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Eros in Trauer

2008
978-3-7720-5269-9
A. Francke Verlag 
Henry Staten

In Eros in Mourning verfolgt Henry Staten das Projekt des "deidealisierenden Denkens" als apokryphe und subversive Tendenz in den herrschenden Traditionen des europäischen Idealismus und Transzendentalismus. Initiiert und aufrechterhalten wird das Momentum der Deidealisierung durch den erotischen Affekt als eines wesentlichen, aber im historischen Prozess konsequent unterdrückten bzw. metaphysisch ?berformten Impulses. Eros in Trauer beginnt mit einer Lekt?re der Ilias, die aufzeigt, wie Homer, noch nicht beeinflusst durch die Ideologie der Transzendenz, die "betrachtende" und zugleich "widerspiegelnde" Struktur der Trauer als Trauer um den eigenen Tod analysiert. In den Lekt?ren von Dante, Hamlet, La Princesse de Cleves, Heart of Darkness und Lacan, beschreibt Staten weiterhin die "thanatoerotische Hysterie", die durch das Gespenst des toten und verwesenden Leibes ausgelöst wird, welcher auch der Körper der sexuellen Liebe ist und, in der christlich-platonischen Tradition, eher weiblich als männlich. St. John jedoch, gewisse Troubadoure und Milton bieten Einsichten in eine eher affirmative Beziehung zum "Eros in Trauer".

Henry Staten Eros in Trauer Von Homer zu Lacan E D I T I O N K A I R O S 4 A. Francke Verlag Tübingen und Basel E D I T I O N K A I R O S 4 Kulturwissenschaft und Ästhetik Herausgegeben von Gisela Dischner, Reinhold Görling und Gert Hofmann Henry Staten Eros in Trauer Von Homer zu Lacan Herausgegeben von Gert Hofmann Aus dem Englischen von Viktoria Harms A. Francke Verlag Tübingen und Basel Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der University of Washington, Seattle. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Eros in Mourning: From Homer to Lacan © 1995 The Johns Hopkins University Press All rights reserved. Published by arrangement with The Johns Hopkins University Press, Baltimore, Maryland. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronical or mechanical, including photocopying, or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from A. Francke Verlag and The Johns Hopkins University Press. © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Gesamtherstellung: Ilmprint, Langewiesen Printed in Germany ISSN 1862-2151 ISBN 978-3-7720-8269-6 Inhalt Vorwort des Herausgebers ................................. . .................... 7 Vorwort …..................................... ......... ........................... 11 Vorwort zur deutschen Ausgabe …………………………………. 15 1. Kapitel: Das Argument ………………………………………… 21 ZWEI ARCHETEXTE 2. Kapitel: Vor der Transzendenz: Die Ilias ................ . ............. 43 3. Kapitel: Wie der Geist (beinahe) zu Fleisch wurde: Das Johannesevangelium ……….................. ...... .............. .. ................ 73 DIE TROUBADOURE UND IHRE FOLGEN 4. Kapitel: Grausame Herrin, oder Der Verfall der „Fröhlichen Wissenschaft“ von den Troubadouren zu Dante ............. .... .......... 105 5. Kapitel: Untreue und Tod in Hamlet und La Princesse de Clèves ……………………………………………... 137 6. Kapitel: Adams Entscheidung: Paradise Lost ………………... 151 TRAGISCH-EXISTENZIELL 7. Kapitel: Trauern/ Trauer-Zufügen: Heart of Darkness ……….. 195 8. Kapitel: Die nackt entblößte Braut oder Lacan avec Platon .. .. . 223 EPILOG 9. Kapitel: Die Auflösung der Form in Joyces Ulysses …... ..... ... 247 Vorwort des Herausgebers Als ich Henry Staten im Sommer 1999 auf einer Tagung der Nietzsche Society in Southampton zum ersten Mal begegnete, konnte ich noch nicht ahnen, dass sich daraus in den folgenden Jahren über den Atlantik hinweg ein so fruchtbarer und anhaltend inspirierter Dialog ergeben würde. Als schönstes Zeugnis dafür liegt nun dieses Buch vor, die deutsche Übersetzung von Henry Statens einflussreichstem Buch Eros in Mourning. Nach Southampton war Henry Staten als einer der Hauptredner eingeladen worden, ausgewiesen als einer der profundesten und originellsten Nietzscheinterpreten der anglophonen Wissenschaftssphäre durch sein bereits 1990 erschienenes Buch Nietzsche’s Voice. Ich hatte selbst gerade erst eine intensivere Auseinandersetzung mit Nietzsche begonnen, war aber vielleicht noch zu sehr eingenommen durch gewisse introspektive Tendenzen der deutschen Nietzscheforschung und hatte daher bis zu diesem Zeitpunkt weder das Buch noch den Autor wahrgenommen - umso befreiender und überraschender wirkte die Veranstaltung in Southampton auf mich, auf der gemeinsam mit Henry Staten fast die gesamte Elite des angloamerikanischen Nietzschediskurses versammelt war, um Nietzsche zum Kronzeugen für eine post-analytische Philosophie zu küren. Meine stärkste Aufmerksamkeit erregte gleichwohl Henry Statens Vortrag, der mir in der Tat auf ungewohnte und erhellende Weise vieles von dem widerzuspiegeln schien, was mich selbst bei meiner Nietzschelektüre umtrieb, beunruhigte und quälte, vor allem die Frage nach der Möglichkeit einer ethischen Haltung auch „jenseits“ von Gut und Böse - also die Frage nach der Möglichkeit einer dionysischen Radikalethik als einer Ethik der conditio humana, der anerkannten Sterblichkeit - und die paradoxe Frage nach der notgedrungen ,formlosen‘ Form einer Subjektivität (des „Willens“) im (dionysischen) Prozess der Auflösung aller Formen. Umso glücklicher durfte ich mich schätzen, dass ich wenig später, am Ende der Konferenz, einen ganzen langen Abend hindurch in Gesellschaft von Henry Staten und Richard Schacht, auch er einer der einflussreichen Nietzscheapologeten Amerikas in den letzten 20 Jahren, verbringen durfte. Dem enthousiasmos der sich bei dieser Gelegenheit entfaltenden Gespräche, dem man durchaus im archaischen Sinne des symposion 8 - Vorwort des Herausgebers einiges Dionysische ablesen konnte, ist es zu verdanken, dass ich schon bald darauf Nietzsche’s Voice las und wenig später auch Eros in Mourning. Homer to Lacan, zu dem Nietzsche’s Voice, wie mir bald klar wurde - und wie es Henry Staten im Vorwort zu dieser Übersetzung bestätigt - gewissermaßen den Auftakt bildet. Die Nietzschedeutung von Nietzsche’s Voice erscheint ohne Probleme integrierbar in jenes große Projekt, welches Eros in Mourning in seiner ganzen historischen Tragweite erfasst, das Projekt der philosophisch literarischen Konturierung eines de-idealisierenden Denkens von Homer bis zu Lacan. Für mich war die Nietzschelektüre zunächst eine experimentelle Fallstudie auf meiner Suche nach den Grundphänomenen einer „Ästhetik der Ohnmacht“ als einer unverstellten, einzig souveränen Artikulationsform der Fundamentalbedingungen nicht-sublimer, sterblicher Menschlichkeit, einer Suche, die sich immer wieder verfing in dem Problem, eine Art synkopischer Subjektivität denken zu müssen, welche das Zeitalter der Dekonstruktion des transzendentalen Subjekts auf eine entschieden ästhetische, artistische Weise zu überleben vermöchte. Durch Eros in Mourning erst wurde mir die ganze Bedeutung des Eros für dieses Vorhaben klar, des Eros in seiner Gravitationskraft, die alle transzendentalen Exzesse der Metaphysik, des transzendierenden Denkens und Handelns überhaupt immer wieder in die sterblich hinfällige Gravität des Leibes und seiner Verfalls-Ästhetik zurückzubeugen imstande ist. Gravitierende Leiblichkeit ist die Subjektivität des Eros - nicht, was Plato, der Platonismus und das Christentum niemals müde wurden zu behaupten, der diskriminierende Intellekt und sein sublimierendes Ideenvermögen. Die Figur des Eros, wie sie aus den in Eros in Mourning versammelten Studien hervorgeht, bot sich mir an als veritables Modell für die philosophisch ästhetische bzw. literarische Verfasstheit „synkopischer Subjektivität“ - aber die Bedeutung des Buches reicht natürlich weit über diesen Aspekt hinaus. In Eros in Mourning verfolgt Henry Staten das Projekt des „deidealisierenden Denkens“ als apokryphe und subversive Tendenz in den herrschenden Traditionen des europäischen Idealismus und Transzendentalismus. Initiiert und aufrechterhalten wird das Momentum der Deidealisierung durch den erotischen Affekt als eines für die kulturell-intellektuellen Traditionen des platonischchristlichen Denkens selbst zwar von Anfang an wesentlichen, aber im historischen Prozess konsequent unterdrückten und denunzierten (oder aber deformierten) Impulses. Im Zentrum dieses Projektes steht daher die Rehabilitierung des sexuellen Eros, des „erotischen Begehrens“ in seiner leidenschaftlich unbedingten Würde gegenüber allen Anfechtungen des Transzendentalismus, des platonischen, christlichen und psychoanalytischen - ein Projekt, welches das andere große Projekt des späten 20. Jahrhunderts, das Projekt der Dekonstruktion, historisch vorbereitet und, sich mit ihm gleichsam vermählend, es über sich selbst hinausträgt, um seine intellektuelle Dynamik zurückzuversenken in die libidinöse Leibhaftigkeit einer menschlichen Lebensgrunderfahrung und ihrer unvermeidlichen Vorwort des Herausgebers - 9 literarischen Spiegelungen: „In dem platonisch-augustinisch-freudianischen Sinne, den ich hier sowohl kritisiere als auch erweitere, kann die Sprache nichts anderes tun als die Pfade des libidinösen Flusses zu verfolgen.“ 1 Die „thanatoerotische Angst“ vor dem Selbstverlust treibt das europäische Subjekt der Metaphysik, verwurzelt in Platonismus und Christentum, einerseits zu immer neuen Anläufen der Selbstverabsolutierung durch Selbsttranszendenz, während sie andererseits zugleich die Stigmatisierung des Eros ob seines Bekenntnisses zur „Absolutheit der Trauer“ motiviert! Denn das Privileg des Eros über die Metaphysik ist einzig sein Bekenntnis zur Sterblichkeit, das in erotischen Akten der rückhaltlosen Selbstverausgabung des Selbst in der Hingabe an das Andere, an das Individuelle, Zufällige, Hinfällige, Leiblich-Verwesliche in seiner Verlierbarkeit selbst absolut wird. Ein ungeheuerlicher Gedanke wird hier evident, der die thanatoerotische Angst der Metaphysik vor dem Verlust des Selbst und ihre komplementäre Hoffnung, die Wirklichkeit des eigenen Sterbens in eine Transzendenzbewegung der Läuterung und Sublimierung zu überführen - also jene „rätselhafte“ Dialektik von „Trauer und Selbstrauer“, die das europäische Denken bis heute beherrscht - konterkariert und ad absurdum führt. Henry Staten hat dieses Projekt in seiner apokryphen Geschichtlichkeit vollständig umrissen - die Fallstudien reichen von Homer und dem Johannesevangelium bis hin zu James Joyce und Lacan - und dabei seine ästhetisch anthropologische Substanz, die Emphase der Leiblichkeit und Sterblichkeit des menschlichen Lebens, in ihrer ganzen provokanten Schärfe, aber auch in ihren Verwicklungen und Verstrickungen in das literatur- und philosophiegeschichtlich vorwaltende Transzendenzprojekt herausgearbeitet. Die radikalste und aufregendste Wendung der erotischen Provokationen gegen die Tendenz zur Transzendentalisierung aller Bedeutungen und Zwecke - man könnte hier mit Hölderlin sagen: „alles Ernstlichgemeinten“ - findet sich dabei im letzten, abrundenden Kapitel dieses Bandes, über Joyces Ulysses, das in der ursprünglichen englischen Ausgabe noch nicht enthalten war. Die Isomorphie der Organismen von Logos und Leib im „Formloswerden der Form“ erreicht hier in der Figur der Joyceschen Onomatopöie jenen „Abgrund am Rande der Mimesis“, wo sich das literarisch erotische Engagement für das Sterbliche und Verwesliche auf Kosten des erodierenden Logos bis an den Punkt des „vollkommenen Sinnverlustes“ auszuweiten scheint. Die sich verabsolutierende erotische Trauer erreicht hier, in den onomatopoetisch realisierten Zyklen der „gastrosexuellen Kommunion“, ihren literarischen Grenzwert, von dem her das Projekt der Deidealisierung der Sprache und des Denkens wie auch der Rehabilitierung des Eros als ultimativem „Realitätsaffekt“ seinen höchsten Evidenzgrad erreicht. 1 Vgl. in diesem Band das Kapitel „Grausame Herrin, oder Der Verfall der ,Fröhlichen Wissenschaft‘ von den Troubadouren zu Dante“. 10 - Vorwort des Herausgebers Henry Statens Bemühungen, wider die intellektuellen Anfechtungen der thanatoerotischen Angst „das Unvermeidliche zu denken“ 2 , sind mit der hier vorliegenden Übersetzung von Eros in Mourning nun auch dem deutschen Publikum leichter zugänglich, und es ist zu erwarten, dass sie in Zukunft auch in den germanistisch literaturwissenschaftlichen Diskurs in noch höherem Maße Eingang finden als bisher. Einer der Autoren, dessen neuerliche Lektüre im Lichte dieser Bemühungen spannende neue Perspektiven zu eröffnen verspricht, ist zweifellos der eben bereits erwähnte Friedrich Hölderlin, mit dessen späten Ideen zu einer Poetik der „Zärtlichkeit“ und der „Virtuosität“ des „Todesgefühls“ 3 der literarische Diskurs der erotischen Trauer bereits ein Niveau realisiert, wie es später vielleicht erst wieder von James Joyce erreicht worden ist. Neue Wege tun sich auf. Die „Angst vor falschen Abzweigungen“ 4 mag dabei unseren interpretatorischen Feinsinn schärfen, aber sie sollte uns nicht daran hindern, sie zu beschreiten. Gert Hofmann, Cork im September 2007 2 Henry Staten in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe. 3 Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke. Sechster Band. Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Hg. von Friedrich Beißner. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag, 1954. 432. 4 Siehe weiter unten Henry Statens Vorwort zur deutschen Ausgabe. Vorwort In diesem Buch geht es nicht um den Prozess des Trauerns an sich, sondern um die Gesamtheit dessen, was ich die Dialektik des Trauerns nennen möchte: das Bewegungsfeld aller durch die Sterblichkeit eines geliebten Objekts bestimmten affektiven Phänomene, so wie es in ausgewählten einflussreichen Texten der westlichen Tradition formuliert wird. Der Prozess des Trauern strictu sensu wird zwar stellenweise im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen (vor allem in dem Essay über die Ilias), aber dieser Prozess charakterisiert nur einen einzelnen Moment in der Dialektik, mit der ich mich beschäftige. Die Dialektik des Trauerns beginnt mit dem Prozess der Objektbindung (Kathexis), ohne welchen die Trauer nicht entstehen würde 1 , und sie umfasst alle Momente der libidinösen Beziehung im Allgemeinen (die Momente der libidinösen Annäherung, der Bindung und des Verlustes), ebenso wie die Strategien der Verschiebung, der Vermeidung oder der Transzendenz, die als Reaktion auf den drohenden Verlust entstehen - „ökonomische“ Strategien, mit denen das Selbst sich gegen die libidinöse Verausgabung schützt, die mit dem Trauern verbunden ist. Die Phänomene, die ich unter der Überschrift der Trauer behandele, sind jene, welche heutzutage normalerweise unter der des Begehrens betrachtet werden, aber für die religiös-philosophische Tradition, in der die westliche Literatur wurzelt, stellt die Trauer den Horizont des Begehrens dar. In einer Untersuchung dieser Tradition ist es daher nicht nur möglich, sondern notwendig, die Problematik des Begehrens in die Lesart des Trauerns zu transponieren. Sobald Begehren etwas ist, das von einem sterblichen Wesen für ein anderes sterbliches Wesen empfunden wird, wird eros (als das Begehren-im-Allgemeinen) immer zu einem bestimmten Grad durch die Erwartung des Verlustes be- 1 Daher ist der erste Band von John Bowlbys monumentaler Studie über die Trauer ganz dem Bindungsprozess gewidmet. John Bowlby. Attachment. Band 1 von Attachment and Loss. New York: Basic Books, 1969. Deutsche Ausgabe: John Bowlby. Bindung: eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Übers. von Gertrud Mander. München: Kindler, 1975. 12 - Vorwort unruhigt - eine Erwartung, die selbst in Bezug auf etwas auftritt, was noch gar nicht besessen wird. Diese Erwartung ruft die oben erwähnten Strategien der libidinösen Ökonomisierung auf, vor allem jene der Idealisierung und der Transzendenz, wie sie mit den mächtigen historischen Phänomenen des Platonismus und des platonisierenden Christentums assoziiert werden. Wie wir sehen werden, wird das klassische Projekt, die Trauer zu transzendieren, im Grunde nicht durch die Angst vor dem Verlust des Objekts, sondern die vor dem Verlust des Selbst motiviert. Das liegt nicht nur an dem leicht ersichtlichen Grund, dass der Verlust des Geliebten auch ein Verlust des Selbst ist, sondern auch daran, dass gerade das begehrte Objekt, dessen Verlust so gefürchtet wird, selber furchterregend werden kann, wenn es nämlich den Aspekt einer unmittelbaren Präsenz annimmt, die dann wie der Tod selber geflohen wird. Daher die thanato-erotische Angst, welche nach Derridas Analyse das Funktionieren des „supplement“ in Rousseau bestimmt: „Der Ersatz ist nicht nur die Macht, eine abwesende Anwesenheit durch ihr eigenes Bild hindurch zu vergegenwärtigen: indem er uns diese durch Besorgung von Zeichen vergegenwärtigt, hält er die Anwesenheit auf Distanz und beherrscht sie. Denn diese Anwesenheit wird ebenso stark herbeigesehnt wie gefürchtet. [...] Das Supplement ist also gefährlich, insofern es uns mit dem Tod bedroht, jedoch, wie Rousseau meint, keineswegs so gefährlich wie der ‚Beischlaf mit den Frauen‘.“ 2 Was auch immer ihr epistemologischer oder ontologischer Status sein mag, unmittelbare Präsenz spielt eine entscheidende Rolle für die thanatoerotische Angst. Das zumindest lesen wir in gewissen herausragenden Texten der dominanten Tradition des Westens, jener Tradition also, mit der ich mich in diesem Buch auseinandersetze. Eine Frage wird, auch wenn sich der Schwerpunkt anscheinend verändert, immer und überall im Mittelpunkt dieses Buches stehen, und das ist die Frage nach der grundsätzlichen Haltung, die ein menschliches Wesen gegenüber dem Sich-Ausgießen oder dem Sich-Öffnen eines Ichs einnehmen kann, das in einem durch den Reiz des Geliebten ausgelösten Rausch gefangen ist. Dies ist der Rausch, welcher durch die Tradition der Transzendenz stigmatisiert, gering geschätzt oder zumindest als vulgärer oder sterblicher Eros abgewertet wird. 3 2 Ich habe hier die folgende Übersetzung benutzt, allerdings „verschaffen“ durch „vergegenwärtigen“ ersetzt: Jacques Derrida. Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974. 268. Im Original zitiert nach Jacques Derrida. Of Grammatology. Übers. von Gayatri Chakravorty Spivak. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1976. 155. 3 Juliana Schiesari hat vor kurzem die Auffassung vertreten, dass in der patriarchalischen Tradition die Trauer durch das melancholische Sehnen nach dem transzendenten Objekt unterdrückt würde. Juliana Schiesari. The Gendering of Mothering: Feminism, Psychoanalysis, and the Symbolics of Loss in Renaissance Literature. Ithaca: Cornell University Press, 1992. Schiesaris beeindruckendes Buch erschien leider zu spät, um hier von mir ausführlich genutzt zu werden. Ich möchte jedoch meine Bewunderung für Vorwort - 13 Ist es wirklich undenkbar, wie es die idealisierend-transzendierende Tradition behauptet, sich sterblichen Objekten gerade ob ihrer Sterblichkeit mit ganzem Wesen hinzugeben, ohne Gedanken an eine irgendwie geartete Transzendenz jenseits derer, welche die sterbliche Liebe an sich ist, jenseits einer Liebe für das Sterbliche als Sterbliches, gerade weil es sterblich ist? Würde eine solche Liebe wirklich unerträgliche Trauer auslösen, eine Verzweiflung, welche die Grundlage jeder Rationalität und einer auf Rationalität gegründeten Gemeinschaft erschüttern würde (wie Platon in Der Staat argumentiert)? (Zweifellos ist unsere ganze Gesellschaft seit dem Ausbruch von AIDS anfälliger für die thanato-erotische Angst denn jemals seit der Überwindung der Gonorrhö und der Syphilis. Ein Grund mehr, jede transzendentale Mystifizierung unseres erotischen und körperlichen Schicksals aufzudecken.) Allerdings bleibt diese von der platonisch-christlichen Tradition für undenkbar erklärte Vorstellung dem Gedanken der Transzendenz als deren unausweichlicher Schatten immer nahe, als die immer präsente Möglichkeit, die das Projekt der Transzendenz erst nötig macht, so dass der sterbliche und der unsterbliche Eros in einer unzerbrechlichen gegenseitigen Umarmung gefangen sind. Daher kann der Gedanke der Nichttranszendenz nur mit und durch die gleichen Texte artikuliert und entwickelt werden, welche die Undenkbarkeit der Nichttranszendenz und ihre Minderwertigkeit gegenüber allem, das wirklich Denken genannt werden kann, behaupten. (Ob sie ohne diese Texte gelebt werden kann, unmittelbar und unartikuliert, ist eine Frage, die ich nicht einmal beginnen kann zu beantworten.) Schiesari zum Ausdruck bringen ebenso wie den Eindruck, dass wir uns beide mit der gleichen „privilegierten Intuition“ kritisch auseinandersetzen, einer Intuition von „einem namenlosen und transzendentalen ‚Etwas‘, das verloren gegangen ist“ und das „begleitet wird von der Verleugnung dieses ‚Etwas‘, das in dem Ritual der Trauer explizit als verloren gegangen dargestellt wird“ (Schiesari, 131). Vorwort zur deutschen Ausgabe Die deutsche Ausgabe von Eros in Mourning wird erstmals den vollständigen Text dieses Buches zur Veröffentlichung bringen. Die englischsprachige Ausgabe war verfrüht erschienen, denn erst danach las ich Joyce’s Ulysses wieder und entdeckte, dass es sich des Problems der „thanato-erotophobischen Angst“ in der vollkommensten und überraschendsten Weise annahm - in einer Weise, von der ich bis zu diesem Zeitpunkt bezweifelte, dass überhaupt je ein Text solches geleistet hatte. Das war eine beunruhigende Entdeckung für mich, denn Ulysses hatte ich in früheren Jahren bereits sehr genau studiert, mit einer sehr verschiedenen Wahrnehmung. Ehedem dachte ich, auch Ulysses nähme teil am allgemeinen Scheitern der westlichen Philosophie und Literatur, das Projekt des de-idealisierenden Denkens bis zu seiner Vollendung voranzutreiben. Als ich ihn nach dem Schreiben von Eros in Mourning noch einmal las, bemerkte ich jedoch, dass es in meinen früheren Studien von Ulysses nicht der Roman gewesen war, dessen Einsichten zu kurz gegriffen hatten, sondern ich. Folglich schrieb ich den Aufsatz, der nun in dieser deutschen Ausgabe das Schlusskapitel bildet. Weil Joyce die Mysterien der Sex-Todesangst in einer Weise verschriftlichte, wie es kein anderer der Schriftsteller, die ich hier in Betracht ziehe, vermochte, fügt dieses neue Schlusskapitel meiner Untersuchung eine neue wesentliche Dimension hinzu. Eine weitere Dimension dieser Untersuchung ist in Nietzsche’s Voice enthalten, ein Buch, das ich fünf Jahre vor Eros in Mourning veröffentlicht hatte. Obwohl zeitlich früher, bildet Nietzsche’s Voice der Struktur nach den zweiten Band eines zweibändigen Werkes, dessen erster Band Eros in Mourning wäre. Im Nietzsche-Band versuchte ich zu zeigen, dass sogar Nietzsche, Schöpfer des Zarathustra und Meister des Leibes und dieser Erde, sich des Transzendentalismus nicht vollständig entledigt hatte. Er zielte darauf, den Menschen „in die Natur zurückzuübersetzen“ (Jenseits von Gut und Böse VII, 230), hatte aber kurz vor dem Punkt haltgemacht, an welchem das platonischchristliche Erbe immer zu kurz gegriffen hatte, nämlich vor dem Gedanken der Identität des verweslichen Leibes und des Leibes der Liebe. Der Gedankengang 16 - Vorwort zur deutschen Ausgabe von Nietzsche's Voice bildet daher eine entscheidende Ergänzung zu dem von Eros in Mourning. Diese beiden Arbeiten waren gedacht als Propädeutik zu einer Studie über D. H. Lawrence, die idealerweise den dritten Band einer Trilogie bilden würde. Aber der Impuls, der mich auf den Gedanken dieses Projektes gebracht hatte, scheint durch die vorliegende Arbeit erschöpft zu sein, und der Lawrence-Band wird, so denke ich, niemals geschrieben werden. Oder gar der vierte Band über Georges Bataille, der, wie mir jetzt klar wird, notwendig gewesen wäre, um meine Konzeption des Projekts vollständig auszufüllen. Ich erwähne dies nur, um dem interessierten Leser die Richtung zu möglichen weiteren Lektüren im Felde meiner Untersuchungen zu weisen. Ich bin sicher, es gibt noch viele andere Texte ausser denen von Lawrence und Bataille, die ich noch nicht wieder oder überhaupt niemals gelesen habe, die gleichwohl eine zentrale Stellung in meiner Dikussion verdienen würden. Seit meiner Entdeckung des Unrechts, das ich Joyce angetan hatte, lässt mich die Frage nicht mehr los, wie viele andere Ungerechtigkeiten in dem Zweifel impliziert sind, dem ich im ersten Kapitel dieses Buches (das ich zur Lektüre in seiner ursprünglichen Form belasse) Ausdruck gab: ob denn die vollständige „Integration des Körpers des Todes“ im westlichen Denken jemals erreicht worden war. Ein Werk, dem ich nun eine zentrale Rolle zusprechen würde, wäre das von Baudelaire, und im höchsten Grade das Gedicht „Une Charogne“, in welchem das lyrische Ich und seine Geliebte während eines Landspaziergangs auf den stinkenden verfaulenden Kadaver eines nicht identifizierten Tieres treffen. Dieses Gedicht, das Cezanne auswendig lernte und Rodin im höchsten Maße schätzte, wurde von Rilke als dasjenige identifiziert, das zur modernen Ästhetik ermächtigte, in welcher auch nicht das niedrigste Phänomen von ästhetischer Wahrnehmung ausgeschlossen bleibt. Wahrhaftig, kann man tiefer hinabsteigen beim Nachdenken über die mysteriöse Einheit von Sex und Tod jenseits des christlich-platonischen Idealismus als dorthin, wo man die erotische Pracht und Fruchtbarkeit von verfaulendem Fleisch feiert? Ich missdeutete dieses Gedicht viele Jahre hindurch, teilweise weil ich es mir gestattete, wie ich zu meiner Beschämung gestehen muss, mich von einer englischen Übersetzung leiten zu lassen. Es ist jedoch höchst unterrichtend, diese berühmte Übersetzung des prominenten amerikanischen “New Critic” und Dichters Allen Tate 1 parallel zum Baudelaireschen Original zu betrachten; solch eine Betrachtung enthüllt auf die deutlichste Weise die ideologischen Kräfte idealistischer Art, die daran gearbeitet haben, die grundsätzliche Stoßrichtung des Gedichts abzuwenden. Tates Übersetzung behandelt z.B. die Abschlussstrophe als ein idealistisches Eintreten gegen das Verderben des Todes, ganz im Stile von Shakespeares 1 Vgl.: Charles Baudelaire. The Flowers of Evil. Hrsg. Marthiel und Jackson Mathews. New Directions, 1989. 38-39. Vorwort zur deutschen Ausgabe - 17 Beteuerungen, dass seine Sonette den Tod des jungen Mannes, den sie feiern, transzendieren werden. Baudelaire schrieb wie folgt: Alors, ô ma beauté! Dites á la vermine Qui vous mangera de baisers, Que j’ai gardé la forme et l’essence divine De mes amours décomposés! 2 Tates Übersetzung lautet: Speak, then, my beauty, to this dire putrescence, To the worm that shall kiss your proud estate, That I have kept the divine form and the essence Of my festered loves inviolate! Wenn ich das Gedicht nun wieder lese, bin ich überrascht ob der Tatsache, dass Tates Übersetzung mit dem Wort “inviolate”, das Original hingegen mit „décomposé“ endet. Das Wort “inviolate” findet sich jedoch überhaupt nicht im Original, wo es lediglich heißt „ich habe die göttliche Form und das göttliche Wesen meiner verwesten Lieben bewahrt“ („j’ai gardé la forme et l’essence divine / De mes amours décomposés! “). Tates Übersetzung suggeriert eine idealisierende Bewegung bei Baudelaire, die im Französischen, wenngleich möglich, so eindeutig nicht vorhanden ist. Kehren wir zurück zu Tates Übersetzung der Abschlussstrophe. Diese wird vorbereitet durch einige subtile Übersetzungsentscheidungen in den vorangegangenen Strophen. In der neunten Strophe, wo das lyrische Ich seine Geliebte als „soleil de ma nature“ („Sonne meiner Natur“) anspricht, übersetzt Tate diese Wendung als “my being’s inner flame” („meines Wesens inneres Feuer“). Diese scheinbar unschuldige Verfahrensweise verschleiert die Tatsache, dass die Wörter „soleil“ und „nature“ zuvor im Gedicht, in der dritten Strophe, bereits vorkamen, und zwar mit grosser Kraft. Le soleil rayonnait sur cette pourriture, Comme afin de la cuir à point, Et de rendre au centuple à la grande Nature Tout ce qu’ensemble elle avait joint; 3 In dieser Strophe ist das Feuer der physischen Sonne aufgerufen als ein Agens, durch welches das Verrotten des Kadavers intensiviert wird zu einer Blüte, welche ich im Kapitel über das Johannesevangelium ein „Überschäumen neuen Lebens“ nenne: die Fliegen und Maden der fünften Strophe. Wenn daher Bau- 2 Charles Baudelaire. Les fleurs du mal. Édition établie selon un ordre nouveau, présentée et annotée par Yves Florenne. Paris: Le Livre de Poche, 1972. 45. 3 Charles Baudelaire, Anm. 2, 43. 18 - Vorwort zur deutschen Ausgabe delaire die Signifikanten „soleil“ und „nature“ in der neunten Strophe wiederholt, dieses Mal Bezug nehmend auf die Geliebte und das lyrische Ich, kann die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden, dass deren Gebrauch hier etwas aus der Kraft schöpft, die sie in der früheren Strophe entfaltet hatten, dass also das lyrische Ich, wenn es sich auf seine Geliebte als „soleil de ma nature“ bezieht, meint: Du, meine Geliebte, bist für meine Natur, was die physische Sonne für die Natur überhaupt ist, das himmlische Agens meines eigenen Leben zeugenden Verderbens. (Dieses Bild wiederholt übrigens auf verblüffende Weise das Sonne-Sohn-Leichnam-Motiv in Hamlet, das ich in Kapitel 5 diskutiere.) Tate verleugnet in der letzten Strophe das Original nicht so offensichtlich wie zuvor im Falle der neunten Strophe. Jedoch eröffnen “dire putrescence” und “kiss your proud estate” eine eher keusche und archaische Diktion, die durch den Shakespeareschen Unterton der abschließenden Zeilen noch unterstrichen wird, während Baudelaire’s eher erotisches und auf charakteristische Weise freimütiges Französisch (viel weniger vorurteilsbehaftet gegenüber dem Wurm) schlicht besagt: „das Ungeziefer, das dich mit Küssen verschlingen wird“. Dies, in Verbindung mit den bereits erwähnten Veränderungen und anderen subtilen Ersetzungen im Gedicht, führt dazu, dass die abschließenden zwei Zeilen (“That I have kept the divine form and the essence / Of my festered loves inviolate! ”) Form und Wesen in ihrer Idealität zu privilegieren scheinen gegenüber der verderblichen Macht der Natur - eine Idealität, die leicht verbunden werden kann mit dem expliziten Bezug in der achten Strophe auf die bildende Kraft des Künstlers. Die Geliebten mögen von den Würmern gefressen werden, aber der Künstler hat ihre göttliche Form unverletzt bewahrt. Das Gedicht wäre dann ein Aufbegehren gegen die Tatsache, die es notiert, dass die Geliebte eines Tages dem Aas ähnlich sein wird, diesem „ordure“, auf das die Liebenden zufällig stießen, an jenem Nachmittag, den das Gedicht erinnert. Das Gedicht wäre dann lediglich bemerkenswert für die Kühnheit, mit der es die Details des verwesenden Kadavers beschreibt, und für den metaphorischen Elan, mit welchem es diese Beschreibung in eine neue Art der Pastorale verwandelt. An sich keine geringe Leistung, das ist wahr. Aber die (Einbildungs-)Kraft, welche diese Leistung hervortreibt, wäre in ihrem Produkt verbraucht gewesen, und das Ende würde sich zurückziehen auf vertrautes poetisches Territorium. Ist das wahrscheinlich für einen Dichter, der sein Buch „Les Fleurs du Mal“ nennt, der es eröffnet mit der Vermutung, dass der Leser, wenn er nur könnte, in seinem innersten Begehren, ... ferait volontiers de la terre un débris, Et dans un bâillement avalerait le monde; 4 4 Charles Baudelaire, Anm. 2, 7. Vorwort zur deutschen Ausgabe - 19 und der in „Le Flacon“ sich auf die Geliebte bezieht als die „liebenswerte Pestilenz“, von welcher sein eigener toter und verwesender Körper eingehüllt werden wird? Sollen wir nicht das Experiment wagen, „Une Charogne“ so zu lesen, als würde es den lyrischen Impuls, der seine ersten neun Strophen bestimmt, bis zum Ende durchtragen? Es stimmt, dass „soleil de ma nature“ nicht an sich entscheidend ist; wenn wir entschlossen sind, das Gedicht als Rückzug auf die idealisierenden Clichés der Tradition zu interpretieren, können wir die Wörter „nature“ und „soleil“ hier als transponiert in eine Tonart heroischen Widerstandes lesen gegen jene rein natürliche Reduktion, wie sie zuvor signalisiert war: „Du bist die ideale Sonne, die meine Natur erhöht“. Aber die Worte halten ebensogut meiner weiter oben vorgeschlagenen Lesart s tand: „Du bist für mich, was die physische Sonne für diesen faulenden Kadaver war“. Und tatsächlich erscheint der Kadaver selbst in diesem Gedicht nicht gar so verfault, dass der Vergleich mit der Geliebten allzu schockierend wirkte, denn die poetische Transformation wurde im Hinblick auf den Kadaver selbst bereits vollbracht, bevor wir uns überhaupt je der Geliebten zuwenden: … Le ciel regardait la carcasse superbe Comme une fleur s’épanouir. 5 Blumen des Bösen in der Tat, aber mit einer umgewerteten Vorstellung von „Böse“. (Der große Fehler des klassischen Christentums war immer die Vermengung seiner Vorstellung vom moralisch Bösen mit dem „Bösen“ von Leid, Vergänglichkeit und Tod. Auch Baudelaire macht nicht immer eine klare Unterscheidung, wohl aber in diesem Gedicht.) Legen wir eine solche Lesung zugrunde, dann wird in der letzten Strophe keineswegs behauptet, dass, wenn auch die Liebenden und Geliebten der Natur erliegen, abgesehen davon und darüberhinaus deren göttliche Form und Wesen erhalten bleiben könnte, sondern eher, dass diese Liebenden ihrem Wesen nach etwas sind, das der Natur erliegt, und dass der Künstler sie als solche dem Gedächtnis anheimgibt. Diese Form und dieses Wesen werden in der Tat göttlich genannt. Aber die Umwertung der Natur-als-Bösem würde ebenso auch die Umwertung von Göttlichkeit mit sich bringen. Die Epiphanie, die Baudelaire unserer Betrachtung unterbreitet, ist diejenige, in welcher wir erkennen würden, dass genau darin das Göttliche besteht - das einzig Göttliche, das uns nach dem „Tod Gottes“ noch bleibt. Und dann wäre der „vermine / Qui vous mangera de baisers“ nicht etwas, wogegen Baudelaire sich auflehnt, sondern nur der letzte in der Reihe von Liebhabern, die, buchstäblich oder figurativ, dasselbe getan hätten (weiteres zu diesem Thema siehe bei Joyce). Falls das zu gewagt klingt - wir sollten argwöhnisch darauf achten, unseren eigenen Mangel an Wagemut nicht Baudelaire zuzuschreiben! 5 Charles Baudelaire, Anm. 2, 44. 20 - Vorwort zur deutschen Ausgabe Die von mir vorgeschlagene Lesart unterstützt Rilkes Bewertung des Gedichts als Schwellengedichts der Moderne und führt sie weiter aus. (Rilke ist übrigens vom Standpunkt der Dialektik des Trauerns ein faszinierender Fall; im Rodinaufsatz entwickelte er eine Sicht der Kunst und des Lebens, die mir auffällt als vollkommen im Einklang mit dem Standpunkt von Eros in Mourning. Jedoch durch seinen gesamten Werdegang hindurch hatte er Schwierigkeiten, diese Sicht aufrechtzuerhalten - besonders in den Duineser Elegien, zumindest in den ersten acht. Noch so ein ungeschriebenes Kapitel! ) Und mein neuerworbener Sinn für das von Baudelaire Erreichte verschafft meinen früheren Vermutungen über die ethische und intellektuelle Aufgabe des westlichen Denkens in nachchristlicher Zeit mehr Klarheit - sei es in der Form von Literatur oder Philosophie. Nicht dass Literatur und Philosophie als ein Ersatz für Religion dienen sollten, aber das Christentum und seine idealistischen Abzweigungen pressten das westliche Denken in eine Zerrform, die es beinahe unfähig machte, das Unvermeidliche zu denken, wenn die Tröstungen des Transzendentalismus abgenutzt sind - Dichter und Philosophen müssen es nun entzerren. Es ist ungeheuer ermutigend für mich, zu entdecken, dass die Arbeit des Entzerrens so entschieden und früh schon von Baudelaire vorangetrieben worden war. Vielleicht wird der Leser in diesem Augenblick auch an eine andere Gestalt denken, noch früher vielleicht, für die man dasselbe beanspruchen könnte. Ich wäre froh, davon zu hören. Aber Vorsicht: auf diesem Weg gibt es viele falsche Abzweigungen, und dazu kein besseres warnendes Beispiel als das von Nietzsche (siehe Eros in Mourning, Band 2). Henry Staten, Seattle im Juli 2007 (Übersetzt von Gert Hofmann) 1. Kapitel Das Argument Es gibt in der europäischen Geistesgeschichte eine starke, vielleicht sogar dominante Tendenz, welche nach der Überwindung jeder nur sterblichen Liebe strebt, jeder Liebe, die verloren werden kann. In der riesigen Palette von Texten seit Homer werden auch andere Standpunkte vertreten, aber keiner ist organisiert und institutionalisiert genug, um den vom Platonismus, platonisierendem Christentum und deren Abkömmlingen ausgehenden Druck in Richtung Transzendenz auszugleichen. Vieles, was auf den ersten Blick außerhalb dieser idealisierend-transzendierenden Tradition zu stehen scheint, sucht bei genauerem Hinsehen doch nur auf anderen Wegen dasselbe Ziel zu erreichen - das Ziel, eine bestimmte, letztlich tödliche Feuersbrunst des Fleisches zu vermeiden. Platons Symposium ist unser wichtigster Bezugspunkt hinsichtlich dieser Tradition der Transzendenz, genauer gesagt, die Doktrin des Eros, wie sie in der von Sokrates wiedergegebenen Rede der Prophetin Diotima von Mantineia artikuliert wird. Mithilfe einer Methode des Fragens, wie sie Sokrates normalerweise selber anwendet, die sich hier aber auf ihn richtet, entwickelt Diotima allmählich das innere Wesen des Begehrens, dessen Zielen auf die absolute, zeitübergreifende Präsenz des begehrten Objekts: Diotima: Kann man nun so schlechthin sagen, daß die Menschen das Gute lieben? Sokrates: Ja. Diotima: Doch wie? Muß man nicht hinzufügen, daß sie lieben, das Gute auch zu haben? Sokrates: Das muß man hinzufügen. Diotima: Und nicht nur es zu haben, sondern auch es immer zu haben? Sokrates: Auch dies muß man hinzufügen. Diotima: Es zielt also, um alles zusammenzufassen, die Liebe darauf, das Gute für sich immer zu haben. Sokrates: Du hast vollkommen recht. (206a) 1 1 Platon. Symposium. Übers. u. hrsg. von Barbara Zehnpfennig. Hamburg: Felix Meiner, 2000. 91. Im Original zitiert nach: Plato’s Symposium. Ins Engl. übers. von Michael 22 - Das Argument Diotimas bzw. Platons Logik scheint unwiderlegbar. Es scheint, dass das Begehren auf den fortdauernden Besitz von oder die Nähe des begehrten Objektes zielen muss, so dass der Verlust des Geliebten oder sogar die Erwartung seines Verlusts notwendigerweise das Glück des begehrenden Subjekts zerstören muss. So verstanden, ist Eros der Ursprung des Idealismus. Nur der absolute Besitz kann das Begehren befriedigen, denn das Begehrte ist entweder ganz da oder eben nicht; jeder Mangel an der Absolutheit seiner Präsenz ist eine Wunde in der Substanz des Liebenden. Und welcher Mangel könnte wesentlicher sein denn jener der Sterblichkeit? Der Liebende weiß, dass sein Besitz des sterblichen Objekts endlich ist, dass es ihm in eben diesem Moment entgleitet; daher wird Leone Ebreo, ein Neoplatoniker der Renaissance, aus Diotimas Doktrin vom Begehren nach fortdauerndem Besitz die Schlussfolgerung ziehen, dass jedem besessenen Objekt „immer ein gewisser Mangel“ innewohnt, dass es also keinen essentiellen Unterschied zwischen dem Begehren eines abwesenden Objekts und dem eines anscheinend anwesenden gibt. 2 Obwohl das Thema des Trauerns von Platon bzw. Diotima in diesem Gespräch nirgendwo erwähnt wird, steht es hinter der Logik des ganzen Arguments, wie nachfolgende Autoren deutlich machen. Marsilio Ficino zum Beispiel, der große Wiederentdecker Platons in der Renaissance, postuliert aufgrund der Vergänglichkeit alles Irdischen eine „verborgene und immerwährende Trauer“ als den Kern der menschlichen Erfahrung. 3 Ficinos Analyse ist natürlich ebenso christlich wie neoplatonisch. Augustinus, der große frühe Verbinder dieser beiden Denkströmungen, sieht ebenfalls Trauer im Herzen jeder libidinösen Besetzung, die sich auf kreatürliche Wesen richtet. 4 „Elend Joyce. In: The Collected Dialogues of Plato. Hrsg. von Edith Hamilton und Huntington Cairns. New York: Pantheon, 1961. 206a. 2 Zitiert nach Ebreos De l’origine d’amore. In: John Charles Nelson. Renaissance Theory of Love. New York: Columbia University Press, 1958. 86-87. 3 Zitiert in Paul Oskar Kristeller. The Philosophy of Marsilio Ficino. Ins Engl. übers. von Virginia Conant. Gloucester, Mass: Peter Smith, 1964. 207-8. Für eine ausführliche Behandlung von Ficinos Gedanken, insbesondere der Themen von Trauer und Melancholie vgl. Juliana Schiesari. The Gendering of Melancholia: Feminism, Psychoanalysis, and the Symbolics of Loss in Renaissance Literature. Ithaca: Cornell University Press, 1992. 4 Augustinus berichtet in den Confessiones (7.9), dass ihn das Lesen einiger platonistischer Bücher zu der entschiedenen Abwendung vom manichäischen Materialismus bewogen hat. In der englischen Originalausgabe wird durchgängig nach der klaren Übersetzung der Confessiones von Rex Warner (New York: New American Library, 1963) zitiert. Die moderne Forschung hat durch die Überprüfung textueller Parallelen festgestellt, dass die von Augustinus genannten Bücher vor allem die Enneaden von Plotinus gewesen sein müssen, insbesondere die Abhandlung über die Schönheit (Enneaden 1.6). Vgl. Carol Harrison. Beauty and Revelation in the Thought of Saint Augustine. Oxford: Clarendon Press, 1992, für eine Darstellung mit extensiver Bibliographie über die Entwicklung des Augustinus von einem relativ reinen Neoplatonismus hin zu Das Argument - 23 war ich“, schreibt er in den Confessiones, „jeder Geist ist elend, der durch Liebe zu Sterblichen gefesselt ist. Zerrissen wird er, wenn er’s verliert; aber jetzt, da er’s verloren hat, fühlt er sein Elend, worin er doch schon vor dem Verlust weilte.“ (4.6) 5 Die Unterscheidung zwischen dem sterblichen und dem transzendenten Eros im Symposium ist kein isolierter oder isolierbarer Moment in Platons Text. Sie steht vielmehr im Einklang mit dem System des Platonismus als Ganzem. Wir dürfen nicht vergessen, dass Diotima in ihrer Rede die mentalen Prozesse der Abstraktion und Idealisierung, des Aufstieges von empirischen Besonderheiten zu idealen Allgemeinheiten erotisiert. Sie beschreibt die Schritte des Liebenden/ Philosophen wie folgt: Es muß nämlich, wer den richtigen Weg zu diesem Ziel gehen will, in der Jugend damit beginnen, den schönen Körpern nachzugehen und zunächst [...] einen solchen Körper lieben [...], dann aber selbst zu der Einsicht gelangen, dass die Schönheit an jedem beliebigen Körper der an jedem anderen Körper verschwistert ist, und dass es, wenn es gilt, der Schönheit an der äußeren Erscheinung nachzugehen, großer Unverstand wäre, die Schönheit an allen Körpern nicht für eine und dieselbe zu halten. [...] Danach aber wird er die Schönheit in den Seelen für wertvoller halten als die in den Körpern [...]; damit er selbst wiederum dazu genötigt wird, das Schöne in den Lebensweisen und Gesetzen zu betrachten [...]. Nach den Lebensweisen aber muß man ihn zu den Wissenschaften führen, damit er auch die Schönheit der Wissenschaften sehe [...] vielmehr soll er sich auf das weite Meer des Schönen begeben und es betrachten, damit er viele schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in unerschöpflichem philosophischen Streben [...].“ (210a-d) 6 Im Sinne ihrer Parabel kann jede Gedankenbewegung, die als philosophisch oder als sich dem wahrhaft Philosophischen annähernd klassifiziert werden kann, zu einem gewissen Grad an dem göttlichen Eros teilhaben, ob es der Denkende weiß oder nicht. Und da der göttliche Eros im sterblichen Eros verwurzelt ist, da Eros die sexuelle Anziehungskraft von Körpern ist, bevor es die Liebe von Ideen ist, verweist Platons bzw. Diotimas Erotisierung des Denkens auf Freud. Platon argumentiert in ähnlicher Weise auch noch anderswo: vor allem im Phaedrus, aber auch im Staat, verbindet Platon die Sublimierung der sexuellen Liebe ganz eng mit dem Aufstieg zum Idealen. 7 der von Harrison als „inkarnierte Ästhetik“ bezeichneten Haltung in seinen späteren Werken (35). 5 Confessiones leicht verändert zitiert nach: Aurelius Augustinus. Die Bekenntnisse. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln: Johannes Verlag, 1985. 4. Buch. VIII, 13. 95-6. („Freundschaft mit“ durch „Liebe zu“ ersetzt) 6 Platon. Symposium, Anm. 1, 101-103. 7 Sokrates: So wirst du also offenbar in der Stadt, die wir gründen, folgendes Gesetz aufstellen: der Liebhaber soll den Geliebten um des Schönen willen - wie einen Sohn 24 - Das Argument Es ließe sich sogar argumentieren, dass der Konflikt zwischen sterblichem und göttlichem Eros bei Platon immer impliziert ist, auch dann, wenn er nicht ausdrücklich erwähnt wird. Jedes Mal, wenn Sokrates jemandem zeigt, wie man von der Vielfalt der Einzelheiten zum Ideal kommen kann, lehrt er die Sublimation des Eros, dessen Befreiung vom Reich des Körpers. Dass diese Bewegung der Sublimation oder der Aufhebung auch das Überwinden der Trauer bedeutet, wird im Staat deutlich gemacht. Die berühmte Kritik der Poesie als Nachahmung einer Nachahmung im 10. Buch des Staates beruht auf dem Gedanken, dass diese einen Aufruhr in der Seele schürt - vor allem den Aufruhr der Trauer. Die Analogie mit der Malerei im 10. Buch erlaubt es Sokrates, von der poetischen Repräsentation im Sinne von Proportion und Perspektive zu sprechen; daher heißt es, dass der „nachahmende Dichter“ den „unvernünftigen Teil“ der Seele befriedigt, der „Großes und Kleines nicht auseinander halten kann, sondern ein und dasselbe bald für groß und bald für klein hält, ein Bildner von Bildern nur, der vom Wahren sehr weit entfernt ist.“ 8 Aber es ist nicht diese Verwirrung der Wahrnehmung allein, welche den Kern der Rationalität so grundlegend gefährdet: die äußerste Gefahr besteht in der Maßlosigkeit des Affekts, im „Klagen“, „Jammern“ und „Brüten“, das in jenem Menschen entsteht, der nicht nur Gegenstände wie etwa Tische und Betten, sondern eben auch seine Leiden und Sorgen nicht in ihren richtigen Proportionen wahrnimmt, nämlich als die kleinen und unwichtigen Dinge, die sie in Wirklichkeit sind. „Wenn ein anständig denkender Mann von dem Schicksalsschlag betroffen wird, dass er einen Sohn verliert oder sonst etwas, das ihm über alles teuer ist“, dann, so Sokrates, wird dieser „in seinem Schmerz [...] Maß halten“, weil „die Vernunft und das Gesetz“ ihm sagen, man „dürfe [...] das, was uns Menschen trifft, nicht zu ernst nehmen“. 9 Andererseits ist das, was wir vorhin im eigenen Unglück mit Gewalt zurückhielten und was danach gehungert hat, sich einmal bis zur Genüge am Weinen und Klagen zu sättigen, weil es von Natur so ist, daß es Verlangen danach hat [...] gerade das [...], was die Dichter befriedigen und fröhlich stimmen. Das aber in uns, was von Natur das Beste ist, läßt in der Wachsamkeit über jenes Weinerliche nach, weil küssen, mit ihm zusammensein und ihn umarmen, wenn er ihn gewonnen hat; im übrigen muß er den Verkehr mit dem, um den er sich bemüht, so gestalten, daß es niemals den Anschein erweckt, als ginge das Verhältnis über das hinaus; sonst trifft ihn der Vorwurf, es mangle ihm an musischer Bildung und am Sinn für das Schöne. […] Das Ziel, an das wir gelangen mußten, ist nun doch erreicht; denn die musische Bildung muß doch in der Liebe zum Schönen enden. (Der Staat, Anm. 8, 403b-c). 8 Platon. Der Staat. Eingeleitet und übertragen von Rudolf Rufener. Zürich München: Artemis, 2. Auflage 1973. 495. Im englischen Original wird hier und im Folgenden nach der englischen Übersetzung des Staates von W. H. D. Rouse zitiert (welche in Bezug auf das hier behandelte Thema klarer ist als die Übersetzung in den Collected Dialogues von Hamilton-Cairns, aus der anderswo zitiert wird), in: Great Dialogues of Plato. Hrsg. von Eric H. Warmington und Philip C. Rouse. New York: Mentor Books, 1956. 9 Platon. Der Staat, Anm. 8, 493-4. Das Argument - 25 es in der Erziehung durch Vernunft und Gewöhnung nicht genug gefestigt ist. Es betrachtet ja nur fremdes Leid, und es liegt für ihn nichts Schimpfliches darin, einen Fremden, er sich für einen trefflichen man ausgibt, zu loben und zu bemitleiden, wenn er auch zur Unzeit jammert. 10 Poetische Mimesis ist also deshalb so gefährlich, weil sie in einer schlecht regierten Stadt eine Epidemie unkontrollierter Trauer auslösen könnte. Trauer ist selbstverständlich nicht der einzige Affekt, der durch Mimesis stimuliert wird und „ausgetrocknet“ werden muss: „Und so ist es auch mit der Verliebtheit und dem Zorn und mit allem Begehrlichen und Schmerzlichen und Angenehmen in der Seele“ (Der Staat 606d). 11 Aber Platon weist der Trauer eine (in negativer Weise) herausragende Position in dieser Reihe zu. Seine Bemerkungen im 10. Buch kehren zu einem Thema zurück, das er schon im 3. Buch entwickelt hat, in dem er vor allem jene Passagen in Homer zensieren möchte, welche die Furcht vor dem Tod verstärken, und zwar sowohl vor dem eigenen als auch vor dem des Geliebten. 12 Es ist eindeutig das „Heulen und Klagen“ des Achilles, das Sokrates in den folgenden Bemerkungen kritisiert (der Fragesteller ist Adeimantos): Wir behaupten doch, daß der anständig denkende Mann das Sterben für einen ebenso Denkenden nicht als etwas Schreckliches ansehen wird, auch wenn er dessen Freund ist. „Ja, das behaupten wir.“ Er wird also nicht um ihn jammern, als sei ihm etwas Schreckliches widerfahren. „Gewiß nicht.“ Aber auch das behaupten wir, daß solch ein Mensch in besonderem Maße sich selbst genügt, um glücklich zu leben, und dass er viel weniger als die übrigen eines anderen bedarf. „Richtig“, sagte er. Es ist also für ihn gar nicht so schrecklich, wenn er einen Sohn verliert oder einen Bruder oder sein Vermögen oder sonst etwas derartiges? „Nein, gar nicht.“ 13 Sokrates’ Kritik an der Poesie und vor allem an Homer macht deutlich, dass Trauer die philosophische Unweisheit überhaupt ist, da diese Seelenbewegung durch eine Illusion, eine Täuschung oder Unwahrheit ausgelöst wird, welche dem Verlust eines geliebten Objektes eine zu große Bedeutung beimisst. 14 10 Platon. Der Staat, Anm. 8, 496-7. 11 Ebd., 497. 12 Ebd., 386-87. 13 Ebd., 160. 