der „Alltag in der DDR [...] nicht als politikfreie Lebenswelt verstanden werden [kann]“ (Kleßmann 1988: 405). Dies trifft insbesondere für die Arbeitswelt zu, der der Sozialismus eine besondere Bedeutung im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie zusprach: „Ein Grundpfeiler der Dogmatik bestand aus der Annahme der führenden Rolle der Arbeiterklasse.“ (Stillmark 2002: 348) Da die Arbeitswelt zu den privilegierten Bereichen der sozialistischen Ideologie gehört, führt in der Literatur eine Akzeptanz der zugeschriebenen Rolle im Berufsleben bzw. „die alltägliche Bewährung in der gesellschaftlichen Arbeit“ (Emmerich 1996: 145) auch zu einer Zustimmung zur sozialistischen Gesellschaftsordnung. Das Insistieren auf die Erfahrungen in der Bitterfelder Arbeitswelt bedeutet bei Erik Neutsch zugleich, dass mit den wachsenden technischen Verbesserungen in der Industrie auch Hoffnungen auf einen endgültigen Aufbau des Sozialismus in der DDR verbunden werden. In seiner Perspektive gehören technologischer Fortschritt und der Erfolg des sozialistischen Systems, das die Erneuerungen ermögliche und hervorbringe, zusammen. Andere Autoren seiner Generation, wie etwa Christa Wolf, teilen diese Ansichten. Für Wolf bestand eine Aufgabe des Schriftstellers gerade darin, sich „ein Gesamtbild der modernen, komplizierten Industriegesellschaft“ (Wolf 1987: 11) zu erarbeiten. Wie Wolf ist auch Erik Neutsch davon überzeugt, dass der Sozialismus nicht nur eine Bedingung, sondern auch eine Folge der künstlerischen Tätigkeit sei. Sich ans fortschreitende Leben zu halten, bedeutet, so glaube ich, nicht als ein peinlich auf Distanz bedachter Beobachter, sondern als leidenschaftlich Wirkender am sozialistischen Leben teilzunehmen. Sich bei Gelegenheiten zu prüfen, das kann nicht geschehen, wenn man hin und wieder einmal einen Arbeiter betrachtet, sondern wenn man sich zu jeder Stunde vielfältig und mit tausend Fäden mit jener Klasse verbunden weiß, die im Mittelpunkt unserer Epoche steht, der Arbeiterklasse, wenn man ihre Ideologie vertritt und sich im täglichen Meinungsstreit stählt. Alles andere ist, will man sozialistisch schreiben, Schaumschlägerei. (Neutsch 1978: 32) Mit dieser Selbsteinschätzung, die sich mit ‚Fortschritt‘, ‚sozialistisches Leben‘ und ‚Arbeiterklasse‘ zentrale Schlagworte der kommunistischen Ideologie zu eigen macht, wird deutlich, dass Neutsch ebenso wie viele andere Schriftsteller glaubte, mit seinen Texten einen literarischen Beitrag zur Umsetzung des Sozialismus in eine reale Gesellschaftsordnung leisten zu können. 5 Für seinen Roman Spur der Steine formulierte er die Absicht, den Spagat 4 Vgl. Bock (1980). 5 Ausgehend von Beschlüssen des V. Parteitags der SED aus dem Jahr 1958, in denen ein intensiverer Ausbau des Sozialismus in allen Bereichen der Gesellschaft bestimmt worden war, diskutierten im Jahr darauf Autoren des Mitteldeutschen Verlages Halle auf einer Konferenz, die im VEB Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld veranstaltet wurde, wie eine engere Verflechtung von Kunst und Sozialismus möglich wäre. Um die durch Jens Priwitzer 110 zwischen ideologischem Anspruch und Arbeitswirklichkeit zu schaffen und gleichermaßen beiden Seiten gerecht zu werden: „Die Konflikte und die Handlung sollen die Wirklichkeit weder häßlicher noch schöner machen, sondern deutlicher.“ (Spur der Steine 779) Wie zu zeigen sein wird, konnte Neutsch diesen Anspruch nicht einlösen. Zur Verknüpfung der beiden Aspekte werden die in Spur der Steine entfalteten Konflikte in einem ideologisch bereits stark besetzten Schauplatz inszeniert. Dieser befindet sich in der Nähe der fiktiven Stadt Schkona auf der Baustelle einer großen chemischen Industrieanlage, die für Produktionssteigerung ausgebaut werden soll. Beschrieben wird eine Szenerie der Technik, in der Objekte und Bauwerke wie Wasserwerke, Kühltürme und Kraftwerke dominieren. Schon der Anfang des Romans beschwört eine monumentale Industrielandschaft: „Sechzehn Schornsteine stützen den Himmel über der Stadt, höher aufragend als die höchsten Türme ringsum, sechzehn Fabrikschlote, in einer Reihe, staubgrau und steil, wie sie nirgends noch einmal in Deutschland zu finden sind.“ (Ebd.: 9) Der literarische Technikkult der 1950er und frühen 1960er Jahre sowie die sozialistische Fortschrittseuphorie werden im Roman eng miteinander verknüpft. 6 Zukünftige Verbesserungen der Lebensbedingungen werden durchgängig in einen kausalen Zusammenhang zu technologischen Weiterentwicklungen gestellt. Wenn beispielsweise zu Beginn der Handlung die Umweltsünden des Chemiekombinats die Umgebung stark belasten, ist zum Ausgang des Romans eine Perspektive vorgezeichnet, die Verbesserungen bringen wird. Jedoch ist erkennbar, dass die Technik in zunehmendem Maße das Landschaftsbild der Umgebung prägt. Denn in Anlehnung an den Beginn des Romans ist Schkona im Schlussbild die „rauchige [...] Stadt in der Ebene, über der der Himmel wie ein Zelt gestützt wird“, in der allerdings nun „neunzehn[! ] Schornsteine“ (Spur der Steine 771) aufragen. In der Logik der Fortschrittsrhetorik liegt auch begründet, dass die Industrieanlage selbst zur Stadtdominanten und damit die religiöse Symbolik der Kirchtürme durch eine technisch-atheistische ersetzt wird. Der die Moderne hervorgerufene Trennung der Sphären von Kunst und Leben sowie die dadurch vermutete Entfremdung von Künstlern und Volk aufzuheben, wurden die Autoren dazu angehalten, den arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt ihrer Literatur zu stellen. Der mit der Losung ‚Greif zur Feder, Kumpel! ‘ ausgerufene ‚Bitterfelder Weg‘ mit dem Ziel, Arbeiter als Künstler zu fördern und professionelle Künstler in die Betriebe zu holen, sollte sich jedoch nicht bewähren. Die mit Unterstützung der staatlichen Kultur- und Förderpolitik geschaffenen ‚Zirkel schreibender Arbeiter‘ konnten die anfangs in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Weder hielt die Anfangseuphorie der Beteiligten lange, noch ließen die ideologischen Vorgaben der Verlage einen künstlerisch produktiven Freiraum zu. Doch auch etlichen Schriftstellern, wie das Beispiel Franz Fühmann zeigt, blieb das Leben der Arbeiter fremd. Vgl. Rüther (1991). Zur Dokumentation der Beschlüsse und Redebeiträge auf der Bitterfelder Konferenz vgl. Greif zur Feder, Kumpel: Protokoll der Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages Halle (Saale) am 24. April 1959 im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1959. 6 Vgl. dazu Stephan (1978). Die ‚Ankunft im Alltag’ in Erik Neutschs Roman Spur der Steine 111 industrielle Standort Schkona wird auf diese Weise zum Ort einer ‚anderen‘, einer sozialistischen Form der Moderne, 7 in der die Kräfte von Natur und Kultur nicht mehr im Widerstreit stehen, sondern durch die fortschrittliche Technik miteinander ausgeglichen werden. Die damit verbundene Setzung, dass es eine menschliche Verfügungsgewalt sowohl über die Technik als auch die Kräfte der Natur gebe, hat zudem eine ausgleichende Funktion für die Gegenwart. „Wo noch vormoderne Produktionsmethoden und menschliche Schwächen den Alltag ausmachen, wird die fortgeschrittene Technik zum Kompensationsmittel und Versprechen für eine bessere Zukunft.“ (Emmerich 1995: 235) Die Industrieanlagen und die Großbaustellen werden nicht nur in der DDR-Literatur um 1960 zu Symbolen des Fortschritts erklärt, sondern gerade die neu entstehenden Industriestädte Bitterfeld, Schwedt oder Halle-Neustadt waren Projektionsflächen für die sozialistische Utopie, die - neben ihrer herrschaftslegitimierenden Funktion - auf dem Versprechen basierte, dass die gegenwärtige Situation nur der Vorläufer einer zukünftigen Verbesserung sei. 8 Mit dem Bau dieser Städte wurde aber auch zugleich signalisiert, dass an einigen ausgewählten Orten die angestrebte Gesellschaftsordnung schon verwirklicht sei und sich in einem Erprobungszustand befinde. 9 Eingebettet in die Gegenwart wiesen sie zugleich über diese hinaus und formulierten eine Differenz zwischen sich und ihrer Umwelt, mit der sie im selben Moment auf vielerlei Weise mit ihr verbunden waren. 10 Mit dem Standort Schkona findet der ‚Fortschritt‘ als „Leitkategorie der sozialistischen Herrschaftskultur“ (Sabrow 2004: 168) seine fiktive Materialisierung. Nicht nur ist das Industriewerk ein Ort permanenter baulicher Veränderung. Die Fläche Schkonas, das bereits über „die Ausmaße einer kleinen Stadt“ (Spur der Steine 53) verfügt, soll aufgrund beabsichtigter Produktionssteigerungen erweitert werden. Dazu kommen zusätzliche Gebäude für neue chemische Veredlungsverfahren, so dass „ein Gigant“ (ebd.: 54) entsteht, in dem zukünftig die technischen Verbesserungen und Optimierungen realisiert sein sollen, von denen der Oberbauleiter Trutmann begeistert ist: „Alles automatisiert, alles auf Petrolchemie abgestimmt.“ (Ebd.) Rationalisierung, Modernisierung und Optimierung werden im Roman zu Grundprinzipien einer wissenschaftlich-technischen Handlungsweise erklärt, die mit ökono- 7 Vgl. für die Diskussion einer sozialistischen Form der Moderne Baumann (1992). 8 Vgl. Albers (1996) sowie Böhme (1996). 9 Anspruch und Wirklichkeit einer sozialistischen Stadt rekonstruiert Philipp Springer am Beispiel Schwedts. Vgl. Springer (2006). 10 Damit ähneln sie den von Michel Foucault beschriebenen ‚Heterotopien‘, ohne jedoch ihren ambivalenten Status zu übernehmen: „Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.“ (Foucault 2006: 320) Jens Priwitzer 112 mischem Erfolg auch zugleich zum Aufbau des Sozialismus beitragen sollen. 11 Das vom Ingenieur Hesselbart entwickelte Bauverfahren lehnt sich an eine industriell-maschinelle Fertigungsweise an. Das Ziel ist es, einen neuen, von der Natur und ihren Einflüssen in Form von Tageszeiten und Wetter unabhängigen Arbeitsrhythmus zu etablieren, durch den vorhandene Ressourcen effektiv ausnutzbar gemacht werden sollen. Auch die Einführung neuer Formen des kollektiven Arbeitens ist in diesem Kontext zu sehen. Die bisher nach Berufsgruppen organisierten Brigaden werden zugunsten so genannter ‚Komplexbrigaden‘ aufgelöst. Im neu etablierten Drei-Schicht- System soll die Zusammenarbeit der verschiedenen an der Baustelle des Chemiewerks beschäftigten Handwerksgruppen nun erzwungen und durch den Einsatz von Ingenieuren stärker koordiniert werden. Deren Bedeutung wird durch die Fabelkonstruktion zunehmend herausgestellt, denn es sind nicht die ‚Arbeiter‘, die die Handlung voranbringen, sondern die Gruppe der Ingenieure um Katrin Klee und Hesselbart sowie den Parteisekretär Horrath. Erst durch diesen Wechsel von der „Froschperspektive der Arbeiter und Bauern“ zur „Königsebene der Planer und Leiter“ (Rüther 1991: 92) kann die im Roman formulierte und illustrierte Vorstellung von der Planbarkeit der Lebens- und Arbeitsbedingungen realisiert werden. 12 Eine ‚Ankunft‘ in der sozialistischen Lebens- und industriellen Arbeitswelt wird in Spur der Steine nicht als Endpunkt, sondern immer nur als vorläufiger Zwischenhalt in einer andauernden Entwicklung verstanden. Der mögliche nächste Schritt wird im Roman anhand einer Studienreise Ballas und Katrin Klees illustriert, die zukünftige Leistungen einer Verbindung von technischem Fortschritt und sozialistischer Ideologie in der Sowjetunion zeigt. 13 Die Reise führt über Moskau und Irkutsk in den entlegenen Ort 11 Neutsch übernimmt hier zentrale Schlagworte der DDR-Wirtschaftsreformen aus den 1960er Jahren. Diese Begriffe wurden unter dem Dach des ‚Neuen Ökonomischen Systems (zur Planung und Leitung)‘ (NÖS bzw. NÖSPL) diskutiert. Die damit verbundenen Liberalisierungsversuche (weniger zentrale Steuerung und mehr Eigenverantwortung der Betriebe) wurden von der SED in der Absicht beschlossen, die volkswirtschaftlichen Prozesse zu beleben sowie die Ausnutzung der Ressourcen zu erhöhen. Vgl. Steiner (2003). 12 Neutsch war einer der ersten, die diesen für die DDR-Literatur seit der Mitte der 1960er Jahre typischen Wechsel vollzogen. Damit griff er Entwicklungen vorweg, die sich aus der Neuorientierung der staatlichen Kulturpolitik Mitte der 1960er Jahre ergaben. Der Aufenthalt der Schriftsteller in den Betrieben führte für die SED nicht zu einer Bestätigung ihres Bildes der Lebens- und Arbeitswelt, sondern brachte viele nüchterne Beispiele, die das Bild zu erschüttern drohten. Auf der II. Bitterfelder Konferenz, die faktisch die Beschlüsse der ersten Konferenz aufhob, forderte Walter Ulbricht die Autoren auf, ihre Perspektive auf die Arbeitswelt erneut zu ändern: „Ein Künstler, der die Wahrheit und das Ganze im Auge hat, kann nicht vom Blickpunkt eines empirischen Beobachters all dieser Erscheinungen schaffen, auch nicht vom Blickpunkt eines einfachen Mitarbeiters. Er braucht unbedingt auch den Blickwinkel des Planers und Leiters.“ (Ulbricht 1964: 81) Vgl. Zimmermann (1984). 13 Die Reise der beiden Protagonisten und ihrer Begleiter in die Sowjetunion wiederholt die Bildersprache begeisterter Besucher der Zwischenkriegszeit, die hier die Zukunft be- Die ‚Ankunft im Alltag’ in Erik Neutschs Roman Spur der Steine 113 Bratsk, wo für ein Wasserkraftwerk ein Staudamm errichtet wird. Durch ihre Größe („Fast ein Kilometer lang, etwa einhundertdreißig Meter hoch“; Spur der Steine 714) ist diese Talsperre nicht nur ein technisches Monument, sondern wird zugleich auch als ein Zeichen der Überlegenheit der instrumentellen Vernunft inszeniert. Mit dem Bau wird nicht nur signalisiert, dass auch die Kraft des Wassers beherrschbar sei, sondern dass die Natur durch den Menschen auch einer Ordnung unterworfen werden könne. Die umfassende Umformung der an den Damm angrenzenden Landschaft ist für diese Vorstellung ein Beispiel: Schon als sich Kati und Balla ihrem Ziele genähert hatten, zwanzig, dreißig Kilometer voraus, waren sie auf eine zerwühlte, zerkraterte Landschaft gestoßen. Über die Taiga schien ein vernichtender Sturm gezogen. Tausende und aber Tausende von Bäumen, uralte Waldriesen, lagen gefällt umher, waren zu Stapeln aufgehäuft und warteten auf den Abtransport. Schreitbagger gruben sich gefräßig in das Erdreich, Bohrhämmer knatterten, und Betonmaschinen rasselten. (Ebd.) Die an dieser Stelle agierenden Kräfte haben zwar ein ähnliches Wirkpotenzial wie die Einflüsse der Natur, doch unterscheiden sie sich bei genauer Betrachtung deutlich. Denn durch die beschriebenen Maschinen wird die Landschaft zu einem ‚gekerbten Raum‘, in dem die unbestimmten Formen der Natur durch die Vernunft organisiert sowie durch die Technik gegliedert und gebrauchsfähig gemacht werden. 14 Die Umwandlung einer Naturin eine Industrielandschaft wird als Ergebnis des Zusammenspiels von menschlicher Rationalität und technischer Höchstleistung gedeutet. Die erfolgreiche Erprobung einer ferngesteuerten Montagevorrichtung am Staudamm demonstriert zudem, dass die Privilegierung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die fortschreitende Technisierung auch zu einer grundlegenden Veränderung der Arbeitsweisen führen werden. 15 Im Roman erfüllt die Sowjetuni- reits verwirklicht sahen: „Es ging [beim Revolutions- und Polittourismus der 1920er Jahre; J.P.] nicht bloß oder in erster Linie um Informationen über das ferne Land, sondern um Bilder aus der ‚neuen Welt‘, um die Festschreibung dessen, was als rückständig und was als modern zu gelten habe, um eine Ästhetik des Zeitgemäß-Modernen.“ (Schlögel 1998: 140) 14 ‚Glatt‘ und ‚gekerbt‘ stellen in der ‚Geophilosophie‘ Gilles Deleuzes und Félix Guattaris zwei entgegengesetzte Formen des Umgangs mit dem Raum dar. Während das Glatte die Bewegung im Raum, den ‚Nomos‘, darstellt, verbindet sich das Gekerbte mit der Instrumentalisierung und Ordnung des Raumes, dem ‚Logos‘. Vgl. Deleuze/ Guattari (1992, insbesondere das Kapitel „1440 - Das Glatte und das Gekerbte“, 658-694). 15 Insbesondere die Kybernetik stellte Anfang der 1960er Jahre eine von der DDR-Literatur geschätzte Denkfigur dar, die zu einer wissenschaftlichen Planung der Arbeitsabläufe führen sollte. Da ihre Umsetzung aber zu einer Enthierarchisierung der Strukturen geführt hätte, blieb sie nur ein Stichwort. Imaginationen über die Wirkungen der Kybernetik werden in Spur der Steine auch folgerichtig in Bratsk lokalisiert, wo sie zum einen dazu dienen, die größere Fortschrittlichkeit des sowjetischen Ortes gegenüber Schkona anzuzeigen, zum anderen aber keine Auswirkungen auf den vorhandenen Arbeitsablauf haben. Zur Diskussion um die Potenziale der Kybernetik in den 1960er Jahren mit Blick auf ihren bedeutendsten Vordenker vgl. Liebscher (2005). Jens Priwitzer 114 on ihre Funktion als ‚Projektionsraum‘ (vgl. Bonner 2005) genau in dem Moment, als Ballas Besichtigung der riesigen Baustelle in Bratsk zu einer Verklärung des technischen Fortschritts und seiner sozialpolitischen Implikationen führt: „Vielleicht ahnte er hier zum erstenmal, daß technische Vollkommenheit ein Segen für die Menschheit ist.“ (Spur der Steine 714f.) Aufgrund der betonten Fortschrittlichkeit der Industriestadt Schkona wird von der Partei nicht erlaubt, dass sich dort ein eigenes Norm- und Regelsystem etablieren kann, das einen Unterschied zwischen diesen räumlichen Gebilden und ihrer Umgebung markieren könnte. Eine Abgrenzung durch eigene Symbolsysteme, wie sie Hartmut Böhme (1998) als besondere Charakteristik eines kulturellen Objektes wie der ‚Baustelle‘ beschrieben hat, wird in diesem Fall durch die Dominanz der sozialistischen Wertsphäre nicht zugelassen. Die Einflussnahme reicht von der Steuerung der Leitungsebene bis zur Gestaltung von Festlichkeiten. So verfügt die Baustelle des Chemiewerks nicht über eine unabhängige Bauleitung, sondern wird vom Oberbauleiter und dem Parteisekretär gemeinsam geführt, die sich unterschiedlichen Gremien gegenüber - der eine der staatlichen Verwaltung, der andere der übergeordneten Parteiinstanz - verantworten müssen. Auch das Richtfest, eine markante Symbolform der Baustelle, wird vor dem Hintergrund der überall präsenten „rote[n] Fahnen“ (Spur der Steine 509) gefeiert. Ihre Begründung finden diese Bemühungen um umfassende Kontrolle aller Lebensbereiche im Anspruch der sozialistischen Ideologie, den ganzen Menschen in die gesellschaftliche Entwicklung einbeziehen zu wollen. Dass die Ordnungsvorstellungen und Normierungsbzw. Normalisierungsversuche des Staats und der Partei aber auch in einen Konflikt mit individuellen Lebensvorstellungen treten können, zeichnet Neutsch exemplarisch im Verlauf der Liebesgeschichte von Horrath und Katrin Klee nach. Die auf Triebsublimierung und Askese gründenden Moralvorstellungen der Partei verlangen vom verheirateten Parteisekretär und der Ingenieurin, ihre Affäre zu beenden und nach disziplinierenden Sanktionen zum Status quo ante zurückzukehren. Die strikte Kontrolle moralischen Verhaltens durch die Partei zeigt aber genau dann ihre normierend-oppressive Gestalt, wenn die „Integration der Moral in die sozialistische Ideologie [...] aus ihr einen staatserhaltenden, staatsstabilisierenden Faktor“ (Pareigis 1974: 185) macht. 16 Das individuelle Glücksbegehren der Figuren und die Moralvorstellungen der Partei erweisen sich im Ausgang des Romans als unvereinbar. Da aus der Perspektive der Partei der Einzelne als ersetzbar gilt, werden Horrath und Klee zur Verhinderung möglicher weiterer Konflikte von der Baustelle entfernt. „Das Leben in der Hauptstadt der Chemie, in Schkona, fand zu 16 Dem Insistieren der Partei auf ‚Prinzipien‘ setzt Neutsch eine individuelle Moralvorstellung entgegen, die auf Kontexte und die Bewährung des Einzelnen in krisenhaften Momenten setzt. Beispielhaft hebt dies im Roman Balla in einer Diskussion mit Horraths Vorgesetzen hervor: „Manchmal hab ich das Gefühl, die Partei nimmt sich zu wenig Zeit für den Menschen“ (Spur der Steine 766). Die ‚Ankunft im Alltag’ in Erik Neutschs Roman Spur der Steine 115 seiner Ordnung zurück. Bald war es wieder intakt, lief brav und gleichmäßig wie eine Maschine nach der Generalüberholung. Nur ein paar Teile waren ausgewechselt.“ (Spur der Steine 750) Die erneut dem Bildervorrat des Technikkultes entnommene Deutung Schkonas als Maschine suggeriert, dass nach dem Austausch der störenden Elemente der nach dem Plan ausgerichtete Arbeits- und Lebensverlauf wieder gewährleistet werden könne. Doch diese Vorstellung erweist sich als sehr fragwürdig, da die Durchsetzung der industriellen Bauweise gegen alle Widerstände durch Horrath, Klee, Hesselbart und Balla gezeigt hatte, „wie sehr es beim Aufbau des Sozialismus gerade auf den nicht allzu ‚brav‘ funktionierenden einzelnen ankommt“ (Wege 1996: 28). Eine ‚Ankunft im Alltag‘ bedeutet in Spur der Steine das Sich-Einfinden in eine bestimmte ideologisch vorgeprägte Sicht auf die Lebens- und Arbeitswelt der 1960er Jahre. 17 Der Alltag, von dem hier erzählt wird, zeigt sich als hochgradig durch kulturpolitische Entscheidungen und ideologische Doktrinen präfiguriert. 18 Die „Fabelkomposition“ des Romans ist „in einem Vorverständnis der Welt des Handelns verwurzelt: ihrer Sinnstrukturen, ihrer symbolischen Ressourcen und ihres zeitlichen Charakters.“ (Ricœur 1988: 90) Der Technikkult und die Begeisterung für die Kybernetik in den 1960er Jahren, die sich hinter den Schlagwörtern vom ‚Neuen Ökonomischen System‘ und der ‚Wissenschaftlich-Technischen Revolution‘ verbergen, bilden ihre Grundlage. Regelungsprozesse, die für wirtschaftliche Effizienz sorgen, gelten den Protagonisten zugleich als Prinzipien des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Ihre literarische Konfiguration erfahren die beschriebenen Elemente durch ihre Lokalisierung an einem hochgradig mit ideologischer Symbolik aufgeladenen Chemiekombinat, der Lösung technischer und sozialer Probleme durch die Planer- und Leiterfiguren sowie der Neuformulierung kollektiver Moralvorstellungen. 19 Die Bestandteile werden dadurch 17 Der Vorrang der Ideologie vor der Realität lässt sich nicht nur in der Rücknahme der Bitterfelder Beschlüsse feststellen. Kurz darauf wurde den tastenden Versuchen, eine der Arbeitswelt adäquate Schreibweise zu finden, wie sie von Werner Bräunig in seinem Roman Rummelplatz angestrebt wurde, ein deutliches Ende gesetzt. Vgl. Agde (2000). 18 Ich folge hier dem Mimesis-Modell von Paul Ricœur mit der Einteilung in Präfiguration, Refiguration und Konfiguration. Vgl. Ricœur (1988: 87-135). 19 Schon Stephan Hermlin äußerte sich kritisch über die Vermengung technischer und moralischer Auseinandersetzungen in Spur der Steine. Dem von der SED viel gelobten Roman warf er vor, der Thematisierung dringenderer Probleme auszuweichen: „Wie tief das Sehnen nach Debatte und Diskussion in der sozialistischen Welt geht, kann man an der Tatsache ermessen, daß dort, wo der Rotstift des Zensors eine echte Dikussion [sic! ] verhindert, unechte Diskussionen mit viel Lärm und wie auf Kommando durchgeführt werden - Kontroversen ohne Kontroversen, über Fragen von minimaler Bedeutung; öffentliche Debatten über Bücher, in denen so welterschütternde Ereignisse behandelt werden wie das törichte Vorgehen eines Dorfbürgermeisters, der seinen Bauern eine falsche Art von Kuhställen aufzwingen will, oder die außereheliche Vaterschaft eines kleinen Parteisekretärs, der den Skandal vertuschen möchte.“ (Hermlin, zitiert nach Pareigis 1974: 112) Jens Priwitzer 116 aber nicht in Frage gestellt oder problematisiert, sondern einzig in ihrem Funktionieren illustriert. Wie Werner Heiduczek später formulierte, hatte man, „und darin lag bereits die Perversion [des Ansatzes vom Bitterfelder Weg; J.P.], schon ein fest gefaßtes Bild vom Arbeiter, das überhaupt nicht mehr stimmte“ (Heiduczek 1993: 134). Zugrunde gelegt wurde eine bestimmte Auffassung, deren normativer Status die Realitätsdarstellung überformte. „Alles, was an Problemen gelöst werden muß, kann vom Kollektiv der sozialistischen Brigade geleistet werden.“ (Ebd.) Wie in anderen Werken der Ankunftsliteratur erfüllt auch der Alltag in Spur der Steine nur die Form des „offiziell Erwünschten und Erwarteten“ (Mohr 1995: 66), indem er die Prinzipien einer technischen und wissenschaftlich-rationalen Fortschrittsideologie zur Grundlage der Handlungsorientierung seiner Protagonisten erhebt. Deswegen ist Neutschs Roman weniger ein Dokument der Arbeits- und Lebenswirklichkeit der 1960er Jahre, sondern mehr das Phantombild einer kollektiven Arbeitsgesellschaft, das von kulturellen Imaginationen der Zeit getragen wird. Die ‚Ankunft im Alltag’ in Erik Neutschs Roman Spur der Steine 117 Bibliographie Agde, Günter (Hg.). 2000. Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED. Studien und Dokumente. 2., erw. Auflage. Berlin: Aufbau. Albers, Gerd. 1996. „Städtebau und Utopie im 20. Jahrhundert.“ In: Die alte Stadt 23.1: 56-67. Baumann, Zymunt. 1992. Moderne und Ambivalenz: das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius. Bock, Stephan. 1980. Literatur Gesellschaft Nation. Materielle und ideelle Rahmenbedingungen der frühen DDR-Literatur (1949-1956). Stuttgart: Metzler. Böhme, Helmut. 1996. „‚Stadtutopien‘ und ‚Stadtwirklichkeit‘. Über die Ambivalenz von idealem Stadtentwurf und totalitärer Gesellschaftssteuerung.“ In: Die alte Stadt 23.1: 68-91. ___. 1998. „Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft.“ In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42: 476-485. Bonner, Withold. 2005. „Projektionsraum Sowjetunion. Reisen in ein fremdes Land in Texten von Christa Wolf, Brigitte Reimann und Erik Neutsch.“ In: Elisabeth Cheauré, Regine Nohejl & Antonia Napp (Hgg.). Vater Rhein und Mutter Wolga. Diskurse um Nation und Gender in Deutschland und Russland. Würzburg: Ergon Verlag. 273-287. Deleuze, Gilles & Félix Guattari. 1992. Tausend Plateaus. Berlin: Merve. Emmerich, Wolfgang. 1995. „‚Die Technik und die Kehre‘. Affirmation, Protest und Regression im literarischen Technikdiskurs der DDR.“ In: Ders. & Carl Wege (Hgg.). Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära. Stuttgart/ Weimar: Metzler. 231- 254. ___. 1996. Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausgabe. Leipzig: Gustav Kiepenheuer. Foucault, Michel. 2006. „Von anderen Räumen.“ In: Jörg Dünne & Stephan Günzel (Hgg.). Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M: Suhrkamp. 317-329. Gansel, Carsten. 1996. Parlament des Geistes? Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945-1961. Berlin: Basisdruck. Greif zur Feder, Kumpel: Protokoll der Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages Halle (Saale) am 24. April 1959 im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld. 1959. Halle, Saale: Mitteldeutscher Verlag. Heiduczek, Werner. 1993. „Diskussionsbeitrag.“ In: Herbert Heckmann & Gerhard Dette (Hgg.). Erfahrung und Fiktion. Arbeitswelt in der deutschen Literatur der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Fischer. 134-136. Heukenkamp, Ursula. 2006. „Proletarisch - sozialistisch - arbeiterlich? Arbeit und Arbeiter in der DDR-Literatur.“ In: Jahrbuch der Anne-Seghers-Gesellschaft 15: 60-75. Kleßmann, Christoph. 1988. Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955-1970. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Liebscher, Heinz. 2005. „Systemtheorie und Kybernetik in der philosophischen Sicht von Georg Klaus.“ In: Hans-Christoph Rauh & Peter Ruben (Hgg.). Denkversuche. DDR-Philosophie in den sechziger Jahren. Berlin: Ch. Links. 157-175. Mohr, Heinrich. 1995. „Bitterfeld - Totgeburt oder Chance? “ In: Friedrich-Ebert- Stiftung, Büro Leipzig (Hg.). ‚Es genügt nicht die einfache Wahrheit‘: DDR-Literatur der sechziger Jahre in der Diskussion. Leipzig: Friedrich-Ebert-Stiftung. 62-67. Jens Priwitzer 118 Müller, Volker. 2001. „Moralist im Niemandsland: Erik Neutsch, der Autor von Spur der Steine wird heute siebzig Jahre alt.“ In: Berliner Zeitung 21.06.2001: 15. Neutsch, Erik. 1978. „Literatur als Parteiarbeit (1961).“ In: Ders. Fast die Wahrheit. Ansichten zu Kunst und Literatur. Berlin: Tribüne. 29-33. ___. 1995. Spur der Steine. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Pareigis, Gottfried. 1974. Kritische Analyse der Realitätsdarstellung in ausgewählten Werken des ‚Bitterfelder Weges‘. Kronberg, Ts.: Scriptor. Ricœur, Paul. 1988. Zeit und Erzählung. Band 1: Zeit und historische Erzählung. München: Fink. Rüther, Günter. 1991. ‚Greif zur Feder, Kumpel‘: Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949-1990. Düsseldorf: Droste. Sabrow, Martin. 2004. „Zukunftspathos als Legitimationsressource. Zu Charakter und Wandel des Fortschrittsparadigmas in der DDR.“ In: Heinz Gerhard Haupt & Jörg Requate (Hgg.). Aufbruch in die Zukunft: Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel; DDR, SSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. 165-184. Schlögel, Karl. 1998. Berlin Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert. Berlin: Siedler. Springer, Philipp. 2006. Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität in der sozialistischen Industriestadt Schwedt. Berlin: Ch. Links. Steiner, André. 2003. „Von ‚Hauptaufgabe‘ zu ‚Hauptaufgabe‘. Zur Wirtschaftsentwicklung der langen 60er Jahre in der DDR.“ In: Axel Schildt, Detlef Siegfried & Karl Christian Lammers (Hgg.). Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. 2. Aufl. Hamburg: Christians. 218-247. Stephan, Alexander. 1978. „Die wissenschaftlich-technische Revolution in der Literatur der DDR.“ In: Der Deutschunterricht 2: 18-34. Stillmark, Hans-Christian. 2002. „Der Arbeiter - die zentrale Nebengestalt der DDR- Literatur.“ In: Ders. (Hg.). Rückblicke auf die Literatur der DDR. Amsterdam/ New York: Rodopi. 347-369. Ulbricht, Walter. 1964. „Über die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen Nationalkultur.“ In: Zweite Bitterfelder Konferenz 1964. Protokoll der von der Ideologischen Kommission beim Politbüro des ZK der SED und dem Ministerium für Kultur am 24. und 25. April im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld abgehaltenen Konferenz. Berlin 1964. Berlin: Dietz. 71-149. Wege, Carl. 1996. Schkona, Schwedt und Schwarze Pumpe. Zur DDR-Literatur im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution (1955-1971). Bremen: Institut für Kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien. Wolf, Christa. 1987. „Einiges über meine Arbeit als Schriftsteller (1965).“ In: Dies. Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959-1985. Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand. 7-12. Zimmermann, Peter. 1984. Industrieliteratur der DDR: Vom Helden der Arbeit zum Planer und Leiter. Stuttgart: Metzler. Beate Schirrmacher Die Unzuverlässigkeit des schuldigen Erzählers: Erzählerfiguren bei Günter Grass, ihr Verhältnis zur Schuld und das Häuten einer Zwiebel In Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959) werden in einem Lokal namens ‚Zwiebelkeller’ den Gästen überteuerte Zwiebeln verkauft, die diese schälen und klein hacken können. In Katz und Maus (1961) überdeckt der Zwiebelgeruch während der Kriegsjahre den Leichengestank. Das Weinen ist kein echtes, der Geruch penetrant überdeckend, die sieben Häute der Zwiebel verdecken etwas: Die Zwiebel spielt eine ambivalente Rolle in Grass’ Prosa. In seiner Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel (2006) wird die Zwiebel für Grass von einem Symbol der Verdrängung zum Emblem der Selbstprüfung und der Erinnerung, deren Schichten es zu schälen gilt und damit freizulegen, was sie bislang verdeckt, überdeckt hat - für die Biographie des Autors bedeutet das das Eingeständnis der bislang verschwiegenen Mitgliedschaft in der SS. Ich möchte in diesem Rahmen nicht auf den Aufruhr im Feuilleton eingehen, der sich insbesondere an Grass’ jahrzehntelangem Schweigen zu diesem Thema entzündete. Stattdessen möchte ich in diesem Beitrag darlegen, dass Grass in seinem literarischen Werk keineswegs so vollständig geschwiegen hat, wie ihm jetzt vorgeworfen wird. Sein gesamtes erzählerisches Werk thematisiert Schweigen und Verschweigen sowie die Bedeutung der Schuld als Antriebskraft des Erzählens. Stets ist der Leser aufgefordert, den Erzähler in Frage zu stellen. Gerade im Versuch des Verschleierns entlarven sich die Erzähler, und auf diese Vorgänge möchte ich im Folgenden aufmerksam machen. Bei näherer Betrachtung lässt sich eine Entwicklung dieses Motivs ausmachen, eine Reise - vielleicht nicht zu einem point of arrival, sondern eher zu einem point of no return, die den Schritt, den Grass mit Beim Häuten der Zwiebel unternommen hat, vorzeichnet, vorwegnimmt, kein Ausweichen mehr zulässt. Auch dieser Entwicklung möchte ich nachgehen. Das Verschweigen lässt sich häufig in Bezug auf die Erzählinstanz finden. Deshalb werde ich im Folgenden erst auf die Rolle des Erzählers bei Grass allgemein sowie auf das Phänomen der Unzuverlässigkeit eingehen, ehe ich die unzuverlässigen Erzähler und ihre „Schuldmotoren” (Arnold 1978: 10f.) an Beispielen erläutern werde. Wie Oskar, der sich selbst als Held bezeichnet (Die Blechtrommel 12f.), sind die meisten Erzähler bei Grass als eigentliche Hauptfiguren zu betrachten. Dies ist offensichtlich, wenn sie als homodiegetische Erzähler ihre eigene Geschichte erzählen. Aber auch Erzähler am Rande, wie Pilenz in Katz und Maus oder der heterodiegetische Erzähler in Unkenrufe (1992), sind nicht nur Sprachrohr der Erzählung, vielmehr geraten zunehmend ihre eigenen Motive Beate Schirrmacher 120 - warum sie erzählen - in den Blickpunkt. Dabei bleibt es wichtig zu betonen, dass Ansichten und Rede der Erzähler nie ungefiltert die Ansichten des Autors Grass wiedergeben. Auch wenn Ich-Erzähler bei Grass, die ab Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972) zunehmend auftreten, eine große biographische Nähe zu dem Autor aufweisen, ist es geboten, die strikte Unterscheidung von Autor und Erzähler zu wahren. Eher lässt sich mit Susanne Schröder (1986: 9) von einer Stilisierung des Autors Grass in seinen Ich- Erzählern sprechen. Edgar Platen (2006) weist darauf hin, wie Grass in den Gestalten seiner Ich-Erzähler vornehmlich mit seiner öffentlichen Rolle als Autor spielt. Augenfällig ist, wie Grass’ Erzähler fast immer aus Schuld heraus zu erzählen beginnen: um Schuld zu bekennen, aber auch um sie gleichzeitig zu verdecken. Für die Erzähler der Danziger Trilogie spricht Grass selbst vom Motor der Schuld (vgl. Arnold 1978: 10f.), doch lässt sich dieser Zug auch bei allen weiteren Erzählern wiederfinden. Die Erzähler schreiben ihre Berichte explizit nieder. Schreiben wird für Grass’ Erzähler zum Versuch der Vergangenheitsbewältigung, die aber in den seltensten Fällen freiwillig gewählt ist. Die meisten Erzähler gehen ihre Aufgabe mit einem gewissen Widerwillen und unter Druck von außen an: In Im Krebsgang (2002) steht ‚der Alte‘ als Auftraggeber hinter dem Erzähler Paul Pokriefke, in Unkenrufe ist der Ich- Erzähler seinem ehemaligen Mitschüler Alexander Reschke einen Gefallen schuldig, in Hundejahre (1963) geschieht das Schreiben in Auftrag, unter Anweisung und unter Druck von Brauxel. Das Moment des Zwangs macht die Erzähler nicht gerade geschickt. Die Literaturkritik hat Grass’ Erzähler von daher wiederholt als ungeschickt, unpassend und unfähig kritisiert. So moniert Paul Konrat Kurz (1980: 107): „Materns Rachebrille verzerrt die Welt“. Frank Richter (1977: 38) findet Libenaus fehlendes Geschichtsbewusstsein als Kennzeichen eines angehenden Historikers unglaubwürdig. Doch Walter Materns Opportunismus, Harry Libenaus fehlendes Geschichtsbewusstsein oder Paul Pokriefkes journalistische Schnoddrigkeit sind beabsichtigt und fordern den Leser zur kritischen Reaktion heraus. Das Scheitern der Erzähler entspringt ihrer vom Autor zugeteilten Aufgabe, „noch nicht abgeschlossene Erlebnisprozesse“ zu beschreiben, „bei denen die Objektivität der Erzählhaltung aus mangelnder Distanz versagen muss“ (Gerstenberg 1980: 17). Aus dem Zwang, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, denen sie noch im Schreiben auszuweichen versuchen, resultiert die grundlegende Unzuverlässigkeit der Erzähler, auf die bereits Jochen Rohlfs (1978: 52) hingewiesen hat. Der Erzähler bei Grass fungiere als Demonstrationsobjekt mangelhaft vollzogener Lernprozesse. Die Ausweichmanöver der Erzähler zu durchschauen und ihre eigentliche Schuld festzustellen, ist Aufgabe des Lesers bei Grass. Der Leser aber, so Richter (1977: 30), sehe sich in einem permanenten Prozess der Enttäuschung dem Erzähler gegenüber, da ihm der Erzähler die Antwort auf seine Fragen letztlich vorenthalte. Von daher will oder kann der Leser nicht immer der Rolle als aktiver Leser entsprechen. In diesem Licht betrachtet erscheint der Die Unzuverlässigkeit des schuldigen Erzählers 121 Skandal um Beim Häuten der Zwiebel nicht ausschließlich als ein Skandal des Verschweigens sondern auch um ein Versagen der Leserschaft Grass’, die der ihr zugedachten Aufgabe nicht nachgekommen ist. Das Entschlüsseln der Unzuverlässigkeit bedarf eines Lesers, der den Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Formulierungen des personalisierten Erzählers einerseits und den übrigen Signalen des Textes andererseits wahrzunehmen imstande ist. Dazu bedarf es sowohl einer Kompetenz als Leser; zudem, so hebt Ansgar Nünning (2005) hervor, müssen Signale, die diese Interpretation ermuntern, im Text angelegt sein. Der unzuverlässige Erzähler lässt sich an einer Anzahl textueller Unstimmigkeiten erkennen, an Widersprüchen in der Wiedergabe oder Diskrepanzen zwischen Aussage und Handlung oder an Unstimmigkeiten, die in einer multiperspektivischen Konzeption entstehen. Dabei unterscheiden Phelan/ Martin (1999) die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz hinsichtlich Bericht, Bewertung und/ oder Interpretation. Monika Fludernik (1996) unterscheidet zwischen Unzuverlässigkeit im Bereich der Faktualität (Bericht), Ideologie (Ethik) und Objektivität (Wissen/ Perzeption). Rohlfs findet in der Danziger Trilogie Lügen, Widersprüche, Halbwahrheiten, Posen sowie angebliches „Vergessen“ und damit verbundene sprachliche Ungenauigkeit (Arnold 1978: 51-59). Die Strategie der Erzähler bei Grass ist somit hauptsächlich auf der Ebene des unzuverlässigen Berichts anzusiedeln. Es lässt sich auch ein Zusammenhang zwischen rhetorischer Unverhältnismäßigkeit, Wiederholungen und Scheinschuldbekenntnissen als Ablenkungsstrategien einerseits und expliziten Lücken im Bericht andererseits ausmachen. Mit dem einen hofft der jeweilige Erzähler das andere zu überdecken. Diese Lücken können zuweilen auch als explizit unbeendete Sätze auftreten, die als Aposiopese das Wichtigste verschweigen und nur das Unbedeutende aussprechen (vgl. Harscheidt 1975: 108). Dieses Wechselspiel zwischen rhetorischem Überschwang und Lückenhaftigkeit möchte ich im Folgenden an einigen Beispielen belegen. Das Spiel mit der Schuld, wie Klaus von Schilling (2002: insbes. 51) es nennt, beginnt bereits mit Oskar in der Blechtrommel: er bekennt sich lauthals in einer Art mea culpa schuldig am Tod seiner Eltern. Doch sein Schuldbekenntnis verdeckt nach von Schilling die „andere, tiefer liegende Schuld des Künstlers“ (ebd.), der Kunst nicht gerecht zu werden, sie zu verraten. Oskar verführt zum Diebstahl, er manipuliert, er ist schließlich Mitglied einer Propagandatruppe. Er, der gemeinhin als Inbegriff des Protestes gegen den Nationalsozialismus gesehen wird und sich als solcher inszeniert, ist dennoch ein Teil dessen, wogegen er sich auflehnt. In der Novelle Katz und Maus bekennt der Erzähler Pilenz sich anfangs zwar schuldig, Mahlkes Adamsapfel-Komplex provoziert zu haben; allerdings führt er seine Rolle nur als eine von drei Möglichkeiten ein, und erst im nächsten Absatz wird klar, welche Version am meisten Glaubwürdigkeit besitzt: Beate Schirrmacher 122 So jung war die Katze, so beweglich Mahlkes Artikel - jedenfalls sprang sie Mahlke an die Gurgel; oder einer von uns griff die Katze und setzte sie Mahlke an den Hals; oder ich, mit wie ohne Zahnschmerz, packte die Katze, zeigte ihr Mahlkes Maus: Und Joachim Mahlke schrie, trug aber nur unbedeutende Kratzer davon. Ich aber, der ich Deine Maus einer und allen Katzen in den Blick brachte, muß nun schreiben. (Katz und Maus 6; Hervorhebung B.S.) Den Rest der Novelle über ist Pilenz allerdings bemüht, dieses Geständnis zu überdecken. Mehrmals kehrt er zu der Episode zurück, um andere Namen ins Spiel zu bringen, häufig seinen Mitschüler Schilling (Katz und Maus 33, 44, 118, 124). Zum Schluss der Novelle lässt Pilenz die Tatsache, dass er absichtlich seinen Fuß auf Mahlkes Büchsenöffner gestellt hatte, als Grund erscheinen, warum Mahlke aus dem gesunkenen Wrack nicht wieder auftaucht: „Da erst nahm ich den Fuß vom Büchsenöffner. Ich und der Büchsenöffner blieben zurück.“ Mit dem betonten Verstecken des Büchsenöffners lenkt Pilenz von seinem ursprünglichen Angriff auf Mahlke zu Anfang der Novelle ab. In seiner absurden Selbstanklage hofft er auf die Entlastung durch den Leser. Wie bei Oskars Vatermorden handelt es sich auch hier um ein Scheinschuldbekenntnis. Harry Libenau in den Hundejahren wälzt den Vitamintablettenmissbrauch des Studienrates Brunies als Grund für dessen Verhaftung aus: Harry bedauert, dass die entlastenden Aussagen der Schüler - auch seine - nicht halfen, er belastet seine Cousine Tulla, und schließlich kommt, nachgeschoben, fast beiläufig, seine eigentliche Denunziation, um sich sofort danach mit Gründen zu entlasten, warum seine Aussage nicht ausschlaggebend war: Ich hielt mich zurück. Das hatte mein Vater, der Tischlermeister, mir geraten. Vielleicht hätte ich nichts sagen sollen von dem immer leeren Fahnenhalter des Studienrates, aber er war ja unser Nachbar und jeder sah, daß er nicht flaggte, wenn alle flaggten. Auch war der Beamte in zivil schon unterrichtet und nickte ungeduldig, als ich sagte: ‚Also zum Beispiel an Führers Geburtstag, wenn alle flaggen, dann hängt Studienrat Brunies nie eine Fahne heraus, obgleich er eine besitzt.‘ (Hundejahre 368) Harry Libenau interessiert sich nach dem Krieg vielmehr für Walter Materns Schuld. Und auch Matern sucht auf seinen Rachefeldzügen durch das Nachkriegsdeutschland die Schuld nur bei anderen, seine eigene bleibt völlig ausgespart. Gleichzeitig folgt Materns eigene nationalsozialistische Vergangenheit ihm auf Schritt und Tritt in Gestalt des entlaufenen Führerhundes, der Matern nach dem Krieg als seinen neuen Herrn erkoren hat. Auch der Erzähler in örtlich betäubt (1969), Studienrat Starusch, beschäftigt sich lieber mit der Nazi-Vergangenheit seines Beinahe-Schwiegervaters Krings als mit seiner eigenen Vergangenheit als Jugendbandenführer. Dass ihn der Plan des Schülers Scherbaum, seinen Dackel aus Protest gegen den Vietnamkrieg zu verbrennen, offensichtlich nicht loslässt, hängt aber genau mit seiner eigenen Vergangenheit als Chef der Stäuberbande zusammen. Doch dies deutet Starusch nur in einem Absatz unfertiger Sätze an, in einem Die Unzuverlässigkeit des schuldigen Erzählers 123 - für Grass sehr untypischen und von daher im Gesamttext hervorstechenden - inneren Monolog: Mach es doch. Wenn es keiner macht, geht alles so weiter. Ich hätte bestimmt. Ich hab noch ganz andere Sachen. Als, zum Beispiel, das U-Boot-Mutterschiff. Damals war Krieg. Immer ist Krieg. Gründe dagegen gibt es genug. Gab es genug. Zwar bin ich nicht sicher, ob wir oder unsere Schichau-Lehrlinge, die unter Moorkähne einen eigenen Verein aufgemacht hatten und aufs Werkgelände durften, weil ja das Mutterschiff ins Trockendock sollte, aber noch bewohnt war, als sich der Brand zuerst auf dem Deck ausbreitete, und dann nach innen griff, deshalb versuchten die Fähnriche und Kadetten, sich durch die Bullaugen zu zwängen, und es hieß, man habe sie, weil sie so schrieen, von Barkassen aus abgeschossen. Nichts hat man uns (und auch Moorkähne nicht) nachweisen können. Wir machten andere Sachen. Aber die machten wir wirklich. Wir hatten ja unser Maskottchen. Jesus nannten wir das. Jesus war gegen Feuer. (örtlich betäubt 138) Entgegen Oskars Darstellung in der Blechtrommel (vgl. Blechtrommel 493), scheint es hier so, als ob die Stäuberbande an dem Brand beteiligt gewesen sei. Staruschs innerer Monolog ist widersprüchlich. Die Formulierung „ich hab noch ganz andere Sachen“ impliziert eine Beteiligung, der jedoch sogleich mit dem ähnlichen Satz „wir machten andere Sachen“ widersprochen wird. Letztlich lässt sich nicht feststellen, wie weit Staruschs Beteiligung ging, oder ob er sich lediglich für die selbstständige Aktion „unserer Schichau-Lehrlinge“ dennoch verantwortlich fühlt. Aber gerade diese Widersprüchlichkeit, die syntaktisch ungeordnete Form des Absatzes, die abgebrochenen Sätze, zeigen, dass Starusch einer unverarbeiteten Erinnerung ausweicht. Seinem Schüler Scherbaum gegenüber erwähnt er das Ereignis lediglich allgemein, geordnet, und alle Spuren persönlicher Beteiligung sind getilgt: Hören Sie mal gut zu Scherbaum. Im Krieg, ich meine im letzten, wurde in meiner Heimatstadt ein U-Boot-Mutterschiff von Saboteueren in Brand gesteckt. Die Besatzung, durchweg Fähnriche und Kadetten, versuchte durch die Bullaugen das Schiff zu verlassen. Sie brannten, da sie mit den Hüftknochen steckenblieben, von innen weg ab - na, Sie verstehen schon. … (örtlich betäubt: 139) In den folgenden Romanen, in denen sich Grass eher Problemen der Gegenwart (sowie der Zukunft) zuwendet, sind Schuld und Scham als Themen weiterhin zentral, werden aber weniger über das Prinzip der Unzuverlässigkeit thematisiert. Im Geschlechterkampf des Butt (1977) zeigt sich die Schuldfrage genereller, in Zunge zeigen (1988) in der Verantwortung der Ersten für das Elend der Dritten Welt. In Die Rättin (1986) wird die Schuld am Weltuntergang, die Frage, wer den roten Knopf gedrückt hat, zwischen dem Ich- Erzähler und der Rättin hin- und hergeschoben. In der Erzählung Das Treffen in Telgte (1979) allerdings lässt Grass den irrlichternden Gelnhausen den zu Telgte versammelten Dichtern eine angenehme Geschichte auftischen, die das Festmahl, zu dem er sie einlädt, plausibel erklären, letztlich aber nur die brutale Wirklichkeit des Fouragierens überdecken soll. Anhand der strengen Fragen des Musikers Heinrich Schütz Beate Schirrmacher 124 demonstriert Grass dann, wie ein unzuverlässiger Erzähler überführt werden kann: indem die Unstimmigkeiten aufgegriffen, Fragen gestellt und Gelnhausen aufgefordert wird, die Lücken auszufüllen, ohne auszuweichen und ganz konkret: Weshalb der eine Reiter und der grad tanzende Musketier - der dort! - am Kopf verletzt seien. Er wolle eine Antwort ohne Ausrede haben. […] Schütz duldete kein Abschweifen. […] Wer ihm namentlich den Auftrag für diese Räuberei erteilt habe? […] Wie aufs Wort genau, habe denn der Befehl geheißen, der ihm kaiserlich erteilt worden sein? (Das Treffen in Telgte 199f.) Den Erzähler zu befragen, ihn derart ins Verhör zu nehmen, dazu wird der Grassleser eigentlich aufgefordert. In Unkenrufe ist die Unzuverlässigkeit wieder direkt in der Erzählinstanz anzutreffen und zwar expliziter als je zuvor. Was in der Danziger Trilogie zwar grundlegend, aber unterschwellig inszeniert wird und in den folgenden Romanen andere Ausdrucksformen findet, wird nun explizit zum Dilemma des Ich-Erzählers. Auf anfangs nicht geklärte Weise steht der Ich-Erzähler in der Schuld seines ehemaligen Mitschülers Alexander Reschke, weshalb er dessen Aufzeichnungen, wenn auch widerwillig, zu einer Geschichte fügt. Es findet sich allerdings kein zufriedenstellender Grund dafür, warum der Erzähler anfangs vollständig abstreitet, sich an Reschke überhaupt erinnern zu können: Er hätte wissen müssen, wie leicht ich ins Erzählen gerate. […] Ich kann mich nicht erinnern, ihn neben mir gehabt zu haben. Petri-Oberrealschule. Schon möglich. Aber nur knappe zwei Jahre lang bin ich da rein und raus. Mußte zu oft die Schule wechseln. (Unkenrufe 13) Dieses Dementi kann er nicht aufrecht erhalten und muss es nach und nach auf die widersprüchliche Weise der Grass’schen Erzähler modifizieren. Zunächst bezieht er sich nur auf Reschkes Erinnerungen: Außerdem wirft sein Brief, der mit dem Krempel kam, mit Anspielungen um sich, die mich bloßstellen. Zum Beispiel soll ich, was er und andere bewundert haben wollten, eine lebende Kröte geschluckt haben. (ebd.: 34) Also gut, ich habe als Schüler auf Wunsch Kröten geschluckt. Kann sein, daß ich in der abgedunkelten Stadt Reschkes Cousine Hildchen auf Parkbänken geknutscht habe, sogar beim Luftalarm bis nach der Entwarnung. Reschke und ich in einer Schulbank, und daß ich bei ihm Mathe, Latein abschreiben durfte, wird so gewesen sein; daß ich ihm nun aber Schritt auf Schritt folgen muß, ist zuviel verlangt. (ebd.: 51) ehe er eine eigene Erinnerung einschiebt: […] mein Mitschüler, dem schon während der wöchentlichen Doppelstunde Kunsterziehung auf seinem Pelikanblock erschreckend vorauseilende Kritzeleien gelungen waren - etwa Mitte ’43 hatte er ein Blatt hingestrichelt, auf dem die bis dahin heile Stadt unterm Bombenhagel mit allen Türmen in Flammen stand - , […] (ebd.: 105) Die Unzuverlässigkeit des schuldigen Erzählers 125 die er kurz darauf wieder in Frage stellt: So empfindlich las Reschke die Glossen, dass ich mich frage, ob mein Banknachbar aus Schulzeiten etwa jener langaufgeschossene, pickelige Junge gewesen ist, den leiseste Kritik zum Weinen brachte. (ebd.: 117) Bis sie plötzlich das für Grass typische Paar von Erzähler und Hauptfigur bilden, die auch meist in den Rollen von Täter und Opfer zueinanderstehen: 1 Reschke und ich. Ich und Reschke. ‚Wir beide als Flakhelfer‘, schreibt er, ‚in der Achtkommaacht-Großbatterie Brösen/ Glettkau…‘ In Brösen hat damals schon Erna Brakup gewohnt. (ebd.: 180) Der Ich-Erzähler bricht sichtbar ab und lenkt den Bericht auf die Geschichte der Überlebenden Erna Brakup. Diese Deckfunktion nimmt Erna Brakup noch öfters an. Ihre Erzählungen von Kartoffelkäfern wecken eigene Erinnerungen im Ich-Erzähler: Diese ekelhaften, schwarz-gelb gestreiften Biester. Es hieß, der Engländer werfe sie nachts aus den Flugzeugen ab: massenhaft, tonnenweise. Jedenfalls mußten wir täglich mindestens drei Literflaschen gestrichen voll… Alex organisierte das Absammeln… Und damals haben Reschke und ich… Jedenfalls mußte schon die Brakup bei jedem Wetter. (ebd.: 199) Auffälligerweise wird Reschke hier mit einem Spitznamen erwähnt. Und auffällig bricht der Erzähler wieder in einer Aposiopese ab, um das Thema zu wechseln und zu Erna Brakup zurückzukehren. Was, fragt sich der Leser, wird hier über Reschke und den Ich-Erzähler nicht erzählt? Eine Antwort hierauf gibt es nicht, und sie ist auch nicht entscheidend. Nicht was, sondern dass etwas verschwiegen wird, ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung und der Leser wird deutlicher als je zuvor vom Autor aufgefordert, den Erzähler als unzuverlässig zu hinterfragen. Auch in Ein weites Feld (1995) ist Schuld mit der Zeit des Dritten Reiches verbunden. Aufgrund Fontys übertriebener Identifikation mit Theodor Fontane liegt das Augenmerk des Lesers auf der aufsehenerregenden Parallelisierung von der Reichsgründung 1870/ 71 und Wiedervereinigung 1989/ 90. Für Fontys bürgerliches Ego Theo Wuttke ist jedoch die Zeit dazwischen, das Dritte Reich und die DDR, von Bedeutung. Ohne seine erweiterte Identität Fonty allein hierauf reduzieren zu wollen, gelingt es Wuttke mit Fontys Hilfe, seine eigene Untreue ‚und ihre Folgen‘ im besetzten Frankreich zu überdecken. Lieber übernimmt Fonty für Fontanes Affären die Verantwortung, als dass Wuttke sich eingesteht, durch sein Schweigen das Leben seiner Geliebten im Nachkriegsfrankreich zerstört zu haben. In Ein Weites Feld wird somit die Frage, worin genau die Schuld besteht, zum ersten Mal zur Sprache gebracht. Der Druck seines Stasiagenten Hoftaller zielt aber nach dem Fall der Mauer genau auf Theo Wuttkes verschwiegene Affäre ab. Als Tagund- 1 Siehe z.B. Pilenz und Mahlke (Katz und Maus), Amsel und Matern (Hundejahre), außerhalb der Erzählinstanz Fonty und Hoftaller (Ein weites Feld), Frankfurter und Gustloff (Im Krebsgang). Beate Schirrmacher 126 nachtschatten folgt Hoftaller Fonty weiterhin auf den Fersen, wie der Hund Pluto in Hundejahre Walter Matern folgt. Als Personifizierung des Gewissens tritt Hoftaller jedoch nicht ausschließlich negativ, sondern als „die Erinnerung in Person auf“ (Ein weites Feld 312), der erst ablässt, als sich Fonty seiner Schuld stellt. Hoftaller wird von Wuttkes unehelicher französischer Enkelin, Madeleine, abgelöst. Madeleine ist nicht nur Erinnerung an die verdrängte Schuld (wie Hoftaller) sondern ihr körperliches Resultat, eine grasstypisch sinnliche Gestaltung des gleichnamigen Proustschen Teegebäcks. Hier wird zum ersten Mal ein ‚Schuldmotor‘ nicht nur benannt, sondern die Spannung, die durch die Mechanismen des Verschweigens entsteht, wird aufgelöst. Sobald die verschwiegene Schuld sich auf etwas anderes als einen Seitensprung bezieht, stellt sie den Erzähler wieder vor größere Probleme und zieht ernsthaftere Konsequenzen nach sich. In Im Krebsgang (2002) schreibt der Journalist Paul Pokriefke eher unlustig im Auftrag des ‚Alten‘. Auch wenn der gesamte Text in einem journalistisch saloppen Ton abgefasst ist, stechen doch Pauls verbale Attacken nach rechts immer wieder heraus: diese „kackbraun aufgehende Saat“ (Im Krebsgang 32), ein „weltweit verbreiteter Schwachsinn“ (ebd.: 36) oder „braune Brühe“ (ebd.: 72). In ihrer Heftigkeit entpuppen sie sich jedoch als Abwehrmanöver gegen die eigenen Gedanken. Paul erinnert in seinen verbalen Rundumattacken an Walter Matern, übrigens einer seiner möglichen Väter. Erst als sein Sohn Konny sich als Neonazi zu erkennen gibt und für einen Mord vor Gericht steht, wird Paul gezwungen, seine sich nie völlig eingestandenen Sympathien mit rechtsradikalem Gedankengut einzugestehen: „[W]enn irgend jemand insgeheim rechtsgewickelt ist, dann bist du das“, wirft seine Ex-Frau Gabi ihm vor, und Paul gesteht: „Jadochja! Ich kenne meine Abgründe. Weiß, wie schweißtreibend es ist, sie abgedeckelt zu halten.