14 Sokrates’ philosophische Argumentation über die Dichtkunst wird offensichtlich von einer unphilosophischen Feindseligkeit begleitet. Platon konkurriert mit Homer und ist dabei im Nachteil. Homers größter Held, Achilles, weint und klagt in einer Art und Weise, die sich für einen wahren Mann nicht ziemt und es nicht wert ist, dargestellt zu 26 - Das Argument Das zugrunde liegende Problem sowohl in der Kritik der Trauer im Staat und in Diotimas Doktrin des Eros ist der richtige Umgang mit der libidinösen Besetzung oder Kathexis, um mit Freud zu sprechen. Die Doktrin des transzendenten Eros im Symposium ist die Doktrin einer libidinösen Besetzung, die nicht scheitern kann, in welcher die Substanz des Liebenden gegen jede Möglichkeit des Verlustes und daher der unermesslichen Trauer geschützt wird. Es ist also eine Alternative zu dem im Staat beschriebenen Weg zur philosophischen Ruhe, der Wissenschaft des objektiven Maßstabes. In beiden Fällen geht es darum zu lernen, die eigene libidinöse Substanz von dem sterblichen oder verlierbaren Objekt abzuziehen, in welchem sie sich verfangen könnte. Dieser Prozess, bei dem die Libido schon vorgreifend abgezogen wird, wird für die späteren römischen Stoiker der explizite Fokus ihrer Betrachtungen werden. Nichts veranschaulicht diesen Aspekt der stoischen askesis besser als die folgende Passage aus Epictetus’ Enchiridion: Bei jedem Ding, welches der Seele gefällt oder das ein Bedürfnis erfüllt oder das geliebt wird, vergiss nicht, dies zu der (Beschreibung, Idee) hinzuzufügen: was ist die Natur jedes Dinges, angefangen von dem Kleinsten? Wenn du ein irdenes Gefäß liebst, sag, es ist ein irdenes Gefäß, das du liebst; denn wenn es dann zerbrochen ist, wird es dich nicht aus der Ruhe bringen. Wenn du dein Kind oder deine Frau küsst, sag, dass es ein menschliches Wesen ist, das du küsst, denn wenn dann deine Frau oder dein Kind stirbt, wird es dich nicht aus der Ruhe bringen. 15 „Was ist die Natur jedes Dings? “ - das ist die grundlegende Frage der klassischen Philosophie. Aber in der zitierten Stelle reduziert Epictetus diese Frage werden (Symposium, 388 a-c). Es ist jedoch dieser Charaktertypus, der sich am besten darstellen lässt, „Der besonnene und ruhige Charakter aber, der sich stets gleich bleibt, lässt sich nicht leicht nachahmen, und wenn er nachgeahmt wird, ist er nicht leicht zu verstehen. [...] Es ist also einleuchtend, dass der nachahmende Dichter nicht für diesen Teil der Seele geschaffen ist und dass seine Kunst nicht geeignet ist, ihm zu gefallen, wenn sie bei der Menge Beifall finden will, sondern für den reizbaren und unbeständigen Charakter, der ja auch leicht nachzuahmen ist.“ (604e-605a). Platon scheint die Schwierigkeit seiner eigenen Aufgabe zu kommentieren, denn sein Protagonist ist [ja] der weise und ruhige Sokrates, nicht die die Massen begeisternde Heulsuse Achilles. Ich möchte nicht darüber spekulieren, inwieweit Platons verächtliches Urteil über den achilleischen Typus eines Protagonisten von seinen eigenen Bestrebungen als Schriftsteller bestimmt wird, aber seine Kritik an dem tragischen und epischen Helden passt gut in die von Diogenes Laertius’ beschriebene Tradition, nach welcher Platon als junger Mann gedichtet hat, dann aber seine Gedichte verbrannte, als er unter den Einfluss des Sokrates geriet. Diogenes Laertius. Lives of Eminent Philosophers. Band 1, ins Engl. übers. von R. D. Hicks. Cambridge, Mass.: William Heinemann, 1966. 3: 5-6. 15 In der englischen Originalausgabe zitiert nach: Marcus Aurelius. Meditations and Epictetus: Enchiridion. Ins Engl. übers. von George Long. South Bend, Ind.: Gateway Editions, 1956. 171-2. Das Argument - 27 auf ihren libidinösen Kern. Die Essenz des Wesens jedes weltlichen Objekts ist dessen Vergänglichkeit oder Sterblichkeit. Um diese Essenz zu wissen, heißt gegen die Trauer gewappnet zu sein. Die Geschichte der christlichen Lesart der stoischen Meditation über Sterblichkeit und Bindung ist komplex; vor allem die stoische Betonung der selbstbestimmten und selbstgenügsamen Seele steht in Konflikt mit der christlichen Doktrin von der Abhängigkeit von Gottes Gnade. 16 Aber das „stoische“ Element, das schon in Sokrates’ Haltung gegenüber dem Trauern vorhanden ist und das sich dann im eigentlichen Stoizismus verstärkt, wird in einer neuen Form auch vom Christentum bestätigt, wieder im Sinne einer Doktrin des transzendenten Eros. Augustinus schreibt in seinen Confessiones, dass die Schönheit aller irdischen Dinge die Herrlichkeit des Schöpfers verkünde (10.6), des Schöpfers, zu dem alle Liebe aufsteigen müsse (4.12). Nur so könne der Schmerz des Verlustes überwunden werden - obwohl Augustinus zugibt, dass er zumindest zu dem Zeitpunkt, als seine Mutter starb, diese menschliche Schwäche noch nicht ganz überwunden hatte: Ich schloß ihr die Augen. In meinem Herzen sammelte sich ein gewaltiges Weh, das in Tränen überströmen wollte, aber gewaltsam gebot mein Geist, so dass meine Augen den Quell in sich zurücktranken und trocken blieben. Dieser Kampf war sehr mühsam. Im Augenblick, da die Mutter ihr Leben aushauchte, hatte der Knabe Adeodatus laut aufgeweint, sich dann aber, auf unsern gemeinsamen Verweis hin, still verhalten. Auf gleiche Weise wurde, was in mir noch knabenhaft war und in Tränen ausbrechen wollte, durch ein Wort des männlichen Herzens zurückgedrängt und zum Schweigen gebracht. Denn es schien uns ungehörig, diesen Trauerfall durch Klagen, Tränen und Stöhnen zu feiern [...]. (9.12) 17 „Ich [war] gar unwillig [...], dass menschliches Schicksal soviel über mich vermochte“ 18 , schreibt Augustinus etwas weiter unten; aber er gibt zu, dass er am Ende doch „eine kurze Zeit“ 19 um seine Mutter weinen musste. Augustinus’ Beschäftigung mit dem Problem der libidinösen Besetzung beschränkt sich jedoch nicht auf so bedeutende Bindungen wie die Liebe zur Mutter oder zu einem Freund; die Confessiones zeigen, dass jede Bewegung der Seele als ein Problem der libidinösen Objektbesetzung interpretiert und letztlich durch ihr Verhältnis zu Tod und Trauer bestimmt werden kann. In den späteren Büchern der Confessiones beschreibt Augustinus die unendliche Ver- 16 Vgl. William J. Bouwsma,. „The Two Faces of Humanism: Stoicism and Augustinianism in Renaissance Thought“. In Itinerarium Italicum: The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of Ist European Transformations. Hrsg. von Heiko A. Oberman mit Thomas A. Brady, Jr. Leiden: E. J. Brill, 1975. 3-60. 17 Augustinus. Die Bekenntnisse, Anm. 5, 9. Buch, XII, 29. 232. 18 Ebd., 233. 19 Ebd., 234. Übersetzung der englischen Version: „den kleinen Teil einer Stunde“. 28 - Das Argument feinerung der askesis, durch welche er den libidinösen Fluss von geschaffenen Wesen abwendet: Wie ein Hund einen Hasen hetzt, das schau ich mir im Zirkus nicht mehr an; seh ich’s aber zufällig, über Feld gehend, dann kann mich die Verfolgung fesseln und mich vielleicht von einer wichtigen Überlegung ablenken, und zwingt sie auch nicht mein Reittier, vom Weg abzuschweifen, so doch die Neigung meines Herzens. [...] Ja schon wenn ich zu Hause sitze, und eine Eidechse schnappt nach Fliegen oder eine Spinne umwickelt sie, wenn sie hineingeraten, in ihrem Netz: schau ich nicht gespannt zu? Die Tierchen sind klein, gewiß, aber es ist doch das gleiche. Ich gehe von da zu Deinem Lob über, als dem wundersamen Schöpfer und Ordner aller Dinge, aber nicht damit hatte die Sache begonnen. Ein anderes ist es, sich rasch wieder aufzuraffen, ein anderes, gar nicht zu fallen. (10.35) 20 Für Augustinus wie für Freud ist die Seele ihrem Wesen nach libidinös. Das innere Bewegungsprinzip der Psyche ist Eros, Begehren. Noch das geringste Flackern von Aufmerksamkeit ist die Absorption der Seele in das Objekt des Interesses und damit eine Form der libidinösen Objektbesetzung, und jede libidinöse Objektbesetzung ist entweder eine Falle, die der Tod dem begehrenden Subjekt setzt, oder eine Bewegung der Seele in Richtung auf das Ewige und Unveränderliche, in dessen Herzen es keinen Abschied gibt. Augustinus geht noch weiter als Platon in der Erotisierung der mentalen Aktivität, und es ist keine bloße Metapher, wenn er die Liebe dieser Welt als „Buhlerei“ oder „Unzucht“ gegen Gott stigmatisiert (1.13; 2.6). 21 Die Grundzüge des klassischen Problems des Eros sind einfach, aber sie eröffnen unendlich viele logische und dialektische Möglichkeiten: Man kann veränderliche, bedingte Wesen als solche lieben, dann ist man der grenzenlosen Trauer ausgeliefert; oder man kann diese Wesen lieben als Schritt auf dem Weg zu dem wahren, ultimativen und unfehlbaren Objekt der Liebe, in welchem Falle die Trauer durch eine Bewegung der Transzendenz beherrscht oder wenigstens gemindert wird. Insbesondere die Problematik der Sexualität und der erotischen Nähe ist mit den Widersprüchen dieser Struktur verwickelt, und die Aporien dieser Verwicklung definieren auf weite Strecken die Dialektik des Trauerns. Im Folgenden wird uns daher besonders die sexuelle Beziehung, oder genauer die Beziehung zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen beschäftigen. Aber dabei ist es wichtig zu verstehen, dass kein essentieller Unterschied zwischen der heterosexuellen Beziehung und allen anderen Formen der erotischen Nähe oder der libidinösen Objektbesetzung besteht. Es trifft zu, dass in der klassischen Antike die Homoerotik zu einem beträchtlichen Teil nicht 20 Augustinus. Die Bekenntnisse, Anm. 5, 10. Buch, XXXV, 57. 212-13. 21 Ebd., 1. Buch, XIII, 21: „Buhlerei von Dir weg“ (46); 2. Buch, VI, 14: „So treibt die Seele Unzucht, wenn sie sich von Dir kehrt“ (62). Das Argument - 29 mit denselben Bedenken besetzt war, welche der heterosexuellen Liebe anhingen; aber wie Foucault betont hat, liegt das nur daran, dass aufwendige Sicherheitsvorkehrungen entwickelt wurden, um die Homoerotik von dem Makel des Physischen freizuhalten, welcher der Liebe zu einer Frau anhing. Von Platon bis zum Pseudo-Lucian in den frühen Jahrhunderten der christlichen Ära, wurde die Päderasterie „an die Philosophie, die Tugend und mithin die Ausschaltung der körperlichen Liebe geknüpft“, wurde sie „unter das Zeichen der Wahrheit gestellt“. 22 Gerade die Tatsache, dass ein so mächtiger Imperativ existierte, die homosexuelle Liebe zu idealisieren, ein Imperativ, der über Jahrhunderte bestand (in seiner sublimierten Form - nämlich als Ideal der Freundschaft - sogar über Jahrtausende), verweist auf eine Gefahr, die in der Homoerotik genauso wie in der Heteroerotik in Schach gehalten wird. Umgekehrt kann die heterosexuelle Erotik so idealisiert werden, dass sie den gleichen erhöhten Status erreicht, den die homosexuelle Liebe in der Antike innehatte (obwohl unsere Geschichte zeigt, dass dies schwer zu erreichen ist, ohne gleichzeitig den Status der Homosexualität zu senken). Aber wieder geht der Prozess der Aufwertung durch Idealisierung mit dem Versuch einher, das sterbliche organische Element in der Sexualität auszuschließen, wie sich selbst bei einem so glühenden Verfechter der (ehelichen) sexuellen Liebe wie Milton zeigt. Die sexuelle Beziehung ist dennoch das offensichtlichste Beispiel der Sterblichkeit, welche in allen libidinösen Beziehungen zu irdischen Wesen lauert; der tiefgründige und tief besorgte philosophische Geist versteht, dass der Seele überall eine Falle gestellt ist, wohin sie sich auch wendet, dass die Bewegung auf den Tod zu in kleinsten, fast unmerklichen Abstufungen libidinöser Objektbesetzung fortschreitet („Wenn du ein irdenes Gefäß liebst, sag, dass es ein irdenes Gefäß ist, das du liebst.“). Der sterbliche Eros wird in diesem Buch daher in platonisch-augustinischer - d.h. freudianischer - Weise verstanden als die Beziehung zu Dingen im Allgemeinen oder als Unzucht mit der Welt. Eros ist ein anderer Name für das Leben, die Lebenskraft oder die Seele; ich ziehe diesen Begriff vor, weil er die Aufmerksamkeit auf das motivierende Prinzip zieht, die voluptas, welche das Selbst zu dem begehrten Objekt zieht und welche das Leben oder die Seele als ihr innerstes Wesen belebt. 23 Der Fall des 22 Michel Foucault. Die Sorge um sich (Sexualität und Wahrheit, Bd. 3). Übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 6. Aufl, 2000. 290, 286. In der englischen Originalausgabe zitiert nach: Michel Foucault. The Care of the Self: The History of Sexuality. Band 3. Ins Engl. übers. von Robert Hurley. New York: Vintage Books, 1986. 227, 224. 23 Für einen sehr gründlichen und detaillierten historischen Überblick über die Frage des Eros im europäischen Denken vgl. das unverzichtbare Werk von Anders Nygren. Agape and Eros. Ins Engl. übers. von Philip S. Watson. New York: Harper Torchbooks, 1953. Vgl. vor allem Nygrens Darstellung von der Verbreitung des „Eros-Motivs“ im augustinischen Denken (449-562). Nygrens Haltung in Bezug auf die Frage des Eros steht [allerdings] im völligen Gegensatz zu meiner; für ihn ist sogar der platonische „himmli- 30 - Das Argument sexuellen Eros wiederum hebt für unsere eigene Kultur - und anscheinend auch für viele andere - besonders deutlich die Gefahren und Auswüchse hervor, für welche diese motivierende Kraft anfällig ist. Die besondere Gefahr, die sowohl die klassische als auch die christliche Tradition der heterosexuellen Beziehung zuschreibt - fast immer von einer männlichen Perspektive aus gesehen - kann daher als Allegorie für die Gefahr der erotischen Beziehung im Allgemeinen dienen. Dass die gefährlichsten erotischen Objektbesetzungen nicht heterosexuell sein müssen - nicht einmal im engeren Sinne sexuell - wird schon in der Ilias, dem großen Gedicht des Trauerns, das Platon so beunruhigt hat, mehr als deutlich. Die Phänomene der Dialektik des Trauern entstehen alle aus dem Affekt der Bindung an das Selbst, welches mit Freud als narzisstische libidinöse Besetzung der Integrität des Selbst oder mit Augustinus als die Sehnsucht der Seele nach der Einheit mit sich selbst beschrieben werden kann. Schmerz verletzt die Integrität der Seele, entweder in sich oder, wie Augustinus es beschreibt, in Verbindung mit dem Körper: „Weder freiwillig noch gleichgültig, sondern vielmehr mit Feindseligkeit und Widerstand wendet [die Seele] ihre Aufmerksamkeit dem Leiden des Körpers zu, durch das sie ihre Einheit und Ganzheit zu ihrem Leidwesen zerstört sieht.“ 24 Aus diesem Grund sehnt sich die Seele nach ihrer eigenen Selbstheit, und sie reagiert mit Aggression („mit Feindseligkeit und Widerstand“), wenn ihr Projekt der genussvollen Einheit mit sich selbst gestört wird. Der äußerste Angriff auf die Selbst-Beherrschung ist natürlich der Tod. „Selbst der gerechte Mann wird nicht das Leben führen, das er wünscht, wenn er nicht den Zustand erreicht, in dem er ganz von Tod, Täuschung und Leid befreit ist und die Versicherung hat, dass er für immer von ihnen befreit ist. Das ist es, wonach unsere Natur sich sehnt.“ 25 Für Augustinus ist der Gedanke des Todes der ultimative psychische Schmerz, die unüberbrückbare Diskrepanz, welche verhindert, dass sich der Kreis des Selbst gegen das Eindringen des Nicht-Selbst schließen kann. Die aggressive Reaktion auf den Gedanken an den eigenen Tod werde ich auf der Grundlage meiner Lesart der Ilias die auf Rache sinnende oder un- sche Eros“ zu irdisch, zu „motiviert“, und er versucht, die christliche „agape“ in ihrer wahren göttlichen Reinheit aus ihrer Verschlingung mit dem „himmlischen Eros“ zu entwirren. Nichtsdestotrotz liegt der Fokus von Nygrens historischen Analysen eben genau auf dem Problemkreis, welcher für dieses Buch von größter Bedeutung ist. 24 Saint Augustine. On Free Choice of the Will. Ins Engl. übers. von Anna S. Benjamin und L. H. Hackstaff. Indianapolis: Bobbs-Merrill, 1964. 3: 23. Meine Übersetzung der englischen Version. 25 Saint Augustine. Concerning the City of God Against the Pagans. Ins Engl. übers. von Henry Bettenson. Baltimore: Penguin Books, 1972. 14: 25. Meine Übersetzung aus dem Englischen. Das Argument - 31 willige Trauer um das Selbst nennen. 26 Achilles wird vom Schmerz über seinen eigenen Tod überwältigt und muss jemanden für seine Leiden bezahlen lassen, indem er diese Person leiden lässt, und möglichst dadurch, dass er ihn oder sie grenzenlos um seinen Tod trauern lässt. Dennoch ist Achilles’ Schmerz über den Verlust seines Selbst auch die intensivste Empfindung seines eigenen Seins oder der „Selbst-Affektion“ (Derridas Begriff 27 ), die möglich ist. Einerseits erregt der Gedanke an seinen eigenen Tod seine Wut oder sein ressentiment über die Ungerechtigkeit dieses unendlichen Verlustes des Selbst. Andererseits richtet er den unendlichen Fluss der „Kathexis der Sehnsucht“, um mit Freud zu sprechen, welche in der Hetero- Trauer auf ein anderes gerichtet ist, auf sein eigenes Selbst als etwas Verlorenem. Das Gefühl der Verletzung steigert sowohl die Verzweiflung als auch die genussvolle „Selbst-Affektion“ von Achilles’ Selbstverlust zum Äußersten. Wenn der Verlust von Briseis ihn dazu bringt, den frühen Tod zu betrauern, der ihm selbst bevorsteht, beeilt Achilles sich daher, diesen zu verabsolutieren, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch hätte rückgängig gemacht werden können, anstatt seine Absolutheit zu mildern. Achilles weist nicht nur Agamemnons Angebot zurück, Briseis unangetastet zurückzugeben, er fordert ihn sogar auf, den gegen sie und Achilles gerichteten Übergriff zu vollenden, indem er mit ihr Sex hat: „Lass ihn bei ihr liegen und glücklich sein! “ (9.336-37) 28 . Zwar verletzt der Verlust von Briseis die Ehre des Achilles, und es geht ihm auch darum, diese Verletzung durch den Vollzug der Rache an Agamemmnon zu heilen. Aber es widerspricht der vorherrschenden Gruppeninterpretation der Ehre genau, wenn Achilles das Angebot der Abgesandten zu deren großer Verblüffung ablehnt. Stattdessen vertritt er ein anderes, persönlicheres Konzept von Ehre, und dies lässt sein Gefühl der Verletzung und die Dimensionen der Rache, die er sich ausmalt, gerade ins Unermessliche wachsen. Deshalb drückt Achilles’ Aufforderung an Agamemnon, seinen gewalttätigen Übergriff bis zum Ende zu treiben, nicht die Bedeutungslosigkeit von Briseis selbst aus; vielmehr komplettiert es Achilles’ Gefühl der Verletztheit, ein Gefühl, aus dem er eine so intensive Befriedigung gewinnt, dass er es der Wiederherstellung des Verlorenen vorzieht. 29 Das Gefühl der gekränkten Rachsucht (cholos) an sich ist „weit süßer [...] denn sanfteingleitender Honig“ (18.109). 26 Anmerkung der Übersetzerin: Henry Staten spricht hier von “automourning” im Unterschied zu “heteromourning”, was eine schöne Parallele zu “autoeroticism” und “heteroeroticism” darstellt. 27 Vgl. Jacques Derrida. Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt a. M., 1983. 283ff. 28 Übersetzung aus dem Englischen v. V. H. 29 So brutal die Ilias in ihrer Darstellung des Besitzes und des Austausches von Frauen ist, fehlt ihr doch die sexuelle Schmähung, die in Shakespeares Troilus and Cressida so auffällt. Dabei mangelt es nicht an Gelegenheiten: selbst wenn Briseis schuldlos ist, könnte Helena beschuldigt werden, wie es in Shakespeare und auch in Aeschylus geschieht. Aber in der Ilias bleibt Helena unermesslich wertvoll, weil diejenigen, die um 32 - Das Argument Achilles’ Zorn hat natürlich noch eine zweite Phase. Der größere Verlust von Patroklos reißt ihn aus seinem Genuss des kholos, und nun sucht er nach Entschädigung für seinen Gram in einer Rache, die alle Grenzen überschreiten würde. Aber was durch seinen geringeren und seinen größeren Gram auch deutlich wird, ist die Trauer um seinen eigenen Tod; der Verlust des Objekts wird zum Spiegel des Selbstverlustes, und die verschiedenen Formen der Rache wurzeln in dem ressentiment der Selbsttrauer. Wenn die Trauer um den Verlust des Selbst durch die Trauer um ein verlorenes Objekt verschärft wird, dann folgt daraus umgekehrt, dass die Macht der Trauer um das Selbst zumindest gemildert werden kann durch die gemeisterte Trauer um das Andere. Es ist jedoch zu spät, das Trauern zu meistern, wenn das geliebte Objekt verloren ist; die Macht des Eros muss schon bei seinem Entstehen unterbunden oder abgeschwächt werden. Daher die platonischstoisch-christliche Warnung, kein Objekt schrankenlos zu lieben, das verloren werden kann - nur ein eingeschränkter libidinöser Fluss zu einem solchen Objekt ist erlaubt, damit es dem Selbst möglich bleibt, seine Substanz von dem Objekt abzuziehen, bevor es von der unbezwingbaren Gewalt der Trauer überfallen wird. Aber da die Leiden Christi von so zentraler Bedeutung für den christlichen Glauben sind, nimmt die Trauer einen essentiellen Platz im Christentum ein, den sie im Platonismus oder Stoizismus nicht hat. Selbst wenn im orthodoxen Christentum der Aufstieg zum Absoluten gewöhnlich die Schwierigkeiten ausgleicht, welche die vorhergehenden Leiden des sterblichen Fleisches darstellen, bleibt eine machtvolle Meditation der Passion in der Orthodoxie bestehen, wobei die sich dadurch eröffnenden Möglichkeiten allerdings nicht vollständig entwickelt werden. Es war diese Tendenz des Christentums, zu sehr an der sterblichen Substanz von Jesus zu hängen, die Hegel kritisiert hat, weil es dadurch hinter dem absoluten Idealismus zurückblieb, hinter der Reinheit, zu welcher er es heben wollte. Im direkten Gegensatz zu Hegel zielt meine Interpretation des Johannesevangeliums darauf, den Gedanken von absoluter Trauer zu denken. Jesus kann aufgrund seines göttlichen Wesens Gegenstand unbegrenzter libidinöser Objektbesetzung für seine Jünger werden; er ist ein körperliches Wesen, das geliebt werden kann wie kein gewöhnliches menschliches Wesen. Aber die Jünger wissen nicht, dass er bald sterben wird. Jesus stellt sie kämpfen, an die Möglichkeit des Besitzes glauben und daher denken, dass sie zurückgewonnen werden kann. (Es geht hier um die Frage des Wertes, die Shakespeare mit solchem Zynismus aufgreift. Nichts in der Ilias kommt der beißenden, moralisierenden Satire der um Helena Streitenden gleich, welche Shakespeare dem Diomedes in den Mund legt, in einer Rede, die gleichzeitig auch die schärfste Schmähung von Helena in dem Stück enthält.) Achilles handelt gemäß der Logik des absoluten Begehrens, welches nach der Unverletzbarkeit des Besitzes strebt. Es ist der Besitz selbst, welcher verräterisch wird, sobald er nicht mehr absolut ist, und für das absolute Begehren hat der Besitz überhaupt keinen Wert mehr, wenn er nicht absoluten Wert hat. Achilles kommt daher bis an die Schwelle des platonischen Problems. Das Argument - 33 ihnen also eine libidinöse Falle, die alle Strategien der Triebökonomie zunichte macht, mit der normalerweise die Gewalt der Trauer vorwegnehmend eingeschränkt wird. Jesu Tod schleudert die philoi (Freunde), in einen Abgrund des Verlustes, den nichts mildern kann, das nicht Teil des innersten Inneren der Verlusterfahrung selber ist, Teil des grenzenlosen Pathos des Sich-Klammerns an das Selbst, welches das grundlegende Korrelat aller Objektbesetzung ist. Die Essenz dieses Pathos erscheint vollständig nur in dem unerträglich scharfen Schmerz, den die Trennung von dem Wesen verursacht, das am meisten geliebt wird und das am meisten liebt. (Ist das paradigmatische Beispiel dafür nicht die Mutter? Es ist ihr Platz, der von Jesus eingenommen wird.) Nur das vollständige Vertrauen der hinterbliebenen philoi in seine Liebe, Vertrauen in das uneingeschränkte Ausschütten seiner Substanz auf sie oder zu ihren Gunsten, kann die Quellen der Liebe in ihren eigenen Herzen öffnen. Jeglicher Bruch dieses Vertrauens würde den Zorn und den Groll des Selbsttrauerns erwecken und zwar jenes Typs der Selbsttrauer, der noch gegen den Verlust des Selbst rebelliert - bei dem sich das Selbst noch verwahrt gegen die absolute Verausgabung, von der es doch schon einen Geschmack bekommen hat, weil es noch nicht begriffen hat, dass Liebe in der Einheit beider wurzelt: der Trauer um das Selbst und der um das Andere. Diese rätselhafte Einheit, die so schwer in all ihren Verwandlungen zu denken ist, ist die Matrix, aus welcher sich alle Effekte der Dialektik des Trauerns bilden. Durch das Gebot der Liebe, zusammen mit dem Vorbild von Jesus, wird es den philoi auferlegt, ihre Liebe zu vollziehen, indem sie sich selbst dem Tod anbieten, und es zerschlägt oder dekonstruiert auf diese Weise die platonische Unterscheidung zwischen dem sterblichen und dem transzendentalen Eros. Aber diese Agape-Liebe wird von Augustinus und überhaupt traditionell in einer neoplatonisierenden und stoizisierenden Art interpretiert, so dass in der Orthodoxie ihre radikalsten Implikationen blockiert werden. Tadelnswertes Begehren oder Libido ist, so Augustinus, „die Liebe von solchen Dingen, welche ein Mensch gegen seinen Willen verlieren kann“ 30 , und alle Sünden entspringen aus diesem Fehler (I.16). Anders als Augustinus und die christliche Orthodoxie verstehe ich die Auferstehung Jesu und sein Versprechen ewigen Lebens als Verweis darauf, dass dieses gegenwärtige Leben durch eine Vision verwandelt wird. Rudolf Bultmann scheint mir diese Möglichkeit, die ich bei Johannes sehe, fast zurückgewonnen zu haben; aber auch für Bultmann bleibt ein letztes Element des thanatoerotophoben Komplexes, das nicht zu integrieren ist: das Organische des Lebens. Teils implizit, teils explizit denkt Johannes den Tod durch bis zum Ende, bis zum Ende der Zersetzung des Körpers. Damit hält er noch im Angesicht dessen, was die herrschende christliche Tradition als antithetisch zu allem Spirituellen erklärt hat, den Gedanken der Liebe aufrecht. 30 Saint Augustine. On Free Will, Anm. 24, I.4. 34 - Das Argument Aber Johannes berührt nirgendwo die Frage des sexuellen Eros, diese heikelste Form libidinöser Erregung und Objektbesetzung. Mit dem Diskurs der fin’amours der Troubadoure begeben wir uns auf eine ausgesprochen moderne Suche nach der Versöhnung der (hetero)sexuellen Liebe mit dem Protokoll des Idealismus. Die Troubadoure und besonders Bernart de Ventadorn stellen daher den Drehpunkt dar, um welchen das Argument dieses Buches kreist. In einer Form der Idealisierung, welche die Tradition der Transzendenz aus dem Gleichgewicht bringt, idealisiert Bernart foudatz, die ‚erotische Torheit‘ als Selbstzweck, als das höchste zu erstrebende Ziel. Allerdings wurde die Radikalität des Troubadour-Projekts, wie es beispielsweise von Bernart, Giraut de Bornelh und Arnaut Daniel vertreten wird, sehr bald von Dante für die Transzendenz zurückgewonnen. Indem Dante die sexuelle Liebe so grundlegend zur Liebe Gottes sublimiert, weicht er jedoch dem Problem aus, wie die libidinöse Objektbesetzung im Allgemeinen und der sexuelle Eros im Besonderen behandelt werden können, ohne die Transzendenz der Sterblichkeit heranzuziehen. Wie bekannt, findet die Tradition der höfischen Liebe nach Dante ihre einflussreichste Entwicklung im Werke Petrarcas, von wo aus sie sich durch fast ganz Europa verbreitet. Es geht mir nur am Rande um den Petrarkismus als Stil; mein Fokus liegt mehr auf der Verbreitung der erotischen Problematik, die mit dem Petrarkismus verbunden wird, eine Problematik, die charakterisiert wird durch: die Idealisierung der Frau; die Aufrechterhaltung der das Begehren erhaltenden Distanz; die Tendenz der Idealisierung der Frau in deren Schmähung überzugehen (weil sie kalt oder untreu ist); und die detaillierte Darstellung der eigenen Gefühle des Begehrens, Grolls, Selbstmitleids und der Freude durch den Liebenden. Mit all ihren Verwandlungen und Formen erstreckt sich diese Problematik über einen weiten Raum, wie ich in kurzen Beschreibungen von Hamlet und La Princesse de Clèves und dann einer ausführlichen Interpretation von Paradise Lost zu zeigen versuche. Die Kontinuität zwischen der erotischen Problematik in Hamlet und derjenigen der höfischen Liebe zeigt sich in dem Wechselspiel zwischen Hamlets Idealisierung und Abwertung Ophelias auf der einen Seite und seiner Trauer auf der anderen. Hamlets Trauer um seinen Vater wird durch das von ihm als Untreue empfundene Verhalten seiner Mutter gestört, und die Treue Ophelias im Besonderen und der Frauen im Allgemeinen wird für ihn zu einem ontologischen Abgrund (wie sie es schon hin und wieder für die Troubadoure zu werden drohte). Dieser Zweifel erschüttert den Grund seines Wesens und führt zu seinem besessenen Grübeln über die Identität von Liebe und Tod (diese Überlegungen finden ihren Höhepunkt in der Totengräberszene). In La Princesse de Clèves wird das Verhältnis von Trauer und erotischer Treue auf faszinierende Weise umgestaltet. Die Präsenz der höfischen Liebe durchzieht das oft als erster „psychologischer Roman“ bezeichnete Werk der Madame de Lafayette. Ihre Konventionen werden jedoch in einer stark reflek- Das Argument - 35 tierten und kritischen Weise präsentiert. La Princesse wirft Licht auf die Realität der weiblichen Position in der höfischen Liebe, eine Position, welche die Troubadourtradition durch die Idealisierung der domna verhüllt hat. Madame de Clèves verweigert sich ihrem Geliebten nicht aus Grausamkeit oder weil sie seine Liebe nicht erwidert (wie es der Dame der Troubadoure immer wieder vorgeworfen wird), sondern weil sie erkennt, dass seine Liebe nur überleben kann, wenn sie die Distanz erhält, ohne die diese Liebe verschwinden würde. Das Problem, welches Madame de Clèves beschäftigt, findet bei den Troubadouren oder in der Tradition der höfischen Liebe keine Berücksichtigung: Wie kann erotische Leidenschaft gleichzeitig ganz ausgelebt und dauerhaft erhalten werden? Sexualverkehr ist nicht notwendigerweise unvereinbar mit der Liebe, wie sie die Troubadoure oder Madame de Lafayette verstehen, aber diese Liebe ist unvereinbar mit einem Leben oder einem beträchtlichen Lebensabschnitt, die im intimen Kontakt mit dem Partner verbracht werden, in voller weltlicher Verstrickung des Selbst mit diesem. In der eingefügten de Tournon-Sancerre-Erzählung verbindet Madame de Lafayette das Problem der erotischen Untreue mit dem der Trauer. Madame de Tournon stirbt, und während Sancerre noch von der ersten Trauer überwältigt ist, findet er heraus, dass sie ihm untreu gewesen ist. Dies ist der ultimative erotisch-metaphysische Alptraum, sterbliche Liebe in ihrer unzuverlässigsten Form. Die Elemente von Hamlets Unbehagen sind hier zu einer unzertrennlichen Einheit verschmolzen. Aber Madame de Lafayette macht deutlich, wie sich in der Ambivalenz von Sancerres Trauer die strukturelle Ambivalenz der höfischen Liebe spiegelt, deren Tendenz, zwischen der Idealisierung und Abwertung der Frau hin- und herzuschwanken. John Miltons Darstellung des Sündenfalls in Paradise Lost zeigt die gleiche Ambivalenz in einem mythischen Archetyp. Milton ist einer der großen frühmodernen Theoretiker von Sex und Ehe, und in seinem epischen Gedicht laufen alle die Fäden aus dem Christentum, dem Platonismus und der höfischen Liebe zusammen, die ich bis hierher verfolgt habe. In Paradise Lost wird die Identität der Sexualität mit dem Tod direkt erfasst, und zwar sowohl mit dem biologischen Tod als auch mit dem Tod im Sinne von Augustinus, d.h. als die Tödlichkeit der Triebe, welche jenseits der Kontrolle bewusster Willenskraft wirken. Das Problem des sexuellen Triebes ist natürlich nicht geschlechtsspezifisch, aber in Paradise Lost ebenso wie in den meisten Texten der hier behandelten Traditionslinie wird es aus männlicher Perspektive präsentiert, und das allgemeine Problem bezüglich der Kontrolle sexueller Leidenschaft durch den Verstand wird durch den kulturellen Imperativ der männlichen Kontrolle über das Weibliche verkompliziert und intensiviert. Die Unruhe stiftende Andersheit des libidinösen Objekts, welches die Selbstbeherrschung des Liebenden bedroht, wird sowohl durch die Unmäßigkeit des erotischen Begehrens und Vergnügens erhöht, welches Eva in Adam erregt, als auch durch den eigenständigen Willen und den Wissensdrang dieser 36 - Das Argument „verwegnen“ Frau, die jenseits von Adams Entscheidungsmacht zum Inneren seines libidinösen Haushaltes gehört. Milton versteht den Mann ganz orthodox als Gottes Abgesandten, dessen maßnehmende und idealisierende Fähigkeiten die Grenzen des mit sich selbst identischen Lebens gegen die andrängenden Leidenschaften verteidigen sollen, welche sonst diese Grenzen überschreiten und damit das Leben zerstören würden. Aber anders als das orthodoxe Christentum, welches dies ausdrücklich verweigert, versucht Milton auch jenen totalen erotischen Rausch als rechtmäßig zu begreifen, welcher sich auf eine Kreatur Gottes, nicht auf Gott selber, bezieht. Miltons Auffassung, die sich der mächtigen Tradition der transzendenten Liebe solchermaßen entgegenstellt, ist nur deswegen denkbar, weil Eva zwar ein begrenztes, körperliches Individuum, aber auch unsterblich ist. Damit fehlt die notwendige Bedingung für die Definition des „sündhaften Begehrens“, um mit Augustinus zu sprechen. Aber dann wird sie sterblich, und der Moment, in dem sie es wird, setzt die ganze Kraft des Trauerns frei. Wenn Eva Adam den Apfel zu essen gibt, ist ihr Hauptmotiv Furcht: die Furcht, dass nach ihrem Tod seine Trauer um sie nicht grenzenlos sein würde, dass sie vergessen werden würde: Doch wie, wenn Gott gesehen hätte und Der Tod erfolgte? Dann wär’ ich nicht mehr, Und eine andere Eva Adams Frau, Mit der er sich des Lebens freut, ich tot. Ein tötender Gedanke! 31 „Ein tötender Gedanke“: im Einklang mit der tiefsitzenden Logik des Begehrens, betrauert zu werden, hält sie nicht das Sterben an sich für den unerträglichen Tod, sondern das Vergessen dieses Sterbens, fürchtet sie nicht ihre Abwesenheit von der Szene an sich, sondern die Tatsache, dass die Lücke geschlossen würde, welches diese Abwesenheit in der libidinösen Substanz ihres Geliebten hinterließe. Aber nun da der Tod entfesselt worden ist, wirkt die Kraft des Trauerns mit gleicher Macht auf Adam. Dieser hat zwar noch keine Sünde begangen, aber seine Substanz ist, obwohl noch unsterblich, schon durch den Tod verwundet worden, in der Form des nicht zu lindernden Verlustes, der durch Evas Sterblichkeit droht: Wie kann ich leben ohne dich? Wie missen Den süßen Umgang und den Liebesbund Mit dir, so teuer mir, um einsam wieder In dieser Waldeswüstenei zu leben? Schüfe mir eine zweite Eva Gott 31 John Milton. Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen übertragen und herausgegeben von Hans Heinrich Meier. Stuttgart: Reclam, 1968. 9: 1039-1043. Das Argument - 37 Aus einer zweiten Rippe auch, es wollte Mir dein Verlust nie wieder aus dem Sinn (9: 1140-1146) Anstatt für immer zu trauern, möchte Adam lieber mit Eva sterben, und er trifft diese Entscheidung, bevor er den Apfel isst. Adams Entscheidung wird nicht nur durch die Liebe zu einem verlierbaren Objektes motiviert, eine Liebe, die Augustinus als die Wurzel der Sündhaftigkeit charakterisiert, sondern gerade durch die Tatsache, dass sie verlierbar ist. Wenn Adam daher sagt, dass ihm der Tod, wenn Eva sterblich ist, wie das Leben erscheint (9.953-54; dt. 9.1201-02), bekräftigt er in der Modalität der sexuellen Liebe was nach meiner Argumentation von Johannes in der Modalität der „freundschaftlichen“ Liebe behauptet wird. Selbstverständlich verurteilt Milton Adams Entscheidung, und Adam selber wendet sich später gegen Eva und macht sie für seinen Sündenfall verantwortlich. Die von mir beschriebene erotische Affirmation wird in Paradise Lost nur angedeutet, nicht eindeutig bestätigt. Aber selbst wenn Milton der Bejahung der sterblichen Liebe an sich und in ihrer Ganzheit ganz nahe kommt, wird die Frage der Körperlichkeit nur gestreift. Vor dem Sündenfall wird diese durch den Ausschluss des Todes aus dem Garten Eden und das Versprechen, dass der menschliche Körper letztlich ätherisiert werden wird, ferngehalten, und nach dem Fall wird sie als Frage ausgeschlossen, indem die Bedeutung der Körperlichkeit wieder in den Bereich der klassischen Verurteilung zurückgewiesen wird. Wenn Milton auch die Möglichkeit andeutet, die Leidenschaft als eine die Kontrolle des denkenden Subjekts über sein rationales Urteilsvermögen bedrohende Gewalt in die Ökonomie der erotischen Liebe zu integrieren, so erwägt er doch nie die Möglichkeit einer solchen Integration für den Körper des Todes. Es ist nicht klar, ob diese Integration jemals erreicht wurde. Im letzten Teil des Buches wende ich mich mit Werken von Conrad und Lacan dem 20. Jahrhundert zu, in welchem die Beziehung zum Körper des Todes, trotz der sich nähernden existenziellen Schatten, weiter im Sinne der idealistischen Tradition definiert wird. Der Gedanke, ja der Geruch des Körpers des Todes oder der Fäulnis, welcher für das Christentum die Erbschaft der verbotenen Erkenntnis ist, liegt der gesamten Erzählung von Marlows Heart of Darkness zugrunde. Und doch sind wir bei diesem an der Schwelle zum 20. Jahrhundert geschriebenen Text weiter als je zuvor davon entfernt, die Frage der thanato-erotischen Angst bis zu ihrem Ende durchzudenken. Hier wird die Macht, welche Natur und Tod über die Menschen haben, extrem mystifiziert und atavistisch der Umarmung einer Frau gleichgesetzt, und die Sehnsucht danach, betrauert zu werden, äußert sich in Achilles-gleicher Maßlosigkeit in dem, was ich als Kurtz’ rachsüchtigen Trieb, Trauer zuzufügen, verstehe. „Ich werde dir doch noch das Herz auswringen“, ruft er in die Wildnis auf seiner Fahrt flussabwärts mit Marlow, und Marlow endet die Erzählung damit, der Zukünftigen von Kurtz das Herz aus- 38 - Das Argument zuwringen und ihr dabei jenen schrecklichen Schrei zu entlocken, den ich als das telos der ganzen Geschichte ansehe. Die triebhafte Logik des Begehrens, betrauert zu werden, hat aber natürlich einen grundlegenden Fehler, denn die Toten erleben den Tribut des Schmerzes nicht mehr, den ihr Tod hervorruft: das ist ein schwerwiegender Fehler, der jedoch auf verschiedene Weise ausgeglichen werden kann. Wir sind schließlich im Reiche der sich verflechtenden Phantasie und „Realität“. Selbst wenn man sich dem Tod unterwirft, ist es doch immer noch möglich, die Freude des Betrauert-Werdens im Voraus, in der Phantasie, zu erfahren. Und sobald man einmal diese Freude genossen hat, kann das tatsächliche Sterben bis in die unbestimmte Zukunft verschoben werden. 32 Oder man hat, wie in Heart of Darkness, einen Doppelgänger, welcher den eigenen Tod überlebt und dann Zeuge der Trauer sein kann. Auf diese Weise lässt sich auch das Motiv der Rachsucht verbergen, welches dem Wunsch, betrauert zu werden, innewohnt, da dieser ja notwendigerweise auch der Wunsch ist, Trauer zuzufügen. Die Motive der Grausamkeit und der Rachsucht können dem dunklen Doppelgänger zugeschrieben werden, der stirbt, während derjenige, der überlebt und so die Trauer der Frau erlebt, wie Marlow ein äußerst moralischer, sublimierender Mensch sein kann. Ist die rachsüchtige Trauer um das Selbst typischerweise ein maskuliner Affekt? Sicher ist, dass die Tradition der thanatoerotophoben Metaphysik von männlichen Schriftstellern bestimmt worden ist, dass diese Tradition immer versucht hat, die Trauer einzudämmen, indem die libidinöse Ausgabe unter Kontrolle gehalten wurde, wenn sie sich auf ein sterbliches Wesen richtete, und dass das Paradigma der den sterblichen Wesen gestellten libidinösen Falle für unsere männlichen Weisen der erotische Reiz einer Frau gewesen ist. Ich habe an anderer Stelle behauptet, dass selbst der große Antimetaphysiker Nietzsche gegenüber dem thanato-erotischen ressentiment und der Rachsucht nicht immun war. Im letzten Kapitel dieses Buches vertrete ich die Auffassung, dass auch Lacan das libidinöse Objekt als Störung der wahrhaft authentischen Selbstaneignung des Subjekts darstellt, des Triebes, nur und ganz sich selbst zu sein. Freud ist in diesem Punkt mehrdeutig, aber Lacan ist es nicht. Lacan hält in allen der mir von ihm bekannten Texte an der christlich- 32 Hier kreuzt sich unser Weg kurz mit Lacan, der beobachtet, dass „das erste Objekt, das [das Subjekt] dem elterlichen Begehren, dessen Objekt unbekannt bleibt, vorsetzt, der Verlust seiner selbst [ist] - Will er mich verlieren? Das erste Objekt, das das Subjekt bei dieser Dialektik einzusetzen hat, ist die Phantasie seines eigenen Todes, seines eigenen Schwindens - und es setzt diese tatsächlich ein - wie wir aus tausend Fällen, man denke nur an die mentale Anexorie, wissen. Wir wissen auch, dass die Phantasie des eigenen Todes vom Kind ganz allgemein in seinen Liebesbeziehungen zu seinen Eltern zum Einsatz gebracht wird“; Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar XI (1964). Übers. von Norbert Haas. Olten und Freiburg/ Br.: Walter, 1978, (zitiert als 11). 225. Ich kenne keinen anderen Text von Lacan, in dem er diesen Gedanken weiter ausführt. Das Argument - 39 platonischen Auffassung der Welt als einer Welt der Schatten und Illusionen fest, als einer Welt, in der das tatsächliche Objekt des Begehrens nur ein Lockmittel ist, welches das Selbst in den Qualen des „Imaginären“ fängt. Lacan ist der mächtigste von Freuds Erben, aber sein Werk bietet wenig Anlass zu denken, dass die Psychoanalyse grundlegend mit der idealisierenden Tradition gebrochen hat. Einige Leser werden besorgt sein, dass dieses Buch die Texte ohne Rücksicht auf ihren historischen Kontext behandelt. Meiner Meinung nach gibt es letztlich nichts als Geschichte, die nichts anderes ist als die analysierte „Realität“. Auf der anderen Seite kann man den wichtigsten Aspekt der Geschichte eines bestimmten Moments ganz unterschiedlich bestimmen. Ein großer Teil der jüngeren Geschichtstheorie neigt dazu, den diachronen Fluss in kleinste Perioden zu zerteilen, und einige der dahinterstehenden Begründungen haben meiner Ansicht nach eine ziemlich unkritische Akzeptanz gefunden. Ich denke vor allem an die Vorstellungen von „der Entstehung eines neuen Subjekts“ zu einem relativ genau bestimmbaren Zeitpunkt, üblicherweise im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert. Die diesem Buch zugrunde liegende methodologische Prämisse setzt voraus, dass sich jeder zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt produzierte Text auf verschiedenen Ebenen aus heterogenen Diskurssträngen zusammensetzt, von denen jeder seine eigene komplexe historische Entstehungsgeschichte hat, und soweit ich mir ein „historisches Subjekt“ vorstellen kann, geschieht es in Analogie zu dieser Struktur. Wie der sogenannte realistische Text, der einmal in das mimetische Register des Pikaresken rutscht, dann wieder in das des Volksliedes oder des didaktischen Traktats oder der reinen komischen Karikatur oder des Gruselromans, so ist auch das gesellschaftlich konstruierte Individuum in der Tat historisch entstanden, produziert nicht von einer Gegenwart, welche mit sich selber identisch ist, sondern einer, welche von ideologischen Resten und revenants von vorhergehenden Momenten der Kulturgeschichte durchzogen wird. Um ein Beispiel zu geben, welches fiktive und reale historische Subjekte zusammenbringt: was wäre Dorothea Brookes Sehnsucht, was wäre George Eliots, was wäre die ganze Struktur dieser Gesellschaftsanalyse eines bestimmten historischen Moments in Middlemarch, den Reformbestrebungen von 1829 in England, ohne das Modell der Sehnsucht von Sankt Theresa, welches Eliot explizit am Anfang und am Ende des Romans aufruft, und das, wie Kathryn Bond Stockton vor kurzem gezeigt hat, Eliots Leben und Kunst auf tiefster Ebene durchzieht? 33 Untersuchungen, welche die historische Besonderheit begrenzter Momente innerhalb der kulturellen Entwicklung bestimmen wollen (ob sie nun das „neue historische Subjekt“ definieren wollen oder nicht), müssen daher durch Untersuchungen wie meine ergänzt (und nicht so sehr widerlegt) werden, Un- 33 Kathryn Bond Stockton. God Between Their Lips: Desire Between Women in Irigaray, Brontë, and Eliot. Stanford: Stanford University Press, 1994. 193-249. 40 - Das Argument tersuchungen also, welche ein Feld zu definieren suchen, innerhalb dessen es möglich ist, die Wanderung von Strukturen zu beschreiben, welche von den Texten einer Periode in diejenigen einer anderen „verpflanzt“ werden (im Derrida’schen Sinne, mit allem, was das bezüglich der Transformation durch den Kontext impliziert). ZWEI ARCHETEXTE 2. Kapitel Vor der Transzendenz: Die Ilias Die nicht nur vorchristliche, sondern auch vorplatonische Ilias beschreibt ein Verhältnis zu Tod und Trauer, in dem sich noch keine der idealisierenden und transzendierenden Strategien niedergeschlagen haben, denen wir in späteren Werken begegnen. Mit der Figur des Achilles zerreißt die Ilias jede kulturelle Beschönigung der Absolutheit des Todes und legt die davon verhüllte grenzenlose Qual bloß. 1 Indem Achilles sich über das Kriegerethos hinausbewegt, 1 Die iliadischen Krieger haben die Vorstellung von einer Nachwelt, in welche sich die Schatten der Toten begeben, aber dies stellt kaum ein Leben nach dem Tod dar. Nachdem Achilles im Traum den Schatten des Patroklos gesehen hat, ruft er (23.103-4), dass „in Aïdes Wohnung“ eine psyche und ein eidolon (eine ‚Seele‘ und ein ‚Bild‘) bestehen bleiben, aber ohne ein phren, das Zentrum der lebendigen physikalischen Existenz. In der englischen Originalausgabe wird die Ilias von Homer zitiert nach The Iliad. Ins Engl. übers. von Richard Lattimore. Chicago: University of Chicago Press, 1961. Erwin Rohde kommentiert diese Zeilen wie folgt: „Drunten, im dumpfigen Höhlenbereich, schweben sie nun, bewusstlos, oder höchstens im dämmernden Halbbewusstsein, mit halber, zirpender Stimme begabt, schwach, gleichgültig: natürlich, denn Fleisch, Knochen und Sehnen, das Zwerchfell, der Sitz aller Geistes- und Willenskräfte - alles dieses ist dahin; [...] Von einem „unsterblichen Leben“ dieser Seelen zu reden, mit alten und neueren Gelehrten, ist unrichtig. Sie l e b e n ja kaum mehr als das Bild des Lebenden im Spiegel; und dass sie ihr schattenhaftes Abbilddasein auch nur e w i g fortführen werden, wo stünde das bei Homer? “ Psyche: Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Zwei Bände in einem Band. Reprografischer Nachdr. der 2. Aufl., Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen, 1898. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991. 1: 10-11. Im englischen Original zitiert nach Psyche: The Cult of Souls and Belief in Immortality Among the Greeks. Ins Engl. übers. von W. B. Hillis. New York: Humanities Press, 1925. 9. Es stimmt, dass der Homerische Held einen „todeslosen Ruhm“ begehrt und vielleicht auch, wie Gregory Nagy behauptet hat, die Unsterblichkeit der kultischen Verehrung; aber dies sind irdische Formen der Transzendenz, welche das Christentum zu schätzen wissen wird. Vgl. Nagy, “The Death of Sarpedon and the Question of Homeric Uniqueness”. In: Greek Mythology and Poetics. Ithaca: Cornell University Press, 1990. 122-42. 44 - Ilias wird die Finsternis unermesslicher Trauer entfesselt. Es ist diese Haltung gegenüber dem Tod, welche der Platonismus und das Christentum später zu mildern trachten. Vielleicht folgt es aus dem Fehlen jeglicher Ideologie von Transzendenz, dass der oder die Dichter der Ilias den Impuls rachsüchtiger Trauer um das Selbst so ungemildert darstellen können. In der Ilias, am Beginn der europäischen Texttradition, wird die libidinöse Spekulation eines Individuums über sein eigenes Wesen schon außergewöhnlich differenziert theoretisiert. Die Repräsentation von Subjektivität in der Ilias muss offensichtlich in vieler Hinsicht historisiert werden, d.h. sie muss im Sinne bestimmter Formen der Gemeinschaft, des Eigentums, der Autorität usw. verstanden werden, welche in dem Gedicht vorausgesetzt werden, aber grundsätzlich anders sind als die unserer eigenen Epoche. Ich werde diese kulturellen Nuancen nicht ignorieren, aber dennoch kann man über kulturelle und historische Unterschiede hinweg eine sehr präzise Analyse bestimmter Subjektivitätsstrukturen wahrnehmen, deren Wirksamkeit vielleicht nicht auf den historischen Moment des archaischen Griechenlands beschränkt ist. 2 2 Die Ilias war übrigens in den 1950ern schon Thema einer berühmten Diskussion über das Aufkommen eines vereinheitlichten Subjekts; Bruno Snell nannte es „die Entdeckung des Geistes“ und sah dessen Beginn im archaischen Griechenland. Aber da das Subjekt, welches auf einer Analyseebene zu fehlen scheint, immer auf einer anderen Ebene wiederentdeckt werden kann, „wissen“ wir nun, dass Achilles in diesem Gedicht durch seinen rhetorischen Stil gründlich und detailliert individualisiert ist. Ein jüngst erschienenes Buch von Richard P. Martin (The Language of Heros: Speech and Performance in the Iliad. Ithaca: Cornell University Press, 1989) fasst die gegenwärtige Debatte über den individuellen Stil des Achilles zusammen und treibt sie weiter. Seine ethnographisch begründeten Schlussfolgerungen sollten die Überzeugung all derer erschüttern, die nostalgisch die vorkapitalistischen Kulturen als Alternative zum Individualismus darstellen. Nach Martin „stimmen die Ethnographie, andere Literaturen und die Ilias selber darin überein, uns von der Notwendigkeit und dem Bewusstsein eines individuellen Stiles in traditionellen Gesellschaften zu überzeugen. Die Helden der Homerischen Gedichte haben doch ganz deutlich einen individuellen Stil; ich möchte darüber hinaus behaupten, dass sie nicht nur literarische Konstrukte sind, sondern auf einer tieferen sozialen Realität beruhen“ (98). Diese Frage des individuellen Stils ist keine unwesentliche Frage der Darstellung, sondern in grundlegender Weise agonistisch; die einzelnen Helden des Epos handeln, wie die einzelnen Sänger einer ursprünglichen, mündlichen Traditionsgemeinschaft, „in einem Kontext, in dem die Autorität immer neu erkämpft werden kann und von dem Sprecher mit dem besten Stil gewonnen wird“ (238). Martins Forschungen zeigen die Grenzen von Anthony Easthopes Unterscheidung zwischen zwei „gegensätzlichen Diskursarten: die eine kollektiv, populär, intersubjektiv, den Text als ein vorzutragendes Gedicht akzeptierend; die andere individualistisch, elitär, privatisiert, den Text als Repräsentation einer sprechenden Stimme darstellend“ (Poetry as a Discourse. London: Methuen, 1983. 770). Easthopes Charakterisierung mag einen Wert haben, solange es darum geht, den Unterschied zwischen Volksballaden und Miltons Versen zu bestimmen, aber Martins Studie legt nahe, dass schon in den Dichtungen traditionellster Art die individuelle Stimme ihr Recht beansprucht. Ilias - 45 Ich meine damit nicht, dass diese Strukturen universell sind, sondern vielmehr dass die Geschichte einer Kultur wie der unseren, welche durch eine mehr oder weniger kontinuierliche Texttradition bestimmt wird, nicht immer in mundgerechte Stücke zerteilt werden kann und dass der historische Horizont, vor dem wir die „Beschaffenheit der Subjektivität“ einer bestimmten Epoche interpretieren müssen, breiter und schwieriger zu deuten ist, als manchmal angenommen wird. Natürlich entsprechen die in der Ilias repräsentierte Gesellschaft oder Gesellschaften keinen tatsächlichen historischen Gesellschaften, aber das macht die Darstellung des Achilles umso bedeutsamer, weil sie, nur ganz lose von der Geschichte eingeschränkt, umso besser das Bewusstsein jener Gesellschaft offenbart, welcher die Repräsentation entspringt. Dank der jüngeren Entwicklungen in der Homerforschung und vor allem der monumentalen Studien von Gregory Nagy und Berkley Peabody verstehen wir heute besser als je zuvor die Besonderheit des gemeinschaftlichen Entstehungsprozesses dieser Gedichte, gemeinschaftlich nicht nur, weil Generationen von Sängern, sondern auch weil Generationen von Zuhörern mit ihren Reaktionen wesentlich zu der Formung dieser Gedichte beigetragen haben. 3 Wir sehen uns daher dem augenscheinlichen Paradox gegenüber, dass ein in höchstem Maße gemeinschaftlicher Akt formativer Vorstellungskraft über Jahrhunderte hinweg eine Geschichte immer weiter verfeinert, in welcher ein Individuum die Gruppensolidarität zurückweist und in welcher es um dessen peinigende Beziehung zu seinem Eigentum und seinem Tod geht. 4 Das „Eigentum“, um das es hier geht, sind Frauen. Es beginnt mit der Auseinandersetzung um Agamemnons „Siegespreis“ Chryseis, die zu dem Streit über Achilles’ Preis Briseis führt. Sogar die Ähnlichkeit der Namen zeigt die Austauschbarkeit der beiden Frauen innerhalb des hier wirksamen Tauschsystems. Aber die Frauen sind mehr als nur rein arbiträre Zeichen der Ehre. Agamemnon beschreibt die physischen und geistigen Tugenden von Chryseis und erklärt seine Absicht, sie in sein Bett zu holen; Achilles erklärt später, dass er Briseis „von Herzen“ liebt, und Briseis selber berichtet, dass es Pläne gab, sie mit Achilles zu verheiraten. Nichtsdestoweniger sind die Frauen auch konventionelle, wenn auch nicht beliebig austauschbare Ehrenzeichen. Beide Frauen sind ihren jeweiligen Besitzern von den als kollektive Autorität handelnden Achaiern übertragen worden, als der ihnen zukommende Preis aus der von der Armee eroberten Beute. 3 Gregory Nagy. The Best of the Achaeans: Concepts of the Hero in Archaic Greek Poetry. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1970; Berkley Peabody. The Winged Word: A Study in the Technique of the Ancient Greek Oral Composition. Albany: State University of New York Press, 1975. Dies scheinen mir die beeindruckendsten der Neo-Parry-Werke der letzten zwei Jahrzehnte zu sein. 4 Meine Interpretation ist daher so weit wie möglich davon entfernt, die „Harmonie von Mensch und Natur“ in der Ilias zu finden, welche Lukacs und andere marxistische Kritiker in den homerischen Gedichten sahen. 46 - Ilias Es handelt sich dabei jedoch um eine spezielle Kategorie des Preises, welche über den üblichen moira [‚Anteil‘] des Kriegers hinausgeht. Der Terminus für diese besondere Art des Preises ist geras, von Emile Benveniste als „ehrender Anteil“ definiert, welcher weit über den normalen moira hinausgeht (335-36). In seiner Benvenistes Kapitel vorausgehenden Zusammenfassung nennt Jean Lallot dies daher einen „ehrenhaften zusätzlichen Anteil“. 5 Das geras ist folglich ein besonderes oder „zusätzliches“ Zeichen der Ehre; das ist der Grund, warum Achilles es als eine solche Verletzung seiner time (Ehre) ansieht, wenn ihm dieser besondere Preis vorenthalten wird. Achilles besitzt immer noch einen großen Anteil der Beute von seinen Plünderungen, wie er im 9. Buch zugibt, zusätzlich zu dem Reichtum, den er zu Hause gelassen hat: „Anderes auch von hier, des rötlichen Erzes und Goldes, / Schöngegürtete Weiber zugleich, und grauliches Eisen, / Bring’ ich, durchs Los mir beschert“. Aber all dies kann den Verlust seines „ehrenhaften zusätzlichen Anteils“ nicht ausgleichen: „doch den Siegslohn [geras], der ihn gegeben, / Nahm ihn mir selbst hochmütig [...]“ (365-69). 6 Die Frauen sind also in eine Derridasche Struktur der „supplementation“ eingebunden. Sie sind extra, ein dem vollständigen moira des Kriegers hinzugefügter Glanz, und dennoch implizieren sie eine unfüllbare Leere in der Ganzheit, in der sie fehlen. Chryseis, Agamemnons geras, wird von ihm unrechtmäßigerweise behalten; sie ist die Tochter eines Priesters des Apollo und kann deswegen nicht gegen den Willen ihres Vaters gehalten werden. Eine transzendente Grenze schließt sie aus dem Kreis von Agamemnons Besitztümern aus, auch wenn er sie gefangenhält. Damit ist ein strukturelles Ungleichgewicht in die Situation eingebaut, mit welcher die Ilias beginnt, und der dieses Ungleichgewicht verursachende Mangel kann nicht behoben werden. Wenn Agamemnon nämlich Chryseis aufgäbe, wäre er - der oberste König und daher derjenige, dem die höchste Ehrung durch das geras zukommt - in der anormalen und unerträglichen Lage, der einzige der Achaier zu sein, der kein geras hätte (1.118-19). Achilles macht darauf aufmerksam, dass die gesamte Beute verteilt worden ist, und es gibt kein Gemeingut, aus dem Agamemnons Verlust hätte ausgeglichen werden können (1.121-126). Daraus folgt, dass Agamemnon das geras eines der anderen Helden nehmen muss, und das wiederum wird notwendigerweise einen neuen und wiederum unerträglichen Mangel an geras für jemand anderes bedeuten. Briseis wird daher der Apfel der Zwietracht, bewegliches Ehrenzeichen, dessen Fehlen einen abgrundtiefen Mangel an Ehre bedeutet und die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Konkurrenten ins Ungleichgewicht wirft. Wenn ein solches Ungleichgewicht nicht in irgendeiner Weise reguliert 5 Emile Benveniste. Indo-European Languages and Society. Ins Engl. übers. von Elizabeth Palmer. Coral Gables: University of Miami Press, 1973. 334. 6 Homer zitiert nach: Ilias. In der Übersetzung von Johann Heinrich Voß. (Projekt Gutenberg DE: http: / / gutenberg.spiegel.de/ homer/ Ilias). Ilias - 47 wird, kann die daraus resultierende Gewalt ein gesamtes soziales System zerreißen (dies eben droht, wenn Achilles erwägt, Agamemnon zu töten, d.h. ein Verbrechen zu begehen, welches die grundlegendste und daher von den Göttern sanktionierte Regel verletzten würde). Es besteht daher ein System von konventionierten Äquivalenzen, nach dem Entschädigungen für ein erlittenes Unrecht oder einen Verlust bezahlt werden können, um das Rachebedürfnis der verletzten Partei zu besänftigen. Dieses System gibt Agamemnon einen öffentlich anerkannten und daher gesichtswahrenden Weg, Achilles zu versöhnen. Als Agamemnon das katastrophale Ausmaß seines Affronts gegenüber Achilles erkennt, bietet er ihm apoina an, eine Wiedergutmachung, welche von den anderen Achaiern als mehr denn ausreichend angesehen wird, um Achilles’ Verlust von Briseis auszugleichen, allerdings nicht von ihm selbst. In diesem System kann selbst die extremste Verletzung, der Mord eines nahen Verwandten, welcher leicht als nicht zu entschädigen aufgefasst werden könnte, durch das Bezahlen eines materiellen Äquivalentes, nämlich von poine, Blutgeld, wiedergutgemacht werden. Blutgeld ist die letzte Bremse der Vendetta, der Angelpunkt zwischen einer funktionierenden gesetzlichen Ordnung und dem Ausbruch mörderischer Gewalt. Da es die entschädigenden Äquivalente gibt, hat die Gewalt Grenzen, oder anders gesagt, der endlosen Zunahme eines bestimmten Affekts - nämlich der Wut, dem Rache suchenden Zorn - wird eine Grenze gesetzt. Es gibt keine klare Linie zwischen der Gemeinschaft und der Nicht-Gemeinschaft in Hinsicht auf das Problem des rachsüchtigen Zorns. Auf der einen Seite infiziert die Rachsucht entfesselnde Gewalt sogar den innersten Kern der Gemeinschaft, die Gruppe der Verwandten (16.573; 13.694-97). Auf der anderen Seite sind selbst zwischen Feinden Äquivalenzen verfügbar, welche einen Austausch möglich machen, und damit die Absolutheit des Krieges mildern, indem sie dem Einbruch der absoluten Gewalt eine gewisse Grenze setzen (durch das Freikaufen von Gefangenen, den Austausch von Geschenken unter Feinden, ritualisierte Duelle, die Rückgabe von Beutegut). Diese Tauschvorgänge funktionieren als Medium einer Art „Konversion“ des Affektes, seiner Transformation von einer Form in eine andere (von Feindseligkeit in Freundlichkeit) oder sein „Einfangen“ in einer objektiven gesellschaftlichen Form (Feindseligkeit gefangen oder eingedämmt in einer formellen Beziehung der Freundlichkeit). Lösegeld, Wiedergutmachung und Blutgeld vermitteln zwischen der subjektiven und der politischen Ordnung. Die subjektive Wunde findet ihr symbolisches Äquivalent, und der Affektstrom wird auf einen weniger kulturzerstörenden Pfad abgelenkt. Tatsächlich hat das Operieren verschiedener Grenzsetzungen im Krieg zwischen den Trojanern und den Achaiern bis zu dem Moment, an dem die Ilias einsetzt, zu einem Patt geführt: seit neun Jahren ist der Krieg unentscheidbar geblieben. Der Austausch von Geschenken zwischen Ajax und Hektor sowie zwischen Glaukos und Diomedes im Anfangsteil des Gedichtes erinnert an 48 - Ilias das frühe Stadium des Krieges, als die Feinde noch die Möglichkeit der „Konversion“ von Feindseligkeit durch symbolischen Austausch anerkennen, d.h. in dem sie noch eine symbolische Ordnung anerkennen, welche beide Seiten einschließt und die absolute Feindseligkeit des Krieges verhindert. Es wird außerdem wiederholt daran erinnert, dass es früher eine übliche Praxis war, in der Schlacht Gefangene zu machen, um sie dann für Lösegeld einzutauschen. Allerdings weist Robert Redfield darauf hin, dass in der Ilias zwar verschiedene Male Lösegeld angeboten wird, es aber jedes Mal zurückgewiesen wird und kein einziger Gefangener um des Lösegeldes willen genommen wird. 7 Die Ilias markiert daher den Zusammenbruch des Patts bzw. des Gleichgewichts, und dieser Zusammenbruch manifestiert sich darin, dass der Kreislauf der Äquivalente zusammenbricht. Agamemnon akzeptiert keine apoina (‚Lösegeld‘, ‚Wiedergutmachung‘) für Chryseis, Achilles akzeptiert keine apoina für seine Beleidigung durch Agamemnon, und später wird Achilles keine apoina für den Körper des Hektor akzeptieren. Diese drei Ablehnungen sind die Angelpunkte, um welche sich die Handlung der Ilias dreht. Es geht in der Ilias daher um eine sich steigernde Krise der Äquivalenz. Diese wird durch Agamemnons Weigerung ausgelöst, das Lösegeld anzunehmen, das ihm der Apollo-Priester im Austausch für seine Tochter Chryseis anbietet. Wenn Agamemnon den Wert der angebotenen apoina als proportional zu seinem Begehren der Tochter und der Frustration angesichts seines Verlustes von ihr akzeptiert hätte, hätte er seine Verpflichtung erfüllt, den Priester des Apollo zu respektieren, und gleichzeitig wenigstens nach Außen hin seine ehrenhafte Position bewahren können, einen Preis erhalten zu haben, der den Mangel des Verlorenen angemessen ersetzte. In diesem Fall wäre die Ordnung aufrechterhalten worden, und es wäre nicht zum Streit mit Achilles gekommen. Wenn Achilles wiederum willig gewesen wäre, Agamemnons Wiedergutmachung als proportional zu seinem Schmerz über den Verlust von Briseis und zu dem Schaden zu akzeptieren, den seine time (‚Ehre‘) durch die öffentliche Demütigung genommen hatte, hätte er in ehrenhafter Weise von seinem Zorn ablassen und sich wieder dem achaischen Heer anschließen können. Der entscheidende Punkt ist, dass apoina oder poine die Verletzung, die sie wiedergutmachen sollen, nur dann wert sind, wenn die verletzte Partei auch davon überzeugt ist, und diese Übereinstimmung ist in der Ilias nicht leicht zu erreichen. Es liegt im Interesse der Gruppe, dass eine solche Äquivalenz akzeptiert wird, wie die Art erkennen lässt, in der die anderen Achaier Agamemnon und Achilles drängen, die jeweiligen apoina zu akzeptieren. Aber die verletzte Partei hat größere Schwierigkeiten als diejenigen, die nicht direkt beteiligt sind, die Wiedergutmachung als tatsächlich dem Verlust adäquat zu empfinden. 7 Robert Redfield. Nature and Culture in the Iliad. Chicago: University of Chicago Press, 1975. 167. Ilias - 49 Achilles will Rache an Agamemnon üben, und seine Motivation ist stark von erotischer Leidenschaft gefärbt, von der sexuellen Wut darüber, dass ein anderer Mann öffentlich seine Frau genommen hat. Dies ist natürlich eine Variation derselben Motivation, welche hinter dem ganzen vom Gedicht beschriebenen Krieg steht. Die Trojaner haben als Kollektivkörper dem Kollektivkörper der Griechen die Frau Helena geraubt, und die Griechen sind nun auf erotische Rache aus. Dieses Motiv manifestiert sich in einem ganz konkreten Fall am Ende des 4. Buches, wenn das Gedicht in filmischer Weise von Helenas Gemach, in dem diese gerade zögernd im Begriff ist, sich Paris sexuell hinzugeben, zum Schlachtfeld springt, wo ihr wutentbrannter Ehemann den Trojaner wegen eben dieses Frevels zu töten sucht, den Paris gerade in diesem Moment zu erneuern unternimmt. Die Übertragung von Menelaus’ Motiv auf das Kollektiv wird auch in dem Aufruf des alten Nestor an die Argiver deutlich: „Drum dass hier keiner zuvor wegdräng’ und strebe zur Heimkehr, / Eh’ er hier allhier mit einer der troischen Frauen geruhet, / Eh’ er gerächt der Helena Angst und einsame Seufzer! “ (2.354-56). (Hetero)sexuelle Leidenschaft ist offensichtlich in grundsätzlicher Weise mit der für das Gedicht zentralen Krise der Äquivalenz verbunden. Aber in welcher Weise genau? Eine Interpretation mit langer Tradition, die gerade von Thomas McCary fortgesetzt wurde, schlägt vor, dass Achilles in Wahrheit Patroklos und nicht Briseis liebt. 8 Ist Briseis also nur ein zweitrangiges Problem, ein Vorwand für die Helden, ihren Wettstreit miteinander weiterzuführen? Liebt Achilles sie nicht wirklich? Wie wir sehen werden, sind solche Fragen zu einfach, zu naiv psychologisierend. Briseis nimmt eine entscheidende strukturelle Rolle in der Ilias ein. Auf der einen Seite ist sie ein Besitztum, ein „Siegespreis“, wie ein Pferd oder ein Dreifu ß ; auf der anderen Seite ist sie eine Frau, von der Achilles sagt, dass er sie liebt, und die er seine „Gemahlin“ (alochos) nennt, eine Frau, deren Verlust ihn bekümmert. Sie stellt daher ein Übergangsglied zwischen der sozialen und der libidinösen Ordnung dar. Die Ilias artikuliert die libidinöse Ökonomie im Sinne der sozialen Ökonomie, im Sinne eines Austausches symbolischer Wert- Äquivalenzen. Um die Rolle der Briseis zu verstehen, müssen wir diese doppelte Artikulation, diese soziopsychische Ökonomie in ihrer Ganzheit wiederherstellen. Achilles sagt im 9. Buch (342-43) über Briseis „ego ten / ek thymou phileon“, und selbst über die kulturellen und zeitlichen Unterschiede zwischen uns und den Griechen hinweg scheint der Sinn mit der deutschen Übersetzung „habe ich jene von Herzen geliebt“ getroffen zu sein. Es ist eindeutig, was das Griechische meint, aber es meint noch mehr, weil philein zu einem semantischen Netzwerk gehört, das extensiver als das deutsche Äquivalent „lieben“ ist. Benveniste, der nie die Einbettung von Homers Sprache in einen spezifischen 8 W. Thomas McCary. Childlike Achilles: Ontogeny and Philogeny in The Iliad. New York: Columbia University Press, 1982. 50 - Ilias sozialen und institutionellen Kontext aus den Augen verliert, weist darauf hin, dass die gefühlsmäßige Bedeutung von philein in einer institutionellen Bedeutung wurzelt. Diese verweist auf einen Pakt, der ein bestimmtes Verhalten vorschreibt zwischen denen, die dadurch philos (mask.) oder phile (fem.), ‚einander teuer‘, ‚in Freundschaft verbunden‘ werden. Philein meint daher nicht nur ‚lieben‘, sondern auch ‚als Gast aufnehmen‘, ein Verhalten also, welches das Aufnehmen einer formellen Beziehung zwischen Gastgeber und Gast bedeutet, mit wechselseitigen Verpflichtungen von „Freundschaft“ (281). Es ergibt sich aus Benvenistes Erörterung, dass die Bedeutungen von philein und philos alle von der Institution des oikos, des ‚Haushalts‘ ausgehen. Der Gast, die Ehefrau, der Blutsverwandte, die Diener - sie alle werden philos oder phile genannt, weil sie zum Inneren des oikos gehören (281-82). Die Grenze des oikos ist die Grenze zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen dem xenos, ‚Fremden‘, und dem ‚Eigenen‘, also dem, welches dem Selbst am nächsten steht, wie wir nun philos übersetzen können. Daraus folgt naturgemäß, so Benvenistes Argument, dass philos auch einfach mit dem Possessivum wiedergegeben werden kann, also mit ‚seinem‘ oder ‚ihrem‘. Es ist klar, in welcher Weise der Begriff der philotes auf diejenigen ausgedehnt werden kann, mit denen man jeden Tag tödliche Gefahr teilt und denen man das eigene Überleben verdankt. Wenn jedoch Patroklos von Achilles philos genannt wird, wird die engere Bedeutung ebenso aufgerufen wie die Bedeutung von „Kamerad“ oder „Freund“, weil Patroklos in demselben Haushalt wie Achilles aufgewachsen ist, weil er wie ein Mitglied der Familie ist (23.89). Wenn wir nun noch irgendeinen Zweifel bezüglich des konkreten Sinns der Äußerung ek thymou phileon haben, wird schließlich die gleiche Formulierung von Phönix benutzt, wenn er in herzergreifender Weise seine Liebe für das Kind Achilles beschreibt. Hier lässt der Kontext keinen Zweifel an der konkreten Manifestation des beschriebenen Gefühls. „Ich ... liebte dich von Herzen“ (se ... ek thymou phileon) sagt er zu Achilles, auch wolltest du nimmer mit den andern Weder zum Gastmahl gehen, noch daheim in den Wohnungen essen, Eh’ ich selber dich nahm, auf meine Knie dich setzend, Und die zerschnittene Speise dir reicht’ ... Oftmals hast du das Kleid mir vorn am Busen befeuchtet, Wein aus dem Munde verschüttend in unbehilflicher Kindheit. (9.486-91) Diese Passage, die naturalistischste Darstellung väterlicher philotes in der Ilias macht nicht nur unmissverständlich deutlich, was „von Herzen lieben“ bedeutet, sondern es verbindet diese Vorstellung auch ganz konkret mit dem Leben des oikos. Es suggeriert zudem eine gewisse Gleichheit zwischen der Liebe, die ein Mann für seinen (Pflege-)Sohn empfindet, und der Liebe, welche Achilles behauptet, für seine weibliche Gefangene Briseis zu empfinden. Ilias - 51 Wenn wir einmal dieses Netzwerk an Definitionen, Beziehungen und den damit verbundenen emotionalen Besetzungen verstanden haben, welches die grundlegende Beziehung des Individuums zum Fundament seiner Identität im oikos darstellt, wird klar, warum Briseis, wenn sie Achilles auch sehr phile ist, es doch nicht so sehr ist wie Patroklos, und warum ihr Verlust nicht so schmerzhaft ist - auch wenn er sie „von Herzen liebt“. Aber wenn Briseis für Achilles nicht an erster Stelle in der Hierarchie der philotes steht, dann nicht deshalb, weil eine Frau in diesem sozialen System eine solche Position nicht einnehmen kann. Das Gedicht informiert uns an einer zentralen Stelle, in der von Phönix im 9. Buch erzählten „paradigmatischen“ Geschichte des Meleager, dass eine alochos, ‚Ehefrau‘ tatsächlich phile über allen anderen sein kann. Wie J. T. Kakridis nachgewiesen hat, gibt es in der griechischen Literatur das Motiv einer „aufsteigenden Skala der Zuneigung“ mit einer „festgelegten Rangordnung von Freunden und Verwandten“. Dabei wird die Ehefrau üblicherweise an erster Stelle genannt, und in Übereinstimmung mit diesem traditionellen Motiv ist es in der Meleager-Geschichte Meleagers Ehefrau Kleopatre, welche den Ehrenplatz als phile vor allen anderen einnimmt, selbst vor seinen hetairoi, den ‚Kameraden‘, welche an zweiter Stelle stehen. 9 Anders als Briseis ist Kleopatre eine Ehefrau im vollen Sinne und ist damit eindeutig in den oikos eingebettet. Der oikos ist das Beziehungssystem, welches in seiner Ganzheit das innere Gesicht der gesellschaftlichen Identität des Kriegers bestimmt (das äußere Gesicht machen seine Beziehungen zu anderen Kriegern aus), und wir können das Thema der Liebe in der Ilias nur in seiner Vermittlung durch dieses System untersuchen. 10 Die Annahme, dass 9 J. T. Kakridis. Homeric Researches. Lund, Sweden: C. W. K. Glerup, 1949. 20. 10 Kakridis behauptet, dass die Meleager-Geschichte die Matrix für die Geschehnisse um Hektor und Andromache im 6. Buch darstellt. Ob wir einer mutmaßlichen „Meleagris“ eine Rolle als Ursprung des 6. Buches zuweisen oder nicht, Kakridis Demonstration, dass die feste Rangordnung der Zuneigung ein grundlegendes strukturelles Element ist, ohne das wir das Abschiednehmen des trojanischen Paares nicht verstehen können, bleibt für unsere Zwecke der wesentliche Punkt. Sie findet sich in kanonischer Form in Hektors Worten an Andromache statt: „Doch nicht kümmert mich so der Troer künftiges Elend, / Nicht der Hekabe selbst, noch Priamos auch des Beherrschers, / Noch der Brüder umher, die dann, so viel und so tapfer, / All’ in den Staub hinsinken, von feindlichen Händen getötet: / Als wie dein’s, wenn ein Mann der erzumschirmten Achaier / Weg die Weinende führt, der Freiheit Tag dir entreißend“ (450-455). Ebenso taucht sie, in eine Redewendung gewandelt, in Andromaches Worten an Hektor auf: „Hektor, siehe du bist mir Vater jetzto und Mutter, / Und mein Bruder allein, o du mein blühender Gatte! “ (429-30). Und besonders auffällig wird sie in der Reihenfolge von Hektors Treffen mit Freunden und Familie konkretisiert, wenn er durch Troja schreitet, eine Reihenfolge, die in dem Treffen mit seiner Frau endet (erst die trojanischen Frauen, dann Hekabe, dann Paris und Helena, dann Andromache (238-394)), die er unter Schwierigkeiten sucht, nur um sich von ihr zu verabschieden. Was die Studie von Kakridis zeigt, ist dass die feste Rangordnung der Zuneigung als Struktur auf der Entstehungsebene des Textes funktioniert. Es ist eine Struktur, 52 - Ilias Achilles einfach deshalb Patroklos mehr liebt als Briseis, weil homosexuelle Liebe hier stärker ist als heterosexuelle, lässt die Sozialstruktur außer Acht, welche der Gefühlssprache der Ilias Bedeutung gibt. Gregory Nagy macht darauf aufmerksam (Best of the Achaeans, 105ff.), dass in der Ilias deutlich auf die strukturelle Analogie zwischen dem Achilles/ Patroklos-Nexus und dem Meleager/ Kleopatre-Nexus hingewiesen wird; der Name Patro-klos vertauscht die Teile des Namens Kleo-patre, kleos (‚Ruhm‘) und pateres (‚Vorfahren‘). Es stimmt, dass die Frauen in dieser Welt brutal zur Ware erklärt und wie Besitzstücke und Tauschobjekte behandelt werden. 11 Aber es stimmt auch, dass dies eine Welt ist, in welcher man materielle Kompensation für den Mord an seinem Bruder oder Sohn akzeptieren kann und unter gewissen Umständen auch sollte. Wir müssen daher verstehen, dass es sich hier um ein umfassendes System des Tausches und der symbolischen Wertumwandlung handelt, dessen Ziel es ist, das gesamte Gesellschaftssystem aufrechtzuerhalten. Dieses setzt sich aus den oikoi zusammen, die wiederum von einzelnen Individuen repräsentiert werden. 12 In seiner Klage gegen Agamemnon im 9. Buch schwankt Achilles zwischen der Begründung, dass Briseis seine alochos (‚Ehefrau‘), und der, dass sie sein geras (‚Preis‘) ist, hin und her. Insofern er sie liebt und sie zu seiner Ehefrau haben möchte, sieht Achilles Briseis wenigstens anfänglich als Teil der die zu dem „semiotischen System“ gehört, welches der „Oberfläche der Erzählung“ zugrunde liegt und die generativen Möglichkeiten zur Verfügung stellt, so dass die daraus resultierende Dichtung „lebendiger Sprache mit kreativer Dynamik gleicht“. M. Nagler. Spontaneity and Tradition: A Study in the Oral Art of Homer. Berkeley: University of California Press, 1974. xxiv, 16. 11 Streng genommen ist es historisch ungenau, die Frauen oder die anderen Austauschobjekte in der Ilias als „Ware“ zu bezeichnen. Wir haben es hier mit „der Substanz eines edlen Handels“ zu tun, „vor-monetarischen Zeichen“, deren Funktion als Wertträger in den Wettkämpfen eines Kriegsadels wurzelt, nicht in der Idee des Profits. Louis Gernet, „The Mythical Idea of Value in Ancient Greece,“ in seinem The Anthropology of Ancient Greece. Ins Engl. übers. von John Hamilton und Blaise Nag. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1981. Daher bezeichnet das Wort für Waren oder Besitztümer, ktemata, vor allem „Dinge, die durch Krieg, Spiele oder Schenken erworben wurden. Der Begriff betont niemals an erster Stelle die Vorstellung von kommerziellem Gewinn“ (76). Dieser technische Unterschied macht die Behandlung von menschlichen Wesen, die als Tauschobjekte angesehen werden, natürlich nicht menschlicher oder weniger brutal. 12 Das heißt nicht, dass oikos eine organische Einheit ist, welche die Individualität ihrer Mitglieder vollkommen absorbiert; im Gegenteil, der oikos ist voller Spannungen und Konflikte aller Art. Und einige der schlimmsten Spannungen sind sexueller Natur - wie in der Geschichte, in der Phönix’ Vater, Amyntor, ihn verbannt und seinen Samen verflucht, weil Phönix, dem Geheiß seiner Mutter gehorchend, die Konkubine von Amyntor verführt hat (9.454-56). Dies ist ein sehr extremer Fall des Auseinanderreißens des heiligen oikos: indem Amyntor seinen Sohn auf diese Weise verflucht, versagt er sich selber die Fortführung seiner Linie. Ilias - 53 Beziehungsmatrix, welche das innere Gesicht seiner sozialen Identität definiert (der des oikos). Insofern er sie als sein geras sieht, gehört sie jedoch zu dem Tauschsystem, dem System der gesellschaftlichen Beziehungen, welches das äußere Gesicht seiner Identität definiert. Achilles möchte, dass Briseis umdefiniert wird, so dass sie nicht mehr zum System des Tausches gehört, sondern für immer und ewig Teil seines Eigentums wird. Agamemnon aber bringt sie zurück in den Umlauf, indem er sie erst Achilles wegnimmt, um Chryseis zu ersetzen, und dann anbietet, sie ihm zurückzugeben. Aber Achilles will sie - wenigstens zunächst - nicht zurückhaben. Die wiedererstattete Briseis ist in gewisser Weise nicht äquivalent zu der verlorenen Briseis: ihr Entfernen aus dem inneren Kreis von Achilles’ Eigentum hinterlässt eine klaffende Wunde, welche weder durch die Rückgabe noch durch irgendeine andere Entschädigung wiedergutgemacht werden kann. Es ist eine Verwundung seines Wesens. Folgt also daraus, dass Achilles der Verlust von Briseis nicht „wirklich“ kümmert, sondern ihm nur seine Schmach, die Verwundung seiner time wichtig ist? Wenn er Briseis wirklich lieben würde, würde er dann nicht Agamemons Angebot, sie zurückzugeben, annehmen? Aber es ist auch nicht einfach eine Sache der time, denn wenn es das wäre, würde diese durch Briseis plus die riesigen apoina wiederhergestellt werden (wie Phönix im 9. Buch betont), d.h. auch wenn es ihm wirklich nur um seine time im konventionellen Sinne ginge, müsste Achilles Agamemnons Angebot annehmen. Es geht deshalb nicht darum, zu entscheiden, ob es Achilles mehr um Briseis oder mehr um seine time geht. Es geht um eine neue Konzeption der time, eine Konzeption, welche Achilles der kulturell sanktionierten entgegenstellt, die ihn Phönix und die anderen Griechen drängen zu akzeptieren. Es ist eine Umdefinition, welche das ganze System der symbolischen Äquivalenzen zu zerstören droht, welches die iliadische Ökonomie zusammenhält. In dem Motiv des Verlustes und der Rückgabe der Briseis lässt sich der Umlauf eines symbolischen Objekts erkennen, welcher auf einer metanarrativen Ebene funktioniert, hier nicht im Sinne einer Selbstrepräsentation des Textes, sondern als eine Abbildung auf einer höheren Abstraktionsebene als jener von Charakteren und plot. Wenn wir einmal auf den Abstraktionsgrad aufmerksam geworden sind, auf welchem das Gedicht den Umlauf symbolischer Objekte darstellt, erkennen wir, dass es eine konstante Problematik des Tausches, des Verlustes und der symbolischen Wiedergutmachung formuliert, eine Problematik, die sich vor allem in den fünf verschiedenen Weisen artikuliert, auf welche die Wiedergutmachung (apoina oder poine) abgelehnt werden kann. Wir können das folgende Schema aufstellen: 1. die apoina (‚das Lösegeld‘) werden abgelehnt, der männliche Gefangene wird getötet (sich wiederholender Vorfall) 2. die apoina (‚das Lösegeld‘) werden abgelehnt, die weibliche Gefangene, die phile ist, wird behalten (Agamemnon und Chryseis) 54 - Ilias 3. die weibliche Gefangene, die phile ist, wird verloren, die versöhnenden apoina (‚das Lösegeld‘) werden abgelehnt (Achilles und Briseis) 4. Verlust des philos, die versöhnende poine (‚Wiedergutmachung‘) wird abgelehnt (auf Achilles Schild abgebildet) 5. der Körper des ermordeten Gefangenen wird behalten, die apoina (‚das Lösegeld‘) für den Körper werden abgelehnt (Achilles und Hektor) Diese Situationen stellen eine Serie von Variationen dar, in welcher die gleichen Grundthemen sich auf verschiedene Weise vermischen und schließlich ein einzelner Problemkomplex herausgearbeitet wird. Die Krise der Äquivalenz, welche durch Agamemnons Verweigerung der apoina für Chryseis verursacht wurde, wird schließlich, wenigstens im Sinne einer poetischen Auflösung, durch Achilles Annahme der apoina für Hektors Leiche gelöst. 13 Wir können die zu Grunde liegende Logik dieser Serie wie folgt rekonstruieren: die Anfangssituation ist verbunden mit dem Besitz eines Objektes, welches libidinös besetzt ist (eine Frau oder ein Freund); es folgt der Verlust dieses Objekts gegen den Willen des Besitzers und ohne Wiedergutmachung; danach wird die Wiedergutmachung notwendig, entweder durch rachsüchtige Aggression gegen ein Ersatzobjekt, in dessen Besitz man gelangt (der lebende oder tote Körper des Feindes) oder durch die Option, die in der Ilias so schwer zu erreichen ist, das Akzeptieren der apoina als versöhnende Wiedergutmachung. Das wesentliche Element in der diegetischen Entwicklung dieser Problematik ist Achilles Weigerung, Agamemnons Angebot der apoina und die Rückgabe von Briseis anzunehmen. Aber während Liebe und sexuelles Begehren mächtige Motive in der Ilias sind, bleiben Achilles Beweggründe unsicher. Er sagt, dass er Briseis liebt, und er scheint es zu meinen, aber er will sie nicht zurückhaben. Er betont seine öffentliche Demütigung und seinen Wunsch nach Rache, und wie sich zeigt, ist Patroklos, nicht Briseis, ihm mehr philos. Es ist keine Überraschung, dass man die Authenzität von Achilles Liebe für Briseis angezweifelt hat. Aber in Hinsicht auf die Problematik des Gedichtes als Ganzem geht es nicht um die wahre Natur von Achilles’ Zuneigung, welche sowieso unbestimmbar ist, sondern um die strukturelle Ambivalenz von Briseis’ Rolle, die Art und Weise, in der sie sowohl auf der Ebene der libidinösen wie der sozialen Ökonomie eine Funktion hat. Weil die Ilias die libidinöse Ökonomie in der Ökonomie des Austausches abbildet, wirft ihr Raub die Frage des unersetzlichen Verlustes auf - und damit die Frage der Trauer. Die Trauer überfällt Achilles mit voller Macht erst als Folge des Verlustes von Patroklos, nicht von Briseis, aber wir werden sehen, dass es da keinen Gegensatz gibt, kein entweder/ oder zwischen Achilles’ Liebe zu Patroklos und seiner oder anderer 13 Cedric Whitman hat darauf hingewiesen, dass es auch eine synchrone oder „geometrische“ strukturelle Beziehung zwischen der Situation am Anfang und der am Ende gibt; letztere „kehrt“ die erstere „um“ als Teil der übergreifenden „Ringstruktur“ des Gedichtes. Cedric H. Whitman. Homer and the Heroic Tradition. Cambridge: Harvard University Press, 1958. 259-60. Ilias - 55 Männer Liebe zu Frauen, zum Beispiel Hektors zu Andromache. Vielmehr enthüllt die eine Art der Liebe eine libidinöse Struktur, welche auch von der anderen besetzt wird. Der Essay soll im Folgenden diese These veranschaulichen. Wir müssen die Beschaffenheit der time und ihr Verhältnis zu den Entschädigungsformen apoina und poine genauer betrachten. Time ist die Wertschätzung, welche ein Krieger von den anderen erhält, der Tribut des Respekts, der ihm erwiesen wird; das gleiche Wort bezeichnet auch die materiellen Vorteile (Frauen, Fleischstücke, Beute), welche die Gruppe ihm als Zeichen dieser Wertschätzung zuteilt. Es trifft jedoch die Sache nicht wirklich, die materielle time als „Zeichen“ der time im Sinne von Respekt oder Ehre zu verstehen. Es ist eher dessen Verkörperung oder Verwirklichung. Redfield merkt hierzu an: „Einerseits markiert das geras den Status; andererseits verleiht es Status, so dass mit dem Verlust des geras [...] der Verlust des Status droht“ (175). 14 Time gehört vollständig zu dem System der konventionellen Äquivalenzen - so groß wie die zugeteilte Beute ist auch die Ehre. Darum bemüht sich Phönix im 9. Buch so sehr, Achilles zum Nachgeben zu überreden, solange noch Geschenke angeboten werden und nicht, wie Meleager, zu lange zu warten und die Geschenke zu verlieren: ...Nein, für Geschenke Komm; dann ehren dich rings, wie einen Gott, die Achaier. Doch wenn sonder Geschenk in die mordende Schlacht du hineingehst; Nicht mehr gleich wird Ehre dir sein, wie mächtige du obsiegst. (602-5) 15 14 Vgl. die Diskussion von geras und time in Benveniste, Anm. 5, 341-42. Benveniste unterscheidet sorgfältig zwischen der Bedeutung der beiden Wörter, aber es bleibt deutlich, dass geras time ersetzen kann, wie Benveniste selber impliziert, wenn er bemerkt: „Achill wurde seiner time beraubt, als das gefangene Mädchen ihm genommen wurde“. 15 Als Phönix dies sagt, hat Achilles natürlich schon seine donnernde Ablehnung von Agamemnons apoina ausgesprochen. Er kann seine Meinung kaum sofort wieder ändern, aber dennoch haben Phönix’ Worte eine Wirkung auf Achilles: obwohl er die Geschenke weiterhin ablehnt, mildert er die vorhergehende Androhung seiner Abreise ab, indem er stattdessen die Entscheidung auf den nächsten Morgen verschiebt: „Sobald der Morgen sich rötet, / Halten wir Rat, ob wir kehren zum Unsrigen, oder noch bleiben.“ (618-19). Phönix’ Worte erklären die oft diskutierten Zeilen 84-85 im 16. Buch, in welchen Achilles seine Hoffnung erklärt, dass dank der Bemühungen des Patroklos in der Schlacht die Achaier Briseis zurückgeben werden „und köstliche Gaben hinzutun“. Es liegt nichts Geheimnisvolles in dieser Bemerkung, wenn wir begreifen, dass die Geschenke time vertreten können und daher Achilles’ wiedererwachendes Interesse an seiner „Ehre“ ansprechen. Er hat sich offensichtlich die Ermahnung des Phönix zu Herzen genommen, dass der Verlust der Geschenke seine time vermindern würde, und es passt zu diesen Bedenken, dass er Patroklos warnt, nicht mehr zu tun, als die Trojaner von den Schiffen zu vertreiben, „denn weniger ehrte mich solches“ („mich atimoteros ‚time-los‘ machen, was „mir meine Entschädigung nehmen“ bedeuten kann). 56 - Ilias Die Homerischen Krieger sollen durch das Streben nach immer größerer time im doppelten Sinne des Wortes motiviert werden, durch Preise als Verkörperung von Ehre. Die Handlung der Ilias wird jedoch durch einen profunden Mangel an Beute in Gang gesetzt, weil einer der Helden, entweder Agamemnon oder ein anderer, notwendigerweise zumindest zeitweise ohne seinen Ehrenanteil und damit ohne einen angemessenen Anteil an time bleiben muss. Das bedeutet, dass die im Mittelpunkt des Gedichtes stehende time immer verspätet kommen muss, also nicht im positiven Sinne des Ruhmes, nach dem ein Krieger strebt, sondern als Wiedergutmachung für einen Verlust, den er vorher erlitten hat. Ehre ist in dieser Erzählung wiederholt mit einer Entschädigung statt mit einem Zuwachs verbunden, etwa wenn die apoina (‚das Lösegeld‘), die dem Priester Chryses angeboten werden, den Verlust seines geras Chryseis ausgleichen soll, oder wenn die apoina (‚Wiedergutmachung‘), welche Agamemnon Achilles anbietet, dessen time wiederherstellen soll. 16 Es gibt noch eine weitere Analogie zwischen Agamemons Angebot von apoina an Achilles und dem Zahlen von time (‚Tribut‘), welches Agamemnon von den Trojanern als Entschädigung für den Raub der Helena fordert. Agamemnon schlägt die Bezahlung folgendermaßen vor: Aber sinkt Alexandros dem bräunlichen Held Menelaos; Dann entlassen die Troer das Weib und die sämtlichen Schätze; Buße zugleich den Argeiern bezahlen sie, welche geziemet ................................................................................... Doch wenn Priamos dann und Priamos Söhne sich weigern, Mir zu bezahlen die Buße, nachdem Alexandros gefallen; Dann werd’ ich von neuem mit Kriegsmacht wegen der Sühnung Kämpfen ... (3.284-91) Die hier imaginierte Situation ist eine genaue Parallele zu der Situation im 9. Buch, wenn Agamemnon nicht nur anbietet, Briseis zurückzugeben (so wie die Trojaner Helena und den gestohlenen Schatz zurückgeben sollen), sondern 16 Apoina und poine sind deutlich unterschiedene Formen der Entschädigung, aber sie werden explizit von Ajas in Verbindung gebracht, wenn er Achilles’ Verweigerung von Agamemnons apoina mit dem Akzeptieren von poina durch einen Mann, der einen Bruder oder einen Sohn verloren hat, kontrastiert. Leonard Muellner hat darauf hingewiesen, dass die Verbindung auch durch die Gerichtsszene impliziert wird, die auf dem Schild des Achilles abgebildet ist. Muellner stellt fest: „die Frage auf dem von einem Gott gefertigten Schild des Achill ist, ob der Verwandte des Ermordeten tatsächlich das Recht hat, das poine-Angebot des Mörders abzulehnen, so wie Achill selber die apoina der Gesandten abgelehnt hat.“ (Leonard Muellner. The Meaning of Homeric EYXOMAI through Ist Formulas. Innsbruck: University of Innsbruck, 1976. 106. Die Analogie zwischen den beiden Fällen betont die Rolle von sowohl apoina als auch poine als Formen der Entschädigung, welche beide dazu dienen sollen, die Rachsucht zu stillen und den Rückgriff auf Gewalt unnötig zu machen Ilias - 57 Achilles zusätzlich riesige Geschenke anbietet. Im 9. Buch wird das zusätzliche Tribut apoina genannt, das gleiche wird hier time genannt. Wenn diese apoina oder time nicht angeboten werden, werden sie durch eine strafende Wiedergutmachung (,poine‘) ersetzt. 17 In Agamemnons Schwur darüber, was er den Trojanern antun will, wenn sie sich weigern zu zahlen, sehen wir nicht nur ein weiteres Mal, dass poine als eine rachsüchtige Vergeltung oder eine gewaltsam erzwungene Wiedergutmachung nachträglich kommt, um eine verweigerte time auszugleichen, sondern auch dass die time, welche er verlangt und die jene verweigern, selber schon die apoina sind, die eine noch frühere Verletzung der time wiedergutmachen sollen. In gewissem Sinne scheint es, als ob der Krieger durch das Töten der Feinde und das möglichst brutale, den Gegner dadurch noch zusätzlich demütigende Vorgehen seine Berufung erfüllen würde, dass der Krieger gerade dann am meisten er selber sei. Natürlich gewinnt er so auch time (‚Ehre‘) und anschließend das kleos (‚Ruhm‘) poetischer Berühmtheit, und diese Form von time scheint die wahre Kriegerehre zu sein, jenseits der Zuteilung von Tribut und Frauen. Und dennoch stellt das Gedicht das Streben nach time als im Wesentlichen rachsüchtig dar, weil es immer eine frühere Ehrverletzung auszugleichen gilt. Dieses Prinzip zeigt sich am Beispiel des Achilles. Er ist der Beste der Achaier, und dennoch kann nicht einmal er der Verletzung seiner Ehre entgehen. Als er die Unvergleichbarkeit zwischen seinem Leiden und jeder möglichen materiellen Entschädigung erklärt, wird in ihm eine Rachsucht entfesselt, die normalerweise durch das System der symbolischen Äquivalenzen unter Kontrolle gehalten wird. Hier ist das Crescendo von Hyperbeln, mit welchen er Agamemnons apoina zurückweist: Nein, und böt’ er mir zehnmal und zwanzigmal größere Güter Als was jetzo er hat, und was er vielleicht noch erwartet; Böt’ er sogar die Güter Orchomenos, oder was Thebe Hegt, Ägyptos Stadt, wo reich sind die Häuser an Schätzen: Hundert hat sie der Tor’, und es ziehn zweihundert aus jedem Rüstige Männer zum Streit mit Rossen daher und Geschirren: Böt’ er mir auch so viel, wie des Sandes am Meer und des Staubes; Dennoch nimmer hinfort bewegte mein Herz Agamemnon, Eh’ er mir ausgebüßt die seelenkränkende Schmähung! (379-87) Achilles weist die „Umwandlung“ seiner Rachsucht durch den formalen Entschädigungsprozess zurück. Er möchte, was wir einen „rohen“ Ausgleich nen- 17 Poine kann entweder ‚Blutgeld‘ oder ‚Rache‘, ‚Strafe‘ bedeuten. In beiden Fällen ist es eine Form der Wiedergutmachung für ein zugefügtes Unrecht. 58 - Ilias nen können: „Schmerz für Schmerz, Unehre für Unehre“ übersetzt Robert Fitzgerald frei, aber wie ich denke treffend, die letzte Zeile. 18 Tiere können natürlich keine Rache suchen; Rache ist nicht „roh“ in dem Sinne, dass sie außerhalb des Kontextes von Sprache und Kultur existieren könnte. Schon die Tatsache, dass Rache im Grunde eine Form des Ausgleiches oder der Äquivalenz ist, bedeutet, dass ihr ein komplizierter mentaler Vorgang zugrunde liegt. Außerdem verlangt der Genuss der Rache ein scharfes Empfinden für die Subjektivität des oder der Anderen, ein Sinn für die Realität und Intensität des Leidens, dass er oder sie an unserer Hand erfährt. Ich nenne Rache dennoch eine rohe Äquivalenz, um ihre Tendenz auszudrücken, aus dem kulturellen System konventioneller Äquivalenzen auszubrechen und es zu unterminieren. Schon „Auge um Auge“ ist ein Versuch, die Rachsucht durch eine konventionelle Definition zu begrenzen, denn die Ilias behauptet, dass unbegrenzte Rachsucht als Ausgleich für erlittenes Leid nicht die formale Äquivalenz von Objekten oder Körperteilen sucht, sondern die Quantität des Leidens, welches der oder die Andere im Inneren erlebt. Und es gibt keinen Weg, dieses subjektive Empfinden zu messen oder zu begrenzen. So lange ich den heftigen Schmerz über eine erlittene Verwundung fühle, ist das Gefühl, einen Grund zur Klage zu haben, unbegrenzt. Wenn die gesamte Substanz meines Wesen von Schmerz oder Gram über eine Verletzung oder einen Verlust erschüttert wird, wenn nichts den Verlust an sich ungeschehen machen kann, kann nur ein ebenso unbegrenztes und unheilbares Leiden des Verursachers als ausgleichendes Äquivalent zählen. Solch ein Leiden versucht Achilles bei Agamemnon und später bei den Trojanern zu erzwingen. Rache ist hier der Versuch, ein Äquivalent für das Unvergleichbare, Wiedergutmachung für das Nichtwiedergutmachbare zu finden. Es ist mit anderen Worten das letzte Mittel, den Fluss der Trauer zu stoppen. Daher sagt Euphorbos zu Menelaos: Traun nunmehr, Menelaos, du Göttlicher, sollst du mir büßen, Daß du den Bruder erschlugst, und rühmend der Tat dich erhebest, Daß du zur Witwe gemacht sein Weib in der bräutlichen Kammer, Und unnennbaren Gram den jammernden Eltern bereitet! Ach den Elenden würd’ ich des Grams Erleichterung schaffen, Wenn ich zurück dein Haupt und die blutigen Rüstungen tragend Überreicht in Panthoos’ Hand und der göttlichen Phrontis! (17.34-40) Die Logik der Äquivalenz, nach der zugefügte Trauer erlittene Trauer ausgleichen und lindern kann, strukturiert die gesamte Ilias, aber sie ist besonders klar erkennbar in einer Sequenz am Ende vom 14. Buch. Als Poulydamas den Griechen Prothoenor getötet hat, „frohlockte“ er „hoch“ darüber (453) und „es schmerzte der jauchzende Ruf die Achaier“ (458). In rachsüchtiger Wut tötet 18 Im englischen Original zitiert nach Homer, The Iliad. Ins Engl. übers. von Robert Fitzgerald. Garden City, N. Y.: Anchor Books, 1975. 215. Ilias - 59 Ajas einen Trojaner und ruft dann Poulydamas zu: „War nicht dieser ein Mann, Prothoenors wegen zu fallen, / Würdig genug? “ (471-2). „Schmerz erfüllte die Troer“ (475) daraufhin, und der Troer Akamas tötet Promachos, so dass achos wiederum die Griechen überfällt, woraufhin Peneleos Ilioneus tötet und sich rühmt: Meldet mir dies, ihr Troer, Ilioneus’ Vater und Mutter, Daß sie den glänzenden Sohn daheim im Palaste betrauern! Denn auch nicht des Promachos Weib, des Sohns Alegenors, Heißt den trauten Gemahl willkommen hinfort (501-5) Achilles’ Versuch, den Schmerz über seine Verluste zuerst durch die Demütigung Agamemnons und dann durch den Holocaust der Rachsucht zu lindern, mit welcher er gegen die Troer vorgeht, treibt diese Logik an ihre Grenze: unbegrenzte Entschädigung für seinen unbegrenzten Schmerz. Die Grausamkeit des Kriegers, welche time bringt, wird in der Ilias als dem Wesen nach rachsüchtig dargestellt, d.h. als eine Ersatzbefriedigung, ein ausgleichender Wert, welcher einen immer schon bestehenden und nichtwiedergutmachbaren Verlust ersetzen soll. Das ist es, was wir jenseits der Heldentaten auf dem Schlachtfeld, jenseits des Verlangens nach Eroberungen und Ehre, welches Nietzsche als unschuldigen und gesunden Ausdruck der barbarischen griechischen Überschwänglichkeit ansah, in der Ilias und vor allem in der exemplarischen Figur des Achilles erkennen. Wir erfahren von Achilles, dass time (‚Ehre‘, ‚öffentliche Anerkennung‘) letztlich für das Leben selber entschädigen soll. Wie ein Kind weinend sagt der am Meer sitzende Achilles zu Thetis: Mutter, dieweil du mich nur für wenige Tage gebarest, Sollte mir Ehre doch der Olympier jetzo verleihen, Der hochdonnernde Zeus! Doch er ehret mich nicht, auch ein wenig! Siehe, des Atreus Sohn, der Völkerfürst Agamemnon, hat mich entehrt (etimesen), und behält mein Geschenk, das er selber geraubet! (1.353-6) Dass er „nur für wenige Tage“ geboren sei, das ist es, was Achilles so tief grämt und wofür er Entschädigung erwartet. Aber es ist die Definition des Menschen überhaupt, dass er nur ein kurzes Leben hat. Das Leben des Achilles ist in Tat sehr kurz, aber nicht kürzer als das vieler anderer Krieger in der Ilias, und die immer vorhandene Perspektive der unsterblichen Götter erinnert die iliadischen Krieger beständig daran, dass selbst das längste menschliche Leben erbärmlich kurz ist. Aber selbst diese eingeschränkte Anerkennung von time als etwas, dessen Wert für die Kürze des Lebens entschädigen könnte, wird im 9. Buch zurückgenommen. Wenn die Größe der Wiedergutmachung proportional zu der verliehenen time ist, dann ist die Entschädigung, welche Agamemnon dem 60 - Ilias Achilles anbietet, wahrlich eine außergewöhnliche time. Und dennoch würde selbst eine unermessliche Zahl solcher apoina Achilles nichts bedeuten, denn er denkt oder fühlt nicht mehr innerhalb des Systems der kulturellen Äquivalenzen. Er fühlt sich so gekränkt, er hat seinen Groll so geflissentlich genährt, dass er seine eigene Subjektivität in einer tiefgreifend neuen Weise erfasst. Früher, als seine time noch intakt war, konnte sie ihn noch über das Empfinden der Flüchtigkeit seines Lebens hinwegtäuschen. Die Verletzung seiner time durch Agamemnon jedoch lässt ihn den Kummer über seinen eigenen Tod mit voller Wucht erfahren. Und jetzt wird ihm die subjektive Essenz seines eigenen Wesens als psyche bewusst, als der flüchtige Atemhauch des Lebens, welcher jeder durch Beutegut zu erlangenden time unvergleichbar ist: Nichts sind gegen das Leben [psyche] die Schätze mir: nichts, was vordem auch Ilios barg ... Beutet man doch im Krieg gemästete Rinder und Schafe, Und gewinnt Dreifüß’ und braungemähnete Rosse; Aber des Menschen Geist [psyche] kehrt niemals, weder erbeutet, Noch erlangt, nachdem er des Sterbenden Lippen entflohn ist. (9.400-409) Achilles erwähnt time in diesen Zeilen nicht, aber innerhalb der hier vorausgesetzten Verteilstruktur von Beute, der gleichen Struktur, innerhalb welcher Briseis und andere ehrenhafte Anteile verteilt wurden, muss das Beutegut nach seiner Eroberung von der Gruppe verteilt werden und verkörpert daher time. Die psyche wird hier in Analogie zu wertvollen Besitztümern beschrieben, mit Objekten, welche jemand anderem entrissen und sich selber zu eigen gemacht werden können, welche von einem Besitzer zum anderen zirkulieren können, welche verloren und wiedergewonnen werden können oder für die man doch entschädigt werden kann. Dies sind die Objekte, in deren Sinne das konventionelle System des Austausches und der Äquivalenz funktioniert. Aber die psyche gehört nicht in dieses System. Es ist ein wertvolles Objekt, das nicht zirkuliert: einmal verloren, ist es für immer verloren. In der Ilias kann die Wiedergutmachung nie den immer schon bestehenden Verlust einholen, was am Ende der Serie von Wiedergutmachungen verstärkt deutlich wird. Die Kultur erklärt den Verlust mit der Entschädigung vergleichbar, aber die Kultur kreiert auch Spannungen, welche die erklärten Äquivalenzen aufbrechen, so dass sich zuletzt doch die Entschädigung als unzulänglich offenbart, den jeweiligen Verlust auszugleichen. Die Logik dieses Rückschritts ist in dem ironischen Doppelsinn des Wortes moira angedeutet, welches einerseits den rechtmäßigen Anteil eines Kriegers meint, andererseits Schicksal, genauer das unausweichliche Ende durch den Tod. Die Ökonomie von moira überschattet die offizielle Ideologie der Kriegerkultur und deren von Ajas verkündeten oikonomia, nach der jeder Verlust wiedergutzumachen ist und sich für alles ein Äquivalent finden lässt, selbst für den Verlust des Teuersten. Das ist vernünftig und beweist einen guten Führungsstil, denn das Sys- Ilias - 61 tem von Tausch und Ersatz muss ganz bis ins Innere des oikos reichen, weil es nur dann die vergeltende Gewalt wirklich regulieren kann, die sonst die Grundlagen der sozialen Ordnung erschüttern würde (etwa durch den Königsmord, den Achilles fast begeht). Aber Achilles, weit davon entfernt, einen Ersatz oder ein Äquivalent für Briseis zu akzeptieren, weigert sich sogar, Briseis selber als Entschädigung ihrer selbst zu akzeptieren; er reagiert als ob ihr Verlust absolut sei, als ob sie tot sei. (Weil Ajas dies spürt, sagt er Achilles, dass ein Mann selbst für einen toten Sohn poine akzeptiert.) Wir sehen nun, wieso die strukturelle Position von Briseis an der Schnittstelle von Innen und Außen, als Ehrenpreis und geliebte Ehefrau, die Möglichkeit für Achilles’ Bruch mit der offiziellen Ideologie eröffnet - einen Bruch, der auch die innere Dynamik dieser Ideologie entlarvt, den erbitterten Wunsch nach Rache, welcher die Forderung nach Entschädigung in ihrer nackten Form ist, der unersättliche Hunger, den alle materiellen Formen der time zu stillen suchen. Briseis, welche Achilles’ phile ist, ist gleichzeitig auch Teil von Achilles’ moira, das Supplement, der Teil der sowohl Teil ist als auch nicht Teil ist, der Teil, welcher irgendwie entkommt und eine unstillbare Wunde hinterlässt, unstillbar selbst durch die wiedergewonnene Briseis. Daher bricht sie das System der zirkulierenden Äquivalenzen auf und macht Achilles schmerzlich und mit aller Heftigkeit die ironische Bedeutung von moira und die von dieser Bedeutung bestimmten Ökonomie bewusst, einer Bedeutung, die sich innerhalb der oikonomia entfaltet und sie zerstört: „Gleich ist des Bleibenden Los [moira], und sein, der mit Eifer gestritten; / Gleicher Ehre [time] genießt der Feig’ und der tapfere Krieger; / Gleich auch stirbt der Träge dahin, und wer vieles getan hat. (9.318-20). 