“ (ebd.: 75) Das Ergebnis seiner Verdrängung erkennt er in Konnys Verhalten: „Was tun, wenn der Sohn des Vaters verbotene, seit Jahren unter Hausarrest leidende Gedanken liest, auf einen Schlag in Besitz nimmt und sogar in die Tat umsetzt? “ (ebd.: 210) An diesem Punkt ist Paul der erste Erzähler, der seine Schuld nicht nur nennt sondern auch - augenblicksweise zumindest - zu ihr steht, wenn er einsieht: „Nichts spricht uns frei.“ (ebd.: 184) Denn kurz darauf sieht Paul die Wurzel allen Übels in seiner Mutter Tulla: „Sie, allein sie ist schuldig“ (ebd.: 193), und ist sich darin mit einem Teil der Grassforschung einig, die Tulla gern einseitig als Dämon der dunklen Jahre abstempelt, als „Repräsentantin faschistischer Barbarei“ (Richter 1977: 32), ohne die Ambivalenz ihres Charakters zu berücksichtigen: „Sie sagt, was andere ungern hören wollen“, weiß ihre Freundin Jenny (Im Krebsgang 40). Hier scheint Grass die unreflektierte Haltung der Literaturkritik ad absurdum führen zu wollen. Denn keine Figur bei Grass ist einzig nur Täter oder Opfer. In diesem Lichte ist auch noch einmal die Schilderung des Erzählers Harry Libenau in Hundejahre zu hinterfragen, der Tullas Rolle bei Harras Tod, Brunies Verhaftung sowie den Überfall auf Jenny im Schnee nutzt, um seine eigene Passivität zu überdecken. Gerade Die Unzuverlässigkeit des schuldigen Erzählers 127 in der Schilderung Tullas scheinen von daher die Erzähler nicht nur unzuverlässig im Bericht, sondern auch in der Beschreibung zu werden. Paul Prokriefke wird angesichts des Verbrechens seines Sohnes mehr als seine Vorgänger bei Grass mit den Konsequenzen des Verschweigens konfrontiert. Auch seinen Auftraggeber, ‚den Alten‘, der große Ähnlichkeiten mit Grass aufweist, plagt das Versäumnis, zu lange über das Thema Flucht und Vertreibung geschwiegen zu haben: „Dieses Versäumnis sei bodenlos…“ (ebd.: 99). In seinen Erzählerfiguren lotet Grass Aspekte der Unzuverlässigkeit, der Schuld sowie ihres Verschweigens aus. Immer wieder aufs Neue inszeniert sein erzählerisches Werk die rhetorischen Winkelzüge des schuldbelastet Schweigenden. Dabei führt er in der Danziger Trilogie in erster Linie die Unzuverlässigkeit der Erzählung, als Ergebnis verschwiegener Schuld, lediglich vor: in Form von rhetorischem Überlagern, Ablenkungsstrategien und Aposiopesen. In seinem Spätwerk nähert sich Grass schrittweise einer Benennung der Schuld an, die Erzähler werden an einen Punkt geführt, an dem es kaum mehr möglich ist, das Verschweigen aufrechtzuerhalten: Über ein Sichtbarmachen der Lücke in Unkenrufe, einer Auflösung der Spannung in Ein weites Feld sowie der Thematisierung eines langjährigen Versäumnisses in Im Krebsgang, gelangt dann der Autor selbst an den Punkt, wo das Verschweigen nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Die Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel birgt in seinem Geständnis die Einsicht, dass der Autor Grass wie seine Erzählerfiguren von einem Schuldmotor getrieben wurde. In der Technik der schuldigen unzuverlässigen Erzähler, in seiner Aufforderung, die Sichtweise der Erzähler in Frage zu stellen, bietet sein Werk Widerstand gegen vorschnelle Schwarz-Weiß-Einteilungen und Schuldzuweisungen. Es gibt bei Grass keine unschuldigen Opfer, mit denen der Leser sich identifizieren könnte, es gibt nur Täter. Dies ist vielleicht ein Grund für die häufig provokative Wirkung der Grass’schen Werke. Beate Schirrmacher 128 Bibliographie Arnold, Heinz Ludwig. 1978. „Gespräche mit Günter Grass.“ In: Text + Kritik 1.1a: 1- 39. Fludernik, Monika. 1996. Towards a ’Natural’ Narratology. London: Routledge. Gerstenberg, Renate. 1980. Zur Erzähltechnik von Günter Grass. Heidelberg: Winter. Grass, Günter. 2002. Im Krebsgang. Göttingen: Steidl. ___. 1995. Ein Weites Feld. Göttingen: Steidl. ___. 1997 [1992]. Unkenrufe. Göttingen: Steidl. ___. 1997 [1979]. Das Treffen in Telgte. Göttingen: Steidl. ___. 1997 [1969]. örtlich betäubt. Göttingen: Steidl. ___. 1997 [1963]. Hundejahre. Göttingen: Steidl. ___. 1997 [1961]. Katz und Maus. Göttingen: Steidl. ___. 1997 [1959]. Die Blechtrommel. Göttingen: Steidl. Harscheidt, Michael. 1975. Wort - Zahl - Gott bei Günter Grass: Der ‚Phantastische Realismus’ in den Hundejahren. Bonn: Bouvier. Kurz, Paul Konrat. 1980. „Hundejahre. Beobachtungen zu einem zeitkritischen Roman.“ In: Stimmen der Zeit 1.80: 107-120. Nünning, Ansgar. 2005. „Reconceptualizing Unreliable Narration: Synthesizing Cognitive and Rhetorical Approaches.” In: Gerald Prince & Peter J. Rabinowitz (Hgg.). A Companion to Narrative Theory. Oxford: Blackwell. 89-107. Phelan, James & Mary Patricia Martin. 1999. „ ‚ The Lessons of Weymouth’: Homodiegesis, Unreliability, Ethics and The Remains of the Day.” In: David Herman (Hg.). Narratologies: New Perspectives on Narrative Analysis. Columbus: Ohio State University Press. 88-109. Platen, Edgar. 2006. „Zeitgenossenschaft zwischen erinnerter und erfundener Teilnahme. Grenzen der Erinnerung und Versuche ihrer Überschreitung bei Günter Grass (mit einem Exkurs zu Beim Häuten der Zwiebel).“ Vortrag auf der Konferenz Grenzen der Erinnerung. Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 20.-24.9.2006 in Göteborg. Richter, Frank. 1977. Die zerschlagene Wirklichkeit. Überlegungen zur Form der Danzig- Trilogie von Günter Grass. Bonn: Bouvier. Rohlfs, Jochen. 1978. „Erzählen aus unzuverlässiger Sicht. Zur Erzählstruktur bei Günter Grass.“ In: Text + Kritik 1.1a: 51-59. Schröder, Susanne. 1986. Erzählerfiguren und Erzählperspektive in Günter Grass’ Danziger Trilogie. Frankfurt a.M./ Bern/ New York: Peter Lang. von Schilling, Klaus. 2002. Schuldmotoren. Artistisches Erzählen in Günter Grass’ Danziger Trilogie. Bielefeld: Aisthesis. J. Alexander Bareis Zwischen Berlin und Reykjavík: Zu Ankünften und der ‚Ästhetik des Augenblicks’ in Judith Hermanns Erzählungen Judith Hermann ist mittlerweile eine etablierte Größe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Damit sind übrigens nicht nur die Verkaufszahlen gemeint, auch wenn diese durchaus erstaunlich sind: Sommerhaus, später, ihr Debutband aus dem Jahre 1998, wurde in 17 Sprachen übersetzt und hatte sich bis 2003 über 250.000 Mal verkauft (vgl. Böttiger 2004: 291). Einen nicht zu unterschätzenden Anteil an den hohen Verkaufszahlen hatte sicherlich die positive Besprechung im ‚Literarischen Quartett‘, dessen Kommentare folgerichtig auch bei der Vermarktung des Taschenbuches unmittelbar übernommen wurden: Hellmuth Karasek hatte vom „Sound einer neuen Generation“ gesprochen, und Marcel Reich-Ranicki entschied: „Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein.“ Beide Zitate schmücken die Rückseite des Taschenbuches in der ‚Collection S. Fischer’ aus dem Jahr 2000 (13. Auflage). Wahrscheinlich haben solcherlei Prognosen in dieser literarischen Sendung weniger die Qualität von Prophezeiungen, da sie sich nahezu unweigerlich selbst erfüllen: Wenn Ranicki bestimmt, dass ein Buch ein Erfolg wird, dann wird es unweigerlich ein Erfolg. Diesbezüglich scheint die Macht der Sendung kaum zu überschätzen zu sein. Hermanns zweites Buch, wieder ein Band mit kurzen Erzählungen, erschien im Januar 2003. Die Erwartungen waren gigantisch, nicht zuletzt die von Reich-Ranicki, wie im Interview mit Uwe Wittstock deutlich wird: Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, ich habe mit dem Gedanken gespielt, als Schlussstück des Kanons eine Geschichte von Judith Hermann aufzunehmen. Ich schätze ihre Erzählungen sehr, sie sind erst vor wenigen Jahren erschienen. Ich glaube, sie wird noch bessere, reifere Prosa in ihrem Leben schreiben. Deshalb, denke ich, wäre es wohl verfrüht, sie mit ihren ersten Geschichten in den Kanon aufzunehmen. (Reich-Ranicki, zitiert nach Wittstock 2002) Also auch der Großkritiker übt sich ein wenig in Vorsicht vor dem Erscheinen der „reifere[n] Prosa“, die der Nachfolgerband nun liefern sollte. Während das Feuilleton beim Erstling durchweg angetan war, wurde ihr zweites Werk denn auch entsprechend kühler besprochen. Helmut Böttiger rekapituliert die Stimmung im Literaturbetrieb wie folgt: Am 31. Januar war der offizielle Auslieferungstermin von ‚Nichts als Gespenster‘, dem ominösen zweiten Buch von Judith Hermann, ein Freitag. Da war der Overkill der Medien bereits eingetreten. […] Ein Buch, das derartig im Blickfeld steht, ist der ideale Anlaß, um sich als Kritiker zu positionieren. Innerhalb weniger Tage wurden alle Salven abgefeuert: über mehrere Spalten oder Seiten, immer als Aufmacher, aber fast immer als Verriß - für den, wenn man ihm glauben möchte, auch 50 Zeilen ausgereicht hätten. […] Dabei ist die Sache einfach: Das erste Buch dieser J. Alexander Bareis 130 Autorin war nicht so gut, wie die Kritiker es glauben machen wollten, und das zweite war eigentlich genauso - also überhaupt nicht so schlecht, wie die Kritiker es anscheinend brauchten. (Böttiger 2004: 291f.) Mit dem bisher Gesagten soll nun nicht die Ausgangslage für eine vernichtende Demontage erstens der Literaturkritik und zweitens der beiden Bücher geschaffen werden - es soll hier, tatsächlich ganz wörtlich in Hinblick auf das Thema des vorliegenden Bandes um ‚points of arrival‘, um Ankünfte gehen. Die Wahl von Hermanns Büchern als Untersuchungsobjekt für diese Thematik war zunächst einmal intuitiv und aus der Erinnerung heraus erfolgt - waren die Figuren in den Büchern nicht ständig in aller Welt unterwegs, und kamen nicht unglaublich viele Figuren immer irgendwo an in diesen Erzählungen? Es war eine Erinnerung, die sich bei genauerer Analyse der Texte bestätigt hat - allerdings, und dies ist bemerkenswert, nur für ihr zweites Buch, Nichts als Gespenster. In den sieben Erzählungen dort lassen sich problemlos mindestens 17 explizit erzählte Ankünfte konstatieren, während in den neun Erzählungen in Sommerhaus, später nur an einer einzigen Stelle von Ankunft gesprochen wird. Zwar spielen auch die Erzählungen des ersten Buches an bisweilen recht exotischen Orten und in fremden Städten (trotz der immer wiederkehrenden Verknüpfung mit Berlin), aber erzählt werden die Ankünfte nicht - die meisten Erzählungen setzen ein, wenn die Hauptfigur bereits vor Ort ist. Eine Untersuchung von erzählten Ankünften erscheint demzufolge sinnvoller für Hermanns zweiten Erzählband, Nichts als Gespenster. In jeder der sieben Erzählungen, die sich vom Debutband auch durch ihre Länge unterscheiden - sie sind durchgängig länger - lassen sich erzählte Ankünfte konstatieren. Die Frage, die sich nun stellt, ist die nach den Funktionen dieser Ankünfte in den Erzählungen: Manifestieren sich an diesen räumlich-zeitlichen Grenzpunkten der erzählten fiktionalen Welt Funktionen, die für die Interpretation dieser Texte relevant sind? Diese Frage gilt es im Folgenden zu beantworten. Zunächst soll unter Ankunft also primär ein räumlich-diegetisches Ereignis betrachtet werden, bei dem eine erzählte oder erzählende Figur an einem neuen Ort ankommt. 1 Exemplifizieren lässt sich dies bereits anhand der ersten erzählten Ankunft in der ersten Erzählung mit dem Titel „Ruth (Freundinnen)“, bei der die autodiegetische Erzählerin aus Berlin bei ihrer Freundin in einer nicht näher spezifizierten ‚Kleinstadt’ ankommt: Als ich Ruth besuchte - nicht wegen dieser neuen Liebe, ich hätte sie ohnehin besucht -, holte sie mich vom Bahnhof ab, und ich sah sie, bevor sie mich sah. Sie lief den Bahnsteig entlang, versuchte mich zu entdecken, sie trug ein langes blaues Kleid, die Haare hochgesteckt, ihr Gesicht leuchtete, und ihre ganze Körperspan- 1 Der Begriff der ‚Ankunftsliteratur‘, der in der Literaturgeschichte für die Arbeiterliteratur der 1960er Jahre in Anlehnung an Brigitte Riemanns Buch Ankunft im Alltag (1961) geprägt wurde, wird aus offensichtlichen Gründen für die hier gewählte Fragestellung nicht berücksichtigt. Vgl. dazu den Beitrag von Jens Priwitzer im vorliegenden Band. Zu Ankünften und der ‚Ästhetik des Augenblicks’ in Hermanns Erzählungen 131 nung, ihr Gang, die Haltung ihres Kopfes und ihr suchender Blick drückten eine Erwartung aus, die niemals mir gelten konnte. Sie fand mich auch nicht, und irgendwann stellte ich mich ihr einfach in den Weg. (Hermann 2003: 13) Wir haben es also mit einer räumlich-zeitlichen Ankunft auf diegetischer Ebene zu tun; gleichzeitig wird an diesem kurzen Textausschnitt aber bereits deutlich, dass dieses fiktionale Ereignis auf der Ebene des Erzählten von der autodiegetischen Erzählerin auf der Ebene des Erzählens kommentiert und bewertet werden kann und auch wird. Dem diegetischen Ereignis der Ankunft wird auf der Ebene des Diskurses, der Mimesis des Erzählens, 2 eine emotionale Bedeutung zugeschrieben. Dies zeigt sich auch im weiteren Verlauf dieser Geschichte, die durch Spiegelungen und Variationen der Ankunftsszene diesen Ereignissen eine besondere Bedeutung zuteil werden lässt: Der Besuch der autodiegetischen Erzählerin in der Kleinstadt bei ihrer engsten Freundin, mit der sie zuvor die Wohnung in Berlin geteilt hat, führt zu einer Affäre der Erzählerin mit Ruths damaligem Liebhaber. Die oben zitierte Ankunftsszene auf dem Bahnhof der Kleinstadt spiegelt sich noch zweimal im Laufe der Erzählung. Nachdem die Erzählerin auf dem Bahnhof von ihrer frisch verliebten Freundin nicht sofort gesehen wurde, wiederholt sich diese Szene bei deren Ankunft in der Kantine des Theaters, in der die Ich-Erzählerin auf Ruth wartet: Sie kam herein und sah Raoul sofort. Ihr Blick ging zielgenau zu ihm hin, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, der mir neu war, dann sah sie über die anderen hinweg durch den Raum, bis sie mich schließlich entdeckte. (Ebd.: 24) Eine von der Erzählerin an keiner Stelle explizit thematisierte, aber hier zwischen den Zeilen dennoch deutlich werdende Eifersucht zwischen den Freundinnen wird von der Erzählerin an die erzählerische Darstellung der beiden Ankunftsszenen geknüpft und dadurch indirekt dargestellt: Ihre einst beste Freundin, mit der sie in beinahe symbiotischem Verhältnis in Berlin zusammengelebt hat, sieht sie nicht mehr. Wie in allen Geschichten Hermanns dreht es sich auch in dieser letztlich vor allem um Beziehungen, 3 und die Beziehung zwischen Ruth und der Erzählerin entwickelt sich langsam aber sicher von einer engen, symbiotischen Freundschaft zum Verrat. Die Ich-Erzählerin kehrt über Paris nach Berlin zurück und kommt in der ehemals gemeinsamen Wohnung an: „Die Wohnung war stickig und still, mir völlig fremd“ (ebd.: 36). Ruth hat mehrere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, will einen Rückruf, die Erzählerin ignoriert dies, selbst am folgenden Tag ruft sie nicht zurück: 2 Vgl. hierzu grundlegend Ansgar Nünnings Artikel „Mimesis des Erzählens: Prologomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der Metanarration” (2001). Vgl. auch Bareis (2006). 3 Vgl. Rink (2006: 115): „Man könnte als übergreifendes Thema der Geschichten Judith Hermanns die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Liebe bzw. Partnerschaft in postmoderner Zeit bezeichnen.“ J. Alexander Bareis 132 ich ging einkaufen, zurück in die Wohnung, las eine Zeitung, wusch Wäsche, sah meine Post durch, bei allem was ich tat konnte ich mich von außen sehen, distanziert, aus weiter Ferne, leicht. Am Abend klingelte das Telefon, ich ließ es viermal klingeln, obwohl es neben mir stand, dann erst nahm ich den Hörer ab. (Ebd.: 37) Im Verlauf des Gesprächs erfährt die Erzählerin, dass Ruth und Raoul sich getrennt haben. Ruth weint, die Freundinnen unterhalten sich weiter, bis schließlich die Erzählerin andeutet, dass Raoul vielleicht ‚eine Nummer zu groß für sie gewesen sei‘ (vgl. ebd.: 39) - eine zu diesem Zeitpunkt gänzlich unmotivierte und schlichtweg beleidigende Äußerung der Erzählerin gegenüber ihrer besten Freundin. Das Gespräch findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem durch ein paar Blicke und wenige kurze Sätze während des Aufenthalts der Erzählerin in der Kleinstadt bereits der spätere Verrat vorbereitet war; ja eigentlich war der Verrat zwischen den Freundinnen bereits geschehen, auch wenn der eigentliche Akt erst später stattfinden sollte. Ruth hatte ihrer Freundin nämlich eingangs regelrecht verboten, eine Beziehung mit Raoul aufzunehmen, wie von der Erzählerin gleich zu Beginn der Geschichte, im ersten Satz, erzählt wird: „Ruth sagte ‚Versprich mir, daß Du niemals etwas mit ihm anfangen wirst.‘“ (Ebd.: 11) Was die Freundin dann doch tut: Raoul schickt Tickets für eine Reise nach Würzburg, sie fährt und kommt mit der Bahn in Würzburg an. Die Ankunftsszene auf dem Bahnhof der Kleinstadt wird nun in Würzburg noch ein zweites Mal gespiegelt: Würzburg Hauptbahnhof, 18 Uhr 22. Ich reihte mich in die lange Schlange der Aussteigenden ein, Schritt für Schritt, und niemand hielt mich auf, und dann stand ich auf dem Bahnsteig und ging los, Richtung Ausgang, und als ich Raoul endlich sah, wußte ich sofort und mit auswegsloser Sicherheit, daß ich mich getäuscht hatte. (Ebd.: 46) Es folgt eine ausführliche Beschreibung Raouls, wie er „hochmütig und gelangweilt“ (ebd.) an einer Anzeigetafel lehnend wartete. Die Erzählerin hat ihn schon längst gesehen, beschreibt seine Kleidung, sie „konnte sehen, daß er keine Angst hatte“ (ebd.), bis er sie endlich erblickt. Der Betrug an der Freundin wird vollzogen, obwohl sie schon bei ihrer Ankunft wusste, dass es nichts werden wird. Deutlich wird bei all dem vor allem, dass die räumlichen Ankünfte in der ersten Erzählung konsequent an Emotionen gebunden sind, die von der Erzählerin nur indirekt dargestellt und nicht explizit erzählt werden. Dadurch werden sie zu neuralgischen Punkten der Erzählung, an denen sich nicht nur eine räumliche Veränderung einer Figur vollzieht, sondern damit verknüpft auch eine emotionale Veränderung vor sich geht. Durch das wiederholt dargestellte Übersehenwerden bei ihren Ankünften bringt die Erzählerin das problematische Verhältnis von Erzählerin und Freundin zum Ausdruck. Sie wird nicht gesehen, nicht einmal von ihrer engsten Freundin, die sie allerdings zur Strafe auch betrügt. Die erzählerische Darstellung der Ankünfte erfüllt in dieser Geschichte die Funktion, den emotionalen Prozess der Auflösung einer Freundschaft zum Ausdruck zu bringen. Zu Ankünften und der ‚Ästhetik des Augenblicks’ in Hermanns Erzählungen 133 Während die erste Geschichte von einer autodiegetischen, also direkt am Geschehen beteiligten Erzählerin erzählt wird und in Berlin, Würzburg und einer deutschen Kleinstadt spielt, erzählt ein im Vergleich eher distanzierter, heterodiegetischer Erzähler die zweite Erzählung, mit dem Titel „Kaltblau“. Darin geht es um den Besuch eines Berliner Pärchens auf Island, und die Geschichte wird vom Erzähler fast ausschließlich mit interner Fokalisierung durch die Augen der isländischen Gastgeberin Jonina dargestellt. 4 Wenigstens zwei ausführlich erzählte Ankünfte finden sich darin: zunächst die Ankunft des Berliner Pärchens, Irene und Jonas, auf Island, bei -5 Grad und „einem Schneesturm der Windstärke sieben, Jonas wird die ganzen zehn Tage über immer und immer wieder davon sprechen“ (Hermann 2003: 68). Eine unmittelbare, direkt erzählte emotionale Facette ist auch hier an die erzählte Ankunft geknüpft, nämlich die etwas übertrieben wirkende Begeisterung von Jonas über die isländische Natur, die mit der Ankunft auf Island ausgelöst wird und die bis zur Abreise nicht abreißen wird. Diese Begeisterung wird erneut thematisiert bei der Darstellung der zweiten Ankunft, als das Berliner Pärchen und Joninas Mann Magnus im Sommerhaus bei Jonina und ihrer Tochter eintreffen: Dann gehen die Türen auf und Magnus steigt aus, Irene und Jonas steigen aus. Jonina steht auf. Magnus ruft ihren Namen, mit einer übertrieben erleichterten Stimme. Sie geht ihnen entgegen, sie scheinen nicht in der Lage zu sein, sich vom Fleck zu rühren, stehen da und sehen überwältigt in die Landschaft. […] Jonas sagt ‚Abgefahren‘. Er sagt ab-ge-fahrn, mit einer dunklen kratzigen Stimme und schüttelt den Kopf, ‚Original wie auf dem Mond‘. (Ebd.: 75, 77) Die Begeisterung des Berliner Besuchers, die sich u.a. in fortwährendem Photographieren äußert, zieht Jonina letztlich in ihren Bann, aber auch bereits der erste Anblick bei seiner Ankunft im Sommerhaus fasziniert sie: „Er sieht sexuell aus. Es ist das erste Wort, das Jonina für ihn einfällt, er sieht sexuell aus“ (ebd.: 76f.). Auch diese Geschichte dreht sich letztlich um Beziehungen und Emotionen, und um Joninas Verliebtheit in Jonas, die bei einer späteren Gelegenheit, im Augenblick einer Photographie, beginnt. Es ist dieselbe Photographie, mit deren Ankunft auch die Erzählung einsetzt, als das 4 Eine genaue narratologische Analyse der unterschiedlichen Erzählformen in Hermanns Geschichten ist noch ein Desiderat der Forschung. Gerade in Zusammenhang mit der unsinnigen Etikettierung Hermanns als Repräsentantin des sog. ‚Fräuleinwunders’ wird bisweilen die schlichtweg falsche Behauptung aufgestellt, dass stets ein weibliches Ich erzähle - wodurch natürlich auch eine gewisse Nähe von Autorin und Erzählerin nahegelegt wird. Vgl. Stuhr (2005: 38, Fn. 5): „Bis auf die Titelgeschichte Nichts als Gespenster, die in der dritten Person erzählt ist, sind alle anderen Erzählungen aus der Perspektive eines weiblichen Ich erzählt.“ Wie gezeigt wird, ist aber auch die Erzählung „Kaltblau“ nicht von einer Ich-Erzählerin, sondern ebenso wie die Titelgeschichte mit einer weiblichen Fokalisierungsinstanz von einem heterodiegetischen Erzähler erzählt. Narratologisch genauer arbeitet Kocher (2005). Kocher kommt allerdings in genauem Gegensatz zu der Arbeit von Vollmer (2006) zu dem Schluss, dass der Leser „passiv bleiben“ könne, während Vollmer die Leerstellen der Texte hervorhebt, die die „Phantasiekraft [...] beim Leser zu aktivieren“ imstande seien (Vollmer 2006: 78). J. Alexander Bareis 134 Photo ein Jahr später per Post bei Magnus und Jonina ankommt. Die Ankunft des Päckchens mit der Photographie, aufgenommen in dem Augenblick, in dem Jonina sich tatsächlich in ihn verliebte, diese Ankunft versetzt sie schließlich in eine innerliche Krise, denn: Jonina verliebt sich in Jonas am 3. Dezember um kurz vor elf Uhr am Morgen auf der Straße, die zum alten Thingplatz führt. So ist es gewesen. (Ebd.: 108) Es ist 10 Uhr 47, und Jonina hat sich in Jonas verliebt in dem Augenblick, in dem er zu seinem Stativ zurückgeschlittert ist mit ausgebreiteten Amen. Wie kann das sein? (Ebd.: 109) Die Antwort auf diese prekäre Frage werde ich hier schuldig bleiben; stattdessen soll darauf hingewiesen werden, dass mit der Ankunft des Bildes der Moment eintrifft, vor dem sie sich fürchtete: „Jonina will sich später niemals dieses Foto ansehen müssen, weil sie weiß, daß dann alles verraten wäre“ (ebd.: 109). Ihr erster Instinkt ist, es verschwinden zu lassen: Sie muss es irgendwo anders hinschaffen, und vielleicht muß sie es aus der Wohnung hinausschaffen, und vielleicht sollte sie es Magnus auch einfach zeigen, sie ist sich nicht sicher. (Ebd.: 72) Sie lässt es nicht verschwinden; sie wird allerdings Magnus hinterherrufen, zum Fenster hinaus, „[e]rinnerst Du Dich daran als ich mich in Jonas verliebt habe“ (ebd.: 101), was für Magnus gänzlich unverständlich erscheinen muss, da dieses Verliebtsein zwischen den beiden, soweit dies aus der Geschichte hervorgeht, niemals thematisiert wurde. Im Anschluss daran ruft sie ihren Chef an und teilt ihm mit, dass sie nicht zur Arbeit kommen wird, setzt sich ins Auto und fährt wieder ins Sommerhaus, von wo aus sie später Magnus anrufen möchte und ihn bittet zu kommen: Sie wird sagen ‚Magnus. Das war das, und es ist alles gut, mach dir keine Sorgen‘, und Magnus wird sagen ‚Ich mache mir keine Sorgen, wovon redest Du denn.‘ (Ebd.: 119) Auch in dieser Erzählung werden im Rahmen der Erzählerrede diegetische Ankünfte verknüpft mit emotionalen Veränderungen, die mehr oder weniger explizit vom Erzähler thematisiert werden, wodurch auch hier die Ankünfte zu Schlüsselstellen für die Interpretation der Geschichte werden. In der Geschichte „Zuhälter“ macht sich die autodiegetische Erzählerin auf den Weg nach Karlsbad in Tschechien, wo sie ihren alten Freund Johannes besuchen soll. Die Erzählerin und Johannes waren zeitweise ineinander verliebt, jedoch nie gleichzeitig; infolgedessen waren sie nie ein Paar, und ihre Beziehung besteht mittlerweile darin, dass die Erzählerin Katalogtexte für Johannes schreibt, 5 der als freischaffender Maler arbeitet. Dies ist auch 5 In einem Interview weist Hermann darauf hin, dass die etwas fadenscheinige berufliche Beschäftigung des Katalogtextschreibens eine Reaktion ihrerseits auf die vorgebrachte Kritik an den nicht in der Berufswelt verankerten Figuren in Sommerhaus, später gewesen sei. Vgl. „Ich hoffe auf Erlösung“, ein Gespräch mit Judith Hermann geführt von Kolja Mensing und Susanne Messmer (2003: 15): „Viele Leser haben an ‚Sommerhaus, später‘ Zu Ankünften und der ‚Ästhetik des Augenblicks’ in Hermanns Erzählungen 135 der eigentliche Grund für den Besuch bei ihm in der Wohnung in Karlsbad, die er von seiner Galeristin zur Verfügung gestellt bekommen hat - es ist die Wohnung ihrer toten Mutter. Bereits auf der Fahrt mit dem Auto dorthin, kurz nach ihrer Ankunft in Tschechien, wo sie unvorbereitet auf den grenznahen Straßenstrich trifft - „Ich dachte, daß Johannes mich auf den Straßenstrich hätte vorbereiten müssen“ (Hermann 2003: 156) -, hat sie die Lust auf das Ankommen verloren: „Ich dachte an Johannes und hatte einen Moment lang überhaupt keine Lust mehr, ihn wiederzusehen, in Karlovy Vary anzukommen.“ (Ebd.: 157) Doch schließlich steht die Erzählerin vor seiner Tür: Es war still, ich klopfte mit dem Messinglöwenkopf dreimal gegen die grünlackierte Tür, strich mir mit der rechten Hand die Haare aus dem Gesicht, zog meinen Mantel glatt. […] Vielleicht dachte ich daran, dass ich diesen Moment gerne hinausgezögert hätte, den Moment, bevor jemand die Tür aufmacht und mein Gesicht einen Ausdruck annimmt, um den ich nicht weiß, aber ich bin mir sicher, daß ich auch daran nicht gedacht habe. (Ebd.: 158) Es scheint sich bei dieser Ankunft um einen jener kurzen Momente zu handeln, die den Nukleus der Erzählungen Hermanns bilden, jene winzigen Augenblicke, ein bestimmtes Gefühl, das Bild einer Stimmung, das Hermann widerzugeben versucht, ähnlich dem Augenblick der Photographie in der Erzählung „Kaltblau“, dem Augenblick des Verliebens. 6 Auch hier werden Emotionen an die Ankünfte geknüpft. Es ist ein recht typisches Beispiel für etwas, das ich in Ermangelung eines treffenderen Terminus als ‚Ästhetik des Augenblicks‘ bezeichnen möchte, der sich Hermann verschrieben zu haben scheint und die sie in einem Interview diskutiert: Raymond Carver hat einmal gesagt, in einer guten Erzählung gehe es immer um den Moment, bevor jemand geht, bevor eine Tür zuschlägt, bevor ein Satz gesagt wird, und dann ist sie auch schon zu Ende. In allen Erzählungen, die ich sehr gerne gelesen habe - ob sie von Munro oder Carver, von Hemingway oder von Katherine Mansfield waren - ging es immer genau darum. Es gab immer einen magi- bemängelt, dass man gar nicht erfährt, wovon die Figuren eigentlich leben. Um dem diesmal zu entgehen, habe ich mir in ‚Nichts als Gespenster‘ manchmal Berufe für meine Figuren ausgedacht. Eine habe ich Katalogtexte schreiben lassen, obwohl mir das sehr willkürlich vorkam.“ Inwieweit durch diese unmotivierten Beschäftigungen die angesprochenen ‚Bemängelungen‘ durch solche bezüglich der Fadenscheinigkeit ausgetauscht zu werden drohen, sei dahingestellt. 6 In mindestens drei Interviews zu ihrem letzten Buch spricht Hermann von „bestimmten Momenten“, „bestimmte, so kleine Momente“ (Minkmar/ Weidermann 2003), „weil es für mich in jeder Geschichte um einen unterschiedlichen Moment ging“ (Mensing/ Messmer 2003), „die winzigen Momente, um die es mir geht“, „Es geht mir um einen Augenblick, ein Schlaglicht oder einen Satz, und wenn der dann den Leser trifft, dann hab ich’s vielleicht ganz gut gemacht“ (Kospach 2003). Vgl. auch das Vorwort von Hermann zu einer Edition von Carver: „Ich denke, die Aufgabe eines Kurzgeschichtenautors ist es, alle Kraft daran zu setzen, diese eine Sekunde festzuhalten, in der es geschieht, den Moment, bevor die Tür für immer zuschlägt, die Sekunde, in der ein Satz nicht ausgesprochen oder nicht zu Ende gesprochen wird.“ (Hermann 2001: 9) Diese Stelle zitiert auch Vollmer (2006: 76). J. Alexander Bareis 136 schen Moment, in dem man für eine kurze Zeit aus seiner eigenen Realität erlöst ist und irgendetwas empfindet, was man schwer benennen kann, aber was einen noch lange begleitet. (Kospach 2003) Nicht mehr nur um einen singulären Augenblick der Ankunft handelt es sich bei der einzigen erzählten Ankunft in der nächsten Geschichte, der Titelgeschichte des Bandes, „Nichts als Gespenster“, wohl aber um ‚bestimmte, kleine Momente oder Sätze‘. Die Ereignisse werden von einem heterodiegetischen Erzähler hauptsächlich aus Sicht der Fokalisierungsinstanz Ellen geschildert. Bei dieser sehr ausführlich erzählten Ankunft kommen Ellen und ihr Partner Felix in Austin, Nevada, einem verschlafenen kleinen Ort in der Wüste, an: Austin kam aus dem Nichts, aber in der Wüste kommt vermutlich alles aus dem Nichts. […] Der Highway schnitt eine scharfe Kurve, senkte sich steil in eine Schlucht, überraschend und vor allem steil, Ellen schaute kurz aus dem Autofenster in den plötzlichen Abgrund rechts neben ihr. (Hermann 2003: 197) Felix lenkt den Wagen auf den Parkplatz eines Motels. Ausführlich wird die Umgebung beschrieben, auch die Gespräche zwischen Ellen und Felix, bis Ellen schließlich ins Motel hineingeht, um ein Zimmer für die beiden zu mieten. Als sie an der Rezeption das Anmeldeformular ausfüllt, kommt ein weiterer Gast an: Die kleine, dicke Frau betrat schnaufend die Rezeption, zerrte einen Koffer und eine ausgebeulte, anscheinend sehr schwere Reisetasche hinter sich her und stützte sich atemlos neben Ellen auf den Rezeptionstresen, Ellen rückte ein Stück beiseite. […] ‚Sehr alte Geister‘, sagt sie unvermittelt zu Ellen. ‚Goldgräber. Schlimme Typen ohne Manieren.‘ Sie errötete flüchtig. ‚Ich werd’ Kontakt zu ihnen aufnehmen‘, sie sah Ellen eindrucksvoll ernsthaft an, dann wendete sie sich wieder Annie zu, deren Gesicht weder Langweile noch Irritation noch sonst irgendetwas verriet. Die dicke Frau sagte, sie werde die Geister fotografieren und allen, die es wollten, die Fotos zukommen lassen […]. (Ebd.: 199f.) Wiederum wird fotografiert in dieser Geschichte; es werden ‚Moment‘- Aufnahmen gemacht, die mit der bereits diskutierten ‚Ästhetik des Augenblicks‘ Hermanns zusammenhängen. „In dieser Fotografie reflektiert die Erzählung allegorisch ihre Machart“, stellt Thomas Anz (2003) fest. Am Abend, in der dem Motel gegenüber liegenden Kneipe, in dem die dicke Frau im ersten Stock die Geister fotografieren will, lernen Ellen und Felix den ortsansässigen Buddy kennen. Eine Bekanntschaft bahnt sich an, Buddy erzählt von sich und seinem Leben, seiner Familie, davon, wie es ist, für sein Kind ein Paar winziger Turnschuhe zu kaufen, als die Geisterjägerin aus dem 1. Stock zurückkehrt und ihr Album mit Geisterbildern zeigt: „Es waren ganz einfach Entwicklungsfehler. Doppelbelichtungen, Spiegelungen, Staub auf der Linse, mehr nicht“ (Hermann 2003: 228) - das hätte Ellen an allen anderen Tagen gedacht, kommentiert der Erzähler. Auf ihrem Film ist noch ein Bild übrig; es kommt zum Gruppenfoto, in einem Augenblick, in dem, wie Zu Ankünften und der ‚Ästhetik des Augenblicks’ in Hermanns Erzählungen 137 Anz wohl zu recht feststellt, sich die immanente Ästhetik dieser, aber vielleicht nicht nur dieser Erzählung allegorisch spiegelt: Sie [d.i. die Geisterjägerin, J.A.B.] zählte ‚Fünf, vier, drei, zwei, eins‘, und Ellen, die wußte, daß sie dieses Foto niemals zu Gesicht bekommen würde und plötzlich voller Erstaunen dachte, daß es eines von 36 Fotos auf einen Film voller Geister sein würde, griff nach Bobbys Hand. Sie hielt sie fest, er erwiderte ihren Druck, und Ellen lächelte und war sich sicher, dass sie schön war, zuversichtlich und voller Kraft und Stärke. (Ebd.: 230) Anz (2003) kommt zu dem oben erwähnten Befund, weil er der Meinung ist, dass das, was „im Inneren der Figuren vorgeht“, „sich der Beobachtung und verbalen Fixierung“ entziehe - was in den Figuren der Erzählung tatsächlich vorgeht, werde nicht erzählt. Das Zitat oben ist allerdings der Gegenbeweis; tatsächlich gibt der Erzähler die Gedanken preis, die Ellen in diesem Augenblick durch den Kopf gehen. Was nicht preisgegeben wird, ist vielmehr, wie diese Gedanken zu bewerten sind, da der Erzähler sich mit Beurteilungen zurückhält. Klar ist lediglich, dass in Bezug auf Ellen in der Begegnung mit Buddy ein einschneidendes Erlebnis vorliegt, das sie später laut Erzählerbericht als Grund für ihre Entscheidung für ein eigenes Kind ihrem Kind gegenüber selbst angeben würde: ‚Du bist da, weil Buddy in Austin, Nevada, zu uns gesagt hat, wir wüßten nicht, wie es ist, für ein Kind Turnschuhe zu kaufen, ein Paar perfekter winziger Turnschuhe in einem vollkommenen, kleinen Schuhkarton - er hatte recht, ich wußte es nicht und ich wollte wissen, wie das ist. Ich wollte es wirklich wissen’. (Hermann 2003: 231f.) Alexandera Pontzen (2003) nennt solcherlei Gedankengänge „neokonservativen Elternschaftskitsch“, der die „ansonsten nicht schlechte Titelerzählung ‚Nichts als Gespenster’ ruiniert“. Der Vorwurf wird über den Umweg der Kritikerin Ina Hartwig „biographisch gestützt“; die heterodiegetische Erzählerrede wird als Sprachrohr des Autors betrachtet (vgl. ebd.): Schließlich sei Hermann vor dem Erscheinen des zweiten Buches, das zudem dem Sohn gewidmet sei, Mutter geworden. So einfach umschifft und ignoriert man Friedmanns, Kaysers und aller anderen Diktum von der Unterscheidung von Autor und Erzähler und ist damit elegant wieder beim Biographismus gelandet! Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die Funktion der hier zwangsläufig nur kurz diskutierten räumlich-zeitlichen Ankünfte und die besondere emotionale Bedeutung, die diesen in den Geschichten zugewiesen werden konnte, sich grundsätzlich auch auf vielfache andere Arten einkreisen ließe, beispielsweise auf rein metaphorischer Ebene, wo dann aus Ankunft ein endgültiges Ankommen an einer Schlussdestination wird, an der die Figuren zur Ruhe kommen, zu sich selbst finden, um schließlich nirgends mehr ankommen zu müssen. Ein solches Verständnis von Ankunft, im Sinne von endgültigem Ankommen, scheint für die Erzählungen von Judith Hermann gänzlich unangebracht. Dies ergibt sich zwangsläufig aus den hier J. Alexander Bareis 138 vorgetragenen Überlegungen zur Funktion von Ankünften in ihren Geschichten. Judith Hermann selbst formuliert dies in einem Interview auf folgende Weise: Vom Ankommen fühle ich mich sehr weit entfernt. Von der Sehnsucht nicht. Die Figuren der Geschichte sind mir da vielleicht ähnlich. Die letzte Geschichte ist meine Lieblingsgeschichte, weil sie so glücklich ausgeht, obwohl das Ankommen immer noch fragwürdig bleibt, und deshalb steht sie bewußt am Ende des Buches. (Minkmar/ Weidermann 2003) Oder, mit Urs Widmer gesprochen: - Der Kern der Bedeutung allen Reisens aber ist die Utopie. Der Entwurf von etwas ganz anderem. Die Hoffnung, die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Nach besseren Bedingungen. Nach Glück. Die Sehnsucht der Veränderung des Jetzt und Hier, durchaus des eigenen Innern, wird in die Distanz verlegt. (Widmer 1991: 42) Im Vergleich zwischen den Erzählungen aus Hermanns beiden Büchern kann man durchaus ein gesteigertes Verantwortungsbewusstsein, ein reifer und älter Werden der Figuren im zweiten ihrer beiden Erzählbände konstatieren. Ob damit aber auch, wie von Reich-Ranicki vorausgesehen, eine reifere Prosa entstanden ist, soll hier nicht beurteilt werden. Das ‚später‘ im Titel des ersten Bandes, das so gesehen vielleicht für ‚anständige Arbeit‘, Verantwortung, Kinder, Erwachsenwerden und dergleichen stehen könnte, ist für die Figuren des zweiten Buches ein wenig näher gerückt. Angekommen sind sie aber noch nicht. Zu Ankünften und der ‚Ästhetik des Augenblicks’ in Hermanns Erzählungen 139 Bibliographie Anz, Thomas. 2003. „Judith Hermann fotografiert Geister. Anmerkungen zur immanenten Ästhetik in Nichts als Gespenster.“ In: Literaturkritik.de 2, Februar 2003, „Schwerpunkt Judith Hermann“. (http: / / www.literaturkritik.de/ public/ rezension.php? rez_id=5720&ausgabe=200302 [18.09.2006]). Bareis, J. Alexander. 2006. „Mimesis der Stimme: Fiktionstheoretische Aspekte einer narratologischen Kategorie.“ In: Andreas Blödorn, Daniela Langer & Michael Scheffel (Hgg.). Stimme(n) im Text: Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin/ New York: de Gruyter. 101-122. Böttiger, Helmut. 2004. Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wien: Paul Zsolnay Verlag. Hermann, Judith. 2001. „On Carver. Ein Versuch.“ In: Raymond Carver. Kathedrale. Deutsch von Helmut Frielinghaus. Berlin: Berlin Verlag. 9-16. ___. 2003. Nichts als Gespenster. Frankfurt a.M.: Fischer. Kocher, Ursula. 2005. „Die Leere und die Angst - Erzählen ‚Fräuleinwunder’ anders? Narrative Techniken bei Judith Hermann, Zoë Jenny und Jenny Erpenbeck.“ In: Christiane Caemmerer, Walter Delabar & Helga Meise (Hgg.). Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang. 53-72. Kospach, Julia. 2003. „Ich bin anders als meine Figuren.“ In: Berliner Zeitung 31.1.2003 (http: / / www.berlinonline.de/ berliner-zeitung/ archiv/ .bin/ dump.fcgi/ 2003/ 0131/ feuilleton/ 0002/ index.html [12.09.2006]) Mensing, Kolja & Susanne Messmer. 2003. „Ich hoffe auf Erlösung.“ In: die tageszeitung 6968, 31.1.2003. Minkmar, Nils & Volker Weidermann. 2003. „Meine Generation - was ist das eigentlich? “ In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 19.01.2003 (http: / / www.faz. net/ s/ RubCC21B04EE95145B3AC877C874FB1B611/ Doc~EE7500780A1F64D81AF 8C7D52F7D9AC07~ATpl~Ecommon~Scontent.html [12.09.2006]) Nünning, Ansgar. 2001. „Mimesis des Erzählens. Prologomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der Metanarration.” In: Jörg Helbig (Hg.). Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg: Winter. 13-47. Pontzen, Alexandera. 2003. „Spät erst erfahren Sie sich. Judith Hermann findet ‚Nichts als Gespenster’.“ In: Literaturkritik.de 2, Februar 2003. (http: / / www.literaturkritik. de/ public/ rezension.php? rez_id=5716&ausgabe= 200302 [18.09.2006]). Riemann, Brigitte. 1961. Ankunft im Alltag. Berlin: Neues Leben. Rink, Christian. 2006. „Nichts als Gespenster: Zur Identitätsproblematik in den Erzählungen Judith Hermanns.“ In: Ulrich Breuer & Beatrice Sandberg (Hgg.). Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München: Iudicium. 112-125. Stuhr, Uta. 2005. „Kult der Sinnlosigkeit oder die Paradoxien der modernen Sinnsuche.“ In: Christiane Caemmerer, Walter Delabar & Helga Meise (Hgg.). Fräuleinwunder literarisch. Literatur von Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang. 37-51. Vollmer, Hartmut. 2006. „Die sprachlose Nähe und das ferne Glück: Sehnsuchtsbilder und erzählerische Leerstellen in der Prosa von Judith Hermann und Peter Stamm.“ In: Literatur für Leser 29: 59-79. J. Alexander Bareis 140 Widmer, Urs. 1991. Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur. Grazer Poetikvorlesungen. Graz/ Wien: Droschl. Wittstock, Uwe. 2002. „ ‚ Wer will, soll’s besser machen‘: Gespräch mit Marcel Reich- Ranicki über seinen Kanon ‚Deutsche Literatur‘.“ In: Die Welt 21.10.2002 (http: / / www.uwe-wittstock.de [05.09.2006]). Angela Marx Åberg Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen: Das Unterrichtsprinzip Schülerorientierung 1. Einleitung Im Idealfall ist Lesen eine geistige Reise in andere Welten und Zeiten, in denen der Leser fiktiven Personen begegnet und ab und zu auch sich selbst aus einer anderen Perspektive wahrnimmt. Eine solche Reise wäre ein erstrebenswertes Ziel für jeden Literaturunterricht. Und was wäre sinnvoller, als im Fremdsprachenunterricht die Gelegenheit zu nutzen, sich in das Zielsprachenland zu versetzen, um etwas Unbekanntem zu begegnen und zu sehen, dass Einiges vielleicht überraschend bekannt ist. Eine Entdeckungsreise im Unterricht, bei der ein literarischer Text sowohl das Ziel der Reise als auch der Ausgangspunkt für weitere Entdeckungen ist, kann zu neuen Einsichten auf kognitiver, sozialer und persönlicher Ebene führen. Die Metapher der Reise kann aber nicht nur für den Leseprozess im Unterricht verwendet werden, sondern auch für den Unterricht selbst, für das also, was sich im Klassenzimmer zwischen Schülern und Lehrenden ereignen kann. Das Ziel der Reise ist in diesem Fall die Begegnung und der Austausch zwischen Leser und Text, zwischen Schüler und Lehrkraft sowie zwischen Schülern. 1 Es stellt sich die Frage, welche Voraussetzungen notwendig sind, um einen Literaturunterricht zu schaffen, in dem die Schüler dem Text und den anderen Lesern begegnen. Wie können Begegnungsräume solcher Art, die Zielpunkte der Entdeckungsreisen darstellen, im Fremdsprachenunterricht zustande kommen? Natürlich sind mehrere Faktoren in einem solchen komplexen Zusammenspiel wirksam. Als notwendig muss jedoch angesehen werden, dass Schüler und Lehrer aufeinander Bezug nehmen und dass sie sich aktiv an der Begegnung beteiligen. Deswegen wird in diesem Zusammenhang das Unterrichtsprinzip ‚Schülerorientierung‘ hervorgehoben, denn in der Diskussion über Schülerorientierung werden gerade die Bezugnahme auf die Schüler und ihre Beteiligung am Unterricht thematisiert. 1 In Beschreibungen von Fremdsprachenunterricht, die die Funktion des Unterrichts als Raum für Begegnungen z.B. zwischen Zielkultur und Eigenkultur und zwischen Menschen verschiedener Kulturen betonen, wird nicht selten auf das Konzept des dritten Ortes (third space) hingewiesen (vgl. Delanoy 1999; Hallet 2002), das auch für Begegnungen mit und zu literarischen Texten verwendet werden könnte. Der Begriff third space stammt von Homi Bhabha und ist von verschiedenen Wissenschaftlern, wie z.B. Kramsch (1993), Bachmann-Medick (1996) und Tornberg (2000) aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Wie fremdsprachlicher Literaturunterricht als Raum für Begegnungen dargestellt werden kann, ist u.a. von Delanoy (1999) beschrieben worden. Angela Marx Åberg 142 Die Bedeutung der Schüler- oder Lernerorientierung für das Gestalten von Unterricht, in dem Raum für Begegnungen ist, hat schon Delanoy (1999) hervorgehoben. Der Begriff Schülerorientierung wird jedoch auf Grund seiner Stellung als Modewort in der Didaktik (vgl. Fingerhut 1993; Schenke 1998) zuweilen missverstanden und wurde vielleicht auch von vorneherein nicht überzeugend geklärt (vgl. Dam 2003). Das kann eine Erklärungsbasis für die Problematik bieten, die in einer empirischen Untersuchung von fremdsprachlichem Literaturunterricht in Schweden zutagetritt, nämlich dass Schüler, denen im Sinne der Schülerorientierung Verantwortung für Gruppengespräche übertragen wird, diese Verantwortung nicht übernehmen. Gegen den Idealfall des entdeckenden Literaturunterrichts steht also der Unterrichtsalltag, in dem die Reise nirgendwohin geht, der Bus an der Schule stehen bleibt, und die Gedanken der Schüler sowie der Lehrkraft beim Altgewohnten bleiben. Auf dem Kontinuum zwischen Idealfall und Alltag befindet sich die Praxis. Um ein vertieftes Verständnis für die Voraussetzungen lernerorientierten Literaturunterrichts zu schaffen, wird an dieser Stelle der Frage nachgegangen, wie Schülerorientierung und die damit verbundene Problematik, wie sie das im Folgenden zu diskutierende empirische Beispiel zeigt, im Kontext des fremdsprachlichen Literaturunterrichts verstanden werden kann. 2. Literatur- und Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen - das Unterrichtsprinzip Schülerorientierung Das Unterrichtsprinzip Schülerorientierung hat in Zusammenhang mit dem Literaturunterricht eine besondere Bedeutung, weil der Leser mit seiner persönlichen Erfahrung im Leseprozess eine wesentliche Rolle spielt. Dies gilt zumindest für einen Literaturunterricht, der einen entdeckenden Charakter anstrebt. In Zusammenarbeit mit dem Text schafft der Leser aus dem Gelesenen nach seinen speziellen sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen Sinn. Weil die Voraussetzungen für die Sinnerzeugung sich von Leser zu Leser unterscheiden, sind die Reaktionen des jeweiligen Lesers auf den Text als persönlich zu betrachten. In Gesprächen können jedoch die individuellen Reaktionen und die Sinnerzeugung um zusätzliche Facetten erweitert sowie die Interpretationen (oder die Entdeckungen) des jeweiligen Schülers bereichert werden. In einer Literaturdidaktik, die auf das soeben skizzierte Verständnis des Leseprozesses baut und die z.B. von Bredella und Burwitz- Melzer (2004) beschrieben wird, ist die Anerkennung der Schüler als selbstständige Leser mit dem Recht auf eigene Interpretationen ein zentraler Bestandteil. Deswegen ist es angemessen und notwendig, dass Literaturunterricht sich auch auf die Schüler als individuelle Leser bezieht, wenn er für Begegnungen zwischen verschiedenen Reaktionen auf und Rezeptionen von Texten Raum zu schaffen versucht. Die Lehrkraft, die die Verantwortung für den Unterricht trägt, spielt beim Schaffen dieser Räume eine zentrale Rolle. Eine Voraussetzung sowohl für Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen 143 reale als auch für virtuelle Begegnungen ist, dass es sich um ein Betreten eines gemeinsamen Feldes handelt. Im Unterricht bedeutet dies, dass nicht nur von den Schülern verlangt wird, sich die Vorstellungswelt des literarischen Textes oder der Lehrkraft anzueignen, sondern, dass die Lehrkraft auch Rücksicht auf die Welt und die Textrezeption der Schüler nimmt. Es muss ein Raum hergestellt werden, in dem die Begegnungen zwischen Schülern, Romanfiguren und Lehrkraft in unterschiedlichen Konstellationen stattfinden können. 2 Konkret bedeutet dies, dass die Schüler mit ihrer Textrezeption eine substantielle Rolle im Unterricht spielen, dass der Unterricht eine gemeinsame Angelegenheit für Lehrer und Schüler ist. Ein solches Unterrichtsverständnis wird oft als schülerorientiert bezeichnet. Lehrergesteuerter schülerorientierter Unterricht oder selbstreguliertes Lernen Wie bereits erwähnt, ist Schülerorientierung ein beliebtes Schlagwort der aktuellen Didaktik, das in der pädagogischen Debatte sowohl in Schweden als auch in Deutschland oft als Begriff angesehen wird, dessen Bedeutung keiner Erklärung bedarf. Zumeist wird unter ‚schülerorientiert’ ein Unterricht verstanden, der sich nach den Schülern und ihren Vorkenntnissen, ihren Interessen und ihrer Persönlichkeit richtet. So wird der Begriff z.B. von Christine Nissen in ihrer Dissertation Schülerorientierter Lyrikunterricht (2001) verwendet, jedoch nicht explizit definiert. Petra Schenke (1998) verzichtet auch auf eine Definition von Schülerorientierung, setzt sich aber ausführlich und aufschlussreich mit dem Begriff auseinander. Sie diskutiert „echte Gespräche“ (ebd.: 20), bei denen Fragen aus einem wirklichen Wissensbedürfnis gestellt werden, was im Schulkontext, im Unterschied zu anderen Kontexten, nicht der einzige Grund zum Fragen sei. Sie diskutiert die Abnabelung der Schüler von dem Lehrenden und die Entwicklung der Schüler zu zunehmender Selbstständigkeit im Verhältnis zum Lernprozess. In Schenkes Ausführungen zur Schülerorientierung lässt sich eine Verwandtschaft zum Konzept der Learner Autonomy feststellen, einem didaktischen Leitbegriff, der in den 1980er und 1990er Jahren u.a. von David Little (Little 1991; Little et al. 2003) für den Fremdsprachenunterricht entwickelt wurde. 3 Im Unterrichtskonzept Learner Autonomy wird die Beteiligung der Schüler an der Planung und Durchführung des Unterrichts als eine Voraussetzung des Lernens angesehen. Der Unterricht solle allmählich dazu führen, dass die Schüler die Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen können. Nach diesem Konzept werden die Schüler als bereit angesehen, die Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen, u.a. dadurch, dass sie selbststän- 2 Tornberg bezeichnet diesen Raum als einen „Zwischenraum“: „owned by nobody and therefore shared by all“ (Tornberg 2000: 284, engl. Zusammenfassung). Mit der Bedeutung von Tornbergs Vorstellungen von ‚Sprachunterricht im Zwischenraum‘ für die schwedische Unterrichtspraxis hat sich Marx Åberg (2006) auseinandergesetzt. 3 Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung des Autonomy-Ansatzes vgl. Benson (2006). Angela Marx Åberg 144 dig Lernziele aufstellen, Material, Lernmethode und Aufgaben wählen und den Unterricht nach ihrer Wahl durchführen und evaluieren (vgl. Holec 1981). Diese Vorstellung von Unterricht unterscheidet sich von der oben skizzierten Definition von Schülerorientierung insofern, als schülerorientierter Unterricht immer noch so verstanden werden kann, dass der Lehrer den Unterricht steuert, die Unterrichtsaktivitäten organisiert und die Verantwortung für ihn trägt, den Unterrichtsinhalt und die Unterrichtsformen jedoch an die Schüler anpasst. Selbstreguliertes Lernen, wie Learner Autonomy u.a. in der PISA-Studie genannt wird (OECD 2001: 114), sieht die Schüler als Subjekte, die den Unterricht mitbestimmen. Die Anerkennung der Schüler als autonom handelnde Subjekte ist also kennzeichnend für Learner Autonomy. Selbstbestimmtes oder selbstreguliertes Lernen ist, ebenso wie Schülerorientierung, heutzutage schon weitgehend als Allgemeingut der Didaktik zu betrachten, und in vielen Rahmenplänen wird hervorgehoben, dass die Schüler als für ihren Lernprozess verantwortlich gesehen werden sollten. So auch in den schwedischen Rahmenplänen. Im Kapitel „Responsibility and influence of pupils“ wird in Lpf94, dem Rahmenplan für die freiwilligen Schulformen, 4 die aktive Teilnahme und Verantwortung der Schüler für ihr Lernen betont: The teacher shall: take as a starting point that the pupils are able and willing to take personal responsibility for their learning and work in school, ensure that all pupils irrespective of sex, social and cultural background have real influence over working methods, structures, and the contents of the education, encourage pupils to overcome any difficulties they may experience in expressing their viewpoints, plan the education together with the pupils, encourage pupils to try different ways and structures of working and together with pupils evaluate the education. (Skolverket 2006: 15) Das Prinzip des im Zitat beschriebenen Lehrerverhaltens wird auf Schwedisch als ‚elevcentrering’ bezeichnet, was mit ‚Schülerzentrierung’ übersetzt werden kann. Die inhaltliche Verwandtschaft mit Learner Autonomy zeigt sich deutlich in jener Passage des Rahmenplans, in der die Schüler als für den Unterricht mitverantwortlich angesehen werden. Die Lehrkraft soll davon ausgehen, dass die Schüler die Verantwortung für ihr Lernen übernehmen können und wollen. Da der Begriff ‚elevcentrering’ oft zusammen mit dem oben zitierten Auszug aus dem Rahmenplan verwendet wird, ist er im schwedischen Unterrichtskontext mit dem Verständnis des selbstregulierten Lernens verbunden und wird nicht nur für schülerorientierten lehrergesteu- 4 Der Rahmenplan umfasst das schwedische Gymnasium, d.h. die dreijährige Schulausbildung nach der neunjährigen Grundschule, und betrifft also sowohl berufsvorbereitende als auch studienvorbereitende Ausbildung für Jugendliche im Alter von 16-19 Jahren, einschließlich entsprechender Ausbildungszweige für Erwachsene. Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen 145 erten Unterricht eingesetzt. Ein spezifischerer Begriff wie selbstreguliertes Lernen, der den Begriff Schülerorientierung ausdifferenzieren könnte, wird im Schwedischen nicht verwendet. ‚Elevcentrering’, mit diesem doppelten Bezug sowohl zu lehrergesteuerter Schülerorientierung als auch zu selbstreguliertem Lernen, ist insofern zentral für Lehrende aller Schulformen in Schweden, als der Einfluss der Schüler auf den Unterricht in den Rahmenplänen vorgeschrieben wird. Die Verteilung von Verantwortung Die Aufwertung von Schülerorientierung und die damit einhergehende negative Konnotation von Lehrersteuerung hat aber auch zur Folge, dass manchem der Name Schülerorientierung gegeben wird, ohne dass die Arbeitsformen oder die Verteilung der Verantwortung für den Unterricht mehr als oberflächlich geändert werden - ein Phänomen, das sowohl im schwedischen als auch im deutschsprachigen Kontext zu beobachten ist. „Die Vorstellung von einer ‚Lehrerdominanz’ ist [...] so negativ belegt, daß auch Anhänger ‚lehrerzentrierter’ Ansätze es heute vorziehen, unter der Flagge der ‚Schülerorientierung’ zu segeln“, so Schenke (1998: 23), die auf den problematischen Status des Begriffs als bloßes Modewort hinweist: Begriffe wie ‚Schülerorientierung’ und synonym dazu ‚Schülerzentrierung’ oder ‚Schülerbezogenheit’ sind offensichtlich in der Geschichte der modernen Erziehungswissenschaft so häufig verwandt worden, daß die damit bezeichnete pädagogische Konzeption zum Spielball erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung geworden ist (ebd.). Dass der Ansatz von Learner Autonomy missverstanden werden kann, zeigt u.a. auch Littles Aufzählung davon, was Learner Autonomy nicht darstelle: Learner Autonomy sei nicht Lernen ohne Lehrer und bedeute nicht ein Abgeben der Verantwortung für den Unterricht seitens des Lehrers (vgl. Little 1991). „Being autonomous is to do things for yourself“ stellt Little (2004: 105) fest. Learner Autonomy bedeutet also, dass die Schüler für sich selbst und für ihre eigenen Zwecke lernen. Leni Dam gibt in ihrem Artikel „Developing Learner Autonomy: The Teacher’s Responsibility“ (2003) selbstkritisch zu, dass die Verantwortung des Lehrers in den Anfängen des Learner-Autonomy- Ansatzes nicht ausreichend geklärt wurde und der Schwerpunkt allzu sehr darauf gelegen habe, dass die Lehrer den Schülern die Verantwortung übergeben und sie als selbstständige Personen behandeln sollten. Die Verantwortung für die Entwicklung von selbstständigem Lernen trage letztlich immer noch der Lehrer, behauptet Dam, vor allem die Verantwortung dafür, dass die Voraussetzungen für eine entsprechende Entwicklung vorhanden seien. Etwas anders formuliert: Das Wie, Was und Warum des Unterrichts wird in unterschiedlichem Grade den Schülern überlassen. In der Verantwortung des Lehrers verbleibt jedoch das ‚Dass‘, d.h. dass Lernen überhaupt stattfindet. Zurück also zur Frage, welche Voraussetzungen notwendig sind für die Entwicklung von selbstständigen Lesern bzw. Lernern, die bereit sind, litera- Angela Marx Åberg 146 rischen Texten und anderen Lesern zu begegnen und dabei neue Entdeckungen zu machen. Es ist notwendig, dass die Lehrenden bereit sind, die Verantwortung für Interpretation und Unterrichtsgestaltung mit den Schülern zu teilen. Von zentralen Vertretern des Learner Autonomy-Ansatzes wird jedoch das einseitige Betonen einer Übergabe der Verantwortung an die Schüler in Frage gestellt. Es ist also auch notwendig, dass die Lehrenden zu der Entwicklung der Selbstständigkeit beitragen. In den schwedischen Rahmenplänen wird wenig zur Entwicklung der Schüler zur Selbstständigkeit gesagt. Statt dessen wird vorausgesetzt, dass die Lerner von selbst bereit seien, die Verantwortung zu übernehmen: „The teacher shall take as a starting point that the pupils are able and willing to take personal responsibility for their learning and work in school“ (Skolverket 2006: 15). 5 Im folgenden empirischen Beispiel stellt sich heraus, dass die Schüler keineswegs immer bereit sind, die Verantwortung zu übernehmen. Diese Problematik und andere Fragen, die die interviewte Lehrerin im Bereich Schülerorientierung hat, werden im Folgenden beschrieben. 3. Eine Lehrerin und ihre Schülergruppe lesen einen Roman Planung Im Mittelpunkt der Studie, die einer in Vorbereitung befindlichen Doktorarbeit zugrunde liegt, steht die Lehrerin Lilian, die im Rahmen des Unterrichts „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF) an einem schwedischen Gymnasium den Jugendroman Die Einbahnstraße (Kordon 1987) mit ihren Schülern liest. Vor und während des Unterrichts wurden Interviews durchgeführt, in denen Lilian gebeten wurde, ihre Überlegungen zur Planung und Durchführung der Unterrichtseinheit zu formulieren. 6 Lilian ist eine erfahrene Lehrerin. Außer Deutsch unterrichtet sie auch Schwedisch, die Muttersprache der meisten Schüler in ihren Gruppen. Einige der Schüler unterrichtet sie in beiden Fächern. Die Schülergruppe besteht aus 21 Jugendlichen im Alter von 16 bis 17 Jahren. Sie haben vorher drei bis vier Jahre Deutsch gelernt, und die geplante Unterrichtseinheit ist für viele die erste Erfahrung mit einem längeren literarischen Text im Deutschunterricht. Lilian orientiert sich in ihrer Planung sowohl an einzelnen Schülern als auch an der ganzen Schülergruppe. U.a. will sie den Schülern die Arbeit mit dem Jugendroman Einbahnstraße so weit wie möglich erleichtern. Lilian versucht, die Unterrichtseinheit so zu 5 Smith (2003, zitiert bei Benson 2006) unterscheidet zwischen weak pedagogies und strong pedagogies of autonomy, wobei bei den ‚schwachen‘ Unterrichtsansätzen vorausgesetzt wird, dass die Selbstregulierung erst gelernt werden muss, die ‚starken‘ dagegen auf die Vorstellung bauen, die Schüler seien in gewisser Hinsicht schon selbstständig. Die schwedischen Rahmenpläne sind in dieser Hinsicht also den ‚starken‘ Unterrichtsansätzen zuzuordnen. 6 Die Interviews wurden auf Schwedisch geführt, von der Verfasserin ins Deutsche übersetzt und von einer Muttersprachlerin überprüft. Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen 147 planen und zu organisieren, dass den Schülern genug Zeit und Raum für das fremdsprachige Lesen zur Verfügung steht. Um die Schüler zu entlasten, gibt sie im Schwedischunterricht kein weiteres Buch als Hausaufgabe auf. Sie lässt die Schüler sowohl im Unterricht als auch zu Hause lesen, sie teilt den literarischen Text in Abschnitte ein und gibt ihn in Teilen als Hausaufgabe auf. Während die Gruppe den Roman liest, wird auch das Lehrwerk zur Seite gelegt, was den Schülern ermöglichen soll, sich auf das Lesen des Romans zu konzentrieren. Die Textwahl ist insofern schülerorientiert, als sie an den Interessen und der Lernsituation der Schüler ausgerichtet ist. Lilian findet den Text aus mehreren Gründen passend, hatte jedoch laut eigener Aussage anfangs mit dem Inhalt, vor allem mit der im Text diskutierten Drogenproblematik, Schwierigkeiten. Sie dachte, das Thema könne für die Schüler allzu schwer oder allzu negativ belastet sein. Sie hat jedoch das Buch mehrmals mit verschiedenen Gruppen gelesen und hat feststellen können, dass die Schüler den Text mögen. Die Thematik „Freundschaft, Drogen und Liebe“ scheint auch für Jugendliche an ihrer Schule relevant zu sein, meint Lilian. Da es für die meisten Schüler in der Gruppe das erste Buch auf Deutsch ist, sieht Lilian es als ein hauptsächliches Ziel an, dass die Schüler eine positive Beziehung zum fremdsprachigen Lesen entwickeln: dass sie Freude am Lesen entwickeln und, wie Lilian sagt, „ein positives Leseerlebnis haben“ (B Int 3: 8). Für Lilian ist Freude am Lesen in hohem Grade mit Freiheit verbunden. Je selbstständiger die Schüler über ihr Lesen bestimmen dürfen, umso größer sei die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Lesen genießen werden. Dieses Prinzip steuert Lilians Handeln im Unterricht. Schon bei der Planung tritt jedoch eine schwierige Abwägung hervor: Sie möchte, dass die Schüler so ungesteuert wie möglich lesen und dass das Lesen ein „Erlebnis“ wird, möchte aber auch einige Aufgaben zu dem Text verteilen: Ich möchte doch, dass die Schüler Wörter lernen, und ich möchte in diesem Zusammenhang einige Aufgaben heraussuchen. Und dann ist es eine Gratwanderung: Erlebnis - Aufgaben. Wird es Erlebnis kontra Aufgaben, oder gibt es Aufgaben, die das Erlebnis vertiefen? Es wäre ja ein fantastisches Ziel, wenn ich das erreichen könnte. Und dann habe ich etwas in mir: Aha, das Lesen findet während so und so vielen Wochen statt, das bedeutet: ich lege oder wir legen das Lehrwerk zur Seite, denn das haben wir entschieden zu tun. Da werden wir nicht hineinschauen. Und dann weiß ich, dass in der Unterrichtsarbeit ungefähr 20 Vokabeln pro Woche einbegriffen werden sollten. Was geschieht jetzt? Jetzt wird es..., wenn man die Schüler nur lesen lässt, dann nehmen sie Wörter auf, aber diese Wörter werden nicht gefestigt. Was kann ich tun, um diese Wörter zu festigen? Welche Art von Aufgaben benötige ich? Es ist ein Dilemma, aber ja. Werden es Aufgaben sein, die die Schüler haben wollen, oder wird es Aufgaben geben, die ich haben will? (B Int 1: 7) 7 7 Schwedisches Original: Jag vill ju gärna att eleverna ska lära sig ord och jag vill ju gärna plocka ut lite uppgifter i samband med det här. Och då är det ju en balansgång. Upplevelse, uppgifter, blir det upplevelse kontra uppgifter? Eller blir det uppgifter så att Angela Marx Åberg 148 Mit der Wortwahl „Gratwanderung“ und „Dilemma“ markiert Lilian einen Zwiespalt zwischen den zwei Polen Erlebnis und Aufgaben. Sie beschreibt die Unterrichtsziele als einen Konflikt und macht deutlich, dass sie Vokabellernen und Aufgaben im Zusammenhang mit dem Romanlesen als problematisch ansieht. Ihr Traumziel wäre es, durch die Aufgaben das Leseerlebnis der Schüler zu vertiefen, was eine Lösung des Konflikts bedeuten würde. Ihre Formulierungen zeigen jedoch, dass sie eine Lösung nicht für möglich hält. Sie ordnet das Ziel ‚Erlebnis’ den Schülern und das aufgabenorientierte Ziel der Lehrkraft zu. Diese Polarisierung ist für Lilian sehr deutlich und beeinflusst ihren Unterricht. Die Unterrichtsplanung ist in weitem Maße an den Lernvoraussetzungen der Schüler orientiert, jedoch nicht im Sinne einer Selbstbestimmung der Schüler über den Unterricht. Lilian ist die Organisatorin des Unterrichts. Auch wird die Planung durch den Zwiespalt zwischen verschiedenen Unterrichtszielen kompliziert, von denen einige, laut Lilian selbst, die Wünsche der Schüler nicht besonders stark berücksichtigen. Unterricht Die Arbeit mit der Einbahnstraße im Unterricht kann in drei Phasen unterteilt werden: Einstieg und intensive Arbeit mit Aufgaben zur Handlung und zu den Figuren im Text (lehrkraftgesteuert); individuelles selbstständigeres Lesen (im Klassenzimmer oder in der Bibliothek) begleitet durch Gruppengespräche; abschließende Aufgaben (die Schüler wählen eine von neun vorgeschlagenen Alternativen). Vorentlastende Übungen hat Lilian nicht vorgesehen, sie hat dagegen das Lesen der ersten sechs Kapitel detailliert geplant, um die Schüler an den Roman heranzuführen und ihnen den Einstieg in ihn zu erleichtern. In der zweiten Phase wird das Lesen im Klassenzimmer von Gruppengesprächen unterbrochen. Es handelt sich um von Lilian geplante kurze Gespräche von sechs bis acht Minuten pro Gruppe, die von einem hohen Tempo geprägt sind und in denen die Schüler über den Text sprechen. Lilian will sich bei den Gesprächen so weit wie möglich im Hintergrund halten. Mit dem Konzept der Gruppengespräche hat sie schon einmal sehr positive Erfahrungen gemacht. Die Schüler waren damals ein Jahr älter, also im 2. Jahr am Gymnasium, 8 und lasen Damals war es Friedrich von Hans Peter Richter (1961). Lilian hatte durchgehend das Konzept der kurzen Gruppengespräche eingehalten upplevelsen fördjupas? Det vore ju ett fantastiskt mål, om jag kunde få det. Och då har jag det här i mig: Jaha, läsningen sker under så och så många veckor, det betyder jag lägger undan eller vi lägger undan läroboken för det har vi bestämt att vi ska göra. Den ska vi inte titta på. Och då vet jag att där borde ingå cirka 20 glosor i veckan. Vad händer nu? Nu blir det ju, om man bara låter eleverna läsa, de får in ord men de befästs inte. Hur gör jag för att befästa orden? Vilken typ av uppgifter måste jag ha? Det är ett dilemma, men ja. Blir det uppgifter som eleverna vill ha eller blir det uppgifter som jag vill ha? (B Int 1: 7) 8 Das zweite Jahr am schwedischen Gymnasium entspricht etwa dem elften Schuljahr an deutschen Gymnasien. Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen 149 und dabei bemerkt, dass die Schüler in ihrer mündlichen Fertigkeit davon profitierten und dass sie sich gleichzeitig immer mehr in den Text und in die Handlung vertieften. In den Interviews wird deutlich, dass ihr diese frühere Erfahrung in der Planung und Durchführung des untersuchten Unterrichts als Vorbild dient. Sie hat das Konzept jedoch nicht vollständig übernommen, sondern der besonderen Situation der hier untersuchten Gruppe angepasst, vor allem durch den Einstieg in den Roman. Der Einstieg verläuft wie geplant; danach zeigt sich jedoch, dass einige Schüler mehr und andere weniger als die vorgeschriebene Hausaufgabe lesen. Dadurch können auch die Gruppengespräche nicht so geführt werden, wie Lilian es sich vorgestellt hatte. Vor allem erlebt Lilian nicht die Teilnahme und das Engagement von Seiten der Schüler, wie sie es sich wünschte. In einem Interview erwähnt Lilian, dass die mangelnde Bereitschaft der Schüler, sich in den Gesprächen zu äußern, sie davon abhielt, das Unterrichtskonzept der Gruppengespräche durchgehend einzuhalten. Lilian: [über die Gruppengespräche] Normalerweise treibe ich es etwas stärker voran als dieses Mal. Normalerweise höre ich jedesmal alle Gruppen fünf Minuten, aber als ich es vor einiger Zeit machte, hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht richtig stimmt. Etwas hat mich davon abgehalten, damit fortzufahren, und deswegen habe ich sie auch in Ruhe lesen lassen. […] Es kann sich darum handeln, dass sie sich in Stufe 3 [d.h. im ersten Jahr des Gymnasiums] befinden. […] [Es handelt sich darum] sich zu trauen, sich zu trauen zu sprechen […] ganz einfach sich zu trauen. (B Int 3: 10-11) 9 Lilian sieht es als ein großes Problem an, dass die Schüler so unterschiedlich schnell lesen. Sie übt aber bewusst keinen größeren Druck aus, um die Lesegeschwindigkeit oder den Fleiß der Schüler zu beeinflussen. Stattdessen ändert sie ihren Unterrichtsplan und organisiert die Gruppengespräche so, dass die Schüler trotz des unterschiedlichen Lesetempos in ihren Gruppen bleiben und sich, unter Lilians Leitung, über den Text unterhalten können. Die umgestalteten Gespräche sind in höherem Maße lehrergesteuert, insofern als Lilian Fragen stellt, zu denen die Schüler kurze Antworten geben. Sie meint, wenn sie Druck ausüben würde, damit die Schüler bis zur angegebenen Seite im Buch lesen, d.h. die Hausaufgabe machen, werde das Lesen zu einer Plage. „Ich will, dass dies fantastisch wird, es soll Spaß machen, es soll interessant sein, von Jugendlichen zu lesen [sic] […] es soll ein Erlebnis wer- 9 Schwedisches Original: Lilian: Jag brukar driva det lite hårdare än vad jag har gjort denna gången. Jag brukar varje gång ha inne alla grupperna och fem minuter men jag kände att när jag hade haft det för ett tag sen, så kände jag att det stämde inte riktigt. Det var någonting som fick mig att avstå från att fortsätta där och det är därför de har fått sitta och läsa lite i lugn och ro. […] Det kan handla om att jag befinner mig på steg 3. […] [Det handlar om ] att våga, att våga tala […] helt enkelt att våga. Angela Marx Åberg 150 den [...], das auch sprachlich bereichernd ist“ (B Int 3: 8). 10 Die Lesefreude sieht Lilian auch als davon abhängig, dass die Schüler in ihrem eigenen Tempo lesen dürfen. Sie überlässt also den Schülern die Verantwortung für ihr Lesen, übernimmt jedoch die Verantwortung für die Gruppengespräche. 4. Wie Lilians Unterrichtsentscheidungen verstanden werden können Die anfangs skizzierte Reise in und mit literarische(n) Texte(n) scheint nicht zu den erhofften Entdeckungen, der Lesefreude und dem Engagement, die Lilian mit der früheren Gruppe erlebte, zu führen. In der Unterrichtsplanung orientiert sich Lilian, wie oben erwähnt, in hohem Maße an den Schülern, vor allem dadurch, dass sie als Lehrkraft den Schülern die besten Voraussetzungen für ein gutes Leseerlebnis zu schaffen sucht. Dabei wird deutlich, dass sie das Ideal einer guten Lesesituation an das freizeitliche Vergnügungslesen knüpft, das mit großer Freiheit verbunden ist. Aus Lilians Zielsetzung, dass die Schüler Freude am Lesen haben sollen, kann abgeleitet werden, dass es in hohem Maße um Lesesozialisation in der fremden Sprache geht. Wenn die Schüler Spaß am Lesen haben, werden sie auch in Zukunft weitere Romane auf Deutsch lesen wollen. Die ambivalente Einstellung, die Lilian zu dem von ihr selbst gesetzten Ziel des Vokabelerwerbs hat, kompliziert jedoch die Unterrichtssituation. Ihre deutliche Polarisierung der beiden Ziele trägt zu einer Unsicherheit in ihrer Unterrichtsgestaltung bei. In der ersten Unterrichtsphase, die ziemlich detailliert von Lilian geplant ist, wird überraschenderweise den Schülerreaktionen auf den Text nicht viel Platz gegeben. Lilians Betonung des persönlichen Leseerlebnisses der Schüler deutet sonst auf eine Anerkennung der Schüler als Leser mit eigenen Standpunkten und mit einer persönlichen Beziehung zum Text hin, die auch im Unterricht besprochen werden könnten. Raum für Begegnungen, in dem die Schüler ihre Reaktionen auf den Text miteinander und mit der Lehrerin teilen können, wird jedoch nicht geschaffen. In dieser Phase geht es Lilian didaktisch eher darum, dass die Schüler die ersten Leseschwierigkeiten überwinden, was Lilian durch Hilfestellungen wie Vokabellisten und Aufgaben ermöglichen will. Dadurch wird aber auch der Leseprozess der Schüler von ihr gesteuert. Der Einstieg kann als lehrergesteuerter Unterricht bezeichnet werden, der insofern schülerorientiert ist, als er gute Voraussetzungen für das Lesen der Schüler schafft. Die Verantwortung für den Unterrichtsprozess liegt überwiegend bei der Lehrerin. In der zweiten Phase wird hingegen durch die Gruppengespräche Platz für die Reaktionen der Schüler auf den Text und für den Austausch zwischen Schülern geschaffen. Lilians positive Erfahrung mit der früheren Gruppe, die sehr wohl als Raum für Begegnungen und als gemeinsame Entdeckungsreise 10 Schwedisches Original: Jag vill att det här ska vara fantastiskt, det ska vara roligt, det ska vara intressant att läsa om ungdomar […] Det ska vara en upplevelse […] som gör att man berikar sig språkligt sett. (B Int 3: 8) Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen 151 in die Textwelt bezeichnet werden kann, will sie so weit wie möglich wiederholen und auch für die untersuchte Gruppe einen Raum schaffen, in dem die Schüler das Wort führen (Lilian will sich im Hintergrund halten) und sich über den Text austauschen. Das Konzept der Gruppengespräche, so wie Lilian ihre frühere Erfahrung beschreibt, ist ein weiterer Schritt, wenn nicht zum selbstregulierten Lernen, dann doch zu einem Literaturunterricht, in dem die Rezeption und Interpretation der Schüler als persönliches Erlebnis wahrgenommen werden. Diese Möglichkeit wird jedoch von den Schülern nicht genutzt. Sie äußern sich nur wenig in den Gesprächen, was zur Folge hat, dass die Gespräche nicht so geführt werden können, wie Lilian es sich vorgestellt hatte, und dass sie auch nicht zu Räumen für Begegnungen zwischen verschiedenen Lesern werden. In ihrer Antwort auf die Frage, ob sie spezifizieren könne, warum sie sich dafür entschieden hat, das Konzept zu ändern, deutet Lilian an, dass es den Schülern an sprachlichem und/ oder allgemeinem Selbstvertrauen fehle. Fest steht, dass die Schüler nicht bereit sind, sich auf Lilians Unterrichtskonzept einzulassen, dass sie die Verantwortung für die Gespräche nicht übernehmen. 11 Hier steht die praktische Wirklichkeit im Kontrast zu den Vorschriften des schwedischen Rahmenplans, in dem vorausgesetzt wird, dass die Schüler die Verantwortung übernehmen wollen. Lilians Lehrerverhalten in dieser Situation deutet darauf hin, dass sie sich gezwungen fühlt, die Gesprächsführung zu übernehmen, obwohl sie es nicht wollte, und dadurch die Verantwortung für die Gespräche zu übernehmen, die sie den Schülern überlassen wollte. Deutlich wird weiter, dass die unterschiedlichen Auffassungen von Schülerorientierung (lehrergesteuert schülerorientiert oder selbstreguliertes Lernen) und Lilians unterschiedlichen Zielsetzungen ihre Entscheidungen erschweren. Lilian gibt zu verstehen, dass sie gern größere Kontrolle über den Unterrichtsprozess hätte, scheint aber auch zu wissen, dass dieser Wunsch in gewissem Maße mit den Richtlinien in den Rahmenplänen nicht vereinbar ist, laut denen der Lehrer die Kontrolle über den Unterricht mit den Schülern zu teilen hat und der Unterricht nicht lehrergesteuert sein soll. Auch ihr Verständnis davon, was die Grundlage für ein positives Leseerlebnis ist, spricht gegen ihren eigenen Wunsch nach Kontrolle. Je freier der Unterrichts- und Leseprozess der Schüler, umso besser sei die Voraussetzung dafür, dass die Schüler das Lesen genießen, scheint ihre Ansicht zu sein. Für diese Annahme findet sie gewisse Unterstützung in literaturdidaktischen Ansätzen, in denen dem Lehrenden vorgeschrieben wird, den Leseprozess der Schüler und vor allem die Interpretation des Textes nicht vorzugeben, sondern die Schüler als selbstständige Subjekte ihres eigenen Leseprozesses anzuerkennen. Dadurch, dass Lilian, von dem Einstieg in den Roman abgesehen, eine weitere Steuerung des Leseprozesses ablehnt, überlässt sie die Verantwortung für das Lesen den Schülern, was im Einklang mit der Betonung der freien Wahl von 11 Warum sie das nicht tun, kann die Untersuchung leider nicht beantworten, da die Schüler nicht direkt durch Fragebogen oder Interviews befragt wurden. Angela Marx Åberg 152 Fächern und Lernformen als bedeutendem Lernfaktor steht, die im schwedischen Schulkontext vorherrschend ist. Ein Problem entsteht, wenn die Schüler der untersuchten Gruppe die Verantwortung für das Lesen nicht übernehmen und dadurch die Verantwortung für den Unterrichtsprozess nicht tragen wollen. Diese Problematik der Implementierung von Learner Autonomy wird auch von Little bestätigt: „any attempt to describe what language teachers should do to develop the autonomy of their learners must consider how to get learners to accept responsibility for their learning“ (Little et al. 2003: 4). Allgemeine Lösungen für diese Problematik gibt Little nicht. Solche müssen zwischen Schülern und Lehrenden in der jeweiligen Unterrichtssituation ausgehandelt werden. Oder anders formuliert: Lilians Entscheidung, keinen Druck auf das Lesetempo der Schüler auszuüben, bedeutet, dass sie das Dass des Unterrichtsprozesses den Schülern überlässt, selbst aber für das Was und Wie die Verantwortung übernimmt. Wie schon erwähnt, wird jene Verantwortung, die laut Dam noch der Lehrkraft obliegt, in den schwedischen Rahmenplänen nicht hervorgehoben. Das hohe Maß an Wahlfreiheit des schwedischen Schulsystems prägt auch die Formulierungen der Rahmenpläne, was zur Folge hat, dass die Mitverantwortung der Schüler für den Unterricht unter Wahlfreiheit verstanden wird. So kann auch Lilians Verständnis von der positiven Wirkung des freien Lesens nachvollzogen werden. Die Verantwortung mit den Schülern zu teilen, wird nicht selten damit gleichgesetzt, sie nicht zu steuern und ihnen dadurch größere Freiheit zu lassen. Dies stimmt aber nicht ganz mit dem Konzept des selbstregulierten Lernens überein, da Verantwortung auch das Gegenteil von Freiheit bedeuten kann. Für etwas verantwortlich zu sein heißt nicht notwendigerweise frei zu sein. Für das Schaffen eines gemeinsamen Raumes, den niemand besitzt und den daher alle teilen (vgl. Fußnote 2) und in dem Zeit für Begegnungen und Entdeckungen gegeben wird, zeigt sich wieder, dass die Verteilung von Verantwortung von großer Bedeutung ist. Ein notwendiger Bestandteil von bereichernden Begegnungen ist ein Engagement für das Vorhaben, und dieses Engagement ist mit Verantwortung verknüpft. Wer keine Verantwortung trägt, braucht sich auch nicht zu engagieren. Lilians Entscheidung, die Verantwortung für die Gruppengespräche in der untersuchten Gruppe wieder zu übernehmen, hat zwar das Problem der schweigenden Schüler gelöst, war aber aus schülerorientierter Sicht ein Rückschritt, da sie nicht zu größerem Engagement, zu Verantwortlichkeit ermuntert hat. Im Kontrast zu der untersuchten Gruppe steht die frühere Gruppe, die Lilian als Vorbild für den untersuchten Unterrichtsabschnitt diente. In der Gruppe mit älteren Schülern scheinen die Schüler ihre Verantwortung übernommen, sich in den Gesprächen sowie beim Lesen engagiert und zusammen mit der Lehrerin einen Raum für gegenseitigen Austausch über den literarischen Text geschaffen zu haben. Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen 153 Paradigmenwechsel Lilian orientiert sich in ihren Entscheidungen über Planung und Durchführung des Unterrichts in hohem Maße an den Schülern. Dennoch ist ihr Unterricht immer noch lehrergesteuert und nicht von Schülerorientierung im Sinne des selbstregulierten Lernens geprägt. Lilian zeigt sich in der Untersuchung unsicher darüber, was Schülerorientierung eigentlich bedeutet. Ihr Verhalten in Bezug auf die Steuerung des Unterrichts kann auch so verstanden werden, dass sie sich in einem Paradigmenwechsel befindet, der noch nicht vollzogen ist. In der Untersuchung treten in Lilians Aussagen und in ihrem Handeln unterschiedliche Verständnisse von den Rollen und von der Verantwortung des Lehrers und der Schüler hervor. Wenn Lilian über guten Unterricht redet, ist der Wechsel vom lehrergesteuerten zum schülergesteuerten Unterricht weiter vollzogen als in ihrem Unterricht selbst; daher ist Schülerorientierung auch in der Planung am deutlichsten zu erkennen. Parallel dazu geht es um den Wechsel von der Auffassung von Literaturunterricht als einer Suche nach der korrekten Interpretation zu einer Suche nach verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten, einer hochgradig individuellen ‚Ankunft im Text‘. Der Wechsel von Lehrersteuerung zu Schülerorientierung ist zwar eingeleitet, jedoch noch nicht vollzogen. Die Interviews mit Lilian zeigen, dass sie sich nicht gegen die Entwicklung wehrt, sondern gerne schüler- und leserorientiert über ihren Unterricht spricht. Die Untersuchung demonstriert jedoch auch, dass sie unsicher ist, wie die neuen Paradigmen in die Praxis umzusetzen sind. Die Änderung von Prinzipien für den eigenen Unterricht ist nicht leicht durchzuführen: „Teachers tend to teach in the same way as they were taught and to teach the same books read during their course” (Chambers 1985: 117; Hervorhebung im Original) behauptet Aidan Chambers zum Thema Erneuerung des Literaturunterrichts. Er weist auf die Bedeutung hin, die die persönliche Unterrichtserfahrung für den Unterricht eines Lehrers hat oder haben kann. Da Lilian schon lange unterrichtet, ist ihre Unterrichtserfahrung, als Schülerin und Lehrerin, geprägt von unterschiedlichen Verständnissen davon, was guter Unterricht oder eine gute Lehrerin ist. Dass sich, wie hier, Zwischenformen unterschiedlicher Paradigmen zeigen, ist demzufolge als eine natürliche Phase des Paradigmenwechsels zu betrachten. 5. Schlussbemerkung In diesem Beitrag wurde argumentiert, dass Schülerorientierung ein zentraler Bestandteil eines fremdsprachlichen Literaturunterrichts ist, der anstrebt, einen Raum für Begegnungen zu schaffen - einen Raum, der als Zielpunkt für literarische Entdeckungsreisen gelten kann. Das empirische Beispiel zeigt jedoch, dass die Implementierung im Unterrichtsalltag durch unterschiedliche Faktoren erschwert wird. In der Analyse des Beispiels wurde hervorgehoben, dass sowohl strukturelle Faktoren, in diesem Fall der vorherrschende Diskurs über Schülerorientierung, z.B. in den Rahmenplänen für das schwe- Angela Marx Åberg 154 dische Gymnasium, als auch persönliche Faktoren, insbesondere die frühere Unterrichtserfahrung, Ursachen für Lilians Unsicherheit angesichts des Begriffs Schülerorientierung sein können. Die hier vorgestellte Fallstudie zeigt auch, dass eine deutlichere Ausdifferenzierung des Begriffs, vor allem die Verteilung der Verantwortung zwischen Lehrer und Lerner für den Unterricht, notwendig ist, wenn der Begriff für die Lehrenden im schwedischen Unterrichtskontext brauchbar sein soll. Sind im Literaturunterricht die Voraussetzungen für Begegnungen zwischen Leser und Text, zwischen Schüler und Lehrkraft geschaffen worden, dann kann auch die metaphorische Reise in die Textwelt stattfinden, deren Zielpunkt die Begegnung mit dem Anderen ist - sei es eine Figur im Text, ein Mitschüler oder die Lehrkraft. Literarische Texte im Fremdsprachenunterricht als Raum für Begegnungen 155 Bibliographie Bachmann-Medick, Doris (Hg.). 1996. Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M.: Fischer. Benson, Phil. 2006. „Autonomy in Language Teaching and Learning.“ In: Language Teaching 40: 21-40. Bredella, Lothar & Eva Burwitz-Melzer. 2004. Rezeptionsästhetische Literaturdidaktik mit Beispielen aus dem Fremdsprachenunterricht Englisch. Tübingen: Narr. Chambers, Aidan. 1985. Booktalk: Occasional Writing on Literature and Children. London: Bodley. Dam, Leni. 2003. „Developing Learner Autonomy: The Teacher’s Responsibility.” In: David Little, Jennifer Ridley & Ema Ushioda (Hgg.). Learner Autonomy in the Foreign Language Classroom: Teacher, Learner, Curriculum and Assessment. Dublin: Authentik. 135-146. Delanoy, Werner. 1999. „Fremdsprachenunterricht als dritter Ort bei interkultureller Begegnung.“ In: Lothar Bredella & Werner Delanoy (Hgg.). Interkultureller Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr. 121-159. Fingerhut, Karlheinz. 1993. „Arbeit am Kanon. Formen der Interferenz zwischen literarischem und pädagogischem Diskurs am Beispiel von Heines Buch der Lieder und Wintermärchen.“ In: A. Bremerich-Vos (Hg.). Handlungsfeld Deutschunterricht im Kontext. Festschrift für Hubert Ivo. Frankfurt a.M.: Diesterweg. Hallet, Wolfgang. 2002. Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte und Kulturen. Intertextualität als Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik. Trier: WVT. Holec, Henri. 1981. Autonomy and Foreign Language Learning. Oxford: Pergamon. Kordon, Klaus. 1987. Die Einbahnstraße. Ravensburg: Otto Maier. Kramsch, Claire J. 1993. Context and Culture in Language Teaching. Oxford: Oxford University Press. Little, David. 1991. Learner Autonomy 1: Definitions, Issues and Problems. Dublin: Authentik. ___. 2004. „Democracy, Discourse and Learner Autonomy in the Foreign Language Classroom.” In: Education & Democracy: Journal of Didactics and Educational Policy 13.3: 105-126. Little, David, Jennifer Ridley & Ema Ushioda (Hgg.). 2003. Learner Autonomy in the Foreign Language Classroom: Teacher, Learner, Curriculum and Assessment. Dublin: Authentik. Marx Åberg, Angela. 2006. „Språkundervisning i mellanrummet - möjligheter och begränsningar.“ In: Ulrika Tornberg (Hg.). Multicultural Aspects of Communication in Foreign Language Teaching and Learning Practices. Örebro universitet: Pedagogiska Institutionen, Örebro universitet. 17-34. Nissen, Christine. 2001. Schülerorientierter Lyrikunterricht: eine Fallstudie über den Einsatz von Jugendlyrik in der Sekundarstufe I. Kiel: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Erziehungswissenschaftliche Fakultät). OECD. 2001. Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000. Paris: OECD. Schenke, Petra. 1998. Die Rezeptionsperspektive des Schülers als Zugang zu literarischen Texten im Englischunterricht der Sekundarstufe II. Ein empirisches Forschungsprojekt. Augsburg: Universität Augsburger I & I-Schriften 76. Angela Marx Åberg 156 Skolverket. 2006. Curriculum for the Non-Compulsory School System Lpf 94. Stockholm: Swedish National Agency for Education: Fritze. Tornberg, Ulrika. 2000. Om språkundervisning i mellanrummet - och talet om ‚kommunikation’ och ‚kultur’ i kursplaner och läromedel från 1962 till 2000. On Foreign Language Teaching and Learning in a Discursive Space - and Conceptions of ‚Communication’ and ‚Culture’ in Curricular Texts and Teaching Materials from 1962 to 2000. Uppsala: Acta Universitatis Upsaliensis. III. Aufbruch - Migration - Zuflucht Martin Butler ‘Believe it or not, you won’t find it so hot’: Californian Dreams and Californian Nightmares in the Songs of Woody Guthrie The image of California as a place of plenty and abundance, where the sun always shines and everyone is able to make his or her fortune, has become an integral part of the collective memory in the United States and beyond. Even today, California’s reputation as a place where, as James N. Gregory (1989: 7) puts it, “fortunes were made [and] opportunities abounded” seems to attract people from everywhere within and outside the United States. During the Great Depression, this image lured thousands of impoverished migrants from the American Southwest into the ‘Golden State’, which caused a major political and social crisis. Folksinger Woody Guthrie took in the migrants’ hardship on the road and rendered their beliefs and disbeliefs, their wishes and nightmares in his songs. In my contribution, I am going to examine how Woody Guthrie’s sung renderings of this Dust Bowl migration 1 configure California, the migrants’ favourite destination. Along the lines of New Historicism, I understand Guthrie’s songs as both culturally produced, in that they are shaped by their specific cultural environment, and culturally productive in that they process the elements and patterns ‘borrowed’ from this environment and thus take an active part in shaping attitudes and dispositions. 2 Consequently, the contextualizing analysis I am going to provide is to show the ways in which Guthrie’s songs negotiate the clichés of what is commonly referred to as the 1 The large-scale migration in the 1930s got its name from a region in the American Midwest commonly referred to as the Dust Bowl, which encompasses southern Nebraska, parts of Colorado, Kansas, Oklahoma, New Mexico and the Texas Panhandle (cf. Gregory 1989: 5), and which was severely affected by a series of dust storms in the 1930s. Interestingly, among the masses of the Dust Bowl migrants who ended up in California, fewer than 16,000 people came from the Dust Bowl proper, which is only six percent of the total from the Southwestern states. According to Gregory (1989: 11), “journalists are to blame for this misunderstanding. Confusing drought with dust, and assuming that the dramatic dust storms must have had something to do with the large number of cars from Oklahoma and Texas seen crossing the California border in the mid-1930s, the press created the dramatic but misleading association between the Dust Bowl and the Southwestern migration.” In a number of his songs, Guthrie is also working under this misapprehension, assuming that the migrants predominantly came from the Dust Bowl region. 2 The New Historicist emphasis on the poietic potential of cultural forms of expression might best be illustrated by Louis A. Montrose’s statement that (literary) texts are not only “socially produced” but also “socially productive” (Montrose 1989: 23). By replacing the attribute ‘social’ with ‘cultural’, I propose to extend this notion, assuming that the term ‘cultural’ covers the complexity of the relationship between a text and its various context(s) more appropriately. Martin Butler 160 Californian Dream; that is to say, how his songs, on the one hand, resort to a rather tradititional stock of images used to fashion the state on the American west coast; and, on the other hand, how the songs deliberately question the reputation of California as a place of prosperity by distorting and undermining these images. After briefly outlining the changing patterns of interstate migration to California in the Great Depression, my contribution will center on a close analysis of Guthrie’s song “If You Ain’t Got the Do Re Mi”, using it as a departure point to explore both the origin and the circulation of the imagery he resorts to by reconstructing the stages of the medial creation and dissemination of the ‘Californian Dream’. By correlating Guthrie’s songs to their historico-political contexts, I will also ponder the political implications of Guthrie’s distortion, or deconstruction, of the Californian Dream, thereby gauging the social and cultural significance of the songs. 3 * * * * * Interstate migration to California before the 1930s was nothing at all unusual. It followed, as James N. Gregory (1989: 7) puts it, “the standard logic of American Westward movement.” He goes on to explain that “[h]istorically, people usually moved west not out of desperation but in response to the perceived attractions of opportunity-filled new settings” (ibid.). In the pre- Depression decades, Southwesterners, mostly townsfolk and modestly prosperous farmers, had settled in the Golden State, the majority of them in the big cities, particularly in the communities of Greater Los Angeles. As most of these ‘middling class’ migrants were quite well-off, the migration to California did not cause any social problems. In the middle of the 1930s, however, when America’s economy was stuck in the grip of the Great Depression, these traditional patterns of westward migration changed dramatically. Now, the majority of migrants came from the impoverished agricultural areas in the states of Oklahoma, Texas, Arkansas and Missouri. From 1934 onwards, these regions had been struck by a series of devastating dust storms, which had turned the once fertile Plains into a wasteland. What had only been a significant minority compared to the overall number of migrants at the beginning of the twentieth century soon became a major concern. Gregory (1989: 9) points out that “contemporaries decided that they witnessed something unprecedented in the history of white 3 The contextualizing analyses provided in this contribution will focus on the lyrics of Guthrie’s songs, not only because I am not a musicologist, but also due to the fact that, at least for the case of the first song discussed, there is no recorded version available. As far as the second song is concerned, I will, however, consider its musical dimension as well, for it significantly contributed to the song’s social and cultural potential. Californian Dreams and Californian Nightmares in the Songs of Woody Guthrie 161 Americans: a large-scale refugee migration, a flight from privation of the sort Americans read about elsewhere but hoped never to see in their own land”. 4 A part of this “large-scale refugee migration” is rendered in Woody Guthrie’s song “If You Ain’t Got the Do Re Mi” written in 1937. It deals with the experience of the migrants arriving at the Californian border after their long and exhausting journey from the regions in the American Southwest: Thousands of folks back east they say Leavin’ home every day Beatin’a hot and dusty way To the California Line. O’er the desert sands they roll Tryin’ to get out of the old dust bowl They think they’re a-comin’ to a sugar bowl, But here’s what they find: The Police at the Port of entry say: ‘You’re number 14,000 for today! ’ (Smithsonian RRFAC, B2 F4) The first verse briefly summarizes the story of “thousands of folks” who were forced to leave their homes in the Southwestern states. In California, the song suggests, they expect the opposite of what they left behind - a “sugar bowl”, a term which immediately calls forth an idea of cornucopian prosperity. However, the dream of wealth and abundance vanishes into thin air, as the migrants at the border are confronted with a police officer telling them that they were not the first to come up with the idea of settling in the Golden State. The chorus of the song makes the officer’s policy obvious: If you ain’t got the do re mi, folks, If you ain’t got the do re mi, Better hang on in Beautiful Texas, Oklahoma, Kansas, Georgia, Tennessee, California is a garden of Eden, A Paradise to live in or see, But, believe it or not, You won’t find it so hot, If you ain’t got the do re mi. (ibid.) According to the Californian officer, the migrants will only be allowed to cross the border if they have got the “do re mi”, a contemporary slang expression for ‘money’, resonating, of course, with the more common term ‘dough’. 5 The officer, correct in assuming that the migrants do not have any ‘dough’ with them, tells them they had better return to their home states and 4 For a comprehensive overview of the history of the Dust Bowl and the subsequent migration to California in the 1930s, cf. Stein (1973), Lookingbill (2001) and Worster (2004 [1979]). 5 The significance of the musical term “do re mi” is highlighted by its appearance in a song, thus becoming, in a way, a self-reflexive element that attracts the attention of the listeners. Martin Butler 162 mocks the migrants’ conception of California as “a paradise to live in or see”, for, most probably, they will never be able to enjoy it. Once again, the extraordinary living conditions which can be found in California are highlighted. It is fashioned as another “garden of Eden”, where, according to the biblical Genesis, “the earth [brings] forth grass, and herb yield [ ing ] seed after his kind, and the tree yield [ ing ] fruit” (Genesis 1,12). 6 The origin of this conception of California as a place of prosperity, where everyone could easily make his or her fortune, goes back to the times of the Gold Rush. “[B]lessed with a remarkable climate and a wondrous array of natural resources,” as Gregory (1989: 8) argues, “California’s pecuniary attractions had [then] been fused with equally compelling images of exceptional beauty.” Along with the Gold Rush came the necessity to feed the hundreds of thousands of settlers who believed they were on their way ‘from rags to riches’ in California. Thus, in the second half of the nineteenth century, agriculture succeeded mining as the most important industrial sector of the state. 7 When immigration to the ‘Golden State’ reached its first peak, the boom in California’s agriculture seemed to be limitless. Soon, with the state’s flatlands and foothill fields covered with orchards, vineyards, citrus groves, vegetables and all kinds of cereal crops, California’s image changed to that of a green idyll providing the resources necessary to feed the growing population. The transition of California’s economy to agriculture was accompanied by an extensive marketing campaign fostering the image of California as a place of prosperity, which soon spread all over the United States. As early as 1907, a citrus promotion campaign was initiated in order to increase the national sales of citrus fruits: A special orange train was sent to Iowa, promoting “Oranges for Health - California for Wealth” (cf. Starr 1985: 162). The same year, one of the most successful trademarks in history was established, which, like no other trademark before, coined the image of juicy oranges and sunny California: Sunkist. In the following years, the local demand for fruit grew stronger and spread eastward, as the transcontinental railroad and steamship systems opened up new opportunities for marketing California’s agricultural products. In need of an effective way to identify and advertise a product for customers who lived thousands of miles away, the Californian packing companies employed wooden shipping boxes with small labels fixed on the boxes’ ends. These brightly colored, attractively designed paper labels, on which California’s landscape was idealized as a place apart, as a Mediterranean 6 The quotation is taken from the King James Version of the Bible, edited by Robert Carroll and Stephen Prickett (1996). 7 For the following considerations about Californian agriculture and its marketing, I relied primarily on Kevin Starr’s illuminating study Inventing the Dream: California Through the Progressive Era (1985). Californian Dreams and Californian Nightmares in the Songs of Woody Guthrie 163 idyll and a land of fantasy and dreams, soon proved to be a key ingredient in the national marketing system of Californian agricultural products. As geographer Peter Gould observed in his study on the significance of images of certain places in the public consciousness, “perceptions of places [are] derived from people’s information flow, such as newspapers, magazines, books, movies, television, and other forms of media” (Carney 1994: 212). Thus, though it is, most probably, impossible to really gauge the impact of these orange crate labels, one might well assume that these highly stylized images, bearing titles like ‘Miracle’ or ‘Full o’juice’, or, even more explicitly, ‘California Dream’, contributed to the nation’s collective image of the state on the American west coast. The ‘mental maps’ 8 which people develop in order to conceptualize certain regions or locations vary “with the individual’s past experiences and present attitudes acting through values, needs, memories, moods, social circumstances, and expectations” (ibid.: 212-213). Therefore, it is not surprising that, in the second half of the Great Depression, the potential of the Californian Dream as a ‘pull’-factor increased dramatically, especially for the Southwestern migrants, who, traumatized and dislocated, hoped to find new opportunities in the Golden State. Yet, the image of California as a state of abundance and prosperity was not only perpetuated by commercials and advertisements; it was also fostered by a number of popular songs, some of which are still well-known today. In 1924, for example, Bud de Sylva and Joseph Meyer recorded the song “California, Here I Come”, the last lines of which allude to an advertisement for California’s agricultural companies, stating that “A sun-kiss’d miss said, ‘don’t be late,’/ That’s why I can hardly wait,/ Open up that golden gate,/ California, Here I Come.” 9 In 1927, Jimmie Rodgers, who became the first nationally known country music star and had a considerable influence on many later performers, among them Woody Guthrie, published his “ ‘ T’ for Texas”, which was to become a great success and one of only a handful of early country records to sell a million copies. 10 “I’m going where the water drinks like cherry wine”, the speaker of Rodgers’ song proclaims in the third verse, and there is no doubt that the description of his destination refers to California. 11 8 For a more comprehensive outline of the concept of ‘mental map’ cf. Gould/ White (1986). 9 http: / / ingeb.org/ songs/ whenthew.html. [02.12.2006]. The ‘miss’ mentioned in the song could, of course, also be an allusion to another Californian growing company, ‘Sun- Maid’, which usually employed the picture of a young, black-haired girl in their advertising campaigns. As the official website of the company states, in 1924 the Sun-Maid brand became a symbol of the San Joaquin Valley’s agricultural economy and culture (cf. http: / / www.sun-maid.com/ about/ our_history/ 1920s.html [02.12.2006]). 10 The song was later renamed “Blue Yodel”. 11 http: / / www.cowboylyrics.com/ tabs/ rodgers-jimmy/ t-for-texas-2322.html [02.12.2006]. Another song which, in the first decades of the twentieth century, certainly had a considerable impact on people’s perception of the Golden State and later even became the Martin Butler 164 And, indeed, it was this image of California as a place of extraordinary wealth and agricultural abundance most of the Dust Bowl migrants from the Southwestern states had in mind when they travelled on Route 66 to the West Coast, as the following excerpt from a conversation with Mrs J.W. Becker from Oklahoma, recorded by sociologists Charles Todd and Robert Sonkin in August 1940, reveals. Mrs Becker reflects on her reasons for coming to California: Long about 1912, the people started talking about California and they made it so flowery that the people talked California. Maybe people came out here and started trading land, especially here in the San Joaquin Valley […] And there’s one man came out here and he traded thousands of acres of land. And then he came back to Oklahoma […] Well, he was well acquainted and was telling the people about sunny California. 12 The image of ‘Sunny California’, which was, as we have seen, invented and successfully disseminated by the media ever since the end of the nineteenth century, thus also reached the Southwestern states, where California would soon become a last resort. And, eventually, it came down to Woody Guthrie, who resorted to it in a number of his songs, such as in his “California! California! ”, written in 1938: You’ve all sang the glory Of the country back home But searching for sunshine To California did roam. California! California! Your mountains so high Take your golden poppies To the land of the sky. Your wide peaceful ocean, Your bright colored sand Your sunkist green valleys Are the best in this land. (RRFAC, Box 2, Folder 4) The imagery employed in the song is strongly reminiscent of the orange crate pastoralism promoted by the media in order to feature California and its agriculture. Besides the song’s panegyrical description of the Golden State, however, both its beginning and its end are of particular interest. By referring to the second person plural form “You’ve all […] [t]o California did roam”, the first line suggests that the image of California and, subsequently, the official state song of California is “I Love You, California”, written by Francis Bernard Silverwood in 1913. 12 Recorded by sociologists Charles Todd and Robert Sonkin in the Farm Security Administration Camp in Shafter, California. The record can be found in the respective online collection on the homepage of the Folklife Center at the Library of Congress at: http: / / memory.loc.gov/ cgi-bin/ query/ D? toddbib: 193: ./ temp/ ~ammem_rmrp: : . [02. 