19 Dieses schmerzhafte Bewusstsein wird wiederum zum Verlust des Patroklos führen, und erst dann wird Briseis zurückkehren. Was wir in der Ilias sehen, ist eine Kette des Begehrens, des Begehrens nach Wiedergutmachung eines Leidens, das zuvor durch den Verlust begehrter Objekte erlitten wurde. Jedes Begehren nach Wiedergutmachung wird daher durch ein vorhergehendes ersetzt und selber wiederum nicht befriedigt, oder genauer gesagt führt gerade der Versuch, Wiedergutmachung zu erlangen, zu dem nächsten Verlust, welcher dann wieder nach Entschädigung ruft. 20 Der Fall 19 In diesen Bemerkungen beschwert sich Achilles vordergründig über Agamemnons Behandlung, aber er schiebt auch eine Klage über das Schicksal der Krieger an sich ein. Die erste Zeile ist vieldeutig: Moira kann entweder ‚den Anteil des Kriegers‘ oder ‚Schicksal‘ bedeuten; aber in der dritten Zeile geht es nur um das Schicksal, als der Tod, der alle erwartet. 20 Mit Lacan gelesen erkennt man in dieser Begehrensstruktur die Folge der objets a, aber unsere Analyse an diesem Punkt auf ein Lacansches System zu reduzieren, würde zu einer vorbestimmten Interpretation nach bekanntem Muster führen: Achilles’ Trauer wäre wie Hamlets die Trauer um den fehlenden Phallus, von dem Briseis eine Repräsentation (als objet a) wäre usw. (vgl. Jacques Lacan. “Desire and the Interpretation of Desire in Hamlet.” In: Literature and Psychoanalysis. Hrsg. Shoshona Felman. Balti- 62 - Ilias des Achilles zeigt uns, dass das Streben nach time in diese Kette eingebunden ist. Es ist nämlich eine kulturell vermittelte Form des ressentiment gegen die Welt und die anderen Menschen, ob des Verlustes, welche beide notwendigerweise selbst den Mächtigsten auferlegen, und im Grunde ob des ultimativen Verlusts des Todes. Das ist die bittere Ironie in Achilles’ Worten im 21. Buch, wenn er Lykaons Bitte verweigert, ihn gefangenzunehmen und Lösegeld für ihn zu fordern. Einst habe er die Trojaner in Scharen für Lösegeld gefangen genommen, sagt Achilles, aber nun nicht mehr. Jetzt, da Patroklos tot ist, erkennt Achilles, dass er selber auch sterben muss und sucht daher eine andere Art der Entschädigung: Stirb denn, Lieber, auch du! Warum wehklagst du vergebens? Starb doch auch Patroklos, der weit an Kraft dir voranging! Siehest du nicht, wie ich selber so schön und groß an Gestalt bin? Denn dem edelsten Vater gebar mich die göttliche Mutter! Doch wird mir nicht minder der Tod und das harte Verhängnis Nahn ... (21.106-111) Aber auch so vertilgt euch das Jammergeschick, bis ihr alle Für Patroklos’ Mord mir gebüßt, und das Weh der Achaier, Die an den hurtigen Schiffen ihr tötetet … (133-35) Die Natur selber, in der Form des Flusses Skamandros, lehnt sich gegen die grausame Extremheit von Achilles Rache auf, welche die Wasser des Skamandros mit Leichen erstickt. Aber es gibt noch eine andere, besonders raffinierte Weise, sich an der Rache zu ergötzen, eine, die noch über das Töten des Feindes hinausgeht, eine, die aus der vorwegnehmenden Vorstellung des äußersten Elends jener Trauer entspringt, welche man der Ehefrau und den Eltern des getöteten Feindes zufügt. Der Auslöser von Trauer zu sein und genauer der Trauer von Frauen: das ist die äußerste Form, Rache zu üben, die höchste Form der Wiedergutmachung, welche die Rache für den eigenen Schmerz bietet. Natürlich ist es in anderer Hinsicht noch offensichtlicher, dass die Frauen der letzte Index des Triumphes über den Feind sind. Wie Nestor sagt, muss jeder Achaier mit einer trojanischen Ehefrau schlafen, um für Helena Rache zu nehmen. Achilles jedoch beschreibt die Rache, welche er für Patroklos zu nehmen gedenkt, an einer Stelle so: „… jetzt tracht’ ich noch Ruhm zu gewinnen! / manche Troerin noch und Dardanerin, schwellendes Busens, / Soll mir mit beiden Händen von jugendlich blühenden Wangen / Tränen des Grams abtrocknen, mit schwer more: Johns Hopkins University Press, 1982. 11-53). Die Struktur, die ich Trauer um das Selbst genannt habe, ist nicht die Trauer um den Phallus; sie schließt das obsessive Nachdenken über den Effekt auf einen anderen Menschen ein, welcher keineswegs eine „Leerstelle“ im Begehren des Trauernden darstellt, sondern der Ort ist, an dem die Selbst-Zueignung des Trauernden sich konstituiert (wie wir gleich sehen werden). Ilias - 63 aufzitternden Seufzern! ” (18.121/ 124). In ähnlicher Weise drückt sich das rohere Empfinden des Diomedes aus, wenn er prahlt: „und ob nur ein wenig es fasse, / Dringt ein scharfes Geschoß, und sofort zu den Toten gesellt es! / Seiner Vermählten daheim sind umher zerrissen die Wangen” (11.391-93). Oder aber die Frauen des Feindes werden gar dazu gebracht, die eigenen Toten zu betrauern, während noch deren Ehemänner und Brüder dahingemetzelt werden. In diesem Sinne verspricht Achilles dem toten Patroklos: Auch zwölf Jünglinge werd’ ich am Totenfeuer dir schlachten, Trojas edlere Söhn’, im Zorn ob deiner Ermordung! Ruh’ indessen allhier bei meinen geschnäbelten Schiffen! Manche Troerin auch und Dardanerin, schwellendes Busens, Soll wehklagen um dich, bei Tag’ und Nacht dich beweinend (18.336-40) Die erste unter diesen gefangenen Frauen ist sein Ehrenpreis Briseis, die, zuletzt doch wieder bei Achilles, das Trauerritual um Achilles’ größten Verlust anführt. Der Raub von Frauen durch diese beiden Kameraden wird am Ende dazu führen, dass sie einen Trauerchor haben. Achilles weint und bringt Frauen zum Weinen, um ihn selber und um seinen Verlust. Rache zu üben bedeutet in der Ilias am Ende, der Auslöser von Trauer zu sein, den passiven Affekt des Schmerzes umzuwandeln in den aktiven, entschädigenden Genuss daran, anderen und vor allem Frauen Schmerz zuzufügen. Und dennoch tendiert der Schmerz dazu, verallgemeinert zu werden, weil der aus Rache zugefügte Schmerz nur mehr den Schmerz des Rächers reflektiert. Am Ende weinen das Opfer und der Rächer gemeinsam, so wie Priamus und Achilles es tun werden. Jenseits der konventionellen Äquivalenzen gibt es die Rache, aber niemand kann sich für den Verlust des eigenen Lebens rächen. Man kann jedoch den Verlust des philos (‚des Nächsten und Teuersten‘) rächen, und wenn der philos ein Spiegel der eigenen Sterblichkeit ist, dann wäre die Rache für den Tod des philos eine Art Rache für den eigenen Tod, und das Trauern um den philos wäre die Trauer um sich selbst. Nagy hat gezeigt, wie tief das Thema der Trauer in die Sprache und in das traditionelle Material der Ilias verwoben ist. Selbst der Name „Achilles“ scheint von dem Wort achos, ‚Schmerz‘ (Nagy, Best of the Achaeans, 77-83) abgeleitet zu sein, und Nagys faszinierende These lautet, dass der epische Ruhm des Achilles in der Ilias eine Erweiterung von der in seinem Heldenkult beschriebenen Institution der Wehklage in die Dichtung sei (174-84). Nagy baut mit seiner These auf Kakridis auf. Dieser hat gezeigt, dass Homer, obwohl der Tod und das Begräbnis des Achilles in der Ilias nicht beschrieben werden, im 18. Buch, wenn Thetis und die Nereiden den lebenden Achilles betrauern, die älteren epischen Beschreibungen der Aufbahrung und des Begräbnisses des Achilles als Modell benutzt hat. Die Existenz dieses Modells ist uns durch Hinweise in der zyklischen Aithiopis und der zweiten Nekuia 64 - Ilias der Odyssee bekannt. Kakridis weist daraufhin, dass in der feststehenden Form des Trauerrituals, wie wir es im Fall von Patroklos und Hektor sehen, eine Frau, nämlich die nächste Verwandte des Verstorbenen, die Trauerklage anführt und ein Chor klagend antwortet. Im Falle von Hektor beginnt seine Frau Andromache das goos (‚Trauerklage‘) (24.723), welches dann von ihrer Mutter und ihrer Schwägerin Helena aufgenommen wird. Im griechischen Lager jedoch gibt es keine weiblichen Verwandten. „Da es der Brauch aber verlangt, dass Patroklos von Frauen betrauert wird, übernehmen Briseis und die anderen gefangenen Frauen die Rolle seiner weiblichen Verwandten“ (Kakridis, 71). In ähnlicher Weise beginnt Thetis das goos für Achilles im 18. Buch, während ihre Nereidenschwestern den Chor zu ihrer Klage bilden (50-51). Und als Thetis nach dem Tod des Patroklos den Kopf des schmerzerfüllten Achilles in ihre Hände nimmt, vollzieht sie eine von Kakridis als rituelle Geste des Trauerns identifizierte Bewegung (8.71). Kakridis zeigt damit, dass in diesem Moment Achilles betrauert wird, auch wenn Patroklos gestorben ist. Nagy behauptet jedoch, dass „die iliadische Tradition von Achilles fordert, sein totes Selbst vorwegzunehmen, indem er am Leben bleibt, und dass das wirkliche Ritual eines echten Begräbnisses in der Erzählung seinem Stellvertreter Patroklos vorbehalten bleibt“ (113): „der Tod des Patroklos ist Teil seiner Funktion als therapon des Achilles. Dieses Wort therapon ist ein prähistorisches griechisches Lehnwort aus den anatolischen Sprachen, wo es „ritueller Stellvertreter“ bedeutete“ (33.292-93). Patroklos steht Achilles am Nächsten, er ist ihm so philos wie sonst niemand, er gehört in das innerste Innere von Achilles Besitzkreis. Sie schlafen in dem gleichen Zelt, und Achilles hatte gehofft, dass Patroklos eines Tages, wenn er selber tot wäre, seinen Sohn Pyrrhos zurück nach Phthia bringen würde, um das Herrschaftsgebiet seines Vaters zu sehen. Wenn Achilles sich aus dem Forum zurückzieht, in dem die Krieger auftreten, um time zu gewinnen, dann tut er das zusammen mit Patroklos. In der Time (‚Ehre‘) drückt sich das Selbstverständnis des Kriegers vor der Gruppe aus, der er zugehört; die Realität von time ist die öffentliche Erscheinung, das in der time ausgedrückte Selbst ist das von der Gruppe wahrgenommene Selbst. Es ist ein wesentlicher Aspekt der Zuteilung von ehrenhaften Anteilen, von moira und geras, dass dies öffentliche Rituale sind; es handelt sich dabei nicht um Besitztümer mit einem unabhängigen Wert, die auch im stillen Kämmerlein genossen werden können, wie das Gold des Geizhalses. Ebenso wird der Verlust des geras als eine öffentliche Demütigung gefürchtet. Wenn Achilles Agamemnons apoina zurückweist, versucht er aus dem System der gesellschaftlich bestimmten Werte auszubrechen, welches seine time zu einer abhängigen und relativen Variablen macht. Am Ende wird Achilles natürlich nach und nach in diese Matrix der gesellschaftlich festgelegten Wertbestimmungen zurückgezogen, erst durch die Appelle von Phönix und Ajas, dann durch den von Patroklos, aber selbst dann ist er nicht vollständig mit der Sphäre der Gegenseitigkeit versöhnt. Wenn auch das Selbst von seiner Ilias - 65 Spiegelung in den Augen anderer abhängig ist, wünscht Achilles doch zumindest, sich in eine minimale Sphäre der Selbstreflektion zurückzuziehen. Die Exklusivität der Beziehung zwischen Achilles und Patroklos, ihre Tendenz, eine von den anderen Achaiern unabhängige Dyade zu formen, wird daher stark betont. Der Geist des Patroklos erinnert sich, wie die beiden, als er noch lebte, „von unseren Freunden gesondert“, / [saßen] und Rat [aussannen]“ (23.77-78). Und in einem eindrucksvollen Bild drückt Achilles dem in die Schlacht ziehenden Patroklos gegenüber den apokalyptischen Wunsch aus, dass „Auch kein einziger Troer sich rettete, aller die da sind, / Auch der Danaer keiner; und wir nur entflohn der Vertilgung; / Daß wir allein abrissen die heiligen Zinnen von Troja! “ (16.97-100). Und Achilles möchte, dass er und Patroklos in demselben Grabhügel begraben werden mögen (23.126). Es muss mindestens ein anderes menschliches Wesen geben, welches seinen Ruhm auf ihn zurückspiegelt, aber idealerweise sollte es nicht mehr als eines sein, das diese Funktion erfüllt, und dieses eine sollte Achilles selbst so nahe wie möglich sein, wenn auch gerade so verschieden, dass es einen Widerschein geben kann. Achilles wäre dann eine autonome Totalität, oder doch dieser so nahe, wie es ein Wesen nur sein kann, dass sich selbst zweiteilen muss, um sich als Selbst zu fühlen. Die unmittelbare Nähe, die zwischen diesen beiden philoi besteht, welche in Derridas Worten ein in sich differenziertes Selbst sind, würde jede Verwundung des Selbst verhindern, wie sie selbst Achilles nicht abwehren kann, solange er sich dem System der öffentlichen Wertschätzungen unterwirft. Achilles time würde in einem geschlossenen Kreislauf zwischen ihm und dem ihm am nächsten Stehenden zirkulieren. Aber genau in dem Maße, in dem Patroklos ihm philos ist, ist er einer anderen Art von Verlust ausgeliefert, einem Verlust, welcher tiefer geht als der Verlust von geras oder time und welcher den verborgenen Kern dessen enthüllt, was jene Verluste nur zum Teil deutlich machen - und zum Teil verschleiern. Trauer wird in der Ilias als eine Struktur der Selbstreflektion dargestellt, in welcher der Tod des Anderen die Trauer um das Selbst in dem Zuschauer erweckt. Wir haben diese Spiegelbeziehung gerade im Fall von Achilles und Patroklos betrachtet. Diese mimetische Stimulation von Trauer erreicht ihren Höhepunkt in der Versöhnungsszene zwischen Priamos und Achilles im 24. Buch. „Erbarme dich meiner, / Denkend des eigenen Vaters! “ (503-4), sagt Priamos zu Achilles, und Achilles sieht in Priamos’ Schmerz über den toten Hektor den Schmerz seines eigenen Vaters, Peleus, über den erwarteten Tod des Achilles. Achilles stellt sich vor, wie sein Vater untröstliche Tränen um ihn weint, und weint dann um seinen armen, weinenden Vater, und lässt sich damit tief durch das Pathos seines eigenen Verschwindens bewegen. Der Schmerz des Achilles über seinen eigenen Tod entspringt daher der doppelten Reflektion, wenn er Peleus’ Schmerz in dem des Priamos reflektiert sieht und dann im Spiegel von Peleus’ gespiegeltem Schmerz eine vergrößerte Darstellung seines eigenen Schmerzes um sich selbst findet. 66 - Ilias Es gab schon vorher einen Hinweis auf diese Struktur der Selbstreflektion, wenn Achilles im 19. Buch sich den Schmerz seines Vaters vorstellt und bemerkt, dass kein Leiden für ihn größer sein könnte als der Tod des Patroklos, nicht einmal der Tod des Peleus, „Der wohl nun in Phtia die bittersten Tränen vergießet, / Solches Sohns zu entbehren“ (323-24). Hier wird Achilles’ Beschwörung des eigenen Schmerzes über den Tod des Vaters sofort durch die dringlichere und anschaulichere Vorstellung von dem Schmerz seines Vaters über ihn ersetzt, welchen er als proportional zu seiner eigenen Größe imaginiert, der Größe „solches Sohnes.“ Und nun sehen wir, dass die gleiche Bewegung der Trauer um das Selbst auch Hektors Abschied von Andromache im 6. Buch bestimmt. Nachdem Hektor gesagt hat, dass ihn vor allem ihr zukünftiger Schmerz bekümmert, wenn sie als Gefangene abgeführt wird und irgendeinem Griechen dienen muss, fährt er fort: Künftig sagt dann einer, die Tränenvergießende schauend: Hektors Weib war diese, des tapfersten Helden im Volke Rossebezähmender Troer, da Ilios Stadt sie umkämpften! Also spricht man hinfort; und neu erwacht dir der Kummer, Solchen Mann zu vermissen, der retten dich könnt’ aus der Knechtschaft! Aber es decke mich Toten der aufgeworfene Hügel, Eh’ ich deines Geschreies vernehm’, und deiner Entführung! (459-65; Hervorhebung hinzugefügt) In einem Augenblick tiefster Bewegung sieht Hektor sich selber als Zeuge der verwitweten Andromache, welche ihn als Toten beweint. Sie empfindet einen Schmerz, der den Wunsch, selber betrauert zu werden, in besonderer Weise befriedigt, denn er bricht über die vergehende Zeit hinweg immer wieder neu auf, wenn sie daran erinnert wird, was für einen Mann sie verloren hat („und neu erwacht dir der Kummer, / Solchen Mann zu vermissen“). Natürlich ist es unerträglich, sich diesen Kummer der Geliebten vorzustellen, aber man muss ihn sich vorstellen, denn die Vorstellung, dass der eigene Tod keine unheilbare Wunde des Verlustes reißen würde, dass der Verlust schnell heilen würde, wäre noch unerträglicher. Hektor stellt sich die erste Unerträglichkeit vor und flieht dann vor ihr: „es decke mich Toten der aufgeworfne Hügel, / Eh’“. Hektors Worte nehmen Achilles’ Vorstellung von dem Kummer seines Vaters präzise voraus: „solchen Mann zu vermissen“: chetei toioud’ andros (6.463); „solches Sohns zu entbehren“: chetei toioud’ huios (19.324). Beide stellen sich eine Szene vor, in der sie fehlen, eine Szene, in welcher das Pathos des fehlenden Selbst unbestimmbar (und daher erhaben) groß ist, proportional zu der Größe, welche unbestimmbar durch „solch“ angedeutet wird. Die Bedeutung dieser Wendung wird in Hektors Rede in aller Breite ausgeführt: der Auslöser für Andromaches erneuten Schmerz sind die Worte, welche sie in seiner Fantasie überhört und die Hektors Größe als den Tapfersten aller Tapferen der Trojaner (hos aristeueske) in der Schlacht benennen. Hektor stellt sich Ilias - 67 mit anderen Worten sein kleos (‚Berühmtheit‘, ‚Nachricht von seinem Ruhm‘) vor und zugleich seine gefangene Ehefrau als Denkmal dieses Ruhmes, eines Ruhmes, welcher dem des Achilles gleich kommt, der, wie Nagy gezeigt hat, in der Ilias durchgängig als der beste (aristos) der Achaier bezeichnet wird (26ff). Wiederum in Übereinstimmung mit Nagys Studien erweckt Hektors kleos unvergesslichen Schmerz in der Ehefrau, welche ihn verloren hat 21 , aber Hektor beschreibt sein eigenes kleos gerade mit dem Ziel, sich Andromaches Schmerz über seinen Tod besonders eindrucksvoll vorzustellen. Ihr Schmerz stellt den ultimativen Widerhall seines Pathos über den Selbst-Verlust dar, einen Widerhall, der dem Gedanken an dies kleos, welches die klingende Spur seines abwesenden Seins ist, den vollen affektiven Wert verleiht (die Wurzel von kleos ist klyo, ‚hören‘). 22 Die Ökonomie von Hektors Selbstaffektion ähnelt hier jener von Achilles’ Assoziation seines Wunsches, kleos zu gewinnen, mit dem Ziel, dass „Manche Troerin [...] Tränen des Grams abtrocknen“ werde, „mit schwer aufzitternden Seufzern! “ (18.121-124). Die aus Rachsucht verursachte Trauer und die Trauer als unerträgliches und doch so notwendiges Tribut der Geliebten: es gibt keine absolute Grenze zwischen den beiden. Das „Ich werde betrauert werden“, also die Qual des Anderen, soll die Selbstaffektion der erbitterten Trauer um das Selbst supplementieren. Darin liegt die Ursache für die spezifische Form von Achilles’ Wut, welche das Thema des ganzen Gedichtes ist. Wenn er sich zurückzieht, wünscht er, dass seine Abwesenheit den philoi ein Tribut des Kummers abringt: Wahrlich vermißt wird Achilles hinfort von den Söhnen Achaias Allzumal; dann suchst du umsonst, wie sehr du dich härmest, Rettung, ... ... und tief in der Seele zernagt dich Zürnender Gram, dass den besten der Danaer nichts du geehret! (1.240-45) Die ästhetische Darstellung der Trauer eines Anderen kann den Affekt der Trauer in den Zuschauern wecken, weil die Trauer „an sich“ schon einen zuschauenden und spiegelnden Charakter hat. Das bedeutet, dass die Trennung zwischen dem Affekt des Epos und dem des Kultes nicht so deutlich ist, wie Nagy meint. Nagy schreibt, dass der Tod des Achilles „für das kleos der iliadischen Tradition zum Teil deswegen unpassend gewesen sein mag, weil die Zuschauer selber in seinen Tod verwickelt waren“ und sein Tod daher ein achos wäre „für die ganze Gemeinschaft, im Kult“ (Best of the Achaeans, 113- 14). Aber die ganze Ilias ist so konstruiert, dass die Zuschauer in die dargestellten Szenen der Trauer miteinbezogen werden, um sie daran zu erinnern, dass Trauer immer in einem ungebrochenen Kreislauf zwischen dem Anderen 21 Gregory Nagy. Comparative Studies in Greek and Indic Meter. Cambridge: Harvard University Press, 1974. 255-261. 22 Für mehr über kleos und „Hören“ vgl. Nagy, ebd., 244-46. 68 - Ilias und dem Selbst fließt. Und Nagy selber verwischt seine eigene Unterscheidung zwischen kleos und Kult, wenn er argumentiert, dass Achilles’ Epos eine „Erweiterung“ der Trauerklage ist, welche von den Musen anlässlich des Todes eines Helden gesungen wird (184). Kleos (‚Ruhm‘) sollte dem Krieger der ultimative Trost oder die letzte Wiedergutmachung für das achos oder penthos (‚Schmerz‘) seiner Sterblichkeit sein. Aber wenn Achilles’ eigenes Lied, die Ilias, eine Erweiterung des threnos der Klage über seinen Tod ist, dann würde es ihn zu Tränen rühren, wenn er sein eigenes kleos gesungen hören könnte. So etwas Ähnliches passiert tatsächlich in der Odyssee, wenn Odysseus den Sänger Demodokos Odysseus’ kleos besingen hört und von Trauer überwältigt wird. Das Epos selber liefert den Beweis, folgert Nagy, dass das von den Zuschauern gehörte kleos das achos/ penthos für die Beteiligten sein kann (Meter, 101). Der Schmerz des Odysseus gilt seinen Leiden und denen seiner Kameraden, nicht so sehr seinem eigenen Tod. In der Figur des Patroklos zeigt die Ilias Achilles als jemanden, der seinen eigenen Tod betrauert, während er ihn noch überlebt. Aber in der Ilias sind die Trauernden in überwältigender Überzahl weiblich. Alte Väter sind ebenfalls hervorstechend unter den Trauernden 23 , aber wenn wir zu den großen abschließenden rituellen Trauerszenen kommen, stehen die Frauen im Mittelpunkt - zumindest in zweien dieser drei letzten Szenen. Zuerst betrauern Thetis und die Nereiden Achilles, am Ende betrauern Andromache, Hekabe und Helena Hektor. Dazwischen betrauert Achilles Patroklos. Der Haupttrauernde ist in jeder Szene durch die gleiche Geste markiert: Thetis hält den Kopf des Achilles; Andromache hält Hektors Kopf, Achilles hält den Kopf des Patroklos. Wie Platon missbilligend erkennt, nimmt Achilles als Trauernder einen strukturellen Platz ein, der als weiblich konnotiert ist. 24 Trauern ist vor allem eine Sache der Frauen, und wenn ein Mann trauert, hört er auf, ein Mann zu sein. Das ist es, was Achilles Patroklos zu Beginn vom 16. Buch vorwirft, wenn Patroklos vom Schmerz über das Leiden der Achaier überwältigt wird. Achilles sagt, dass er „gleich wie ein Mägdlein, / Klein und zart“ weint, das von der Mutter getröstet werden will (6-9). Aber es ist Achilles, der im 1. Buch nach dem Trost der Mutter ruft, wenn er um sich selber trauert, und es ist sein Weinen, welches sie im 18. Buch nach dem Tod des Patroklos mitleidsvoll noch einmal zu ihm bringt. 23 Aber das bedeutet nur, dass alte Männer nicht mehr wirklich männlich sind. McCary hat im Detail gezeigt, wie die alten Männer in der Ilias mit den Frauen und Kindern zusammen konsistent der Kategorie der unmännlichen Machtlosigkeit zugeordnet werden. 24 In seiner Kritik an Homer im dritten Buch des Staates denkt Sokrates offensichtlich an Achilles, wenn er sagt: „Mit Recht werden wir also das Wehklagen der berühmten Helden beseitigen und es den Weibern überlassen“ (387e). Im Original zitiert nach The Collected Dialogues of Plato. Ins Engl. übers. von Paul Shorey. Hrsg. von Edith Hamilton und Huntington Cairns. New York: Bollingen Foundation, 1961. 387-388a. Ilias - 69 Die Antithese zwischen dem unsterblichen kleos (‚Ruhm‘) und dem unvergesslichen Leid ist, wie Nagy zeigt, tief in die Tradition der epischen Dichtung eingeschrieben. Das erstere gehört den Triumphierenden, das letztere den Verlierern. Und dennoch erweisen sich kleos und Schmerz in den Händen des (oder der) iliadischen Dichter(s) als unmittelbar miteinander verknüpft. Wie könnte es anders sein, wenn Achilles jung sterben muss, um sein kleos zu gewinnen? Kleos ist time im Modus von tele, time in der Distanz, tele-time. Es impliziert immer schon die Abwesenheit des einst Gefeierten. Achilles freut sich, wenn er die klea der anderen Helden singt, aber er würde weinen müssen, wenn er sein eigenes hören würde. Kleos ist im Sinne der ironischen Logik von moira strukturiert. Auf der einen Seite ist dies die Logik der heroischen Maskulinität als einer, die sich einen ständig wachsenden Anteil an time und letztlich kleos sichert. Aber es ist auch die Logik einer Wiedergutmachung, der es letztlich nie gelingen kann, einen Verlust auszugleichen, der immer schon geschehen ist und der am Ende einer Serie von Wiedergutmachungen doch wieder bestätigt wird. Es ist daher eine Logik, welche früher oder später den Helden feminisieren wird, ihn machtlos und untröstlich wie eine hinterbliebene Mutter oder Ehefrau macht und ihn in Tränen ausbrechen lässt angesichts seines eigenen Todes, welcher ihm im Spiegel des Todes geliebter Menschen oder deren Trauer um seinen eigenen Tod erscheint. Und dennoch wird Achilles’ Begehren durch den Tod des Patroklos nur zeitweise gelöscht. Die narzisstische Wunde ist tief - „denn nie wird fürder mir also / Gram durchdringen das Herz“ (23.46-47), klagt Achilles - aber sobald Patroklos gerächt und begraben ist, kehrt Achilles zu den Lebenden zurück. Patroklos ist erst seit wenigen Tagen tot, als Priamos kommt, um Hektors Körper freizukaufen, und in der Nacht isst und trinkt Achilles nicht nur, er schläft auch mit Briseis (24.675-76). (In ähnlicher Weise hat sein Kummer und Zorn Achilles auch in der Nacht der Gesandtschaft, als Briseis sich noch in Agamemnons Besitz befand, ihn nicht davon abgehalten, eine andere Gefangene, „ein rosenwangiges Mägdlein, / Das er in Lemnos gewann, des Forbas Kind, Diomede“ (9.664-5) in sein Bett zu holen.) Freuds Worte über das Ende der Trauer scheinen hier passend zu sein: „An jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungssituationen, welche die Libido an das verlorene Objekt geknüpft zeigen, bringt die Realität ihr Verdikt heran, dass das Objekt nicht mehr existiere, und das Ich, gleichsam vor die Frage gestellt, ob es dieses Schicksal teilen will, lässt sich durch die Summe der narzisstischen Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen, seine Bindung an das vernichtete Objekt zu lösen.“ 25 25 Siegmund Freud. „Trauer und Melancholie“. In: Werke aus den Jahren 1913-1917, Gesammelten Werke, chronologisch geordnet, Band 10. London: Imago, 1946. 442. Im Original zitiert nach Sigmund Freud. “Mourning and Melancholia”. In: The Standard Edition of the Complete Psychological Works. Hrsg. und übers. von James Strachey. 24 Bde. London: Hogarth Press and the Institue of Psycho-analysis, 1953-74. 14: 255. 70 - Ilias Man könnte argumentieren, dass am Ende der Ilias, schon als wir uns der abschließenden Trauerszene um Hektor nähern, Achilles’ Trauer endet - dass die ersten Sprossen neuen Begehrens auch dann noch anfangen zu sprießen, als er weiß, dass er bald sterben wird. In Anschluss an Pietro Puccis beachtenswerte Beobachtungen zur Intertextualität der Ilias mit der Odyssee kann diese leise Note eines wiederaufkeimenden Begehrens als der implizierte Sieg der gaster über den thymos bezeichnet werden. 26 Thymos meint in etwa ‚Herz‘, und in der Ilias bedeutet es oft Mut, Männlichkeit, das Einhalten des heroischen Codes. Die gaster (‚Magen‘), welche in der Odyssee in ironischer Kritik an der edlen Gesinnung der Ilias im Vordergrund steht, „wird als ein niederer thymos dargestellt, ein lebenswichtiges Prinzip [...]. Es zwingt den Menschen ihre unbezwingbaren Bedürfnisse auf [...]. Es zwingt den Menschen dazu, seinen Kummer zu vergessen und nur an Essen und Trinken zu denken“ (Pucci, 174). Pucci weist daraufhin, dass das Wort gaster, welches in dieser Bedeutung sehr häufig in der Odyssee vorkommt, in der Ilias nur einmal in der Bedeutung „menschlicher Appetit oder Hunger“ auftaucht, und dann wird es von Odysseus gebraucht, wenn dieser Achilles dafür tadelt, seinen Schmerz für Patroklos zu weit zu treiben. Eine Armee kann nicht mit leerem Magen kämpfen, hält Odysseus Achilles entgegen, der sofort angreifen und mit seiner Rache beginnen will: Keineswegs können die Danaer einen Toten betrauern, indem sie den Bauch (gasteri) verleugnen [...] [...] Nein, wir müssen unsere Herzen verhärten und den Toten beerdigen, wenn wir einen Tag um ihn geweint haben. (19.225-229) 27 Pucci schreibt, dass das Wort gaster, welches hier „im Kontext des düsteren Themas der Trauer benutzt wird, forsch, respektlos und vulgär klingt“ (168). „In dieser Konfrontation zwischen dem Mann der gaster und dem Mann des thymos beschreibt die Ilias mit bissiger Genauigkeit den Charakter des Odysseus, wie er in der Odyssee gezeichnet wird [...] Odysseus [in der Odyssee] trauert nur ein paar Stunden - selbst nach dem Tod aller seiner Freunde - bevor er isst und sich wieder dem Leben zuwendet. Achilles weiß, dass er nicht unter den Lebenden bleiben kann, weil Patroklos tot ist“ (169). Pucci fasst daher zusammen, dass Odysseus und Achilles „zwei gegensätzliche Lebensökonomien darstellen“ (173). Und dennoch, wenn Achilles Priamos drängt, von der Trauer um Hektor abzulassen und mit ihm zu essen (29.601-20), folgt er nicht der Weisheit des Bauches, welche vorher von Odysseus verkündet wurde (obwohl Achilles charakteristischerweise nicht so weit geht, das vulgäre gaster zu benutzen)? Pucci 26 Pietro Pucci. Odysseus Polutropos: Intertextual Reading in the Odyssey and the Iliad. Ithaca: Cornell University Press, 1987. 27 Übersetzung V. H. Ilias - 71 bemerkt diese Begebenheit und ihre allgemeine Bedeutung als „Rückkehr zu einer kontrollierten Ökonomie des Lebens“ (171), aber dieses Zugeständnis wirft Zweifel auf hinsichtlich seines Urteils, dass Achilles’ Ökonomie das Gegenteil von Odysseus’ Ökonomie ist und dass Achilles „nicht unter den Lebenden bleiben kann“. Selbst in der ersten Qual des Trauerschmerzes hat Achilles nie seinen Lebenswillen bedingungslos aufgegeben. „Ja selbst gebeut mir das Herz nicht, / Lebend umherzugehn mit Sterblichen“, sagt er zu Thetis, aber dann fügt er hinzu: „wo mir nicht Hektor / Erst von meiner Lanze durchbohrt das Leben verlieret, / Und für Patroklos’ Raub, des Menötiaden, mir büßet! “ (18.90-93). Die Demütigung, Patroklos nicht gerächt zu haben, würde Achilles den Lebenswillen rauben, nicht der Tod des Patroklos selbst. Es wird damit klar, dass Rache ihm das Leben wieder begehrenswert machen würde. Zwar weiß Achilles, dass es ihm vom Schicksal bestimmt ist, bald nach Hektor zu sterben, aber das ist nicht sein Wunsch, sondern etwas, dass er als die vorherbestimmte Konsequenz der Rache akzeptiert, die er als sein moira vollziehen muss. Und dennoch, „bald“ sterben zu müssen (98) bedeutet immer noch, zu einem unbestimmten Zeitpunkt zu sterben, was sowieso für alle Sterblichen gilt. Achilles philosophiert daher: „Nicht ja Herakles einmal, der Gewaltige, mied das Verhängnis, / Welcher der Liebste doch war dem herrschenden Zeus Kronion“ (117-118). Und in der Spanne dieser Unbestimmtheit, in dem Spielraum zwischen „jetzt“ und „bald“, fährt Achilles fort, von seinem Tod als nicht notwendigerweise sicher, sondern als „wofern“ zu sprechen: „Also auch ich, wofern ein gleiches Geschick mir bevorsteht, / Lieg’ ich, vom Tode gestreckt“ (120-1). So stark wie Achilles an Patroklos gebunden war, so sind doch sein Selbst und sein Begehren - nach mehr Leben, mehr Sex, mehr Essen und Trinken - in der Lage, Patroklos’ Tod zu überleben. Wenn also der Tod Achilles wählt, ist es noch keineswegs sicher, dass auch Achilles den Tod wählt. Dennoch, so deutlich auch die beginnende Erneuerung von Appetit und Begehren in Achilles dargestellt wird, am Ende überwiegt der Eindruck von vollkommener Trauer und Verzweiflung, als ob die Ilias nicht mehr als einen verschlüsselten Hinweis auf jenes gastronomische Prinzip geben wolle, welches die tragische Strenge der Ökonomie von moira ins Schwanken bringen würde, indem es mit seiner komischen Ironie die Absolutheit der Verlusterfahrung, aus der das Gedicht seine Hauptwirkung zieht, unterminierte. Hier erinnern wir uns, dass schon im 9. Buch, im Falle von Briseis, Achilles’ Verlust ironisch hinterfragt wird, wenn ihm verschiedene Ersatzfrauen angeboten werden und er selber sagt, dass „Viel der Achaierinnen sind rings in Hellas und Phtia, [...] Hievon, die mir gefällt, erwähl’ ich zur trauten Gemahlin“ (9.395-97). Das verlorene Objekt ist nicht vollkommen unersetzlich, die Macht des Arterhaltungstriebes respektiert letztlich das Individuum nicht. Die Ilias erinnert uns daran, selbst wenn sie gleichzeitig das Gegenteil behaup- 72 - Ilias tet, als ob ihre Form schon beginnt, innerlich zu zerreißen, in Richtung auf die gastronomische Haltung der Odyssee. 3. Kapitel Wie der Geist (beinahe) zu Fleisch wurde: Das Johannesevangelium Eine der berühmtesten Stellen im Neuen Testament und vielleicht auch die, in der die größte geistige Verzweiflung spürbar wird, ist 1 Kor. 15: 32, wo Paulus erklärt: „wenn die Toten nicht auferstehen“, bleibe nichts anderes als „zu essen und zu trinken, denn morgen sterben wir“. Entweder gibt es das ewige Leben, scheint Paulus zu sagen, oder jede Anstrengung, die über die Notwendigkeiten des Überlebens und den (physischen) Genuss hinausgeht, ist wertlos. In In Memoriam formuliert Tennyson diese Bemerkung des Paulus neu und interpretiert sie so: Mein eigenes trübes Leben sollte mich dies lehren, Dass das Leben für immer leben muss, Sonst ist die Erde dunkel in ihrem Kern, Und Staub und Asche sind alles, was es gibt. (34, ll.1-4) ... Wenn der Tod zuvorderst als Tod gesehen würde, dann gäbe es keine Liebe, Oder sie wäre in die engste Funktion gepresst, Nicht mehr als die Begleiterin träger Stimmungen, Oder in ihrer rohsten satyrgleichen Form Hätte sie das Kraut zerstampft und die Traube ausgepresst, Und in den Wäldern geschwelgt und sich gemästet. (35, ll.18-24) 1 Ohne die Transzendenz des Todes wäre die Liebe für Tennyson nichts als Lust oder im besten Fall eine zufällige psychologische Übereinstimmung sehr primitiver Art, nicht mehr als ein Reflex des physiologischen Zustandes des Körpers („Begleiterin träger Stimmungen“). Dies ist in der Tat der Ekel, welcher die rein natürliche Existenz im christlichen Geist auslöst, die Übelkeit ange- 1 Übersetzung VH. 74 - Johannesevangelium sichts eines Lebens, dessen Wesen oder telos es ist, gänzlich auf die natürlichen Elemente, aus denen es sich zusammensetzt, reduziert zu werden, und das deshalb bedeutungslos ist. Wie Rudolf Bultmann in seinem Kommentar zum Johannesevangelium sagt, ist „das Dasein schlechthin unverständlich“, wenn es nicht durch das transzendente Licht erleuchtet wird, zu dem notwendigerweise „die Freiheit vom Tode“ gehört. 2 Christlicher Transzendentalismus und die Ilias scheinen sich in ihrer trostlosen Vision von einem Leben, das am Ende nur organisch ist, zu treffen. Sicher, das Christentum bietet ein Gegenmittel zu dieser Trostlosigkeit: das menschliche Leben ist am Ende eben nicht bloß das; es hat einen unsterblichen Kern, welcher über die natürliche Zersetzung im Tod triumphiert. Und dennoch wird das Grauen der natürlichen Zersetzung nicht wirklich zu Ende gedacht, wird es durch das Christentum nicht direkt konfrontiert und überwunden. Stattdessen schwärt es weiter in der Dunkelheit, in welche es verbannt wurde, und fasziniert den Gläubigen als etwas, das negiert werden muss, weil es das ethische Bewusstsein sonst überwältigen würde. Die christliche Vorstellung vom Tod bleibt in fundamentaler Weise die der Ilias - nur wird hier eine Alternative angeboten, während es für die Ilias keine gibt. Der Tod als eine natürliche Tatsache bleibt essentiell nichts anderes als die Zerstörung der menschlichen Form, und es ist die Abscheu vor dieser Zerstörung, welche die christliche Imagination antreibt. Aber ist die Zersetzung des Menschlichen in reine Natur notwendigerweise der unerträgliche, ganz und gar vernichtende Gedanke, als den das orthodoxe Christentum ihn sieht? Was, wenn es im Gegenteil möglich wäre, mit Hilfe dieses Gedankens in den innersten Kern des Gefühls der Trauer hinabzusteigen, in eine Trauer, die durch keine andere Transzendenz gemildert würde als jene, welche selber durch und durch das Leiden des lebendigen Fleisches ist? Und was, wenn es auf diese Weise möglich wäre, die Trauer in Liebe zu verwandeln, nicht indem sie negiert oder aufgehoben, sondern indem sie verabsolutiert würde? Und wenn sich der Gedanken von der absoluten Nichttranszendenz, der Universalität und Endgültigkeit des organischen Todes und von der Liebe als der Akzeptanz dieser Tatsache in einem der Gründungstexte des Christentums finden ließe - ja sogar in dem Evangelium, das seit der Antike als „das spirituellste“ gilt? Ich bitte meine Leser, das Folgende als ein Leseexperiment zu betrachten. Vielleicht ist es nur ein Zufall der Sprache, vielleicht liegt es nur an ihrer unnachahmlichen Fähigkeit zur Ambivalenz, dass sich die Botschaft des Johannesevangeliums so lesen oder verdrehen lässt, wie ich es tun werde, so dass 2 Das Evangelium des Johannes. Erklärt von Rudolf Bultmann. Unveränderter Nachdruck der 10. Aufl. 1941. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1964. 24. Im Original wird, sofern nicht anders vermerkt, zitiert nach Rudolph Bultmann. The Gospel of John: A Commentary. Hrsg. von R. W. N. Hoare und J. K. Riches. Ins Engl. übers. von G. R. Beasley-Murray. Philadelphia: Westminster Press, 1971. Johannesevangelium - 75 sie eine rein naturalistische Bedeutung bekommt; aber vielleicht ist es bedeutungsvoll, dass die Sprache in der Tiefe der Betrachtungen des Johannes auf diese Weise ambivalent wird. In jedem Fall soll das Experiment die Möglichkeiten dieser Ambivalenz bis zum Äußersten ausloten, in dem Versuch, den ganzen Text als einen radikaleren Abstieg in das Fleischliche zu lesen als es das historische Christentum getan hat, ob in seinen eher traditionellen Formulierungen oder in seiner „demythologisierten“ Übersetzung von Bultmann, welcher das Evangelium für die moderne Zeit wieder bedeutungsvoll macht, indem er es im Sinne eines Heideggerschen Existenzialismus übersetzt. Dieser Essay wird daher sowohl eine Auseinandersetzung mit den christlichen Übersetzern sein, vor allem mit Bultmann, als auch eine Interpretation des Textes von Johannes „selber“. 3 Ich konzentriere mich auf Bultmann, weil er die Duplizität modernen Denkens in einem theologischen Modus so deutlich verkörpert, indem er auf der einen Seite demythologisiert und demystifiziert, und auf der anderen gleichzeitig die Bewegung der Transzendenz stärker als je zuvor gegen die bloße Organizität des Körpers der Liebe verteidigt. Einerseits zeigt Bultmann, wie wir die Wunder von Jesus nicht als eine Verletzung des natürlichen Prozesses, sondern als symbolische Bilder verstehen können, Bilder, welche von einer eschatologischen Wirklichkeit erzählen, die hier und da schon existiert. Bultmann versucht also, jede Sorge um bloße Dinge abzustreifen, um das zu bewahren, was besonders schmerzhaft und authentisch an der christlichen Erfahrung von der Erlösung durch Christus ist. Aber andererseits entfernt Bultmann unter dem Vorwand, die tiefste geistige oder existentialistische Bedeutung des Textes bloßzulegen, nicht nur dessen materialistischen Mirakulismus, sondern auch die Verweise auf das Sakrament des Abendmahls, die er als Teil dieser mirakulistischen Tradition interpretiert. Damit schließt Bultmann die bei Johannes gegebene Möglichkeit eines radikalen Abstieges in das Fleischliche aus, und er tut es noch entschiedener als die von ihm revidierten orthodoxen Interpretationen. Das Wort, so steht es bei Johannes, „ward Fleisch“, und diese eine Wendung, ho logos sarx egeneto, fasst unser ganzes Problem zusammen, das endlose, qualvolle Oszillieren der Konzepte von Fleisch und Geist. Dem Logos des Johannes dient das Fleisch nicht nur als Verhüllung der Göttlichkeit (das ist die gnostische oder „doketische“ Interpretation); vielmehr ist die Fleischwerdung gerade das Wesentliche des kosmischen Erlösungsprozesses. Aber der wirkliche Abstieg des göttlichen Logos in das Fleischliche führt zur allgemei- 3 Für Bultmann „scheint Heideggers existentialistische Analyse der ontologischen Struktur des Seins nicht mehr als eine säkularisierte, philosophische Version der neutestamentarischen Sicht des menschlichen Lebens zu sein. [...] Es sollte [...] einen überraschen, dass die Philosophie das Gleiche wie das Neue Testament sagt, und dies ganz unabhängig“ Kerygma and Myth: A Theological Debate. Hrsg. von Hans Werner Bartsch, verbessert hrsg. von Reginald H. Fuller. New York, 1961. 24-25. 76 - Johannesevangelium nen Dekonstruktion aller der Oppositionen, welche zu dem System der ursprünglichen Trennung von Logos und Fleisch gehören. Mit der Aussage, dass der Logos Fleisch wurde, d.h. mit dem Vollziehen dieser Sprechhandlung, verändert sich die Bedeutung von sowohl Logos als auch Fleisch unwiderruflich. Diese Verwandlung kann dann auch nicht mehr mit Hilfe jener Konzepte erklärt werden, die durch die Umwandlung, die sie erklären sollen, selber dekonstruiert werden. Die Geschichte der christlichen Doktrin erzählt von der Abwehr dieser allgemeinen Dekonstruktion. Über Jahrhunderte von doktrinärem Konflikt hindurch wurde der Kern des orthodoxen Christentums durch die Überzeugung definiert, dass Gott durch Jesus im vollen physischen Sinne zum Menschen geworden ist. Ganz Gott und ganz Mensch: das ist der schwierige Gedanke, der gegen alle heretischen Versuche, die göttlichen und menschlichen Elemente zu trennen, immer erfolgreich verteidigt werden konnte. 4 Die Doktrin der zweifachen Natur wahrt den Gedanken einer Vermittlung zwischen einem transzendenten Gott und einer endlichen Menschheit, wie es die heretischen Tendenzen nicht können. Diese Doktrin hat etwas Geniales, was ich nicht unterschätze, aber nichtsdestotrotz beruht sie auf denselben diskursiven Regeln wie die von ihr abgelehnten Doktrinen. Dass der Logos göttlich ist, bedeutet für alle Parteien in diesem Streit, dass er transzendent, ewigwährend und unüberwindlich ist, d.h. seine Prädikate sind das Gegenteil der Prädikate, welche das Fleisch definieren. Umgekehrt wird das Fleisch in seinem doktrinären Sinn durch seinen Gegensatz zum Logos verstanden, ist es alles, was der Logos nicht ist. Die Bedeutung der beiden Konzepte leitet sich aus ihrem Kontrast her. Und dies ist die grundlegende metaphysische Opposition schlechthin; sie eröffnet den Raum für das Sprachspiel der Metaphysik. Wie kann dann aber der in ho logos sarx egeneto ausgedrückte Gedanke gedacht werden? Wie sich zeigt, ist das nur möglich, indem man die sarx (‚Fleisch‘) oder vielmehr ihre radikalste „sarktische“ Essenz neutralisiert. 5 Die Bedeutung von „das Wort ward Fleisch“ wird ohne Frage immer - selbst in der Hypothese einer hypostatischen Vereinigung des Göttlichen und des Menschlichen - von der metaphysischen Hierarchisierung bestimmt, welche das reine pneumatische Element als die Essenz dieser Zusammensetzung 4 Diese Geschichte ist im 19. Jahrhundert von John Henry Newman in seinem Essay on the Development of Christian Doctrine und in der History of the Arians großartig wiedererzählt worden. Keine Nacherzählung kann die Klarheit und Dramatik der Erzählung Newmans überragen, aber von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus verbindlich ist die neuere Darstellung der frühen Jahrhunderte des Christentums von Jaroslav Pelikan. The Emergence of the Catholic Tradition (100-600). Chicago: University of Chicago Press, 1971. 5 Die Adjektivform von sarx ist sarkikos, was sich weder im Englischen noch im Deutschen gut naturalisieren lässt; in Anlehnung an Henry Statens Prägung von ‚sarctic‘ benutze ich daher ‚sarktisch‘. Johannesevangelium - 77 bewahrt. Wenn das Wort Fleisch wird, darf das keine Abwertung des Wortes implizieren, sondern nur die Erhöhung des Fleisches. Und das bleibt gültig, auch wenn die orthodoxe Theologie auf der Erniedrigung des Sohnes besteht, auf der Tatsache, dass die Göttliche Person als Einheit der zwei Naturen wirklich am Kreuz leidet und stirbt. Dieses Leiden ist zeitlich begrenzt und dient einem weiterführenden Zweck; es führt zum Überwinden des Zustandes, der es notwendig macht. Wenn, wie Jaroslav Pelikan sagt, der „Inhalt der Erlösung, für welche er zum Menschen wurde“ die „Freiheit von Verfall “ ist (272), dann bedeutet „das Wort ward Fleisch“, dass das Wort die sarx durchschritten hat, sich darin vorübergehend aufgehalten hat, gerade um seine sarktische Essenz aufzuheben. „Jesus legt nicht sein Menschsein ab, sondern die Vergänglichkeit der sarx“, erklärt Edward Schillebeeckx. 6 Das orthodoxe Bestehen auf der wahrhaftigen Wesensgleichheit der göttlichen und der menschlichen Natur Christi ist eine wirklich gewagte Innovation, welche mit der (vom Judaismus abgeleiteten) Überzeugung von der Auferstehung des Körpers Hand in Hand geht. Beide Doktrinen widersprechen dem „Pneumatismus“ der Gnostiker und des vorchristlichen Transzendentalismus, welcher das Reich der Seele (pneuma) nur als vollständig getrennt vom Körper verstehen kann. Die intellektuellen und seelisch-emotionalen Folgen des christlichen Beharrens darauf, den Körper mit in die Abenteuer der pneuma und des Logos zu schicken, sind immens (seine Konsequenzen für die Literaturgeschichte im Besonderen hat Erich Auerbach in Mimesis dargestellt). Und dennoch ist, aus einer anderen Perspektive, der Streit zwischen dem Dozetismus (der Doktrin, dass das Menschsein Christi nur eine Erscheinung ist) und dem Glauben an die Menschwerdung nur ein interner Konflikt, der niemals eine gemeinsame Grenze überschreitet, ist es ein „Konflikt der Dualismen“, um eine Wendung von Birger Pearson aus seiner Studie zu 1 Kor. 15 zu benutzen. 7 In den von Pearson kommentierten Stellen geht es Paulus nicht um die Menschwerdung, sondern um die Auferstehung am Jüngsten Tag; aber das Spiel von Paulus’ Terminologie macht den internen Charakter des Disputs um die Menschwerdung deutlich. Wie Pearson zeigt, glaubten die Gegner des Paulus in Korinth wahrscheinlich an die Unsterblichkeit der Seele, aber verneinten die Auferstehung des Körpers (17), während „für Paulus eine körperlose Existenz undenkbar ist; für ihn wird die menschliche Individualität nicht im Sinne von psyche oder pneuma ausgedrückt, sondern durch soma. Der Mensch im alten und auch im neuen Zeitalter ist soma. Auf die Ansicht seiner Gegner, dass ein Element von pneumatikos in der Seele des Menschen sein 6 Edward Schillebeeckx. Christus und die Christen. Die Geschichte einer neuen Lebenspraxis. Aus dem Niederländ. übertr. von Hugo Zulauf. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 1977. Im Original zitiert nach Edward Schillebeeckx. Christ: The Experience of Jesus as Lord. New York: Seabury Press, 1980. 411. 7 Birger Pearson. The Pneumatikos-Psychikos Terminology in I Corinthians. Missoula, Mont.: Scholars Press, 1973. 78 - Johannesevangelium Fortleben nach dem Tod garantiert, muss Paulus antworten, dass der Mensch sowohl körperlich als auch seelisch, als ein psychikon soma, immer noch zu dem alten Adam gehört. [...] Die komplett geistige Existenz des Menschen als ein pneumatikon soma liegt mit der Wiederaufstehung in der Zukunft“ (25). Diese Darstellung zeigt ganz deutlich die Eigenart der konzeptionellen Operation, die Paulus und ihm folgend das Christentum überhaupt vollziehen. Anstelle der einfachen Unterscheidung pneuma-soma vertritt Paulus die subtilere Unterscheidung zwischen zwei Arten von soma, eine Unterscheidung, die von den jeweils damit verbundenen Lebensprinzipien ausgeht: eines sterblich, eines unsterblich (psyche und pneuma). Nach Ansicht der hellenistisch-jüdischen Gegner von Paulus sind die beiden Oppositionssätze genau parallel und verstärken einander: pneuma-soma und Unsterblichkeit-Sterblichkeit. Der Dualismus von Paulus’ Schema wird durch eine komplexere Artikulation gemildert; die beiden Formen von soma überbrücken nun die Unterscheidung zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Das Beharren von Paulus auf der Wiederaufstehung des Körpers wurzelt in seinem Judaismus; Pearson zeigt, dass die Ansichten des Paulus auf Interpretationstraditionen basieren, die mit dem Koran und mit dem rabbinischen Kommentar zu Genesis 2: 7 assoziiert werden (Pearson, 20-24). Aber die Doktrin der körperlichen Auferstehung gewinnt eine ganz neue Bedeutung im christlichen Kontext, da sie einhergeht mit der Frage nach der genauen Natur von Christus’ Vermittlung. Christus muss wirklich am Kreuz gestorben sein, wenn es irgendeinen Kontakt zwischen seiner Erscheinung auf Erden und den Bedürfnissen einer sündigen, sarktischen Menschheit geben soll. Gerade die Tatsache, dass er die Fleischlichkeit der Menschheit geteilt hat, macht die Vorstellung von diesem Erlöser so besonders; sonst wäre die Kreuzigung nur ein Symbol oder ein Schauspiel. Umgekehrt muss der oder die Gläubige eins mit seinem bzw. ihrem Körper sein, um an der Macht der erlösenden Menschwerdung, Kreuzigung und Wiederauferstehung teilzuhaben (Römer 6: 5-11). Damit jedoch das soma oder die sarx die wesentliche Rolle spielen kann, die es bzw. sie in der Theologie des Paulus hat, muss er zuletzt dessen/ deren somatischen oder sarktischen Charakter schmälern. Paulus beharrt weiterhin darauf, dass Fleisch und Blut, sarx kai haima, nicht das Königreich des Himmels erben können; die Vergänglichen können das Unvergängliche nicht erlangen (1 Kor. 15: 50). „Sarx ist nicht gleich sarx“ (15: 39); das pneumatische sarx ist glorreich, mächtig und unsterblich, während das psychische sarx das Gegenteil ist (42-44). Das pneumatische soma erbt daher die übernatürlichen Kräfte des somalosen pneuma. Der sicherlich massive, in seinen Auswirkungen jedoch dennoch begrenzte Unterschied zwischen Paulus’ Darstellung und denen der reinen Pneumatiker liegt in dem Weg, durch den der nach Erlösung Suchende von einem niederen zu einem höheren Zustand gelangt. In dem erreichten Zustand selber scheint das somatische Element wenig mehr als ein formaler Rückstand von dem für den Übergang notwendigen Vehikel zu sein. Johannesevangelium - 79 Ist das ho logos sarx egeneto des Johannes als eines der Konzepte zu verstehen, welche dem paulinischen Projekt der pneumatischen Rückgewinnung des Fleisches dienlich sind? In der konzeptionellen Sphäre der Metaphysik von Geist und Fleisch kann die Alternative zur pneumatischen Rückgewinnung des Fleisches nur als Kapitulation des Geistes verstanden werden, als Triumph der Finsternis über das Licht. Die Finsternis wird vom Christentum in zweifacher Weise verstanden. Einerseits besteht sie in den bösen Taten derjenigen, die nicht im Geiste von Liebe und Einheit leben, die Gottes Geboten nicht gehorchen. Andererseits ist sie die Finsternis des Todes und der Fäulnis - der Fäulnis des Fleisches, das zu seinen natürlichen Elementen zurückkehrt. Umgekehrt bedeutet ein Leben im und durch das Licht, gleichzeitig in liebender Harmonie und für immer zu leben. Bestätigt Johannes diese Verbindung nicht ganz kategorisch? Der Jesus des Johannes sagt wenig mehr als „liebet einander“ (agapate allelous) und „wer [an mich] glaubt, hat ein ewiges Leben“. Und sobald wir von Wiederauferstehung und ewigem Leben sprechen, sind wir in den Bereich der Transzendenz von sarx übergetreten, ob durch einen reinen oder einen eingeschränkten pseudosomatischen Pneumatismus. Und dennoch ist nicht ganz klar, was „ewiges Leben“ im Evangelium des Johannes bedeutet: es ist eine der zentralen Schwierigkeiten bei seiner Exegese. Johannes verschiebt den Fokus des Gedankens vom ewigen Leben eindeutig von der Zukunft auf die Gegenwart, aber es ist weniger klar, ob es zusätzlich zu dem im Hier und Jetzt existierenden ewigen Leben noch eine andere, mit der Wiederauferstehung am Jüngsten Tag zusammenhängende Ewigkeit gibt. 8 8 So Raymond Brown, der zwar darauf besteht, dass es in Johannes zusätzlich zu der realisierten noch eine endgültige Eschatologie gibt, der aber dennoch einräumt, dass „Bultmann, Dodd und Blank Recht haben, wenn sie darauf insistieren, dass die Hauptbetonung in dem Evangelium auf der realisierten Eschatologie liegt“ (Raymond E. Brown. The Anchor Bible: The Gospel According to John. 2 Bde. Garden City, N. Y.: Doubleday, 1966. I: cxx. Die Debatte über dieses Thema ist zu komplex, um sie hier darzustellen; aber man kann sagen, dass im Allgemeinen die Bestimmung der „Intention“ des Gesamttextes davon abhängt, wie der Exeget die Herkunft der verschiedenen historischen Schichten des Textes interpretiert. Diese Entscheidung wird jedoch jeweils auf der Basis eines Vorverständnisses der Intention gemacht, die erst bestimmt werden soll. Bultmann zum Beispiel zögert nicht, jede Stelle, die seine Interpretation nicht unterstützt, als Interpolation zu entfernen, indem er erklärt, dass sie nicht zur authentischen Johanneischen Intention gehört, selbst wenn Johannes sie „aus der Gemeindetradition übernommen haben“ sollte (Rudolf Bultmann. Theologie des Neuen Testaments. Tübingen: Mohr, 1953, 401). Umgekehrt argumentiert C. K. Barrett in Antwort auf Bultmanns Entfernen der Verweise auf „den letzten Tag“, dass diese zu dem authentischen Text gehören könnten, selbst wenn sie von einem Herausgeber hinzugefügt worden wären: „Denn irgendjemand hat diese Verweise in das Evangelium, wie es uns überliefert 80 - Johannesevangelium Das Problem der buchstäblichen und der metaphorischen Formulierungen, welches das ganze Johannes-Evangelium durchzieht und wie Treibsand unter jeder Johannes-Exegese liegt, wird in Bezug auf die Bedeutung des „ewigen Lebens“ besonders akut. Bezieht es sich in „metaphorischer“ Weise auf das Leben, welches der Gläubige im Hier und Jetzt nach der Verwandlung durch den Glauben lebt, oder bezieht es sich im „buchstäblichen“ Sinne auf das ewige Leben, das den Gläubigen nach seinem „buchstäblichen“ Tod und seiner „buchstäblichen“ Wiederauferstehung wieder aufnimmt? Die Begriffe buchstäblich und metaphorisch werden hier bis an die äußersten Grenzen ihrer Bedeutung gestreckt; ich verwende sie zumindest zu Beginn mangels einer besseren Alternative, die notwendigen Unterscheidungen zu markieren. Was kann es bedeuten, von einem „buchstäblichen“ Verweis auf die Ewigkeit zu sprechen? Außerdem gehört, was ich hier einen „buchstäblichen“ Verweis auf die Wiederauferstehung nenne, zu dem, was die orthodoxe Tradition als die „geistige“ Aussage von Johannes’ Interpretation kennt, derzufolge die Gläubigen in der Tat aufgerufen sind, an die „buchstäbliche“ Auferstehung Jesu und aller Gläubigen zu glauben. Diese geistige Buchstäblichkeit muss von der „fleischlichen“ Buchstäblichkeit derjenigen unterschieden werden, die die Göttlichkeit Christi und die erlösende Wirksamkeit des Glaubens an ihn nicht verstehen. Aber wenn Bultmann die letzten Reste der „Fleischlichkeit“ von der christlichen Spiritualität entfernt, erkennt er dieses Leben im Hier und Jetzt als den eigentlichen Bezugspunkt des Begriffes ewiges Leben an und verweist damit die „buchstäbliche“ Wiederauferstehung in das Reich des Symbols. Ich werde daher die Unterscheidung zwischen buchstäblich und metaphorisch nicht zu ernst nehmen; die dadurch markierten Unterschiede sind relativ und beweglich, und ich benutze diese Termini hier nur provisorisch, in dem Versuch, das System dieser Beziehungen und dieser Beweglichkeit darzustellen. Johannes spricht die Frage des buchstäblichen und des übertragenen Sinnes vor allem in Bezug auf die semeia (‚Zeichen‘) von Jesus an. Die semeia sind vor allem Wunder, „buchstäbliche“ Unterbrechungen des natürlichen Prozesses, die jedoch nicht nur als tatsächliche Ereignisse, sondern auch als Vehikel transzendentaler Bedeutung verstanden werden müssen. Es ist weithin anerkannt, dass Johannes eine Tradition in seinen Text integriert hat, „nach der Jesu wundertätige Handlungen in den Zeugen Glauben hervorriefen“, aber dass wurde, eingefügt, und wenn es nicht Johannes I. war, dann war es Johannes II. - oder Johannes III. oder IV.“. Der Zusatz kann daher als authentisch akzeptiert werden, weil der Herausgeber „verstand, was das Evangelium ausdrücken sollte“ (C. K. Barrett. „Christocentric or Theocentric? Observations on the Theological Method of the Fourth Gospel“. In: Barrett, Essays on John. Philadelphia: Westminster Press, 1982. 5). Bultmann und Barrett teilen den gleichen Ansatz: beide glauben, dass sie die Essenz des Evangeliums durch die verschiedenen Schichten hindurch ausmachen können, und beurteilen dann die einzelnen Schichten dieser Essenz gemäß. Johannesevangelium - 81 Johannes selbst diese Ansicht kritisierte. 9 Die Interpreten sind sich jedoch nicht einig darüber, wie radikal Johannes’ Kritik ist. Lehnt er Zeichen als zum Glauben beitragenden Faktor ganz ab oder weist er ihnen bloß eine eingeschränkte Rolle zu (Kysar, 69-73)? Bultmann scheint eine gemäßigte Haltung einzunehmen: Johannes ist seiner Interpretation nach dagegen, Wunder als Vorbedingung für den Glauben zu fordern, aber „Das Wunder [...], auf das der Mensch kein Recht hat, als könne er eine Legitimation des Offenbarers fordern, wird gleichwohl seiner Schwachheit unter Umständen gewährt“, und „es vermag, wo es geschenkt wird, gerade über den Wunderglauben hinauszuführen“ (154). Andererseits wird Bultmann jedoch gerade in Bezug auf das wichtigste Wunder von allen, das Wunder, neben dem alle anderen nur alltägliche Thaumaturgie und Dekoration sind - die Auferweckung des Lazarus - eine schwierigere Auffassung formulieren. Die Auferweckung des Lazarus führt uns in das Reich des eigentlichen, des innersten Geheimnisses der christlichen Religion. Die anderen Wunder Jesus mögen als „rhetorisch“ betrachtet werden, als „sprechende Bilder“, welche seine Botschaft erläutern (aber auch verdunkeln): Bilder von wunderbarem Brot und göttlichem Wasser, von der Wiederherstellung von Augenlicht und Gesundheit. Dies sind Metaphern oder allegorische Bilder von der Jesus gegebenen Macht, neues Leben zu verleihen. 10 Es sind auch Manifestationen dieser Macht, aber indirekte oder vermittelte Manifestationen: es geht nicht direkt um das Schenken von Leben, sondern eher um die Erhaltung und Wiederherstellung von einem bereits existierenden Leben. In der Wiedererweckung des Lazarus dagegen scheinen die manifestierte Macht und das Medium ihrer Manifestation zusammenzufallen: das Bild scheint, wenn überhaupt, nur minimal allegorisch zu sein. Jesus demonstriert hier als Objekt des Glaubens die ganz ursprüngliche Lebenskraft, über die er verfügt oder die er ist. Die Wiedererweckung des Lazarus ist nicht eines von vielen Wundern, sondern der Höhepunkt der Reihe, die damit eine höhere Ebene erreicht. Tatsächlich spiegelt die Wiederauferstehung des Lazarus im 9 Robert Kysar. The Fourth Evangelist and His Gospel: An Examination of Contemporary Scholarship. Minneapolis: Augsburg Publishing House, 1975. 69. 10 Diese Zusammenfassung lässt zwei Wunder aus: die Verwandlung von Wasser in Wein anlässlich der Hochzeit zu Kana und das Gehen über Wasser. Ich diskutiere das erstere gegen Ende des Essays; was das letztere angeht, so ist sein Status in vielerlei Hinsicht unklar. Ihm fehlt der präzise rhetorisch-metaphorische Sinn, welcher die meisten von Jesu Wundern auszeichnet; daher folgert Barrett, dass „Johannes die Erzählung vor allem deswegen eingefügt hat, weil es in der Quelle - wahrscheinlich Markus - stand, die er für die vorhergehende Erzählung benutzt hatte“. C. K. Barrett. The Gospel According to St. John. 2. Aufl. London: SPCK, 1978. 281. Barrett räumt weiterhin die Möglichkeit ein, dass Johannes hier gar kein Wunder gemeint hat. Es ist eine grammatische Frage: der Genitiv epi tes thallasses könnte auch als „an dem See“ anstatt „auf dem See“ übersetzt werden (280-281). 82 - Johannesevangelium Kleinen wider, was im Großen die Auferstehung Jesu und das telos des ganzen Evangeliums ist. Die Wiedererweckung des Lazarus ist daher auch für die Struktur des Evangeliums von zentraler Bedeutung, wie seine Stellung innerhalb der narrativen Sequenz erkennen lässt: es ist das letzte Wunder von Jesus, und von da ab bewegt sich die Erzählung des Johannes unaufhaltsam auf die Passion zu. Aber die Auferstehungen von Lazarus und Jesus verweisen noch auf eine weitere Auferstehung, die Auferstehung aller Gläubigen, welche nach orthodoxer Auffassung am Jüngsten Tag stattfinden wird. Dann wird es einen absoluten Bruch in der historischen Zeit geben und das, was in der Gegenwart flüchtig als Wunderbares erscheint, wird dann als wahre und ewige Wirklichkeit enthüllt werden. Daher steht exponentiell mehr auf dem Spiel, wenn wir vom Wunderbaren zum Eschatologischen fortschreiten, und alles beruht auf dem Charakter des Absoluten, das sich im Leben und Tod von Jesus manifestiert und das die geistige Bedeutung des Wunderbaren festlegt. Nach orthodoxer Sicht gibt es an der Grenze des Wunderbaren einen Zusammenfluss des Geistigen und des Tatsächlichen, einen Punkt, an dem das Wunderbare in das Eschatologische übergeht. Der Gläubige ist aufgefordert, nicht nur an die transzendente Macht zu glauben, die sich in der Wiederauferstehung Jesu zeigt, sondern auch in die „buchstäbliche“ Realität dieser Wiederauferstehung selbst - nicht als dem Glauben vorausgehend (wie im Falle der geringeren Wunder), sondern als das wesentliche Element des Glaubens. Und wenn ewiges Leben bedeutet, dass der Gläubige „tatsächlich“ am Jüngsten Tag wiederaufersteht, wie es Jesus einst tat, dann können alle übernatürlichen Ereignisse des Evangeliums als „buchstäbliche“ Beweise für Jesu Macht, den natürlichen Prozess aufzuheben, verstanden werden, und diese wunderbare Macht ist an sich eine Manifestation des Wesens der Gottheit. Aber wenn man daran festhält, dass der Glaube an Wunder eine vorläufige und zu überwindende Form des Glaubens ist, kommt man zu Bultmanns Schlussfolgerung, dass auch die drei Wiederauferstehungen nur symbolisch sind, eine Allegorie des wahrhaftigen ewigen Lebens, das keine tatsächlichen Wiederauferstehungen irgendwelcher Art einschließt, ob in diesem Zeitalter oder dem nächsten. Dies wäre wohl die konsequenteste „spirituelle“ Interpretation, da sie den „buchstäblichen“ Glauben an Wunder ganz und gar hinter sich lässt. Hier ist der entscheidende Austausch zwischen Jesus und Martha, der Schwester des Lazarus, als Jesus in Bethanien ankommt und erfährt, dass Lazarus seit vier Tagen tot ist: „Dein Bruder,“ sagte Jesus zu ihr, „wird auferstehen.“ Martha sagte: „Ich weiß, dass er bei der Auferstehung am letzten Tag auferstehen wird.“ Jesus sagte: „Ich bin die Auferstehung. Wenn jemand an mich glaubt, wird er leben, selbst wenn er stirbt, Und wer lebt und an mich glaubt, Johannesevangelium - 83 wird nie sterben. Glaubst du das? “ „Ja, Herr“, sagte sie, „ich glaube, dass du Christus, der Sohn Gottes bist, der in diese Welt gekommen ist.“ (11: 23-27) 11 Bultmann liest den Austausch zwischen Martha und Jesus als ein weiteres Beispiel der „johanneischen Technik des Mißverständisses“ (306), die wir in Verbindung mit früheren Ereignissen gesehen haben (z. B. der Frau am Brunnen, die nicht verstehen konnte, von was für einem Wasser Jesus sprach). Nach Bultmanns Darstellung missinterpretiert Martha Jesu Bemerkung, dass ihr Bruder wiederauferstehen wird, wenn sie diese als Verweis auf die Auferstehung am Jüngsten Tag versteht, denn „die von Martha gemeinte künftige Auferstehung [wird] gleichgültig [...] gegenüber der vom Glauben erfassten gegenwärtigen Auferstehung. Diese aber findet in der Erweckung des Lazarus nur ihr Symbol.“ (307). Die „gegenwärtige“ Auferstehung des lebenden Gläubigen ist ganz einfach der Übergang von der Finsternis zum Licht, von einem nicht-authentischen Leben, welches das geistige Äquivalent zum Tod ist, zu einem authentischen Leben, das schon im Hier und Jetzt dieses Lebens eine „eschatologische“ Realität ist und für das sowohl das Leben als auch der Tod „im menschlichen Sinne“ nicht mehr wirklich sind (308). 12 Für Bultmann laufen daher das Wunderbare und das Eschatologische niemals zusammen; der Einbruch des Absoluten in diese Welt geschieht ganz einfach durch die Fleischwerdung Christi und die Verkündigung des Vaters in seinen Worten und Taten, und das Wunderbare kann nicht mehr sein als ein Ausdrucksmittel, „nichts anderes als Worte, verba visibilia“ (Theologie, 407) 13 , selbst im Fall von der Auferstehung Jesu. Bultmanns gesamte Interpretation von Johannes dreht sich um seine Auffassung des authentischen oder eschatologischen zoe (‚Leben‘) als gleichzeitig innerste Wirklichkeit eines lebenden menschlichen Wesens und transzendente Quelle des individuellen Lebens. Diese Auffassung wird sofort durch 11 Für die Originalausgabe wurde für die englischen Zitate aus Johannes vor allem die Jerusalem Bible: Reader’s Edition. Garden City, N.Y.: Doubleday, 1968 verwendet. 12 Nach der orthodoxen Interpretation, wie Barrett sie gegen Bultmann behauptet, wird „Marthas Glaube keineswegs diskreditiert, sondern vielmehr durch die folgenden außergewöhnlichen Ereignisse bestätigt“ (Barrett. Gospel, Anm. 8, 395). Sie glaubt bereits ganz richtig an die Wiederauferstehung der pharisäischen Juden am Jüngsten Tag, und sie glaubt schon, dass Jesus die Macht hat, Lazarus zum Leben zurückzubringen (Sie sagte zu Jesus „Selbst jetzt wird Gott dir geben, worum auch immer du ihn bittest.“). Die Worte von Jesus bringen bloß „die christologische Basis und Interpretation des Wunders“ hervor (394). Für Barrett ist daher die Bedeutung des Wunders sowohl gegenwärtig als auch zukunftsweisend: die Wiedererweckung des Lazarus ist „die ausgeführte Parabel einer christlichen Bekehrung“, aber die Bewegung der Wiedererweckung, welche die Bekehrung beginnt, „wird erst am Jüngsten Tag vollendet werden“ (395). 13 Rudolf Bultmann. Theologie des Neuen Testaments. Tübingen: Mohr, 1948. 84 - Johannesevangelium den Verweis auf die ersten Zeilen jener Hymne an den Logos etabliert, mit welcher das Evangelium beginnt: Am Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und dieser Logos war Gott. Er selbst war am Anfang bei Gott. Durch ihn ist alles geworden (egeneto), Nichts ist ohne ihn geworden (egeneto), In allem, das geworden ist, war Leben (zoe), Das Leben war das Licht (phos) der Menschen, Ein Licht, das in der Dunkelheit scheint, Ein Licht, das die Dunkelheit nicht überwinden konnte. Diese Zeilen sagen Logos = zoe = phos. Dass der Logos das zoe aller Dinge ist, bedeutet, dass es die Quelle ihrer Lebenskraft ist, „die Kraft, die das Leben schafft“ (Bultmann, Kommentar 21), nicht dass es die Lebenskraft selbst ist, die dem Geschaffenen innewohnt. Denn erstens war der Logos schon en arche da, vor der Schaffung der Welt, und zweitens bleibt er das ungesehene phos einer Lebenskraft, die, obwohl noch am Leben, in die Dunkelheit gefallen ist. Organische Lebenskraft und ihr Ende sind daher laut Bultmann nur Bilder für das wahre Leben und den wahren Tod, die mit der Entfremdung oder dem Erkennen von Gottes aletheia als dem transzendenten Leben alles Lebendigen zu tun haben. Diese Erkenntnis zu verweigern, bedeutet tot zu sein, selbst wenn man seine natürliche Lebenskraft hat; wahre Selbsterkenntnis in Hinsicht auf den Schöpfer zu erlangen, bedeutet ein zoe zu haben, das die Sphäre der natürlichen Lebenskraft so weit transzendiert, dass eine „buchstäbliche“ Auferstehung dafür nur ein Bild sein kann, ein Bild, das noch zu sehr an die sarktische Beschäftigung mit dem bloß natürlichen Leben und Tod gebunden ist. Die Erfahrung eines ewigen zoe darf nicht als eine mystische Verzückung verstanden werden; es ist ein Moment „des diesseitigen Lebens“ (194n) und seine Bedeutung liegt in der Entschlossenheit des/ der Gläubigen in Hinsicht auf den zukünftigen Tod, den er oder sie jetzt überwindet. Jede/ r Gläubige muss die Stunde der Angst im Angesicht des Todes erleiden, in welcher die Entscheidung für Gott gefasst wird, eine Entscheidung, die nur möglich ist, weil Jesus als Offenbarer des Weges sie einst ein für alle Mal getroffen hat (327-329). Wenn Jesus seinen bevorstehenden Tod ankündigt, sagt er: Nun ist meine Seele besorgt. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber gerade dafür bin ich ja in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! (12: 27-28) Johannesevangelium - 85 Diese Stunde von Jesu Entscheidung ist „zugleich die Entscheidungsstunde für den Menschen, an den der Offenbarer sein Wort richtet“. Jesu Lehren empfangen durch seinen Tod das „Siegel“ und werden „im Tod als der radikalen Preisgabe zur Ehre Gottes vollendet“ (329). Damit formuliert Bultmann den tiefsinnigsten und paradoxesten Moment der klassischen christlichen Lehre für ein neues Zeitalter, jenen Moment, in dem erklärt wird, dass das am meisten Gehasste und Gefürchtete bis zum Letzten erduldet werden muss, um aufgehoben zu werden. Bultmann zeigt, dass eine Lesart möglich ist, nach der Johannes seine Lehren auf dieses Leben als den einzigen Kandidaten für das wahre zoe konzentriert. So weit stimme ich mit Bultmann überein. Aber warum muss das wahre oder „ewige“ zoe als radikaler Bruch mit der natürlichen Lebenskraft verstanden werden, von der es doch gleichzeitig das Prinzip ist? Im Kontext der christlichen Orthodoxie ist dies offensichtlich die korrekte Interpretationsweise. Aber ist es auch sicher, dass „Johannes“ das meint? Mich interessiert an Bultmanns Umgestaltung des christlichen Dualismus, wie er mit Hilfe eines zeitgenössischen („existenzialistischen“) Idioms die Geste des Paulus wiederholt und abstreitet, dass das pneumatische zoe ein Leben von Fleisch und Blut ist, sarx kai haima, und wie er dies mit so viel mehr Bewusstsein und Gründlichkeit tut, mit einem „idealisierenden“ Eifer wie ihn auch Hegel und Feuerbach zeigen, zwei christliche Kommentatoren, denen Bultmann sonst keineswegs nahe steht. Diese Autoren verbindet eine Verachtung für gewisse, sagen wir, primitive, wortgläubige oder materialistische Tendenzen im traditionellen Christentum. Natürlich verkündet Bultmann die Historizität von Jesus im stärksten Sinne, als die einzigartige Manifestation des höchsten Schöpfers innerhalb der Schöpfung. Und doch gibt es eine merkwürdige Verwandtschaft zwischen Bultmanns feinsinniger Herabsetzung der Eucharistie und Hegel und Feuerbach, denn für Bultmann können die diesbezüglichen Verweise im Evangelium nicht zur authentischen Tiefe der Betrachtungen des Johannes gehören. Tatsächlich trifft das orthodoxe Christentum in einer Weise auf das Mysterium der Eucharistie, wie Bultmann es nicht tut - und zwar genau entsprechend dem Maße, in dem die orthodoxe Doktrin des Abendmahls die Möglichkeit offen lässt, das Verzehren vom Fleisch und Blut Jesu in magisch-materialistischer Weise zu interpretieren. Es spielt dabei keine Rolle, ob man Katholik oder Protestant ist, sagt Feuerbach; in beiden Fällen meint der verwunderte Geist des Gläubigen, dass „Brot und Wein wirklich in Fleisch und Blut verwandelt werden“ (293) 14 . Den Extremen, zu denen der Materialismus der 14 Ludwig Feuerbach. Das Wesen des Christenthums. Durchgesehen und neu hrsg. von Wilhelm Bolin. Sämtliche Werke. Bd. 6. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann, 2. Aufl. 1960. Im Original zitiert nach Ludwig Feuerbach. The Essence of Christianity. Übers. von George Eliot. New York: Harper Torchbooks, 1957. In Wirklichkeit, so Feuerbach, geschieht nichts mit Brot und Wein, die einfach bleiben, was sie sind; sie bekommen nur 86 - Johannesevangelium christlichen Doktrin führen kann, sind dabei keine Grenzen gesetzt; Feuerbach stellt etwa amüsiert fest: „So entstund zu Ansbach ein Streit über die Frage: ‚ob der Leib Christi auch in den Magen komme, wie andere Speisen verdaut werde und also auch durch den natürlichen Gang wieder ausgeworfen werde? ‘“ (294). Bultmann seinerseits lehnt das Sakrament an sich nicht ab, aber warum ist es ihm so wichtig zu versichern, dass die Anspielungen darauf nicht zu der authentischen Intention des „originalen“ Textes von Johannes gehören können? 15 Hier ist eine entscheidende Stelle, die laut Bultmann der Einschub eines Herausgebers sein muss: eine neue Bedeutung: „Aber dieses Sein ist ja eben kein fleischliches; [...] es hat selbst nur den Werth, die Qualität einer Bedeutung.“ (294). Daher, folgert Feuerbach, existiert das Ganze wirklich nur im Glauben, d.h. in den Gefühlen und der Einbildungskraft des Gläubigen, und wenn dies so ist, dann könnte der ganze Prozess des Abendmahls „recht gut auch [...] in der Einbildung“ vollzogen werden, „ohne Vermittlung von Wein und Brot“ (295). In der Tat, genau dies wird in den „frommen Gedichten“ getan, welche das Blut Christi als ihr Thema haben: Hier haben wir daher eine echt poetische Abendmahlsfeier. In der lebhaften Vorstellung des leidenden, blutenden Heilandes vereinigt sich das Gemüth mit ihm; hier trinkt die fromme Seele in poetischer Begeisterung das reine, mit keinem widersprechenden sinnlichen Stoff vermischte Blut; hier ist zwischen der Vorstellung des Blutes und dem Blute selbst kein störender Gegenstand vorhanden. (296). Was auch immer die Unterschiede zwischen ihm und Hegel sein mögen, hier folgt Feuerbach dem Meister in dem Punkt, dass Brot und Wein ein „störender Gegenstand“ zwischen dem Geist und dem wahren ideal-vorgestellten Objekt seines Gedankes sind. In dem Mahl des Sakraments gibt es nach Hegel mehr eine „Vermischung“ denn eine „Vereinigung“ zwischen Subjekt und Objekt: Etwas Göttliches kann, indem es göttlich ist, nicht in der Gestalt eines zu Essenden und zu Trinkenden vorhanden sein. In der Parabel ist die Forderung nicht, daß die verschiedenen Zusammengestellten in Eins gefaßt würden; hier aber soll das Ding und die Empfindung sich verbinden; in der symbolischen Handlung soll das Essen und Trinken - und das Gefühl des Einssein in Jesu Geist zusammenfließen; aber das Ding und die Empfindung, der Geist und die Wirklichkeit vermischen sich nicht; die Phantasie kann sie nie in einem Schönen zusammenfassen; das angeschaute und genossene Brot und Wein können nie die Empfindungen der Liebe erwecken, und diese Empfindung kann sich nie [weder] in ihnen als angeschauten Objekten finden, so wie sie und das Gefühl des wirklichen Aufnehmens in sich, ihres Subjektivwerdens, des Essens und Trinkens „sich“ widerspricht. (Georg Wilhelm Hegel. „Der Geist des Christentums“. In: Schriften 1796-1800. Ullstein: Frankfurt a. M., Berlin, Wien: 1978. 466-467.) 15 Seine Argumente hier sind nicht seine stringentesten. Er behauptet, dass diese Verweise die Eucharistie als ein pharmakon athanasias, ein magisches Gegenmittel gegen den Tod, behandeln. Aber sie können leicht auch in einem orthodoxeren Sinne interpre- Johannesevangelium - 87 „Ich bin das lebende Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit; und das Brot, das ich ihm geben werde, ist mein Fleisch, das für das Leben der Welt gegeben ist.“ Da gerieten die Juden untereinander in Streit und sagten: „Wie kann dieser Mann uns sein Fleisch zu essen geben? “ Jesus antwortete: „Ich versichere euch feierlich: wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, werdet ihr kein Leben in euch haben. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tag auferwecken. Denn mein Fleisch ist wahre Speise, und mein Blut ist wahrer Trank.“ (6.51-58) Ebenso auffällig ist Bultmanns Zurückweisung von 19: 34b, wo es heißt, dass nach dem Lanzenstoß eines Soldaten in die Seite des toten Jesus „Blut und Wasser herausflossen“. Diesen Vers haben andere Interpreten von der Antike bis heute als Beweis für die physische Wirklichkeit von Jesu Tod gelesen. Bultmann aber ist davon überzeugt, dass dieses Ereignis als wunderbar gemeint ist und als Anspielung auf die Sakramente der Taufe und des Abendmahles (525) hinzugefügt wurde. Dass die Durchbohrung von Jesu Seite sowohl naturalistisch gemeint als auch ein Hinweis auf die Sakramente sein könnte, ist eine offensichtliche Möglichkeit, die Bultmann nicht einmal erwägt. 16 Indem er die Verweise auf das Abendmahl herausnimmt, entfernt Bultmann die schockierendste sarktische Sprache des Evangeliums. Obwohl Bultmann die Tatsache des ho logos sarx egeneto betont, schreckt er zurück, wenn das Fleisch Jesu geöffnet wird und die sichtbare Form des sprechenden, handelnden Mannes anfängt, sich in eine undifferenzierte Masse von Fleisch und tiert werden. Vgl. Barrett. Gospel, Anm. 8, 82-85, 283, 297. Sowohl von einem theologischen als auch von einem formal-literarischen Gesichtspunkt aus liefert Edward Rensberger ein besonders befriedigendes Argument für die Authentizität von 6: 51 und die Platzierung der Stelle gerade hier in seinem Johannine Faith and Liberating Community. Philadelphia: Westminster Press, 1988. 75-78. 16 Barrett, Anm. 8, meint, dass dieser Moment in Johannes’ Text sein „anti-dozetisches Interesse“ zeige, und argumentiert, dass „das Ereignis, so wie es beschrieben wird, physiologisch möglich ist“: „Wasserähnliches Blut kann aus einem Leichnam fließen, wenn nur eine kurze Zeit seit dem Tod verstrichen ist, und eine wasserähnliche Flüssigkeit kann aus der als pleura beschriebenen Körperregion austreten“ (556). Bultmann jedoch tut ohne weitere Argumente alle Erwägungen einer solchen Möglichkeit als „komisch“ (525n) ab. 88 - Johannesevangelium Flüssigkeit aufzulösen. Wir haben gesehen, dass für Bultmann alle Handlungen Jesu in dieser Welt als verkündetes Wort verstanden werden müssen; aber seine Fähigkeit oder sein Wille, das sarx in diesem Sinne als Logos zu verstehen, lässt nach, wenn er sich der äußersten Offenbarung des sarx in dem Zerreißen und Verzehren von Jesus nähert. 17 Der Tod als das Ende der Lebenskraft und als Zerfall des Fleisches hat nur eine nebensächliche Bedeutung; wie bei Heidegger ist es vielmehr eine bestimmte Erfahrung von Dasein und nicht das physikalische „Ableben“, welches das Ding an sich ist. Natürlich haben Bultmann und Heidegger Recht; der bloß physikalische Tod kann eine Vielzahl von Bedeutungen oder gar keine Bedeutung haben. Man kann im Schlaf sterben, und man kann sein ganzes Leben lang geschlafen haben. Aber wenn der Tod als biologisches Ereignis für sich genommen nicht der eigentliche Tod ist, den ein menschliches Wesen stirbt, bedeutet das noch nicht, dass der bloß biologische Aspekt als natürliches Ereignis ohne wesentliche Beziehung zum authentischen Sein-zum-Tode ausgeklammert werden kann. Ist der Schrecken angesichts der sich auflösenden Einheit der lebenden Form des menschlichen Körpers bloß eine inauthentische Reaktion, die keinen Anspruch darauf hat, Gegenstand eines authentischen Nachdenkens über den Tod zu sein? Was, wenn es im Gegenteil gerade darum ginge, diesen zu durchdenken, und wenn die fundamentale Ontologie des Daseins zusammen mit all den christlichen und nicht-christlichen Pneumatologien, Anthropologien und Existentialismen auf einer grundlegenden Ebene durch die Notwendigkeit motiviert wäre, dem Ekel, der durch die Reduzierung des lebenden soma zu einem generischen und verwesenden sarx ausgelöst wird, auszuweichen oder ihn zumindest einzugrenzen? Dieser Gedanke ist der unauflösbare Kern des Gedankens von der „Natur“ und vom Körper als zur Natur gehörend, dem sarktischen Körper. Ursprünglicher als der Gedanke vom Körper des Genusses oder dem „Körper im Schmerz“ ist der vom Körper der Verwesung. Warum aber ist der Gedanke an diesen Körper so grässlich? Warum muss er durch eine transzendente Quelle erlöst werden, wenn er nicht die Bedeutung und das Gefüge des menschlichen Lebens zerstören soll? Was das Christentum die Verwesung des Fleisches nennt, ist doch letztlich nichts anderes als der Beginn neuen Lebens auf einer nichtmenschlichen Ebene, und wenn 17 Selbst die Bedeutung der Kreuzigung und des Todes Jesu, welche Bultmann so betont, wird auf subtile und vielleicht widersprüchliche Weise minimiert. Mit der „Entscheidung für den Tod“, die Jesus in 13.31 verkündet, wird wirklich die ganze Passion vorweggenommen, und diese wiederum ist schon in der Tatsache der Menschwerdung enthalten. Die Kreuzigung ist daher nur notwendig, um die volle Bedeutung der Menschwerdung sichtbar und damit begreifbar zu machen (489), es ist nur eine „Demonstration“: „Sie ist [...] die Demonstration seines Sieges über die Welt, der ja schon errungen ist“ (490). Johannesevangelium - 89 das individuelle Leben endet, dann weil es dem organischen Leben nur vorübergehend auf dem Weg zu einer neuen Konstellation gedient hat. Ist das nicht, was Jesus sagt? Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein (monos menei); wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. (12: 24) Dies mag als eine groteske Missinterpretation von Jesu Worten erscheinen, die schlimmste Art der nicht-geistigen Interpretation von Worten, die geistig gemeint sind. Wenn es eine feste und unerschütterbare Voraussetzung ist, dass kein natürliches Leben ein echtes Leben sein kann, dann ist die von mir vorgeschlagene - oder erzwungene - Interpretation die „fleischlichste“, die sich vorstellen lässt, fleischlich im Sinne jenes Fleisches, welches im Evangelium doch anscheinend explizit verdammt wird. Der Geist ist es, der Leben gibt; die sarx hat nichts zu bieten. (6: 63) Aber, wie Bultmann anmerkt, „ist die sarx zweideutig“ (446), da der Logos sarx wurde und die sarx Christi das wesentliche Medium der Erlösung ist. Die sarx, welche nichts zu bieten hat, ist eine sarx, die nicht wirklich durch das phos (‚Licht‘) des Verstehens erleuchtet ist; spirituelle Blindheit ist die Unfähigkeit, die sarx hinsichtlich ihrer Quelle im ewigen zoe zu sehen, in dem Leben, welches über das Leben des Einzelnen hinausgeht und zu dem das Leben des Einzelnen gehört. Aber warum sollte nicht das ewige zoe als das Leben selbst verstanden werden, als das universelle Leben, das allem Lebendigen gemeinsam ist? Hier bietet sich eine Darstellung in von Hegel abgeleiteten Termini an. Dass das Wort sarx wird, bedeutet, dass das allgemeine Leben durch die Grenzen der Endlichkeit begrenzt oder eingeschränkt wird; der Tod ist die äußerste Grenze, der Punkt, an dem die Wahrheit des Einzelnen als Bestimmung der Allgemeinheit sich ganz in dem Ende der einzelnen Existenz manifestiert, dem Ende, das zu dem endliche Einzelnen als das „Eigene“ seiner Endlichkeit und Einzelnheit gehört. Aber an diesem Ende geht der Einzelne wieder in das Element der Allgemeinheit über. Das sich-selbst-verstehende Leben wird durch die Einsicht in die essentielle Einheit zwischen ihm und dem allgemeinen Leben erleuchtet, in welches es sich auflöst. Diese Formulierung reagiert jedoch noch allergischer auf das sarktische Element als das Christentum, welches auf eine von Hegel beklagte Art darauf besteht, den toten und verwesenden Körper Jesu zu betrauern und dann dem wiederauferstandenen Gott eine „Wirklichkeit“ aufzuerlegen, „die dem Vergötterten immer wie Blei an den Füßen hängt, das ihn zur Erde zieht“ (Der 90 - Johannesevangelium Geist des Christentums 507-8). 18 Nichtsdestotrotz wird hier mit großer Klarheit ein bestimmter Aspekt der Todesproblematik ausgedrückt. Wir müssen nur die Abstraktion der die Grenze überschreitenden Einzelheit in Hegels Darstellung mit dem Gedanken des sich auflösenden Körpers füllen, einem Gedanken, dessen Grundzüge ich im Johannesevangelium nachzeichne. Die Sprache, die den Prozess der Auflösung, der natürlichen Reduktion von lebender Form und fließender Lebenskraft in neuen Formen beschreibt, ist „hypobuchstäblich“ oder „hyperbuchstäblich“. Es ist die Sprache der absoluten Demütigung, des tiefsten Abstieges des ewigen zoe, eine Sprache, die letztlich auf die Zeugung, die Geburt, das Wachstum, das Wiederherstellen und - als telos all dieser - auf den Tod und die Auflösung des Körpers verweist, zusammen mit all den Wandlungen und Funktionen, die zu jedem Moment dieser Zirkulation gehören. Was wenn Johannes, wie verborgen auch immer, mit der Notwendigkeit dieses tiefsten Abstieges kämpfte, wenn er versuchte, diesen als hellscheinend in seiner Göttlichkeit vorstellbar zu machen? Für ihn kann der Gedanke der unendlichen Begrenzung durch den Tod nur in eine Betrachtung über das phos des ewigens zoes verwandelt werden, indem man sich ein Wesen vorstellt, das den Weg in den Tod anführt, einen lichterfüllten Körper, dessen Erleiden der angustiae, durch welche er ausgelöscht wird, sein Licht umso heller scheinen lässt. Und nur auf diese Weise kann Johannes den sonst unerträglichen Gedanken von der Auflösung des Individuums als Weihe, als einen gewollten Akt und vor allem als eine Handlung der Liebe denken. Wenn es die Liebe nicht gäbe, wären die Betrachtungen über den Körper der Auflösung eine Übung rein theoretischer oder wissenschaftlicher Neutralität. Und eine solche Neutralität könnte leicht dem Projekt der Distanz oder der Dekathexis des stoischen oder lukrezischen Typus dienen: „Ja, wir sterben und verwesen und kleine Würmer wachsen in unserem verwesenden Fleisch: es besteht kein Grund, deswegen hysterisch zu werden. ‚Die Natur braucht die Materie‘, schreibt Lucretius.“ Für ein solches Projekt bräuchte man Johannes nicht zu lesen. Aber wir lesen in Johannes, dass Jesus aus Liebe zu den philoi (‚Freunden‘) stirbt. Jesus verkündet das Gebot der Liebe, agapate allelous, und dann sagt er: Man kann keine größere Liebe haben, als sein psyche für seine philoi hinzugeben. (15: 13) 18 Tatsächlich ist die von Hegel in Der Geist des Christentums als wahrlich geistig vorgeschlagene Interpretation von Jesu Tod einfach die der Gnostiker und Doketiker: „Es ist nicht die Knechtsgestalt, die Erniedrigung selbst, an welcher als der Hülle des Göttlichen sich der Trieb der Religion stieße, wenn die Wirklichkeit sich damit begnügte, Hülle zu sein, und vorüber zu gehen“ (509). Georg Wilhelm Friedrich Hegel. „Der Geist des Christentums“. In: Schriften 1796-1800, mit bislang unveröffentlichten Texten. Hrsg. und eingel. von Werner Hamacher. Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein, 1978. Johannesevangelium - 91 Es wäre eine seltsam eingeschränkte Formel, wenn damit nur der heroische Tod des Märtyrers gemeint wäre. Manifestiert sich dieser Formel folgend nicht im Tod des Märtyrers jenes Wesen der Liebe und ihrer Verbindung mit dem Tod, wie es von jedem erlebt werden kann und sollte, sei er oder sie Märtyrer oder nicht? Das würde dann bedeuten, dass der Tod gerade nicht das „Eigenste“ ist, sondern die Explosion alles dem Ich Zugehörenden. 19 Diese Explosion soll hier nicht im christlichen Sinne oder gemäß der hegelianischen Aufhebung des Fleisches im Geist verstanden werden, sondern als äußerste Qual des Fleisches. Die Frage ist jedoch, ob wir den rein natürlichen Tod und die Verwesung als einen Akt der Weihe denken können, während wir ihn als rein natürlich denken. Kehren wir zu Jesu Worten in 12: 24 zurück, „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt ...“. Die spirituelle Interpretation ist klar: auf Jesus bezogen, verweist der Tod hier auf sein bevorstehendes Martyrium, in Beziehung auf den Gläubigen bedeutet es das Sterben in und für eine Welt, die den Erlöser nicht kennt, und in beiden Fällen bedeutet das Früchtetragen, die Werke Gottes zu tun und damit andere zur Erlösung zu bringen. Und doch haben die Worte selber einen komplexen und verstörenden Widerhall, der unterdrückt werden muss, um die Simplizität einer spirituellen Interpretation zu erreichen. Da die Metapher sich auf den Tod menschlicher Wesen bezieht, verweist sie auch auf das - aus spiritueller Perspektive groteske - Bild eines bestatteten menschlichen Körpers, der verwest und aus dem neues Leben entspringt. Dieses Bild wird zumindest für eine alles streng buchstäblich verstehende Imagination aufgerufen, wie zum Beispiel die Imagination eines Kindes, das diese Worte hört und es nicht besser weiß. Ist es bloß ein Fehler, sie so zu verstehen? Können wir sicher sein, dass es nur ein Fehler ist? Wir können die Möglichkeit nicht ausschließen, dass das Bild absichtlich so konstruiert wurde, um diese Lesart möglich zu machen, denn es gibt in den ersten drei Evangelien des Neuen Testaments oder im Alten Testament nichts Vergleichbares zu dieser Vorstellung, dass „nur durch den Tod die Frucht geboren wird“ (Brown, 472). Verfolgen wir also die Konsequenzen dieses ganz buchstabengetreuen Verständnisses des Weizenkorns. Aus der Frucht dieses Korns wird Brot gemacht - und damit sind wir zurück im Kreislauf von Essen und Trinken, zurück bei der Frage von tatsächlicher Nahrung und geistiger Nahrung und bei der 19 Heidegger scheint das Gleiche zu sagen: „Die eigenste Möglichkeit ist unüberholbar. Das Sein zu ihr läßt das Dasein verstehen, dass ihm als äußerste Möglichkeit der Existenz bevorsteht, sich selbst aufzugeben. [...] Das Vorlaufen erschließt der Existenz als äußerste Möglichkeit die Selbstaufgabe und zerbricht so jede Versteifung auf die je erreichte Existenz.“ (Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 1972. 264). Aber die Heideggersche Authentizität schließt ein, dass in dem Dasein „alle Bezüge zu anderem Dasein“ gelöst werden (250); die damit verbundene „Selbstaufgabe“ ist eine Möglichkeit, zu sich selber in einer reineren Modalität zurückzukehren, jenseits bloßer „Präsenz“. 92 - Johannesevangelium Frage der Eucharistie. Aber ist es nicht deutlich, dass die von Jesus gebrachte Nahrung nicht aus Korn gemacht ist, dass es Seelennahrung, die Nahrung seines Wortes ist, wie Bultmann behauptet? Dennoch hat er das Gefühl, dass die Reinheit dieser Bedeutung von der verstörenden Fleischlichkeit der Eucharistie isoliert werden muss. Daher streicht er die folgenden Worte: Denn mein Fleisch ist wahre Speise (alethes estin brosis), und mein Blut ist wahrer Trank (alethes estin posis). (6: 55) Die Orthodoxie behält diese Worte bei, aber gibt ihnen eine spirituelle Bedeutung. Damit bewahrt die orthodoxe Interpretation ebenso wie die Bultmanns den klaren Kontrast zwischen der Nahrung, die Jesu Fleisch darstellt, und der Nahrung, die den Magen füllt (allerdings nicht ganz eindeutig, wie wir im Falle der armen Theologen von Ansbach gesehen haben). Aber wenn das ewige Leben eben dieses Leben ist, das wir leben, nur anders verstanden, warum sollte dann die seelische Nahrung nicht eben diese Nahrung sein, die wir essen, nur verstanden im phos des ewigen zoe - das sakramentale Mahl verstanden als die Kommunion der universellen Sterblichkeit, der Unendlichkeit aller Leben, von denen jedes die Auflösung durchmachen muss, die so unerträglich ist und doch erlitten werden muss, die eine absolute Erniedrigung der Substanz und eine Verausgabung des Selbst ist, von der es absolut kein Zurück gibt, aber die nicht ohne Frucht bleibt. Und warum sollte der Gedanke an diese Frucht von bloß natürlicher Lebenskraft nicht genug sein, um das menschliche Leben als menschlich zu erhalten - vorausgesetzt, dass die menschlichen Wesen sich in ihrer Sterblichkeit durch die Liebe aneinander binden? „Sich in ihrer Sterblichkeit aneinander binden“ bedeutet nicht nur oder jedenfalls nicht hauptsächlich, dass die Menschen sich im Angesicht der großen Finsternis aneinanderkauern müssen - und sicherlich nicht, um sich gegen diese zu verteidigen oder ihr zu trotzen. Wir lesen in Johannes, dass die Bindung gerade im Übergang zum Tod wirksam wird, und nicht als bloßes affektives Phänomen, sondern als ontologische oder eschatologische Erfüllung. Das Reich des universellen Todes reicht genauso weit wie das des universellen Lebens. Die philoi sollen wissen, dass es nach dem ersten Tod keinen anderen gibt (Dylan Thomas), dass es nur einen (universellen) Tod gibt, und das gemeinsame Teilhaben an dieser einzigen Essenz des universellen Todes verbindet alles Leben über die Grenzen der Individuation hinaus. Vielleicht dachte Anaximander an eine solche Demut, wenn auch in einer ganz anderen Modalität und lange vor Jesus, als er erklärte, dass alle Dinge einander im Dahinscheiden Wiedergutmachung für jedes Unrecht leisten müssen, in Übereinstimmung mit dem Lauf der Zeit. 20 Anaximander sprach jedoch nicht von der Liebe. Jesus sagt, während er auf seinen Tod zugeht: 20 Im Original: ordinance of time. Johannesevangelium - 93 Im Hause meines Vaters gibt es viele Zimmer. Wenn es nicht so wäre, hätte ich es euch gesagt. Ich gehe nun, um euch einen Platz zu bereiten, und wenn ich hingegangen bin und euch einen Platz bereitet habe, komme ich wieder, um euch zu mir zu nehmen, damit ihr dann da seid, wo ich bin. Ihr kennt ja den Weg zu dem Ort, wohin ich gehe. (14: 2-4) Jesus wird sterben, und wenn er stirbt, wird er wieder „in das runde Zion des Wassertropfens und in die Synagoge des Maiskorns eingehen“, wohin auch die philoi ihm folgen müssen; nur werden sie in dem Wissen kommen, dass er ihnen vorausgegangen ist, sie werden wissen, dass Sterben bedeutet, die Umarmung des ewigen zoes zu empfangen, für welches die gewöhnliche Unterscheidung zwischen Leben und Tod unwirklich ist - oder für welches die Unterscheidung vielmehr zwischen der universellen Bewegung von Lebentod und der Einschränkung dieser Universalität liegt, welche die notwendige Bedingung für dessen Bewegung ist. 21 Die (ewige) Universalität existiert nur in ihrer (sterblichen) Einschränkung: Gott manifestiert sich nur als Jesus. 22 Jesus ist von Gott gesandt, er untersteht dem Vater („der Vater ist größer als ich“ - 14: 28), und dennoch ist er identisch mit dem Vater („Ich bin im Vater, und der Vater ist in mir“ - 14: 11), und alles, was dem Vater gehört, gehört auch ihm (16: 15). Und die philoi sind Teil von Jesus ebenso wie Jesus Teil von Gott ist, in dieser asymmetrischen Identität vom lebenden Wesen und dem Leben, welches das Wesen lebt: Meine Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, damit sie eins seien, wie wir eins sind. (17: 22) Aber diese vollkommene Identität der Substanz macht den Schritt ins Jenseits notwendig; Jesus muss sterben, um zum Vater zurückzukehren und um den Platz im Hause des Vaters für die Jünger zu bereiten: 21 Bultmann fühlt sich unwohl ob der scheinbaren Bedeutung von Jesu Worten in 12: 2- 3: „Freilich ist die Verheißung, daß der Diener ihm nachfolgen wird, und daß er sein wird, wo Jesus ist, eigentümlich doppelsinnig. Dem vordergründigen Sinne nach wird dem Diener die Nachfolge in den Tod verheißen.“ (Bultmann, 326). 22 Jesus ist „Deus revelatus; nicht der ganze Abgrund der Göttlichkeit, sondern der erfahrene Gott.“ (Barrett. „Christocentric? “, Anm. 8, 12). 94 - Johannesevangelium Wenn ich nicht fortgehen würde, käme auch der Tröster und Beschützer nicht zu euch. (16: 7) Das endgültige „Fortgehen“ von Jesus ist die Vollendung einer Bewegung, die als Aufstieg (anabasis) dargestellt wird, jedoch als ein Aufstieg, der zugleich ein Abstieg ist oder die Form eines Abstieges annimmt (katabasis). Dieser Abstieg ist nicht nur der von Schillebeeckx (Christus und die Christen 353-54) betonte Abstieg vom Himmel auf die Erde; es ist gleichzeitig auch der Aufstieg zur Verherrlichung am Kreuz, welches das telos der gesamten Bewegung ist. Die katabasis (‚Abstieg‘) ist am Ende ein ptoma (‚Fall‘) - so Jesus in 12: 24 - der letzte Abstieg des fruchtbaren Fleisches in den Boden, peson eis ten gen, aus dem es Früchte tragen wird. Jesus erzählt den Jüngern, dass er „erhöht“ werden muss (hypsothenai), damit sie ein ewiges Leben erlangen, und die orthodoxen Kommentatoren sind sich darüber einig, dass er hier auf die Kreuzigung anspielt. Aber für sie ist das Erhöhtwerden an das Kreuz nur ein vorübergehender Moment von Jesu Aufstieg zurück in den Himmel, in „der aufschwingenden Bewegung des großen Pendels der Menschwerdung“ (Brown, 146). Das „Erhöhtwerden“ (hypsothenai) von 8: 28 muss jedoch in Beziehung auf den skleros logos (‚harte Rede‘, ‚schwer zu ertragende Sprache‘) von 6: 51-58 verstanden werden, wenn Jesus „die Juden“ durch die Eröffnung schockiert, dass sie sein Fleisch essen und sein Blut trinken müssen. Wenn Jesus sagt: „das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, das für das Leben der Welt gegeben ist“ (6: 51), spielt er auf die Kreuzigung an, ebenso wie in 8: 28, wo er davon spricht, von den Juden erhoben zu werden; und 6: 59-60 macht deutlich, dass es so schwierig ist, Jesu Bemerkungen zu verstehen, weil er das Spirituellste und Erhabenste mit dem Demütigendensten und Fleischlichsten gleichsetzt. Nachdem Jesus erklärt hat, dass die Gläubigen sein Fleisch essen und sein Blut trinken müssen, versichert er, dass seine Worte nichts mit der sarx zu tun haben. Die Worte, die ich euch gesagt habe, sind Geist und Leben. (6: 63) Wie Bultmann hervorhebt, sind die von Jesus gesprochenen Worte aber „gerade das skandalon“, die absichtlich paradoxe und abstoßende Äußerung, welche „die Juden“ nicht verstehen können. Und in diesem Fall können die weiteren Bemerkungen über den Geist „nicht eine erleichternde Hilfe [sein], die den Anstoß beseitigt, indem sie zu einer spiritualisierenden Umdeutung auffordert“ (342). Jesus muss vielmehr eine neue schwierige Gedankenbewegung vorschlagen, eine Gedankenbewegung, die an die Unterscheidung von Fleisch und Seele gewöhnte Geister nicht verstehen können solange sie an dieser Unter- Johannesevangelium - 95 scheidung in ihrer alten Form festhalten. 23 Was, wenn pneuma Fleisch und Blut sei, sarx kai haima, nur mit neuen Augen gesehen und gesegnet durch die gemachte Erfahrung des Todes, die eine Tat der Liebe war? Jesu Worte erlauben diese Interpretation problemlos; schwierig ist dagegen der geistige Akt, den Widerwillen gegen eine solche Bedeutung zu überwinden und diesen ganz unerträglichen Gedanken zu vollziehen. Man bedenke in diesem Zusammenhang den hyperbuchstäblichen Sinn des Wunders, mit dem Jesus den Übergang von spiritueller Blindheit zu spiritueller Vision symbolisiert: er mischt seinen Speichel mit Erde, und indem die blinden Augen mit diesem Schlamm in Berührung kommen, erlangen sie geistige Sehkraft (9: 1-7). (Die Kommentatoren erwähnen normalerweise Jesu Speichel nicht, wenn sie die Flüssigkeiten dieses Evangeliums auflisten.) 24 Setzen wir also unsere Neulektüre auf der Grundlage der Hypothese fort, dass Jesu anabasis (‚Aufstieg‘) durch und durch und in seiner gesamten Länge eine katabasis (‚Abstieg‘) ist. Diese katabasis ist auch eine Reise zu einem telos (‚Ziel‘). Jesus erklärt zu Beginn seines Predigertums das Folgende: Meine Speise (broma) ist die, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollende (teleioso ... to ergon). (4: 34) Was für eine seltsame Vermischung linguistischer Register: ein ergon an sein telos zu bringen wird als Nahrung beschrieben. 25 Und der hyperbuchstäbliche Blick bemerkt, dass das erste Bild sich assoziativ in die weitere Rede einschleicht, so dass Arbeit und Ernährung vermischt werden: 23 So weit folge ich Bultmann, aber wir haben gesehen, dass Bultmann in seiner Neuformulierung selber an dem wesentlichen „vergeistigenden“ Kern der alten Unterscheidung hängen bleibt. 24 Irenaeus sah in Jesu Vermischen von Speichel und Erde eine Anspielung auf Genesis 2: 7, wo Jahwe Leben in einen aus Staub gemachten Menschen atmet. „Aber das ist unwahrscheinlich“ (Barrett. Gospel, Anm. 10, 358). Außer Johannes vermerkt nur Markus, dass Jesus Speichel benutzt habe. „Die Speichelwunder von Markus scheinen bei Matthäus und Lukas absichtlich ausgelassen geworden sein. Der Gebrauch von Speichel war Teil der primitiven Tradition von Jesus, die ihn jedoch für den Vorwurf angreifbar machte, magische Praktiken auszuüben“ (Brown, Anm. 8, 372). 