12.2006]. Californian Dreams and Californian Nightmares in the Songs of Woody Guthrie 165 desire to go there, has already permeated into people’s consciousness. Yet, interestingly enough, the last lines, which, probably, would be the most memorable, hint at the constructed nature of that image, as the term “sunkist” immediately reminds us, and, more importantly, reminded Guthrie’s contemporary listeners of ‘Sunkist’, the company which was predominantly responsible for establishing California’s nationwide reputation as a land of wealth and agricultural abundance. However, it is not only the constructed nature of the image of California that is disclosed here. On a more general level, the allusion to the company hints at the fact that the ‘green valleys’ of California, at that time, were not common land anymore, as they had long been partitioned and sold to agricultural industries which aimed at nothing but a maximization of profits. The vision of a self-sufficient yeoman life at the frontier, which the majority of migrants had in mind when they travelled west, is thus called into question. Though at first sight the concluding lines of the song seem to epitomize the panegyrical description of California, the reference to the company’s name implies a certain degree of critical detachment. The criticism is no longer implicit in Woody Guthrie’s “Do Re Mi”. Here, the paradisiacal image of California is distorted by the police officer’s statement that its wealth is only accessible to those who are already well-off. “You’re number 14,000 for today”, he proclaims in the first verse of the song and suggests that those who were attracted by the media’s fashioning of sunny California had better “hang on” in their home states. And the speaker of the song goes on to give good advice to the migrants in the second verse: You want to buy you a home or a farm, that can’t deal nobody harm, Or take your vacation by the mountains or sea. Don’t swap your old cow for a car, you better stay right where you are, Better take this little tip from me. ’Cause I look through the want ads every day But the headlines on the papers always say: If you ain’t got the do re mi, folks, If you ain’t got the do re mi, Better hang on in Beautiful Texas, Oklahoma, Kansas, Georgia, Tennessee, [...] (Smithsonian RRFAC, B2 F4) In one of his manuscripts, Woody Guthrie contextualizes the second verse of his “Do Re Mi”. Referring to the daily “want ads” the verse alludes to, he claims that “[t]he California newspapers and magazines print purty pictures and purty descriptions of the Land of Sunshine and Paradise that is California” in order to “bring folks out here to tour the country and drop off a few midwestern dollars” (WGA, SI B1 F7). However, the “want ads” did not only attract tourists and private investors, but also masses of desperate agricultural workers from the drought regions in the Southwest, whose hopes were Martin Butler 166 destroyed as soon as they reached the border of the Golden State. Most of them would not find a job, neither in the urban regions of Los Angeles nor in the San Joaquin Valley. If they found one, they were often exploited as cheap laborers by the Californian growers who paid them extremely low wages. However, the migrants came anyway, as they not only worried about their poor living conditions, but were also enthusiastic about California, where they believed they would find new opportunities. Thus, as one may conclude, Californian dreams and Californian nightmares were closely entwined, as the following slogan of an advertisement for California nicely epitomizes: “Come to California for a glorious vacation”, the advertisement points out, but then immediately goes on in a somewhat confusing manner: “Advise anyone not to come seeking employment, lest he be disappointed; but for tourists, the attractions are unlimited” (quoted from Gregory 1989: 22). It is easy to imagine that such messages caused confusion and scepticism among the migrants. Consider the poem by Flora Robertson entitled “Why we come to California” that, just like Guthrie’s songs, captures the mixture of hopes and doubts that were stirred up by the commercial media: California, California Here I come too. With a coffee pot and skillet, And I’m coming to you. Nothing’s left in Oklahoma, For us to eat or do. And if apples, nuts and oranges, And Santy Claus is real, Come on to California, Eat and eat till your full. (quoted from Gregory 1989: 21) By setting up an unfulfillable condition - “if [...] Santy Claus is real” - the speaker of the poem calls into question the Californian dream of “apples”, “nuts” and “oranges” and the possibility of “eat[ing] and eat[ing] till your [sic] full”. Thus, the illusionary character of the wishes and hopes of the migrants is revealed. California, as the poem implies, is by no means a state of abundance for everyone, but a false tale, a mere construction of the media. Besides this thematic correspondence, it is the compositional analogy between Robertson’s poem and Guthrie’s song “California! California! ” that catches one’s eye. The poem’s first line, the song’s title and the first line of its second verse make use of a ‘double invocation’ of California, which is, throughout the poem and the song, addressed in the second-person singular ‘you’ or ‘your’ respectively. These thematic and formal correlations between Guthrie’s song and the poem not only suggest that the ambivalent attitude towards the alleged ‘Californian Dream’ was widely circulating; they also serve to illustrate that Guthrie’s songs were indeed strongly tied to their cultural ‘con-texts’. Another clue to the cultural embeddedness of Guthrie’s “If You Ain’t Got the Do Re Mi” is given in the last line of its second verse. The reference to the Californian Dreams and Californian Nightmares in the Songs of Woody Guthrie 167 “headlines on the papers” suggests that the police officer’s behaviour, as portrayed in the first verse, was not an arbitrary act, but part of a major campaign that aroused public interest in the second half of the 1930s. Indeed, in 1936, as a reaction to the continuous influx of migrants to California, Los Angeles police chief James E. Davis sent 136 police officers to the Californian border in order to “halt the ‘flood of criminals’ and divert the stream of penniless transients”, 13 as an L.A. Times article put it. Chief Davis’ so-called ‘bum blockade’, which was supposed to protect California against the “unemployed, penniless vagrants” and the subsequent “crime menace” 14 , became, at least for the following six weeks, a major concern in the media and, most probably, a source of inspiration for Woody Guthrie, who configured the event in his song. The song’s potential both to criticize the contemporary Californian immigration policy and to raise its voice for the dislocated and disenfranchised migrants is enhanced by its musical dimension, as Guthrie resorted to the tune of a popular song called “Hang Out the Front Door Key”. Taking a popular melody that most of Guthrie’s contemporaries were certainly wellacquainted with seemed to be a particularly effective strategy not only to catch and hold his listeners’ attention, but also to make them hum along, even though they did not know the text. Thus, the popularity of the Blue Sky Boys’ song turned it into an appropriate vehicle for Guthrie to articulate and disseminate criticism. However, in order to fully understand how Guthrie’s technique of appropriating a well-known melody intensified the cultural and social potential of the song, we also have to consider the semantic relationship between his “If you ain’t got the Do Re Mi” and the Blue Sky Boys’ pretext: The latter renders the relationship between Mrs Gay and her husband, who, again and again, finds excuses why he always comes home late and leaves his wife waiting with the dinner. “Don’t wait up for me love”, but “[h]ang out the front door key,” he suggests in order to calm down his wife who, as it seems, cannot stand his habit of staying out so long anymore. 15 In order to get him good and proper, she leaves the house without telling him where she is going. She calls him and, as he did before, puts him off with a flimsy excuse, mocking his suggestion of hanging out the front door key, which becomes the central element around which the whole plot of the song is constructed. Thus, the domestic struggle of husband and wife, which, as pointed out earlier, centers on the issue of entrance and exit and which eventually leads to a mutual disappointment in the couple’s relationship, corresponds, at least to a certain degree, to the political debate on immigration issues rendered in Guthrie’s “Do Re Mi”. Thus, by establishing both a musical and a thematical correla- 13 Quoted from http: / / newdeal.feri.org/ tolan/ tol09.htm#c [02.12.2006]. 14 Los Angeles Herald-Express, February 6, 1936. 15 http: / / www.traditionalmusic.co.uk/ bluegrasslyrics/ Hang_out_the_front_door_key.html [02.12.2006]. Martin Butler 168 tion between his song and the popular song “Hang Out the Front Door Key”, Guthrie managed to increase the social potential of the former, as the contemporary audience, one might well assume, was aware of the intertextual, or ‘intermusical’ references he made use of. To conclude, Guthrie’s songs about California both resort to and, at the same time, challenge the image of the ‘Golden State’ as a place of plenty and abundance. By unmasking it as a mere media construct established to lure cheap migrant workers into the state, they utter scepticism with respect to the Californian dream, the belief in which was still a major force to pull migrants to the American west coast. With his “If you ain’t got the Do Re Mi”, Guthrie not only portrays the nightmarish features of an alleged dream, but also takes a distinct position in the contemporary political discourse, as the song quite explicitly comments on the radically discriminatory immigration policy of the Californian administration in the second half of the Great Depression. Negotiating widely circulating images of California as a place of plenty and abundance, Guthrie’s songs critically discuss the shady sides of the ‘Sunkist State’, which, during the economic and political turmoil of the Great Depression, was anything but a place where, to use Gregory’s words again, “fortunes were made [and] opportunities abounded” (Gregory 1989: 7). Rather it was a place where hopes were destroyed and expectations disappointed, as the account of one Oklahoma migrant reveals, who, in a New York Times interview, pointed out shortly after his arrival in California that “ [ t ] hey told me this was the place o’ milk an’ honey, but Ah guess the cow’s gone dry, and the tumblebugs has got in the beehive.” 16 Guthrie’s songs, as I have argued, manage to render this discrepancy between the optimistic anticipation created by images prevalent in the American collective memory and the social misconditions in California the Southwestern migrants were confronted with, assuming, of course, that they succeeded in crossing the border. 16 New York Times Magazine, 27 August 1939. Californian Dreams and Californian Nightmares in the Songs of Woody Guthrie 169 References Carney, George O. 1994. “Music and Place.” In: George O. Carney (ed.). The Sounds of People and Places: A Geography of American Folk and Popular Music. Lanham: Rowman & Littlefield. 203-216. Carroll, Robert & Stephen Prickett (eds.). 1998. The Bible. Authorized King James Version. New York/ Oxford: Oxford University Press. Gould, Peter & Rodney White. 1986. Mental Maps. Boston, Massachusetts: Allen & Unwin. Gregory, James N. 1989. American Exodus. The Dust Bowl Migration and Okie Culture in California. New York/ Oxford: Oxford University Press. Guthrie, Woody. “California, California.” Smithsonian, Ralph Rinzler Folklife Archives and Collections (RRFAC), Woody Guthrie Papers, Box 2, Folder 4. ___. “If you ain’t got the Do Re Mi.” Woody Guthrie Archives (WGA), Songs I, Box 1, Folder 7. ___. “If you ain’t got the Do Re Mi.” Smithsonian, RRFAC, Box 2, Folder 4. Lookingbill, Brad D. 2001. Dust Bowl, USA: Depression America and the Ecological Imagination, 1929-1941. Athens, Ohio: Ohio University Press. Los Angeles Herald-Express, February 6, 1936. Montrose, Louis A. 1989. “Professing the Renaissance: The Poetics and Politics of Culture.” In: H. Aram Veeser (ed.). 1989. The New Historicism. New York/ London: Routledge. 15-36. New York Times Magazine, 27 August 1939. Starr, Kevin. 1985. Inventing the Dream: California Through the Progressive Era. New York/ Oxford: Oxford University Press. Stein, Walter J. 1973. California and the Dust Bowl Migration. Westport, Connecticut: Greenwood Press. Worster, Donald. 2004 [1979]. Dust Bowl. The Southern Plains in the 1930s. New York/ Oxford: Oxford University Press. http: / / ingeb.org/ songs/ whenthew.html. [02.12.2006]. http: / / www.sun-maid.com/ about/ our_history/ 1920s.html [02.12.2006]. http: / / www.cowboylyrics.com/ tabs/ rodgers-jimmy/ t-for-texas-2322.html [02.12.2006] http: / / memory.loc.gov/ cgi-bin/ query/ D? toddbib: 193: ./ temp/ ~ammem_rmrp: : [02.12.2006]. http: / / newdeal.feri.org/ tolan/ tol09.htm#c [02.12.2006]. http: / / www.traditionalmusic.co.uk/ bluegrasslyrics/ Hang_out_the_front_door_key.html [02.12.2006]. Claudia Nickel Ungewisse Reise: Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs auf dem Weg ins Exil „Die Bürgerkriege, die sich zwischen die beiden Weltkriege schoben, waren nicht nur blutiger und grausamer als früher; sie hatten Völkerwanderungen zur Folge, wie sie Europa seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden nicht mehr gekannt hatte.“ (Arendt 2005 [1951]: 559f.) So schreibt Hannah Arendt im 9. Kapitel ihrer Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in dem sie sich u.a. mit der Flüchtlingsproblematik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt. Kennzeichnend für diese ‚Völkerwanderungen’ ist die Situation des einzelnen Flüchtlings, der sich entscheidet oder gezwungen wird, sein Heimatland zu verlassen und eine Reise anzutreten, deren Ziel meist ungewiss ist. Bestimmt wird sie von der Hoffnung auf eine bessere Lebenssituation, bestenfalls sogar auf eine neue Heimat. Im Folgenden steht die Situation der Flüchtlinge am Ende des Spanischen Bürgerkriegs (1936-39) im Mittelpunkt. Dem republikanischen Exil von 1939, seinen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen für Spanien und die einzelnen Exilländer widmen sich zahlreiche Untersuchungen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen. 1 Die Literatur- und Kulturwissenschaften haben die literarische und kulturelle Produktion einzelner Schriftsteller, Philosophen und Künstler 2 sowie deren Bedeutung herausgearbeitet. Es ist hier nicht von Interesse, einzelne Autoren bzw. Werke aus dem Exil vorzustellen, sondern zu untersuchen, wie in literarischen Texten das Moment der Flucht ins Nachbarland Frankreich und später nach Mexiko - die beiden größten Exilländer - und der konkrete Grenzübertritt dargestellt werden. Abschließend wird gefragt, ob der lange Weg ins Exil die Flüchtlinge in eine neue Heimat führte. Emigration und Flucht aus Spanien nach Frankreich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Spanien war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen noch ein Agrarland mit den sozioökonomischen Strukturen des 19. Jahrhunderts, in dem der Großteil des Bodens einer Clique von Großgrundbesitzern gehörte 1 Vgl. das sechsbändige Werk von José Luis Abellán (1976) und die von der Grupo de Estudios del Exilio Literario (GEXEL, Barcelona) initiierten zwölf interdisziplinären Kongresse „Congreso Plural ‚Sesenta Años después‘“ in den verschiedenen Regionen Spaniens zum 60. Jahrestag des Exils von 1939 und die daraus hervorgegangenen Publikationen. 2 Vgl. die Arbeiten u.a. zu José Gaos, Leon Felipe, Francisco Ayala, José Bergamín, Max Aub. Claudia Nickel 172 und die Masse der ländlichen Bevölkerung nur über wenig Land verfügte. Lediglich um die Städte Madrid, Barcelona und Bilbao herum hatten sich Industriezentren mit einer Arbeiterschaft herausgebildet. Die ökonomisch und sozial unsichere Situation - auch eine der Ursachen des Bürgerkriegs - hatte bereits im Vorfeld des Krieges größere Emigrationswellen nach Frankreich bewirkt. Die Arbeits- und Lebensbedingungen im Nachbarland galten als sehr viel versprechend; zudem griff die französische Wirtschaft Anfang des 20. Jahrhunderts gerne auf ausländische Arbeitskräfte zurück, so dass die spanischen Migranten auf Arbeit hoffen konnten. Mit dem Einsetzen des Bürgerkriegs im Jahr 1936 begannen aber politische Gründe die Emigration in das Nachbarland zu dominieren (vgl. Rubio 1974: 190). Im Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs lassen sich mehrere Flüchtlingswellen nach Frankreich feststellen, die dem Kriegsverlauf entsprechen. Sobald die Gefechte sich nach Norden und Osten ausdehnten, nahm die Flucht nach Frankreich zu, so z.B. von August bis September 1936 aufgrund des Feldzugs von Gipuzkoa im Baskenland oder in der Endphase des Kriegs im Norden zwischen Juni und Oktober 1937. Daher befanden sich bereits im Herbst 1937 ca. 60.000 spanische Flüchtlinge in Frankreich (vgl. Rubio 1996: 90). Die französischen Verantwortlichen waren bemüht, die ankommenden Spanier im Landesinneren anzusiedeln, um möglichen Spannungen in den Grenzregionen, vor allem einer Ausweitung des Bürgerkriegs auf die baskischen oder katalanischen Gebiete Frankreichs, vorzubeugen. Die Zahl der Flüchtlinge galt es gering zu halten, weshalb viele der Flüchtlinge aus den Jahren 1937 und 1938 aufgrund des Dekrets vom 27. November 1937 wieder ausgewiesen wurden. Die Verordnung legte fest, dass nur diejenigen in Frankreich geduldet wurden, die nachweisen konnten, dass sie über genügend Mittel verfügten, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, und somit keinen Arbeitsplatz benötigten (vgl. Martínez Cobo 2005: 214). Diese Regelung beschränkte sich nicht nur auf die spanischen Flüchtlinge, sondern schuldete sich auch dem Umstand, dass Frankreich zu jener Zeit das größte Einwanderungsland Europas war. Nach dem Völkermord im Osmanischen Reich waren mehrere Zehntausend Armenier nach Frankreich gekommen, und seit Anfang der 1930er hatte die Zahl der deutschen Emigranten beständig zugenommen. Die Repatriierungen wurden durchgeführt, um die hohen Kosten für Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen zu verringern und um die Konkurrenz auf dem seit der Weltwirtschaftskrise angegriffenen französischen Arbeitsmarkt nicht weiter zu verschärfen. Andererseits weiß man heute auch, dass die französische linke Regierung den antifaschistischen Spaniern wohl gesonnen war, was sich u.a. darin äußerte, dass sie eine Übermittlung der Namen der Exilanten an die Franquisten verhinderte. Zudem unternahm sie Versuche, Familien zusammenzuführen, die auf der Flucht getrennt worden waren (vgl. Schor 1985: 674). Als Konsequenz der Erfahrungen der ersten Bürgerkriegsjahre und nach einer erneuten Flüchtlingswelle schloss Frankreich am 19. Juni 1938 seine Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs auf dem Weg ins Exil 173 Grenze zu Spanien (vgl. Eggers 2002: 31). Doch auch diese Maßnahme konnte nicht verhindern, dass zwischen dem 28. Januar und dem 9. Februar 1939 fast eine halbe Million Spanier nach Frankreich flohen (vgl. Rubio 1974: 208). Bereits nach wenigen Monaten im Exil wurde deutlich, dass nach Ende des Bürgerkriegs am 1. April 1939 viele Flüchtlinge eine Rückkehr in die Heimat wünschten (vgl. ebd.: 217). Dieses Verlangen wurde mit Sicherheit durch die schwierigen Aufnahmebedingungen in Frankreich, vor allem durch die Internierung in provisorisch eingerichteten Lagern in den Pyrenäen und an der Mittelmeerküste, und die allgemein unsichere Situation mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verstärkt. Doch für knapp 200.000 Menschen bedeutete diese Fluchterfahrung den Anfang des Exils, das zum Teil bis zum Tode Francos 1975 andauerte, und den Beginn einer Suche nach einer neuen Heimat markierte. Die Erinnerungen an die Flucht Die Erfahrung der Massenflucht ist für die spanischen Flüchtlinge ein prägendes Moment. Die Erinnerungen daran sind verbunden mit Gefühlen des Verlustes und der Unsicherheit. Zudem sind sie durchdrungen von der Angst vor den franquistischen Truppen, welche die Flüchtlinge vor sich hertrieben, wie sich aus den Beschreibungen in den zu untersuchenden Werken von Aub, Montseny und Miro schließen lässt. Der Schriftsteller Max Aub, der mit dem sechsteiligen Laberinto mágico eines der bedeutendsten literarischen Zeugnisse über den Spanischen Bürgerkrieg schuf, drehte Ende Januar 1939 mit André Malraux in Spanien den Film Sierra de Teruel, als sie wegen der nach Katalonien vorrückenden Kriegsfront das Land verlassen mussten und somit Zeugen der einsetzenden Massenflucht wurden. Aub beschreibt den Grenzübertritt in der Eingangssequenz von Campo francés, einem hybriden Werk, das sich aus dramatischen, narrativen und kinematographischen Elementen zusammensetzt, in eindringlicher Weise - als ob die Szene mit einer Kamera gefilmt würde: […] Crece el río de la gente por la carretera. Detonaciones más cercanas. En sentido contrario al del éxodo, avanza lentamente un camión de gasolina. Ruido de aviones. Las nubes se rasgan. Las gentes se miran angustiadas. El cielo con menos nubes. Ruido de aviones. Un perro, atado bajo un carro, se niega a seguir adelante; lo arrastran, muerto de miedo. Gente de rodillas en la zanja, mirando al cielo. Los aviones, muy lejos. Desbandada de la gente. Una mujer, a campo traviesa, con un niño en brazos y otro de la mano; la sigue un grupo, la pasan otros. La cara del niño, asustado. La zanja al lado de la carretera llena de gente. El paralítico en su silla, abandonado en medio de la carretera, solo. El perro aúlla, atado entre las ruedas del carro. Un soldado resguardado tras un árbol, rodilla en tierra, el fusil pronto a disparar. Gente en el suelo. [...] El cielo: los aviones más cerca. Ametrallamiento lejano. La carretera, los coches, cachivaches abandonados; el camión de gasolina; a lejos un puente, un riachuelo. Nadie. Claudia Nickel 174 Ruido de aviones, más cerca. Sobre el riachuelo ráfaga de ametralladora. Idem en la tierra. La ráfaga pasa sobre un hombre con las manos en el cogote, la sangre empieza a manar entre sus dedos. En la carretera, ristra de bombas incendiarias en busca del camión. Tras cada explosión, caras de hombres, mujeres, niños, el perro. [...] La carretera: el camión quemándose. Un niño corre a campo traviesa, lejos, pequeño, sosteniéndose un brazo. Cae. Ruido de aviones alejándose. Un grito. Una queja. Un mojón: A Francia, 35 kilómetros. Silencio. Se asoma una lagartija entre dos piedras en los bordes de la carretera; cuando la gente empieza a moverse, la lagartija huye. El soldado tira su fusil, se sienta sobre el mojón. Sube el ruido de los pasos. Algún grito, unas llamadas. (20f.) 3 Die Flucht vor den Truppen Francos und der Grenzübertritt werden im Allgemeinen als ein Verlust der persönlichen Habe und des Heimatlands, als ein Verlust des Gewohnten beschrieben. Hinzu treten Orientierungslosigkeit und Ungewissheit bei den flüchtenden Menschen. Die Hast der Flucht und die Gegenwärtigkeit der Bedrohung werden durch die syntaktische Struktur evoziert: Kurze Sätze reihen sich aneinander, die Verbformen fehlen häufig, die vorhandenen sind im Präsens; der Fokus richtet sich nur flüchtig auf bestimmte Figuren. Perspektivenwechsel zwischen den Flugzeugen am Himmel und den Schutz suchenden Menschen deuten auf die Gefahr. Schließlich rückt ein Wegweiser ins Blickfeld „Frankreich, 35 Kilometer“. Es herrscht Ruhe, eine Eidechse wird zwischen den Steinen gesehen, und ein erschöpfter Soldat setzt sich auf den Kilometerstein. Diese Momente drücken Hoffnung auf Ruhe, Schutz vor den Kriegsereignissen und Unterstützung in 3 […] Der Fluß der Menschen auf der Landstraße schwillt an. Die Detonationen kommen näher. Entgegen der Richtung des Exodus rückt langsam ein Tanklastwagen voran. Flugzeuglärm. Die Wolken reißen auf. Die Leute sehen sich angsterfüllt an. Am Himmel wenige Wolken. Flugzeuglärm. Ein Hund, unter einen Wagen gebunden, weigert sich weiterzulaufen; sie zerren an ihm, der Hund in panischer Angst. Leute auf Knien im Graben, zum Himmel aufblickend. Weit weg, die Flugzeuge. Die wilde Flucht der Leute. Eine Frau, die querfeldein läuft, mit einem Kind auf dem Arm und einem anderen an der Hand; eine Gruppe hinter ihr her, andere laufen an ihr vorbei. Das Gesicht des Kindes, erschrocken. Der Straßengraben voll mit Menschen. Mitten auf der Landstraße der Gelähmte in seinem Rollstuhl, verlassen, allein. Der Hund jault, zwischen den Wagenrädern festgebunden. Ein Soldat hinter einem Baum in Stellung, kniet, das Gewehr angelegt zum Schuß. Leute auf dem Boden. […] Der Himmel: die Flugzeuge immer näher. Das ferne Rattern eines Maschinengewehrs. Die Landstraße, die Wagen, zurückgelassener Hausrat; der Tanklastwagen; in der Ferne eine Brücke, ein kleiner Fluß. Niemand. Der Flugzeuglärm kommt näher. Maschinengewehrgarben über dem Fluß, auf der Erde. Die Garbe geht über einen Mann hinweg, seine Hände im Nacken, Blut tritt zwischen seinen Fingern hervor. Auf der Landstraße ein Fächer Brandbomben, auf den Tanklaster gezielt. Nach jeder Explosion Gesichter, von Männern, Frauen, Kindern, dem Hund. […] Die Landstraße: der brennende Lastwagen. Ein Kind, das querfeldein läuft, weit weg, klein, es hält sich einen Arm. Stürzt. Sich entfernender Flugzeuglärm. Ein Schrei. Ein Klagen. Ein Kilometerstein: Frankreich, 35 Kilometer. Stille. Eine Eidechse lugt zwischen zwei Steinen am Rand der Landstraße hervor; als die Leute sich in Bewegung setzen, schlüpft die Eidechse zurück. Der Soldat wirft sein Gewehr fort, setzt sich auf den Kilometerstein. Das Trappeln der Schritte wird lauter. Irgendwo ein Schrei, Rufe. (Aub 2002: 13ff.) Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs auf dem Weg ins Exil 175 Frankreich aus. Die Szene endet mit der ‚Einstellung’ auf einen der Protagonisten. Der Soldat Juan ist dabei, einen Brief an seinen Bruder Julio nach Paris zu schreiben, der schon seit Jahren dort wohnt und von dem er sich Hilfe erhofft. Das Moment der Hoffnung auf Rettung und Hilfe in Frankreich schließt somit diese Szene. Auch Federica Montseny, ehemalige Ministerin der spanischen Republik, beschreibt in ihrem autobiographischen Werk El éxodo. (Pasión y muerte de españoles en el exilio) den Grenzübertritt mit ihren beiden Kindern und der schwerkranken Mutter sehr anschaulich und metaphernreich: ¡Señor! ¡Cuántas ilusiones teníamos todavía! Muchos decían: - Yo, cuando entre en Francia, me iré a Grenoble, donde tengo unos amigos que me encontrarán trabajo enseguida... Otros: - Yo voy a ver si encuentro una casa de campo y nos podemos mi mujer, los chicos y yo a trabajar la tierra. ¡Qué ganas tengo de estar tranquilo! Con los ojos cerrados, escuchaba en silencio a los unos y a los otros. Pensaba: No. No tienen conciencia todavía de cuál va a ser nuestro destino. Nos han condenado a ser la imagen colectiva y rediviva del judío errante. Arrojados de nuestro hogares, arrojados de nuestro país, arrancados a nuestra tierra, jamás volverá a existir hogar, patria ni reposo para nosotros. [...] De un golpe, en unos minutos, rompimos el cordón umbilical que nos unía a veinte generaciones: con los muebles que habían sido de nuestros abuelos, con el paisaje familiar que acompañara el despertar a la vida de nuestros padres; con los juguetes con que habíamos jugado nosotros y jugaban todavía nuestros hijos, perdimos quizá para siempre el derecho de ser hijos de alguna parte. Porque aún el día que regresemos a España, seremos ya extranjeros en ella, marcados y diferenciados por la huella terrible de lo vivido. (21f.) 4 Während einzelne Menschen die Hoffnung auf Hilfe und ein besseres Leben in Frankreich, das wieder Ruhe und Gewohnheit bringen würde, in sich tragen, weiß die Erzählerin um das Schicksal der Flüchtlinge. Neben den 4 Herrgott! Wie viele Illusionen wir da noch hatten. Viele sagten: - Wenn ich nach Frankreich komme, gehe ich nach Grenoble, wo ich Freunde habe, die mir sofort eine Arbeit besorgen können… Andere sagten: - Ich werde zusehen, dass ich ein Haus auf dem Lande finde, wo wir - meine Frau, die Kinder und ich - gemeinsam Felder bestellen. Welch Lust habe ich, wieder ein ruhiges Leben zu führen! Mit geschlossenen Augen vernahm ich schweigend die Äußerungen. Ich dachte: Nein. Sie haben noch keine Vorstellung davon, was unser Schicksal sein wird. Wir sind dazu verurteilt, das kollektive und auferstandene Abbild des ewig herumirrenden Juden zu sein. Vertrieben aus unseren Häusern, vertrieben aus unserem Land, von unserem Boden entrissen. Niemals würde es wieder ein Zuhause, eine Heimat, geschweige denn Ruhe für uns geben. Mit einem Schlag, in einigen Minuten, zerrissen wir die Nabelschnur, die uns mit zwanzig Generation verband: mit den Möbeln, die unseren Großeltern gehört hatten, mit der familiären Umgebung, in der unsere Eltern das Licht der Welt erblickt hatten; mit den Spielzeugen, mit denen wir gespielt hatten und mit denen noch unsere Kinder spielten, wir verloren vielleicht für immer das Recht, Kinder eines Ortes zu sein. Selbst an dem Tag, an dem wir nach Spanien zurückkehren sollten, würden wir Fremde in unserem Land sein, markiert und unterscheidbar durch den schmerzenden Abdruck des Erlebten. (Übersetzung der Verfasserin) Claudia Nickel 176 materiellen tritt der schmerzliche Verlust der vertrauten Umgebung, der Geborgenheit und Verbundenheit. Vertrieben aus ihrer Heimat, sind sie zur Wanderschaft durch die verschiedenen Länder verurteilt. Selbst bei einer möglichen Rückkehr nach Spanien würde diese Erfahrung der Flucht, die schmerzhafte Wunden hinterlässt und sie als Anhänger der republikanischen Ideen charakterisiert, sie zu Fremden im eigenen Land machen. Einige Seiten später heißt es, nachdem ihr die Befreiung ihres Mannes und Vaters aus einem Internierungslager gelungen ist: Nuestro éxodo continuaba. O mejor, comenzaba. Durante diez años consecutivos fuimos la encarnación colectiva y viviente del judio errante. La maldición bíblica nos acompañaba. ¡Anda! ¡Anda! ¡Anda! Hasta que no tengas fuerzas […] Tu crimen, refugiado, fue más grande que el de Ahasverus. Tu pasión, más larga que la de Cristo. Tu muerte, más miserable, más irrisoria, más triste. (34f.) 5 Die Beschreibung der gewaltigen Flucht von mehreren Hunderttausend Menschen wird durch einen Rückgriff auf religiöses Vokabular und biblische Ereignisse fortgesetzt. Das deutet auch auf die Wahrnehmung der Flucht aus Spanien, die als ‚unser Exodus’ bezeichnet wird. ‚Exodus’, ‚Leidensweg’ und ‚Tod’ sind bereits die zentralen Begriffe im Titel des Werks, das Ende der 1940er Jahre verfasst wurde. Das erklärt auch die Aussage, dass die Wanderschaft und die Suche nach einer Heimat für die meisten Spanier bereits zehn Jahre andauerten, seit der Flucht bzw. dem Ende des Bürgerkriegs 1939. Aufgrund der Länge der Flucht und der damit verbundenen Leiden scheint der Erzählerin das Verbrechen des einzelnen Flüchtlings schwerwiegender als das Vergehen des ewigen Juden Ahasveros, der Jesus auf seinem Weg nach Golgotha Rast verwehrte, und der Leidensweg ‚länger als jener Jesu Christi’. Der Tod eines Flüchtlings scheint ohne jede Bedeutung. Montseny stellt dar, dass der Verlust der Heimat äußerst schmerzlich, die verlorene Heimat unersetzlich ist. Die Menschen werden nie wieder eine Heimat finden, denn sowohl im Spanien Francos als auch in möglichen Exilländern werden sie als Fremde wahrgenommen. Ein neues Land verlangt immer einen gewissen Grad an Assimilation und Einschränkungen sowohl hinsichtlich praktischer Aspekte wie der Berufsausübung als auch kultureller, beispielsweise dem Gebrauch der eigenen Sprache, dem Ausüben von Traditionen. In seinen auf Französisch verfassten Memoiren L’Exilé. Souvenirs d’un républicain espagnol verbindet der Katalane Antoine Miro den Grenzübertritt und die Flucht nach Frankreich ebenfalls mit dem Verlust des Geburtslandes, der einhergeht mit dem Verlust der historischen Zugehörigkeit. Die Flüchtenden fühlen sich wie verlorene Kinder. Dabei wird der Schmerz zuneh- 5 Unser Exodus setzte sich fort, oder besser gesagt, begann. Über zehn Jahre hinweg stellten wir die kollektive und lebendige Wiedergeburt des ewigen Juden dar. Der biblische Fluch begleitete uns beständig. Lauf! Lauf! Lauf! Bis du keine Kräfte mehr hast… Dein Verbrechen, Flüchtling, war größer als das des Ahasveros. Dein Leidensweg war länger als jener Jesu Christi. Dein Tod elender, lächerlich klein, trauriger. (Übersetzung der Verfasserin) Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs auf dem Weg ins Exil 177 mend von der aufsteigenden Angst überdeckt, denn als Exilanten werden die Spanier wie ‚Sklaven’ außerhalb der normalen Ordnung einer Gesellschaft stehen. Es wird das Gefühl erzeugt, als betrete man ein unbekanntes Terrain, ein Niemandsland, in dem man keine Rechte hat. Außerdem findet sich ein Verweis auf das Bild der Spanier als Barbaren, die man verschiedener Verbrechen, vor allem an Geistlichen, bezichtigte, was in Frankreich seit Beginn des Bürgerkriegs in der Presse verbreitet wurde: 6 [...] je n’étais plus seul à me sentir comme un enfant perdu. Terre natale, parents, amis, maisons et champs: pour ne pas mourir, nous laissions tout derrière nous. Mais, dans ce départ vers l’exil, la souffrance l’emportait maintenant sur la peur. Elle était double: nous avions échoué dans notre tentative pour sortir notre pays de la misère et de l’injustice, et après tant de luttes, il fallait quitter à jamais ce sol terriblement aimé, où la majeure partie d’entre nous avaient versé leur sang pour changer la vie. […] Que la frontière vienne bientôt, ou plus tard, cela n’avait guère d’importance. Nous portions déjà l’exil en nous. […] L’avenir, ce soir, c’était de gagner l’autre versant de la montagne. Après, l’Histoire ne nous appartenait plus. Je devinais que les jours à venir seraient durs, bien plus terribles que ceux de la guerre. Mes camarades et moi, nous n’étions plus rien. […] Nous ne serions plus des soldats républicains ayant combattu pour une juste cause, pour le droit de vivre, pour la liberté. Nous serions des ‚rouges’, des barbares […], de sales types que brûlaient les curés et les bonnes sœurs. Je sentais une nausée m’envahir. Les vaincus ont toujours tort. Nous n’échapperions pas à la règle. Nous n’échapperions pas à l’humiliation. […] Dans tous les cas, notre condition serait celle d’immigrés, d’esclaves privés du droit à la parole. (127ff.) 7 An die Schilderungen des Grenzübertritts in den drei Werken schließen sich im weiteren Verlauf Szenen bzw. Schilderungen aus den Internierungslagern 6 Vgl. zum Bild der spanischen Flüchtlinge in der französischen Presse Emmanuelle Salgas (1990). 7 Ich war nicht der einzige, der sich wie ein verlorenes Kind fühlte. Geburtsland, Eltern, Freunde, Häuser und Felder: um nicht zu sterben, ließen wir alles hinter uns zurück. Aber während dieses Aufbruchs ins Exil ging das Leiden in Angst über, eine doppelte Angst: Wir waren in dem Versuch gescheitert, unser Land von Elend und Ungerechtigkeit zu befreien, und nach unzähligen Kämpfen waren wir gezwungen, für immer diesen geliebten Boden zu verlassen, wo die Mehrheit von uns Blut vergossen hatte, um das Leben zu verändern. […] Möge die Grenze doch bald erreicht sein, oder später, es hatte eigentlich keine Bedeutung. Wir trugen das Exil bereits in uns. […] Zukunft bedeutete diesen Abend die andere Seite des Berges zu erreichen. Danach gehörte uns die Historie nicht mehr. Ich ahnte, dass die kommenden Tage hart sein würden, viel schrecklicher als die Tage des Krieges. Meine Kameraden und ich, wir waren nichts mehr. […] Wir würden keine republikanischen Soldaten mehr sein, die für eine gerechte Sache gekämpft hatten, für das Recht auf Leben, für die Freiheit. Wir wären ‚Rote’, Barbaren […], schmutzige Typen, die Pfarrer und Nonnen verbrannten. Ich spürte Übelkeit in mir aufsteigen. Die Besiegten sind immer im Unrecht. Wir würden keine Ausnahme von dieser Regel darstellen. Wir würden den Demütigungen nicht entgehen. […] In jedem Fall würde unsere Situation derjenigen von Immigranten entsprechen, von Sklaven, denen das Recht auf Meinungsäußerung entzogen wurde. (Übersetzung der Verfasserin) Claudia Nickel 178 in Frankreich an, die zur Aufnahme der Flüchtlinge errichtet wurden. Die Internierung markierte somit für viele Spanier eine erste Phase des Exils. Auch Hannah Arendt bemüht sich in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft um eine Erklärung, warum Fluchterfahrungen häufig mit Internierungserfahrungen verbunden sind. Laut Arendt werden die Flüchtlinge zu Staatenlosen, sobald sie als Masse und nicht als einzelne Individuen eine Grenze überqueren. Die große Anzahl von Flüchtlingen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewirkte einen Zusammenbruch des traditionellen Asylrechts, das ursprünglich verhindern sollte, dass irgendein Mensch rechtlos wurde oder ganz und gar außerhalb der Gesetze stand. Bis dahin hatte die Regel gegolten: quidquid est in territorio est de territorio. War also ein Mensch dem Machtbereich eines Staates entkommen, dann öffnete sich automatisch der Schutz eines anderen. Dieses Asylrecht war in der modernen nationalstaatlichen Welt kein Recht mehr, sondern beruhte auf Duldung aus Tradition. Es fand sich nicht als geschriebenes Gesetz in den modernen Verfassungen, wurde auch nicht im Covenant des Völkerbundes erwähnt, weil das Asylrecht mit den internationalen Rechten der Staaten in Konflikt stand. Denn der moderne Staat war über seine Grenzen hinweg für seine Bürger verantwortlich (vgl. Arendt 2005 [1951]: 583ff.). Die Gewährung von Asyl entsprach demnach weder den geltenden Regelungen noch der Praxis. Vielmehr lässt sich im Umgang mit Flüchtlingströmen die zunehmende Errichtung von Internierungslagern seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts beobachten, weshalb Arendt (2005 [1951]: 594) die Internierungslager als „die einzige patria, die die Welt dem Apatriden anzubieten hat“, bezeichnet. Die verlorene Heimat des Flüchtlings wird also durch das Internierungslager ersetzt, das nach Giorgio Agamben ein rechtloser Ausnahmezustand ist, in dem der Mensch nur sein nacktes Leben besitzt (vgl. Agamben 2002: v.a. 175ff.). Der Weg nach Mexiko Sowohl Frankreich als auch eigens für die spanischen Exilanten geschaffene Hilfsorganisationen 8 bemühten sich um die Weiteremigration in andere Länder, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Frankreich war bestrebt, die ökonomische Last, die die Aufnahme der Flüchtlinge darstellte, mit anderen Ländern zu teilen, während die Organisationen den Flüchtlingen aus den Internierungslagern und Aufnahmezentren heraushelfen und ihnen schnellstmöglich neue Perspektiven in einem anderen Land, vor allem in Mexiko, bieten wollten. Im März 1939 lehnten die Regierungen von Argentinien, Brasilien, Kuba und Kanada eine Aufnahme von Flüchtlingen ab, da sie Unruhen auf den nationalen Arbeitsmärkten befürchteten. Mexiko, Uruguay und Chile erklär- 8 Unter den Organisationen sind JARE (Junta de Auxilio a los Republicanos Españoles) und SERE (Servicio de Emigración de la República Española) hervorzuheben, die zahlreiche Überfahrten nach Mexiko seit dem Frühjahr 1939 organisierten. Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs auf dem Weg ins Exil 179 ten sich bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, knüpften die Aufnahme aber an gewisse Bedingungen. So bevorzugte Mexiko Landwirte und Intellektuelle. Ausreichende Mittel zur Selbstversorgung wurden stets gefordert. Dies zeigt, dass eine Weiteremigration nach Lateinamerika nicht ohne weiteres möglich war; nur ca. 15.000 Flüchtlinge gingen 1939 in Länder Lateinamerikas. Auch andere europäische Länder, vor allem Belgien, Großbritannien und die UdSSR nahmen ca. 10.000 Flüchtlinge auf (vgl. Rubio 1974: 224-227). Die Situation änderte sich mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Viele Spanier kehrten nach Spanien, das nicht in den Krieg eintrat, zurück, auch wenn sie dort ein ungewisses Schicksal erwartete. Mexiko erklärte sich jetzt zur Aufnahme aller spanischen Flüchtlinge bereit, die dies wünschten (vgl. ebd.: 243). Damit wurde Mexiko zu einem Wunschziel von Tausenden von Spaniern, die sich noch in den Internierungslagern befanden. Die Ausreise nach Mexiko war aber zunächst ein aufwändiger bürokratischer Akt, der von den Hilfsorganisationen in Paris geleitet wurde. In einigen der literarischen Werke über den Beginn des Exils finden sich Schilderungen von Konkurrenzsituationen, die in den Internierungslagern um die Anträge, die Ausreisebewilligungen und die Fahrkarten entstehen. Durch Zufall gelangt der Protagonist Julio in Max Aubs Campo francés an eine Ausreisegenehmigung nach Mexiko und wird daher aus dem Lager entlassen. Aus Liebe zu seiner französischen Frau und aufgrund seines Glaubens an die Gerechtigkeit und die geltenden Gesetze und Rechte, den man zu diesem Zeitpunkt der Handlung als naiv bezeichnen mag, kehrt er in seine Wohnung nach Paris zurück. Kurz darauf wird er erneut interniert und verliert sein Leben bei einem Fluchtversuch aus dem Internierungslager Le Vernet. Die Ausstellung der Ausreisepapiere hatte Julio die Möglichkeit eines neuen Lebens in Mexiko eröffnet, aber sein Glaube an die Gerechtigkeit führte ihn in den Tod. Manuel García Gerpe beschreibt in seinen Memoiren Alambradas: Mis nueve meses por los campos de concentración de Francia den Kampf um eine Ausreise nach Mexiko sehr ausführlich, wobei deutlich wird, dass diese Möglichkeit nicht jedem offen stand. In den Text ist ein Fragebogen integriert, mit dem der Ausreiseantrag gestellt werden konnte. Neben persönlichen Angaben waren solche zur politischen Zugehörigkeit vor und während des Bürgerkriegs zu machen, die überprüft wurden. Weiterhin wird berichtet, dass vor der endgültigen Ausreise noch eine Art Prüfung in der mexikanischen Botschaft abgelegt werden musste. Als Fragen werden genannt: Was halten Sie vom Rücktritt des Präsidenten Azaña? Hat die kommunistische Partei während des Krieges angemessen gehandelt? Wie bewerten Sie die Position Englands? Wurden die Fragen nicht zufrieden stellend beantwortet, konnte die Einreise nach Mexiko verweigert werden (vgl. Cate-Arries 2004: 246ff.). Trotz dieser Hindernisse für die Mehrheit der Flüchtlinge wurde Mexiko gerade für die Intellektuellen zum wichtigsten Exilland. Neben der gemeinsamen Sprache reagierten viele Spanier auch aus kulturellen und politischen Gründen auf Mexiko sehr positiv. In Mexiko war bereits 1938 „La Casa de Claudia Nickel 180 España en México” gegründet worden, eine Institution, die es spanischen Intellektuellen ermöglichen wollte, ihre Arbeit fortzusetzen, Beziehungen und Kontakte aufzubauen. Zudem hatte die mexikanische Regierung die Regierung Francos nicht bestätigt - anders als Frankreich und Großbritannien, die das Franco-Regime im Frühjahr 1939 anerkannt hatten. Aufgrund der positiven Haltung der Regierung Cárdenas gegenüber der spanischen Republik und ihren Idealen gingen vor allem viele Intellektuelle nach Mexiko ins Exil. Sie unterstützen dort die angestrebten politischen Veränderungen, und viele der Exilanten nahmen in der Folgezeit die mexikanische Staatsbürgerschaft an (vgl. Abellán 2001: 21-24). Viele der Flüchtlinge, die in Mexiko Fuß fassen konnten, fühlten sich als ‚transterrados’, nicht als ‚desterrados’, also nicht als Entwurzelte, sondern als ob sie in eine andere Heimat (um)versetzt wurden. Dieser Neologismus geht auf den spanischen Philosophen José Gaos, einen Schüler von José Ortega y Gasset, zurück, der auch in das mexikanische Exil ging. Zur Beschreibung seines Gefühls in Mexiko entwickelte er die Theorie der zwei Heimatländer. Dabei wird die erste Heimat jedem Menschen mit der Geburt gegeben. Sie ist zufällig und unterliegt nicht dem Entscheidungsspielraum des Individuums. Die zweite Heimat wird gewählt oder durch äußere Umstände, z.B. das Exil, bestimmt. Gaos bezeichnet die zweite Heimat als ‚patria de destino’, ‚Heimat des Schicksals’. Diese beiden Typen von Heimat können in einem Land zusammenfallen, wie es für die Mehrheit der Menschen der Fall sein wird. Gaos nutzt den Begriff des ‚transterrado’, um die Situation der spanischen Exilanten in Mexiko zu beschreiben. Der Begriff bezieht sich auf einen physischen, geo-kulturellen Wechsel, den ‚transterrado’ verbindet aber eine Art geistige Verwandtschaft mit dem Land, in das er gegangen ist (vgl. Abellán 2001: 24). In Mexiko bestand sowohl eine linguistische als auch eine politische Verwandtschaft, da dort in vielen Bereichen die Ideen der spanischen Republik wieder auflebten und somit eine Integration der Flüchtlinge erleichtert wurde. Einen ähnlichen Neologismus bildete auch der spanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Juan Ramón Jiménez, als er 1947 nach siebenjährigem Aufenthalt in den USA nach Buenos Aires kam und die spanische Sprache wieder vernahm. Er fühlte sich dort als ‚conterrado’, als ein mit dem Land Verbundener, und beschrieb damit ähnliche Gefühle wie José Gaos (vgl. Abellán 2001: 27). 9 Die Entstehung dieser Neologismen spiegelt auch die Veränderungen wider, die der Heimatbegriff im Laufe des 20. Jahrhunderts erfahren hat (vgl. Cremer/ Klein 1990). So wies zu Beginn des Jahrhunderts der Begriff Heimat noch eine starke Verbindung mit den Vorstellungen von Haus und Boden auf. Dies klang auch in den bereits zitierten Passagen aus den Werken von Montseny und Miro an, wo deren Verlust beklagt wurde. Aufgrund der Er- 9 Vgl. zum positiven Bild Amerikas, vor allem Mexikos, bei spanischen Intellektuellen im Exil die Untersuchung von Alejandra Barriales (2001), die zeigt, dass Amerika im Angesicht der Konflikte in Europa als Ort der Hoffnung, Rettung und Freiheit galt. Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs auf dem Weg ins Exil 181 eignisse des Zweiten Weltkriegs und der zunehmenden sozialen Veränderungen entwickelte sich ein moderner Heimatbegriff, der Heimat nicht mehr mit Nation und Vaterland gleichsetzt. Heimat kann demnach neu geschaffen werden, wenn sie als gelebter Raum verstanden wird, der vom Menschen gestaltet werden kann: „Raum als Kategorie menschlicher Lebenswelt konstituiert sich in Wertbezügen in und als Symbolisierung menschlicher Beziehungen.“ (Piepmeier 1990: 98) Verstanden wird Heimat weiter als Ort der Arbeit und des Handels, als Umgebung, in der personale und gesellschaftliche Kommunikation in Form von freundschaftlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Beziehungen stattfindet. Eine weitere Dimension ist die erlebte und gelebte Zeit. Erinnerungen nehmen sicherlich einen breiten Raum ein, aber auch das gegenwärtige Erleben und Erwartungen an die Zukunft wirken sich auf das Heimatgefühl eines Individuums aus. Betrachtet man die Situation der spanischen Flüchtlinge vor diesem Hintergrund, zeigt sich, dass Mexiko den Raum bot, um sich eine neue Heimat zu schaffen. Das Fehlen sprachlicher Barrieren, die positive Haltung der mexikanischen Regierung gegenüber den Flüchtlingen im Gegensatz zur Internierungserfahrung in Frankreich, die Existenz spanischer kultureller Institutionen bildeten wesentliche Grundlagen, um die Anpassung der Exilanten an ein neues Land zu erleichtern. Gleichzeitig verweisen sie aber auch auf die von Gaos erwähnte geistige Verwandtschaft mit Mexiko, das für viele das Ende einer ungewissen Reise und der Suche nach einer neuen Heimat bedeutete, denn hier fanden sie ihre ‚patria de destino’. Claudia Nickel 182 Bibliographie Abellán, José Luis (Hg.). 1976. El exilio español de 1939. 6 Bände. Madrid: Taurus. ___. 2001. „El exilio de 1939: la actitud existencial del transterrado.“ In: José Antonio Pérez Bowie & José María Balcells (Hgg.). El exilio cultural de la Guerra Civil, 1936- 1939. Salamanca: Ediciones Universidad de Salamanca. 19-27. Agamben, Giorgio. 2002. Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Arendt, Hannah. 2005 [1951]. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. 10. Aufl. München: Piper. Aub, Max. 2004 [1965]. Campo francés. Madrid: Suma de Letras. ___. 2002. Am Ende der Flucht. Aus dem Spanischen von Albrecht Buschmann & Stefanie Gerhold. Frankfurt a.M.: Eichborn. Barriales, Alejandra. 2001. „Patria de destino versus patria de origen: la visión de América de los exiliados españoles en Cuadernos Americanos.“ In: Historias 48: 55-65. Cate-Arries, Francie. 2004. Spanish Culture behind Barbed Wire: Memory and Representation of the French Concentration Camps, 1939-1945. Lewisburg: Bucknell University Press. Cremer, Will & Ansgar Klein. 1990. „Heimat in der Moderne.“ In: dies. (Hgg). Heimat. Analyse, Themen, Perspektiven. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. 34-55. Eggers, Christian. 2002. Unerwünschte Ausländer: Juden aus Deutschland und Mitteleuropa in französischen Internierungslagern 1940-1942. Berlin: Metropol. García Gerpe, Manuel. 1941. Alambradas: Mis nueve meses por los campos de concentración de Francia. Buenos Aires: Celta. Martínez Cobo, José. 2005. „Le statut administratif des exilés républicains en France.“ In: Républicains espagnols en Midi-Pyrénées: exil, histoire et mémoire. 2. Aufl. Toulouse: Presse Universitaires du Mirail. 214-217. Miro, Antoine. 1976. L’Exilé. Souvenirs d’un républicain espagnol. Paris: Éditions Galilée. Montseny, Federica. 1977 [1950]. El éxodo. (Pasión y muerte de españoles en el exilio). Barcelona: Galba. Piepmeier, Rainer. 1990. „Philosophische Aspekte des Heimatbegriffs.“ In: Will Cremer & Ansgar Klein (Hgg.) Heimat. Analyse, Themen, Perspektiven. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. 91-108. Rubio, Javier. 1974. La emigración española a Francia. Barcelona: Ariel. ___. 1996. „Política francesa de acogida. Los campos de internamiento.“ In: Josefina Cuesta & Benito Bermejo (Hgg.). Emigración y exilio. Españoles en Francia 1936-1946. Madrid: Eudema. 87-116. Salgas, Emmanuelle. 1990. „L’opinion publique et les représentations des réfugies espagnols dans les Pyrénées-Orientales (janvier-septembre 1939).“ In: Jean Sagnes & Sylvie Caucanas (Hgg.). Les français et la guerre d’Espagne. Actes du colloque de Perpignan. Perpignan: Centre des recherches sur les problèmes de la frontière. 185-194. Schor, Ralph. 1985. L’opinion française et les étrangers, 1919-1939. Paris: Publications de la Sorbonne. Arvi Sepp Heim-Suchung: Victor Klemperers Tagebücher 1933-1945 als Orte der Autohospitalität in Zeiten von Heimatlosigkeit 1. Topographie des Tagebuchs Im Jahr 1938, in der August-Ausgabe der jüdischen Zeitschrift Der Morgen, einige Monate vor deren endgültigem Erscheinungsverbot, schreibt Emanuel bin Gorion: „Der Jude, der an der europäischen Kultur gebildet wurde, sich irgendwelcher Isolation lebenslang nicht bewußt war und unvermutet erfährt, daß er ohne Heimat ist - woran soll sein Geist sich klammern? “ (bin Gorion 1938: 214) Für Victor Klemperer, assimilierter deutscher Jude, aufgewachsen im Wilhelminischen Kaiserreich, war eine der wichtigsten Stützen zur Selbstbehauptung im Dritten Reich das emphatische Festhalten an seiner deutschen Identität, was sich in seinen Tagebüchern aus der Nazizeit gegen besseres Wissen in der Hypertrophie der Heimatliebe niederschlug. Das Auseinanderfallen einer als einheitlich imaginierten Welt und das Verlangen nach Sicherheit machen die beiden Pole eines Spannungsfeldes aus, in dem die Metapher der Heimat für Klemperer als Sehnsuchtsbegriff fungiert. 1 Für die meisten in Deutschland verbleibenden Juden war Heimat nach 1933 nur noch das Echo einer längst untergegangenen Welt, aber Klemperer sah Heimat dennoch als notwendigen Bezugspunkt von Identitätsstiftung an. Der Romanist, den dank einer ‚Mischehe‘ mit einer nichtjüdischen deutschen Frau, Eva Klemperer, nicht das Schicksal der dem Holocaust zum Opfer gefallenen Juden ereilte, befand sich - trotz der ständigen Diskriminierung und Todesangst - in einer Ausnahmesituation, die es ihm erlaubte, das frühere, idealisierte Deutschlandbild zumindest nicht vollständig aufgeben zu müssen. Das Tagebuch, an das er sich während der zwölf Jahre des Dritten Reiches tagtäglich klammerte, war für ihn das geeignete Medium, um sich angesichts der Diskriminierung durch den Nationalsozialismus mit seiner eigenen Identität auseinanderzusetzen, oder, wie Klemperer selbst es formuliert: „Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre.“ (Klemperer 2001: 15) In Anbetracht seines brüchig gewordenen Selbstbildes, so Jack Zipes, führte Klempe- 1 Bernhard Schlink (2000: 32) betrachtet die Melancholie des Verlustes als Grunderfahrung des Heimatgefühls: „Heimat ist Utopie. Am intensivsten wird sie erlebt, wenn man weg ist und sie einem fehlt; das eigentliche Heimatgefühl ist das Heimweh. Aber auch wenn man nicht weg ist, nährt sich das Heimatgefühl aus Fehlendem, aus dem, was nicht mehr [...] ist.“ Arvi Sepp 184 rer Tagebuch, „um eine Heimat zu schaffen inmitten der Heimatlosigkeit“ (Zipes 1997: 37). 2 Im Folgenden wird das Augenmerk auf den Prozess der Identitätskonstruktion im Akt des Schreibens, also im Medium des Tagebuchs, gerichtet. Dabei werden die Begriffe Autohospitalität, Heimatlosigkeit und Identität in Bezug auf das Tagebuch relationiert, um zu zeigen, wie die Notizen Victor Klemperers aus dem Zeitraum des Dritten Reichs - dem Leitthema des vorliegenden Sammelbandes folgend - als Ankunftspunkte, als Heimstätte einer tagtäglich neu definierten Identät zu begreifen sind. Dazu möchte ich einerseits an Alain Montandons und François Regards topologische Interpretation der écriture de soi als textueller Ort der ‚Autohospitalität‘ anknüpfen und andererseits den Ansatz der narrativen Psychologie - mit ihren Vertretern Straub, Bruner und Polkinghorne - aufgreifen. 2. Heimat - Identität - Autohospitalität Die wechselseitige Verzahnung von Heimat bzw. Heimatlosigkeit und Identität hebt Jacques Derrida in seiner Studie Von der Gastfreundschaft (2001) hervor, indem er darstellt, wie Erfahrungen der Entfremdung und der staatlichen Einflussnahme auf die Privatsphäre unmittelbare Auswirkungen auf die Identität des Subjekts ausüben: Sie „bedrohen die Innerlichkeit des Zuhauses (‚man fühlt sich nicht mehr wie zu Hause! , on n’est plus chez soi! ‘), in Wirklichkeit [bedrohen sie] sogar die Integrität des Selbst (soi), der Selbstheit (ipséité).“ (Derrida 2001: 44) Die Erfahrung des Verlustes eines einheitlichen Selbstbildes sucht Klemperer in seinen Tagebüchern zu bewältigen, indem er versucht, seine Identität angesichts des Antisemitismus und der politischen Ereignisse neu zu reflektieren. Diese persönliche Identität könnte man als die vorläufige Identifikation des Subjekts mit einem bestimmten Narrativ bezeichnen, das die Beziehung des Selbst zu seiner Umwelt reflektiert. Vor diesem Hintergrund legt Alain Montandon in „De soi à soi: les métamorphoses du temps“ nahe, dass sich das Subjekt nicht durch sich selbst definiere, durch eine Identifikation mit etwas, das ihm inhärent sei, sondern durch seinen Empfang von etwas Anderem, das dem Selbst fremd sei. 3 Im Lichte konstruktivistischer Theoriebildung erscheint es daher sinnvoll, die diaristische Tätigkeit in ihrer Prozessualität als eine performative ‚Selbst-Technik‘ (Foucault) zu betrachten, durch die sich das Subjekt im langfristigen Prozess des Schreibens konstituiert. 4 2 Fremdsprachige Zitate - wie dieses - wurden vom Verfasser ins Deutsche übersetzt. 3 In ähnlicher Weise hebt auch Emmanuel Lévinas in seinen moralphilosophischen Überlegungen zur Subjektivität in Totalität und Unendlichkeit die ethische Bezogenheit des Selbst auf den Anderen hervor: „Das Subjekt ist ein Gastgeber.“ (Lévinas 2002: 434) Zum Zusammenhang zwischen Autobiographie und Gastfreundschaft vgl. auch Burt (2004: 868f.) und Corrado (2004: 83ff.). 4 Die Idee des performativen Schreibaktes - des Sich-Selbst-Schreibens - reicht über den textuellen Rahmen hinaus, indem sie einerseits das Schreiben selbst fokussiert, anderer- Victor Klemperers Tagebücher 1933-1945 als Orte der Autohospitalität 185 Das Tagebuch sei, so Frédéric Regard in „Géotobiographies. Introduction aux géographies de soi“, kein „absoluter Raum, in dem die Schrift als ontologische Stätte einer Offenbarung, Geburtsort von Einzigartigkeit, oder Monument der Selbstpräsenz fungiert“ (Regard 2000: 23). Es ist vielmehr, wie Mounir Laouyen in „Le texte autobiographique: une demeure à soi? “ betont, „ein Zuhause für das Selbst [...] korrodiert durch die Metamorphosen der Zeit“ (Laouyen 2004: 142). Demnach ist Identität nicht als dauerhafter Besitz zu begreifen, sondern als ein höchst fluktuierender Zustand. Bei Identitätsentwicklung handelt es sich somit um einen Konstruktionsprozess, der grundsätzlich nie zu einem Abschluss kommt (vgl. Gymnich 2003: 31). Die schriftliche Selbstkonstitution in den Tagebüchern erweist sich vor diesem Hintergrund als prekäres Grenzphänomen, dessen Zwischenstellung nie ein für allemal stabil verfestigt werden kann, sondern aus einer ständigen Abgrenzungsarbeit von Selbst und diskursiver Ordnung besteht. 5 Die Instabilität der Ich-Identität, die auch in Klemperers Tagebüchern prägnant hervortritt, beschreibt Regard wie folgt: „Außer als eine auf das innere Selbst bezogene Schreibtradition, kann die Autobiographie [bzw. das Tagebuch] nicht als Reise betrachtet werden, die der Autor unternimmt - anders ausgedrückt: als eine Erfahrung der Relativität und Veränderung, des Bruchs unveränderlicher Gesetze? “ (Regard 2000: 18) Das Tagebuch - ähnlich dem Bildungsroman - sei demnach die topographische Aufzeichnung der wechselvollen Reise im Selbst. Klemperer legt von der subjektivitätsfördernden Performativität der autobiographischen Schrift Zeugnis ab, wie beispielsweise in der nachfolgenden Notiz aus dem Jahr 1941: „Der Bleistift hat mich wirklich von Grund aus verändert.“ (Klemperer 1995a: 641) Die auffällige Häufung räumlicher Begriffe und Metaphern in Klemperers Sprechen über das Tagebuch lässt vermuten, dass es ihm als Refugium der schriftlichen Selbstmitteilung galt: „Ich rette mich immer wieder […] in diese Notizen.“ (Klemperer 1995b: 182) schreibt er in einem Eintrag vom 26. Juli 1942. Er eignet sich durch den Schreibakt die ihm enfremdete Wirklichkeit bzw. den ihm verbotenen Handlungsraum wieder an. So heißt es im Juni 1941, nach einer einwöchigen Haft in einer SS-Zelle: „An meinem Bleistift klettere ich aus der Hölle [...] zur Erde zurückt.“ (Klemperer 1995a: 638) seits aber auch die subjektkonstituierenden Schreibeffekte. Zum Begriff der Performativität in der Diaristik-Theorie vgl. Marsza ek (2003: 55-61). 5 In diesem Kontext hebt Klemperer die Gefahr der ubiquitären Politisierung der Sprache durch die nationalsozialistische Ideologie hervor: „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ (Klemperer 2001: 27) Der Autor versucht, entgegen dieser Tendenz, sich der Klassifizierungsmacht des Nazi-Diskurses zu entziehen, indem er seine nationale Identität gegen die antisemitische Eugenik und den Sozialdarwinismus des Nationalsozialismus in Schutz nimmt, wie er z.B. am 28. Januar 1943 bemerkt: „Über die Zugehörigkeit der Nation entscheidet weniger das Blut als die Sprache.“ (Klemperer 1995b: 322) Arvi Sepp 186 In seinem Aufsatz „Im Wort wohnen - Sprache als Heimat“ schreibt Rüdiger Görner: „Das vorige Jahrhundert, das Zeitalter der Vertreibungen [und der Verfolgungen] [...] hat zu den verschiedensten Selbstbeheimatungsversuchen durch Schreiben geführt. Der Schreibtisch [...] wurde [...] zur Enklave des Eigenen.“ (Görner 2004: 1149) Die Schrift wird in diesem Sinne zum textuellen Ersatz für die fehlende Öffentlichkeit, Freiheit und Sicherheit und avanciert somit selbst zu einer existenziellen Kategorie, zu einem sinnstiftenden Lebensinhalt des Verfassers. In seiner 2005 erschienenen Veröffentlichung ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz drückt Ottmar Ette die Funktion autobiographischen Schreibens für Opfer der Shoah folgendermaßen aus: Literatur und Schreiben werden hier zu jener Kraft, die verhindert, daß der Ausnahmezustand einer derartigen Extremsituation Besitz von Menschen ergreift. [...] Denn [...] für ihn ist das Gerade-noch-Entronnensein die einzige Heimat, die in einer Welt noch denkbar ist, die weitgehend zum Lager geworden ist. (Ette 2005: 52; 54) Die Feststellung, dass das Tagebuch einen Schutzraum gegen lebensbedrohliche Verunsicherung darstelle, ließe sich weithin auf Klemperers Tagebücher übertragen, denn, so schreibt er selbst: „Ich arbeite [im Tagebuch] über das Grauen vor dem Mord in der Zelle hinweg.“ (Klemperer 1995b: 192) An einer anderen Stelle betont Klemperer, es gehe dem Tagebuchschreiber (a forterio dem Tagebuchschreiber in lebensbedrohlichen Umständen) „ums Fortdauern, er möchte persönlich länger hier sein, mit seinem ganzen Ich, mit Haut und Haaren, auch wenn Ich längst nicht hier ist.“ (Klemperer 1996a: 7f.) 6 Die beiden vorhergehenden Zitate stellen, wie Avishai Margalit in Ethik der Erinnerung (2002) hervorhebt, die minimale Hoffnung an die im Text eingeschriebene virtuelle Ich-Projektion dar, aus dem eigenen Bedürfnis, dem Erlebten etwas entgegenzusetzen, eine gastfreundliche Gegenöffentlichkeit zu schaffen. An ihnen wird ersichtlich, dass das Konzept der Autohospitalität, von dem im Rahmen des vorliegenden Beitrags ausgegangen wird, die Möglichkeit eröffnet, das Tagebuch nicht bloß als literarische Gattung zu betrachten, sondern auch als kulturelle und mediale Praxis zu begreifen. 7 6 Das Verlangen, eine graphische Spur der eigenen Existenz zu hinterlassen, bringt den Tagebuchautor dazu, die Tagebuchmanuskripte durch seine Ehefrau Eva - trotz der reellen Gefahr, kontrolliert zu werden, - regelmäßig zu einer befreundeten Ärztin in Pirna bringen zu lassen: „Eva will die Blätter heute nach Pirna schaffen. [...] Jedesmal eine besondere Furcht und eine besondere Gewissensbelastung für mich. Wofür exponiere ich Eva? Vanitas! “ (Klemperer 1995b: 377) Auf ähnliche Weise bekannte Klemperer bereits einige Zeit zuvor: „Fraglos ist diese Schreiberei, dies Manuskript im Hause eine ständige Lebensgefahr - auch für manchen darin Erwähnten. Und doch kann ich das Schreiben nicht lassen.“ (Ebd.: 348) 7 Autohospitalität ist zwar nicht das Charakteristikum des Tagebuchs der NS-Zeit schlechthin, aber in Krisenzeiten mag sie eine durchaus dominante Funktion der Gattung erfüllen: den Ersatz fehlender Sicherheit und Freiheit. Die Funktion des Tagebuchs oszilliert aber beständig zwischen Introspektion (Autohospitalität), Zeugnis (Hetero- Victor Klemperers Tagebücher 1933-1945 als Orte der Autohospitalität 187 Wie Klemperer selbst bemerkt, war das Führen eines Tagebuchs oder das Verfassen einer Autobiographie im Dritten Reich bei Juden eine durchaus gängige Praxis. So erklärt Klemperer in dem nachfolgenden Eintrag: „Vanitas vanitatum. Als ich das Curriculum begann, schrieb mir Georg, auch er schreibe an seiner Vita. Dann traf ich Gehrig: Er schreibt an seiner Vita. [...] So schreiben jetzt alle herausgeworfenen Juden ihre Autobiographie, und ich bin einer von zwanzigtausend.“ (Klemperer 1995a: 570) Der Autor des Tagebuchs bzw. Autobiograph geht davon aus, dass das geschriebene Ich aussagekräftige und konservierbare Spuren hinterlässt, deren Wirksamkeit im Dienste des Subjekts steht. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass, wie auch Derrida unterstreicht, die Frage der Autohospitalität unauflösbar mit der der Heterohospitalität verbunden ist: „Ich will bei mir zu Hause Herr sein (ipse, potis, potens, Hausherr [...]), um empfangen zu können, wen ich möchte.“ (Derrida 2001: 45; Hervorhebung im Original) Die Berichte in Klemperers Tagebüchern handeln tatsächlich nicht nur vom eigenen Selbst, sondern auch von den vielen jüdischen Menschen - Bekannten, Freunden im Dresdener Judenhaus -, die wahrscheinlich keinen anderen Grabstein mehr haben als seine Tagebücher. Klemperer lässt zum Beispiel der Ehefrau des Vorstehers der jüdischen Gemeinde, als er von ihrer bevorstehenden Deportation erfährt, eine Nachricht, über die sie sich sehr freute, zukommen, in der er schrieb: „[W]enn ich noch einmal zum Publizieren käme, würde ihr Name in meinem Opus eine Rolle spielen.” (Klemperer 1995b: 393) Zeugnis ablegen bedeutet in dieser Hinsicht also mit den Worten von Giorgio Agamben in Was von Auschwitz bleibt: “in der eigenen Sprache die Position desjenigen einzunehmen, der sie verloren hat.” (Agamben 2003: 141) Klemperer rückt vor diesem Hintergrund die Namenlosen ins Blickfeld, um ihre Geschichten zu erzählen. 8 Die Akkumulation von unzähligen Kurzporträts und Charakterisierungen anderer Menschen stellt in den Tagebüchern eine Art Archiv dar, das ein Netz von Eigennamen bzw. einen spezifischen intertextuellen Raum generiert: „Was an mir liegt, so soll das Judenhaus Caspar-David-Friedrich-Straße 15b mit seinen vielen Opfern berühmt werden.“ (Klemperer 1995b: 230) Das Tagebuch dient also als Medium des Gedenkens: Schreibend vergegenwärtigt sich der Autor wichtige Bezugspersonen (vgl. Moser 2006: 128). Aber als textuelles Medium dient das Tagebuch vordergründig als ‚gastfreundliches’ Rückzugsgebiet, wo er er selbst sein kann und über seine per- hospitalität) und Chronik (Aufzeichnung der Zeitgeschichte). Für eine kurze Darstellung des Tagebuchs als Ort der (Auto-)Hospitalität vgl. Milon (2005: 29ff.). 8 Das Prinzip des Auflistens der Namen und der Identitätszuschreibungen sonst anonymer KZ-Insassen in Max Aubs Erzählung „Das Rabenmanuskript“ kann m.E. durchaus auf die Heterohospitalität in Victor Klemperers Zeugnis der Judenverfolgung übertragen werden. Das Namentlichwerden der Opfer der Shoah in autobiographischer Literatur drückt Ottmar Ette wie folgt aus: „Gesichter werden der Gesichtslosigkeit entrissen, Schicksale für einen Augen-Blick beleuchtet, bevor sie wieder ins Amorphe, ins Gesichtslose einer Statistik des Faktischen zurückfallen.“ (Ette 2005: 53f.) Arvi Sepp 188 sönlichen Belange reflektieren kann. Die Produktion von Subjektivität als diskursivem Sinneffekt hängt nicht nur an Sprache, sondern in ihrer Realisierung an einer bestimmten medialen Form. Der Begriff Heimat verschiebt sich folglich auf eine metaphorische Ebene: Es handelt sich um eine Beheimatung des Selbst - und erst an zweiter Stelle der Anderen - im Medium des Tagebuchs. Angesichts der zunehmenden Verfolgung, Unterdrückung und Isolation blieb der Akt des Tagebuchschreibens für Klemperer als einziger Weg zur individuellen Selbstverwirklichung und Sinnstiftung. Diesbezüglich schreibt Klemperer in der Einführung zu seiner Autobiographie: „Ich mußte mir über alles schriftliche Rechenschaft ablegen, sonst fehlte mir das Gefühl der Klarheit und sozusagen des Fertigseins mit meinen Erlebnissen.“ (Klemperer 1996a: 6f.) Dieses Schreiben wird Klemperer während der NS-Zeit zur Überlebenshilfe, um, wie er in einer Notiz vom 5. Mai 1943 zu erkennen gibt, gegen „das Gefühl des Totseins, des unwiederbringlichen Lebensverlustes“ zu kämpfen (Klemperer 1995b: 371). 3. Narrative Identität Das Trauma des Nationalsozialismus und die ständige Todesangst führen zu einer Verflüssigung der bisher von Klemperer als unverrückbar betrachteten Selbst-Identität, die nunmehr im Tagebuch tagtäglich neu gesetzt wird. Diese diachrone Wandelbarkeit des Selbst kann adäquat mit Kategorien der narrativen Psychologie erfasst werden. Diese geht nämlich davon aus, dass wir unser ganzes Leben sowie unsere Beziehung zur Welt als Narrationen gestalten und auch die alltägliche Interaktion und die Organisation von Erlebtem narrativ betreiben (vgl. Polkinghorne 1998: 32). Der Ansatz einer narrativen Identität eignet sich, um am Beispiel Klemperers die subjektive Konstruktion von Identitätsprojekten einerseits und ihre soziale Vermittlung andererseits zu analysieren. Ausgangspunkt für diesen Ansatz ist die Überlegung, dass das Subjekt sich und seine Erfahrungen erzählend, in Geschichten organisiert. Wichtig ist, dass es sich dabei um Geschichten (im Plural) handelt, da die Lebensgeschichte keineswegs ein stabiles Konstrukt ist, sondern ein work in progress. Die transitorische Identität, der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse, wie Straub und Renn ihn nahelegen, verweist auf „die Momente der Beweglichkeit, der Zeit, des Handelns und der sozialen Prägung jener notorisch vorläufigen [...] Identität.“ (Renn/ Straub 2002: 13) Philippe Lejeune charakterisiert das Tagebuch daher als brouillon de soi, als vorläufiges Konzept des Selbst. 9 Die im Tagebuch hervortretende Prozesshaftigkeit der personalen Identität kann gewinnbringend als innere Reise des Selbst betrachtet werden. In diesem Sinne schreibt sich die Gattung Tagebuch in eine vom Bildungsroman bis zu Homers Ilias zurückreichende literarische Tradition ein, in der der stationenhaften Entwicklung des Selbst der Hauptfigur eine zentrale Bedeu- 9 Zum Begriff des ‚brouillon de soi‘ vgl. Lejeune (1998: 7f.). Victor Klemperers Tagebücher 1933-1945 als Orte der Autohospitalität 189 tung zukommt. Der innere Kampf und die Veränderungen in Klemperers Tagebüchern sind deshalb aufschlussreich, weil sie, jenseits von Antisemitismus und Politik, die Schwierigkeit jedes Individuums zeigen, im Spannungsfeld von Selbsterschaffung und äußerer Restriktion eine Identität zu definieren, zu etablieren und zu verhandeln. Klemperers Tagebücher aus der nationalsozialistischen Zeit werden mithin zum Ort eines Prozesses, in dem der Autor seine politische, religiöse und soziale Identität zu gestalten bzw. neuzugestalten vermag. Alles Private durchdringende Ereignisse wie die Machtergreifung Hitlers, die so genannte Reichskristallnacht, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust bedingen während der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft eine lebensgeschichtliche Phase erhöhter Selbstreflexivität und folglich einer ständigen Neuformierung des Ich im Tagebuch. Der existenzielle Ich- Entwurf Klemperers, der als instabile Identität seinen Ausgangspunkt im Entschwinden von Beobachtungssicherheit und Handlungssouveränität findet, kann sich in jedem Eintrag jeweils neu gestalten. Klemperer (2001: 19f.) schreibt: „morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.“ Im diaristischen Prozess stellt sich heraus, dass das Ich von heute nicht mit dem von gestern identisch ist. 10 Der Verfasser des Tagebuchs konstituiert sich im täglichen Text jeweils neu. In jedem Eintrag versucht sich Klemperer - vergeblich, so stellt sich später heraus, - an einer stabilen Selbstdefinition, an seinem Deutschsein, festzuklammern: Die Umkehr der assimilierten Generation - Umkehr wohin? Man kann nicht zurück, man kann nicht nach Zion. Vielleicht ist es überhaupt nicht an uns zu gehen, sondern zu warten: Ich bin deutsch und warte, dass die Deutschen zurückkommen; sie sind irgendwo untergetaucht. (Klemperer 1995b: 105; Hervorhebung im Original) Dieses Bekenntis zum Deutschsein wird sich aber zunehmend als unhaltbar erweisen. Es handelt sich im obigen Eintrag um eine narrative Selbstdarstellung, die dem emanzipatorischen deutsch-jüdischen Assimilationswunsch verhaftet bleibt, die aber allmählich durch hybride Identitäten ersetzt wird. Am 14. September 1943 notiert Klemperer beispielsweise: „Gibt es den Deutschen, gibt es den Juden? “ (Klemperer 1995b: 426f.; Hervorhebung im Original) Victor Klemperers Tagebücher aus dem Dritten Reich werden durchkreuzt von unbeständigen Spuren und unsicheren Versuchen einer per- 10 Das Tagebuch stellt in dieser Hinsicht ein oppositionelles Konzept zur klassischen Autobiographie dar, da es in erster Linie der Artikulation von Vielfältigkeit, des widersprüchlichen und instabilen Selbst dient. Das Festhalten von Serien aktueller Ereignisse steht im Widerspruch zur homogenisierenden Perspektive auf die Ich-Vergangenheit, die für die traditionelle Autobiographie kennzeichnend ist. Den Unterschied zwischen Autobiographie und Tagebuch drückt Klemperer (1996a: 515) folgendermaßen aus: „Ich kann [in der Autobiographie] immer nur nacheinander fixieren, was mich beflügelte und was mich zu Boden drückte, aber ich vermag nicht [wie im Tagebuch] das ständige Ineinander der beiden Gefühle wiederzugeben.“ Arvi Sepp 190 sönlichen Verortung. Der antisemitische Diskurs gilt im Tagebuch als Auslöser für die weitgehend dominierende Auseinandersetzung des Ich mit dem Alltag und führt zu einer Neudefinition der eigenen Identität. In seinem Aufsatz „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“ beschreibt Jean Améry die gesellschaftliche Dynamik der Identitätsbildung bzw. -zuschreibung dahingehend, dass man nur Jude ist „durch die bloße Tatsache, daß die Umwelt [...] [einen] nicht ausdrücklich als Nichtjuden fixiert. Etwas sein kann also bedeuten, daß man etwas anderes nicht ist.“ (Améry 1977: 147; Hervorhebung im Original) Dem stimmt auch Victor Klemperer in einem Eintrag vom 16. April 1941 zu: „[I]ch urteile als Jude, weil ich als solcher von der jüdischen Sache im Hitlertum besonders berührt bin, und weil sie in der gesamten Struktur, im ganzen Wesen des Nationalsozialismus zentral steht und für alles andere uncharakteristisch ist.“ (Klemperer 1995a: 588) In Bezug auf die von ihm als auferlegt und künstlich empfundene jüdische Identität schreibt Klemperer einige Monate später: „Hitler hat buchstäblich das ‚Volk der Juden‘, das ‚Weltjudentum‘, den Juden geschaffen.“ (Klemperer 1995a: 695; Hervorhebung im Original) Als 1933 viele Juden in Deutschland ihre deutsche Identität grundsätzlich in Frage stellten, beharrte Klemperer darauf, dass „ich Deutscher sei und gerade ich.“ (Klemperer 1995a: 67; Hervorhebung im Original) Diese emphatische Selbstdarstellung als Deutscher spricht die Problematik des assimilierten bzw. säkularisierten deutschen Judentums an, die sich wie ein roter Faden durch Klemperers Tagebucheinträge zieht. Klemperer definierte sich vor 1933 fast ausschließlich über sein deutsches Denken und Fühlen, aber mit der Machtergreifung Hitlers wurde ihm vom Nazi-Regime seine deutsche Identität aberkannt. Mit dem Zusammenbruch des Narrativs der Weimarer Republik und deren Werten sieht sich Klemperer dazu veranlasst, seine Haltung bzw. Identität zu reflektieren und sich neu zu orientieren. Das Tagebuch ist in diesem Sinne für Klemperer ein wichtiges Mittel sozialer bzw. kultureller Identitätsbildung, dem für ihn im Dritten Reich eine autotherapeutische Funktion zukam, denn das Niederschreiben von Erlebtem konnte dazu dienen, die belastenden Erfahrungen zu bewältigen. Das Tagebuch wird folglich zum einzigen Ort, an dem der aus dem Heute ausgebürgerte Autor noch willkommen ist, an dem sich Klemperer seines eigenen Wertes und seiner Heimat bewusst bleibt. So heißt es in einem Eintrag vom 28. Juni 1942: „Und wenn ich auch Deutschland haßte, [...] ich könnte mir das Deutsche nicht ausreißen. Und ich möchte hier wieder aufbauen helfen.“ (Klemperer 1995b: 148) 4. Ankunftspunkt Tagebuch In Gott schütz uns vor den guten Menschen lenkt der österreichische Dichter Robert Schindel den Blick auf die Dialektik von Heimat und Heimatlosigkeit als grundlegende Erfahrung der jüdischen Identität: Victor Klemperers Tagebücher 1933-1945 als Orte der Autohospitalität 191 Heimat zu produzieren inmitten der Heimatlosigkeit selbst. Hier geht es um den Unterschied, der darin besteht, ob ich eine Heimat vorfinde, in die sie hineingeboren werde, oder ob ich eine Heimat nach und nach erst produzieren muß, in die vorgefundene Umwelt hinein, denn diese Umwelt hat uns Juden stets gelehrt, daß sie unsere Heimat nicht sein mag. (Schindel 1995: 33f.) Diesem Gefühl des Verlustes der Heimat kommt auch in Klemperers Tagebüchern nach und nach eine zentrale Rolle zu. Die umwälzenden geschichtlichen Ereignisse im Dritten Reich werden aber - soweit möglich - vom Gang des täglichen Lebens und vom kontinuierlichen Tagebuchschreiben konterkariert. Die Aufzeichnungen schaffen somit ein Reservat der Ordnung und der Hoffnung im Ausnahmezustand und erweisen sich als Kompensation für Defizite, Widersprüche und Zwänge der Wirklichkeit. Das unentfremdete Leben, seine nationale Identität und persönliche Autonomie, die die nationalsozialistische Gesellschaft verwehrt, rückt Klemperer in der imaginären Innenwelt des Tagebuchs, die er im täglichen Schreibprozess erst herstellt, in greifbare Nähe. Die diaristische Zeitzeugenschaft Victor Klemperers gilt vor diesem Hintergrund auch als spiegelverkehrte Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus, indem in den Tagebüchern die beschriebene historische Lebenswelt zur Spiegelung der eigenen Ausgrenzung, der eigenen Heimatlosigkeit wird. Aber immer mehr wird diese Suche nach einem stabilen Selbst zu einer Heim-Suchung, zu einem unheimlichen Versuch, die Verbindung mit der eigenen Herkunft wiederherzustellen. Ihm entgegengesetzt sind die verschiedenen Möglichkeiten, diese Wirklichkeit zu domestizieren oder zu eliminieren. Klemperers Tagebücher sind demnach Sinngehäuse, die gewissermaßen vor dem Absolutismus der Realität im Dritten Reich schützen. Sie sind Orte der Autohospitalität in Zeiten von Heimatlosigkeit. Arvi Sepp 192 Bibliographie Agamben, Giorgio. 2003. Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Améry, Jean. 1977. Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart: Klett-Cotta. bin Gorion, Emanuel. 1938. „Wissen ist Trost.“ In: Der Morgen 5 (August): 214-215. Burt, Ellen S. 2004. „Hospitality in Autobiography. Levinas chez De Quincey.“ In: English Language History 71.4: 867-897. Corrado, Danielle. 2004. „L’hôte intime: figures du narrataire dans le journal.“ In: Alain Montandon (Hg.). De soi à soi: L’écriture comme autohospitalité. Clermont- Ferrand: Presses Universitaires Blaise Pascal. 83-96. Derrida, Jacques. 2001. Von der Gastfreundschaft. Wien: Passagen. Ette, Ottmar. 2005. ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos. Görner, Rüdiger. 2004. „Im Wort wohnen - Sprache als Heimat.“ In: Universitas 11: 1147-1153. Gymnich, Marion. 2003. „Individuelle Identität und Erinnerung aus Sicht von Identitätstheorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung.“ In: Astrid Erll, Marion Gymnich & Ansgar Nünning (Hgg.). Literatur - Erinnerung - Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: WVT. 29-48. Klemperer, Victor. 1995a. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1933-1941. Berlin: Aufbau-Verlag. ___. 1995b. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1942-1945. Berlin: Aufbau-Verlag. ___. 1996a. Curriculum Vitae: Erinnerungen 1881-1918. Band 1. Berlin: Aufbau-Verlag. ___. 1996b. Curriculum Vitae: Erinnerungen 1881-1918. Band 2. Berlin: Aufbau-Verlag. ___. 2001. LTI - Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam. Laouyen, Mounir. 2004. „Le texte autobiographique: une demeure à soi? “ In: Alain Montandon (Hg.). De soi à soi: L’écriture comme autohospitalité. Clermont-Ferrand: Presses Universitaires Blaise Pascal. 125-142. Lejeune, Philippe. 1998. Les brouillons de soi. Paris: Seuil. Lévinas, Emmanuel. 2002. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg/ München: Karl Alber. Margalit, Avishai. 2002. Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Fischer. Marsza ek, Magdalena. 2003. ‚Das Leben und das Papier‘. Das autobiographische Projekt Zofia Na kowskas Dzienniki 1899-1954. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren. Milon, Alain. 2005. L’écriture de soi: ce lointain intérieur. Moments d’hospitalité littéraire autour d’Antonin Artaud. La Versanne: encre marine. Montandon, Alain. 2002. Désirs d’hospitalité. De Homère à Kafka. Paris: Presses Universitaires de France. ___. 2004. „En guise d’introduction. De soi à soi: les metamorphoses du temps.“ In: Ders. (Hg.). De soi à soi: L’écriture comme autohospitalité. Clermont-Ferrand: Presses Universitaires Blaise Pascal. 7-27. Moser, Christian. 2006. „Autoethnographien: Identitätskonstruktionen im Schwellenbereich von Selbst- und Fremddarstellung.“ In: Ders. & Jürgen Nelles (Hgg.). Au- Victor Klemperers Tagebücher 1933-1945 als Orte der Autohospitalität 193 toBioFiktion. Konstruierte Identitäten in Kunst, Literatur und Philosophie. Bielefeld: Aisthesis. 107-143. Polkinghorne, Donald E. 1998. „Narrative Psychologie und Geschichtsbewusstsein. Beziehungen und Perspektiven.“ In: Jürgen Straub (Hg.). Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 12-45. Regard, Frédéric. 2000. „‚Géotobiographies. Introduction aux géographies de soi.‘“ In: Ders. (Hg.). L’autobiographie littéraire en Angleterre (XVIIe-XXe siècle). Géographies de soi. Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne. 11-33. ___. 2003. „Topologies of the Self: Space and Life-Writing.“ In: Ders. (Hg.). Mapping the Self: Space, Identity, Discourse in British Auto/ Biography. Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne. 15-30. Renn, Joachim & Jürgen Straub. 2002. „Transitorische Identität. Der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse.“ In: Dies. (Hgg.). Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst. Frankfurt a.M./ New York: Campus. 10-31. Schindel, Robert. 1995. Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis - Auskunftsbüro der Angst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schlink, Bernhard. 2000. Heimat als Utopie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Zipes, Jack. 1997. „Disparate Voices and the Dialectic of the ‚Shoah Business‘ in Germany: Victor Klemperer and Rose Ausländer, Our Contemporaries.“ In: Jeffrey Peck (Hg.). German Cultures. Foreign Cultures: The Politics of Belonging. Washington: American Institute for Contemporary German Studies. 17-40. IV. Gender und Reise- und Selbsterfahrung Nina Johansson Eine Regentin, zwei Bilder: Konstruktionen von weiblicher Regentschaft in den Schriften der Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1510-1558) Die Verbindung von Frauen und Regentschaft war in der Frühen Neuzeit eine heikle Angelegenheit. Es gab in dieser Periode zwar recht viele Frauen, die regierten - entweder als selbstständige Regentinnen, als Konsorte oder als Mutter/ Witwenregentinnen, so etwa Elizabeth Tudor in England, Mary Stuart in Schottland, Kristina in Schweden und Katharina de Medici, die in Frankreich eine sehr erfolgreiche vormundschaftliche Regentschaft innehatte, um nur einige besonders bekannte Namen zu nennen. Trotzdem war die Vorstellung von einer Frau auf dem Thron für viele Zeitgenossen schwer zu akzeptieren. Der dominierenden frühneuzeitlichen Auffassung nach waren Frauen Männern sowohl anatomisch als auch intellektuell und moralisch unterlegen und sollten folglich nicht regieren, sondern regiert werden. Die Regentin war in diesem mentalitätsgeschichtlichen Kontext eine Erscheinung, die die natürliche Ordnung auf den Kopf stellte und deren Existenz gerechtfertigt werden musste. 1 Die Frage danach, wie regierende Frauen in der Frühen Neuzeit versucht haben, ihre Stellung zu legitimieren und sich Autorität zu verschaffen, ist in den letzten Jahrzehnten zum Fokus mehrerer wissenschaftlicher Arbeiten geworden. Diese Studien haben gezeigt, dass die Selbstbilder, die geschaffen wurden, häufig darauf abzielten, das Geschlecht der Regentin zu leugnen und ihre männlichen Züge hervorzuheben. Genauso wie die ‚guten Wilden‘ der frühneuzeitlichen Reiseberichte manchmal mit europäischen Charakterzügen versehen wurden, 2 wurden ‚gute Frauen‘ in dieser Zeitperiode häufig als ‚männlich‘ beschrieben, was sich auch auf die Selbstdarstellung der Regentinnen ausgewirkt hat. Die vielleicht berühmteste Selbstinszenierung, die auch viel wissenschaftliche Beachtung gefunden hat, ist die von Elizabeth Tudor in England, die sowohl ihre Asexualität und ihren Jungfrauenstatus als auch ihre Verwandtschaft mit großen männlichen Regenten hervorhob. 3 Auch Königin Kristina hat durchgehend ihre Androgynität betont - nicht nur rhetorisch in ihren autobiographischen Schriften, sondern auch durch ihr ganzes Auftreten. 4 Die Witwenregentinnen benutzten in der Regel nicht das Androgynitätsargument, sondern wiesen auf ihre Rolle als Witwe und Mut- 1 Zur Diskussion über Frauen und Regentschaft in der Frühen Neuzeit siehe z.B. Hansen (1998); Jansen (2002); Opitz (2001); Wunder (1997); Wunder (2003); Zemon Davies (1994). 2 Siehe den Beitrag Vera Nünnings in diesem Band. 3 Vgl z.B. Berry (1989); Hackett (1995); Levine (1994). 4 Die Forschung zu Kristina und ihrer Selbstinszenierung ist bisher vor allem von schwedischen WissenschaftlerInnen betrieben worden. Vgl. z.B. Haettner Aurelius (1996); Borgström (1997 und 2002); Tegenborg Falkdalen (2003). Nina Johansson 198 ter hin. Sie betonten ihre Pflichten männlichen Familienmitgliedern gegenüber und erklärten so ihre Position als dynastischen Interessen untergeordnet. Dies war z.B. bei Katharina de Medici der Fall, die sich als treusorgende Mutter und Witwe stilisierte, um ihr politisches Tun zu rechtfertigen (vgl. Crawford 2000). Die Forschung zu regierenden Frauen und ihren Selbstbildern in der Frühen Neuzeit bestätigt die neueren Theorien über die Welt und das Selbst als kulturell und historisch bedingte Konstruktionen, die in den letzten Jahrzehnten präsentiert worden sind und die auch in mehreren Beiträgen in diesem Band hervorgehoben werden; 5 die oben diskutierten Frauen zeichneten alle Bilder von sich selbst, die mit vorgegebenen Ideen darüber, wie eine Regentin zu sein habe, übereinstimmen, und waren dadurch in der Lage, ihre Position zu legitimieren. Ihre Selbstdarstellung kann als eine ‚Performanz‘ 6 im Dialog mit der Kultur betrachtet werden, und es ist deutlich, dass die innere Reise, die diese Frauen unternahmen, um ihre Identität als Regentinnen zu finden, innerhalb bestimmter Grenzen erfolgte. Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg gehört zu den bekanntesten deutschsprachigen Regentinnen der Frühen Neuzeit und ist vor allem auch deswegen interessant, weil sie selbst in einer Anzahl längerer Schriften ihr Leben und ihre Zeit als Witwenregentin dokumentiert hat. Das wissenschaftliche Interesse an Elisabeths Texten und den Beschreibungen von weiblicher Regentschaft, die sich darin finden, ist dennoch bisher relativ gering gewesen. Wir wissen wenig darüber, wie die Herzogin Elisabeth sich als Regentin konstruiert - wie sie sich zwischen Fremd- und Selbstbestimmung in einem kulturellen Kontext definiert, in dem ihre Ausdrucksmöglichkeiten als Frau und Herrscherin stark eingeschränkt waren. In diesem Beitrag soll ein spezifischer Aspekt dieses Problems behandelt werden, nämlich die Frage, wie Elisabeth sich in ihren eigenhändig verfassten Schriften sowie in den offiziellen Traktaten, die in ihrem Namen herausgegeben wurden, als Frau und Regentin darstellt. Es soll diskutiert werden, ob und inwiefern die amtlichen Schriften Elisabeths, die eine andere Funktion erfüllten als die eigenhändigen und die zudem in Zusammenarbeit mit Beratern verfasst wurden, sich von ihren nicht-offiziellen Texten unterscheiden - ob sich also die von Ansgar Nünning in diesem Band vorgeschlagene These, dass sich Gattung und Schreibsituation auf die Beschreibung von Selbst und Welt auswirken, in Bezug auf die Schriften der Herzogin bewahrheitet. Die zwei wichtigen Fragen, die es zu beantworten gilt, sind die folgenden: Wie legitimiert Elisabeth in den verschiedenen Schriften ihre Regentschaft, und wie konstruiert sie ihre Autorität als Regentin? Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg wurde 1510 als zweite Tochter Joachims I. von Brandenburg und seiner Gemahlin Elisabeth von Dänemark geboren. Sie wurde mit fünfzehn an den 40 Jahre älteren Herzog Erich von 5 Siehe vor allem die Beiträge von Mary Campbell, Marion Gymnich, Ansgar Nünning und Vera Nünning. 6 Siehe Campbell in diesem Band. Eine Regentin, zwei Bilder 199 Braunschweig-Lüneburg verheiratet, der über das Fürstentum Calenberg- Göttingen herrschte. Die Ehe verlief trotz des selbst für die Frühe Neuzeit großen Altersunterschieds glücklich; Elisabeth brachte vier Kinder zur Welt - einen Sohn und drei Töchter -, und die Ehegatten lebten auch nach dem Übertritt Elisabeths zum evangelischen Glauben im Jahre 1538 in Frieden miteinander. Nach dem Tod Erichs im Jahre 1540 erkämpfte sich Elisabeth die Vormundschaft für den noch nicht erwachsenen Sohn und hatte bis zu seinem Mündigwerden im Jahre 1545 oder 1546 7 die Regentschaft im Fürstentum inne. Obwohl ihre Zeit als Regentin von vielen Schwierigkeiten geprägt war und sie sowohl mit den Schulden, die ihr Mann dem Land hinterlassen hatte, als auch mit den Vorurteilen derer, die ihren Anspruch auf den Thron nicht anerkennen wollten, zu kämpfen hatte, nutzte Elisabeth ihre Position als Regentin und führte zahlreiche soziale und politische Reformen im Fürstentum durch, von denen die lutherische Reformation als die wichtigste zu betrachten ist. Nach der Übernahme der Regentschaft durch ihren Sohn ging sowohl der finanzielle als auch der politische Kampf der Herzogin weiter. Elisabeth wurde in den Friedensverhandlungen nach der blutigen Schlacht von Sievershausen im Jahre 1553 ihr Witwengut entzogen, und sie musste danach zwei Jahre lang unter erbärmlichen Umständen und hoch verschuldet in Hannover leben, bis sie endlich das Herzogtum verlassen konnte. Weiterhin kämpfte sie bis zu ihrem Tod gegen die Versuche ihres Sohns, die Reformation rückgängig zu machen, das Land Calenberg-Göttingen in einen katholischen Bund einzugliedern und die Familie durch Heiratspolitik mit altgläubigen Fürstenhäusern zu verbinden. Nach Jahrzehnten politischer Streitigkeiten und finanzieller Probleme gab Elisabeth von Braunschweig- Lüneburg Ende der 1550er Jahre schließlich alle Hoffnung auf. Sie erkrankte und starb im Jahre 1558. 8 Elisabeths Schriften bestehen teils aus Texten mit didaktischem Anspruch - einem Sendbrief an die Untertanen aus dem Jahr 1544, 9 einem Regierungshandbuch für ihren Sohn aus dem Jahr 1545, 10 einem Ehestandsbuch für ihre Tochter Anna Maria von Preußen aus dem Jahr 1550 11 und einem Witwentrostbuch aus dem Jahr 1556 12 - teils aus Devotionalliteratur - einem Gebet- 7 Über den Zeitpunkt der Regierungsübernahme Erichs II. besteht in der Forschung kein Konsens. Siehe hierzu Stelzel (2003: 21). 8 Für einen vollständigeren Überblick über die Biographie der Herzogin Elisabeth vgl. z.B. Nebig (2006). 9 Diese Schrift wurde erst 1545 gedruckt. 10 Dieser Text wurde als Handschrift überliefert und im Jahre 1899 zum ersten Mal in den Druck gegeben (vgl. Tschackert 1899). 11 Auch dieser Text wurde als Handschrift überliefert und erst durch Tschackert in den Druck gegeben. 12 Diese Schrift ist vermutlich schon früher als 1556 enstanden, wurde aber in dem Jahr zum ersten Mal in den Druck gegeben. Der Text wurde danach nicht weniger als vier Mal (1571-79, 1598, 1606, 1609) neu aufgelegt. Nina Johansson 200 buch aus dem Jahr 1550 13 und einer Liedersammlung, die während der Gefangenschaft in Hannover 1553-1555 verfasst wurde. 14 Man ist sich in der Forschung einig, dass diese Schriften von der Hand Elisabeths stammen und dass sie als selbstständige schriftstellerische Leistung zu betrachten sind. Die ungefähr zehn politischen Traktate, die im Namen der Herzogin veröffentlicht wurden, bestehen aus Ordnungen, Mandaten und Ermahnungsschreiben an die Untertanen. Auch eine Instruktion an die Kirchenvisitatoren im Lande Calenberg-Göttingen findet sich darunter. Diese Schriften werden normalerweise nicht als von Elisabeth selbst verfasst beschrieben; es ist in der früheren Forschung klar gemacht worden, dass die offiziellen Traktate, die im Namen der Herzogin herausgegeben wurden, weitgehend von ihren geistlichen und juristischen Ratgebern entworfen worden sind und dass Elisabeth selbst in den meisten Fällen nur am Rande beteiligt war. Die Vorworte zu den Traktaten, in denen sich die meisten Informationen über die Konstruktion weiblicher Regentschaft finden, sind generell mit dem Namen Elisabeths unterzeichnet, was darauf hindeutet, dass die Herzogin diese Abschnitte selbstständig verfasst hat und dass sie sich nur für die theologischen und juristischen Auslegungen in den Traktaten der Expertise anderer bedient hat. Da es hier um offizielle Texte geht, die als Befehl an alle Untertanen gelten sollten, ist jedoch anzunehmen, dass sie sich auch in Bezug auf die Präsentation der Ordnungen hat beraten lassen. Hier soll ausschließlich auf die im 16. Jahrhundert oder später in den Druck gegebenen amtlichen Schriften referiert werden. 15 Eine Analyse der eigenhändig verfassten Schriften Elisabeths ergibt, dass Geschlecht in diesen Texten eine wichtige Rolle spielt. Die Herzogin legitimiert ihre Regentschaft und auch ihr Schreiben als Regentin wie viele andere regierende Witwen dadurch, dass sie auf ihre Verbindung zu ihrem Gatten und ihrem Sohn hinweist und sich als Mutter und hinterbliebene Ehefrau stilisiert. Sie hebt ihre Selbstlosigkeit und ihre Liebe zu Sohn und Landeskindern hervor und zeichnet damit ein sehr traditionelles Bild von sich selbst als 13 Diese Schrift wurde erst 1551 gedruckt. Aufgrund des Fehlens einer Verfasserangabe ist der Text bisher in der Elisabeth-Forschung nicht zur Kenntnis genommen worden. Es gibt aber eine Anzahl von WissenschaftlerInnen, die in den letzten Jahren die Schrift als von Elisabeth verfasst bezeichnet haben. Jill Bepler beschreibt in einem Artikel aus dem Jahr 2003 den Text als „eine wichtige bibliographische und inhaltliche Abrundung unseres Bildes von der schriftstellerischen Tätigkeit der Herzogin“ (Bepler 2003: 309). Ulla Stelzel beschreibt in ihrer Dissertation aus demselben Jahr den Text als authentisch (vgl. Stelzel 2003: 29). Auch Gerhard Müller hat in seiner Gesamtausgabe der Schriften Andreas Osianders das Gebetbuch als von der Herzogin stammend bezeichnet (vgl. Osiander/ Müller 1994: 710f.). 14 Die Liedersammlung wurde als Handschrift überliefert und im Jahre 1914 zum ersten Mal gedruckt (vgl. Goltz 1914). 15 Zu diesen Texten zählen eine Kirchenordnung mit zugehörigem Mandat, eine Instruktion für die Visitatoren im Fürstentum Calenberg-Göttingen, eine Gewerbe- und Sittenordnung für die Stadt Münden und eine Ordnung für die Verwaltung des Mündener Hospitals aus dem Jahr 1542 sowie eine Hofgerichtsordnung aus dem Jahr 1544. Eine Regentin, zwei Bilder 201 Regentin. Im Regierungshandbuch etwa beschreibt Elisabeth ihre Annahme der Regentschaft als einen Akt, zu dem sie sich durch das Testament ihres Mannes und die Bitten des Volkes gezwungen gefühlt hat; sie behauptet, dass sie eigentlich nicht an der Regierungsaufgabe interessiert gewesen sei und sie nur des Sohns wegen angenommen habe: Nachdem ich sint dem dotlichen fal und absterben meins liben herrn und gemahels seliger . . . vermuge seiner libe aufgerichten testaments und lesten willens und auch auf vleissig undertenig suchen, bitten und anhalten der lantschaft das regiment dieser lande und furstenthum habe annehmen mussen, welchs mir dan . . . wol zu bedencken war, so hat doch . . . mich die grosse mutterliche liebe . . . zu bedencken bewogen, das mir, liber son, in deinen kintlichen jaren, als der mutter, dich in aller gotseligkeit und furstlichen tugenden aufzuzihen gepuren wolde. Bin also zu deiner wolfart und gedeien, die verwaltung des regiments auf mich zu nemen und zu laden gereitz und gezwungen worden . . . . (Regierungshandbuch: 22) Durch diesen Kommentar macht Elisabeth klar, dass sie als Frau nicht nach Herrschaft gestrebt, sondern nur ihre Pflicht als Mutter und Landesmutter erfüllt habe. Elisabeths Stilisierung von sich selbst als Mutter und Landesmutter wird auch in ihrer Beschreibung ihrer Aufgaben als Regentin deutlich. Im Sendbrief wird ihre Rolle als vormundschaftliche Regentin stark hervorgehoben, und die Herzogin macht den Untertanen deutlich, dass sie, indem sie an sie schreibt, nicht für sich selbst, sondern für den zukünftigen männlichen Regenten spricht. Auch das unmittelbare Verhältnis Elisabeths zu ihren Untertanen wird in ihren Schriften anhand des Mutterschaftsmotivs beschrieben. In den biographisch gefärbten Liedern Elisabeths wird ihre Stellung als Landesmutter häufig hervorgehoben, und in ihrem Sendbrief wird ihr Bestreben, die Untertanen in Angelegenheiten der Religion zu belehren, als auf mütterlicher Liebe und einem Gefühl der Verantwortlichkeit dem Volk gegenüber basierend beschrieben. Elisabeth knüpft schließlich auch ihre Ermahnungen an den Sohn an ihre Stellung als Mutter. Ihre Verwandtschaft mit dem jungen Fürsten wird im Regierungshandbuch durchgehend als Legitimation ihrer Unterweisung herangezogen, und Elisabeth macht hier deutlich, dass sie trotz der politischen Ausrichtung des Textes in erster Linie als Mutter schreibe und dass sie nichts als das Wohl ihres Sohns vor Augen habe. Auch was die Behauptung der eigenen Autorität betrifft, geht Elisabeth in ihren eigenhändigen Schriften von ihrem Geschlecht aus. Im Unterschied zu vielen anderen Regentinnen versucht Elisabeth nicht, ihre Weiblichkeit zu leugnen, sondern verwendet eher stereotype Vorstellungen von Frauen und Weiblichkeit, um ihre Stärke als Regentin zu behaupten. Elisabeth geht, genau wie die Kritiker weiblicher Regentschaft, von der angeblichen Schwäche der Regentin aus. Sie wandelt aber die Schwäche in eine Stärke um, indem sie darauf hinweist, dass sie als Frau und Regentin ihrer gefährdeten Stellung wegen von Gott geschützt werde und folglich nicht besiegt werden könne. Hier geschieht also, ähnlich wie in den in Marion Gymnichs Beitrag disku- Nina Johansson 202 tierten Werken von englischen Autorinnen im 19. Jahrhundert, eine Verhandlung konventioneller Vorstellungen von Geschlecht. Dass Gott sich für Witwen und Waisen einsetze, war in der Frühen Neuzeit eine weit verbreitete Vorstellung, die bei Elisabeth in einem politischen Kontext genutzt wird und durch die sie ihre unbezwingbare Stärke ihren Gegnern gegenüber behaupten kann. Diese Strategie wird sowohl im Regierungshandbuch als auch im Sendbrief benutzt. Im Regierungshandbuch beklagt sich Elisabeth in ihrem Vorwort darüber, wie sie als einsame schwache Frau Schwierigkeiten mit denjenigen gehabt habe, die sich gegen ihren Anspruch auf den Thron gewendet haben. Gott habe ihr aber im Kampf geholfen und die Feinde niedergeschlagen: Aber got der libe vater, der richter der witwen und vater der waisen, hat . . . bey uns als bey einer von menschen verlassen witwen fest gehalten und allezeit es in die wege geschicket und gerichtet, das ire anschlege und listige practicken inen gefellet und den krebsgang gegangen sein. . . . (Regierungshandbuch: 23) Im Sendbrief wird ähnlich argumentiert. Hier geht Elisabeth am Ende des Textes auf ihre eigene Situation als Witwe und Regentin ein und behauptet dabei, dass sie als regierende Frau zwar Schwierigkeiten gehabt habe, dass Gott aber „das haus der hoffertigen“ „zubrechen“ werde, während er „die grenze der witwen“ „befestigen“ solle (Sendbrief: Bl. D4r -D4v). Auch in dem Witwentrostbuch wird die Stärke der Witwenregentin durch ihre besondere Beziehung zu Gott hervorgehoben. Obwohl sich dieser Text offiziell nicht mit der Situation von regierenden Frauen beschäftigt, sondern eher mit dem Leben von Witwen im Allgemeinen, fügt Elisabeth hier Referenzen zu ihrem eigenen Dasein als Regentin ein und benutzt somit die Diskussion der Situation von Witwen insgesamt, um ihre politische Botschaft zu unterstreichen. Elisabeth benutzt schließlich auch ihre Identität als Frau, um sich Autorität gegenüber ihren Adressaten zu verschaffen. Im Regierungshandbuch weist sie auf ihr Witwendasein hin und behauptet, dass sie durch ihre Erfahrungen als Witwe und Regentin genug über die Schwierigkeiten der Regierungsaufgabe wisse, um ihren Sohn belehren zu können. Im Sendbrief zieht Elisabeth ihr Leiden als Frau und Witwe heran, um sich als Vorbild für die Untertanen darstellen zu können; dadurch, dass sie selber ein Leben als Gottes Gnade ausgelieferte verwitwete Frau geführt habe, kenne sie die Bedeutung eines wahren Gottesglaubens und dürfe deshalb das ihrer Meinung nach gottabfällige Volk dazu auffordern, zum Herrn und seinem Wort zurückzukehren. Wenn man die eigenhändig verfassten Schriften Elisabeths mit den offiziellen Traktaten vergleicht, dann wird deutlich, dass die Kategorie Geschlecht in den amtlichen Texten eine kleinere Rolle spielt als in den anderen Schriften der Herzogin. Erstens wird hier äußerst selten auf Elisabeths Stellung als regierende Frau hingewiesen, um ihre Regentschaft und ihr Schreiben zu legitimieren. Während Elisabeth in ihren eigenen Texten immer wie- Eine Regentin, zwei Bilder 203 der auf ihre mütterliche Liebe und ihre Aufopferungsbereitschaft Sohn und Untertanen gegenüber hinweist, um ihr Tun zu erklären, wird dieses Thema in den Traktaten kaum berührt. Ferner werden die Annahme der Regentschaft und deren Anlass in den meisten Fällen nicht diskutiert. Sowohl Elisabeths Stellung als Regentin als auch ihre Ermahnungen werden in den politischen Traktaten zwar verteidigt - dies geschieht jedoch normalerweise ohne Hinweis auf ihre Geschlechtszugehörigkeit. Sowohl Elisabeths Verantwortung als Fürstin dem Volk gegenüber als auch ihr Glaube und ihre Frömmigkeit werden in den verschiedenen Texten als Legitimationsstrategien verwendet. Nur selten wird aber darauf hingewiesen, dass Elisabeth ihres Geschlechts wegen ihr Tun zu rechtfertigen habe. Lediglich in dem Mandat aus dem Jahr 1542 wird die Legitimation der Regentschaft Elisabeths unter Bezug auf ihr Geschlecht diskutiert. Hier wird behauptet, dass ihre Regentschaft durch Gottes Wille, das Testament ihres Mannes und die Bitten des Volkes zustande gekommen sei und dass Elisabeth als Mutter des zukünftigen Regenten ein Recht auf Herrschaft habe (Mandat: Bl. A4). Die Beziehung zwischen Mutter und Kind wird jedoch in dieser Schrift eher als eine juristische denn als eine emotionale definiert. Elisabeth wird als die „natürliche Tutrix“ des Sohnes beschrieben - als durch Blutsverwandtschaft mit dem zukünftigen Regenten zum Thron berechtigte Mutter 16 - und ihr Recht auf Regentschaft basiert auf diesem Verhältnis, nicht auf ihrer Liebe zum Sohn und zum Volk. Diese Argumentationsweise könnte auf dem Einfluss juristischer Ratgeber beruhen und unterscheidet sich stark von der, die in Elisabeths eigenen Texten geliefert wird. Dass die Legitimation der Regentschaft gerade in diesem Text diskutiert wird, beruht vielleicht darauf, dass die Herzogin in ihrem Mandat die wirkliche Einforderung von Gehorsam in Bezug auf die Kirchenordnung und das religiöse Verhalten der Untertanen zum Ausdruck bringt und dass hier deswegen nicht nur ihr Schreiben, sondern auch ihre Stellung als Regentin erklärt werden müssen. Dass die Beschreibung von Regentschaft in den politischen Traktaten Elisabeths so wenig auf ihr Geschlecht fokussiert ist, deutet darauf hin, dass man hier Verschweigen als Strategie benutzt hat - dass man versucht hat, Elisabeth geschlechtsneutral darzustellen, statt ihre Weiblichkeit hervorzuheben. Dies könnte natürlich mit dem Einfluss der Ratgeber zu tun haben, die vielleicht eine andere Auffassung davon hatten, wie man mit dem Problem von weiblicher Regentschaft umgehen soll. Es könnte aber auch mit der Funktion dieser Texte zusammenhängen; es ist bei den offiziellen Schriften wichtig, dass die Untertanen zum Gehorsam ermuntert werden, und eine Diskussion über das Geschlecht der Regentin wäre hier vermutlich eher kontraproduktiv gewesen. Vielleicht ist es auch so, dass Elisabeth in ihren didaktischen und religiösen Schriften bereits ausreichenden Raum gefunden 16 Die Verwandtschaft zwischen Thronfolger und leiblicher Mutter wurde in den juristischen Diskussionen im deutschrömischen Reich als rechtliche Grundlage von vormundschaftlicher Regentschaft durch eine Witwe angesehen (vgl. Puppel 2004: 58). Nina Johansson 204 hat, um über ihre Position als Regentin zu reflektieren - dass sie sich nur in diesen Texten mit ihrer Rolle als Frau identifizieren und auch die Möglichkeiten dieser Rolle untersuchen konnte. Elisabeths Position als Witwe und Regentin wird in den offiziellen Traktaten ebenfalls nicht diskutiert. Es gibt in diesen Schriften keinen Hinweis auf die Stärke der Witwenregentin als Schützling Gottes, und Elisabeths Stellung als verwitwete Frau wird, anders als in ihrem Sendbrief, auch nicht verwendet, um die Untertanen zum Gehorsam zu bewegen. Dass ihr Witwentum in den Traktaten nicht als Argument benutzt wird, ist seltsam, wenn man bedenkt, dass Elisabeth in mehreren ihrer anderen Schriften ihre geschwächte Stellung als regierende Frau verwendet, um die Adressaten zu beeinflussen. Dies hat aber sicherlich mit dem oben genannten Neutralitätsgedanken zu tun, der entweder der Ratgeber oder der Textfunktion wegen in den Traktaten betont wird. Es könnte auch damit zu tun haben, dass Elisabeth sich in ihren anderen Texten häufig stark darum bemüht, dass ihre Adressaten auf sie hören; beim Schreiben ihres Sendbriefes war sich die Herzogin z.B. darüber im Klaren, dass die Einführung der Reformation nicht so problemlos gewesen war, wie sie es sich vorgestellt hatte, und es war ihr vermutlich wichtig, alle Argumente einzusetzen, die sie finden konnte. Dass in diesen Schriften nicht auf die Stärke der Witwe als Schützling Gottes eingegangen wird, hat sicherlich damit zu tun, dass diese Art von Text weniger Raum zur Reflexion über die eigene Position und zur Selbstbehauptung bietet. Das Werk der Herzogin Elisabeth zeigt, dass die Selbstdarstellung regierender Frauen in der Frühen Neuzeit nicht nur von der jeweiligen Lebenssituation der Regentin abhängig war, sondern auch von dem Kontext, in dem das Selbstbild gezeichnet wurde. Elisabeth zeichnet in ihren Schriften zwei verschiedene Bilder von sich selbst als Regentin, die auf zwei unterschiedliche Schreibsituationen ausgerichtet sind; sie kann in ihren eigenhändig verfassten Texten ihre Weiblichkeit anerkennen und damit spielen, während sie in den amtlichen Schriften ihr Geschlecht eher neutralisieren muss. So wird die Reise, die die Herzogin Elisabeth unternimmt, um sich selbst als Herrscherin zu finden, nicht nur von Zeit und Raum - von historisch und kulturell bedingten Ideen davon, wie sich eine regierende Frau zu verhalten hat, - beeinflusst, sondern auch von der Situation, in der sie schreibt. Es ist deutlich, dass die Textsorte in diesem Fall eine wichtige Rolle spielt und dass die Identität der Herzogin dementsprechend als ein nicht abzuschließender Prozess betrachtet werden muss - als etwas, das in jeder Kommunikationssituation neu verhandelt wird. 17 17 Dieser Aufsatz ist im Zusammenhang mit einem größeren Forschungsprojekt über Konstruktionen von Weiblichkeit in den Schriften der Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg entstanden. Die Ergebnisse, die hier präsentiert werden, kommen dementsprechend in der im Herbst 2007 zu erscheinenden Dissertation der Verfasserin in ähnlicher Form vor. Eine Regentin, zwei Bilder 205 Bibliographie Eigenhändig verfasste Schriften der Herzogin Elisabeth: Braunschweig-Lüneburg, Elisabeth. 