25 Bultmann geht schnell zu einer Vergeistigung dieser Sprache über. Er informiert uns, dass „Speise“, „Nahrung“ das ist, „was das Leben, die Existenz erhält; dies macht ihr Wesen aus, nicht, daß sie in der Regel ein materieller Stoff ist, der mit den Zähnen verarbeitet wird.“ Und er ganz deutlich, wenn er fortfährt: „Der Sprachgebrauch ist deshalb nicht „bildlich“ [...], sondern ganz eigentlich.“ (143, n.6; Hervorhebung hinzugefügt, H.S.). Der „eigentliche“ Sinn: die Essenz der Ernährung getrennt von dem materiellen Prozess, durch den sie nur zufällig erreicht wird. Damit zieht Bultmann seinem eigenen Beharren auf das Skandalöse von Jesu logos die Zähne. 96 - Johannesevangelium Sagt ihr nicht: In vier Monaten kommt die Ernte? Ich aber sage euch: Seht umher, schaut in die Felder! Sie sind schon weiß, bereit zur Ernte. Schon empfängt der Schnitter den Lohn, schon sammelt er das Korn zum ewigen Leben, und so freuen sich der Sämann und der Schnitter zusammen. Denn hier bewahrheitet sich das Sprichwort, dass der eine sät, und der andere erntet. Ich sandte euch zu ernten, wo ihr keine Mühe gehabt habt. Andere haben sich gemüht, ihr habt den Lohn ihrer Arbeit bekommen. (4: 35-38) Ich stelle nicht in Frage, dass diese Worte so funktionieren, wie sie von den orthodoxen Kommentatoren erläutert wurden; aber ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Seltsamkeit einer anderen Funktion ziehen, der merkwürdigen Zirkulation der Worte über die Grenzen der gesprochenen Botschaft hinweg. Denn Jesus sagt, dass er die Speise des ewigen Lebens sei, dass er das Korn sei, das in die Erde gesät wurde. Er ist daher sowohl der Säher, das gesäte Korn und die zu essende Speise; und die Tatsache, dass er es schafft, diesen Kreis zu formen, stellt das telos des ihm anvertrauten ergon dar und die Speise, die sein Wesen ernährt. Das spirituellste aller Evangelien ist das Evangelium des Essens und Trinkens, der Nahrung und Getränke. 26 Wein und Wasser bei der Hochzeit zu Kana, Brotlaibe und Fische, um die Menge zu ernähren, Wasser am Brunnen in Samaria, Ströme von Lebenswasser, die von der Brust Jesu fließen (7: 38) und der Weinstock, der Frucht trägt (15: 1-8), kommen zu all den anderen Hinweisen dazu, die ich erwähnt habe - dieses Evangelium kann kaum voranschreiten, ohne irgendeine Facette der Nahrungsaufnahme zu berühren. Was hat dabei eine symbolische und was eine buchstäbliche Bedeutung? Bultmann hat teilweise Recht, wenn er sagt, dass die Essenz der Nahrung nicht darin liegt, mit den Zähnen gekaut zu werden, aber auf andere Weise als er es gemeint hat: Speise und Trank durch den Mund aufzunehmen, drückt die Essenz deshalb nicht aus, weil es nicht die volle Materialität des Nahrungsprozesses ausdrückt; es ist eine zu dürftige Synekdoche für diesen Prozess. Und wenn die Speise Brot, nicht Fleisch ist, vergisst man leicht, dass das Leben durch den 26 Es scheint so, als ob die Menschen zu Jesu Lebzeiten einen Gegensatz zwischen Jesus und Johannes dem Täufer gerade im Hinblick auf die Nahrungsaufnahme erkannten: Markus 2: 18-19 vermerkt, dass Jesus von den Menschen gefragt wurde, warum seine Jünger nicht wie die Jünger von Johannes und wie die Pharisäer fasten würden. In einem Zusammenhang, in dem Johannes der Täufer für seinen Asketismus bekannt war, wäre es besonders auffällig, direkt von dessen Predigertum zu Jesu Anwesenheit bei der Hochzeit von Kana überzugehen (wie es nur bei Johannes bezeugt wird). Johannesevangelium - 97 Tod ernährt wird, dass die Nahrungsaufnahme und Verdauung die Austauschpunkte sind, an denen das Leben auf Kosten des sich auflösenden Lebens in das Leben zurückverwandelt wird. Im Evangelium des Johannes schließt die charakteristische Bewegung der Aufhebung/ Erfüllung des Judaismus das anfängliche Anheben des „buchstäblichen“ jüdischen Glaubens auf eine spirituelle Ebene und dann die Rückkehr zu einer „buchstäblicheren“ oder „materielleren“ Ebene als der zuvor überwundenen ein. Deshalb 1. drückt Martha ihren Glauben an „die Wiederauferstehung am Jüngsten Tag“ aus 2. antwortet Jesus, dass er die Wiederauferstehung sei, und dass der Tod für jemanden, der an ihn glaube, nicht existiere 3. vollzieht er daraufhin die wunderbare, sofortige Erweckung des toten Körpers des Lazarus. Der Brot-des-Lebens-Diskurs vollzieht eine ähnliche Bewegung: 1. Jesus beschwört das Manna, das Moses vom Himmel herbeigerufen hat, um 2. zu erklären, dass er das wahre Brot sei und dass der Glaube an ihn dem ewigen Leben gleichkomme. 3. Daraufhin übersetzt er das Bild des Brotes in das des Fleisches und die Handlung des Glaubens in die des Essens von seinem Fleisch und Blut. Der dritte Moment in jeder dieser entscheidenden Diskurse lässt die Logik der ganzen Sequenz seltsam gewunden werden. Wenn Jesus das Verständnis „der Juden“ einfach „spiritualisiert“, warum wird dann das materielle Element in erhöhter Form wiedereingeführt, das doch im zweiten Moment aller dieser Diskurse überwunden wurde? 27 Der Materialismus der Menge, die Jesus um das himmlische Brot bittet, ist ein Materialismus, der innerhalb der Trennung von Körper und Geist existiert. Jesus spiritualisiert deren Verständnis, und hier sind Bultmanns Erläuterungen besonders einfallsreich und eloquent, aber er tut noch mehr. Von den Ansprüchen seines eigenen Hyperpneumatismus getrieben muss Bultmann jedoch die Rückkehr zum Fleisch in 16: 51ff aus dem authentischen Text des Johannes streichen. Die pflanzenessende Spiritualität des metaphorischen Essens von Korn ist für Bultmanns Verständnis verdaubar; mit unfehlbarem Instinkt weist er jedoch den Übergang zum Essen von Fleisch zurück. 28 Aber 27 Wie wir gesehen haben, hat das orthodoxe Christentum die Logik dieser Rückkehr im Sinne eines Kompromisses verstanden, wonach die sarx als ein unschädlicher oder bloß vorübergehender Ort erlaubt ist. Es ist zum Teil ein Moment, durch den das Pendel auf seinem Weg nach oben schwingt, zum Teil etwas, das als das von allem Fleischlichen gereinigte Prinzip der Individuation des unsterblichen Selbsts zurückübersetzt wird. 28 William Robertson Smith hat in seinem großartigen Werk über die alte semitische Religion darauf hingewiesen, dass es im archaischen Israel eine „eindeutig markierte“ 98 - Johannesevangelium wenn wir den ganzen Diskurs über das Brot des Lebens als eine einzige Bewegung lesen, scheint Jesus sich gerade von der „Buchstäblichkeit“ oder dem „Materialismus“ der Menge zuerst auf einen symbolischen oder spirituellen Bericht („Ich bin das Brot des Lebens“) und dann auf die Offenbarung der hyperbuchstäblichen oder sarko-pneumatischen Essenz des sakramentalen Essens vom Brot des Lebens zuzubewegen. 29 Bultmann und das orthodoxe Christentum vergeistigen das sakramentale Essen auf unterschiedliche Weise, und der so quälende Tod selber lässt sich leicht vergeistigen, solange er nicht mit dem bedeutungslosesten und unmenschlichsten aller Prozesse in Berührung kommt, solange er nicht verstanden Unterscheidung zwischen dem Brot und dem Fleisch gab, wobei das erstere seine Opferbedeutung durch seine Verbindung mit dem letzteren erwarb: Unter den Hebräern wurden Opfergaben aus Pflanzen oder Getreide manchmal für sich präsentiert, aber üblicherweise waren sie die Begleitung eines Tieropfers. Wenn der Hebräer Fleisch aß, aß er es mit Brot und trank Wein dazu, und wenn er Fleisch auf dem Tisch seines Gottes anbot, war es natürlich, die gleichen Begleitgaben hinzuzufügen. [...] Von diesen verschiedenen Opfergaben waren die Tieropfer bei weitem die wichtigsten in den semitischen Ländern [...], so dass unter den Phöniziern das Wort zébah, das eigentlich ein geschlachtetes Opfer meint, auch für Opfergaben von Brot und Öl benutzt wurde. (222) Der Unterschied zwischen Nahrung aus Getreide und solcher von Tieren war [...] tief verankert, und obwohl Brot natürlich zu dem Heiligtum gebracht wurde, um es mit den zebahim zu essen, hatte es nicht dieselbe religiöse Bedeutung wie das heilige Fleisch und konnte sie auch nicht haben. [...] In jedem Fall konnte ein Opfermahl nicht allein aus Brot bestehen. Die ganze Alte Geschichte hindurch wird davon ausgegangen, dass ein religiöses Fest ein geschlachtetes Opfer bedeutet. (242) Die Dominanz, die im antiken Ritual dem Tieropfer zugewiesen wurde, entspricht der Dominanz des Opfertypes, der nicht nur das Zahlen eines Tributs darstellt, sondern eine Handlung der Verbundenheit zwischen der Gottheit und ihren Anbetern. (224) Die arabischen Belege liefern den Beweis dafür, dass das Band der Speise einen Wert an sich darstellt, dass die Religion dazu dienen kann, dies zu bestätigen und zu verstärken, aber dass die Wesen der Handlung im physischen Akt des Zusammenessens besteht. (271) (Lectures on the Religion of the Semites: The Fundamental Institutions. 3. Aufl. New York: KTAV Publishing House, 1969. Die erste Auflage der Vorlesungen wurde 1889 veröffentlicht.) 29 Anders als der Diskurs über das Brot des Lebens bringt uns die Auferweckung des Lazarus nicht ganz bis ins Innerste von Jesu Lehre; aber selbst hier existiert der hyperbuchstäbliche Bezug. Kurz bevor Jesus Lazarus erweckt, warnt ihn dessen Schwester: „Herr, inzwischen wird er schon riechen; dies ist der vierte Tag.“ Wir erfahren nicht, ob Jesu Erweckung des Lazarus auch den Geruch des Todes beseitigt. Johannesevangelium - 99 wird als ein Speise-werden und ein Wiederübergehen in den organischen Kreislauf. Der Tod stellt die äußerste Qual der Individuation dar, und das bedeutet, gegessen zu werden, in die Erde zu fallen und Früchte zu tragen. Brot ist Fleisch, Wasser ist Wein, und Wein ist Blut, und in all diesem ist kein Schrecken, wenn es als die fleischliche Passion des Logos verstanden wird und die agapetische Handlung des Geistes. Vielleicht hat Johannes etwas von all diesem durch die dionysischen Mysterien gelernt. Bultmann und Barrett behaupten, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Wunder zu Kana und den Mysterien gibt. Brown weist diese Möglichkeit zurück, aber die möglichen Verbindungen liegen in der Tat nahe. Nicht nur ist Dionysus „der Auslöser wunderbarer Verwandlungen von Wasser in Wein“, sondern Philo hat auch von dem Logos in „pseudo-dionysischer Terminologie“ gesprochen (Barrett, Gospel, 188). Bultmann merkt an, dass die frühe Kirche die Heirat zu Kana auf den 6. Januar datiert hat, den Tag des Dionysus-Festes, und diesen als Teil des Festes der Epiphanie feierte (83). Wenn wir weiterhin bedenken, dass dies das einzige von Jesu Wundern ist, das „keine Parallele in der synoptischen Tradition hat“ (Brown, 101), und dass Johannes es zu dem ersten von Jesu Wundern macht, während Lazarus das letzte ist, dann sind die dionysischen Assoziationen besonders auffällig. 30 30 Wie E. R. Dodds ausführt, war Dionysus der Gott der hygra physis, der Bewegung des Lebens durch seine verschiedenen Manifestationen hindurch als Verwandlungen des universellen Flüssigkeitsstromes („nicht nur das flüssige Feuer in der Traube, auch der in einem jungen Baum drängende Saft, das Blut, das in den Venen eines jungen Tieres pulsiert, all die geheimnisvollen und unkontrollierbaren Ströme, die im Leben der Natur verebben und fließen“), und das durch das lebende Fleisch eines Opfertiers gesegnete Fest übertrug diesen Strom auf die Kommunikanten. Einleitung zu Euripides: Bacchae. Hrsg. E.R. Dodds. Oxford: Clarendon Press, 1960. xii. Es gab eine genaue Parallele zu den dionysischen omophagia in der semitischen Tradition. Das semitische Ritual wurde von Robertson Smith, Anm. 28, so beschrieben: In der ältesten bekannten Form des arabischen Opfers, wie es von Nilus beschrieben wird, [...] fällt die ganze Gesellschaft mit ihren Schwertern über das Opfer her, hackt Stücke des zitternden Fleisches heraus und isst diese roh. [...] Die offensichtliche Bedeutung dieses Rituals liegt darin, dass das Opfer verzehrt wurde, bevor das Leben das noch warme Blut und Fleisch verlassen hatte [...], und dass daher alle an der Zeremonie Beteiligten im buchstäblichsten Sinne einen Teil des geopferten Lebens in sich aufgenommen haben. Man sieht, um wie viel eindrücklicher als ein normales Mahl ein solcher Ritus ein bestehendes oder verstärktes Band des gemeinsamen Lebens zwischen den Anbetern und auch zwischen [...] den Anbetern und ihrem Gott ausdrückt. [...] In den späteren arabischen Opferriten und noch mehr in den Opfern der zivilisierteren semitischen Nationen, wurde die primitive Rohheit der Zeremonie 100 - Johannesevangelium Wenn es das ergon von Jesus ist, die Göttlichkeit des Fleisches, des universellen Lebenstodes zu manifestieren, dann können wir ihn beim Wort nehmen, wenn er im Moment seines Todes am Kreuz sagt: „tetelestai“ (es ist vollbracht‘‚ das telos ist erreicht und nun anwesend). Wenn das Pendel auf seinem Weg nach oben erst durch diesen Moment hindurchschwingen müsste, damit Jesu ergon vollständig erreicht würde, dann wäre das telos nicht in diesem Moment erreicht worden; es wäre noch im Prozess des Entstehens. Und damit wir die sarktische Natur seines Todes nicht vergessen, ist Jesu letzte Handlung vor seinem Tod, um etwas zu trinken zu bitten. 31 Er erkannte, dass sein Werk nun vollendet (tetelestai) war. Da sagte Jesus, um die Schrift (graphe) zu erfüllen: „Ich habe Durst.“ (dipso) (19: 28) Bultmann sträubt sich jedoch bis zum Ende: „Schwerlich ist daran gedacht, dass Jesus, der selbst das Lebenswasser anbietet, das allen Durst stillt (4: 10ff), hier den Tiefpunkt der fleischlichen Existenz erreicht“ (522 n. 4). Es ist für Bultmann einfach die Vollendung der Schrift, die hier „die Erzählung bestimmt“; alles passiert auf der Ebene eines Logos, der in seinem Wesen nicht durch den Magen geht. Aber es muss kein Widerspruch zwischen dem Erreichen des telos der Schrift und der katabasis zu dem „Tiefpunkt der fleischlichen Existenz“ bestehen. Das Christentum selbst hat immer behauptet, dass die Erfüllung der hebräischen Schrift eine radikale Revision ist, dass ihre Erfüllung dem Sinn der Schrift widerspricht, wie ihn die Juden selber verstanden: ein Gegensatz zwischen dem Buchstaben und dem Geist, nach Paulus. Nur, was ist der Geist? Wenn Jesus sagt: „Ich habe Durst“, bringt er das telos der Schrift als Abstieg oder Fall des Geistes an den tiefsten Punkt fleischlicher Existenz zur Manifestation, ein telos, das auch das telos von seiner Liebe zu den „Freunden“ ist. 32 Und sobald wir anfangen, das Trinken als eine zu banale Handlung zu betrachten, um irgendetwas zu erfüllen, werden wir sofort zurück in den unausweichlichen Kreislauf des Lebens auf seinem Weg in seine Elemente zurückgeworfen und in den Weiheakt, durch den Jesus dessen Gesicht verwandelt hat: Jesus sagt tetelestai, sein Kopf sinkt im Tod, der Soldat durchbohrt seine Seite, Wasser und Blut fließen heraus, und wir sind wieder zurück in der Hyperbuchstäblichkeit dessen, was das Evangelium erklärt und darstellt. Es gibt nichts anderes zu sehen oder zu wissen als das, was im ergon von Jesus sichtbar modifiziert, und die Bedeutung des Aktes wird daher mehr oder weniger verborgen, aber der grundsätzliche Typus des Rituals bleibt derselbe (338-39). 31 Wie anderswo an entscheidenden Stellen ist das Evangelium des Johannes das einzige, welches diese Äußerung Jesus zuschreibt. 32 Agapesas eis telos, sagt der Evangelist in 13: 1, was Bultmann glossiert als Liebe nicht nur „bis zum Ende“, sondern „zugleich bis zur Vollendung“, „völlig“, „ganz und gar“ (372; 372, n.4). Johannesevangelium - 101 gemacht wird; obwohl der Vater den Sohn übertrifft, größer als der Sohn ist, gibt es nicht mehr über den Vater zu wissen als was Jesus ist: Wer mich sieht, der sieht den Vater. Wie könnt ihr also sagen: „Zeige uns den Vater? “ Glaubt ihr nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir ist? (14: 9-10) In Kürze wird mich die Welt nicht mehr sehen, ihr aber werdet mich sehen, denn ich lebe, und ihr werdet auch leben. An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir seid, und ich in euch bin. (14: 19-20) Wie konnte die Gemeinschaft der philoi, vereint durch die Liebe Jesu, keine begrenzte Gemeinschaft sein, wie Kommentatoren von Hegel bis Rensberger beklagt haben, mit einer Liebe „die stark nach innen auf die Mitglieder der eigenen Gruppe gerichtet war“ (Rensberger, 131), aber getrennt von der Welt? Die äußerste Begrenzung liegt in der absoluten Einzigartigkeit, der Tatsache, dass das individuelle Wesen apokalyptisch verschieden und einzeln ist. Selbst innerhalb der ursprünglichen Gruppe der philoi muss es einen geben, der als „Jünger, den Jesus liebte“ (13: 23; 19: 26) herausgehoben wird. Eine abstrakte, universelle Liebe zu anderen Menschen würde die Macht der Trauer auflösen, die mit dem Durchschreiten der Grenze zur Individuation verbunden ist, also mit einem Prozess, der zuerst durch den Affekt einer minimalen, unauflösbaren Beziehung der Dualität konstituiert ist; ich muss den anderen lieben wie mich selbst, damit mich die Kraft meiner Selbst-Beziehung trifft (d.h. um mich wie den anderen zu lieben). Daher gibt es zu Beginn, am arche, eine seltsame Doppeltheit in der Einheit. Gott und das Wort sind sowohl eins und nicht eins, sie sind durch die Liebe aneinander gebunden, und eins von beiden muss sterben. Dieser Tod ist Folge der Liebe, die alles in dem unendlichen zoe aneinander bindet. Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er den monogenes Sohn gab. (3: 16) Monogenes bedeutet nicht ‚den einzig geborenen‘; es meint ‚kostbar‘, ‚einzigartig‘ (Brown, 13-14). Es gibt nur einen Sohn, weil es nur einen Tod gibt, diesen einzigartigen Tod, der das Siegel des individualisierten Wesens oder das telos der Individuation ist; Gottes Liebe und Gottes Opfer müssen der Macht meiner Liebe für mein eigenes einzigartiges und kostbares Leben gleichkommen und der Selbstaffektion, die durch den Gedanken ausgelöst wird, dieses Leben aufzugeben. 102 - Johannesevangelium Wir müssen uns die Ilias und das Evangelium des Johannes zusammendenken. Die Ilias beschreibt die Verschränkung der Trauer um das Selbst und der Trauer um das Andere, eben jene Verschränkung, die in der Johanneischen Darstellung von Jesu Opfer für die philoi impliziert wird. Aber die einzige Reaktion auf die äußerste Demütigung des Todes, welche die Ilias sich vorstellen kann, ist das rachsüchtige ressentiment; daher kann nichts die Radikalität von Johannes’ Gedanken eindringlicher zeigen als der Kontrast mit der Ilias. Der Körper der Auflösung als Körper der Liebe: durch Johannes haben wir uns der Möglichkeit einer solchen Gleichsetzung angenähert. Aber wir haben bisher das Problem dieses Ansatzes nur in Beziehung zur Liebe im Allgemeinen erfasst. Wir sind immer noch in dem Moment der Dialektik der Trauer gefangen, in dem die religiös-philosophische Tradition die Frage des sterblichen Eros in dem verallgemeinerten Sinne der libidinösen, aber nicht der sexuell-erotischen Besetzung eines endlichen und sterblichen Wesens fasst. Im nächsten Teil werde ich der Frage der sterblichen Liebe in ihrer - wenigstens für die westliche Tradition - wohl problematischsten Form nachgehen, nämlich in der sexuellen und insbesondere der heterosexuellen Beziehung. DIE TROUBADOURE UND IHRE FOLGEN 4. Kapitel Grausame Herrin, oder Der Verfall der „Fröhlichen Wissenschaft“ von den Troubadouren zu Dante Wir haben im 1. Kapitel gesehen, dass für Platon das Ziel der Philosophie darin liegt, von der Trauer zu befreien. Die Dichtung auf der anderen Seite zeichnet endlos die Wege von Trauer und von Bindung-und-ihren-Folgen nach, wie ein Labyrinth, wobei es ihr jedoch wesensmäßig unmöglich ist, dessen Ausgang zu zeigen. 1 Und dennoch ist die Anti-Trauer des Platonismus auf einer fundamentalen Ebene in das generative System der westlichen Dichtung eingedrungen, und zwar durch die verdreht brillante Doktrin, welche den Eros nicht als 1 Gerade weil das Reich der Literatur das der libidinösen Investition in ein sterbliches Wesen ist, gehört aus der Perspektive der platonisierenden Tradition jede Art von Literatur, ob „tragisch“ oder „komisch“, zum Reich der Trauer. So bemerkt etwa Guillaume de Conches in seinem Kommentar zu Boethius: Manche Musen sind „heil“, andere sind „verwundet“ [alie integre, alie lacere]. Die philosophischen Erklärungen sind ganz, denn sie bewahren den Menschen in der Gesundheit und Beständigkeit, welche die Vernunft gibt. Die poetischen Erklärungen, d.h. die einer Kunst, welche Dinge erfindet und im Versmaß darstellt, sind verwundet, weil sie die Herzen der Menschen zerreißen und treulos mit ihnen umgehen, indem sie sie an Vergnügen oder Trauer erinnern, anstatt sie zu führen oder zu trösten. Für Guillaume ist es gleichgültig, ob die Dichtung uns an Vergnügen oder Trauer erinnert, weil Trauer die verborgene Essenz des irdischen Vergnügens ist. Guillaumes Kommentar wird zitiert nach Winthrop Wetherbee. Platonism and Poetry in the Twelfth Century: The Literary Influence of the School of Chartres. Princeton: Princeton UP, 1972. 93. 106 - Von den Troubadouren zu Dante Bindung an das Objekt, sondern als dessen Transzendenz oder vielmehr die Transzendenz aller Objekte interpretiert. Wie Gregory Vlastos es ausdrückt, wird nach Platons Doktrin „das Individuum, in der Einzigartigkeit und Integrität seiner Individualität niemals das Objekt unserer Liebe sein“, wird niemals, in den Worten, die Vlastos dem Lysis entnimmt, das proton philon sein. Nur „‚das Abbild‘ einer Idee“ im sterblichen Individuum kann das proton philon sein, das wahre, endgültige Liebesobjekt. 2 Das Objekt des Begehrens, die wahre unvermischte Schönheit, ist so beschaffen, dass während „[a]lles andere Schöne [...] entsteht und vergeht, jenes doch weder mehr noch weniger wird noch sonst etwas erleidet“ (Symposium 211b) 3 . Verbunden mit dem augustinischen Christentum und, in problematischerer Form, dem italienischen Neoplatonismus (ganz zu schweigen von dessen weit verbreitetem Einfluss auf die christlichen Texte durch indirekte Quellen) hat diese Doktrin über Jahrhunderte hinweg eine außergewöhnliche Anziehungskraft auf die dichterische Einbildungskraft Europas ausgeübt. Gebrochen durch verschiedene mittelalterliche Quellen und deren „widersprüchlicher Mischung von Neoplatonismus und Aristotelianismus“ (Joseph Mazzeo) 4 , und vermischt mit dem Einfluss der Troubadoure, findet die platonische Auffassung von der Liebe als dem, was die Seele, angezogen durch die Schönheit, zum Göttlichen erhebt, ihre vollste poetische Blüte in Dantes Commedia. 5 Obwohl der Aufstieg bei Dante und Platon eine ähnliche Kontur hat, gibt es bedeutende, möglicherweise grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Liebesdoktrinen. Die Doktrin des erotischen Aufstieges im Symposium und die Wissenschaft des Maßstabes im Staat zielen beide darauf, den Liebenden rationaler und weniger anfällig für Unruhe zu machen. Sie wollen dessen Bindung an ein einziges libidinöses Objekt, das sein Blickfeld ganz ausfüllt, lockern, indem sie ihn lehren, es als unwichtig anzusehen. Wenn der Liebende 2 Gregory Vlastos. “The Individual as Object of Love in Plato”. In: Ders. Platonic Studies. Princeton: Princeton UP, 1973. 31. Vgl. Martha Nussbaum. The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Cambridge: Cambridge UP, 1986. Kap. 6: 165-99. Für Sokrates, so sagt Nussbaum, „ist Alkibiades nur ein weiterer schöner Mensch, ein Stück Form“ (195). 3 Platons Symposium, im englischen Original zitiert nach der Übersetzung von Michael Joyce, in The Collected Dialogues of Plato. Hrsg. von Edith Hamilton und Huntington Cairns. New York: Pantheon, 1961. Hier und im Folgenden zitiert nach: Platon. Symposion. Übers. und hrsg. von Barbara Zehnpfennig. Hamburg: Meiner, 2000. 105. 4 Joseph Anthony Mazzeo. Medieval Cultural Tradition in Dante’s Comedy. Ithaca: Cornell University Press, 1960. 92. 5 Wie Mazzeo bemerkt, zeigt die Göttliche Komödie eine „bemerkenswerte Ähnlichkeit“ mit „einigen der wichtigsten Ideen in Platons Phaedrus und Symposium“. Mazzeo. Structure and Thought in the Paradiso. Ithaca: Cornell University Press, 1958. 121. Mazzeo stellt fest, dass die Komödie in der Renaissance von Ficino und Landino „als platonisches Werk“ (208n) interpretiert wurde. Von den Troubadouren zu Dante - 107 schöne Körper im Allgemeinen liebt, kann er „in seiner Leidenschaft für einen einzelnen aber nachlassen, weil er dies nun verachtet und für gering hält“ (Symposium 210b). Auch Dante zielt auf eine Transzendenz der Sinnlichkeit, aber Beatrices Körper als unwichtig anzusehen bedeutet nicht, Beatrice als unwichtig zu erachten. Sowohl Platon als auch Dante „steigen“ vom Physischen zum Geistigen „auf“, aber Dante bewahrt bis zur Schwelle der seligmachenden Vision die Beziehung zu dem Individuum, welches Beatrice ist. Gewiss ist Dantes Bewertung von Beatrices Individualität im Wesentlichen christlich. Nach der christlichen Doktrin hat jede Seele eine absolute Individualität, die in der Individualität des physischen Körpers verwurzelt ist und die ewig erhalten bleibt, und jedem Christen ist es auferlegt, in Liebe mit allen anderen Christen verbunden zu sein. 6 Dennoch besteht im orthodoxen Christentum eine starke Spannung zwischen der Liebe zur Kreatur der Schöpfung und der Liebe zum Schöpfer, und trotz der theologischen Spitzfindigkeiten, mit denen diese miteinander versöhnt werden, neigt letztere dazu, die erstere auszulöschen - vor allem während die Seele sich in diesem Leben befindet. 7 Dante jedoch folgt Guido Guinizelli und Guido Cavalcanti darin, die Liebesbeziehung zum Individuum zu stärken, indem er die fin’amors der Troubadoure (in etwa ‚höfische Liebe‘) in sein Christentum mischt. Dante kreiert damit eine faszinierende neue Form des erotischen Aufstieges, eine die in mancher Weise das Christentum ebenso wie den Platonismus revidiert, da, wie Roger Valency 6 Zu den Komplexitäten und Widersprüchen der christlichen Doktrin von der Wiederauferstehung des Körpers, vgl. Kapitel 3. 7 „Wir müssen uns allen Dingen der Schöpfung gegenüber gleichmütig machen“, erklärt Ignatius Loyola. The Spiritual Exercises of St. Ignatius. Übersetzt von Anthony Mottola. Garden City, N.Y.: Image Books, 1964. 47. Nach Thomas à Kempis muss das Herz ganz „von den weltlichen Vorlieben getrennt“ werden, bis zu dem Punkt, dass man sich von seinen „teuersten Freunden“ zurückzieht. Imitation of Christ. Übers. von Richard Whitford. New York: Pocket Books, 1953. 3: 53, 226. Dies erinnert an Augustinus, wenn dieser es Gott gegenüber als eine Sünde beichtet, dass er über den Tod seiner Mutter „für den kleinen Teil einer Stunde“ weinte, (The Confessions of St. Augustine. Übers. von Rex Warner. New York: New American Library, 1963. 9: 12). Anders Nygren zitiert eine Stelle aus dem Kommentar des Augustinus zum Evangelium des Johannes, in welcher Augustinus sagt, „wenn wir Gott so lieben würden, wie wir sollten, würden wir nichts in der Welt lieben“ (O si Deus digne amamus, nummus omnimo amabimus“. Anders Nygren. Agape and Eros. Übers. von Philip S. Watson. New York: Harper Torchbooks, 1953. 510. Die Debatten bei Augustinus über den Unterschied zwischen uti Liebe, der Liebe als Weg zu einem höherem Genuss, und frui Liebe, der Liebe um der Liebe willen, machen deutlich, mit welchen Verrenkungen versucht wird, die Liebe zu Gott mit der Liebe des Nächsten zu vereinbaren. Für einen kurzen Überblick über jüngere Ansichten zu dieser Frage siehe Carol Harrison. Beauty and Revelation in the Thought of Saint Augustine. Oxford: Clarendon Press, 1992. 245-53. Siehe auch Nygrens prägnante Analyse in Agape and Eros, 503-12. 108 - Von den Troubadouren zu Dante bemerkt, „keiner der Doktoren der Kirche je auf die Idee gekommen war, die weibliche Form in die Himmelsleiter einzubeziehen.“ 8 Nun konnte kein höfischer Liebesdichter, welcher Richtung er auch immer angehörte, und sicherlich nicht Dante, den ersten Schritt in der platonischen Leiter des Aufstiegs gutheißen, jenen nämlich, bei dem der Liebende von der ausschließlichen Bewunderung des Körpers der Geliebten zur Bewunderung schöner Körper im Allgemeinen „aufsteigt“. Diese Wendung zu schönen Körpern im Allgemeinen ist nicht ideal genug für die idealisierenden Tendenzen der höfischen Liebe. Es ist natürlich eine idealisierende Bewegung im technischen Sinne, indem es auf Abstraktion und Universalität zielt; für eine Idealisierung in diesem Sinne ist es nicht von Interesse, um was für eine Art von Körpern es sich handelt. Aber weil wir in der Tat von menschlichen Körpern sprechen, Körpern, die ein erotisches Interesse erwecken, verletzt die Bewegung zur Universalität sowohl die christliche sexuelle Prüderie als auch die Grundsätze der höfischen Idealisierung. 9 Es stimmt, dass Platon im Phaedrus der dauernden Bindung an ein Individuum Wert zuspricht und diese Doktrin ist, in heterosexualisierter Form, nicht so weit von der Dantes entfernt. Aber selbst hier bleibt ein fundamentaler Unterschied bestehen, weil für Dante erst durch den Tod von Beatrice der unausweichliche Druck auf den Geist entsteht, seine libidinöse Beziehung zu ihr zu vergeistigen, während der Tod keine solche Rolle bei Platon spielt. 10 Der 8 Roger Valency. In Praise of Love: An Introduction to the Love-Poetry of the Renaissance. New York: Schocken Books, 1982. 247. 9 Deswegen weicht Pietro Bembos platonisierender Diskurs über die Liebe, wie er von Castiglione dargestellt wird, dem exakten Sinn dieser einleitenden Bewegung aus, obwohl er sonst dem Symposium so nahe wie möglich bleibt. Die erste, „höfische“ Phase der Liebe, die er beschreibt, wird nicht im Sinne des Symposiums präsentiert, sondern gemäß dem Phaedrus, dessen erotische Doktrin in bestimmten Aspekten mit der des Symposiums unvereinbar ist. Die körperlose Form der Schönheit wird sofort in der Schönheit der geliebten Person erkannt, ohne [den Zwischenschritt der] Verallgemeinerung zur Schönheit aller Körper, und die Erkenntnis dieser Schönheit fördert dann die Ergebenheit gegenüber dem Individuum, in welchem sie erkannt wird (334). Aber während diese Ergebenheit im Phaedrus ein Leben lang dauert und zum ersehnten Ziel der Idealität führt, behandelt Bembo es als erste Stufe eines Aufstiegs nach dem Modell des Phaedrus und bringt auf diese Weise den Aufstieg mit den Erfordernissen der höfischen Idealisierung zusammen. Selbst wenn die Zeit kommt, das geliebte Individuum zu verlassen, wird die abstrahierende Bewegung unauffällig revidiert; der Liebende erlebt nicht erst die Liebe zu allen Körpern, sondern erreicht sofort die Vereinigung „aller möglicher Formen von Schönheit in seinem Geist“ und formt ein „universelles Konzept“ von Schönheit. The Book of the Courtier. Übers. von George Bull. Bungay, England: Penguin Books, 1976. 338-39. 10 Charles Singleton sieht in Dantes Fokus auf den Tod der Geliebten in der Vita Nuova seinen unverwechselbaren Beitrag zur höfischen Liebestheorie der Troubadoure: An Essay on the Vita Nuova. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1977. 94-101. Von den Troubadouren zu Dante - 109 dantesche Aufstieg ist eine Form der Trauerarbeit, während der platonische Aufstieg, selbst in seiner Phaedrus-Form, die Trauer gänzlich umgeht. Und doch, trotz aller Unterschiede zwischen Dantes Doktrin und Platons, bleibt die Tatsache bestehen, dass Beatrice als Objekt der Liebe nur bewahrt wird, indem sie in ihrer irdischen Existenz ausgelöscht und auf die geistige Ebene gehoben wird. 11 Und selbst als Geist kann weder Beatrice noch irgendein anderes Wesen der Schöpfung das proton philon werden; wenn der Aufstieg des christlichen Geistes seinen höchsten Punkt erreicht, muss die Liebe einen Weg über die Kreatur hinweg und zurück zu ihrem transzendenten Ursprung und Ziel finden. Das heißt, dass es selbst bei Dante die Aufforderung „Troppo fiso! “ gegen die Absorption der Seele in ein geliebtes Wesen gibt: 11 Einige Bemerkungen von Collin Hardie machen die christliche Strategie deutlich, durch welche der Körper aufgehoben wird (dt. im Original). In der Commedia, so Hardie, „wird Dantes Liebe für Beatrice vergeistigt, aber dadurch nicht körperlos gemacht, sondern vielmehr körperlicher.“ Mit „körperlicher“ meint Hardie jedoch die „Akzeptanz und Transformation“ von Materie, so dass „Individuation nicht mehr der Materie, sondern formalen Prinzipien zu verdanken ist“ (“Dante and the Tradition of Courtly Love”. In: Patterns of Love and Courtesy; Essays in Memory of C. S. Lewis. Hrsg. von John Lawlor. London: Edward Arnold, 1966. 43). Diese seltsame Logik, nach welcher der Körper durch die Negierung seiner Materialität „körperlicher“ gemacht wird, charakterisiert das Christentum spätestens seit Paulus. Die komplexeste moderne Version dieser Logik, die ich kenne, ist Rudolf Bultmanns Kritik von Paulus’ Differenzierung zwischen einem geistigen soma und einem fleischlichen soma. Für Bultmann bleibt diese Unterscheidung zu nahe an die Körperlichkeit gebunden, da sie das Element der sarx (‚Fleisch‘) nicht aus dem Gedanken des wiedererstandenen Körpers zu eliminieren schafft. Da das Vermögen des Paulus zum abstrakten Denken nicht entwickelt ist, und er deshalb das soma im grundsätzlichen Sinne als menschlichen Seinscharakter nicht ausdrücklich von dem Phänomen des materiellen Körpers unterscheidet, knüpft er den Gedanken der somatischen Existenz in der Vollendung an eine mythologische Auferstehungslehre (1. Kr 15). In ihr muß wohl oder übel das soma als ein stoffliches Körperding, bzw. als dessen „Form“, erscheinen; und wenn der Stoff des Auferstehungsleibes nicht „Fleisch und Blut“ sein kann (1. Kr 15,50), so ergibt sich die fatale Folge, daß das pneuma als ein Stoff gedacht werden muß, aus dem das soma besteht. Dieser Mythologie gegenüber ist die eigentliche Intention des Paulus klar zu stellen [...]. Was Paulus wirklich mit der Vorstellung des geistigen soma meint, ist die Idee der „ontologische[n] Struktur menschlichen Seins“, einer Struktur, die von einem Leben zum anderen bewahrt werden muss, wenn die Kontinuität des sterblichen und aufgestandenen Individuums nicht unterbrochen werden soll, behauptet Bultmann. Diese „ontologische Struktur“ ist keine Substanz, sondern ein „Verhältnis zu sich selbst“, das „sachgemäß“ oder „verfehlt“ sein kann. Rudolf Bultmann. Theologie des Neuen Testaments. Tübingen: Mohr, 1953. 194-95. 110 - Von den Troubadouren zu Dante Gebannt von dem heiligen Lächeln, dass mich dorthin gezogen hat, in die alten Netze, vergaß ich alles andere - meine Augen trugen Scheuklappen, und es kümmerte mich nicht. Da wurde mein Blick plötzlich weggezogen und nach links auf jene Göttinnen gewendet: „Er starrt zu sehr! “ [Troppo fiso! ], hörte ich sie sagen. (Purgatorio 32.4-9) 12 Selbst wenn Individuen in der Gegenwart Gottes existieren und als Individuen geliebt werden sollen, gerade weil und insofern sie von Gott kommen, wird der Moment der Transzendenz durch das Abwenden von diesen geliebten Individuen zu deren Ursprung markiert. „Das Gute, das du liebst, kommt von Ihm“, sagt Augustinus, „aber es ist nur gut und süß, weil du in seine Richtung schaust.“ „Wenn Körper dir gefallen, lobe Gott dafür, und wende dich von ihnen ab und ihrem Schöpfer zu.“(Confessiones 4,12; Hervorhebung H.S.). Wenn Dante sich daher der Gottesvision nähert, wechselt er einen letzten Blick mit Beatrice, und dann wendet sie sich von ihm ab, um auf Gott zu schauen: quella, sì lontana Come parea, sorrise e riguardommi poi si tornò all’etterna fontana. (Paradiso 31.92-93) Sie lächelte und sah mich an, dann wandte sie sich zu der ewigen Quelle. Anders als der Platonismus durchquert das Christentum die Trauer auf dem Weg zur Transzendenz; aber diese Transzendenz dämpft die Trauer, indem sie dem Tod den letzten und unerträglichen Stachel stiehlt. Ob es in der Vita Nuova, wie Charles Singleton behauptet, zwischen dem Tod von Beatrice und dem von Jesus das gab, „was das Mittelalter als eine Analogie der Proportion erkannt hätte“ 13 oder nicht, der Prozess der Trauer und der Idealisierung, durch welchen Beatrice auf der anderen Seite des Todes bewahrt wird, ist ganz deutlich derjenige, den das Christentum mit der Trauer um Jesus Christus einge- 12 Purgatorio 32.1-6. Im Original zitiert nach der Vers-Übersetzung der Divine Comedy von John Ciardi (New York: New American Library, 1970). Der italienische Text der Göttlichen Komödie wird nach der Ausgabe von John D. Sinclair zitiert (New York: Oxford University Press, 1972). Es gibt in diesem troppo fiso eine deutliche Anspielung auf den letzten von Dantes Rime petrose („Così nel mio parlar“), wenn der Sprecher in der sexuellen Fantasie, mit der das canzone endet, die Herrin mit starrem Blick ansieht: „Ancor nelli occhi ... guarderei presso e fiso“ (80.74, 76). Alle Zitate von Dantes lyrischer Dichtung in Italienisch und Englisch, die Rime petrose und die Vita Nuova eingeschlossen, stammen im Original aus K. Foster und P. Boyde. Dante’s Lyric Poetry. Bd. 1: The Poems. Oxford: Clarendon Press, 1967. Die Übersetzung ins Deutsche ist von VH. Ich werde die Bedeutung der Rime petrose später in diesem Kapitel behandeln. 13 Charles Singleton, Anm. 10, 114 (Hervorhebung im Original). Von den Troubadouren zu Dante - 111 führt hat. 14 Die Christen sind die Meister der Trauer, sowohl in dem Sinne, dass sie die Trauernden par excellence sind, als auch insofern, als sie die Trauer um alle individuellen Tode durch das triumphierende Trauern um den Gott, der stirbt und wieder aufersteht, zu meistern wissen. Dante kann daher über die Figur eines außergewöhnlichen Individuums nachdenken - ganz bis zum Tod und darüber hinaus, um auf diese Weise anscheinend die stürmischen Sehnsüchte der Troubadour-Liebe zu beruhigen. 15 Der Pfad zur transzendenten Liebe ist - mehr oder weniger unsicher - von einigen der Troubadoure gesucht worden. In den Gedichten von Jaufré Rudel zum Beispiel gibt es eine ziemlich raffinierte Strategie der Idealisierung und Verinnerlichung, die berühmte amor de lonh (‚Fernliebe‘). Diese schließt nicht den Tod der domna ein, aber etwas, das diesem nahe kommt, nämlich ihre permanente Trennung von dem Liebenden, so dass sie für ihn nur noch in seinem Geist weiter existiert. 16 Aber Dante geht nicht so schnell zur Idealisierung über wie Jaufré, und noch weniger gibt er die fin’amors einfach für die Liebe zu Gott auf, wie es Peire d’Alvernhe getan hatte. Dantes Herz klammert sich vielmehr „mit seinen Fingernägeln“, wie Arnaut Daniel es in seiner berühmten Sestina ausgedrückt hat, an seine Herrin, „wie die Rinde an den Ast“ (C’aissi s’enpren e s’enongla / mos cors el sieu cum l’escorssa en la verga). 17 Dante geht daher in einer wahrhaft dialektischen Bewegung gleichzeitig in zwei anscheinend gegensätzliche Richtungen (Richtungen, die für sich genommen von verschiedenen Troubadouren verfolgt worden waren): seine Transzendenz der höfischen Liebe geschieht nur durch deren Erhöhung. Selbst auf dem Berggip- 14 Nancy Vickers weist darauf hin, dass Dantes Zitate aus den Klageliedern Jeremias’ (in der Vita Nuova und im 8. Brief) „Florenz ohne Beatrice mit Rom ohne Christus verbinden - ein weiterer Hinweis [...] auf die christologische Markierung der Beatrice-Erfahrung“. “Widowed Words: Dante, Petrarch, and the Metaphors of Mourning”. In: Discourses of Authority in Medieval and Renaissance Literature. Hrsg. Kevin Brownlee und Walter Stephen. Hanover, N.H.: University Press of New England, 1989. 15 Ich denke hier weder an die tatsächliche Trauer eines historischen Dante für eine wirkliche Frau namens Beatrice noch an eine bloß „technische Übung“ oder ein „dichterisches Kunstwerk“, welches dem „wirklichen Leben“ gegenübergestellt werden könnte. Es geht vielmehr darum, auf symbolischer Ebene das Problem der libidinösen Ökonomie auszuarbeiten. Es ist klar und, wie ich denke, heute weithin akzeptiert, dass die alte Unterscheidung zwischen dem realen Leben und dem dichterischen Kunstwerk zu einfach ist. Für eine interessante Neuformulierung der Realitätsfrage in der Vita Nuova vgl. Robert Harrison. The Body of Beatrice. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1988. 16 In der Tat scheint das Thema der amor de lonh die Troubadour-Liebe von ihrem Beginn an zu charakterisieren. In den Liedern des ersten Troubadours, Guilhem de Poitou, „gibt es einen deutlichen Anhaltspunkt dafür, dass schon irgendein Konzept der amor de lonh existierte“. Gerald A. Bond. Introduction to The Poetry of William VII, Count of Poitiers, IX Duke of Aquitaine. Hrsg. und übers. v. Bond. New York: Garland, 1982. lix. 17 The Poetry of Arnaut Daniel. Hrsg. und übers. v. James J. Wilhelm. New York: Garland, 1981. 5: 32. 112 - Von den Troubadouren zu Dante fel des Purgatoriums, nachdem er schon durch das die Liebe von allen Sünden befreiende Feuer geschritten ist (ein Feuer, das er erst betritt, als er erfährt, dass Beatrice auf der anderen Seite ist), erzählt Dante uns, dass er beim Anblick von Beatrice „die große Macht uralter Liebe“ fühlte (d’antico amor senti la gran potenza), und er wendet sich an Virgil und sagt: „Kein Tropfen Blut ist in mir, der nicht zittert; ich kenne die Zeichen der uralten Flamme“ (Purgatorio 30.37- 48). Hier, an der Schwelle des Übergangs in den Himmel, ruft Dante noch einmal die Konventionen der höfischen Lyrik auf, in dem Bild des zitternden Liebenden, den der Anblick der Geliebten erstarren lässt. Nur indem er sich so fest wie nur ein Troubadour an das Bild seiner donna klammert, ganz bis jenseits dieser Welt an die Schwelle der himmlischen Vision, gelingt Dante das letzte Loslassen. Die Beatrice der Göttlichen Komödie ist das Abbild einer bis zum Äußersten idealisierten Frau, bis knapp vor die vollständige Transparenz des Göttlichen, in welcher sie aufhören würde, ein geschlechtliches Individuum zu sein. Wir haben gesehen, was durch die Konstruktion einer solchen Figur für das Projekt der Transzendenz gewonnen wird. Nun möchte ich einige Aspekte der Vorgeschichte dieser idealen Beatrice nachzeichnen. Zuerst werde ich einen neuen Blick auf die Erotik der Troubadour-Lyrik werfen, die in bestimmten grundlegenden Aspekten nicht so ist, wie es die englischsprachigen Standarddarstellungen nahe legen. Vor dem Hintergrund dieser Neubewertung werde ich dann zu Dante zurückkehren, um einige seiner frühen Gedichte zu betrachten, in denen die Figur der Beatrice zuerst aus der Troubadour-Matrix aufzutauchen beginnt. Aus diesen Überlegungen wird ersichtlich werden, dass die Beziehung zwischen Dante und den Troubadouren komplexer und problematischer ist, als allgemein angenommen wird. Entgegen dem Eindruck, der durch die generalisierende Behandlung „der Troubadoure“ als einer Gesamtheit erweckt wird, hat die Troubadour-Lyrik nicht nur eine Stimme. Um die Ungenauigkeiten zusammenfassender Verallgemeinerungen zu vermeiden, werde ich mich vor allem auf den Dichter konzentrieren, der am häufigsten als das Paradigma des „höfischen“ fin’amors- Troubadours bezeichnet wird, Bernart de Ventadorn, und ich werde die anderen Troubadoure gemäß ihrer Nähe oder Distanz zu Bernart beurteilen. Der Fokus meiner Betrachtungen ist der Stellenwert des sexuellen Begehrens in Bernarts Erotik. Es gibt eine beharrliche und in den neueren Arbeiten zunehmende Tendenz in der englischsprachigen Troubadourforschung, das physische sexuelle Begehren als ein für sich stehendes Element in der Troubadour-Lyrik zu behandeln, ein Element, das der „Höfischkeit“ - welche die Figur der Frau vergöttlicht - abträglich ist oder diese mit einem „anzüglichen Zwinkern“ satirisiert. 18 18 Das „Liebesspiel“, schrieb James Wilhelm mit besonderem Hinweis auf Bernart, war einerseits „von tödlichem Ernst“, aber andererseits, insofern es sich wirklich um Sex drehte, „reiner Scherz“. James Wilhelm. Seven Troubadours: The Creators of Modern Von den Troubadouren zu Dante - 113 Die ausgefeilteste Anklage der höfischen fin’amors als Maskerade gröberer Motive ist wahrscheinlich Laura Kendricks in ihrem bemerkenswerten Game of Love: Troubadour Wordplay. 19 Kendricks komplexe These geht davon aus, dass dem höfischen Liebesspiel eine „spöttische“ oder „burleske“ Anspielung auf die Sexualität in ihrer ganz und gar körperlichen und unverstellten Form zugrundeliegt. Eine Vermutung von Stephen Nichols aufgreifend, meint sie, dass der canso (Liebeslied) des Troubadours eigentlich ein con-so (Mösenlied) sei (122). Das Element der sexuellen Burleske funktioniere im Tandem mit einer Art von dekonstruktivem Wortspiel, in welchem jeder einzelne Troubadour versuche, „persönliche Potenz zu beweisen“ (184). „Die Sprache des Begehrens der frühen Troubadoure“, so Kendrick, „ist eigentlich ein Begehren der Sprache“ (185). Diese Sprachspiele hätten jedoch reale soziale Auswirkungen, denn durch sie erhöhten die Troubadoure nicht nur ihren individuellen Status, sie nähmen auch an der Stabilisierung neuer, sich in dieser Zeit entwi- Verse. University Park: Pennsylvania State University Press, 1970. 116-27. Frederick Goldin geht in seiner Theorie sogar davon aus, dass Bernarts Zuhörerschaft aus verschiedenen Gruppen bestand, so dass das Register seines Diskurses von höfisch zu anzüglich wechselte, während sein Auge von der Gruppe, welche der Idealisierung gewogen war, zum „fleischlichen Sektor“ wanderte. Frederick Goldin. Lyrics of the Troubadours and Trouvères: An Anthology and a History. Gloucester, Mass.: Peter Smith, 1983. 112-16. Die Vorstellung, dass der Troubadour „den Zuschauern ein anzügliches Zwinkern“ zuwirft, wenn er auf sexuelles Begehren anspielt, wird von Simon Gaunt in Verbindung mit Giraut de Bornelh angesprochen (Simon Gaunt. Troubadours and Irony. Cambridge: Cambridge University Press, 1989. 154). Auch Sarah Kay behandelt in ihrem Subjectivity in Troubadour Poetry (Cambridge: Cambridge University Press, 1990) die Sexualität bei den Troubadouren allgemein als ein sündiges und verstohlenes Element, das sich nur in symptomatischer Weise zeigt. Kays herausfordernde und wichtige Diskussion leidet jedoch darunter, dass sie so verschiedene Figuren wie Marcabru, Bernart und Raimon de Miraval vermischt, um ein homogenes Bild von sexueller Abscheu in der Troubadour-Lyrik zu schaffen. Kay, Gaunt und andere scheinen Marcabrus zynischen Moralismus als ihre eigene Ansicht der Troubadour-Liebe akzeptiert zu haben. Nach Gaunt stellt Marcabru den sexuellen Akt oft „als einen Akt männlicher Aggression gegenüber einem anderen Mann“ dar, „während er im Allgemeinen die weibliche Sexualität als entweder völlig passiv oder gänzlich unersättlich sieht, und ihn beschäftigt offensichtlich vor allem das männliche Sexualorgan, dessen Größe und Leistung. Alle diese Elemente sind typisch für Pornographie“ (60). Dies ist die Perspektive eines Troubadours, welcher, anstatt die höfische Erotik zu feiern, sie als unmoralisch attackiert, und Gaunt fragt sich, ob Marcabru nicht „im Unterbewusstsein durch dieses ständige Reden über Sex erregt wurde“, „abgestoßen und fasziniert von dem verbotenen Sex, hin- und hergerissen zwischen der Verdammung bestimmter Aktivitäten und einer verstörenden Obsession mit ihrer Beschreibung“ (ebd.). Diese schuldbewusste Gespaltenheit ist nach meiner Lesart Bernart, Giraut de Bornelh, Arnaut Daniel oder Bertran de Born fremd. 19 Laura Kendrick. The Game of Love: Troubadour Wordplay. Berkeley: University of California Press, 1988. 114 - Von den Troubadouren zu Dante ckelnder Autoritätsformen teil, indem sie „soziale Spannungen im Lachen aufzulösen“ hälfen (186-87). Kendricks Versuch, die reine Körperlichkeit des sexuellen Dranges, das „Begehren der Sprache“ und das Streben nach Status zu ineinandergreifenden Elementen einer einzigen These zu erklären, überzeugt mich nicht ganz. Dennoch sind Kendricks Studie und die Arbeiten anderer neuerer Entmystifizierer der Troubadourliebe von höchstem Interesse. Zweifellos gibt es in der Troubadour-Lyrik, wie überall in der Literatur, eine komplexe Ökonomie von Kräften, die letztlich das gesamte soziale und politische Milieu umfasst. Die These, die ich in diesem Buch vertrete, geht jedoch davon aus, dass die Ideologien der erotischen Beziehung ein wesentlicher Bestimmungsfaktor in der Konstitution des begehrenden Subjekts sind und dass wir die Augen gegenüber einer unserer fundamentalsten Motivationsstrukturen verschließen, wenn wir diese Ideologien als bloße Epiphänome von „realeren“ Kräften behandeln. Daher meine ich gegen die vorherrschende kritische Tendenz, dass es einen gewissen nicht reduzierbaren Aspekt in der Liebesdoktrin Bernarts de Ventadorn und jener anderen Dichter gibt, deren Werk oder doch ein bedeutender Anteil davon seinem ähnlich ist (z. B. Giraut de Bornelh, Peire Vidal, Raimbaut d’Aurenga, Bertran de Born). Meine Sicht von Bernarts Erotik ist nicht weit von der L. T. Topsfields entfernt, der die zentrale Rolle von foudatz (erotische Verzückung oder Torheit) für Bernart erkennt, der „Bereitschaft, von Begierde, von Gefühl und Liebe für Jois hinweggetragen zu werden, so wie ein Blatt dem Wind folgt“. 20 Aber Topsfield berührt die Frage des körperlichen Begehrens ein wenig zu zaghaft, und er spricht nicht an, wie genau das „‚natürliche‘ Begehren der Sinne“ (120), in welchem Bernarts Amors wurzelt, mit dessen Höfischkeit in Einklang gebracht werden kann, mit eben jener Höfischkeit, welche andere Kritiker als gegensätzlich zum „natürlichen Begehren“ ansehen. Wir müssen den genauen Klang von Bernarts Stimme hören, um zu erkennen, dass seine Dichtung nicht in Aufrichtigkeit und Burleske zu trennen ist, in Idealität und Fleischlichkeit. Es ist der Ton von erotischem Frohsinn oder Rausch, der Ton, welchen die Troubadoure selber mit Bestimmtheit joi nennen. 21 Um zu wissen, wie Bernarts Ton zu hören ist, muss man jedoch das ste- 20 L. T. Topsfield. Troubadours and Love. Cambridge: Cambridge University Press, 1975. 127-28, 135. 21 Amelia van Vleck meint, dass die „Freude“ in der Lyrik der Troubadoure sich auf „den kreativen Impuls der Dichtung“ bezieht, und dass „es nur noch selten als „jouissance“ übersetzt wird“. Amelia E. van Vleck. Memory and Re-Creation in Troubadour Lyric. Berkeley: University of California Press, 1991. 20. Aber man vergleiche die umfangreiche Diskussion von Martín de Riquer, nach dessen Ansicht Jean Frappiers Definition von joi am treffendsten ist. Frappier listet zunächst die verschiedenen Formen der Exaltation auf, welche das Wort vermittelt, und folgert dann, dass „trotz der etwas esoterischen Bedeutung des Begriffes [...] die Idee des körperlichen Genusses niemals gänzlich verschwindet“. Martín de Riquer. Los Trovadores: Historia Literaria Y Textos. Von den Troubadouren zu Dante - 115 reotype Bild durchbrechen, das ihn als niedergeschlagenen Liebenden zeigt, der dazu verdammt ist, in seiner Aufrichtigkeit vor seiner grausamen, ihn verachtenden Herrin zu kriechen, ebenso wie durch die anscheinend widersprüchliche Interpretation, welche seine Aufrichtigkeit als eine Oberfläche ansieht, welche durch unterschwellige Anspielungen auf Sex verspottet wird. Körperliches Begehren steht immer im Vordergrund von Bernarts Liebesdiskurs. Es ist sein explizites Thema, wie häufig in der Troubadour-Lyrik, nicht im Hinter- oder Untergrund, wie uns die Theoretiker des „anzüglichen Zwinkerns“ glauben machen wollen. 22 Zugegeben, Bernart erwähnt nicht immer explizit das physische telos seines Werbens, aber er tut es so oft, dass es an Begriffsstutzigkeit grenzt, die Art der joi, die er sich vorstellt, nicht zu erkennen: Ara cuit qu’en morrai del dezirer que·m ve si·lh bela lai on jai no m’aizis pres de se, qu’eu la manei e bai et estrenha vas me so cors blanc, gras, e le. (36.30-36) Ich denke, nun werde ich an der Sehnsucht, die ich empfinde, sterben, wenn die Schöne mich nicht zu sich nimmt, dort, wo sie liegt, so dass ich sie liebkosen und küssen kann und ihren weißen Körper, so rund und glatt, an mich drücken kann. Oder, etwas weniger direkt: del melhs es sos cors establitz, los flans grailes et escafitz, sa fatz frescha com roza par don me pot leu mort revivar. Dirai com? No sui tan arditz. (40.28-32) Ihr Körper ist aus dem Besten geschaffen; ihre Hüften sind schlank und schmal, ihr Gesicht erscheint frisch wie eine Rose. Mit diesen würde sie mich vom Tode erwecken. Soll ich sagen wie? Ich bin nicht so kühn. Barcelona: Editorial Planeta, 1975. 90. Riquer zitiert Frappier. Vues sur les conceptions courtoises dans les littératures d’oc et d’oil au XIIe siècle. In: Cahiers de Civilisation médiévales (1959). 2: 140-41. 22 Wie Mariann Regan bemerkt, ist der Gedanke, dass „der Lobpreis weltlicher Liebe mit religiösen Worten ironisch gemeint sein muss“, ein „Robertsonsches“ Überbleibsel. Regans Theorie ist daher, dass der sexuelle Unterton eines Troubadour-Gedichtes vielleicht Teil „eines vielschichtigeren, umfassenderen Spiels um das Selbst“ ist als manche Kritiker erkennen konnten. Mariann Sanders Regan. Love Words: The Self and the Text in Medieval and Renaissance Poetry. Ithaca: Cornell University Press, 1982. 87. 116 - Von den Troubadouren zu Dante Und noch einmal, im Modus einer exotischeren Sinnlichkeit: Mal o fara si no·m manda venir lai on se despolha, qu’eu sia per sa comanda pres del leih, josta l’esponda, e·lh traga·ls sotlars be chaussans, a genolhs et umilians, si·lh platz que sos pes me tenda. (26.29-35) Sie handelt schlecht, wenn sie mich nicht bittet, zu ihrem Schlafgemach zu kommen [wörtlich „dorthin, wo sie sich entkleidet“], wo ich auf ihren Befehl ihr nahe sei, neben ihrem Bett, so dass ich, demütig kniend, ihr die wohlgefertigten Schuhe ausziehen kann, wenn es ihr gefällt, mir ihren Fuß zu reichen. Solche Äußerungen sind häufig in Bernarts Gedichten und wesentlicher Teil seiner Erotik (vgl. 8.33-40; 28.33-40; 39.19-24). Es gibt keinen Bruch zwischen dem Lob der Herrin und der Demütigung, der sich der Liebende unterwirft, auf der einen Seite und dem Begehren nach sexueller Erfüllung auf der anderen. 23 23 Bernart selber diskutiert die seiner Praxis zugrundeliegende Theorie nicht explizit, aber wir finden solche Diskussionen in anderen Dichtern, deren Erotik der seinen ähnelt. In dem sirventes des Giraut de Bornelh, „Be·m plairia, seingner en reis“ (58) gibt es eine Debatte zwischen dem Dichter und dem König von Aragon. In dieser beschuldigt der Dichter reiche Männer wie den König, in der Liebe „nur Vergnügen“ zu suchen, Non voles·mas lo iauzimen (24), weil sie bei der Herrin liegen wollen, ohne zuerst den Liebesdienst erfüllt zu haben (37-38). The cansos and sirventes of the Troubadour Giraut de Borneil: A Critical Edition. Hrsg. Ruth Verity Sharman. Cambridge: Cambridge University Press, 1989. 389-94. Die Kunst der Liebeswerbung, so der Dichter, „erleidet großen Schaden“, wenn der Liebende nicht die emotionale und imaginative Erfahrung des Aufschubs erlebt, enan del iazer (‚bevor er bei ihr liegt‘). Der „offenherzigste Kommentar“ zum iazer oder jazer (‚zusammen liegen‘) stammt laut Glynnis Cropp aus einem partimen von Gaucelm Faidit und Peirol. Darin fragt Peirol Gaucelm, welcher Liebende das größte Vergnügen empfindet: derjenige, welcher die ganze Nacht bei seiner Herrin liegt, ohne „es zu tun“ (e non lo fai), oder derjenige, welcher nur genug Zeit mit seiner Herrin verbringen kann, um „es einmal zu tun“ (d’una vetz faire), und sie dann verlassen muss. Gaucelms antwortet, dass der erstere zweimal so viel Vergnügen (joi) hat wie der letztere, „denn nur bei ihr liegend, gibt es hundert verschiedene Freuden, wenn er weiß, sie zu erwecken“. Glynnis Cropp. Le Vocabulaire courtois des troubadours de l’époque classique. Geneva: Lbrairie Droz, 1975. 374. Die Bedeutung dieser Beispiele ist vielschichtig. Auf der einen Seite betonen beide Gedichte, wie wichtig das Vergnügen der aufgeschobenen sexuellen Erfüllung, das Werben und das Vorspiel genommen wird, auf der anderen Seite beschäftigen sie sich mit einer explizit sexuellen Freude, einer Freude, für welche die sexuelle Erfüllung am Horizont schimmert und erreichbar ist. (Wie Riquer bemerkt, geht das gesamte Genre der alba davon aus, dass die Liebenden ihre Liebe bereits vollzogen haben [Los Trovadores, Anm. 21, 91].) Von den Troubadouren zu Dante - 117 Das Ziel der sexuellen Erfüllung ist vielmehr der Wetzstein, an dem sich das Begehren schärft. Es ist daher sowohl das, was der Liebende mit ganzem Wesen ersehnt, als auch das, was er willentlich so lange wie möglich hinauszögert, damit es jeden Moment der Annäherung an die Herrin mit erotischem Feuer entzündet. Aus diesem Grund kann ein Kuss, ein Lächeln, ja sogar ein Blick von ihr höchsten Wert bekommen: „Was soll ich daher aus ihren schönen verstohlenen Blicken machen? Soll ich mich ihnen versagen? Eher will ich, dass die Welt sich mir versage! “ (Que farai doncs dels bels semblans privatz? / Falhirai lor? Mais volh que·l mons me falha) (35.35-36). 24 Die „Schlüpfrigkeit“ des Troubadour-Liebesliedes ist - in den Händen eines Meisters wie Bernart - nicht ein Extra, sie ist nicht die abtrennbare „physische“ oder „lüsterne“ Komponente, die einen ironischen Kontrapunkt zur höfischen Oberfläche darstellt, diese unterminiert oder in eine Burleske verwandelt. Es ist vielmehr der erotische Lebensnerv, die Heiterkeit oder Verzückung des Liedes, und zwar gerade weil es dem verfeinernden Druck der Höfischkeit unterworfen ist. Wir müssen nur eine feine, aber grundlegende Änderung an der erotischen Theorie von Platons Phaedrus vornehmen, um sie auf Bernarts Praxis anzuwenden. Im Phaedrus finden wir eine Disziplin der Liebe, die eine lebenslange Hingabe an einen Partner erfordert, „Dienst“ an der geliebten Person fast in einem höfischen Sinne und eine erotische Intimität, die kurz vor der Vollziehung des Geschlechtsaktes haltmacht (eine Praxis, die an die asag erinnert, besonders wenn wir die Bemerkungen des Phaedrus mit Alcibiades’ Erzählung über seine keusche Nacht mit Sokrates im Symposium ergänzen). 25 Platon geht hier also fast so weit, den körperlichen sexuellen Drang zu akzeptieren - nicht als einen rohen Ausdruck des göttlichen Eros auf der tierischen Ebene (wie im Symposium), sondern als eine Macht, die der Bewegung auf alle „höheren“ Ziele zu innewohnt, während sie ihre Essenz als sinnlicher Trieb bewahrt. 26 Aber selbst dann, wenn er einer solchen Ansicht ganz nahe kommt, 24 Es gibt keine Dichtung, die in der Übersetzung mehr verliert als die der Troubadoure. Jeder Leser, der auch nur eine der romanischen Sprachen beherrscht, wird reich belohnt werden, wenn er die Troubadoure im Original liest. 25 Die asag oder asais war die „Probe“ oder der „Beweis“ der Liebe, der letzte Test des Liebesdienstes, welcher darin bestand, das Bett mit der Geliebten zu teilen, ohne sexuelle Erfüllung zu erreichen. Nach René Nelli entspricht die asag dem vierten und höchsten Grad der drudaria (‚Liebesdienst‘). L’Érotique des Troubadours. Toulouse: Eduard Privat, 1963. 181, 196-202. 26 Für eine besonders radikale Perspektive auf die Wende von der Doktrin des Symposiums zu der des Phaedrus siehe Nussbaums bemerkenswertes Kapitel 7 in The Fragility of Goodness, Anm. 2, 200-233. Zur Körperlichkeit der platonischen Liebe vgl. auch Vlastos, „The Individual“, Anm. 2, 39-40. A. W. Price weist jedoch die Vorstellung zurück, dass die nichtvollzogene Körperlichkeit ein Teil der „platonischen Liebe“ ist: „Es ist kaum vorstellbar, wie eine gefährliche Politik der absichtlichen gegenseitigen Erregung ohne Befriedigung tatsächlich ein glückliches und harmonisches Leben beför- 118 - Von den Troubadouren zu Dante behält Platon die Verdammung der Sexualität als „schlechtes Pferd“ bei, welches hart behandelt und letztlich niedergezwungen werden muss. Die Schlussfolgerung, dass der körperliche sexuelle Drang nicht den gesamten Prozess der geistigen Verfeinerung durchdringen und dabei gleichzeitig körperlich bleiben kann, bedeutet, sich einem platonisch-augustinischen Urteil der Körperlichkeit zu unterwerfen. Die Unfähigkeit vieler Troubadour-Gelehrter den genauen erotischen Ton eines canso (Liebeslied) von Bernart zu treffen, ist das direkte Ergebnis einer Ideologie der Transzendenz, durch welche die Troubadour-Erotik schon im Voraus bewertet wird. Diese Ideologie ist immer schon in der Liebe/ Lust-Antithese mit allen ihren metaphysischen Konnotationen impliziert, aber ab und zu werden die dieser Antithese zugrunde liegenden Annahmen von einem Kritiker explizit ausgeführt. Goldin etwa versichert - auf welcher Grundlage weiß ich nicht - dass „niemand in der Welt auf [Bernarts] Weise lieben kann“, weil „niemand seine Geliebte zu seinem Richter ernennen kann. Kein menschliches Wesen kann seine täglichen Begierden so vergeistigen und in Dienst verwandeln; und kein menschliches Objekt der Begierde kann eine solche Erhöhung überleben“ (118). Aus Bernarts Perspektive geht es jedoch nicht darum, die Geliebte zum Richter zu ernennen, sondern darum, dass man gerichtet wird oder sich selber richtet, je nachdem wie man sich im Verhältnis zur Geliebten verhält, und es gibt kein höheres Urteil. Eine künstliche Schwierigkeit wird kreiert, indem man den Troubadouren eine „Erhöhung“ zuschreibt, welche die Herrin über das bloße Fleisch hinaushebt; es ist nur aufgrund dieser Annahme, dass die ständige Anwesenheit des sexuellen Elements in der Troubadour-Lyrik ein komisches oder störendes Element wird. Die „Erhöhung“ der Geliebten schließt für Bernart nichts von dem aus, was zur körperlichen Liebe zu einer körperlichen Frau gehört, und die Liebesdisziplin liegt für den Dichter gerade in der Schwierigkeit, die Realität der Situation zu akzeptieren und sie als gut anzuerkennen, wie auch immer sie beschaffen ist. Ich behaupte nicht, dass Bernart oder irgendein anderer Troubadour „aufrichtig“ ist. Seine Kunst ist, wie die Troubadour-Lyrik überhaupt, sehr formalistisch. Nicht nur sind die Gedichte der Troubadoure oft Revisionen von den Werken ihrer Vorgänger und Zeitgenossen, voller witziger und raffinierter Anspielungen, die Intertextualität der Troubadour-Lyrik wird auf der formalen Ebene auch durch eine Dialektik von fast mathematischer Präzision gesteuert, wie Jörn Gruber und andere Wissenschaftler brillant demonstriert haben. 27 dern könnte, ein Leben von Selbstkontrolle und innerem Frieden. Selbst wenn es gelänge, könnte es nur einen obsessiven sexuellen Heroismus schaffen. [...] Das schlechte Pferd muss wieder in einen Zustand der Angst versetzt werden, welcher nicht einer der durch Liebkosungen hervorgerufenen angenehmen Erregung ist.“ (Love and Friendship in Plato and Aristotle. Oxford: Clarendon Press, 1989. 90). 27 Jörn Gruber. Die Dialektik des Trobar: Untersuchungen zur Struktur und Entwicklung des occitanischen und französischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1983. Von den Troubadouren zu Dante - 119 Wir müssen aus der weiten Verbreitung dieses formalen Imperativs jedoch nicht wie Amelia von Vleck folgern, dass in der Troubadour-Lyrik „letztlich der Eros in der Sprache aufgeht“ (27). Mit diesem Urteil setzt van Vleck eine verfeinerte neue Version der alten Konvention/ Aufrichtigkeit-Antithese ein, wie es auch andere jüngere Demystifizierer der Troubadour-Liebe tun. Aber dies ist eine sehr undialektische Antithese, eine, die mit der ebenso undialektischen Form/ Inhalt-Antithese nah verwandt ist. Alles in dieser Debatte dreht sich darum, wie wir „Eros“ definieren. Ich verstehe ihn als die voluptas, welche die ultimative motivierende Kraft aller Bewegungen der Psyche ist. In dem platonisch-augustinisch-freudianischem Sinne, den ich hier sowohl kritisiere als auch erweitere, kann die Sprache selber nichts anderes tun als die Pfade des libidinösen Flusses verfolgen, ob zu dem begehrten Objekt oder von ihm weg, in strategischen Bewegungen der Zurückweisung, der Eingrenzung oder der Sublimation. Linguistische Pfade haben immer eine Struktur, selbst im alltäglichsten Gebrauch der Sprache, aber der Komplexitätsgrad der hier betroffenen Struktur entspricht der Differenziertheit der manifestierten libidinösen Strategie. Daher entspricht die Primitivität der Formel „die Trauben sind wahrscheinlich sowieso zu sauer“ der Primitivität des sie strukturierenden libidinösen Pfades; diese Struktur der „alltäglichen Sprache“ kann dann durch literarische Kunst entwickelt und verkompliziert werden (wie in Stephen Dedalus’ Antwort im Portrait: „Madam, ich esse keine Muskateltrauben“). In der Dichtung werden die formalen Möglichkeiten sowohl in Bezug auf den Klang als auch auf den Sinn bis zum Äußersten ausgenützt, so weit, dass das Streben nach Form wie das Ziel an sich auszusehen beginnt. Van Vleck zeigt, wie tief die Reflektion über die Form und das Formen des Gedichts in die Sprache der Troubadoure verwoben ist (vgl. vor allem ihr faszinierendes Kapitel „Nature Enclosed“, 133-63). Aber von der hier eingenommenen Perspektive aus kann Eros niemals unter einem formalen Projekt subsumiert werden, kann es dem Dichter niemals gelingen, das Problem der libidinösen Ökonomie oder des Begehrens zu transzendieren. Der Troubadour ist in diese Problematik verstrickt - nicht nur weil er ein sterbliches, körperliches Wesen ist, sondern auch weil die Textualität seiner Kultur, die Textualität, aus der seine Dichtkunst neugewoben wird, durch und durch ein Diskurs über das Begehren ist. Wie Sarah Spence erklärt, müssen wir daher die Rhetorik der Troubadoure in Beziehung zur augustinischen Rhetorik verstehen. Diese wird durch ein transzendentes Begehren gesteuert, das durch die Troubadoure rekonfiguriert werden muss, wenn sie zur Liebe eines sterblichen Objekts übergehen. 28 Der Eros ist ein Ozean, der eine beliebige Zahl formaler Projekte ins Schwimmen und schließlich zum Kentern bringt. Unter dem formalistischen Mikroskop zersetzt sich der canso in Fäden reiner Sprachlichkeit; aber damit 28 Sarah Spence. Rhetorics of Reason and Desire: Vergil, Augustine, and the Troubadours. Ithaca: Cornell University Press, 1988. 103-27. 120 - Von den Troubadouren zu Dante verlieren wir das Bewusstsein für die ungeheure historische Unruhe, welche das Problem des Eros für die „ethische Substanz“ der westlichen Humanität darstellt, und die Bedeutung der Troubadoure für diese Unruhe. Entgegen Kendrick, Sarah Kay, van Vleck und anderen - aber in Übereinstimmung mit Kommentatoren von C. S. Lewis bis Jacques Lacan - möchte ich argumentieren, dass das formale Sprachspiel der Troubadoure keine Mühle ist, für welche die Liebe bloß das Mahlgut ist, sondern dass es vielmehr die Liebe als ein symbolisches System (oder als einen Aspekt des „Symbolischen“ im Sinne Lacans) ausarbeitet und das libidinöse Wesen der westlichen Humanität auf historisch neue Weise offenlegt. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass es zwischen dem formalen Imperativ der Troubadour-Lyrik und der in dieser dargestellten askesis des libidinösen Wesens keinen Konflikt gibt. Von einem solchen Konflikt auszugehen, bedeutet, den Charakter einer askesis falsch zu verstehen, welche ihrem Wesen nach ein Formalismus ist und die daher immer eine variable Beziehung zu der vermeintlichen Authentizität des ausübenden Subjekts hat. Im Fall eines „generativen“ Formalismus, der seiner Natur nach Einfallsreichtum erfordert und möglich macht, ist die Beziehung zwischen Form und Subjektivität noch unbestimmter als im Falle einer relativ statischen askesis, wie etwa den Geistlichen Exerzitien von St. Ignatius. Ich zögere daher nicht, Bernart als Formalisten zu interpretieren. Wenn wir die mehr als vierzig überlieferten Lieder Bernarts aus einer formalen Perspektive lesen, wird deutlich, dass sie auf der thematischen Ebene eine Serie von Erkundungen darstellen, Erkundungen der „Grammatik“ von erotischen Stimmungen und Situationen. Bernart legt eine Anzahl von Möglichkeiten vor, die durch diese Grammatik generiert werden: der Liebende hofft, verzweifelt, durchsteht alle Schwierigkeiten; oder der Liebende gibt auf und zieht mit bitteren Vorwürfen an die Herrin davon; usw. Es ist wichtig zu erkennen, dass entgegen dem vorherrschenden Stereotyp in mehr als einem Drittel von Bernarts Gedichten der Liebende die ersehnte Freude zu einem gewissen Teil erlangt, und gelegentlich sogar ganz (1, 8, 13, 15, 18, 20, 21, 24, 27, 32, 36, 37, 41, 42). In „Lancan folhon bosc e jarric“ (24) zum Beispiel ist der Dichter zumindest für einen Moment vollständig glücklich in seiner Liebe: „Ich liebe und werde von der schönsten Frau geliebt, die Gott je geschaffen hat“, eine Frau, die „niemals eine launische oder glitzernde Seite oder irgendeine Falschheit gezeigt hat“ (17-32). In „Pois preyatz me, senhor“ (36) liebt ihn seine Herrin, und die Schwierigkeit ist bloß geographisch, denn er ist „hier, nicht dort“ (14). In „Can vei la flor, l’erba vert e la folha“ (42) hat er „Gnade“ von einer Herrin erfahren und sich als Flegel aufgeführt, indem er hinter einer anderen Herrin herjagte, welche ihm jedoch keinen Blick schenkte - ein Verhalten, das er nun bitter bereut. Und in dem bemerkenswerten Gedicht „Era·m cosselhatz, senhor“ (6), das wir noch im Detail betrachten werden, stimmt der Liebende zu, die Liebe seiner Herrin mit einem anderen Mann zu teilen. Von den Troubadouren zu Dante - 121 Ich schlage eine Lesart vor, nach welcher Bernart weder aufrichtig noch unaufrichtig ist. Er führt auf der Basis eines Formalismus, welcher neue - manchmal radikal neue - Artikulationen des erotischen Begehrens generiert, ein poetisch-erotisches Projekt durch. Die Kritiker sind sich heute der Grenzen des Liebesverständnisses der Troubadoure sehr bewusst. Der canso spricht nur von der Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau, und nur auf der Ebene der heimlichen und flüchtigen außerehelichen Passion in einem sehr begrenzten sozialen Kontext. Und dennoch besteht eine solche Liebe gerade aus denjenigen Aspekten des sterblichen Eros, die für die transzendentalisierende Tradition am unverdaulichsten waren, und wir können es als einen ersten Stoss in die Richtung einer allgemeinen Umwertung der erotischen Werte verstehen. Kann die erotische Disziplin, welche eine sterbliche Geliebte zur untranszendentierbaren Bedingung der Wonne macht, in solcher Weise ausgearbeitet werden, dass sie eheliche Liebe oder deren Äquivalente umfasst? 29 (Wie wir sehen werden, wird dies fast die Frage von Milton werden; sie umfasst ein Nachdenken über den Tod, welches weit über alles hinausgeht, was von den Troubadouren versucht wird, die ihr Projekt nicht bis an den Punkt der Konfrontation von organischem Tod und dem schwindelnden Sterben des Begehrens treiben.) 30 Es muss jedoch unzweifelhaft anerkannt werden, dass die Gesellschaft, in welcher die Troubadour-Lyrik ihre Blüte erlebte, Frauen im Allgemeinen, selbst Frauen des Adels, nicht als volle „Subjekte“ im post-hegelianischen oder poststrukturalistischen Sinne erkannte. 31 29 Nach Gaunt, Anm. 18, scheint Raimbaut d’Aurenga einen höfischen canso („Braiz, chans“) an seine eigene Frau geschrieben zu haben, das einzige Beispiel dieser Art (137). Nach meiner Interpretation zeigt das Gedicht, dass es möglich ist, die Konventionen der höfischen Liebe an die Bedingungen der Ehe anzupassen: „Mein Herz sagt mir: ‚Warum schmäht sie mich? ‘ ‚Weil sie weiß, dass ich keine andere Frau meiner Liebe würdig erachte, deswegen schätzt sie mich so wenig.‘“ Dies könnte bedeuten, dass seine Frau ihn nicht länger wertschätzt, weil sie seines Besitzes so sicher ist. Eben dies ist nach Andreas Capellanus der Grund, warum leidenschaftliche Liebe in der Ehe nicht existieren kann, denn Eifersucht, „die Amme und Mutter der Liebe“ fehlt. Aber Raimbaut scheint die Bedingungen für Leidenschaft aus der Konvention der gleichgültigen Herrin neu zu erschaffen. Für Gaunt jedoch wird „die Aufrichtigkeit des ganzen Gedichtes“ durch die Tatsache, dass es an die Ehefrau gerichtet ist, unterminiert (127). 30 Wenn Peire d’Alvernhe in „De Dieu non pense“ (17) an den Tod denkt, sieht er darin klassischer christlicher Art den Gestank, welcher uns den Schönheiten und Begierden dieser Welt misstrauen lassen sollte. Aber Peire ist mit Marcabru einer der am wenigsten höfischen Troubadoure. 31 Ob die Dinge im 12. Jahrhundert für Frauen besser standen als später, wie Joan Ferrante behauptet, macht nach unserem Standard kaum einen Unterschied. Joan M. Ferrante. Woman as Image in Medieval Literature. New York: Columbia University Press, 1975. 10-12. Ein kleiner, aber bedeutsamer Corpus von Gedichten ist in dieser Periode von Frauen, den trobairitz, geschrieben worden, und diese Gedichte lassen erkennen, dass die Erfah- 122 - Von den Troubadouren zu Dante Zwar formuliert Bernart ebenso wie Guiraut de Bornelh ein für die Zeit bemerkenswertes Ideal von voluntatz egaus (gleichem Willen) zwischen einer Frau und einem Mann, 32 aber selbst bei Bernart und Guiraut ist die domna nie mehr als Quelle und Ziel der erotischen Leidenschaft des Troubadours, und die verschiedenen Herrinnen der verschiedenen Troubadoure scheinen zu einem generischen Objekt des Begehrens zu verschmelzen. Daher die häufig ausgesprochene Klage unter Kritikern, dass die Troubadoure „alle Herrinnen gleich machen“: die domna ist fast immer schön, süß, fein, sanft, voller Vortrefflichkeit, Weisheit, Liebenswürdigkeit, Demut, „sie hat schöne Augen, weiße Brüste usw.“ (Ferrante 68-69). rung der Liebe für die Frauen weniger erhebend war als für die Männer - in Kays, Anm. 18, Worten: „ihre Subjektivität wurde, wenn sie nicht vereinnahmt wurde, dann zum Schweigen gebracht oder unterdrückt“ (111). Der traditionelle Corpus der trobairitz ist mit englischen Übersetzungen in Meg Bogin. The Woman Troubadours. New York: Paddington Press, 1976 verfügbar. Für einen kritischen Kommentar zu den trobairitz siehe Bogins einleitende Kapitel; Marianne Shapiro, „The Provençal Trobairitz and the Limits of Courtly Love.“ In: Signs 3 (1978). 560-71; und die gesammelten Essays in The Voice of the Trobairitz: Perspectives on the Women Troubadours. Hrsg. William D. Paden. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. 1989. Das Erscheinen von Angelica Riegers umfassendem Trobairitz: Der Beitrag der Frau in der altokzitanischen höfischen Lyrik, Edition des Gesamtkorpus. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1991 sollte eine neue Epoche in der Einschätzung der poetischen Aktivität von Frauen in der Troubadour-Periode eröffnen. Kay und andere bemerken, dass die Gedichte von Castelloza ein besonders qualvolles Bild von der weiblichen Erfahrung der Liebe bieten. Rieger erinnert uns jedoch daran, dass die Identifikation des lyrischen Ichs in Castellozas Gedichten mit der trobairitz selber „höchst prekär“ ist. Ihre vida, erinnert Rieger uns, beschreibt Castelloza als „sehr lustig“ und „sehr gebildet“, mout gaia e mout enseingnada (568-69). Wie jeder Aspekt der feministischen Kritik von Geschichte und Ideologie ist die Beurteilung der trobairitz ambivalent. Castelloza als leidende, unterdrückte Frau zu behandeln, welche in ihren Gedichten ihrer Qual Ausdruck verleiht, könnte bedeuten, ihre Kunst und den Intellekt einer fröhlichen und gelehrten Frau zu unterschätzen; aber ihre Fertigkeiten zu betonen, könnte jenen in die Hände spielen, welche behaupten, dass das System doch nicht so schlimm war (und damit implizieren, dass es auch heute nicht so schlimm ist). Zur Frage der Herkunft und Verlässlichkeit der Troubadour vidas siehe Riquer. Los Trovadores, Anm. 21, 26-30. Einige der vidas sind, wie Riquer betont, mehr oder weniger verlässlich; andere sind eindeutig nicht mehr als ein phantasievolles Ausmalen der Hinweise, welche in den Gedichten der jeweiligen Troubadoure gefunden werden können. Im Falle von Castelloza widerspricht die vida [allerdings] sogar dem aus den Gedichten gewonnenen Bild der Autorin, es lässt sich daher schwer als eine Erfindung erweisen. 32 Vgl. Bernart 15.29-32 und 40.57-64. Für eine Darstellung dieses Ideals in Giraut, vgl. Sharman, Anm. 23, 34-35. Sharman meint, dass Giraut Bernart in diesem Punkt beeinflusst haben könnte, aber ich sehe keinen Beweis für diese Behauptung. Von den Troubadouren zu Dante - 123 Diese Anklage ist zwar ziemlich anachronistisch, sie drückt jedoch aus, warum wir dem Projekt der Troubadoure für unsere eigenen Versuche, die Liebe als eine ethische Beziehung neu zu formulieren, nur einen eingeschränkten Wert beimessen. Unsere eigene ethische Vorstellung muss sich jedoch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Individualität des autonomen ethischen Individuums, sowohl als begehrendem Subjekt wie auch als Objekt des Begehrens, auf eine tief greifende Weise durch die Welle des Eros ausgelöscht wird, wie unsere gesamte Texttradition zeigt. Und diese Komödie, in welcher die Grenze der Individuation durch den triumphierenden Überlebensdrang der Art überwältigt wird, ist genau das, was die erotische Hysterie der religiösphilosophisch-politischen Tradition auslöst, welche in den Frauen die Quelle des Wahnsinns sexuellen Begehrens erkennt. Kendrich, Kay und andere drehen die Anschuldigung einfach um: es sind die Männer, nicht die Frauen, welche die schuldigen und heuchlerischen Gefäße der Verführung sind. Ob es irgendwo noch einen anderen Eros gibt, einen höheren und reineren, welcher von den Troubadouren nicht erreicht wird, sagen sie nicht; aber der Gesamteffekt ihrer Argumentationen ist, dass die klassische Schmähung des sexuellen Begehrens als etwas Sündigem, Verworfenen und Schuldbeladenen durch ein tu quoque bestehen bleibt. Es ist ein absolut notwendiges Projekt, der Individualität und ethischpolitischen Handlungsfähigkeit der Frauen des Mittelalters eine Stimme zu verleihen. Und dennoch unterstützt die generelle Anklage einer phallokratischen Klassenkultur durch demystifizierende Kritiker manchmal eben jene metaphysische Verurteilung des Eros, welche die Unterdrückung der Frauen erst sichergestellt hat. In der Problematik des Eros sind viele Fäden miteinander verwickelt; die Frage nach der Individualität der domna ist einer dieser Fäden und kann nur mit größter Feinfühligkeit entwirrt werden. Problematischer noch als die Frage nach den individuellen Eigenschaften der Geliebten ist die Ambivalenz des Liebenden ihr gegenüber. Den Liebenden des canso überfallen häufig Zweifel, was die „Vortrefflichkeit“ eben jener Herrin angeht, die er verherrlicht. Aber es gibt noch eine fundamentalere, strukturelle Ungewissheit, die in die höfische Liebessituation eingebaut ist: Ungewissheit, ob die Herrin das von ihr erweckte Begehren befriedigen wird. Bernart benutzt den Begriff des „Verrats“ vor allem in diesem speziellen Sinn des „Verrats von Erwartungen“: „Wie bin ich verraten (traïtz), wenn sie mir ihre Liebe nicht gewähren will“ (40.13-14). Bernarts Gebrauch des Begriffs passt zur hyperbolischen Tendenz seiner Rhetorik und sollte im Zusammenhang mit dem erotischen Frohsinn seines gesamten Projektes gelesen werden. Dennoch besteht in der Troubadour-Lyrik im Allgemeinen immer die Gefahr, dass die Ungewissheit des Liebenden zur wirklichen Ambivalenz und aus Groll sogar zur Schmähung von Frauen überhaupt und vor allem der domna wird. Im Fall von Bernarts Zeitgenossen Peire d’Alvernhe wird das Streben nach Liebe durch einen grundlegenden Skeptizismus gegenüber der Beständigkeit der Welt der Sinne ersetzt, welcher dem von Platon oder Descartes ver- 124 - Von den Troubadouren zu Dante wandt ist. Peires Skeptizismus konzentriert sich jedoch auf die mögliche Untreue eines erotischen Objekts: Perque qui del ioy munda s’apropch’e s’aferma si: ‘era·l terras’, non l’a, que, quan creys mais, merma; quar, s’amors fon bona ia, qui no·m pliu ni·m ferma, que no m’o menta dema, don l’amars s’azerma fors cum volva a descordier? (6.37-45) Wenn daher ein Mann weltlicher Freude entgegengeht und sich versichert: „Nun wirst du sie besitzen“, dann besitzt er sie nicht, denn wenn sie am meisten wächst, wird sie kleiner. Denn wenn die Liebe einmal freundlich gewesen ist, wenn niemand mir geloben oder versichern kann, dass ihre Worte zu mir morgen keine Lügen sein werden, zu welchem Ende führt das Lieben dann, außer sich in Zwietracht zu verwandeln? In der Tat fürchtet er die sterbliche Liebe so sehr, dass in „En estiu“ die von ihm ersehnte Sicherheit in der sicheren Treulosigkeit der Frauen liegt: Amor mi lais Dieus trobar on ia no·m posc afiar, e qant ieu la tenrai car, ill pens de mi enganar; c’adoncs mi tenc per garitz, qan mi ment tot cant mi ditz. (9.37-42) Möge Gott mich eine Geliebte finden lassen, der ich niemals trauen kann, und wenn ich diese teuer halte, möge sie daran denken, mich zu betrügen; denn ich werde mich für geheilt halten, in dem Moment, wenn alles, was sie mir sagt, eine Lüge ist. Peire erklärt am Ende seine Hoffnungslosigkeit, jemals eine treue Frau zu finden, und seine Überzeugung, dass ein Mann, welcher „der Wärter einer solchen Liebe“ ist (oder, so Topsfield, „von solcher Liebe geleitet“ wird), „immer traurig sein“ wird: Von den Troubadouren zu Dante - 125 Totz temps deu esser marritz qui d’aital amor es guitz. 33 Hier wird eine der zentralen Strategien zur Bewältigung von Ungewissheit definiert, eine Strategie, in welcher zumindest einige Formen von Misogynie wurzeln: das vorgreifende Verstoßen des Objekts, indem man es voller Groll schmäht. Das Objekt ist verloren oder verlierbar; daher erkläre ich es für treulos und wertlos - wertlos, weil es in seiner Essenz treulos ist. Da ich es also schon verstoßen habe, bevor es mich verraten konnte, brauche ich also nicht zu trauern. Das ist es etwa, was Hamlet mit Ophelia macht, als die Untreue der Frauen zu seiner Obsession wird. Eine solche Schmähung ist in der Troubadour-Lyrik, in welcher der dem Dichter durch die domna zugefügte Schmerz häufig seine Liebe zu ihr zu zerstören droht, immer möglich; es ist so etwas wie ein Test seiner Ergebenheit, der Feinheit seiner fin’amors. Selbst Bernart de Ventadorn und Arnaut Daniel sind nicht gegen eine Anwandlung misogynistischer Verbitterung gefeiht: Denn ich finde keine zwei Frauen unter tausend Ohne falsche, abstoßende Worte, Frauen, die dich nicht direkt durchstoßen und dadurch ihre Kostbarkeit abscheulich werden lassen. (Arnaut, 4.13-16) Selbstverständlich zeichnet sich die ideale domna gerade dadurch aus, dass sie die eine von tausend ist, die nicht falsch ist, aber diese Idealisierung zersetzt sich auf eigentümliche Weise selber, da sie auf der Verdammung der Frauen als einer Gruppe beruht. So bleibt der Zweifel, ob die idealisierte Frau am Ende nicht doch wie alle anderen ist - was statistisch wahrscheinlich ist: „Ich weiß sehr gut, dass sie alle gleich sind“, meint Bernart in „Can vei la lauzeta mover“ (43.2), einem seiner bittersten Gedichte. Aber gänzlich zu dieser Schmähung überzugehen, wie Peire es tut, heißt, die Ungewissheit, welche das Begehren der Troubadoure am Brennen hält, zum Kollaps zu bringen. Es ist daher entscheidend, die Momente von Verzweiflung und Bitternis in Bernart, Arnaut und ihren Verwandten als bloße Momente innerhalb einer größeren Bewegung zu verstehen. Die von Bernart gesuchte Freude wird gerade durch den Kampf gegen den Groll und die erotische Unruhe des Sprechers, die durch seine unsichere Situation gegenüber der Herrin ausgelöst werden, aufrechterhalten. „Die Furcht gibt mir schlechten Rat, und daher verkümmert und stirbt die Welt“ (Bernart, 7.61). In den Texten, in denen die Unruhe besiegt werden kann, stellt die Anklage der Herrin die Krise im Drama des Gedichtes dar, und die Oberherrschaft der Liebe wird durch das Überwinden dieser Krise bestätigt. Nachdem Bernart 33 Topsfield zitiert diese Zeilen nicht. Ich zitiere sie nach Peire d’Alvernha. Liriche. Hrsg. und übers. v. Alberto del Monte. Torino: Loescher-Chiantore, 1955. 126 - Von den Troubadouren zu Dante seine Herrin „eine falsche, niedrig gesonnene, betrügerische Frau aus üblem Geschlecht“ genannt hat (23.25-26), wendet er sich daher um und ruft aus, dass „sie alle Lügner sind, die mich Torheiten von ihr haben sagen lassen“: „e tuih cilh son mesonger / que·m n’an faih dire folatge“ (55-56). „Da all ihr Tun vollkommen (enter) ist“, so schließt er, „kann man keine Torheiten von ihr sagen“ (59-60). Es ist bestenfalls eine Übertreibung, wenn Lacan im 7. Seminar schreibt, dass die Herrin der Troubadoure im Allgemeinen ein „betörend“ „unmenschlicher Partner“, „grausam - und den Tigerinnen Irkaniens gleich“ sei. 34 Ab und zu stößt man allerdings doch auf eine Beschreibung der domna, die Lacans Charakterisierung nahe kommt, wie in Peire Vidals exquisitem „Ajostar e lassar“: mas cor a de drago qu’a me di mal e ri als autres deviro e·m fai huelhs de leo (35-38) Aber sie hat das Herz eines Drachens, weil sie mir grausame Dinge sagt, und den anderen um mich herum zulächelt, und mich lächelnd mit Löwenaugen ansieht. Aber der Eindruck dieser Zeilen allein ist irreführend, weil die Bewegung des Gedichtes als Ganzem wieder darauf zuläuft, dass der Sprecher der Versuchung widersteht, schlecht von der Herrin zu denken. Abrazar e cremar mi fai cum fuecs carbo. Quan l’esgar, tan vei clar sos huelhs e sa faisso, che non sai guerizo, Si·m cambi ni·m desvi d’amar liei. (46-52) ... ie·us afi quan n’aug dir bon resso, gaugz entiers mi somo qu’en deia far chanso, E doncs pus tan l’am e la cre, ja no’i die trobar mala fe. (70-75) Sie entzündet mich und setzt mich 34 Jacques Lacan. Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar VII (1959-1960). Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. von Norbert Haas. Weinheim, Berlin, 1996. 185. Von den Troubadouren zu Dante - 127 in Flammen wie Kohlen. Wenn ich sie anschaue, sehe ich solches Licht in ihren Augen und ihrem Gesicht, dass ich nicht wiederhergestellt werden kann, wenn ich mich verändere oder mich abwende von meiner Liebe zu ihr. ... ich schwöre dir, wenn ich von ihrem guten Ruf sprechen höre, ruft mich eine einfache Freude auf, ein Lied darüber zu machen. Und nun, da ich sie so liebe und ihrem Befehl folge, sollte ich nicht misstrauen. 35 Sicherlich, insoweit die Lyrik der Troubadoure von der Furcht weiblicher Treulosigkeit beherrscht wird, bleibt sie an eine ganz tief verankerte ideologische Struktur gebunden. Und dennoch, insoweit das letzte Ziel der von Bernart und anderen gefeierten Liebe explizit ein sterbliches Wesen ist und insoweit die erotische Beziehung zu einer Frau als ausreichende Bedingung für weltliche Freude und das feste Streben nach dieser Freude als ausreichende Bedingung für die Erhebung des Selbst angesehen wird, bedeutet diese Liebe schon eine radikale Abkehr von der Tradition der Transzendenz. So schreibt Bernart: „Und wenn man mir die ganze Welt auf eine Seite setzte / ich würde stattdessen die Freude wählen, die mich täuscht“ (qui·m mezes tot lo mon ad un latz / eu preira·l joi per cui sui enjanatz) (22.47-48). Im äußersten Falle erklärt sich der Dichter sogar bereit, einer Frau treu zu bleiben, welche einen zweiten Liebhaber wählt, nachdem sie den Dichter akzeptiert hat, so wie in dem bereits erwähnten Gedicht Bernarts „Era·m cosselhatz, senhor“: Pois voutz sui en la folor, be serai fols s’eu no pren d’aquestz dos mals lo menor. Que mais val mon essien qu’eu ay’ en leis la meitat que·l tot perda per foldat, car anc a nul drut felo d’amor no vi far son pro. Pois vol autre amador ma domn’, eu no lo·lh defen. E lais m’en mais per paor que per autre chaizimen. E s’anc om dec aver grat 35 Text und Übersetzung von Goldin. Lyrics of the Troubadours, Anm. 18, 254-61. 128 - Von den Troubadouren zu Dante de nul servizi forsat, be die aver guizerdo eu que tan gran tort perdo. (6.25-40) De l’aiga que dels olhs plor escriu salutz mais de cen que tramet a la gensor et a la plus avinen. (49-52) Da ich in die Torheit getrieben worden bin, wäre ich wirklich töricht, wenn ich nicht das geringere dieser zwei Übel wählen würde. Denn besser ist es, denke ich, sie wenigstens zur Hälfte zu haben, als sie aus Torheit gänzlich zu verlieren. Denn ich habe niemals einen schlechten Liebenden gesehen, der seinen Liebeslohn fand. Da meine Herrin einen anderen Liebhaber haben möchte, werde ich ihn ihr nicht verbieten, obwohl ich es mehr aus Angst, denn aus anderen Gründen erlaube. Wenn jemals ein Mann Dank für einen erzwungenen Dienst verdiente, sollte ich sicherlich belohnt werden, der ich so großes Unrecht vergebe. Mit dem Wasser, das ich aus meinen Augen weine, werde ich mehr als hundert Grüße schreiben, welche ich an die liebenswürdigste und schönste Herrin schicke. Nicht nur wird der canso „live“ vor Publikum aufgeführt, die hier von Bernart dargelegte Frage wird explizit zur öffentlichen Diskussion gestellt: „Nun, meine Herren, gebt mir Euren Rat“ (1). Wollte Bernart sein Publikum schockieren? Begleitete er seine Rede mit einem „anzüglichen Zwinkern“? Dies ist keineswegs ein „typisches“ Gedicht, weder für Bernart noch für die Troubadoure im Allgemeinen, aber es wird durch dieselbe erotische Grammatik generiert wie die bereits erwähnten anderen Umsetzungen der Troubadour-Konventionen. Der Dichter rechtfertigt seine Zustimmung, indem er sich auf die gleiche Ethik von treuer Liebe und bereitwilligem Leiden in ihrem Liebesdienst beruft, die er anderswo als Teil der Verführungsrhetorik benutzt. Er wäre, so sagt er, ein schlechter Liebender, drut felo (31), wenn er sie durch Ablehnen des Arrangements verlieren würde. Er hofft zwar, dass die Dinge sich nicht ganz so schlecht entwickeln werden („Meine Herrin. liebe den anderen öffentlich und mich im Geheimen“ [57-58]), aber es lässt sich nicht leugnen, dass die domna sich hier eben jenes Vergehens schuldig macht, welches der Sittenkodex der höfischen Liebhaber normalerweise schärfer als alle anderen verurteilt - des Vergehens, welches mehr als alle anderen die Scheidelinie zwischen dem „femininen“, entwerteten Geschlecht und dem „gemischten“ Geschlecht der domna (um Kays Terminologie zu benutzen) kennzeichnet. Wenn Bernart einwilligt, sie weiter zu lieben, obwohl er von ihrer Untreue weiß, drückt er damit eine Möglichkeit aus und macht diese also auf der Ebene des Symbolischen denkbar, deren Radikalität nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Von den Troubadouren zu Dante - 129 Wenn wir von den cansos Bernart de Ventadorns, Giraut de Bornelhs oder Arnaut Daniels zu den frühen lyrischen Gedichten Dantes übergehen, finden wir uns in einer gänzlich anderen Welt wieder. Dantes Themen von Leiden und Tod-durch-Entbehrung sind scheinbar die der Troubadoure, aber die verzückte joi des Liebesdienstes fehlt fast vollständig, ebenso wie der Rausch der langsamen Annäherung an das Ziel der sexuellen Erfüllung. Die Distanz zwischen dem Liebenden und der Herrin ist nun metaphysisch anstatt sozial; die abnehmende Lebensenergie des Liebhabers ist nicht mehr Teil einer Überredungskampagne, sondern ein Zeichen dafür, dass die Frau für ihn unerreichbar ist: ...cui saluta fa tremar lo core, sì che, bassando il viso, tutto smore, e d’ogni suo difetto allor sospira (35.4-6) wen sie grüßt, lässt sie bis ins Herz erzittern, so dass er, die Augen senkend, blass wird und über alle seine Fehler seufzt. Schon in den frühen lyrischen Gedichten sehen wir das Schuldbewusstsein über seine erotische Natur vorgezeichnet, das der bärtige Mann unter Beatrices Schelte am Ende des Purgatorio fühlt. Das von der Herrin inspirierte Begehren schämt sich über sich selbst und wird durch das Licht ihrer Augen, welches es überhaupt erst ausgelöst hat, „gelöscht“: De gli occhi de la mia donna si move un lume sì gentil, che dove appare si veggion cose ch’uom non può ritrare per loro altezza e per lor esser nove: e de’ suoi razzi sovra ’l meo cor poive tanta paura, che mi fa tremare, e dicer: ‚Qui non voglio mai tornare’; ma poscia perdo tutte le mie prove, e tornomi colà dov’io son vinto, riconfortando gli occhi päurusi, che sentier prima questo gran valore. Quando son giunto, lasso, ed e’ son chiusi; lo disio che li mena quivi è stinto: però proveggia a lo mio stato Amore. (30) Aus den Augen meiner Herrin strahlt ein Licht so edel, dass man dort, wo es erscheint, Dinge sehen kann, die unbeschreibbar sind, so erhaben und wunderbar sind sie. Und von seinen Strahlen regnet eine solche Furcht in mein Herz, dass es zittert und sagt: „Niemals werde ich hierher zurückkehren.“ Aber dann ver- 130 - Von den Troubadouren zu Dante liere ich jede Kraft zu widerstehen und kehre zu dem Ort zurück, wo ich besiegt wurde, meine furchtsamen Augen tröstend, welche zuerst die große Macht gefühlt haben. Wenn ich den Ort erreiche, ach, sieh, sie müssen sich schließen; der Wunsch, welcher sie brachte, wird dort ausgelöscht: Lass die Liebe meinen Zustand erschauen. In der Beziehung zu einer solchen Herrin ist kein Raum für Bernarts oder Peire Vidals Drama der Ambivalenz, in welcher der Liebende die Herrin für einen Moment schmäht, aber dann durch die unauslöschbare Kraft des Begehrens, das sein Wesen verfeinert, zu ihrem Lobpreis zurückgebracht wird. Dante muss daher von seiner Figur der engelhaften Herrin eine andere Frau abspalten, eine Frau aus Stein im Verhältnis zu welcher er die Sinnlichkeit ausdrücken kann, welche die reine Beatrice oder proto-Beatrice erstickt. In den als Rime petrose (‚steinerne Gedichte‘) bekannten lyrischen Gedichten Dantes begegnen wir der unmenschlichen und grausamen Herrin, welche Lacan im 7. Buch des Seminars als die Norm der Troubadour-Lyrik beschreibt. In diesen Versen destilliert Dante die Essenz rachsüchtiger Sexualität aus der höfischen Liebe heraus, die deren Idealisierungen überschattet, um dann zur Reinigung seiner (dichterischen) Beziehung zu Beatrice fortzuschreiten. 36 Dante erreicht eine außergewöhnliche sexuelle Intensität durch den unbeirrbaren Fokus auf die „Steinhärte“ der Frau; wir können mutmaßen, dass es in den Rime petrose ebenso wie in dem engverwandten „Bergkanzone“ („Amor da che convien“) gerade ihre Kälte ist, welche sie so unerträglich begehrenswert macht: denn wenn sie verstünde, was ich in mir höre, würde Mitleid ihr liebliches Gesicht weniger schön machen (pietà faria men bello il suo bel volto) (89.14-15) Die Rime petrose selber erreichen ihren Höhepunkt mit einer so bemerkenswerten Fantasie von sexueller/ aggressiver Erfüllung, dass sie ausführlich zitiert werden soll: Omè, perché non latra per me, com’io per lei, nel caldo borro? ché tosto griderei: ‘’Io vi socorro’; e fare’ l volentier, sì come quelli che ne’ biondi capelli ch’Amor per consumarmi increspa e dora metterei mano, e piacere’le allora. 36 Vgl. die wichtige Diskussion zu Beatrice und den Petrose von Regan, die ein ganz anderes Ziel verfolgt als ich, in Love Words (Anm. 21): 134-58. Von den Troubadouren zu Dante - 131 S’io avessi le belle trecce prese, che fatte son per me scudiscio e ferza, pigliandole anzi terza, con esse passerei verspero e squille: e non sarei pietoso né cortese, anzi farei com’orso quando scherza; e se Amor me ne sferza, io mi vendicherei di più di mille. Ancor ne li occhi, ond’escon le faville che m’infiammano il cor, ch’io porto anciso, guarderei presso e fiso, per vendicar lo fuggir che mi face; e poi le renderei con amor pace. (80.59-78) Oh, warum schreit sie nicht nach mir in einer heißen Schlucht, wie ich nach ihr? Denn ich würde sofort rufen: „Ich werde dir helfen“, und ich würde es gerne tun, denn ich würde meine Hand in das gelbe Haar stecken, das die Liebe zu meiner Zerstörung wellt und vergoldet, und dann würde sie anfangen, mich zu lieben. Wenn ich einmal die schönen Locken ergriffen hätte, welche meine Peitsche und meine Leine geworden sind, sie ergreifend vor der Terze, würde ich mit ihnen Zeit der Vesper und der Nachtglocken verbringen: und ich würde weder Mitleid noch Höflichkeit zeigen, oh nein, ich wäre wie ein Bär beim Spiel. Und obwohl die Liebe mich jetzt mit ihnen peitscht, würde ich meine Rache mehr als tausendfach nehmen. Und weiter würde ich in diese Augen schauen, aus denen die Funken kommen, welche mein Herz entflammen, das tot in mir ist; ich würde sie von Nahem und mit festem Blick anschauen, um mich dafür zu rächen, dass sie vor mir flieht, wie sie es tut; und dann würde ich ihr Frieden geben. Noch bemerkenswerter als die sadomasochistischen Untertöne (Peitschen, Rache) dieser Szene ist die Beschreibung eines Herzen, das „tot“ ist und doch „entflammt“. Die Dissoziation von Sinnlichkeit und Gefühl scheint in diesem Bild vollständig zu sein. Die Anspielungen auf Liebe scheinen bestenfalls ironisch zu sein, da sie mit einem „heulenden“ sexuellen Drang verbunden sind, welcher eine plötzliche Umkehrung jener außerordentlichen Kälte und Grausamkeit der Herrin ist, die Dante über vier Gedichte hin ausgemalt hat: d’ogne crudelità si fece donna; sì che non par ch’ell’abbia cor di donna ma di qual fiera l’ha d’amor più freddo; („Amor, tu vedi ben“, 79.6-8) Sie wurde die Herrin aller Grausamkeit, so dass sie das Herz nicht einer Frau, sondern eines solchen Tieres zu haben scheint, dessen Herz die kälteste Liebe hat. 132 - Von den Troubadouren zu Dante Dantes Persona beklagt, dass er im Sterben liege, eine Frau töte ihn durch ihren Mangel an Reaktion auf sein Begehren; dennoch suggeriert das „Bergkanzone“, dass die perfekte Schönheit, die sein Begehren bis zum Äußersten reizt, gemindert worden wäre, wenn sie etwas für sein Leiden gefühlt hätte. Er träumt nicht von einer spontanen, mitfühlenden Antwort von ihr, nicht von ihrer pietà, sondern von der Gelegenheit, ihre Kälte durch einen an Brutalität grenzenden Akt sexueller Beherrschung zu durchbrechen (com’orso quando scherza). Wir sind hier weit entfernt von der fin’amors, wie Bernart sie praktizierte, aber dennoch treibt Dante hier ein Resultat jener erotischen Logik bis an ihre Grenze, aus welcher auch die fin’amors ihre Wirkung bezieht. 37 37 Die Rime petrose hatten einen beträchtlichen Einfluss auf Petrarca und durch ihn auf einen Großteil der europäischen Dichtung. Robert Durling erwähnt in seiner reichhaltigen Einführung zu Petrarcas Rime sparse, dass es bei Petrarca häufig Anspielungen auf die Rime petrose gibt, aber er denkt dabei vor allem an Verweise auf Versteinerung und die Medusa (Petrarch’s Lyric Poems: the Rime sparse and Other Lyrics. Übers. und hrsg. V. Robert M. Durling. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1976. 30-31; Zitate und Übersetzung ins Englische der Rime sparse stammen aus dieser Ausgabe). Meiner Meinung nach weist Durlings eigene Analyse der Struktur von Petrarcas zentralen canzoni (125-29) auf eine tiefere Übereinstimmung zwischen den Rime sparse und den Rime petrose hin. Die Persona dieser Gesänge äußert eine bekannte Klage: Ich sterbe, ich sterbe aus Liebe zu ihr, und sie steht meinen Leiden „wie Eis“ gegenüber (come un ghiaccio stasse (125.11)). Hier handelt es sich jedoch nicht um eine Fantasie von rachsüchtigem Sex, sondern von deren Zwilling, derjenigen von der Trauer der Frau. Wenn ich tot wäre, dann würde sie um mich weinen, wie sie es nicht tut, während ich am Leben bin: „und, oh, der Kummer! Wenn sie mich sieht, schon zu Asche inmitten der Steine geworden, wird die Liebe sie zu Seufzern so süß bringen, dass sie Gnade für mich gewinnt und den Himmel zwingt, wenn sie ihre Augen mit ihrem lieblichen Schleier trocknet“ (126.33.