1545. Ein christlicher Sendebrieff / der Durchleuchtigen hohgebornen Furstinnen und Frawen / F. Elisabeth / geborne Marggraffinnen zu Brandenburg etc. Hertzoginnen zu Braunschweich und Leuneburg etc. Witwen / an alle irer F.G. hertzlieben Sons Hertzogen Erichs Undertanen geschrieben / christliche besserung und ein newes Gottseliges leben / so in dieser lesten bosen zeit / die hohe nod fordert / belangend. Hannover: Henning Rüdem. Wolfenbüttel, Herzog August-Bibliothek: H: J 746.8º Helmst. (14). [Sendbrief an die Untertanen] ___. „Ein freuntlicher und mutterlicher underricht. Unser von gottes gnaden Elisabet, geporne marggrefin zu Brandenburg, grefin und frauen zu Henneberg, so wir aus gantz mutterlicher liebe und wol meinendem hertzen der hochgebornen furstin und frauen Anna Maria, geporne hertzogin zu Braunschweick und Luneburg, marggrefin zu Brandenburg in Preussen / / hertzogin etc, unser hertzgelibten tochter, zu irem angefangenen ehestande zu ehren und besten gestalt haben. Daraus eure liebe zu sehen, was der Ehestandt ist und fordert, und dadurch angereitzet werden mugen, darin christlich und gotselig zu leben.“ In: Tschackert 1899. 44- 55. [Ehestandsbuch] ___. 1556. Ejn anzeigung und trost aus Gottlicher Schrifft gezogen / wo von Witwen gehandelt wird / beide im Alten und Newen Testament. Leipzig/ Weimar, Herzogin Anna Amalia-Bibliothek: Aut II (92) [Witwentrostbuch] ___. 1551. Etliche schone Gebet und Trostspruche / durch ein hohe furstliche Person / aus der heiligen Schrifft gezogen. Für diejenigen / so von des heiligen Euangelions werden verfolget / und dasselbig zuerhalten gewalt mit gewalt vertreiben / und also ire Unterthanen und verwanten schutzen wollen . Königsberg: Hans Lufft. Wolfenbüttel, Herzog August-Bibliothek: A: 317.43 Theol. (7). [Gebetbuch] ___. „Unterrichtung und Ordnung, unser, von gots gnaden, Elisabeth, geborne marggrevin zu Brandenburg etc., hertzogin zu Braunschweick und Lüneburck etc., witwe, so wir aus gantz mutterlicher wohlmeinung und getreuem hertzen dem hochgebornen fursten, hern Erich, hertzogen zu Braunschweick und Luneburg, unserm freuntlichen, hertzlieben son, zu kunftiger und angehender regierung, in seinem regiment, wie er sich in dasselbige gegen got seliglich und in weltlichen regiment Gegen jdermeniglich richten und schicken sol, zu freuntlicher / / und nutzlicher underrichtung und gefallen gestalt haben.“ In: Tschackert 1899. 22-44. [Regierungshandbuch] Goltz, Freiherr von der. 1914. „Lieder der Herzogin Elisabeth von Braunschweig- Lüneburg, Gräfin von Henneberg, mitgeteilt von Freiherr von der Goltz.“ In: Zeitschrift der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 19: 147-208. [Liedersammlung] Offizielle Traktate im Namen der Herzogin Elisabeth: „Christliche, bestendige und in der schrift und heiligen veteren wol gegrünte verklerung und erleuterung der furnemesten artikel unser waren, alten, christlichen religion, fur arme, einfeltige pfarrherrn in den druck gegeben.“ In: Emil Sehling (Hg.). 1957. Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts / hrsg. von Emil Sehling. Fortgef. vom Kirchenrechtlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Nina Johansson 206 Göttingen ; Bd. 6: Niedersachsen ; Hälfte 1: Die welfischen Lande ; Halbbd. 2: Die Fürstentümer Calenberg-Göttingen und Grubenhagen mit den Städten Göttingen, Northeim, Hannover, Hameln und Einbeck. Die Grafschaften Hoya und Diepholz. Anhang: Das Freie Reichsstift Loccum. Tübingen: Mohr. [Kirchenordnung] Der Durchleüchtigen / Hochgebornen Fürstin vnnd Frawen / Frawen Elizabeth / geborne Marggrauin zu Brandenburg ec, Hertzogin zu Braunschweig vn Lüneburg beschlossen vnd verwilligtes Mandat / inn jrem Fürstenthumb Gottes wort aufzurichten / vnnd irrige / verfurte leere auszurotten / belangend. 1542. Nürnberg: Von Berg/ Neuber. Wolfenbüttel, Herzog August-Bibliothek: H: Yv 2417.8º Helmst. (4). [Mandat, Kirchenordnung] „Instructio, was die verordenten Visitatores in der durchleuchtigen und hochgeborenen furstinnen vnd frawen Elisabeth, geborn Margkgraffin zu Brandenburg vnd Herzogin zu Braunswig vnd Luneburg pp, witwen leibzugt vnd I. f. g. lieben vnmundigen Soen hertzogen Erichs furstendom in der christlichen visitation handeln sollen.“ In: Karl Kayser (Hg.). 1897. Die reformatorischen Kirchenvisitationen in den welfischen Landen 1542-1544: Instructionen, Protokolle, Abschiede und Berichte der Reformatoren. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. [Instruktion für die Kirchenvisitatoren] „Reformation, gesetz und statuten unser, von Gotts gnaden Elisabet, geborn marggrafin zu Brandenburgk etc., herzogin zu Braunschweigk und Luneburgk etc., witwen, so wir zu nutz, gedeien und aller wolfarth diesser loblichen stadt Munden als unsern besundern lieben underthan und getreuen geordent wollen haben.“ In: Emil Sehling (Hg). 1957. Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts / hrsg. von Emil Sehling. Fortgef. vom Kirchenrechtlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Göttingen ; Bd. 6: Niedersachsen ; Hälfte 1: Die welfischen Lande ; Halbbd. 2: Die Fürstentümer Calenberg-Göttingen und Grubenhagen mit den Städten Göttingen, Northeim, Hannover, Hameln und Einbeck. Die Grafschaften Hoya und Diepholz. Anhang: Das Freie Reichsstift Loccum. Tübingen: Mohr. [Gewerbe- und Sittenordnung für die Stadt Münden] „Reformation vnd satzung / vnser Elysabethen von Gotts gnaden gebornen Marggrafinnen zu Brandenburg etc. Herzoginnen zu Braunschweig vnd Leuneburg etc. Witwen / der Ober vnd hoffgericht / So wir in vnser Leibzucht Munden etc. vnd vnsers freundlichen lieben Sons herzog Erichen furstenthumen vnd Landen zwischen Deister vnd Leine vnd Vberwalt darin Gottingen gelegen / zu nutz vnd fromen / derselbigen leuthen vnd einwoner geordnet haben.“ In: Christianus Ulricus Grupen (Hg.). 1737. [Disceptationes forenses cum observationibus] Christiani Ulrici Grupen Disceptationes forenses cum observationibus: 1. De uidiciis curiae in teris Brunsvico Luneburgicis, von den Hofgerichten. II. De uidiciis provincialibus, von Land- Gerichten. . . III. De Marklo S. Marslo Saxonum campo Martio, von den sächs. heidn. Land-Tagen bey Lese Ambts Stolzenau. . . . . Lipsiae: Turpius. Herzog August- Bibliothek, Wolfenbüttel: M: Li 3187. [Hofgerichtsordnung] Lütkemann, Pastor Lic. 1911. „Zur Geschichte des Hospitals St. Spiritus in Münden.“ In: Zeitschrift der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 16: 265-294. [Ordnung für die Verwaltung des Mündener Hospitals] Forschungsliteratur: Bepler, Jill. 2003. „ ‚ Zu meinem und aller dehrer, die dichs gebrauchen wollen, nutzen, trost undt frommen.’ Lektüre, Schrift und Gebet im Leben der fürstlichen Witwen in der Frühen Neuzeit.“ In: Martina Schattkowsky (Hg.). Witwenschaft in der Frühen Eine Regentin, zwei Bilder 207 Neuzeit: Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. 303-319. Berry, Philippa. 1989. Of Chastity and Power: Elizabethan Literature and the Unmarried Queen. London: Routledge. Borgström, Eva. 1997. „Drottning Kristina och hermafroditens tankefigur.” In: Eva Löfquist (Hg.). Varför grävde man upp drottning Kristina? Kvinnobilder i olika tider och kulturer. Göteborg: Humanistiska fakulteten, Univ. 41-78. ___. 2002. „Manlighetsmotivet i drottning Kristinas självbiografi.” In: dies. (Hg.). Makalösa kvinnor: Könsöverskridare i myt och verklighet. Göteborg: AlfabetaAnamma. 193-238. Crawford, Catherine. 2000. „Catherine De Médicis and the Performance of Political Motherhood.” In: Sixteenth Century Journal 3.31: 643-673. Hackett, Helen. 1995. Virgin Mother, Maiden Queen: Elizabeth I and the Cult of the Virgin Mary. London: Macmillan. Haettner Aurelius, Eva. 1996. Inför lagen: Kvinnliga svenska självbiografier från Agneta Horn till Fredrika Bremer. Lund: Lund University Press. Hansen, Melanie. 1998. „The Word and the Throne: John Knox’s The First Blast of the Trumpet Against the Monstrous Regiment of Women.” In: Kate Chedgzoy, Melanie Hansen & Suzanne Trill (Hgg.). Voicing Women: Gender and Sexuality in Early Modern Writing. Edinburgh: Edinburgh University Press. 11-24. Jansen, Sharon L. 2002. The Monstrous Regiment of Women: Female Rulers in Early Modern Europe. New York: Palgrave Macmillan. Levine, Carole. 1994. ‚The Heart and Stomach of a King’: Elizabeth I and the Politics of Sex and Power. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Nebig, Ernst A. 2006. Elisabeth Herzogin von Braunschweig-Calenberg: Reformatorin, Regentin, Schriftstellerin und Lieddichterin. Göttingen: Matrix Media. Opitz, Claudia. 2001. „Weibliche Herrschaft und Geschlechterkonflikte in der Politik des 16. und 17. Jahrhunderts.“ In: Klaus Garber, Jutta Held, Friedhelm Jürgensmeister, Friedhelm Krüger & Ute Széll (Hgg.). Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden: Religion - Geschlechter - Natur und Kultur. München: Fink. 507-519. Osiander, Andreas & Gerhard Müller. 1994. Schriften und Briefe, 1549 bis August 1551. Gesamtausgabe: Andreas Osiander d. Ä. 9. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Mohn. Puppel, Pauline. 2004. Die Regentin: Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500-1700. Frankfurt a.M. u.a.: Campus Verlag. Stelzel, Ulla. 2003. Aufforderungen in den Schriften Herzogin Elisabeths von Braunschweig- Lüneburg: Eine Untersuchung zum wirkungsorientierten Einsatz der direktiven Sprachhandlung im Frühneuhochdeutschen. Hildesheim u.a.: Olms. Tegenborg Falkdalen, Karin. 2003. Kungen är en kvinna: Retorik och praktik kring kvinnliga monarker under tidigmodern tid. Umeå: Institutionen för historiska studier, Univ. Tschackert, Paul. 1899. Herzogin Elisabeth von Münden (gest. 1558), geborene Markgräfin von Brandenburg, die erste Schriftstellerin aus dem Hause Brandenburg und aus dem Braunschweigischen Hause, ihr Lebensgang und ihre Werke. Berlin u.a.: Giesecke & Devrient. Wunder, Heide. 1997. „Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit.“ In: Ute Gerhard (Hg.). Frauen in der Geschichte des Rechts: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München: Beck. 27-54. ___. 2003. „Dynastie, Geschlecht, Herrschaft: Frauen des hohen Adels in der Frühen Neuzeit.“ In: Gabriele Baumbach & Cordula Bischoff (Hgg.). Frau und Bildnis 1600- Nina Johansson 208 1750: Barocke Repräsentationskultur an Europäischen Fürstenhöfen. Kassel: Universität Kassel. 15-37. Zemon Davies, Natalie. 1994. „Frauen, Politik und Macht.“ In: Arlette Farge & Natalie Zemon Davies (Hgg.). Frühe Neuzeit. Frankfurt/ New York: Campus Verlag. 189- 207. Stefanie Bock German Hausfraus Scolding English Suffragettes: Die Inszenierung von National- und Geschlechterstereotypen in Katherine Mansfields In a German Pension 1. Challenging the ‚Pictures in our Heads‘: Reiseliteratur und Stereotype Reisen bringt neue Eindrücke. Reisen erweitert den Horizont. Reisen ermöglicht unmittelbare kulturelle Fremderfahrung. Diesen Gemeinplätzen zum Trotz gewinnt so mancher Reisende in der Begegnung mit einer anderen Kultur nur geringfügig neue Eindrücke und sieht sich in seinen festgefügten Annahmen über Land und Leute bestätigt. Geschuldet ist dieses Phänomen weniger dem Wahrheitswert solcher vorgefertigten Annahmen als vielmehr der perzeptionslenkenden Funktion von Stereotypen: Vorstellungen vom frivolen Franzosen, vom heißblütigen Spanier oder humorlosen Deutschen sind zwar aus erkenntnistheoretischer Perspektive wegen ihres Verallgemeinerungscharakters und meist mangelnden Realbezugs Mutmaßungen. Die Wirkung dieser „Pictures in Our Heads“ (Lippmann 2004 [1922]: 1) ist hingegen alles andere als irreal, denn sie steuern als „Wahrnehmungsregulatorien“ (Kunow 1994: 45) in hohem Maße unsere Perzeption einer Kultur. Auf Reisen erfahren die Stereotype nicht selten eine vermeintliche Bestätigung, indem genau jene Eigenschaften der fremden Kultur Beachtung finden, die unserem Bild von ihr entsprechen, während solche Eindrücke, die nicht ins Schema passen, ausgeblendet werden (vgl. Glaubitz 1995: 75f.). Der literarische Text ist ein zentrales Medium der Genese, Tradierung, aber auch Revision von Stereotypen (vgl. Olschowsky 2002: 418ff.). Besonders solche Texte, die eine Reise ins Ausland zum Thema haben, geben dem oben Gesagten einen anschaulichen Ausdruck und weisen häufig eine starke Affinität zu verkürzten Darstellungen einer Kultur und ihrer Bewohner auf. 1 Die Frage nach der literarischen Inszenierung von Stereotypen ist daher ein ebenso ergiebiges wie spannendes Untersuchungsthema im Umgang mit Reiseliteratur. 2 Im Vordergrund der meisten Arbeiten, die sich mit Stereotypen in besagter Gattung beschäftigen, stehen Nationalstereotype, in selteneren Fällen werden auch Geschlechterstereotype untersucht - so ist vor allem 1 Vgl. dazu Beller (2006: 43): „Reisebeschreibungen, von den Expeditionen in ferne und unbekannte Gegenden bis zu den autobiographischen Berichten der Dichter und Künstler von ihren Aufenthalten auch in nahegelegenen Ländern, sind eine wahre Fundgrube und ein ideales Experimentierfeld für alle in Frage stehenden Stereotypen, Topoi und Klischees.“ 2 So verwundert es nicht, dass mit den Aufsätzen von Birgit Neumann und Ansgar Nünning gleich zwei Beiträge in diesem Band ebenfalls dieses Thema behandeln. Stefanie Bock 210 die neuere Forschungsliteratur zum Reisebericht gekennzeichnet durch ein zunehmendes Interesse an geschlechterkritischen Fragestellungen. 3 Erstaunlicherweise wird in der anglistischen Literaturwissenschaft bislang kaum zur Kenntnis genommen, dass National- und Geschlechterstereotype gerade in der Reiseliteratur eng miteinander verflochten sein können. Beispielhaft haben die Pionierarbeiten zweier germanistischer Literaturwissenschaftlerinnen - Florack (2000) und Loster-Schneider (2003a und 2003b) - Interferenzen der Kategorien Nation und Geschlecht in der deutschen Literatur aufgespürt. Bestätigung findet die Annahme einer grundsätzlichen Verwobenheit beider Kategorien zudem von Seiten der Sozial- und Geschichtswissenschaften: 4 Jüngste Arbeiten aus beiden Fachrichtungen haben z.B. ergeben, dass jede Nation spezifische Geschlechterkonzeptionen hervorbringt. 5 Durch eine Essentialisierungsrhetorik gestützt, werden solche nationalen Geschlechtscharaktere vielfach als Mittel der Abgrenzung zu anderen Nationen instrumentalisiert und wirken dabei zugleich integrativ für die Mitglieder der eigenen Nation. Gesteht man literarischen Texten einen bedeutenden Anteil bei der Ausbildung und Aufrechterhaltung nationaler Identität zu (vgl. Olschowksky 2002: 415), so ist es wahrscheinlich, dass sich eine Interferenz als nationale Identität stiftendes Moment sowohl in literarischen Texten niederschlägt als auch von diesen mitkonstruiert wird. Ausgehend von dieser Hypothese verfolgt der Aufsatz das Ziel, den Zusammenhang von National- und Geschlechterstereotypen exemplarisch in den fiktionalisierten Reiseerfahrungen Katherine Mansfields sichtbar zu machen und die Bedeutung einer solchen Verbindung für das Funktionspotenzial der literarischen Texte aufzuzeigen. In einem ersten, theoretisch orientierten Teil des vorliegenden Beitrags werden kursorisch die komparatistische Imagologie und die literaturwissenschaftlichen Gender Studies als die beiden wissenschaftlichen Ansätze vorge- 3 Bis Anfang der 1990er Jahre wurden dagegen in Standardwerken zur Reiseliteratur nahezu ausschließlich die kanonisierten Texte männlicher Autoren berücksichtigt (vgl. Würzbach 2006: 70); allerdings sind „die Zeiten einer solchen Verdrängung von Autorinnen und Leserinnen […] passé. Im Gegenteil widmet sich ein Großteil der in den letzten Jahren entstandenen Forschungsarbeiten zum Reisebericht frauenbezogenen Aspekten […], und eine feministische Textarchäologie hat manchen weiblichen Reisebericht wiederentdeckt bzw. in Archiven überhaupt erst entdeckt.“ (Korte 1996: 149) 4 Vgl. vor allem die einschlägigen Werke von Tacke (1996), Yuval-Davis (1997), Appelt (1999), Planert (2000a und 2000b) sowie Müller (2003). 5 Yuval-Davis (1997: 23) beschreibt Geschlecht als ein wichtiges Element jener Faktoren, die über Zugehörigkeit zu oder Ausgrenzung von der Nation bestimmen und die mit dem Terminus ‚border guards’ bezeichnet werden (z.B. kulturell vermittelte Verhaltens- und Kleidungsweisen, Religion, künstlerische Produktionen etc.): „The mythical unity of national ‚imagined communities’ which divides the world between ‚us’ and ‚them’ is maintained and ideologically reproduced by a whole system of what Armstrong (1982) called symbolic ‚border guards’. […] Gender symbols play a particularly significant role in this, and thus constructions of manhood and womanhood, as well as sexuality and gendered relations of power, need to be explored in relation to these processes.“ Die Inszenierung von National- und Geschlechterstereotypen 211 stellt, die sich arbeitsteilig der Erforschung von National- und Geschlechterstereotypen in der Literatur widmen. Dieser Abschnitt liefert wichtige methodische Prämissen für die literaturwissenschaftliche Analyse von Stereotypen. Gleichzeitig versteht er sich aber auch als Plädoyer für einen Dialog zwischen beiden Ansätzen, da nur eine gleichermaßen imagologische wie geschlechterkritische Perspektive Zusammenhänge von nationaler und geschlechtlicher Identität im literarischen Text erschließen kann. Welchen Mehrwert ein solcher Dialog in Bezug auf die Analyse literarischer Texte stiften kann, wird in einem zweiten Teil exemplarisch anhand einer narratologisch ausgerichteten Analyse ausgewählter Erzählungen aus In a German Pension dargelegt. 2. Komparatistische Imagologie und Gender Studies: Sinnvolle Arbeitsteilung oder beklagenswerter Tunnelblick? Nachdem sich, inspiriert von Walter Lippmanns auflagenstarkem Werk Public Opinion (1922), zunächst die Sozialwissenschaften der Untersuchung von Stereotypen widmeten, ist das Konzept seit geraumer Zeit auch ins Zentrum des literatur- und kulturwissenschaftlichen Interesses getreten. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei den festgefügten Vorstellungen über Nationen, Ethnien und Volksgruppen zu, deren Untersuchung sich eine ganze Forschungsrichtung innerhalb der vergleichenden Literaturwissenschaft widmet - die Komparatistische Imagologie. Sie beschäftigt sich mit der Genese, Entwicklung und Wirkung von Hetero- und Autostereotypen im literarischen wie außerliterarischen Kontext (vgl. Fischer 1987: 56). Eine fundamentale Prämisse dieses Forschungsansatzes, dessen grundlegende Aufgaben von Hugo Dyserinck, Manfred Fischer und Joep Leerssen in zahlreichen Publikationen umrissen wurden, 6 besteht in der Annahme eines dialektischen Zusammenhangs zwischen nationalen Auto- und Heterostereotypen. 7 Jede Nation oder ethnische Gruppierung schafft nicht nur Diskurse für die eigene kollektive Identität, sondern auch für die der anderen Kulturen, von denen sie sich abzugrenzen sucht. 8 Solche Fremdbilder lassen immer auch Rückschlüsse über das Selbstverständnis, Werte- und Normensystem 6 Vgl. vor allem Dyserinck (1966, 1977, 1988), Fischer (1979, 1983, 1987) sowie Leerssen (2000). 7 Zum Zusammenhang von Eigen- und Fremdbildern vgl. auch den Beitrag von Vera Nünning in diesem Band, die deren Konstruktion in Reisberichten der frühen Neuzeit nachspürt. Birgit Neumann zeigt in ihrem Beitrag ebenfalls, welche Bedeutung nationalen Stereotypen über Deutschland, Frankreich und Spanien für die Konstruktion einer britischen Identität im 18. Jahrhundert zukommt. 8 Diese Dynamik ist nach Leerssen eine Schlüsseleinsicht der komparatistischen Imagologie, die diese aus ihrer bloßen motiv- und stoffgeschichtlichen Ausrichtung herausgeführt hat: „The insight that national characterization takes shape in the interplay between an auto-image and a hetero-image was a vital first step in the process of looking at such stereotypes in terms of their grammatical pattering rather than merely in terms of their ‘vocabulary’ (what they said about whom).“ (Leerssen 2000: 275) Stefanie Bock 212 der charakterisierenden Gruppe zu (vgl. Nünning 1999: 326). Ein weiterer Leitgedanke der komparatistischen Imagologie ist die Auffassung, dass den literarischen Stereotypen ein ’ästhetisches Potenzial’ (O’Sullivan 1989) zugesprochen werden kann. Ein inhaltliches Filtern von Stereotypen aus fiktionalen Texten ist nur ein erster Schritt imagologischer Analyse (vgl. ebd.: 41); in einem zweiten rückt die Frage nach den Funktionen von Stereotypen in den Vordergrund: 9 Dienen Stereotype z.B. textimmanent der Charakterisierung einer Figur? Verschärfen sie Kontrastrelationen zwischen den Figuren, oder werden mit ihnen figurale Differenzen eingeebnet? Auch mit einer Antwort auf solche Fragen ist die literaturwissenschaftliche Arbeit nicht abgeschlossen, denn ein ausschließlich werkimmanentes Untersuchungsverfahren greift für eine präzise Funktionsbestimmung der Stereotype zu kurz (vgl. Müllenbrock 1995: 307). Mit Blick auf die außerliterarische Wirklichkeit drängt sich nämlich die Frage nach den potenziellen externen Funktionen literarisch inszenierter Bilder auf: Ironisiert oder bestätigt der Text gesellschaftlich zirkulierende Stereotype, kritisiert oder subvertiert er sie, um neue Sichtweisen auf bestimmte Personengruppen oder Individuen zu etablieren? Um plausible Hypothesen zum Funktionspotenzial eines literarischen Bildes aufstellen zu können, müssen dessen „Verzahnungen im zeitgenössischen Diskurs“ (ebd.: 304), d.h. dessen Verflechtungen mit anderen Texten ermittelt werden. Das Stereotyp ist jedoch nicht nur auf imagologischem Terrain ein theoretischer Schlüsselbegriff. Auch für die literaturwissenschaftlichen Gender Studies stellt es einen zentralen Bezugspunkt dar. Obwohl Geschlechterstereotype, wie Stereotype allgemein, als gesellschaftliche Konstrukte historisch, kultur- und schichtenspezifisch variabel sind (vgl. Nünning 1993: 251ff.), werden sie meist nicht als variabel wahrgenommen und werden stattdessen vielfach als naturhaft gegebene und konstant bleibende Eigenschaften von Männern und Frauen betrachtet. Das Aushandeln von Geschlechtsentwürfen ist in der Literatur historisch und kulturell weit verbreitet und reicht von der häufig ideologisch gefärbten Reproduktion von Frauenbzw. Männerbildern bis zur kritischen Auseinandersetzung mit angeblich natürlich weiblichen oder männlichen Eigenschaften. Ruht der literaturwissenschaftliche Blick einzig auf dem Faktor Geschlecht, wird jedoch eine entscheidende Tatsache übersehen: Geschlechterstereotype treten mitunter nationenspezifisch in Erscheinung. Das trifft gerade auf solche Texte zu, die ein „Kulturkontaktszenario“ (Loster-Schneider 2003b: 21) entwerfen, mithin also auf fiktionale Reisetexte. Eine Betrachtung von Stereotypen in der Reiseliteratur sollte daher prüfen, ob statt Nationalcharakteren oder universalen Geschlechtsentwürfen nicht vielmehr ‚nationale Geschlechtscharaktere‘ in Kontrast zueinander gesetzt werden können und müssen. Die folgende Textanalyse soll dies exemplarisch veranschaulichen. 9 Für eine ausführliche Explikation der von Harald Fricke geprägten wichtigen Differenzierung in interne Funktionen von Textelementen und externe Funktionen von ebendiesen bzw. dem Text als Ganzem vgl. Gymnich/ Nünning (2005: 9f.). Die Inszenierung von National- und Geschlechterstereotypen 213 3. Die Inszenierung von National- und Geschlechterstereotypen in Katherine Mansfields In a German Pension Als erste größere Veröffentlichung der gebürtigen Neuseeländerin Katherine Mansfield erschien 1911 eine Sammlung von kürzeren Erzählungen unter dem Titel In a German Pension. Die Geschichten basieren auf einem Auslandsaufenthalt der Autorin, die im Jahr 1909 von ihrem Wohnort London nach Bad Wörishofen in Bayern reiste. Das Werk erreichte in England innerhalb kurzer Zeit drei Auflagen - wohl nicht zuletzt wegen der zu diesem Zeitpunkt gespannten Beziehungen zu Deutschland, denen in der öffentlichen Diskussion große Aufmerksamkeit zukam. 10 Negative Einschätzungen in der Presse nahmen hier seit 1870 in nicht unerheblichem Maße Züge von „Propaganda“ (Dose, zit. nach Müllenbrock 1995: 309) gegen Deutschland als aufstrebender Handels- und Flottenmacht an. Zu einem großen Teil wirkten auch die Deutschlandbilder in der englischen Literatur zwischen 1870 und 1914 bei der gezielten Etablierung eines Feindbildes in Bezug auf die neue potenzielle Hegemonialmacht Deutschland mit. 11 Welche Funktionen den in diesem Beitrag analysierten Erzählungen in jenem öffentlichen Meinungsbildungsprozess zugedacht werden können, wird im Anschluss an den folgenden textanalytischen Teil diskutiert. In a German Pension besteht aus insgesamt 13 Erzählungen, die überwiegend Deutschland zum Schauplatz haben. Die meisten sind homodiegetisch erzählte episodenhafte Szenen, in denen eine englische Reisende ihre Eindrücke und Erfahrungen als Kurgast in der bayrischen Pension Müller schildert. Als Erzählinstanz bleibt sie in diesen Geschichten weitgehend im Hintergrund des Geschehens und erfüllt primär eine Beobachterfunktion, so dass die Dialoge und Handlungen der deutschen Pensionsgäste im Zentrum stehen. Es werden Themen wie die komplementäre Rollenverteilung der Geschlechter im patriarchalisch organisierten wilhelminischen Kaiserreich und die daraus resultierende physische und psychische Unterdrückung der Frau aufgegriffen und kritisch beleuchtet. Im Folgenden wird gezeigt, dass mit der stereotypen Konzeption deutscher Frauenfiguren und ihrem Eigenschafts- 10 Vgl. Müllenbrock (1995: 325): „Das romantische Deutschlandbild, das Deutschland zur geistigen Idylle stilisierte, weicht einem politisch inspirierten Gegenbild, welches dieses Land zu einer aggressiv-expansiven Macht reduziert“. Das Bild von Deutschland als Militärstaat wird jedoch nicht als Widerspruch zu dessen Einschätzung als Land der Dichter und Denker, sondern als negative Seite eines ambivalenten Deutschlands betrachtet. Zu dieser ‚Two Germanies’-Theorie vgl. Blaicher (1992: 159f.). 11 Vgl. Müllenbrock (1995: 328): „Die politische Motivierung des unter rhetorischer Oberhoheit entworfenen englischen Deutschlandbildes hat in der gesamten Bandbreite der Literatur anspruchsvoller wie weniger anspruchsvoller eine Komplexitätsreduktion zur Folge gehabt“. Auch Firchow (1986: 28) bekräftigt die Etablierung eines feindlichen Deutschlandbildes in der englischen Literatur der Vorweltkriegszeit: „Looking at the literary reflection of Germans, the English were peering, with increasing fascination, horror and contempt, at an image that seemed to teach them what not to be. This image [….] deteriorated progressively until, at the outset of the Great War, it revealed unmistakably the utterly alien features of the Hun“. Stefanie Bock 214 spektrum eine speziell ‚deutsche Weiblichkeit‘ inszeniert wird, die aus englischer Perspektive angesichts des bröckelnden viktorianischen Geschlechtermodells und des zunehmenden Protests der englischen Frauenrechtlerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als sehr rückschrittlich einzustufen ist und die als Stereotyp ‚deutsche Hausfrau’ eine prominente Rolle in der englischen Literatur einnimmt. 12 Einen ersten Hinweis darauf, dass die deutschen Figuren stereotyp konzipiert sind, geben ihre sprechenden Namen: Oftmals wird auf sie nur mit Titeln Bezug genommen, die auf ihren Familienstand oder den Beruf des Mannes bezogen sind. Weibliche Figuren treten als ‚Widow’, ‚Frau Oberregierungsrat’, ‚Frau Doktor’ oder ‚Frau Hauptmann’ auf. Bisweilen wird die Entindividualisierung noch forciert, indem Namen nurmehr banale Merkmale oder Eigenarten der Figuren bezeichnen, wie ‚the Coral Necklace’ für eine ein entsprechendes Schmuckstück tragende Figur oder ‚the Vegetable Lady’ als Bezeichnung für eine Deutsche, die sich einer Gemüsediät unterzieht. Die Typisierung deutscher Frauenfiguren wird durch deren statische Konzeption verstärkt: Ihr Charakterbild wird bereits in der ersten Episode „Germans at Meat“ (GM) nahezu vollständig vermittelt, und alle weiteren Informationen, die der Leser im Verlauf der Pensionsgeschichten über sie erhält, entsprechen diesem Bild weitestgehend. Das Eigenschaftsspektrum der deutschen Frauenfiguren kann über deren implizite und explizite Selbstdarstellung in den Dialogen ermittelt werden. Besonders auffällig ist, dass sie mehrfach ihr Selbstverständnis als dem Mann untergebene, auf dessen leibliches und seelisches Wohl bedachte Hausfrauen thematisieren. In „Germans at Meat“ brüstet sich die ‚Widow’ damit, die kulinarischen Vorlieben ihres Mannes bereits nach einer Woche Haushaltsführung gekannt zu haben, und ist sichtlich entsetzt über die Tatsache, dass die Ich-Erzählerin nicht ebenso informiert über die Essgewohnheiten ihres Gatten ist: ‚What is your husband’s favourite meat? ‘ asked the Widow. ‚I really do not know,‘ I answered. ‚You really do not know? How long have you been married? ‘ ‚Three years.‘ ‚But you cannot be in earnest! You would not have kept house as his wife for a week without knowing that fact.‘ [...] A pause. They all looked at me, shaking their heads [...]. (GM 7) 12 Blaicher bezeichnet die „deutsche Hausfrau“ als eines der „überzeitlichen Klischees“ in der englischen Wahrnehmung Deutschlands (vgl. Blaicher 1992: 39ff.), da es in literarischen Zeugnissen vom 17. bis 20. Jahrhundert in seinen Grundzügen konstant auftaucht: „Die [...] Beschränkung der deutschen Frau auf den privaten Bereich des Hauses und insbesondere der Küche hat in der englischen Literatur eine lange Tradition.“ (Blaicher 1992: 40) So lässt sich eine intertextuelle Kontinuität dieses Nationalcharakters deutscher Frauen nachweisen von Edward Brownes An Account of Several Travels Through a Great Part of Germany. In Four Journeys, (1677) über Thomas Carlyles Sartor Resartus (1833-34), bis zu Elizabeth von Arnims Elizabeth and her German Garden (1898) sowie Jerome K. Jeromes Three Men on the Bummel (1900). Die Inszenierung von National- und Geschlechterstereotypen 215 Das Unverständnis der ‚Widow’ akzentuiert den Umstand, dass sie als deutsche Frau so stark ihrer Rolle verhaftet ist, dass sie offenbar nicht fähig oder gewillt ist, ihre Position als dem Mann gefügige Hausfrau anzuzweifeln oder kritisch zu hinterfragen. Als zentrale Aufgabe betrachten deutsche Frauenfiguren die Nachwuchsproduktion: Beispielhaft berichtet die ‚Widow’ von ihren zahlreichen Kindern: „Now I have had nine children, and they are all alive“ (GM 5). Indem sie diese ‚Leistung‘ mit der Gebärkapazität einer Freundin vergleicht, zeigt sie auf, dass die Zahl der Kinder offenbar als Gradmesser für die Funktionstüchtigkeit deutscher Frauen fungiert: ‚A friend of mine had four [children, Anm. d. Vf.] at the same time. Her husband was so pleased he gave a supper party and had them placed on the table. Of course she was very proud.‘ (ebd.) Die ‚Widow’ erhebt sich mit diesem Bild der deutschen Frau über eine in ihren Augen englische Konzeption von Weiblichkeit: „ ‚ But you never have large families in England now; I suppose you are too busy with your suffragetting‘ “ (ebd.). Dass die Fixierung der Frau auf den Reproduktionsbereich von den Pensionsgästen als speziell deutsche ‚Tugend’ aufgefasst wird, ergibt sich auch aus der anschließenden Replik eines anderen Gastes: „ ‚ Germany,‘ boomed the Traveller, biting round a potato which he had speared with his knife, ‚is the home of the family‘ “ (ebd.). Der Feststellung des ‚Traveller’ pflichten die übrigen deutschen Figuren mit einer „appreciative silence“ (ebd.) bei. Dem antiquierten deutschen Frauenbild wird im Text eine spezifisch ‚englische Weiblichkeit‘ als Autostereotyp entgegengesetzt. Als Trägerin dieser weitaus progressiveren Frauenrolle fungiert die Erzählinstanz, wie der folgende Blick auf Ihre Perspektive zu zeigen vermag: In „Germans at Meat“ erfährt man, dass die Erzählinstanz als Engländerin keine große Esserin und darüber hinaus Vegetarierin ist - Eigenschaften, die sie in den Augen der Deutschen als schlechte Köchin und damit mangelhafte Versorgerin ihrer Familie ausweisen und die diametral der Gefräßigkeit deutscher Frauen im Allgemeinen und deren übermäßigem Fleischverzehr im Besonderen entgegenstehen. 13 Während die deutschen Frauenfiguren mit einem übertrieben großen Kinderreichtum ausgestattet sind, ist die Erzählerin kinderlos und legt zudem wenig Wert auf familiäres Beisammensein. In der Episode „Frau Fischer“ (FF) spricht sie sich entschieden gegen die Funktion der Frau als Nachwuchsproduzentin aus: „ ‚ But I consider child-bearing the most ignominious of all professions,‘ I said.“ (FF 25) Diese offenbar gänzlich anders geartete englische Weiblichkeit stellt jedoch keinen gleichberechtigten Gegenentwurf zur inszenierten deutschen 13 Der große Appetit der Deutschen auf Fleisch manifestiert sich bereits im Titel der Erzählung, in dem weitaus geläufigere Kollokationen wie ‚at mealtime‘ oder ‚at dinner‘ mit ‚at meat‘ subsituiert werden und damit auf die vermeintliche Fleischlastigkeit deutscher Gerichte angespielt wird. Stefanie Bock 216 Weiblichkeit dar, sondern ist dieser im Text hierarchisch übergeordnet. Formal wird das durch die Wahl einer englischen weiblichen Perspektive als Erzählerstandpunkt und inhaltlich mittels deren ablehnender und zynischer Haltung gegenüber den deutschen Figuren erreicht: Insbesondere die Beschreibungen und Kommentare auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung ironisieren die deutschen Frauenfiguren und deren normative Vorstellungen über die Geschlechterrollen. Beispielsweise diskreditiert die Erzählinstanz die ‚Widow’, indem sie auf deren gesprächsbegleitende Handlung das Säubern der Zähne mit einer Haarklammer hinweist: ‚Is it true‘, asked the Widow, picking her teeth with a hairpin as she spoke, ‚that you are a vegetarian? ‘ ‚Why, yes; I have not eaten meat for three years.‘ ‚Im-possible! Have you any family? ‘ ‚No.‘ ‚There now, you see, that’s what you’re coming to! ‘ (GM 4, Hervorh. d. Vf.) Aber auch über ironische Kommentare der Erzählinstanz werden die deutschen Figuren und ihre Ansichten herabgewürdigt: ‚Handfuls of babies, that is what you are really in need of,‘ mused Frau Fischer. ‚Then, as the father of a family he cannot leave you. Think of his delight and excitement when he saw you! ‘ The plan seemed to me something of a risk. To appear suddenly with handfuls of strange babies is not generally calculated to raise enthusiasm in the heart of the average British husband.‘ (FF 26, Hervorh. d. Vf.) 14 Wie diese Beispiele zeigen, ist die Erzählinstanz als englische Figur deutlich kontrastiv zu den deutschen weiblichen Figuren gezeichnet, die traditionellen Stereotypen von Frauen als aufopferungsvolle Mütter und Untergebene des Mannes nachgebildet sind. 4. Zusammenfassung und hypothetische Annahmen zum Funktionspotenzial der untersuchten Erzählungen In Katherine Mansfields Erzählungen liegt insofern eine Interferenz von National- und Geschlechterstereotypen vor, als die Entwürfe von Geschlecht national bestimmt sind: Einer rückschrittlichen deutschen Frauenrolle wird eine progressive englische gegenübergestellt. Deutschland wird insgesamt als eine Nation portraitiert, die das Patriarchat als führendes gesellschaftli- 14 Obgleich in diesem Zitat auf einen britischen Ehemann rekurriert wird, besteht wenig Zweifel, dass in den Erzählungen überwiegend eine explizit englische Identität entworfen wird: „ ‚ I think you are English‘, she [Frau Professor, Anm. d. Vf.] said. I acknowledged the fact.“ Auch als ‚Herr Rat’ die Erzählinstanz mit einem verächtlichen Kommentar über die Zubereitung von Tee in England angreift, verteidigt sie die Tradition auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung und spricht in ihrer Rolle als Engländerin: [Herr Rat]: „ ‚ So that is the great secret of your English tea? All you do is to warm the teapot.‘ I wanted to say that was only the preliminary canter, but could not translate it, and so was silent.“ (GM 4) Zahlreiche weitere Stellen weisen ebenfalls auf eine englische Identität der Erzählinstanz hin, z.B. GM 3, 4, 17. Dass die Erzählinstanz an einer Stelle im Text gegenüber der ‚Vegetable Lady’ ihre englische Herkunft negiert (GM 58), kann vor diesem Hintergrund als bewusste Irreführung Letzterer gedeutet werden. Die Inszenierung von National- und Geschlechterstereotypen 217 ches Strukturmodell positiv sanktioniert. Die deutlich negativ gezeichneten deutschen Frauenfiguren erfüllen so textintern vordergründig die Funktion einer abschreckenden Kontrastfolie zur englischen Erzählinstanz, die sich gegen männliche Bevormundung wendet und die Rolle der Frau als Mutter und Hausfrau ablehnt. Solcherart kontrastiv zugespitzt, kann die Darstellung eines in Traditionen erstarrten Deutschlands und in Bezug auf Geschlechterfragen progressiveren Englands auf einer textexternen Ebene nicht nur als potenzieller nationaler Stabilisierungsfaktor auf das englische Lesepublikum wirken, sondern eine bedeutende Rolle bei der Genese eines deutschen Feindbildes zu jener Zeit in England einnehmen: Verschlechterte sich die Einstellung zu Deutschland seit der deutschen Reichsgründung ohnehin zunehmend, so forciert die Vernetzung dieses Deutschlandbildes mit einer ganz und gar männlich dominierten Geschlechterordnung die Abgrenzung zur deutschen Nation und verstärkt auf diese Weise den deutschlandfeindlichen Diskurs der Vorweltkriegszeit - insbesondere für die weiblichen Rezipienten. 15 Dass literaturwissenschaftliche Ansätze, die literarische Entwürfe von gender oder nationaler Identität isoliert in den Blick nehmen, solche Überlagerungen leicht übersehen können, liegt auf der Hand. Ein Dialog zwischen komparatistischer Imagologie und Gender Studies kann daher nicht nur neue Interpretationsergebnisse für literarische Texte liefern, sondern zeigt hier exemplarisch, welche gewichtige Rolle national aufgeladene Geschlechterstereotype im nationalen Diskurs einnehmen können. 15 Mit dem Rekurs auf die unterwürfige Rolle deutscher Frauen wird ein Deutschlandbild antizipiert, das im nationalistischen Flügel der Suffragetten-Bewegung unter der Führung Emmeline und Christabel Pankhursts instrumentalisiert wurde, um für den Krieg zu werben. Dazu schreibt Christabel in The Suffragette im Juli 1915: „If a German victory would be an appalling calamity for men, it would for women be infinitely worse. To defeat the Germans is the Woman question of the present time.“ (Zitiert nach De Vries 1994: 81) Stefanie Bock 218 Bibliographie Appelt, Erna. 1999. Geschlecht - Staatsbürgerschaft - Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. Frankfurt a.M./ New York: Campus. Beller, Manfred. 2006. „Das Bild des Anderen und die nationalen Charakteristiken in der Literaturwissenschaft.“ In: Ders. (Hg.). Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 21- 47. Blaicher, Günther. 1992. Das Deutschlandbild in der englischen Literatur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. De Vries, Jacqueline. 1994. „Gendering Patriotism. Emmeline and Christabel Pankhurst and World War One.“ In: Sybil Oldfield (Hg.). This Working Day World. Women’s Lives and Cultures in Britain 1914-1945. London: Taylor & Francis. 75-89. Dyserinck, Hugo. 1966. „Zum Problem der ‚images‘ und ‚mirages‘ und ihrer Untersuchung im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft.“ In: arcadia 1: 107- 120. ___. 1977. Komparatistik. Eine Einführung. Bonn: Bouvier. ___. 1988. „Komparatistische Imagologie. Zur politischen Tragweite einer europäischen Wissenschaft von der Literatur.“ In: Ders. & Karl Ulrich Syndram (Hgg.). Europa und das nationale Selbstverständnis: Imagologische Probleme in Literatur, Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Bonn: Bouvier 13-38. Firchow, Peter Edgerly. 1986. The Death of the German Cousin. Variations on a Literary Stereotype. Lewisburg et al.: Bucknell University Press. Fischer, Manfred. 1979. „Komparatistische Imagologie. Für eine interdisziplinäre Erforschung national-imagotyper Systeme.“ In: Zeitschrift für Sozialpsychologie 10: 30- 44. ___. 1983. „Literarische Seinsweise und politische Funktion nationalbezogener Images: Ein Beitrag zur Theorie der komparatistischen Imagologie.“ In: Neohelicon 10.2: 251-274. ___. 1987. „Literarische Imagologie am Scheideweg. Die Erforschung des ‚Bildes vom anderen Land‘ in der Literatur-Komparatistik.“ In: Günther Blaicher (Hg.). Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur. Tübingen: Narr. 55-71. Florack, Ruth. 2000. „ ‚ Weiber sind wie Franzosen geborne Weltleute‘. Zur Verschränkung von Geschlechter-Klischees und nationalen Wahrnehmungsmustern.“ In: Dies. (Hg.). Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur. Tübingen: Niemeyer. 319-339. Glaubitz, Gerald. 1995. „Stereotypenproblematik und Reisedidaktik. Methodische Überlegungen und historische Beispiele.“ In: Hans Henning Hahn (Hg.). Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Oldenburg: BIS. 75-104. Gymnich, Marion & Ansgar Nünning. 2005. „Funktionsgeschichtliche Ansätze: Terminologische Grundlagen und Funktionsbestimmungen von Literatur.“ In: Dies. (Hgg.). Funktionen von Literatur: Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen. Trier: WVT. 3-27. Korte, Barbara. 1996. Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Kunow, Rüdiger. 1994. Das Klischee. Reproduzierte Wirklichkeiten in der englischen und amerikanischen Literatur. München: Fink. Die Inszenierung von National- und Geschlechterstereotypen 219 Leersen, Joep. 2000. „The Rhetoric of National Character.“ In: Poetics Today 21.2: 267- 293. Lippmann, Walter. 2004 [1922]. Public Opinion. Mineola, N.Y.: Dover Publications. Loster-Schneider, Gudrun (Hg.). 2003a Geschlecht - Literatur - Geschichte. Bd. 2: Nation und Geschlecht. St. Ingbert: Röhrig. ___. 2003b. „ ‚ Lasst uns einen Nationalcharakter behaupten.‘ Einleitende Bemerkungen zum ‚Thema Nation und Geschlecht‘.“ In: Dies. 2003a. 9-29. Mansfield, Katherine. 2003 [1911]. In a German Pension. London: Hesperus Press. Müllenbrock, Heinz-Joachim. 1995. „Trugbilder: Zum Dilemma imagologischer Forschung am Beispiel des englisches Deutschlandbildes 1870-1914.“ In: Anglia 113: 303-330. Müller, Marion. 2003. Geschlecht und Ethnie. Historischer Bedeutungswandel, Interaktive Konstruktion und Interferenzen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Nünning, Ansgar. 1993. „Formen und Funktionen der Auflösung von Geschlechtsstereotypen in ausgewählten Romanen von Anita Brookner. Interpretationshinweise für eine Behandlung im Englischunterricht der Sekundarstufe II.“ In: Die Neueren Sprachen 92.3: 249- 270. ___. 1999. „Englische Bilder von Deutschland und den Deutschen. Zur Bedeutung von Nationalstereotypen für das kollektive Gedächtnis und das Verstehen fremder Kulturen.“ In: Lothar Bredella & Werner Delanoy (Hgg.). Interkultureller Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr. 322-358. Olschowksy, Heinrich. 2002. „Die Literatur und das nationale Stereotyp. Tadeusz und die Deutschen.“ In: Hans Henning Hahn (Hg.). Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt a.M. et al.: Lang. 415-437. O’Sullivan, Emer. 1989. Das ästhetische Potential nationaler Stereotypen in literarischen Texten. Auf der Grundlage einer Untersuchung des Englandbildes in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur nach 1960. Tübingen: Stauffenburg. Planert, Ute (Hg.). 2000a. Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne. Frankfurt a.M./ New York: Campus. 15-66. ___. 2000b. „Zwischen Partizipation und Restriktion. Frauenemanzipation und nationales Paradigma von der Aufklärung bis zum ersten Weltkrieg.“ In: Dieter Langewiesche & Georg Schmidt (Hgg.). Förderative Nation. München: Oldenbourg. 387-429. Tacke, Charlotte. 1996. „Nation und Geschlechtscharaktere.“ In: Frauen & Geschichte Baden-Württemberg (Hg.). Frauen und Nation. Tübingen: Silberburg. 35-49. Würzbach, Natascha. 2006. Raumerfahrung in der klassischen Moderne. Großstadt, Reisen, Wahrnehmungssinnlichkeit und Geschlecht in englischen Erzähltexten. Trier: WVT. Yuval-Davis, Nira. 1997. Gender & Nation. London et al.: Sage. Marion Gymnich Voyages Out - Voyages In: Travelling and Individual Development in Novels by Nineteenth-Century British Women Writers 1. Travelling and gender in nineteenth-century England Throughout the centuries, literary texts have linked the experience of travelling and the process of individual development in manifold ways. In particular genres such as the bildungsroman and the travelogue tend to emphasize the impact travelling has on individual development, often suggesting a relatively straightforward correlation between spatial mobility and the individual’s increasing maturity. Yet since the relationship between space and individual development is extremely variable both culturally and historically, it is necessary to contextualize and historicize any investigation into literary representations of the relationship between travelling and individual development. If we neglect the ways in which the historical and cultural context informs literary constructions of the link between travelling and individual development, it is likely that we miss at least part of the meaning that representations of travelling may assume in literary texts. The need to contextualize the implications travelling may have for individual development results from the fact that space is by definition a cultural phenomenon (cf. Würzbach 2004: 49). In other words, it is ultimately impossible to experience space without the interference of a filter provided by one’s cultural knowledge. This is true for the perception of specific places (e.g. countries or cities) and spatial oppositions (such as the contrast between inside vs. outside), which often play a crucial role in the semanticization of space in literary texts. 1 An exploration of the shifting cultural and historical contexts of spatial mobility helps to increase our awareness of the impact the cultural filter has on our perception. By examining the cultural and historical coordinates of the experience of space one can at least begin to understand how the lens shaping one’s perception of space is constructed. If one regards space as a cultural phenomenon, one’s attention is drawn in particular to two (interrelated) aspects of space, as Würzbach (2004) points out: Firstly, one becomes aware of the manifold historically and culturally variable meanings 1 The spatial dichotomy evoked by the title of Elizabeth Gaskell’s novel North and South (1854-55), for instance, refers to the opposition between the rural counties in the south of England and the industrialized north. The spatial opposition also suggests a contrast between the (agricultural) past of the country and its (industrial) present and future. The use of a spatial dichotomy in Gaskell’s novel, thus, has to be seen within the context of the debates on the consequences of the process of industrialization, which played a prominent role in public discourses in the Victorian period. Marion Gymnich 222 that are (consciously and unconsciously) projected onto space. The reconstruction of these variable meanings is an important task for scholars interested in the interface between literature and culture. Secondly, literary representations of space, despite being constructions, also have a certain mimetic quality, since they inevitably point to certain aspects of social reality. The exploration of the complex fictional negotiations between the mimetic and the aesthetic qualities of literary space is part of what makes the analysis of literary constructions of space fascinating. Above and beyond the need to historicize the relationship between travelling and individual development, it is also necessary to consider gender in this relationship, since gender is one of the factors that influence the meanings attributed both to real space and to literary space. To do justice to the influence gender has on the experience of space, one has to consider the links and the possible tension between the concrete dimension and the symbolic dimension. The link between space and gender on the symbolic level is already obvious in the fact that space has served as a powerful source of images both for women’s oppression and for their emancipation. Cases in point are the famous notion of the ‘room of one’s own’ coined by Virginia Woolf, certainly one of the most potent images defining an independent female sphere, and the image of the ‘madwoman in the attic’ (Gilbert/ Gubar 1979), which epitomizes women’s physical, emotional and psychological imprisonment within patriarchal society. Such images draw upon gender-related differences with respect to spatial mobility on a concrete level and function as a condensed expression of various socio-cultural factors shaping female experience. In a number of literary texts (and other works of arts), the relationship between gender, space and individual development is captured in recurring images that draw upon the social situation of women and the symbolic potential of space. One of these recurring images is that of a woman sitting or standing near a window, looking outside. The position at the borderline separating inside and outside, at the threshold of the traditionally female sphere of the home and the traditionally male sphere seems to be ideally suited to expressing women’s wishes and anxieties in terms of spatial imagery. The image of a woman looking out of a window is often employed as an expression of ambivalent emotions: the desire to venture outside, into unknown regions and experiences; the hope of making a new start in life; and the fear of leaving what is familiar and comforting. Tracing the shifting and overlapping meanings of this image in literary texts, but also in paintings and audiovisual media, could produce interesting insights into the relationship between space, gender and individual development. Time and again this image functions as a condensed expression of a complex psychological state, as novels such as Jane Eyre (1847) and films like Lost in Translation (2003) illustrate. The image of a woman looking out of a window seems to have become an icon of unfulfilled longing, which may express, in varying degrees, emotions such as curiosity, hope, fear and resignation. Travelling and Individual Development in Novels by Women Writers 223 One of the parameters to consider in an attempt to historicize the implications of travelling as a figure of thought in novels by nineteenth-century writers is the fact that travelling became much easier and faster in the course of the nineteenth century. While people still travelled by means of horsedrawn carriages in 1800, a well-developed railway system had been built in England by the end of the century, making travelling significantly faster and more convenient. 2 Simultaneously, steamships gradually replaced the slower sailing ships, ensuring faster travel by sea. 3 It has often been observed that the changes with respect to travelling brought about a shift in the perception of space and time, causing people to perceive an acceleration of life and reducing the significance of spatial differences. In the nineteenth century, people travelled further and further away from England, moving temporarily or permanently to the different parts of the growing British Empire. Moreover, as far as tourism is concerned, the nineteenth century was “the first great age of travel” (Purchase 2006: 135). At the beginning of the nineteenth century, after the Napoleonic Wars, the “ ‘ Grand Tours’ of Europe […] were revived, and they continued to be popular with wealthy Victorians” (ibid.). With “the rise of the package holiday” (ibid.) in the Victorian period travelling for leisure became still easier, at least for the wealthy middle class: “Thomas Cook established his travel organization in 1845, and tourist guides such as the ‘Baedekers’ or Mariana Starke’s Guide for Travellers on the Continent (1832) became increasingly popular.” (ibid.) The nineteenth century, thus, clearly offered significantly better conditions for spatial mobility than the previous centuries. 4 Yet in terms of the possibilities of spatial mobility the nineteenth century, and in particular the Victorian period, is also notorious for its tendency to restrict women’s sphere of activity to the home, while simultaneously encouraging male spatial mobility, which was deemed necessary for economic 2 Sean Purchase (2006: 132-133) summarizes the impact the construction of the railway system had on transport in Britain as follows: “It was […] the railways, especially in the 1840s, that best exemplified Victorian achievements in transport engineering and technology. The railways, with their robust new bridges and viaducts, led not only to the speedier transport of goods and peoples between Britain’s industrial centres, but to greater communications in general, along with better travel for those seeking holiday entertainments and popular one-day ‘excursions’ to growing seaside resorts such as Brighton. Britain’s first railway was up and running between Liverpool and Manchester in 1830 (trains reaching speeds of 28 mph) […]. Come the turn of the century, Britain was covered with a network of railway lines which John Ruskin described as the nation’s ‘iron veins’ […]. Looking back on the period just after Victoria’s death in 1901, H.G. Wells commented that if there was one image which would characterize the nineteenth century most it would be ‘a steam engine running upon a railway’. The ‘Victorian age’ has become synonymous with the ‘Railway Age’ […].” 3 Cf. Purchase (2006: 132): “by the 1840s steamships had reduced the voyage from London to Calcutta from several months to six weeks.” 4 On travelling in eighteenth-century England, cf. the article by Birgit Neumann in this volume. Marion Gymnich 224 progress, scientific discoveries, 5 and, last but not least, the process of building and consolidating the British Empire. John Ruskin, with his lecture series “Sesame and Lilies”, and Coventry Patmore, with his poem “The Angel in the House”, are among those Victorian intellectuals who contributed to establishing a firm ideological link between women and the domestic sphere, while reserving the public sphere for men. By segregating male and female spheres in this manner, Ruskin, Patmore and others offered women a limited sphere of experience and implicitly defined female development exclusively in terms of the domestic roles of wife, housewife and mother. Men, in contrast, were expected to be active outside the home, in the public sphere within England or abroad, contributing to economic progress and to the process of colonial expansion. Celebrated Victorian explorers and colonizers such as David Livingstone or Cecil Rhodes are perhaps the most visible product of the tendency to encourage male spatial mobility. The rigid gender dichotomy that shaped many discourses in nineteenth-century England thus correlated to a spatial opposition. Yet this ideologically motivated link between women and the domestic sphere on the one hand and men and the public sphere on the other hand did not go entirely unchallenged. Despite the ideological link between women and the domestic sphere, there were numerous women in the nineteenth century who refused to confine their sphere of activity to the home - a fact that led at least to a partial renegotiation of the relationship between space and gender. In the nineteenth century an unprecedented number of English women travelled both within Europe and to different parts of the world. These women undermined the image of woman as the ‘Angel in the House’, who is bound to the home, where she finds individual fulfilment. Victorian women travellers did not merely accompany their husbands or parents to foreign countries. An increasing number of women travelled on their own and for the sake of seeing foreign places to satisfy their curiosity. Travelogues written by Victorian women provide ample evidence of this. Texts such as Amelia Edwards’ A Thousand Miles up the Nile (1877), Mary Kingsley’s Travels in West Africa (1897), Isabella Bird’s Unbeaten Tracks in Japan (1880), and Florence Dixie’s Across Patagonia (1880) constitute an impressive record of Victorian women travelling to what even today no doubt are still exotic places visited by relatively few tourists. Since women’s travel writing is obviously of enormous interest from the point of view of gender studies as well as from the perspective of postcolonial studies, travelogues like the ones just mentioned have attracted considerable attention in recent years. 6 It is hardly surprising that the issue of women’s development is addressed repeatedly in these studies. 5 Cf. Charles Darwin’s famous voyage on the Beagle. 6 See, for example, Birkett (1989); Mills (1991); Blunt (1994); Frawley (1994); Lawrence (1994). Travelling and Individual Development in Novels by Women Writers 225 Travelling abroad is generally seen as a step towards emancipation and as an experience that shapes the individual’s personality in manifold ways. 7 While Victorian women’s travel writing clearly defies women’s restriction to the domestic sphere, nineteenth-century realist novels written by female authors tend to show female characters who remain largely within the confines of their homes and are usually at best granted a short (real or virtual) escape from the domestic sphere. Moreover, a comparison of the spatial mobility ascribed to male characters and female characters’ spatial mobility (or the lack thereof) serves to highlight the restrictions imposed on women’s spatial mobility by social conventions. 8 Nevertheless it is possible to argue that travelling as a figure of thought is a powerful one - sometimes even in those novels where it does not play an obvious role in terms of the plot. In other words, to gauge the significance assigned to travelling in nineteenthcentury women’s novels, it is, on the one hand, of course important to pay attention to the plot level. On the other hand, the characters’ reflections and comments on travelling deserve our attention. Female characters in nineteenth-century realist novels often simply lack the financial means and/ or the opportunity to travel. Yet their thoughts and dreams about visiting unfamiliar places may be a powerful expression of their desires and their fears - similar to the potential associated with the recurring image of a woman looking out of a window, which can also be regarded as a figure of ‘virtual travelling’. It often takes a close reading of novels by nineteenth-century women writers to even identify the sections in which the characters reflect on travelling. If one traces the depiction of the female characters’ actual travelling as well as their thoughts or dreams about travelling, one can find expressions of resistance to the confinement to the domestic space. 7 Ina Schabert (1997: 589), for example, emphasizes the liberating potential of travelling abroad and the impact this experience is likely to have on women’s individual development: “Die bürgerliche viktorianische Familie setzt der Entfaltung der Frau einen engen normativen und faktischen Rahmen. Wenn sie diesen eingegrenzten Raum verlässt und sich in andere Länder, andere Gesellschafts- und Kulturbereiche begibt, beginnt sie, mit der fremden Welt zugleich neue Aspekte ihrer selbst zu entdecken.“ 8 The difference between male and female development with respect to the sphere in which the individual is supposed to gain the experience that shapes his/ her personality has been commented on extensively by literary scholars interested in the differences between the (classical) male bildungsroman and the female novel of development. Sandra Frieden (1983: 304), for example, emphasizes the significance attributed to spatial mobility for male development as portrayed in the traditional bildungsroman: “The classic course of development took the hero from his typically rural environment out into the wide world. Forced to pull away from strong familial ties, he journeyed into risks and errors”. In the female bildungsroman, in contrast, female development traditionally proceeds without significant spatial mobility, as Mary Anne Ferguson stresses: “The pattern for the female novel of development has been largely circular, rather than spiral: female heroines remain at home. Instead of testing their self-image through adventures in the outside world, they are initiated through learning the rituals of human relationships at home, so that they may replicate the lives of their mothers.” Marion Gymnich 226 In the following, an attempt will be made to show what can be gained by historicizing and gendering the relationship between travelling and individual development in an exploration of the presentation of travelling in selected novels by nineteenth-century British women writers. The choice of novels by Jane Austen, Anne Brontë and Charlotte Brontë might perhaps be surprising. In the three novels which will be discussed below travelling at first sight does not play a particularly prominent role. To put it even more bluntly, the novels Pride and Prejudice (1813), Jane Eyre (1847) and The Tenant of Wildfell Hall (1848) certainly cannot be classified as ‘travel narratives’ in the usual sense. There are beyond doubt texts by nineteenth-century women writers that would be much more obvious candidates for an analysis of the relationship between travelling and individual development, in particular women’s travelogues, such as Mary Kingsley’s Travels to West Africa. Yet if one looks more closely at Pride and Prejudice, Jane Eyre and The Tenant of Wildfell Hall, one realizes that travelling after all constitutes a persistent theme in these novels. Both actual travelling and reflections on or dreams about travelling - in other words, some kind of ‘virtual’ travelling - constitute a thematic undercurrent that can produce significant meanings in terms of the literary negotiation of concepts of gender and identity. In the following readings of selected nineteenth-century novels, especially those of Pride and Prejudice and Jane Eyre, the depiction of actual and virtual travelling will be interpreted by drawing upon the notion of the double-voiced discourse. The concept of the double-voiced discourse or the palimpsest has been developed by feminist literary scholars including Elaine Showalter, Sandra Gilbert and Susan Gubar. The concept of the double-voiced discourse or the palimpsest has been used by these scholars to identify ambivalences and subtexts in women’s fiction and to account for the existence of these subtexts. According to the concept of the double-voiced discourse, it is often possible to discern distinct, hierarchically organized layers of meaning in women’s literary texts. On the surface, these texts may largely conform to society’s expectations, appearing to subscribe to certain aspects of a patriarchally structured society in terms of the choice of themes, the presentation of the characters, the plot patterns, etc. Nineteenth-century novels by women writers that feature the classical romance and marriage plot, for example, implicitly confirm the significance attributed to marriage, which was regarded by many as the centre of a woman’s life. Thus, the literary texts perpetuate traditional gender roles and subscribe to the order of patriarchal society. But texts that outwardly conform to patterns which are in accordance with patriarchal society may contain subtexts that tell a somewhat different story. These subtexts can be discovered by close reading and by the subversive strategy of ‘reading against the grain’. In their influential study The Madwoman in the Attic, Sandra Gilbert and Susan Gubar explain the notion behind the double-voiced discourse, the idea that there are contradictory layers of meaning in women’s writing, as follows: Travelling and Individual Development in Novels by Women Writers 227 […] women from Jane Austen and Mary Shelley to Emily Brontë and Emily Dickinson produced literary works that are in some sense palimpsestic, works whose surface designs conceal or obscure deeper, less accessible (and less socially acceptable) levels of meaning. Thus these authors managed the difficult task of achieving true literary authority by simultaneously conforming to and subverting patriarchal literary standards (Gilbert/ Gubar 1979: 73). 9 An analysis of references to travelling in novels by nineteenth-century women writers reveals that the female characters’ comments, thoughts and dreams about travelling may function as one kind of subtext to the dominant pattern of the romance, as the following analyses will demonstrate. 2. Jane Austen’s Pride and Prejudice: Travelling and the Romance Plot In Jane Austen’s six novels travelling is shown to be a relatively slow process; Austen’s characters still have to travel on horseback or by means of horsedrawn carriages. Given that the main characters in Austen’s novels belong to the gentry, they tend to have comparatively good opportunities for travelling for the sake of entertainment or to visit friends and relatives. Still, one can perceive an obvious difference between male and female characters in terms of the spatial mobility they display. While the male characters tend to travel very often, usually to places within England, but sometimes also abroad, the female characters appear to be much more confined to their homes and to their immediate environment. Especially the younger female characters usually depend on the goodwill of relatives and friends of the family if they want to travel anywhere, since modesty and decorum require them to travel with a person who can act as chaperone. Pride and Prejudice suggests that a breach of decorum with respect to the restrictions on women’s travelling may have serious consequences. Admittedly, the protagonist Elizabeth meets the challenge of travelling without a chaperone with her usual sense of proper behaviour. Consequently, Lady Catherine de Burgh’s misgivings about two young women (Elizabeth and Maria Lucas) travelling all by themselves at first sight seem exaggerated. 10 Yet later in the course of the novel it is Elizabeth herself who objects to a young woman, namely her youngest sister Lydia, travelling on her own or rather in the company of a chaperone who does not appear trustworthy to Elizabeth. Elizabeth tries to convince her father to prevent Lydia from travel- 9 On the concept of double-voiced discourse, cf. also Gutenberg (1999). 10 Since Lady Catherine is on the whole presented as an old-fashioned and arrogant character, her attitude towards women travelling alone is likely to be rejected by the readers: “‘[…] I cannot bear the idea of two young women travelling post by themselves. It is highly improper. You must contrive to send somebody. I have the greatest dislike in the world to that kind of thing. - Young women should always be properly guarded and attended, according to their situation in life.’” (Pride and Prejudice 240) Marion Gymnich 228 ling to Brighton in the company of Mrs Forster. 11 Lydia’s elopement with Wickham, which is the consequence of her trip to Brighton and which threatens to turn her into a ‘fallen woman’, is evidence that Elizabeth’s warnings were reasonable. The novel, thus, seems to subscribe to the idea that it may after all be sensible to limit young women’s spatial mobility. Although Austen’s characters travel quite frequently, sightseeing or the admiration of nature is certainly not at the centre of Austen’s novels. The ‘comedy of manners’ her novels are famous for, the interaction of the characters, is what is most important. In Pride and Prejudice the overt heterodiegetic narrator at one point even explicitly says that the story is not meant to imitate travel writing. In the context of the depiction of the female protagonist’s tour to Derbyshire one finds the following comment by the narrator: It is not the object of this work to give a description of Derbyshire, nor of any of the remarkable places through which their route thither lay; Oxford, Blenheim, Warwick, Kenelworth, Birmingham, &c. are sufficiently known. (Pride and Prejudice 265) The narrator seems to rely on the readers’ capacity to fill in the details about the places that are mentioned on the basis of their cultural knowledge. In Austen’s novels travelling seems to be first and foremost a plot device that contributes to the progress of the romance plot; travelling, after all, provides opportunities for bringing the hero and the heroine of the romance plot together. This is particularly evident in Pride and Prejudice, where the female protagonist Elizabeth twice meets Mr Darcy unexpectedly while she is travelling. But the function of travelling in Austen’s novels is not limited to furthering the romance plot. In fact, the significance attributed to travelling for the sake of expanding the protagonist’s range of experience may even occasionally challenge the implications of the romance plot. Even if Austen’s novels certainly do not focus on sightseeing, a careful reading of the texts makes it possible to identify a number of passages where the female protagonists express a keen interest in travelling for the sake of seeing parts of England they are not familiar with. When Elizabeth Bennett is invited to join her uncle and aunt on a tour to the north of England, she shows great delight, reacting enthusiastically to the invitation and happily anticipating what she is going to see and do: ‘You give me fresh life and vigour. Adieu to disappointment and spleen. What are men to rocks and mountains? Oh! What hours of transport we shall spend! And 11 Cf. Pride and Prejudice (257): “she [Elizabeth] considered it as the death-warrant of all possibility of common sense for the latter [Lydia]; and detestable as such a step must make her were it known, she could not help secretly advising her father not to let her go. She represented to him all the improprieties of Lydia’s general behaviour, the little advantage she could derive from the friendship of such a woman as Mrs Forster, and the probability of her being yet more imprudent with such a companion at Brighton, where the temptations must be greater than at home.” Travelling and Individual Development in Novels by Women Writers 229 when we do return, it shall not be like other travellers, without being able to give one accurate idea of any thing. We will know where we have gone - we will recollect what we have seen. Lakes, mountains, and rivers, shall not be jumbled together in our imagination; […]. (Pride and Prejudice 190) For Elizabeth travelling seems to be a very interesting and rewarding activity. Her vivid and emotionally intense utterance praises travelling as an experience that is profoundly enriching - in fact so much so that even the prospect of romance may seem less appealing in comparison (“What are men to rocks and mountains? ”). Yet, despite Elizabeth’s apparent enthusiasm for sightseeing, there is no detailed account of what she sees during the tour, but just a description of her encounter with Mr Darcy. This omission of a description of the sightseeing activities (except for the visit to Mr Darcy’s house) again reinforces the focus on the romance plot. The recent audiovisual adaptations of Pride and Prejudice apparently try to make up for this omission. Both Andrew Davies’ celebrated BBC mini-series (1995) and the most recent film (2005) add a scene in which Elizabeth is shown while she is admiring a beautiful landscape. Elizabeth - portrayed by actresses Jennifer Ehle and Keira Knightley - is clearly impressed by the scenery. The facial expression of the actresses indicates that the character is deeply affected by what she sees. The viewers even get the impression that Elizabeth experiences what could be referred to as a sublime moment. By adding these scenes, which involve an impressive camera movement to display the splendour of the scenery, the films pick up the link that is established between travelling and individual development in the passage from Pride and Prejudice quoted above. The audiovisual adaptations create the impression that experiencing the beauty of nature substantially enriches Elizabeth’s self. The added scenes, thus, seem to translate the attitude behind Elizabeth’s utterance ‘What are men to rocks and mountains? ’ very effectively into the audiovisual text - an utterance suggesting that there might be an alternative to the romance plot. Short statements like these in Austen’s novels, which are easily neglected given the weight of the romance as the overall plot pattern, seem to anticipate plot patterns that a number of twentieth-century women writers, such as Sylvia Townsend Warner in her novel Lolly Willowes (1926), developed for their female protagonists. In Townsend Warner’s novel the experience of nature constitutes a key to the development of the female protagonist and, unlike in nineteenth-century novels, romance is rejected by the protagonist as a potential way towards achieving a mature definition of the self. In Austen’s novels the romance remains predominant, but the protagonists’ thoughts about the pleasures of travelling and its significance for individual development introduce a subversive element, a double-voiced discouse. Marion Gymnich 230 3. Charlotte Brontë’s Jane Eyre: Unfulfilled dreams about travelling In Charlotte Brontë’s novel Jane Eyre the relationship between the protagonist’s development and her movement from one place to another corresponds very much to what one is likely to find in a novel of development. In the course of the title character’s development, which is depicted from childhood to maturity, the protagonist repeatedly moves to unfamiliar places. In these unfamiliar places she faces new challenges, which contribute very much to her individual development. Thus, on the macrostructural level of Jane Eyre, one can identify a clear correspondence between spatial movement and the different stages of the protagonist’s development, each stage of Jane’s maturation process correlating with a sojourn in a different location. Although Jane never actually travels to foreign places in those stages of her development that are presented in the novel, 12 travelling abroad is discussed several times in the novel. With respect to the idea of travelling to unfamiliar places, one can notice an interesting shift in terms of meaning in the course of Jane’s development. The notion of travelling is already introduced on the very first pages of Jane Eyre. In the hostile environment of her aunt’s household, where she is ostracized by her rich relatives, Jane finds a certain amount of solace in books. Only few of the books Jane reads are mentioned, but those that are deal with travelling. Among the books Jane reads there is Jonathan Swift’s Gulliver’s Travels, which the child Jane considers to be an authentic travelogue. She imagines one day actually seeing the strange countries depicted in this book with her own eyes. The idea of escaping from her unfriendly environment to other, far-away places also seems to motivate Jane’s special interest in another book she often reads in, Bewick’s History of British Birds. Sitting cross-legged in a window-seat, Jane reads about regions she is unlikely ever to visit, such as “the bleak shores of Lapland, Siberia, Spitzbergen, Nova Zembla, Iceland, Greenland, with ‘the vast sweep of the Arctic Zone, and those forlorn regions of dreary space’ ” (Jane Eyre 40). Jane’s travels are purely virtual, the window-seat offering her a certain sense of security, 13 but “Bewick’s History of the British Birds becomes for Jane a tract on flight and freedom” (Politi 1997 [1982]: 80). The passages about far-away regions apparently have left an indelible impression in Jane’s memory; the narrator comments on this particular reading experience: “Of these deathwhite realms I formed an idea of my own: shadowy, like all the halfcomprehended notions that float dim through children’s brains, but strangely 12 There is a hint that Jane travelled to various European countries after she married Mr Rochester. In her retrospective characterization of the girls she teaches in Morton the narrator says: “the British peasantry are the best taught, best mannered, most selfrespecting of any in Europe: since those days I have seen paysannes and Bäuerinnen; and the best of them seemed to me ignorant, coarse, and besotted, compared with my Morton girls.” (Jane Eyre 415) 13 Cf. Jina Politi (1997 [1982]: 80), who refers to the window-seat as “the window-seat womb”. Travelling and Individual Development in Novels by Women Writers 231 impressive.” (Jane Eyre 40) This ‘virtual travelling’ seems to be indicative of a profound desire on the part of the young Jane to escape from her hostile environment, where she feels imprisoned, but also of a more far-reaching wish to experience something that is unfamiliar and exciting. Jane seems to feel the desire to experience freedom, the wish that also fuels real travelling and that certainly inspired the Victorian women travellers. But instead of being granted the freedom she longs for, Jane is sent to a charity school by her aunt, who wants to get rid of the orphan. The school is experienced as another form of imprisonment by Jane. After having been at Lowood for eight years, first as a pupil, then as a teacher, Jane once more, and more explicitly this time, utters a wish for gaining freedom: My world had for some years been in Lowood: my experience had been of its rules and systems; now I remembered that the real world was wide, and that a varied field of hopes and fears, of sensations and excitements, awaited those who had courage to go forth into its expanse, to seek real knowledge of life amidst its perils. […] I tired of the routine of eight years in one afternoon. I desired liberty; for liberty I gasped; for liberty I uttered a prayer; it seemed scattered on the wind then faintly blowing. I abandoned it and framed a humbler supplication. For change, stimulus. That petition, too, seemed swept off into vague space, ‘Then,’ I cried, half desperate, ‘grant me at least a new servitude! ’ (Jane Eyre 116-117) Although Jane does not mention any specific far-away places this time, her wish to escape her confinement seems to be fuelled by the same desire as her childhood musings about Lapland and the Arctic region. In fact, the beginning of the passage quoted above almost reads like the resolution of a Mary Kingsley to travel to West Africa or a Florence Dixie to explore Patagonia. Yet Jane’s initial enthusiasm is soon checked by her awareness of the very limited options she really has. She, quite simply, lacks the financial means to become a woman traveller - or to organize her life in a way she wants. Jane’s relationship to travelling is largely one of thwarted experience, as Penny Boumelha (1990: 75) points out: “If her travel is restricted, at least she nearly goes to the South of France, nearly goes to Madeira, nearly goes to India.” When Jane arrives at Thornfield in order to work there as a governess, she is full of hope for stimulating new experience, as her recollections of the first morning in her new home illustrate: Externals have a great effect on the young. I thought that a fairer era of life was beginning for me, one that was to have its flowers and pleasures, as well as its thorns and toils. My faculties, roused by the change of scene, the new field offered to hope, seemed all astir. (Jane Eyre 130) Yet what she finds at Thornfield at first is merely a friendly and calm atmosphere, nothing that could satisfy her longings, her intense desire for change and action. The longing for a more exciting life, which Jane cannot suppress, is uttered very clearly in the following passage, which sounds very much like a proto-feminist statement: Marion Gymnich 232 […] I climbed the three staircases, raised the trapdoor of the attic, and having reached the leads, looked out afar over sequestered field and hill, and along dim skyline - […] then I longed for a power of vision which might overpass that limit; which might reach the busy world, towns, regions full of life I had heard of but never seen; […]. Who blames me? Many, no doubt; and I shall be called discontented. I could not help it; the restlessness was in my nature; it agitated me to pain sometimes. Then my sole relief was to walk along the corridor of the third story, backwards and forwards, safe in the silence and solitude of the spot […]. It is in vain to say human beings ought to be satisfied with tranquillity; they must have action […]. Millions are condemned to a stiller doom than mine, and millions are in silent revolt against their lot. Women are supposed to be very calm generally: but women feel just as men feel; they need exercise for their faculties, and a field for their efforts as much as their brothers do; they suffer from too rigid a restraint, too absolute a stagnation, precisely as men would suffer; and it is narrow-minded in their more privileged fellow-creatures to say that they ought to confine themselves to making puddings and knitting stockings, to playing on the piano and embroidering bags. It is thoughtless to condemn them, or laugh at them, if they seek to do more or learn more than custom has pronounced necessary for their sex. (Jane Eyre 140-141) In this passage there is an explicit criticism of the role allotted to women in society and an eloquent argument for what might be called equal-rights feminism. According to Jane, the domestic sphere is not enough to satisfy either her wishes or those of other women. The desire to see other places than the ones she is familiar with again constitutes an element of Jane’s revolt against the limitations imposed on her. She longs for action, for travelling, and seems ready to defy social norms and conventions to reach her aims, to be able to develop her self in interaction with new challenges and stimuli. These wishes do not come true, however. While it was her own assessment of her limited options that checked Jane’s enthusiasm in her previous reflections on her situation, this time it is an external influence which seems to stop her high-flying aspirations. When Jane is alone, thinking about her situation, she often hears strange laughter. This laughter, as she is to find out later, is that of the ‘madwoman in the attic’, Mr Rochester’s wife, who is imprisoned in Thornfield. What could be a more bitter comment on a young woman’s wish to go out into the world, to move freely and find her own path in life than the laughter of a woman who has been imprisoned for years? The laughter seems to mock Jane’s dreams of independence and predict their failure. And, indeed, Jane does not find independence during her sojourn in Thornfield, but, instead, a new kind of dependence: She falls in love with her employer, and now, as both the Victorian image of women and the conventions of romance predict, love seems to become the sole purpose of her life. Consequently, when Jane’s hopes of marrying the man she loves are destroyed her whole world seems to break apart. That Jane’s relationship with Mr Rochester can be seen as a kind of dependence is not just something that one may project on this relationship from today’s perspective. This way of seeing the relationship is in fact inscribed into the text itself. The imagery Travelling and Individual Development in Novels by Women Writers 233 Jane uses to describe the terms of her relationship with Rochester is that of an oriental harem or of a relationship between a master and a slave, as the following example illustrates: “He smiled; and I thought his smile was such as a sultan might, in a blissful and fond moment, bestow on a slave his gold and gems had enriched” (Jane Eyre 297). The inequality between Jane and Rochester is not just one of age, wealth and social status. It is also based on a discrepancy with respect to experience - and one of the areas used by the characters themselves to pin down this discrepancy is the fact that Rochester has travelled to many foreign countries, whereas Jane has seen very little of the world. Rochester states that he has “battled through a varied experience with many men of many nations, and roamed over half the globe, while [Jane has] lived quietly with one set of people in one house” (Jane Eyre 165). In the course of Jane’s development, the fascination with foreign places and with exploring the world that the protagonist clearly felt as a child and as a young woman gradually seems to give way to an increasingly negative attitude towards everything that is foreign. Foreign countries are now predominantly seen by her as places associated with danger, disease and moral corruption. There are a number of comparisons between the ‘foreign’ and the English in which the English is associated with moral principles, with what is healthy and rational, whereas the foreign is regarded as immoral, sick and irrational. After having left Mr Rochester, Jane is afraid that he will try to assuage his pain by travelling and by leading a wild, immoral life abroad. A negative attitude towards what is foreign is also apparent in references to Mr Rochester’s ward Adèle, whose coquettish, superficial ways are explained as the ‘natural’ result of her French origin. At one point, Mr Rochester points out that he took Adèle “out of the slime and mud of Paris, and transplanted [her] here, to grow up clean in the wholesome soil of an English country garden” (Jane Eyre 176). Jane largely seems to share this view. When St John Rivers asks Jane to marry him, it is not just the thought of being married to a man she does not love and who does not love her that shocks her. The idea of going to India also frightens her: She is convinced that she would not be able to survive for a long time in the Indian climate. While England is associated with health, the idea of travelling to India conjures up notions of disease and death, as Jane’s reaction to the idea of going to India as missionary reveals. The Caribbean and its inhabitants are also shown in a very negative light. The region is presented as an extremely unhealthy and putrid part of the world in Rochester’s recollections of the time he spent there. It is in particular the climate that is presented as insupportable: […] it was a fiery West Indian night; one of the description that frequently precede the hurricanes of those climates. Being unable to sleep in bed, I got up and opened the window. The air was like sulphur-streams - I could find no refreshment anywhere. Mosquitoes came buzzing in and hummed sullenly round the room; the sea, which I could hear from thence, rumbled dull like an earthquake - black clouds were casting up over it; the moon was setting in the waves, broad and red, Marion Gymnich 234 like a hot cannon-ball - she threw her last bloody glance over a world quivering with the ferment of tempest. (Jane Eyre 335) The images that are used by Mr Rochester in his recollections - the heat, the sulphur-like air, the darkness and the red moon - evoke a scenario that is reminiscent of a furnace, or, of course, of hell. The inhabitants of this region are likewise presented in a very unfavourable light. Mr Rochester’s wife Bertha, a Creole from Jamaica, is portrayed as a fierce, barely human lunatic, and Bertha’s brother, Richard Mason, is described as an effeminate and, at least in Jane’s eyes, unpleasant person. Bertha and Richard thus exemplify different, but equally pejorative patterns of seeing the colonized, who, according to Innes (1996: 122), were generally perceived either as “brute or vermin” (Bertha) or “as childlike and effeminate” (Richard). 14 The impulse to travel, to go out and see the world seems to have died in Jane at some point. While Jane’s thoughts about the world at an earlier stage in her development almost seemed to echo the aspirations of the Victorian women travellers, she gradually turns into a contented housewife. And this process sets in even before she is reunited with Mr Rochester. When she finds out that she has inherited a substantial amount of money, the only thing she wants to do with it is make a comfortable home for her new-found cousins Mary and Diana. The point of arrival of Jane’s development, thus, is the domestic sphere; her aspirations to venture out into the world seem to have been left behind like childish dreams. Maturity and a restriction to the domestic sphere seem to go hand in hand. Thus, Jane’s development conforms to the dominant Victorian ideology, which limited women’s radius of action essentially to the home. It seems highly ironical that it is St John Rivers, hardly an advocate for women’s emancipation, who criticizes this sudden change in Jane’s self-definition, which is revealed by her enthusiasm for domestic work. He comments on Jane’s delight in doing household chores: “ ‘ It is all very well for the present,’ said he; ‘but seriously, I trust when the first flush of vivacity is over, you will look a little higher than domestic endearments and household joys.’” (Jane Eyre 416) Jane, however, enthusiastically declares that household joys are “[t]he best thing the world has” (Jane Eyre 416), thus echoing the Victorian ideal of the ‘Angel in the House’. 4. Restrictions on travelling as expression of women’s matrimonial plight in Anne Brontë’s The Tenant of Wildfell Hall Anne Brontë’s novel The Tenant of Wildfell Hall is famous for its radical departure from the Victorian tendency to idealize matrimony. The novel presents a vivid picture of being trapped in a marriage without the possibility of seek- 14 In a similar vein, Edward Said (1994 [1978]: 40) summarizes the schemata predominantly at work in the perception of the colonized as follows: “The Oriental is irrational, depraved (fallen), childlike, ‘different’; thus the European is rational, virtuous, mature, ‘normal’ ” . Travelling and Individual Development in Novels by Women Writers 235 ing a divorce. The protagonist Helen Huntingdon, who originally marries for love, is soon treated very badly by her husband, who clearly does not love her any more. Thus, the novel seems to undermine the very premises of the romance plot. The discrepancy between the protagonist Helen Huntingdon and her husband in terms of their social power correlates with obvious differences with respect to their spatial mobility. While her husband is forever travelling to different parts of Britain, where he spends his time with his friends, gambling and drinking, Helen is forced to wait patiently for his return, without even knowing when he is likely to come back. Arthur Huntingdon very clearly claims and exercises the traditional male prerogative of moving to different places, which is also apparent in Jane Austen’s novels, while Helen is largely dependent on her husband’s goodwill if she wants to travel. Already during her honeymoon, Helen becomes acutely aware of her husband’s inclination to exert his culturally sanctioned prerogative of determining where his wife may travel: He [Huntingdon] wanted to hurry it over, for all the continental scenes were already familiar to him: many had lost their interest in his eyes, and others had never had anything to lose. The consequence was, that, after a flying transit through part of France and part of Italy, I came back nearly as ignorant as I went, having made no acquaintance with persons and manners, and very little with things, - my head swarming with a motley confusion of objects and scenes - some, it is true, leaving a deeper and more pleasing impression than others, but these embittered by the recollection that my emotions had not been shared by my companion, but that, on the contrary, when I had expressed a particular interest in anything that I saw or desired to see, it had been displeasing to him in as much as it proved that I could take delight in anything disconnected with himself. As for Paris, we only touched at that, and he would not give me time to see one tenth of the beauties and interesting objects of Rome. (The Tenant of Wildfell Hall 216) When Arthur Huntingdon denies his wife the possibility of enriching her life by getting to know the sights of cities such as Paris, Rome and London, he reveals his egoism and utter lack of consideration for his wife’s wishes. Moreover, this attitude emphasizes the male privileges with respect to spatial mobility in two ways: Firstly, it is the husband who decides where he and his wife go on their journey, what they do and how long they stay in a particular place. Secondly, his lack of enthusiasm for sightseeing is at least partially caused by the fact that he is already familiar with the places they visit - further evidence of men’s greater spatial mobility. It is only when Helen in her despair finally decides to leave her husband that she claims the right of spatial mobility. She has to do this in secret, however, since even the law at the time prevented her from leaving her husband with her son. The Divorce and Matrimonial Causes Act, which “enabled women to apply for divorce themselves for the first time in British history” (Purchase 2006: 65), was only passed in 1857, nine years after The Tenant of Marion Gymnich 236 Wildfell Hall was published and more than thirty years after the story is set. 15 The decision to escape from her husband and thus to claim a right that was denied to women by law is beyond doubt a crucial step in Helen Huntingdon’s development - one that was regarded as a scandalous token of female independence by many contemporary readers. 5. Conclusion Although a number of scholars have begun to explore the implications of the gendering of space in literary texts, this is beyond doubt still an area of literary studies that deserves further attention. The restrictions imposed on women’s spatial mobility can be regarded as a metonymy of women’s situation in nineteenth-century England. On the surface, many novels written by nineteenth-century women writers conform to the plot pattern of the romance, thus reinforcing predominant views of gender relationships. Yet the novels also contain elements that defy the notion of marriage being the sole and ‘natural’ goal of women’s existence. The female protagonists’ thoughts about travelling constitute one of the loopholes through which one may glimpse an alternative way of life, one adopted after all by a number of women in nineteenth-century England. Although the figure of the woman traveller does not play a particularly prominent role in the novels discussed above, this female figure still somehow seems to hover in the background of these novels, suggesting that women may find personal fulfilment far away from a life determined by domestic duties. 15 Even this piece of legislation, however, did not help women in Helen Huntingdon’s predicament, since “it also stipulated that for husbands, the wife’s adultery alone was enough to warrant divorce. For wives, on the other hand, the husband’s adultery was deemed to be insufficient grounds for divorce, and would have to be mitigated by other factors such as violence, desertion, bigamy, incest and bestiality.” (Purchase 2006: 65) Travelling and Individual Development in Novels by Women Writers 237 References Austen, Jane. 1985 [1813]. Pride and Prejudice. Harmondsworth: Penguin. Birkett, Dea. 1989. Spinsters Abroad: Victorian Lady Explorers. Oxford: Blackwell. Blunt, Alison. 1994. Travel, Gender and Imperialism: Mary Kingsley and West Africa. New York: Guildford Press. Boumelha, Penny. 1990. Charlotte Brontë. New York et al.: Harvester Wheatsheaf. Brontë, Anne. 1985 [1848]. The Tenant of Wildfell Hall. Harmondsworth: Penguin. Brontë, Charlotte. 1985 [1847]. Jane Eyre. Harmondsworth: Penguin. Ferguson, Mary Anne. 1983. “The Female Novel of Development and the Myth of Psyche.” In: Denver Quarterly 17.4: 58-74. Frawley, Maria H. 1994. A Wider Range: Travel Writing by Women in Victorian England. Rutherford, N.J.: Fairleigh Dickinson University Press. Frieden, Sandra. 1983. “Shadowing/ Surfacing/ Shedding: Contemporary German Writers in Search of a Female Bildungsroman.” In: Elizabeth Abel, Marianne Hirsch & Elizabeth Langland (eds.). The Voyage In: Fictions of Female Development. Hanover/ London: University Press of New England. 304-316. Gilbert, Sandra M. & Susan Gubar. 1979. The Madwoman in the Attic: The Woman Writer and the Nineteenth-Century Literary Imagination. New Haven/ London: Yale University Press. Gutenberg, Andrea. 1999. “Schielender Blick, double-voiced discourse und Dialogizität: Zum Dopplungskonzept in der feministischen Literaturwissenschaft.” In: Andrea Gutenberg & Ralf Schneider (eds.). Gender - Culture - Poetics: Zur Geschlechterforschung in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Festschrift für Natascha Würzbach. Trier: WVT. 249-276. Innes, C.L. 1996. “ ’ Forging the Conscience of Their Race’: Nationalist Writers.” In: Bruce King (ed.). New National and Post-Colonial Literatures: An Introduction. Oxford: Clarendon. 120-139. Lawrence, Karen R. 1994. Penelope Voyages: Women and Travel in the British Literary Tradition. Ithaca: Cornell University Press. Mills, Sara. 1991. Discourses of Difference: An Analysis of Women’s Travel Writing and Colonialism. London: Routledge. Politi, Jina. 1997 [1982]. “Jane Eyre Class-ified.” In: Heather Glen (ed). Jane Eyre. Houndmills, Basingstoke: Macmillan. 78-91. Purchase, Sean. 2006. Key Concepts in Victorian Literature. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan. Said, Edward. Orientalism. 1994 [1978]. New York: Vintage. Schabert, Ina. 1997. Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart: Kröner. Showalter, Elaine. 1982 [1977]. A Literature of their Own: British Women Novelists from Brontë to Lessing. Princeton: Princeton University Press. Würzbach, Natascha. 2004. “Raumdarstellung.” In: Vera Nünning & Ansgar Nünning (eds.). Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart/ Weimar: Metzler. 49-71. Nagihan Haliloglu Forgetting in Paris, Remembering in London: Travel and Memory in Jean Rhys’s After Leaving Mr Mackenzie The starting point of my argument is a commonplace, namely that certain places induce one to abandon one’s self, while others call us to take stock of our lives. Naturally, what we call ‘home’, where our relatives and those who have witnessed our process of growing up are, are places where one is encouraged, if not forced, to account for one’s past and present deeds. Travel, in that sense, acts as a refuge for those at home wanting to flee their ties and the memory of who one is and what one has set out to do. More often than not one travels to forget one’s responsibilities and woes. One sometimes travels simply to forget. Here I take travel in its simplest sense, of exchanging one set of geographical coordinates for another. However, when we think of travel in terms of exchanging one ‘space’ for another, the commonplace cedes its place to the ontological, and travel becomes an act against the formal obligation to remain in one’s place. In order to regard travel as a change of space I first have to define what I mean when I say ‘space’. In his article “Autobiography and Geography: A Self-Arranging Question” (2002), Frédéric Regard, borrowing from Henri Lefebvre, argues convincingly that space can be conceived of as more than just a geographical reality, and can be read as an “encoding of the social relationships of production and reproduction”. Following upon that, Regard concludes that “every discourse speaks space, that is, every discourse is in space and about space.” Space, when seen as ‘speaking discourse’, speaks certain mindsets, obligations and expected patterns of behaviour. If, then, each space speaks a discourse unto its own, leaving one space for the other can be conceived of as leaving one discourse for the other. Accordingly, travel between spaces throws into relief the difference of these discourses and how they hold sway in their given set of circumstances. The reading of discursive space through the relationships of production and reproduction is very felicitous for an investigation of Jean Rhys’s After Leaving Mr Mackenzie, because the subject, or the body, that we are trying to position is that of a single woman whose contribution to society’s network of production and reproduction is suspect at best. 1 She does not have a stable 1 The positioning of Rhys’s heroines in society has been extensively dealt with in Sue Thomas’s The Worlding of Jean Rhys (1999). In her study, Thomas describes the category of the amateur, which, by the very meaning of the word, does not accommodate regular or efficient (re)production. Thomas explores the sexual habits of this category of woman and the threats to society she presents: “She was constructed as a national and racial threat from within […] The discourses around her focused on her disease or dis/ ease and racial health; the fitness of the mother body, her own or that of her partners’ wives Nagihan Haliloglu 240 job or sexual relationship - she is practically not part of this framework of reference. Devoid of such markers to situate herself, her place is determined by her dependency on other people and her physical and social distance from them. For the protagonist of After Leaving Mr Mackenzie, the exchange of geographical space signals the exchange of bodies in relation to which she defines herself. I argue that in this novel, as spaces in the Regardian sense of the word, Paris and London are dominated by different discourses and I will investigate how the heroine becomes aware of these discourses and responds to them. For the purposes of this paper I focus on memory acts as the distinguishing feature of these discursive spaces and look at how they are triggered by travel. I want to relate this to the positions that bodies inhabit in certain social contexts and to how Julia’s relationship to them determines her engagement in forgetting and remembering. In After Leaving Mr Mackenzie, Paris becomes the embodiment of self-abandonment and London the place of reckoning. Since these two cities are proposed as two spaces that are discursively antithetical to one another, the literary representation of the movement from one to the other has to be scrutinized for its mode of mapping these discursive differences. Considering travel as a way of depicting how space is covered in time, I also consider possible chronotopes that could help formulate a mutual genealogy of travel and memory. If we take a chronotope to be a unit of analysis for looking at the characteristics of temporal and spatial categories in a given narrative, memory acts, which are a function of both of these categories, will help us identify possible chronotopes for Julia’s story. The London-Paris discursive opposition is articulated by Julia in terms of how she feels in each space, and she codifies the difference through memory acts: “Julia thought: ‘This place tells you all the time, ‘Get money, get money, get money or forever be damned.’ Just as Paris tells you to forget, forget, let yourself go.” (ALMM 65) As attested to by the heroine here, each city, and the corresponding discourse, requires and facilitates different memory practices. Whereas London speaks to its citizens through an economic jargon, Paris, according to Julia, lets them be and encourages them to forget. Thus, Rhys demarcates these two spaces through what they tell you, through the world-view that each of them presents. Thus, leaving one for the other is leaving one life-style, one perception of the world for the other. The reader is shown that travel in geographic space corresponds not only to a change of social environment but also to a change of the discourse within which one has to define oneself. At the start of After Leaving Mr Mackenzie we meet the heroine at what seems to be a dead-end. Julia, the protagonist and focalizer for the best part of the novel, is at a Paris hotel which she believes is “a good sort of place to hide in” (ALMM 9). She has just been left by her lover, and it is clear that she or future wives; and her lack of self-control, understood in moral or psychological terms, and the difficulties of regulating it.” Travel and Memory in Jean Rhys’s After Leaving Mr Mackenzie 241 is looking for a safe place where she can stay “until the sore and cringing feeling, which was the legacy of Mr Mackenzie, had departed.” (ALMM 9) Then we are informed about a telegram which lets the reader know that Mackenzie had still been providing for her, and that he will now cut off her allowance. In Jean Rhys’s rhetoric of relationship economics this signals the severance of the ultimate tie, 2 and it is after reading the telegram that Julia’s perception of Parisian space changes. Regard argues that discourse spatializes the subject in a much more decisive fashion than geography. The feeling of being rejected and the strangeness she feels spatialize Julia and she has already started the act of leaving in her mind: “The room already had a different aspect. I was strange - as a place becomes strange and indifferent when you are leaving it.” (ALMM 15) Thus, the perception of space changes even before the subject has begun to travel. For Julia, the only way to escape this feeling of alienation which is now becoming a part of the scene in Paris, especially the hotel room where she stays, is to go away: She turned her head over on the pillow, shut her eyes, and saw herself slapping Mr Mackenzie’s face. That seemed to have happened a long time ago. She knew that she would always remember it as it were yesterday - and always it would seem to have happened a long time ago. She thought: ‘I must go away. That was a good idea. That’s the only thing to be done.’ (ALMM 43) It is an unsettling moment for Julia, not only because she realizes the ‘legacy’ of Mr Mackenzie will be a persisting one, but also because it threatens to unsettle her practice of remembering and forgetting which have been allocated to the cities of Paris and London. Later in the novel, when she has returned to London, we learn that Paris had originally been a refuge from London, a refuge where she wanted to forget things and start anew. Thus, in a way, the imperative to leave Paris for the time being is important not just for Julia’s peace of mind, but also to save the integrity of the discursive space of Paris, as Julia experiences it. That Paris is not the place to remember for Julia is revealed by the trips down memory lane that she takes there. When she tries to tell the story of why she left London in the first place to live in Paris to an artist she models for, it is clear that she feels alienated from her story. We see that Paris, the city of forgetting for Julia, is not favourable to travels in the self. To reveal the feeling of persecution and unease that Julia feels, the narrator relates Julia’s experience of estrangement in the artist’s studio through her own words, in a conversation with her lover: ‘Well, all the time I was talking I had the feeling I was explaining things not only to Ruth - that was her name - but I was explaining them to myself too, and to the 2 In her novels Rhys codifies a very particular relationship between her heroines and men, marked by dependency. Bill Ashcroft, Gareth Griffiths and Helen Tiffin (1989: 30) recognize that within her poetics she has “drawn an analogy between the relationship of men and women and those of the imperial power and the colony.” Nagihan Haliloglu 242 woman in the picture. It was as if I were before a judge and I were explaining that everything I had done had always been the only possible thing to do. [...] It was a beastly feeling I got - that I didn’t quite believe myself, either. I thought: ‘After all, is this true? Did I ever do this? ’ [...] ‘And I felt as if my life and all myself were floating away from me like smoke and there was nothing to lay hold of - nothing. And it was a beastly feeling, a foul feeling, like looking over the edge of the world. It was more frightening than I can ever tell you. It made me feel sick in my stomach. I wanted to say to Ruth: ‘Yes of course, I never did all that. But who am I then? Will you tell me that? Who am I, and how did I get here? ’ Then I had just sense enough to pull myself together and not to say anything so dotty.’ (ALMM 40-41) We see here that Julia is prompted to speak of her memories when she is under the gaze of the painter and a female figure is staring at her from a painting. It is only when she feels officially forced to that she remembers her story in Paris. Only under such scrutiny does she try to justify her actions, and yet all evidence she can bring forth is her own words. To her question of “After all, is this true? ” no one can provide the answer in Paris, for she has no constant significant other who keeps a record of what she is doing. This, then, is another aspect of forgetting that is associated with Parisian space in After Leaving Mr Mackenzie: bereft of anyone who could verify her story and the absence of places that have witnessed her formative experiences, Julia feels she is not able to tell her own story. Paris, then, is a void when it comes to storing foundational experiences for Julia, and though this is originally a state she has looked forward to, the real experience of it is actually ‘a foul feeling’. The inextricable link between travel and memory in Julia’s experience is best revealed in her question of ‘Who am I and how did I get here? ’ Regard takes this question as the tool through which to analyze self-narrations: “The question is not so much ‘who am I? ’ as ‘where am I? ’” It is the existential woes of someone who has difficulty piecing together her memories to retrospectively reconstruct, as it were, her itinerary, the chain of events that have led her to be where she is now. Her geographical coordinates, also the place where she now finds herself in the social matrix, appear senseless to her, and she has a hard time remembering her trajectory. Lacking the bodies of evidence, she feels she lacks the authority to tell her own story. In order to flee the recurrence of such a foul feeling and the memory of Mr Mackenzie, Julia travels to London. Though she travels to ‘forget’, her choice of destination belies her intentions. Her motives are not discussed in the novel, but this change of space signifies an exchange of the social matrix that Julia finds herself in. This is how she places herself in the social constellation in Paris, in relation to the bodies that are important for her livelihood: When she thought of the combination of Mr Mackenzie and Maitre Legros, all sense of reality deserted her and it seemed to her that there were no limits at all to their joint powers of defeating and hurting her. Together the two perfectly repre- Travel and Memory in Jean Rhys’s After Leaving Mr Mackenzie 243 sented organized society, in which she had no place and against which she had not a dog’s chance. (ALMM 17) Although not explicitly so stated, it is evident that one of the reasons why Julia has no place in ‘organized society’ is that she herself escapes the clutches of the social mechanisms by being constantly on the move. The social contract requires that the subject remain in a given position through which her/ his relation to social modes of production and reproduction can be mapped. In that respect, it can be argued that fleeing Paris is a decision to flee the state of being a non-entity, to inscribe herself once more in organized society as daughter or sister. It can be seen as an effort to resituate herself in another geography of social relationships. The limits and possibilities engendered by social geography play a significant role in Julia’s decision to return to a space where exigencies of the social structure both facilitate and call for remembering, an act which she has neglected in Paris. But then she realizes that once she loses her shackles from Mackenzie, there are new ones to be invoked in London. Even before a change of space happens in the physical sense, the imminent change of discourse is signaled in the way Julia anticipates the passage. The minute she decides to go, Londonian space is conjured up in her mind, with the corresponding discourse of restrictive family ties and capitalism: She began to reckon up the money she still had and came to the conclusion that, on arriving in London, there would be about thirty shillings left. Suddenly she began to doubt the wisdom of going there with so little money. She had not illusions as to the way in which her sister would receive her. It was pretty awful being in London without any money. Drabness swallowed you up, very quickly. (ALMM 44) For Julia, the preparation for the journey is thus not only the usual one of going shopping for clothes and checking for necessities (which she also does), but also of trying to refamiliarize herself with the dominant discourse of London, that of ‘reckoning up’. The refamiliarization takes on full force on the train to Calais. The way Rhys depicts Julia’s thoughts on the train testifies more than anything to the fact that travel in geographical space, with all of its paraphernalia of newspapers and fellow passengers, also enacts a traversing of discourses: Julia left Paris the next day by the midday boat train for Calais. She had bought an English illustrated paper at the Gare du Nord. In the train she read steadily down the glossy pages, which chattered about a world as remote and inaccessible as if it existed in another dimension. The people sitting opposite to her - obviously a married couple - were also English and they were reading the English papers. To all intents and purposes she was already in England. She felt strange and subdued. (ALMM 45) The change of space, here, is accompanied by a change in the discourse that space, as Regard suggests, speaks. In a possible attempt at acclimatization, Julia buys an English newspaper. Apart from the English language itself, the Nagihan Haliloglu 244 text on the page reproduces England for Julia, a world “as remote and inaccessible as if it existed in another dimension”. The difficulty she has in getting into this world is partly due to the different discourses used or ‘spoken’ in an English paper as opposed to a French one. The description of the journey contains other vestiges of the change of discursive scenery as well. Julia recognizes the pair sitting in front of her as “obviously a married couple”. The English context, then, makes certain things more apparent than others, gives Julia a taxonomical strategy through which she assesses people around her. Along with this scene of ‘respectability’ it is the terms in which she regards people that lead her to conclude that the change of space, the change in prevalent social discourses has been complete: “To all intents and purposes she was already in England.” Thus, Rhys lets the reader witness the transition from one space to the other in terms of discourse. For Julia, while her position in Paris allows her a great degree of indifference, the discursive space of England encourages her to look about her and to categorize people in order that she may put herself into the picture. Her first encounter with her sister, who has been looking after their sick mother, reminds her promptly of where she belongs. Norah sits across from her “as though she were waiting for explanations” (ALMM 51), and when Julia is not forthcoming, Norah asks how long Julia will be staying. Julia says she does not know and the conversation gets even more strained: “Then there was a silence, like that between travellers in a railway carriage who have started a conversation which dies from lack of subjects of mutual interest” (ALMM 52). It is clear that Norah sees Julia as the prodigal daughter/ sister who has gone to Paris and is up to no good, and she finally confronts her with this accusation: ‘Yes, but look here, this is perfectly absurd,’ said Norah fretfully. ‘You’ve had practically nothing to do with us for years - and you don’t seem to have starved.’ […] ‘And who’s better dressed - you or I? ’ said Norah. A fierce expression came into her eyes. (ALMM 54) Her sister’s expression lets Julia know what to expect of London, and touches her to the core: “She [Julia] had lost the feeling of indifference to her fate, which in Paris had sustained her for so long.” (ALMM 55) The discourse in London disallows this indifference, she has to take stock of her fate, consider and weigh her successes and failures. Michael Basseler and Dorothee Birke (2004: 133), pointing to the trope of return to the childhood home, formulate some of the functions of a ‘travel in the self’ occasioned by this narrative tool, including “the staging of the foundations of identity”. Returning to London can then be regenerative for Julia’s capacities for telling her life-story in the sense that through renewed contact with certain people and spaces that have born witness to her foundational experiences, it can allow her to reconstruct her identity-narrative. Most importantly, it allows her to define herself independently of her relationship with Mackenzie. Travel and Memory in Jean Rhys’s After Leaving Mr Mackenzie 245 As revealed by her reaction to her mother’s death, Julia’s remembering in London is staged not so much through the trope of visiting places where certain important episodes of her life have taken place, but rather through the bodies that are in London, her mother’s, her sister’s or her ex-lover Mr James’. All of these bodies act as repositories of memory, on which Julia can read, indeed, can see the physical effects of the passage of time. Thus the return from a space that bears no markers of her earlier life to a space which acts like a store of memory and in which another way of looking at life reigns, leads Julia to ‘remember’, in both senses of the word: both intentional recollecting and unsolicited images appearing in her mind’s eye. One moment of the latter kind is when she goes to see her dying mother: Julia sat there remembering that when she was a very young child she had loved her mother. Her mother had been the warm centre of the world. You loved to watch her brushing her long hair; and when you missed the caresses and the warmth you groped for them [...] It was strange sitting there, remembering the time when she was the sweet, warm centre of the world, remembering it so vividly that mysteriously it was all there again. (ALMM 78) This passage suggests that as the centre of the world, all ‘travels’ originate from the mother, but then, with time, even this centre gets blurred: “And from being the warm centre of the world her mother had gradually become a dark, austere, rather plump woman, who, because she was worried, slapped you for no reason that you knew.” (ibid.) Indeed, if we take all travels to originate from the mother, also all memory starts with memories of mother. Julia’s realization of her mother’s now faded centrality is an instant where a subject defines herself in terms of the distance she has covered from the bodies that have witnessed her foundational experiences. The movement away from the mother, then, is offered as the possible chronotope of Julia’s story, which almost sidelines the chronotope of the movement away from the body of the lover, which the title of the novel suggests. 3 The outpour of emotions occasioned by her mother’s death also leads to an acceptance of truths that she had been keeping at bay. “She was crying now because she remembered that her life had been a long succession of humiliations and mistakes and pains and ridiculous efforts.” (ALMM 94) The 3 The centrality of the mother also leads Julia to consider the ‘change of space’ that her mother has had to suffer and she tries to measure her own experience against her mother’s: “She had been thinking of the words ‘Orange-trees’, remembering the time when she had woven innumerable romances about her mother’s childhood in South America, when she had asked innumerable questions, which her mother had answered inadequately or not at all, for she was an inarticulate woman. Natural, accepting transplantation as a plant might have done. […] Had she been unhappy? No, Julia did not remember her as an unhappy woman. Austere, unconsciously thwarted perhaps, but not unhappy.” (ALMM 76) She remembers the times when she confabulated about her mother, and once again in London, does so again, but this time at a more fundamental level. The above quotation suggests that in her mother, Julia is trying to find a figure that can stay indifferent to ‘transplantation’ and can manage to keep unhappiness at bay. Nagihan Haliloglu 246 economic discourse or language of London is at play here, the forgetting enterprise that Julia had taken on in Paris collapses and this almost economical accounting for one’s life can be done only through remembering. The death of the mother leaves a terrible void, and threatens to make it impossible for Julia to have any grasp of the distance she has travelled, or the progress she has made throughout her life, since the centre of the world no longer exists. Julia, in an attempt to trace the contours of her subjectivity, which she believes she is at risk of losing, now wills some memories into her consciousness: How far back do you remember? The last time you were really happy - happy about nothing? When you were happy about nothing you had to jump up and down. ‘Can’t you keep still child, for one moment? ’ No, of course you couldn’t keep still. You were too happy, you were bursting with happiness. You ran as if you were flying, without feeling your feet. And all the time you ran you were thinking, with a tight feeling in your throat: ‘I’m happy - happy - happy...’ That was the last time you were really happy about nothing, and you remembered it perfectly well. How old were you? Ten? Eleven? Younger ... yes, probably younger. And you could remember the first time you were afraid. (ALMM 115) This is a self-definitive moment for Julia, and we see that such moments are made possible through a travel in the self, with Julia traversing the years in her mind, as in “ten, eleven, younger”. There is a stark contrast to the travel in self that Julia attempts in Paris. Whereas in Paris she was facing shreds of memory that sounded trivial when put together, here she remembers with clarity. However, after all this intense remembering and taking stock, when Julia once more puts distance between the spaces of her childhood and herself, that is when she returns, this time to Paris, the forgetting starts straight away: “The visit to London had lasted ten days, and already it was a little blurred in Julia’s memory. It had become a disconnected episode to be placed with all the other disconnected episodes which made up her life.” (ALMM 129) Although the visit to London lets Julia experience once more the spaces that have been fundamental in the formation of her identity, this experience, this inhabiting of her old self does not seem to carry over to Paris, where another discourse reigns, where the order of the day is forgetting. Remembering, and the concomitant travel in the self, then, appears to be possible only when one is in the ‘right’ place. Thus, After Leaving Mr Mackenzie sketches the implications of travel from the commonplace to the ontological and urges us to probe the function of travel in both these senses. It exposes the dynamics between change of geographical and discursive space and shows that the literary description of a passage from one geographical space to another, as in a train journey, can act to signal the change in discursive space as well. The social matrices of both London and Paris are described and the reader sees the protagonist trying to situate herself in both these social environments and we are given to understand that failure to do so results in an urge to flee that particular order. Travel and Memory in Jean Rhys’s After Leaving Mr Mackenzie 247 Thus, in the novel travel is represented as an escape from a dead-end and simultaneously as refusing to stay within the boundaries of the discourse that may reign in a given space. The change in discourse which the heroine undertakes, in turn, results in certain responses which manifest themselves primarily through memory acts. The memory acts that Julia engages in in the two cities are represented through her travels in the self, which are evidently more successful in London. The novel suggests that the capacity of a place to facilitate the travel in the self depends on the ways that memory is stored in that space. Special emphasis is given to the bodies that are in London, especially her mother’s, which provides a possible chronotope and at the same time a foil for Julia’s story. The body of the mother encapsulates the point of origin for all travel and memory for Julia. It is only when she recovers proximity to her mother that she can remember and reconstruct her trajectory in life. Thus, as in the example of the mother, Paris and London become metonyms for the larger net of relationships that the cities represent. Rhys codifies the different discourses in these cities through the memory acts that each city, or each set of social relationships, favour, making travel between these two spaces the stage where their discursive differences are played out. Nagihan Haliloglu 248 References Ashcroft, Bill, Gareth Griffiths & Helen Tiffin. 1989. The Empire Writes Back: Theory and Practice in Post-Colonial Literatures. London/ New York: Routledge. Basseler, Michael & Dorothee Birke. 2004. “‘Mimesis der Erinnerung‘: Formen der Inszenierung von Erinnerungsprozessen in Erzähltexten.“ In: Astrid Erll & Ansgar Nünning (eds.). Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: de Gruyter. 123-147. Regard, Frédéric. 2002. “Autobiography and Geography: A Self-Arranging Question.” In: Reconstruction 2.3 [http: / / reconstruction.eserver.org/ 023/ regard.htm 20.09.2007] Rhys, Jean. 2000 [1930]. After Leaving Mr Mackenzie. London: Penguin. Thomas, Sue. 1999. The Worlding of Jean Rhys. Westport, Connecticut: Greenwood Press. Anna Callenholm Erinnerung als Hexerei: Ruth Klügers weiter leben Eine Jugend als Reise in die Vergangenheit Als Ruth Klügers Autobiographie weiter leben Eine Jugend 1992 veröffentlicht wurde, wurde sie - zumindest innerhalb der Literatur zur Shoah - schnell zum Bestseller. 1 Die Autobiographie weiter leben wurde von der Literaturkritik gefeiert und vom deutschen Publikum hunderttausendfach gekauft. 2 Dazu dürfte Marcel Reich-Ranickis sehr positives Urteil im Literarischen Quartett beigetragen haben, denn weiter leben zählt laut Reich-Ranicki „zum Besten, was in den letzten, zwei, drei, vier Jahren in deutscher Sprache erschienen“ ist. 3 Zum Besten zählt weiter leben wohl auch deswegen, weil die Autobiographie ein komplexes Erinnerungsbuch ist, das durch eine bewusste Durchbrechung der Erwartungen an die Literatur der Shoah gekennzeichnet ist. So schreibt etwa Dagmar Lorenz (1993: 208): „weiter leben combines autobiography and a critical metadiscourse integrating feminist theory, Holocaust studies, theory of fascism, and history.“ In weiter leben ist nicht nur die Vergegenwärtigung des Erlebten ein zentrales Thema, sondern auch die Erinnerung selbst wird thematisiert und problematisiert. Klüger legt zwar Zeugenschaft über ihre Erfahrungen in der Shoah ab, konstruiert aber zugleich in weiter leben ihre Erinnerungen in einer solch individuellen Art und Weise, dass nicht allein die Zeugenschaft im Vordergrund steht. Stattdessen wird der individuelle Charakter der Erinnerungen hervorgehoben, und die Voraussetzungen des Erinnerungsprozesses sowie die Konstruiertheit von Erinnerungen werden problematisiert. Im Folgenden soll die Problematik dieser Zeugenschaft diskutiert werden, so wie sie in weiter leben von Klüger dargestellt wird. Die Reise in die Vergangenheit und in die eigenen Erinnerungen werden in weiter leben im Text sehr unterschiedlich und zum Teil widersprüchlich beschrieben. Wie werden diese Erinnerungen konstruiert und aus welcher Perspektive? Der Blick in die Vergangenheit ist schmerzhaft und von dem erlittenen Trauma geprägt. Ein stets wiederkehrendes Thema in weiter leben ist die Trauer um und Zeugenschaft in Bezug auf Klügers ermordeten Vater und Bruder. Diese beide haben in weiter leben den Status von ’Gespenstern’, die unerlöst ’herumspuken’. Wie Klüger sich zu ihren Erinnerungen positioniert und wie sie um ihre ’Gespenster’ trauert, soll im Folgenden erörtert werden. Mit weiter leben schreibt sich Klüger in eine Tradition der Shoah-Literatur ein, und das heißt auch in eine Gattung, die durch ihren Dokumentations- 1 Die folgenden Seitenangaben aus Klügers weiter leben Eine Jugend beziehen sich auf die dritte dtv-Ausgabe aus dem Jahr 1995. In den Zitaten wird der Text als WL abgekürzt. 2 Vgl. Liebrand (2003: 237). 3 Das literarische Quartett, Zweites Deutsches Fernsehen, 14. Januar 1993; zit. nach Liebrand (2003: 237). Anna Callenholm 250 charakter gekennzeichnet ist. 4 weiter leben ist eine Autobiographie und für Klüger keineswegs Fiktion: „Ich wollte, es wäre ein Roman“, sagte sie, als weiter leben kurz nach der Veröffentlichung - wegen des Meta-Charakters - von einem Kritiker als Roman eingestuft wurde. 5 Mit Meta-Charakter ist hier gemeint, dass nicht die Darstellung des vergangenen Lebens selbst im Zentrum steht, sondern dass vielmehr die Probleme des Autobiographen in der Suche nach den Erinnerungen geschildert werden. 6 Dennoch hat Klüger in mehreren Artikeln und Essays die Problematik ihrer Erinnerungen thematisiert. 7 Ähnlich wie Philippe Lejeune (1998) besteht sie auf dem sogenannten autobiographischen Pakt, der mit dem Leser eingegangen wird. Autobiographien, vor allem diejenigen, die über die Shoah Zeugenschaft ablegen, haben laut Klüger eine bestimmte Authentizität, d.h., mit der Wahl der Gattung verpflichtet sich der Verfasser oder die Verfasserin einer Autobiographie, so gewissenhaft wie möglich das eigene Leben zu beschreiben. Die Erfahrungen, die in weiter leben beschrieben werden, seien demnach keineswegs Fiktion, sondern vielmehr „erlebte, eingefleischte Wahrheit“ (Klüger 1996: 405; Hervorhebung im Original). So steht Klügers Autobiographie dafür, wie Erinnerungen, wenngleich durch Verzerrungen und ein Trauma geprägt, doch einer individuellen Wahrheit verpflichtet sein können. Klüger selbst sagt dazu: Am Ende meines Buches steht ein Gedicht, das ich Aussageweigerung nannte und beinahe hatte ich dieses Wort auch als Buchtitel gewählt. Es sollte das Problem, das Tauziehen zwischen Erinnern und Verdrängen, zwischen Überforderung des Lesers und Verstummen, ins Licht rücken. Falsches, inadäquates, von der Subjektivität geprägtes Erinnern ist ein Thema in meinem Buch. (Klüger 1996: 410) Weiter leben setzt sich mit dem Bemühen um die individuellen Erinnerungen und deren Formulierung auseinander. Einerseits wird fast obsessiv nachgewiesen, was die Autorin zum Thema Shoah in Primär- und Sekundärliteratur recherchiert und gelesen hat. Andererseits ist weiter leben eben die persönliche Geschichte der überlebenden Frau Ruth Klüger. Weiter leben verdeutlicht somit ein Pendeln zwischen Reflexion und Distanz auf der einen Seite und einer fast privaten Nähe auf der anderen Seite. Diese Erzählstrategie kann damit erklärt werden, dass die Beziehung zu den eigenen Erinnerungen in der Autobiographie problematisiert wird. Denn Aspekte der Erinnerungsarbeit wie das Filtern, die Verschiebungen und die Wandelbarkeit der Erinnerungen werden im Text explizit thematisiert. Vor allem nimmt Klüger Bezug auf die Erinnerungsdiskurse der letzten 50 Jahre, setzt sich mit ihnen kritisch auseinander, kommentiert und ergänzt sie. Verdeutlicht wird durch diese Bezugnahme, dass weiter leben Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre 4 Vgl. Angerer (1998: 63). 5 Vgl. Klüger (1996: 406). 6 Vgl. Nadj (2003: 211-226). 7 Vgl. zum Beispiel Klügers Gelesene Wirklichkeit (2006) und „Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie“ (1996). Ruth Klügers weiter leben Eine Jugend als Reise in die Vergangenheit 251 verfasst wurde - zu einem Zeitpunkt, zu dem bereits viel zu dem Thema Shoah veröffentlicht war, das der Autorin beim Verfassen ihrer Autobiographie als Bezugsfolie diente. Klüger selbst sagt in einem Interview dazu: Ich schreibe von unserem Erinnern an das Vergangene und muß nicht wiederholen, was schon geschrieben ist. Das bedeutet aber auch, und ich glaube, das ist schon wichtig, daß da 40 oder 50 Jahre lang Schrifttum vorhanden ist, auf das ich mich beziehen kann. Ich muß nicht noch einmal schlecht das machen, was Primo Levi so gut gemacht hat. Mein Buch ist ein Buch der 90er Jahre. 8 Komplex und anschaulich zugleich entfaltet Klüger ihre Position als erinnerndes Subjekt. Diese reflektierte Erinnerungsposition signalisiert eine Trennung zwischen der erlebten Erfahrung und der Erinnerung daran. Klüger plädiert zudem für eine Umdeutung und Ergänzung der Literatur der Shoah; sie tut dies sowohl als Germanistin als auch als überlebende Frau. Die Reise in die Vergangenheit wird von einer überlebenden Frau unternommen, und das heißt auch, dass die Autorin bewusst geschlechtsspezifische Erinnerungen schildert. Zum Beispiel erwähnt Klüger Episoden, in denen sie als Mädchen oder Frau diskriminiert worden ist, interpretiert diese Erinnerungen, kommentiert sie und macht diese Erinnerungen zu einem wichtigen Teil der Autobiographie. Dennoch gibt es für Klüger so etwas wie eine ‚authentische Wahrheit’ in der Autobiographie. 9 Durch diese Widersprüchlichkeit weist weiter leben eine Spannung auf zwischen den persönlichen, privaten Erinnerungen einerseits und den bewussten Reflexionen über die Konstruiertheit der Erinnerungen andererseits. Das folgende Zitat aus weiter leben bestätigt diese besondere, reflektierte und zugleich feministische Erinnerungsposition: Erinnerung ist Beschwörung, und wirksame Beschwörung ist Hexerei. Ich bin ja nicht gläubig, sondern nur abergläubisch. Ich sag manchmal als Scherz, doch es stimmt, daß ich nicht an Gott glaub, aber an Gespenster schon. Um mit Gespenstern umzugehen, muß man sie ködern mit Fleisch der Gegenwart. Ihnen Reibflächen hinhalten, um sie aus ihrem Ruhezustand herauszureizen und sie in Bewegung zu bringen. Reibeisen aus dem heutigen Küchenschrank für die alten Wurzeln; Kochlöffel, um die Brühe, die unsere Väter gebraut, mit dem Gewürz unserer Töchter anzurühren. Zaubern ist dynamisches Denken. Wenn es mir gelingt, zusammen mit Leserinnen, die mitdenken, und vielleicht sogar ein paar Lesern dazu, dann können wir Beschwörungsformeln wie Kochrezepte austauschen und miteinander abschmecken, was die Geschichte und die alten Geschichten uns liefern, wir könnten es neu aufgießen, in soviel Gemütlichkeit, als unsere Arbeits- und Wohnküche eben erlaubt. (Sorgt euch nicht, daß es bequem wird - in einer gut funktionierenden Hexenküche zieht es immer, durch Fenster und Türen und bröckelnde Wände.) 8 Gespräch zwischen Ruth Klüger und Klaus Naumann, das 1993 geführt wurde und in der Zeitschrift mittelweg (Heft Dezember 1993 / Januar 1994) unter den Titel “Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stammt aus Wien“, veröffentlicht wurde. Hier zitiert nach Feuchert (2004: 137). 9 Vgl. Klüger (2006: 68-93). Anna Callenholm 252 Wir fänden Zusammenhänge (wo vorhanden) und stifteten sie (wenn erdacht). (WL 79f.) Erinnerungen müssen laut Klüger beschworen werden, sie werden gefiltert, geformt, sind kontextgebunden und subjektiv geprägt. Erinnerungen sind weiter abhängig von der Gegenwart und sagen zum Teil mehr über die Abrufsituation als über die Vergangenheit aus. 10 Der Kognitionspsychologe Daniel L. Schacter (1999) betont, dass Erinnerungen so konstruiert werden, dass sie in der individuellen Lebensgeschichte einen Platz finden können. Erinnerungen werden so nachträglich bedeutend und bestätigen die individuelle Persönlichkeit. In der Hexenküche von Klüger können sich Frauen kollektiv erinnern, einander im Erinnerungsprozess ergänzen und korrigieren. In einem provokativen Ton und in Anlehnung an den Feminismus der 1970er Jahre verlagert Klüger dabei die Diskussion in die Küche. Statt in die Küche verbannt zu werden, kann der Küchentisch zu einem Platz für philosophische oder politische Diskussionen werden. Das private Gespräch sowie die Diskussionen zu Hause können so aufgewertet werden. Mehr noch bietet Klüger provokativ an, dass Erinnerungen wie Kochrezepte ausgetauscht und gewürzt werden. Sie betont somit, dass Erinnerungen keineswegs einfach aus dem Gedächtnis abgerufen werden, sondern dass Erinnerungen vielmehr narrativ konstruiert werden. Jede Erinnerung wird so aus einer bestimmten, individuellen Perspektive konstruiert. Klüger arbeitet bewusst mit diesem Konstruktcharakter und betont ihre subjektiv geprägte Sichtweise. Im Sinne ihrer feministischen Sicht wird auch die negativ konnotierte Hexerei positiv aufgewertet. Außerdem bezieht sich Klüger mit dieser Hexenthematik auf einem besonderen Teil der Frauengeschichte. Die Reise in die Erinnerungen bedeutet für Klüger auch eine Auseinandersetzung mit dem Judentum. Aus dem obigen Zitat geht hervor, dass Klüger nicht an Gott glaubt, sondern - wie sie sagt - nur an Gespenster. Dass sie nicht an Gott glaubt, hängt nicht nur mit der Shoah zusammen. Sie bekennt sich zum Judentum, steht aber der Religion sehr kritisch gegenüber: „Wäre es anders und ich könnte sozusagen offiziell um meine Gespenster trauern, zum Beispiel für meinen Vater Kaddisch sagen, dann könnte ich mich eventuell mit dieser Religion anfreunden“ (WL 25). An Gespenster zu glauben heißt in diesem Zusammenhang, die ermordeten Familienmitglieder in Erinnerung zu behalten. Die Toten stellen uns laut Klüger Aufgaben, wollen gefeiert und bewältigt werden. In ihrem Trauerprozess ist es für Klüger deswegen wichtig, das jüdische Totengebet Kaddisch sagen zu dürfen, das normalerweise Männern vorbehalten ist. Außerdem haben die Gespenster für Klüger einen Platz in der Gegenwart. Lawrence Langer setzt sich in dem Aufsatz „Die Zeit der Erinnerung“ (2000) gerade mit dieser Gegenwärtigkeit des Trauerns in den Zeugenaussagen von Überlebenden der Shoah auseinander. Erinnerun- 10 Maurice Halbwachs (1966 [1925]: 156) betont, „daß unsere Einbildungskraft selbst im Moment des Reproduzierens der Vergangenheit unter dem Einfluß des gegenwärtigen Sozialmilieus bleibt.“ Ruth Klügers weiter leben Eine Jugend als Reise in die Vergangenheit 253 gen aus den Konzentrationslagern zeichnen sich laut Langer durch ihre fortdauernde Zeit aus: Wenn Überlebende von ihren Erfahrungen im Holocaust berichten, mögen die Erzählungen chronologisch erscheinen, sie sind aber laut Langer für die Zeitzeugin oder den Zeitzeugen höchst präsent. Langer (2000: 56) nennt dies „Dauer oder fortdauernde Zeit […]: Sie besteht diesseits des Vergessenen und läßt sich nicht aus dem Gedächtnis bergen, denn sie ist immer und war immer da - eine stets präsente Vergangenheit.“ Die traumatische Erfahrung wird nicht als Vergangenheit erinnert, sondern wird in ihrer Gegenwärtigkeit erlebt. Um diese fortdauernde Vergangenheit darstellen zu können, brauchen die Künstler laut Langer (2000: 61) deswegen verschiedene Formen, vor allem Mischformen, um die Erfahrungen überhaupt repräsentieren zu können. Klüger spricht diese fortdauernde Zeit in weiter leben häufig direkt an, vor allem dadurch, dass sie ihren Vater anspricht, als wäre er gegenwärtig. In Bezug auf ihren ermordeten Vater und die wenigen Erinnerungen, die an ihn geblieben sind, kommentiert die Autorin die Lebendigkeit ihrer Trauer und zugleich die Diskrepanz zwischen ihren Kindheitserinnerungen an ihren geliebten Vater einerseits, auch wenn diese mit Furcht und dem Gefühl ungerecht behandelt worden zu sein, vermischt sind, und seinem zu frühen und grausamen Tod andererseits. In ihrer Erinnerung an eine, wie sie es empfindet, ungerechte Bestrafung durch ihren Vater heißt es in einer direkten Anrede an ihn: „Siehst du, ich pfeif auf deine alte Schreibmaschine, ich habe was Besseres. Und laß dir gesagt sein, auch Kinder dürfen da ran“ (WL 28). Kurz danach fragt sie sich jedoch: „Dreht sich mein Leben im Kreis? Leb ich trotz aller Umzüge noch immer im 7. Bezirk? “ (WL 28) Klüger lebte als Kind vor der Deportation mit ihren Eltern in Wien, und die Erinnerungen, die sie an den Vater hat, stammen deswegen aus dieser Zeit. Klüger kommentiert die ambivalenten Erinnerungen an ihren Vater weiter: Ich erzähle diese Kindereien, weil sie alles sind, was ich von ihm habe, und obwohl ich sie beim besten Willen nicht zusammenbringe mit seinem Ende; weil ich mich, ohne in ein falsches Pathos zu geraten, nicht umstellen kann auf das, was ihm geschehen ist. Aber auch nicht loslösen kann. Für mich war mein Vater der und der. Daß er schließlich nackt im Giftgas krampfhaft nach einem Ausgang suchte, macht alle diese Erinnerungen belanglos bis zur Ungültigkeit. Bleibt das Problem, daß ich sie nicht durch andere ersetzen und auch nicht löschen kann. Ich bring’s nicht zusammen, da klafft etwas. (WL 28) Klüger problematisiert hier deutlich, wie schmerzhaft die Erinnerungen an ihren Vater sind. Durch einen Perspektivenwechsel zeigt sie, wie die eine Erinnerung nicht unbedingt mit der anderen vereinbar ist. Dieser Wechsel der Erinnerungen kann als Ausdruck dafür gelten, wie schwierig es ist, die Erinnerungen an das Erlebte wiederzugeben. Ihr Schreiben kann deswegen als ein Streben danach betrachtet werden, Zeugnis abzulegen - eine Bemühung, die auch bei einigen anderen Überlebenden durch Leerstellen gekenn- Anna Callenholm 254 zeichnet ist, bei Klüger aber häufig durch Metakommentare signalisiert wird. 11 Das abgebrochene Gespräch mit dem Vater und so auch die Trauer um ihn werden in dem Text immer wieder thematisiert. Der Text verdeutlicht auf diese Weise, dass die Vergangenheit immer noch präsent ist, und zugleich, wie schwierig es ist, Sinn aus den Erinnerungen zu stiften, vor allem dann, wenn sie nicht miteinander zu verbinden sind. Wie Langer betont, kann also von einer Trauerrede - in diesem Fall für Klügers ermordeten Vater - nicht die Rede sein, denn der Tod geschah unter solch traumatischen Umständen, dass er für die überlebende Tochter nicht als abgeschlossen gelten kann. Klüger sagt dazu: Ich kann’s nicht besser machen und versuche vor allem, dieses, wie mir scheint, unlösbare Dilemma am Beispiel meiner eigenen Unzulänglichkeit zu demonstrieren. Mein Vater ist zum Gespenst geworden. Unerlöst geistert er. Gespenstergeschichten sollte man schreiben können. (WL 30) Dass die Gespenster sie nie zur Ruhe kommen lassen, hängt für Klüger damit zusammen, wie diese Menschen gestorben sind. Wo es kein Grab gibt und wo man nicht mit Sicherheit wissen kann, wie die Geliebten gestorben sind, hört die Trauerarbeit nicht auf. Die Ungewissheit verfolgt die Familienmitglieder und Freunde ein Leben lang. Am Beispiel ihrer Mutter verdeutlicht Klüger, wie grausam diese Ungewissheit ist: „Für meine Mutter gab es nie einen Tag, an dem sie mit Sicherheit gewußt hätte, daß die zwei, der Mann und der Bub, dem Massenmord nicht entkommen waren. Die Hoffnung war wie eine begrenzte Menge Flüssigkeit, die mit der Zeit verdunstet“ (WL 95). Als Gespenst geistert demnach nicht nur der Vater, sondern auch Klügers älterer Bruder unerlöst herum. Denn obwohl Klüger erfahren hat, dass er in Riga erschossen wurde, spuken die unheimlichsten Bilder in ihrem Kopf herum. So hadert sie mit ihren Gespenstern, weil sie sie nicht in Ruhe lassen, und stellt gleichzeitig fest, wie unerreichbar sie sind: „Unübersteigbarer Stacheldraht zwischen uns und den Toten. […] Wir gehen ihnen entgegen, sie ziehen sich zurück“ (WL 98). Die Erinnerung an traumatische Erfahrungen zeichnet sich einerseits durch ihre erstaunliche Bildhaftigkeit und Genauigkeit aus. Die Erinnerung an ein psychisches Trauma ist oft genauer als Erinnerungen an Alltagsereignisse. 12 Die Erinnerungen wirken sogar, als wären sie ins Gehirn „einge- 11 In Ruth Klügers Still Alive. A Holocaust Girlhood Remembered (2001), Klügers Bearbeitung und Übersetzung von weiter leben ins Englische, wird die Erinnerung an den Vater durch weitere Informationen über seinen Tod ergänzt. Durch eine Leserin in Frankreich erfährt Klüger, dass ihr Vater nicht in einer Gaskammer getötet worden ist: „I should be relieved that he didn’t die that ultimate nightmare of death, in a crowded gas chamber, that it was a different, and perhaps a slightly lesser, nightmare. But now my mental furniture has to be rearranged, and it feels as if I am running through my house in the dark, bumping into things. […] So here are the two versions, the one with which I have lived for more than half a century, and the other still new and undigested.” (Klüger 2001: 40) 12 Vgl. Schacter (1999: 331). Ruth Klügers weiter leben Eine Jugend als Reise in die Vergangenheit 255 brannt“ (Caruth 2000: 93). Andererseits ist das Trauma durch seine Unerreichbarkeit charakterisiert. Das Trauma manifestiert sich - um mit Klüger zu sprechen - als andauernder Fremdkörper im Gedächtnis, als ‘verkörperte’ bzw. ‘eingeschriebene’ Erinnerung, die sich einer sinnstiftenden, konstruktiven Verarbeitung entzieht (vgl. Neumann 2005: 32). Ein Trauma ist deswegen sowohl durch seine Unerreichbarkeit, als blinder Fleck im Gedächtnis, als auch durch seine wiederkehrende Gegenwärtigkeit gekennzeichnet. Astrid Erll (2005: 85) stellt dazu fest: „Zu den Mechanismen traumatischer Erinnerung gehören Verdrängung, Dissoziation von der Erfahrung bereits während der Enkodierung sowie die unfreiwillige und zwanghafte Reproduktion von sinnlichen Erinnerungsfragmenten.“ Erinnerungen, die die Opfer am liebsten vergessen hätten, werden dadurch immer wieder vergegenwärtigt, denn im Gegensatz zu ‚normalen’ Erinnerungen ist das Trauma dem Bewusstsein nicht zugänglich und kann deswegen auch nicht willentlich abgerufen oder blockiert werden. Im Epilog zu weiter leben schildert Klüger, wie sie nach einem Unfall in Göttingen im Krankenhaus liegt und zwischen Leben und Tod schwebt. Vor allem in dieser Situation wird im Text verdeutlicht, wie die Reise in die Vergangenheit begonnen wird. Zugleich wird für den Leser der unheimliche Charakter der Gespenster spürbar. Die Gespenstergeschichten erhalten dadurch eine bedrohliche Dimension. Es wird beschrieben, wie Klüger Angst vor den Gespenstern hat und wie eine gute Freundin im Krankenzimmer sitzt, um „die Gespenster wegzuscheuchen“ (WL 278). Der Umgang mit den Gespenstern und die Auseinandersetzung mit ihnen werden in weiter leben als zentral für den Trauerprozess geschildert, und es wird deutlich, dass Klüger trotz Schmerz und Angst keineswegs die Erinnerungen in Ruhe lassen will oder kann. Ähnlich wie traumatische Erinnerungen tauchen die Gespenster auch unerwünscht auf. Klügers Gespenstergeschichte kann deswegen auch als ein recht ungewöhnliches Zeugnis über ihren Vater und Bruder betrachtet werden. Und zugleich ist weiter leben für die beiden eine Art Kaddisch. Nichtsdestoweniger verdeutlicht weiter leben, wie Erinnerungen immer in Konkurrenz zueinander stehen. Klüger beschreibt zum Beispiel häufig, wie ihre Erinnerungen sich von denen ihrer Mutter unterscheiden; das heißt sie führt immer wieder eine Metadiskussion darüber, wie ihre Erinnerungen sich von denen anderer unterscheiden. Als Erinnerungsbuch wirkt weiter leben demnach wie ein Puzzle von Fragmenten, das durch die Germanistin und Feministin Klüger zusammengefügt wird. Gekennzeichnet ist dieses Puzzle durch Intertextualität und Provokation. Dennoch passen trotz des Bemühens die Teile nicht recht zusammen. Oder, wie Klüger es formuliert: Scherben wo man hinschaut. Nur an meinen Unversöhnlichkeiten erkenn ich mich, an denen halte ich mich fest. Die laß mir. […] Ich verwechsle sie nie mit den Lebenden, obwohl es manchen Besuchen so vorkam. Ich bin lang genug mit Gespenstern umgegangen, um sie mühelos als solche zu erkennen. Doch ist der Umgang mit ihnen auch dann desorientierend, wenn man weiß, wer sie sind. Anna Callenholm 256 Ich beginne, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. (WL 279) Diese Auseinandersetzung wird als ‚Zaubern’ oder als dynamisches Denken gesehen. Die Verschriftlichung zwingt zum Dialog und provoziert die Leserinnen dazu, mitzudenken, denn, so Klüger, als Autorin kann man nicht mit männlichen Lesern rechnen: sie lesen nur das, was andere Männer verfasst haben (WL 82). In der Hexenküche von Klüger werden Erinnerungen geprüft, miteinander verglichen, aber auch aus einer feministischen Perspektive konstruiert. Dadurch, dass Erinnerungen wie Kochrezepte ausgetauscht werden, spielt Klüger auf den - wie sie meint - zu würdevollen Umgang mit der Shoah an. Mehr noch verdeutlicht sie durch ihre Anspielung auf die Hexerei, dass Erinnern ein kollektiver Prozess ist, und zugleich, dass traumatische Erinnerungen nur mit großer Mühe, ja sogar erst durch Beschwörung, Form annehmen können, denn: Erinnerung ist keine gemütliche, badewasserlaue Annehmlichkeit, sondern ist eigentlich immer ein Graus, eine Zumutung und eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit. Und zwar deshalb, weil wir ja keine Kontrolle über das haben, was schon passiert ist, weder als einzelne noch als Mitglieder einer Gruppe. (Klüger 2006: 53) Die Erinnerung an die Vergangenheit, die nicht verdrängt werden kann, prägt die Gegenwart und wird auch die Zukunft bestimmen. Für die Überlebende der Shoah spuken so Erinnerungen wie Gespenster der Vergangenheit herum. Die Reise in die Vergangenheit und in die eigenen Erinnerungen wird als zwanghaft beschrieben. Zugleich beschreibt Klüger aber das Erlöschen der Erinnerung als krankhaft: „Das Erlöschen der Erinnerung ist eine Krankheitserscheinung, kein Normalzustand. Die Frage nach dem Erinnern ist eine Frage des ‚Wie’, nicht des ‚Ob’.“ (Klüger 2006: 52) Sich nicht zu erinnern erscheint als Unmöglichkeit. Die Frage, wie Erinnerung sich vollzieht, wird in weiter leben immer wieder thematisiert. Dass Klüger z.B. ihre Erinnerungen aus einer feministischen Sichtweise betrachtet, wird im Text direkt und zugleich spielerisch geschildert. Gleichzeitig gibt es Unversöhnlichkeiten, viele Erinnerungen und Erfahrungen, die keinen Sinn geben und nicht in ein Schema passen. Die Reise in die Erinnerungen wirkt demnach wie ein Pendeln zwischen damals und jetzt, zwischen deutlichen Erinnerungsbildern und Verschwommenem. Beispielsweise sind traumatische Erlebnisse wie die Erinnerungen an die Toten so schmerzhaft oder so schwer zu fassen, dass sie als Gespenster geschildert werden. Diese Gespenster im Allgemeinen und die beiden wichtigsten Gespenster, der ermordete Vater und Bruder, im Besonderen, zeigen, wie traumatische Erinnerungen in narrativer und fiktionaler Form geschildert werden können. Wenn traumatische Erinnerungen bei Klüger als ein Fremdkörper in der Seele bezeichnet werden, dann zeigen die Gespenstergeschichten, dass Klüger nur mit großer Mühe und mit Hilfe des autobiographischen Schreibens den flüchtigen Charakter der Gespenster zu beschreiben vermag. Damit ist für die Literatur zur Shoah viel erreicht worden. Ruth Klügers weiter leben Eine Jugend als Reise in die Vergangenheit 257 Bibliographie Angerer, Christian. 1998. „Wir haben ja im Grunde nichts als die Erinnerung. Ruth Klügers weiter leben im Kontext der neueren KZ-Literatur.“ In: Sprachkunst: Beiträge zur Literaturwissenschaft 29.1: 61-83. Caruth, Cathy. 2000. „Trauma als historische Erfahrung: Die Vergangenheit einholen.“ In: Ulrich Baer (Hg.). Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 84-98. Erll, Astrid. 2005. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Feuchert, Sascha. 2004. Erläuterungen und Dokumente. Ruth Klüger weiter leben. Stuttgart: Reclam. Halbwachs, Maurice. 1966 [1925]. Das Gedächtnis und seine soziale Bedingungen. Berlin/ Neuwied: Luchterhand. Klüger, Ruth. 1992. weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein. ___. 1996. „Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie.“ In: Magdalena Heuser (Hg.). Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte: Tübingen: Niemeyer. 405-410. ___. 2001. Still Alive. A Holocaust Girlhood Remembered. New York: The Feminist Press. ___. 2006. Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen: Wallstein. Langer, Lawrence. 2000. „Die Zeit der Erinnerung.“ In: Ulrich Baer (Hg.). Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 53-67. Lejeune, Philippe. 1998. „Der autobiographische Pakt.“ In: Günter Niggl (Hg.). Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 214-257. Liebrand, Claudia. 2003. „Das Trauma der Auschwitzer Wochen in ein Versmaß stülpen oder: Gedichte als Exorzismus. Ruth Klügers weiter leben.“ In: Ariane Huml & Monica Rappenecker (Hgg.). Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann. 237-248. Lorenz, C.G. Dagmar. 1993. „Memory and Criticism: Ruth Klüger’s weiter leben.” In: Women in German Yearbook 9. Lincoln/ London: University of Nebraska Press. 207- 223. Nadj, Julijana. 2003. „Die fiktionale Metabiographie als kritisches Gattungsgedächtnis.” In Astrid Erll, Marion Gymnich & Ansgar Nünning (Hgg.). Literatur - Erinnerung- Identität: Trier: WVT. 211-226. Neumann, Birgit. 2005. Erinnerung - Identität - Narration. Berlin/ New York: de Gruyter. Schacter, Daniel L. 1999 [1996]. Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Hamburg: Rowohlt.