-40). Durling argumentiert, dass diese Fantasie des Betrauertwerdens eine Befreiung auslöst, welche „bewusst sublimiert und orgasmisch ist“ (24), während das Bild von Laura, welches in Gedicht 125 nur angedeutet wurde, jetzt mit großer Intensität auf den Dichter hereinbricht, und er sie in einem „Regen von Blumen“ sieht, welche in ihren Schoß fallen. Durling versteht diesen Regen von Blumen als eine Verschiebung des „Samensäens ... vom Liebenden zum Baum“ (24). Man muss wohl kein Freudianer sein, um diese Interpretation zu akzeptieren. Mich interessiert jedoch vor allem die unbestreitbare Tatsache, dass an diesem Wendepunkt der Rime sparse die Kälte der Frau in dem Liebenden das Begehren weckt, von ihr betrauert zu werden. Und wenn wir Durlings Interpretation von der nächsten Strophe akzeptieren, dann sieht die ganze Sache wie eine sublimierte oder aufgehobene [Deutsch im Original] Version von Dantes Fantasie in der vierten der Rime petrose aus, in der Petrarcas Liebender auf geisterhafte und passiv-aggressive Art erreicht, was er im wirklichen Leben [im Original: “tumescent flesh”, was eine Erektion konnotiert] nicht erreichen konnte. (Wir werden eine Variante dieser Struktur in Heart of Darkness sehen.) Von den Troubadouren zu Dante - 133 Das Faszinierendste an der Grausamen Herrin der Rime petrose ist nicht, dass sie sich von Beatrice unterscheidet, sondern dass sie teilweise gerade nicht von ihr zu unterscheiden ist. Die Herrin der frühen canzone, „E’ mi incresce“ (32), hat Elemente von sowohl Beatrice als auch der petra (‚Frau aus Stein‘). Hier sehen wir auch besonders deutlich, wie die grundlegende Situation der Trauer um das Selbst durch die Mitleidslosigkeit der Frau verschlimmert wird: „Ich bedauere mich selber so sehr, dass das Mitleid nicht weniger Schmerz als mein Leiden bringt“, klagt der Sprecher. Seine Seele trennt sich unter Tränen von diesem Leben; die Herrin, nun schöner denn je, ist nicht nur ohne Mitleid für das Leiden, das sie sieht, sondern sie scheint seine weinende, dahinscheidende Seele sogar auszulachen und zu verspotten: e non le pesa del mal ch’ella vede, anzi, vie più bella ora che mai e vie più lieta par che rida; e alza li occhi micidiale, e grida sopra colei che piange il suo partire; ‚Vanne, misera, fuor, vattene omai! ‘ (32.46-51) Nach Foster und Boyde „ist man seit langem darüber einig“, dass diese canzone „für Beatrice“ geschrieben wurde 38 , aber die Charakterisierung ist der petra deutlich näher als der Beatrice, wie wir sie aus der Vita Nuova und Commedia kennen. Beatrice und die petra sind das Ergebnis der Teilung eines einzigen erotischen Komplexes, und wir beginnen damit zu begreifen, wie viel Dante bei seiner Aufhebung 39 der Troubadour-Liebe ausschließen oder unterdrücken musste. Robert Durling und Ronald Martinez haben behauptet, dass die Rime petrose „ein wichtiger Wendepunkt in Dantes Entwicklung nach ‚Donne ch’avete‘“ seien, weil Dante in diesen Versen die „mikrokosmische Poetik“ ausgearbeitet habe, welche die Commedia strukturiere. 40 Das dichte und faszinierende Argument von Durling und Martinez erinnert uns daran, dass das Motiv der Grausamen Herrin ein Knotenpunkt in einem ausgedehnten Formalismus ist; es ist ein poetischer topos, dessen Generativität nicht durch einen direkten Zusammenhang mit einer angenommenen psychosexuellen Realität verstanden werden kann, ohne die Verwandlungen zu erläutern, durch die die aggressive erotische Fantasie, in welcher die Rime petrose kulminieren, zu einem Schaltpunkt in einer komplexen symbolischen Maschinerie wird. Um 38 Das Gedicht enthält die Keime der einleitenden Kapitel der VN: „das Bild des ‚libro de la mente‘ (Kap. 1), und die Beschreibung der von Beatrice in Dante ausgelösten Unruhe, als er noch ein Kind war (Kap. 2)“. Foster und Boyde. Dante’s Lyric Poetry, Bd. 2: Commentary. Oxford: Clarendon Press, 1967. 88. 39 Deutsch im Original. 40 Robert M. Durling und Ronald L. Martinez. Time and the Crystal: Studies in Dante’s Rime Petrose. Berkeley: University of California Press, 1990. 199. 134 - Von den Troubadouren zu Dante nur ein Beispiel zu nennen, finden etwa Durling und Martinez in der berühmten Episode von Ugolino und Ruggieri im Inferno überall Erinnerungen an die petrose (221-22). Und dennoch bleibt, wie Durling und Martinez erkennen, auch nachdem der ganze symbolische Apparat analysiert worden ist, etwas ungelöst in der Entwicklungskurve von den Rime petrose zur Commedia, die Dantes Kunst durchläuft; sie schlagen vor, dass vielleicht die Commedia das „durch die Sexualität der idealisierten domna gestellte Problem“ nur verlagert anstatt es zu lösen (197). Wenn das stimmt, dann ist es nicht nur berechtigt, sondern notwendig, den „Effekt der Grausamen Herrin“ als ein symbolisches und psychosoziales Problem mit einem erheblichen Maß an Autonomie zu betrachten - als ein Problem, das also kaum durch die Techniken symbolischer Manipulation zu lösen ist, welche die idealisierende Tradition, innerhalb derer Dante arbeitet, zur Verfügung stellt. Dantes erotische Ökonomie ist hier nicht das Thema; das Thema ist hier eben jenes symbolische System, aus dem heraus er arbeitet und welches er weiterentwickelt. Dante unternimmt in den Petrose eine wissenschaftliche Untersuchung des sündhaften Zustands von sinnlicher Besessenheit. Die Wissenschaftlichkeit dieser Untersuchung funktioniert dabei innerhalb des Paradigmas, welche die Tradition der Transzendenz liefert, und sie überschreitet deren Grenzen nicht. Im Reich der Erotik gibt es eine fröhliche und eine melancholische Wissenschaft. Dantes Kunst ist der Triumph christlicher erotischer Melancholie über die fröhliche Wissenschaft der Troubadoure. Diese erotische Melancholie bringt eine Beschuldigung der Frau von Fleisch und Blut mit sich, einer Frau, die immer entweder zu kalt oder zu forsch ist: das Gegenstück der petra ist die Sirene aus Dantes Traum im Purgatorium, die Verführerin, welche aufgerissen werden muss, um die Verdorbenheit zu zeigen, welche ihr schönes Äußeres verbirgt (Purgatorio 19). Wenn die durch eine Frau von Fleisch und Blut entzündete Flamme des Eros nicht genährt werden kann, wird Eros zur Trauer: entweder die grollende Trauer um das Selbst, welche sich auf die lebende, ihn verspottende oder ignorierende Frau richtet, oder, wie in der canzone „Donna Pietosa“ in der Vita Nuova, die tiefe Trauer, in welcher alle Lebenskraft verblasst und sowohl Mann als auch donna sterben müssen: Mentr’io pensava la mia frale vita, e vedea’l suo durar com’è leggiero, piansemi Amor nel core, ove dimora; per che l’anima mia fu sì smarrita, che sospirando dicea nel pensero: „Ben converrà che la mia donna mora.“ (40.29-34) Wenn ich an die Zerbrechlichkeit meines Lebens dachte und sah, wie gering seine Dauer ist, weinte die Liebe in meinem Herzen; dadurch wurde meine Seele Von den Troubadouren zu Dante - 135 so traurig, dass ich mit Seufzern in meinen Gedanken sagte: „Es ist Zeit, dass meine Herrin stirbt.“ Wenn der Sprecher schwächer wird, dann muss die Herrin (bedauerlicherweise) sterben: sehen wir in dieser Schlussfolgerung nicht eine Präfiguration der Rachsucht des Sprechers der petrose? Dann wäre es sein eigener Zorn, den er auf die Gesichter der zornigen Frauen projiziert, welche ihn zum Tode verdammen: e poscia imaginando, di caunoscenza e di verità fora, visi di donne m’apparver crucciati che mi dicean pur: „morra’ti, morra’ti.“ (40.39-42) In meiner Phantasie, jedem Wissen und jeder Wahrheit verloren, erscheinen die Gesichter von Frauen wütend vor mir, die diese Worte wiederholen: „Du wirst sterben! Du wirst sterben! “ Die Grausame Herrin ist jene, welche sich weigert, um mich zu trauern, um mich, der ich mich selber betrauere, weil ich sie nicht besitzen kann, weil ich nicht ihr ganzes Wesen in Antwort auf meine Selbstaffektion und die Trauer um mein Selbst vibrieren fühlen kann. So lange wie die Flamme des Eros hell und klar brennt, kann das ressentiment, welches in dem Liebenden der fin’amors oder des stil nuovo immer loszubrechen droht, vielleicht gerade noch eingedämmt werden; wenn die Flamme aber zu flackern und rauchen beginnt, dann trennen sich die idealisierenden und schmähenden Tendenzen des Liebenden in reine, antagonistische Kräfte und das Objekt des erotischen Begehrens verwandelt sich von der Quelle des Lebens in dessen Gegenteil, l’contrario de la vita („Chi guardera già“, 66.13). Es gibt keine einfache Wahl zwischen Dante und Bernart. Dante sieht viel mehr als Bernart, und wir müssen wissen, was er sieht. Auf der anderen Seite wird die von Bernart gefeierte Torheit - die „imaginäre Gefangennahme“ in der Terminologie Lacans - auf der Ebene des kulturell besonders wertvollen 41 Textes seltener erreicht als Dantes Vision (jedoch offensichtlich nicht auf der Ebene des „wirklichen Lebens“). Erotischer Rausch, foudatz, ist nicht alles. Wie von den Troubadouren ausführlich gezeigt wird, können damit nicht alle sexuellen Beziehungen beschrieben werden, noch weniger wird damit eine Ethik oder Lebensphilosophie geliefert. Aber es gibt einen Standpunkt, von dem aus es kein Leben ohne foudatz gibt, so dass jede Ethik oder Philosophie von dieser Notwendigkeit ausgehen muss. Das ist offensichtlich nicht der einzig mögliche Standpunkt, aber es ist der, von dem aus dieses Buch geschrieben wurde. 41 Im Original: culturally most prestigious texts. 136 - Von den Troubadouren zu Dante Mit dem erotischen Rausch zu beginnen bedeutet jedoch, wie jeder andere Beginn, sich auf einen dialektischen Prozess zu begeben, der unvorhergesehene Wege einschlägt. Einige von diesen sollen in den nächsten zwei Kapiteln beschrieben werden. 5. Kapitel Untreue und Tod in Hamlet und La Princesse de Clèves Dieses kurze Kapitel ist zwei Werken aus dem 17. Jahrhundert gewidmet: Shakespeares Hamlet und Madame de Lafayettes La Princesse de Clèves. Beide lese ich als extrem selbstreflexive Kritiken der höfischen Liebe. Ich kann keine ausführlichen neuen Interpretationen dieser beiden Werke anbieten; stattdessen möchte ich in diesem Kapitel schematisch die Struktur ihrer jeweiligen Analysen der Dialektik von Eros und Trauer skizzieren. Wie wir sehen werden, wiederholt sich die durch Shakespeare und Madame de Lafayette erhellte Struktur auf symptomatischere und weniger kritisch distanzierte Weise in den Werken von Conrad und Lacan, die ich im dritten Teil dieses Buches behandele. In Hamlet finden wir die beiden wesentlichen gegen die Frau gerichteten „höfischen“ Beschwerden wieder, nämlich dass ihr Herz einem Stein gleiche und dass sie untreu sei. Ophelia wird nur der Untreue beschuldigt (und das einfach nur, weil sie eine Frau ist, nach dem Prinzip: „sie sind alle gleich“), aber dennoch wird sie (zumindest auf der Ebene von Hamlets expliziten Erklärungen) zum Hauptziel der rachsüchtigen Lust, welche sich vermischt mit Hamlets Gefühl der Kränkung ob der kurzen Trauerzeit der Frauen. Seine scherzende Unterhaltung mit ihr über die Aufführung von „Die Mausefalle“ wechselt daher zwischen unzüchtigen Anspielungen und lauten Klagen über die weibliche Unbeständigkeit. So etwa: Hamlet: Do you think I meant country matters? Ophelia: I think nothing my lord. Hamlet: That’s a fair thought to lie between maid’s legs. (3.2.116-19) 1 1 Hamlet zitiert nach The Riverside Shakespeare. Hrsg. G. Blakemore Evans. Boston: Houghton Mifflin, 1974. 138 - Hamlet und La Princesse de Clèves Hamlet: Denkt Ihr, ich hätt’ was Bäurisches gemeint? Ophelia: Ich denke nichts, mein Prinz. Hamlet: Das ist ein schöner Gedanke, zwischen den Beinen eines Mädchens zu liegen. (238) 2 Gefolgt von: Hamlet: What should a man do but be merry, for look you how cheerfully my mother looks, and my father died within’s two hours. (125-27) Hamlet: Was soll ein Mann denn tun, wenn nicht lustig sein? denn seht nur, wie vergnügt meine Mutter dreinschaut; und doch ist mein Vater noch keine zwei Stunden tot. (238) Und wieder: Ophelia: You are keen, my lord, you are keen. Hamlet: It would cost you a groaning to take off mine edge. Ophelia: Still better, and worse. Ophelia: Ihr seid spitz, mein Prinz; Ihr seid spitz. Hamlet: Es würde Euch ein Stöhnen kosten, meine Spitze abzustumpfen. Ophelia: Noch besser und noch schlimmer! (242) Was hierzu führt: Hamlet: So you mistake your husbands. [“in these words, ‘for better or worse’, you falsely vow when you marry.”] (248-51) Hamlet: So müßt ihr eure Männer nehmen! [mit diesen Worten „Im Guten wie im Schlechten“, wie Ihr verlogenerweise schwört, wenn Ihr heiratet.] (242) Hamlet zeigt besser als alle anderen mir bekannten Werke die hysterische Verbindung zwischen der Abscheu des Mannes vor der Unbeständigkeit der Frau und seinem hyperwörtlichen Bewusstsein von der natürlichen Auflösung des Körpers. Die Beziehung zwischen diesen beiden Formen der Abscheu liegt in Hamlets Gefühl, dass die Prozesse der Fäulnis und der sexuellen Zeugung eins sind und dass in dieser Einheit alle anderen Unterschiede homogenisiert werden. Dies ist die Grundlage seines Ekels, dies ist die Abscheulichkeit, von wel- 2 Deutsche Übersetzung zitiert nach: Erich Fried. Shakespeare-Übersetzungen. Romeo und Julia. Julius Caesar. Hamlet. München: Hanser, 1968. Seitenzahlen in Klammern gesetzt. Hamlet und La Princesse de Clèves - 139 cher er sein geistiges Auge nicht lösen kann. 3 Besonders fest ist der Knoten seiner Abscheu in einer Passage geknüpft, in welcher er zu Polonius sagt: If the sun breed maggots in a dead dog, being a good kissing carrion - Have you a daughter? ... Let her not walk i’ the sun. Conception is a blessing, but as your daughter may conceive, friend, look to’t. (2.2.181-86) Denn wenn die Sonne in einem toten Hund Maden ausbrütet, wo doch die Sonne ein Gott ist, der Aas küßt - Habt Ihr eine Tochter? ... Laßt sie nicht in die Sonne gehen: Empfänglich sein ist ein Segen, aber da Eure Tochter empfangen könnte, - Freund, seht Euch vor! (216) Der Sinn dieser elliptischen Bemerkung Hamlets wird in 3.1 weiter entwickelt, wo er Ophelia direkt auf das Problem der Fortpflanzung anspricht: “Why wouldst thou be a breeder of sinners? ” [Warum willst du eine Brüterin von Sündern sein? (232)], fragt er sie und beschreibt sich dann selber als einen, der besser nicht geboren wäre, “crawling between earth and heaven” (120-129) [Gesellen wie ich [...], wenn sie da herumkriechen, zwischen Erde und Himmel; 232]. Eine Frau bringt Sünder hervor wie ein Kadaver Maden, und es ist der Kuss der (madengleichen) Sonne bzw. des (madengleichen) Sohnes 4 , welcher es möglich macht. Das Bild der Sonne ist hier sehr bedeutungsvoll, denn Hamlet idealisiert seinen Vater gleich zweimal durch einen Vergleich mit dem Sonnengott Hyperion - beide Male, um den Unterschied zwischen der von seinem Vater repräsentierten idealen Männlichkeit und der von Claudius reprä- 3 Trotz der riesigen Menge an Kommentaren zu diesem Stück ist erst in letzter Zeit und zwar vor allem in verschiedenen feministischen Interpretationen die offensichtliche Tatsache von Hamlets erotischem Ekel in den Mittelpunkt der Analyse geraten. Siehe z. B. den brillanten Aufsatz von Margaret W. Ferguson, „Hamlet: Letters and Spirits“. In: Shakespeare and the Question of Theory. Hg. Patricia Parker und Geoffrey Hartman. New York: Methuen, 1985. 292-309. Der Fokus meiner eigenen Interpretation von Hamlet liegt in einigen Punkten dem von Fergusons sehr nahe. Was die Frage von Sexualität und Misogynie in Hamlet angeht, vermittelt auch Marilyn Butler. Shakespeare’s Division of Experience. New York: Ballantine, 1081. 140-54 viele Einsichten. Siehe auch Juliana Schiesaris. The Gendering of Melancholia: Feminism, Psychoanalysis, and the Symbolics of Loss in Renaissance Literature. Ithaca: Cornell University Press, 1992, besonders 233-67, wo sie, wie an anderen Stellen Beobachtungen macht, die für die vorliegende Arbeit von großem Interesse sind. Eine weitere sehr interessante Diskussion von Hamlet ist Ned Lukacher. Primal Scenes: Literature, Philosophy, and Psychoanalysis. Ithaca: Cornell University Press, 1986). 198-235. 4 Anmerkung der Übersetzerin: Im Englischen ist die Ähnlichkeit der Wörter noch größer, denn der einzige Unterschied zwischen „Sonne“ und „Sohn“ besteht nur in einem Vokal: ‘sun’ und ‘son’. 140 - Hamlet und La Princesse de Clèves sentierten Verschmutzung durch eine gefallene Sexualität möglichst deutlich zu machen: So excellent a king, that was to this Hyperion to a satyr. (1.2.140) So mehr als groß! Apollo gegen den da, Den Satyr! (190) Und in der Schlafzimmerszene, zu Gertrude: Look here upon this picture and on this, The counterfeit presentment of two brothers. See what a grace was seated on this brow: Hyperion’s curls, the front of Jove himself.... (3.4.53-56) Seht her: auf dieses Bild da, und auf dies; Das Konterfei und Abbild zweier Brüder: Seht welche Anmut lag auf diesen Brauen: Apollos Locken und Jupiters Stirn [...] (251) Nach dem hierarchischen Schema, das Hamlets Denken zugrunde liegt (aber welches Shakespeares Dramen beständig in Frage stellen), umschließt und sichert die Ordnung der Natur die gesellschaftliche Ordnung, während die Ordnung der Natur wiederum die Ordnung der himmlischen Hierarchie widerspiegelt. Die Position des Königs in Bezug auf seine Untertanen lässt sich daher in Analogie zur Zentralität und Höhe der Sonne verstehen - und dies scheint mehr als eine Metapher zu sein, weil es die ontologische Struktur des Kosmos reflektiert. 5 Wenn Hamlet seinen Vater als Hyperion/ Apollo bezeichnet, verbindet dieses eine Wort das Prinzip der legitimen Königsherrschaft sowohl mit der natürlichen als auch der göttlichen Hierarchie. Aber die Integrität der von Hamlet intendierten Bedeutung wird durch eben das Bild verraten, mit dem er dessen ontologische Grundlage garantieren will, denn in der natürlichen Ordnung der Dinge steigt die Sonne selber zu einem abscheulich Akt der Fäulnis herab. Der Prozess des zwanghaften Abgleitens einer kulturell extrem erhöhten zu einer kulturell extrem niedrigen Bedeutung, des Erhabenen oder Sublimierten zum Hyperwörtlichen ist die herausragende Eigenschaft von Hamlets Den- 5 Diese Analogie wird explizit in Ulysses’ berühmter “string untuned”-Rede in Troilus and Cressida genannt: “the glorious planet Sol / in noble eminence enthron’d and spher’d / Amidst the other; whose med’cinable eye / […] posts like the commandment of a king” (1.3.89-93). Hamlet und La Princesse de Clèves - 141 ken während des ganzen Dramas, und es verbindet ihn mit den von Freud untersuchten Zwangsneurotikern. 6 Wie bei Freuds Neurotikern ist Hamlets Zwanghaftigkeit durch sexuelle Repression motiviert. Aber in Hamlet ist sexuelle Repression nicht das letzte Wort. Es geht vielmehr um die ultimative Realität des organischen Wesens, das Grauen, das darin besteht, dass der Körper der Auflösung mit dem Körper der Liebe identisch ist, egal ob dieser Körper männlich oder weiblich ist. Dieses Grauen wird von Hamlet dem “progress through the guts of a beggar” [seine Staatsreise durch die Gedärme eines Bettlers; 259] folgend durchdacht, den, wie er weiß, auch ein König durchmachen mag (und in gewisser Weise muss) (4.3.20). „Ein König“: irgendein König, jeder König, der König, d.h. Claudius, der König ist, Hamlet, der es sein sollte, und vor allem sein Vater, welcher der wahre König ist, dieser Sonnenkönig der erhabenen Vorstellung, von dem Hamlet glauben möchte, dass seine Berührung niemals das Fleisch seiner Mutter verunreinigt hat, aber den er sich auch als Brutstätte und Nahrung von Maden denkt. Wie er nach dem Mord und Polonius zu Claudius sagt: Your worm is your only emperor for diet: we fat all creatures else to fat us, and we fat ourselves for maggots; your fat king and your lean baggar is but variable service, two dishes, but to one table - that’s the end. (4.3.21-25) Was nämlich die Diät betrifft, so ist Euch der Wurm Euer einziger Kaiser: wir mästen alle Kreaturen, um uns zu mästen, und uns selber mästen wir für die Maden. Da sind Euch der fette König und der magere Bettler nur zwei Abarten eines Gerichts; zwei Schüsseln, aber für eine Tafel. Das ist das Ende. (259) Es gilt hier den tonalen Unterschied der beiden linguistischen Register zu beachten, in welchen Hamlet anscheinend „die gleiche“ Wahrheit äußert. Auf der einen Seite ist es der klassische christliche Gedanke von der Vergänglichkeit irdischer Pracht und von der Verdorbenheit des Fleisches, ein Gedanke, der wie extreme Materialität aussieht, aber dessen Ziel es gerade ist, das Stre- 6 Vor allem das Abgleiten der „Sonne“ zeigt ein zwanghaftes Prinzip, wie Freud es im Falle des Rattenmannes festgestellt hat, nach dem „mit der Zeit das Abzuwehrende sich regelmäßig Eingang in das verschafft, wodurch es abgewehrt wird“ Sigmund Freud. Gesammelte Werke. London: Imago Publishing Co., 1941. Bd. 7: 443. Auch der Fall des Wolfmannes illustriert dieses Prinzip, welcher für eine Zeit „sehr fromm“ wurde, aber der sich erinnerte, dass ihm während seines frommen Zeremoniells am Ende des Tages „gotteslästerliche Gedanken [...] wie eine Eingebung des Teufels in den Sinn kamen. Er musste denken: Gott-Schwein oder Gott-Kot. Irgend einmal auf einer Reise [...] war er von dem Zwang gequält, an die heilige Dreieinigkeit zu denken, wenn er drei Häufchen Pferdemist oder anderen Kot auf der Straße liegen sah.“ Sigmund Freud. Gesammelte Werke. London: Imago Publishing Co., 1947. Bd. 12: 40. Es ist kein Zufall, dass Hamlet der einzige von Shakespeares tragischen Helden ist, für den die christliche Eschatologie eine lebendige, echte Realität und eine zwingende Motivationsquelle ist. Es wäre nicht ganz falsch, ihn „fromm“ zu nennen. 142 - Hamlet und La Princesse de Clèves ben nach Reinheit als Zuflucht vor der natürlichen Zersetzung anzuregen. Dies ist das Register, in dem Hamlet anscheinend gegen einen Humanismus à la Pico gerichtet erklärt, What a piece of work is a man, how noble in reason, how infinite in faculties, in form and moving, how express and admirable in action, how like an angel in apprehension, how like a god! [...] and yet to me what is this quintessence of dust? (2.2.303-8) Was für ein Werk ist doch ein Mann! wie edel an Verstand! wie unbegrenzt an Fähigkeiten! an Gestalt und Bewegung wie feingefügt und bewundernswert! an Taten wie gleich einem Engel! an Ahnung wie gleich einem Gott! [...] Und doch, für mich: Was ist die Quintessenz des Staubes? (219) Sein Kommentar kurz davor: “our monarchs and outstrech’d heros are beggars’ shadows” gehört zu dem gleichen Register (2.2.263-64) [unsere Monarchen und geblähten Helden sind der Bettler Schatten; 218]. Diese beiden Bemerkungen sagen einerseits das Gleiche wie die vorher von mir diskutierten Aussagen. Der Mensch, der „wie ein Gott“ ist, steigt zum Staub herab, ebenso wie die Sonne das Aas küsst. Ein König ist nur der Schatten eines Bettlers und wird vielleicht dessen Innereien durchlaufen. Aber „Staub“ und „Schatten“ vermitteln nur den Abstieg des Hohen oder die Unwesentlichkeit weltlichen Ruhmes, überaus konventionelle topoi der literarischen Reflektion über die Eitelkeit des menschlichen Lebens. Diese Reflektionen funktionieren daher als ein Prophylaktikum gegen die Verschmutzung durch jenen Gedanken, der Hamlet verfolgt und den er zu fliehen sucht - dem Gedanken an den Ekel erregenden, entwürdigenden Charakter der Organizität, durch welche der Ruhm seinen Weg zum Staub nehmen muss. Eben dadurch wird die Reinheit der Trauer über jede philosophische oder religiöse Prophylaxe hinaus verschmutzt. Das verlorene Objekt kann internalisiert werden, in seiner Idealität im Gedächtnis bewahrt werden, aber wie kann man mit diesem unausweichlichen Rest umgehen, diesem Ding der Fäulnis, das kein Konzept der Idealität und kein Schachzug dialektischen Denkens retten kann? Es muss ganz einfach komplett ausgeschlossen werden - durch eine vollkommen undurchdringbare Grenze von dem Reich der Liebe getrennt werden. Die Trauerriten, die, wie Hegel erklärt, eigentlich von der Familie durchgeführt werden müssen - bei denen der Verstorbene in der richtigen Weise von einer Frau betrauert wird, was Hegel nicht erklärt - sind notwendig, um die Substanz des Toten von der Auflösung durch Würmer und Wasser, „den bewusstlosen Begierden und abstracten Wesen“ 7 der Natur zu bewahren. Aber 7 G. W. F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Felix Meiner, 1999 (Hauptwerke in sechs Bänden, Bd. 2). 245. Vgl. Kapitel 7 für eine weitere Diskussion dieser Passage in der Phänomenologie. Hamlet und La Princesse de Clèves - 143 das alles kommt aus dem Lot, weil Gertrude ihrer Pflicht der trauernden Erinnerung des anderen Hamlet nicht nachkommt. Es ist entscheidend für die Geschichte, dass Gertrude nicht nur mit Claudius schläft, sondern auch, dass sie dies verfrüht tut und damit die heilige Zeit entweiht, während derer sie noch zu ihrem toten Ehemann gehören sollte. Der entstehende Bruch in Hamlets Bewusstsein wird durch den doppelten Schlag der verletzten Trauer und des sexuellen Verrats verursacht. Der zeitliche Zusammenfall dieser beiden enthüllt die tiefe Beziehung zwischen ihnen, und das Feld der thanato-erotischen Beunruhigung wird in noch nie dagewesener Weise unserer Untersuchung zugänglich gemacht (vgl. die Diskussion von La Princesse de Clèves weiter unten). Solange der Gedanke der Sexualität nicht auftaucht, kann die zersetzende Wirkung des Gedankens vom Körper der Auflösung kontrolliert werden; die Sexualität ist die Vorhut von den „bewusstlosen Begierden“ der Natur, welche an der Substanz der kulturellen Ideale nagen, solange der Körper noch am Leben ist. Die Geschlechtskrankheit, eines der bei Shakespeares verbreitetsten Bilder, funktioniert als materielle Verbindung zwischen dem Körper der Auflösung und dem Körper der Liebe. So bemerkt der Totengräber, dass er viele “pocky corpses” begräbt, die schon vor ihrem Tod verrottet seien (5.1.166-67) 8 . Umgekehrt hält „das Prinzip der keuschen Treue“ (Marilyn French) der Frauen die Macht der siegreichen Verderbtheit in Schach, die durch die venerische Fäulnis dargestellt wird. Wenn daher ein Mann stirbt, fällt der feminine Imperativ der keuschen Treue mit dem der Trauer zusammen oder wird identisch mit diesem, und wenn Gertrude diesen doppelten oder einzelnen Imperativ verletzt, wird die Barriere gegen das überdeutliche Bewusstsein von der Materialität des Körpers in Hamlets Vorstellung auf eine Weise durchbrochen, gegen die keine Verteidigung mehr möglich ist. Denn der Sohn wird nicht nur selber geschändet/ schändet selber, “crawling between earth and heaven” [„zwischen Erde und Himmel kriechend“], er ist nicht nur die „Sonne“, durch welche Ophelia empfangen könnte: wenn das der Fall wäre - wenn die Tatsache, dass der Körper der Auflösung dem Körper der Liebe innewohnt, nur eine Sache der Entfesselung sexueller Lust wäre - dann könnte Hamlet sich selber durch die Praxis der vernunftbestimmten Zurückhaltung reinigen, zu welcher er in der Schlafzimmerszene seine Mutter ermahnt. Aber wie Hamlet gesagt hat, “nature cannot choose his origin” (1.4.26) [die Natur [kann doch] nicht ihren Ursprung wählen“ (S. 198)], und kein Akt der Selbstreinigung Hamlets kann die Tatsache rückgängig machen, dass er den unreinen Lenden Gertrudes, dem “rank sweat” [geilen Schweiß] ihres “enseamed bed” [glitschigen Bettes] (3.4.92) [S. 252] entstammt. Die sexuelle Verderbtheit gehört von Anfang an zu Hamlet, von 8 Zur Häufigkeit von Hinweisen auf Geschlechtskrankheiten und ihre Auswirkungen auf den Körper in Shakespeares Stücken vgl. Frankie Rubinstein. “They Were Not Such Good Years.” Shakespeare Quarterly 40 (Spring 1989). 70-74. 144 - Hamlet und La Princesse de Clèves dem (wie er glaubt) dunklen und lasterhaften Ort an, an dem er gezeugt wurde. Das Leben selber gehört zu den Mächten, welche vom Leben abgegrenzt werden müssen - das ist der Hamlet quälende Gedanke, der Gedanke, den er immer weiter ausführen muss, ohne ihn jedoch in eine Ökonomie des weitergehenden Lebens integrieren zu können. Hamlet mag in Ophelias Grab springen, wenn er sich zum Dänen erklärt, oder er mag die Vorsehung anrufen, wenn er sich in sein Schicksal ergibt (5.2.219-24/ S. 293), aber seine philosophische oder religiöse Resignation gehört zu seiner Unfähigkeit, das weitergehende Leben zu bejahen, welches sich fortpflanzt wie die Maden in einem toten Hund. Hamlet seziert also auf ganz ökonomische Weise die strukturelle oder logische Grenze dieses Buches, die Frage der essentiellen Verbindung zwischen dem sexuellen Körper und dem Körper der Verwesung. Wenn wir den Eros im Sinne der Genre-Einteilung von Komödie/ Tragödie betrachten, ist Andreas Capellanus’ Beschreibung in den ersten beiden Büchern von De Amore sicherlich komisch. Gerade die Eifersucht, welche in einem tragischen Kontext - zum Beispiel in Othello - der Auslöser der Tragödie ist, wird von Andreas Capellanus als „Mutter und Amme der Liebe“ zwischen höfischen Liebenden betrachtet, denn ohne Eifersucht „kann keine wahre Liebe existieren“. 9 Capellanus steht dem satirischen Geist Ovids näher als Bernart de Ventadorm oder Arnaut Daniel. So listet Capellanus in einem Abschnitt mit dem Titel „Wie die Liebe enden kann“ lapidar die verschiedenen Möglichkeiten auf, einschließlich dieser: „Eine alte Liebe endet auch, wenn eine neue beginnt“ (156). Der von Madame de Lafayette beschriebene höfische Schauplatz von La Princesse de Clèves, wo praktisch jeder dabei ist, einen neuen Liebespartner zu suchen, einen alten abzulegen oder den gegenwärtigen zu betrügen, kommt in seiner libidinösen Beweglichkeit Capellanus’ Meinung über die Liebe nahe. Aber der Tod dringt wiederholt in die Permutationen dieses Kombinatoriums ein. 10 Folglich lohnt sich das Spiel der Liebe für Madame de Clèves nie; jede 9 Andreas Capellanus, The Art of Courtly Love. Ins Engl. übers. von John Jay Parry. New York: Frederick Ungar, 1941; Neudruck 1959. 70-74. 10 Denis de Rougement hat La Princesse die letzte „Flamme“ genannt, „schwach und rein“, welche der Mythos der höfischen Liebe entzünden würde, dessen Hauptbeispiel Rougemont im Mythos von Tristan und Isolde sah (Love in the Western World. Übers. von Montgomery Belgion. Princeton: Princeton University Press, 1983. 196). Die Linie, die Rougement von den Troubadouren bis zu La Princesse zeichnet, erscheint mir in ihren Grundzügen plausibel. Für eine detaillierte Analyse der Konventionen der höfischen Liebe innerhalb des Romans selber vgl. Jules Brody, “La Princesse de Clèves and the Myth of Courtly Love.” University of Toronto Quarterly 38 (1969). 105-35. Ein jüngeres interessantes Buch zu diesem Roman formuliert die Frage der höfischen Regel der Distanz im Sinne Lacans neu: Jean-Michel Delacomptée interpretiert den Konflikt zwischen Leidenschaft und Ehe als „le caractère symbolique de l’alliance confronté à l’imaginaire du rapport passionel“ in seinem La Princesse de Clèves: la mère et le courtisan. Paris: Presses Universitaire de France, 1990. Hamlet und La Princesse de Clèves - 145 erotische Investition ist für sie von Anfang an zu ernst und schmerzhaft, um dabei irgendein Risiko einzugehen. Eifersucht (die „Mutter und Amme der Liebe“ bei Capellanus) ist für diese junge Frau die äußerste Qual, das „schlimmste Übel“, und ihr erster Geschmack davon bestärkt sie in ihrer Überzeugung, sich der Gefahr des ultimativen Schmerzes nicht auszusetzen. 11 Dieser ultimative Schmerz wird in ihrer und unserer Vorstellung durch die Geschichte dargestellt, welche ihr Ehemann ihr über zwei andere Liebende erzählt, Monsieur Sancerre und Madame de Tournon. Diese Geschichte enthält ein überwältigendes Exposé der Arglist des höfischen Liebenden, und sie wird der Fokus meiner Diskussion des Romans sein. Madame de Clèves’ erotisches Wesen wird durch die höfische Ideologie geformt, welche scharf zwischen der Rolle der Ehefrau und der der Geliebten trennt. Als Ehefrau von Monsieur de Clèves kann sie daher - innerhalb bestimmter Grenzen - eine Beziehung wahrer Freundschaft und gegenseitiger Achtung zu ihm haben 12 ; als Geliebte oder domna kann sie für ihren Verfolger, Nemours, das Objekt einer unwiderstehlichen und ewigen erotischen Passion sein. Angesichts des Charakters von Madame de Clèves besteht keine Möglichkeit, dass sie ihre Rolle als Geliebte körperlich vollzieht, aber dies wäre innerhalb der bei Hofe akzeptierten erotischen Regeln erlaubt. Wie in Capellanus oder den höfischen fin’amors ist der sexuelle Vollzug einer Liebesbeziehung mit fortdauernder Leidenschaft vereinbar, solange diese heimlich, schwierig und unsicher bleibt. Dies ist bei Sancerre und Madame de Tournon der Fall: sie hat ihn in ihr Bett gelassen, aber wehrt seinen Wunsch nach dauerhaftem Besitz durch eine Heirat mit ihr weiterhin ab. Die ideologische/ psychologische Trennung zwischen der Geliebten und der Ehefrau kann daher eine sexuelle Beziehung ermöglichen, welche von großer Intensität ist und dennoch innerhalb sorgsam kontrollierter Grenzen gehalten werden kann, weil die Idealisierung der Frau durch den Mann nicht durch wahre eheliche Nähe getestet wird. Die erotische Verausgabung des Selbst wird begrenzt durch die geistige Spaltung der Geliebten in einen Teil, der berührt wird (die Frau als erotisches Objekt), und einen Teil, welcher nicht berührt wird (die Frau als ganzes Subjekt). Es ist diese Spaltung, welche in der eingeschobenen Geschichte vom Tod der Madame de Tournon und dem Schmerz ihres Liebhabers einer strengen und ironischen Prüfung unterzogen wird. Madame de Lafayette legt hier die miteinander verschränkten Mechanismen der Idealisierung und der Schmähung in der höfischen Liebe bloß, so wie sie sich im Kontext der Trauerproblematik abzeichnen. 11 Madame de Lafayette. La Princesse de Clèves et autres romans. Paris: Éditions Gallimard, 1972. 155. 12 Monsieur de Clèves ist ebenfalls geteilt: in einen Ehemann und einen Liebhaber. Er ist nach Meinung seiner Frau der einzige Mann, der beides für die gleiche Frau sein kann. Aber als Liebhaber unterliegt er einer Eifersucht und fehlenden Offenheit ihr gegenüber, was die Freundschaft aufhebt, welche er als Ehemann angeblich mit ihr teilt. 146 - Hamlet und La Princesse de Clèves Wir können sagen, dass Madame de Lafayette mit dieser Erzählung einen alternativen Weg entwirft, weg von dem der Troubadoure zu dem Dantes; sie stellt den Tod der Geliebten im Kontext absoluter Nichttranszendenz dar, als ironische Auflösung der idealisierenden Mechanismen. Vor allem erkennt Madame de Lafayette mit beispielloser Klarheit die Struktur der vergeltenden Verstoßung, und sie verbindet deren Kreislauf so geschickt mit dem der idealisierenden Trauer, dass der Schmerz über den Betrug sich für immer mit dem der Trauer verbindet, wobei jeder der beiden den anderen intensiviert und so etwas wie die perfekte Hölle für den gleichzeitig idealisierenden und schmähenden Liebhaber schafft. „Ich erlebe zugleich den Schmerz über ihren Tod und über ihre Untreue“, sagt Sancerre, „dies sind zwei Übel, welche oft miteinander verglichen wurden, aber niemals sind sie gleichzeitig von derselben Person gefühlt worden“ (185). Die Idealisierung des Liebesobjekts ist wie dessen Schmähung ein Versuch, absolute Sicherheit in die libidinöse Beziehung einzuführen. Madame de Tournon ist daher für Sancerrre „das Vollendeste, das jemals existiert hat“ (183). Diese Idealisierung schützt ihr Bild nicht nur vor dem Makel möglicher Falschheit, sondern es ermöglicht diesem Bild auch, bis zu einem gewissen Grad der zersetzenden Macht des Todes zu widerstehen. Weil ihr Bild in Sancerres Geist absolut rein und perfekt bleibt, erlebt er ihren Tod als absoluten Verlust: ewige Trennung von dem vollendesten Objekt. 13 Aber obwohl der absolute Verlust in gewissem Sinne seinen Schmerz bis an die höchste Grenze erhöht, hat dieser Schmerz den Charakter perfekter Trauer - Trauer, die absolut unbefleckt ist, weil ihr Objekt so idealisiert ist, dass es gegenüber jeder Art von Verdorbenheit geschützt ist (Verdorbenheit physischer oder moralischer Art: für die Angst sind diese miteinander identisch). In diese Szene perfekter Trauer dringt die Entdeckung von Madame de Tournons Untreue ein - und sie war auf besonders tiefgehende und berechnende Weise untreu. Aber das verinnerlichte Bild des verlorenen Objekts ist nun gegenüber jeder entstellenden Berührung versiegelt, transzendentalisiert durch den Tod. Sie existiert nun als ein geistiges Objekt und ist durch die idealisierenden Tendenzen der Trauer unveränderlich als perfekt definiert. Und dennoch ist auch das Wissen um ihre Untreue unausweichlich. „Hätte ich vor ihrem Tod von ihrer Sinnesänderung erfahren, hätten mich Eifersucht, Wut und Zorn erfüllt und mich in mancher Weise gegen den Schmerz über ihren Verlust verhärtet“, erklärt Sancerre (183), d.h. er hätte die Strategien präventiver Verstoßung ins Spiel bringen können. Dies ist nicht geschehen; zu dem Zeitpunkt ihres Todes war er noch nicht verhärtet und ihr Verlust hat daher eine unschließbare Wunde geöffnet, durch welche sein ganzes Wesen rückhaltlos zu ihr fließt. Aber dieses gleiche Objekt, das durch seine Vollendung und perfekte 13 Der absolute oder vollkommene Verlust und der damit einhergehende Schmerz wären daher die exakte Kehrseite des absoluten Besitzes und der damit einhergehenden Glückseligkeit der ewigen Nähe zum absolut perfekten Objekt (wie bei Platon). Hamlet und La Princesse de Clèves - 147 Treue sein ganzes Wesen geöffnet hat, wie der Jesus des Johannes das Wesen seiner Jünger geöffnet hat, ist gleichzeitig das verräterischste Objekt von allen, so dass der Schmerz über den Verlust durch den Schmerz über den Betrug bis auf das Äußerste gesteigert wird. Sancerre erfährt diesen absoluten Konflikt von Betrug und Verlust, weil er das Bild der Madame de Tournon so sehr idealisiert hatte. „Die vollendeste“, „die treuste“ - dies sind ideale Prädikate, welche nicht auf sterbliche Wesen angewandt werden können. Das soll nicht heißen, dass der Schmerz für einen realistischeren Liebenden, der eine ähnliche Entdeckung machte, erträglich wäre. Es wäre vielleicht nicht viel anders, aber es gäbe nicht die vollkommen klare Trennung zwischen dem „guten“ Objekt, das stirbt, und dem „schlechten“, das untreu ist. Aber die beiden werden von Madame de Lafayette nur getrennt, um sie wieder zusammenzufügen, so dass die beiden Typen schmerzvollen Gefühls („der Schmerz über den Tod“, „der Schmerz über den Betrug“) zusammen erlebt werden können. Die Strategie der Schmähung und präventiven Verstoßung wird explizit als eine Schutzmaßnahme gegen Trauer aufgerufen („hätten mich Eifersucht, Wut und Zorn [...] verhärtet“), aber die Idealisierung des toten Objekts, welches das Gegenteil der Schmähung zu sein scheint, ist ebenfalls eine Verteidigungsstrategie. Perfekte Trauer ist triumphierend, weil sie gegen die von der Untreue ausgehende moralische Auflösung, geschützt ist, auch wenn der ausgelöste Schmerz fast unerträglich ist. Die Dissoziation des Schmerzes über den Tod vom Schmerz über die Untreue ist daher auf der Figurenebene durch Misstrauen motiviert. Die Bedrohung durch die erotische Beziehung wird durch die extremste Form der Idealisierung begrenzt. Der gesamte Roman ist eine beißende Kritik an der höfischen Liebe als einer Liebe, die durch Distanz und Aufschub am Leben gehalten wird, und an der Ambivalenz, welche die Schmähung der Frau zur Kehrseite ihrer Idealisierung macht. 14 Aber es ist in der Sancerre-De Tournon-Erzählung, in welcher die betroffenen libidinösen Strukturen besonders klar und tiefgehend untersucht werden. Der zweifelhafte Charakter des Impulses, der zwischen dem Schmerz des Todes und dem der Untreue trennt, und die Stärke der Ironie, durch welche die beiden in diesem Roman wieder zusammengeführt werden, deuten daraufhin, dass Madame de Lafayette die Beziehung zwischen ihnen als enger und unauflöslicher betrachtet, als eine logische Analyse ihrer Unterschiedlichkeit nahe legen mag. Wahrscheinlich hängt diese Verbindung von dem Kontext eines spezifischen Ethos ab - einem Ethos, in welchem Untreue eine intensive emotionale Bedeutung hat - und dass sie nicht in jedem kulturellen Rahmen besteht. Aber überall wo Untreue diese gefühlsmäßige Aufladung bekommt, 14 „Ich liebe dich, ich hasse dich“, sagt Monsieur Clèves an einer Stelle zu der Prinzessin, „Ich beleidige dich, ich bitte dich um Verzeihung. Ich bewundere dich, ich schäme mich meiner Bewunderung“ (277). 148 - Hamlet und La Princesse de Clèves wie spätestens seit den Troubadouren in der europäischen Literatur, wird sie Teil der Trauerproblematik. Natürlich ist „Untreue“ (das Wort ist ein Anachronismus) schon ein Thema in der griechischen Literatur, wie etwa der berühmte Fall von Helena zeigt. Die Griechen scheinen Untreue weniger leicht genommen haben als es die Römer laut Paul Veyne taten 15 , dennoch scheint die Frage weder durch die Römer noch durch die Griechen intensiv „psychologisiert“ worden zu sein. Seit den Troubadouren aber geht es nicht mehr nur darum, dass ein anderer Mann den Körper der Frau genießt (eine Situation, welche in den berühmten Beispielen der Troubadourlyrik, in welchen die Herrin verheiratet ist, tatsächlich vorausgesetzt wird), oder um die soziale Demütigung, die damit verbunden ist, sondern um das Zusammenspiel dieser Faktoren mit dem Problem der inneren Geistesbewegungen der Frau. 16 Treue in diesem tiefen Sinne 15 Laut Veyne war es unter den Römern einer Frau unmöglich, „ihren Herrn und Meister zu beschämen. Wenn das der Fall gewesen wäre, wären Cato, Caesar und Pompeius alle berühmte Hahnreie gewesen. Ein Mann war der Herr seiner Ehefrau, ebenso wie er der Herr seiner Tochter und der Dienstboten war. Wenn seine Frau untreu war, wurde der Mann dadurch nicht zum Gespött. Untreue war Pech. [...] Wenn eine Ehefrau ihren Mann betrog, wurde dieser für seinen Mangel an Wachsamkeit kritisiert und dafür, dass er durch seine Schwäche einen Ehebruch in der Stadt ermöglicht hat. [...] Ein Ehemann oder Vater konnte eine solche Beschuldigung nur dadurch vermeiden, indem er selber als erster jegliches Fehlverhalten der Mitglieder seiner Familie öffentlich machte.“ The History of Private Life. Bd. 1: From Pagan Rome to Byzantium. Hg. von Paul Veyne. Cambridge, Mass.: Belknap Press, 1987. 39. Bei allem Respekt für Paul Veyne, dessen Autorität auf diesem Gebiet ich nicht bestreite, möchte ich doch eine gewissen Skepsis anraten, wenn erklärt wird, dass es in einer bestimmten Kultur einer Frau unmöglich war, „ihren Herrn und Meister zu beschämen“. 16 Es ist natürlich unmöglich, eine einfache Grenze zwischen „innen“ und „außen“ zu ziehen: beide sind immer auch von dem anderen kontaminiert. Selbst wenn Frauen in besonders extremer Weise als Besitzgut behandelt werden, wie es etwa im klassischen Athen der Fall war, existiert notwendigerweise die Sorge um ihre „Innerlichkeit“ (in roher Form) schon. Das wird in einer Rede des Lysias deutlich, welche dieser für einen Mann geschrieben hat, der des Mordes am Verführer seiner Frau angeklagt war. Darin betont Lysias, dass die geistige „Korruption“ einer Frau schlimmer sei als die körperliche Verletzung eines freien Mannes oder Jungen. Das hänge damit zusammen, dass in ihrer willentlichen Untreue die Möglichkeit unsicherer Vaterschaft liege: „Daher, meine Herren, hat der Gesetzgeber gemeint, dass diejenigen, welche Gewalt anwenden, eine geringere Strafe verdienen als diejenigen, welche Überredungskunst gebrauchen. Letztere werden zum Tod verurteilt, während die ersteren den doppelten Schadenersatz zahlen müssen, da diejenigen, welche ihr Ziel durch Gewalt erreichen, von den gezwungenen Personen gehasst werden, während diejenigen, welche Überredungskunst gebrauchten, dadurch die Seelen ihrer Opfer verdorben haben, indem dadurch die Ehefrauen anderer Männer ihnen mehr anhingen als ihren Ehemännern, und sie so das ganze Haus in ihre Hand bekommen haben und Unsicherheit schufen, wessen die Kinder eigentlich waren.“ “On the Murder of Eratosthenes”. In: Loeb, Lysias. Ins Engl. übers. von W. R. M. Lamb. New York: G. P. Putnam’s Sons, 1930. 32-33 (Stephanus, 94-95). Hamlet und La Princesse de Clèves - 149 bedeutet, dass das Wesen der liebenden Frau auf den Geliebten gerichtet ist, und, im äußersten Falle, dass sich ihr Wesen ihm gegenüber uneingeschränkt ausgießt. In diesem Sinne ist die Madame de Clèves ihrem Manne tatsächlich untreu, da sie dem Bild von Nemours einen Platz in ihrem Geist einräumt, der jenem gehören sollte: eine geistige Beziehung, welche in jener berühmten Szene sichtbar gemacht wird, in welcher sie das Portrait von Nemours leidenschaftlich bewundert, während er sie ungesehen von seinem Versteck aus beobachtet. Die besitzergreifende Natur des modernen Liebenden scheint prüfender und anspruchsvoller zu sein als die des antiken Liebenden; es ist eine endlose und nicht zu entscheidende Spekulation über das Innere der Geliebten, in der Suche nach der absoluten Versicherung der Treue in den Tiefen ihrer Subjektivität. 17 Oder der Seinigen, aber es ist vor allem der männliche Gesichtspunkt, der dargestellt wird. “But yet, be true! ”: die Wiederholung dieser Ermahnung von Shakespeares Troilus an Cressida ist eine Note, die im libidinösen Wesen einer Ära widerklingt, welche unsere eigene Zeit miteinschließt. 17 Vgl. Toril Moi. “Desire in Language: Andreas Capellanus and the Controversy of Courtly Love, in Medieval Literature: Criticism, Ideology and History”. Hrsg. David Aers. New York: St. Martin’s, 1986. 11-33, bes. 26-27. 6. Kapitel Adams Entscheidung: Paradise Lost In Paradise Lost ist Milton, was die Frage des Eros angeht, unentschieden. Einerseits steht er kompromisslos hinter der christlichen Metaphysik und Axiologie, welche die erotische Verbindung mit einem sterblichen Wesen der Liebe zu Gott unterordnet; aber gleichzeitig ist er fasziniert von einer Vorstellung der ehelichen Liebe, wie sie letztlich nicht mit den in Paradise Lost wiederholten Anforderungen des Christentums zu vereinbaren ist. Meine Überlegungen hier gehen von einer einzelnen Zeile aus, einer Zeile, die den Endpunkt von Miltons Abstieg in das Rätsel des sexualisierten Wesens darstellt. In dieser Zeile erklärt Adam, der gerade von Evas Ungehorsam erfahren hat, seine Entschlossenheit, den Sündenfall mit ihr zu teilen: […] if Death Consort with Thee, Death is to mee as Life. (9.953-54) 1 […] Bist du dem Tod genehm, so ist der Tod / Mir wie das Leben. (9.1201-02) 2 Diese Zeile greift das grundlegende Thema der traditionellen thanatoerotophoben Misogynie wieder auf, derzufolge der Mann durch seine Empfänglichkeit für die erotische Anziehungskraft der Frau in den Tod gezogen wird. Wenn Adam, indem er den Tod in das Leben uminterpretiert, hier entgegen der Tradition eben das bejaht, was jene ablehnt, dann sollen wir dies zweifellos mit Abscheu betrachten, sollen wir in dieser Akzeptanz des Todes nur die sündhafte Blindheit eines in den Klauen des sterblichen Eros gefangenen Wesens erkennen. Und dennoch: diese Worte, wenn sie ehrlich gemeint sind - und Adam muss sie mit der letzten Faser seines Wesens meinen, wenn er sich so 1 Zitiert nach folgender Ausgabe: John Milton. Complete Poems and Major Prose. Hrsg. Merritt Y. Hughes. New York: Macmillan, 1957. 2 Deutsche Übersetzung zitiert nach: John Milton. Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen übertragen und herausgegeben von Hans Heinrich Meier. Stuttgart: Reclam, 1968. 152 - Paradise Lost entscheidet, wie er es tut -, würden den Knoten jener Abscheu vor dem organischen Sein durchtrennen, der hinter dem Drang zur Transzendenz steht. Der platonische und der christliche Transzendentalismus behandeln den Tod als eine Kontingenz, als etwas, was das Leben von außen heimsucht, aber dessen Essenz nicht berührt. Diese Essenz kann also im Prinzip immer aus ihrer Verwicklung mit dem Tod herausgelöst werden. Aber gleichzeitig wird die idealisierende Tradition von dem Gefühl verfolgt, dass der Tod sich in das innerste Heiligtum des Lebens gegraben hat, dass der Tod nicht etwas ist, das beginnt, wo das Leben endet, sondern vielmehr, dass er dem Leben in jedem Moment innewohnt, dass er die Selbstverzehrung der Flamme des Lebens selber ist. Das platonisierende Christentum definiert daher das organische Leben als Tod. Aber wenn gemäß dieser Vorstellung das Leben der Tod ist, dann bedeutet das nicht, dass der Tod das Leben ist, sondern dass das Leben nicht wirklich Leben ist. Was wir fälschlicherweise Leben nennen, organisches Leben, ist nur ein ungefähres Zeichen für eine transzendente Wirklichkeit, deren Wesen den Tod absolut von sich weist. Diese Vorstellung droht jedoch durch Adams Worte an Eva zerstört zu werden. Laut James Grantham Turner ist Milton der erste in der christlichen Tradition stehende Schriftsteller, der Eva und Adam schon vor dem Sündenfall sexuelle Aktivität zuschreibt. 3 Augustinus und andere hielten Sex vor dem Sündenfall für theoretisch möglich, aber unrealisiert, wahrscheinlich weil der Sündenfall so bald nach der Schöpfung geschah. Aber wie Turner bemerkt, bringt Milton, indem er die von der Tradition bereitgestellte Möglichkeit ausführt, die „inhärenten Widersprüche“ ans Licht, welche in früheren Darstellungen unbemerkt bleiben konnten. Milton müsse uns nun also davon überzeugen, dass Eva und Adam „sowohl sexuell und unschuldig, [...] sowohl vollkommen als auch zur Sünde bereit“ seien (287). Damit bringt Turner uns bis an die Schwelle des Problems, um das es uns hier geht. Aber selbst der umfangreiche von Turner gelieferte literarisch-theologische Kontext reicht nicht aus, um alle die Fäden heterogener Textualität zu entwirren, die in den entscheidenden Passagen miteinander verwickelt sind, den Passagen also, welche Adams erotische Bindung an Eva beschreiben. Sie sind von der Sprache erotischer Idealisierung beeinflusst, die Milton direkt von Dante und Petrarca und indirekt durch jene als „höfische Liebe“ bekannte Tra- 3 James Grantham Turner. One Flesh: Paradisal Marriage and Sexual Relations in the Age of Milton. Oxford: Clarendon Press, 1987. 79. Turners Buch ist Pflichtlektüre für alle, die sich für das Problem des Eros in Paradise Lost oder Milton überhaupt interessieren, aber der entscheidende theologische Hintergrund kann im 2. Kapitel, „The Incorporation of Eros“, nachgelesen werden. Turner präsentiert hier einen detaillierten Überblick über die Evolution der christlichen Ansichten zur Sexualität, von Augustinus bis zu den utopischen sexuellen Theorien gewisser protestantischer Radikaler im 17. Jahrhundert, zu denen Miltons eigene Vision der Ehe „eine komplexe und problematische Beziehung“ hat (75). Paradise Lost - 153 dition geerbt hat, deren Wurzeln bis zu Ovid zurückreichen. 4 Dies ist die Tradition erotischer Idealisierung, die Milton selber in der Apology for Smectymnuus als Rahmen für sein poetisch-erotisches Projekt benennt. Wie er dort erzählt, wandte er sich nach seiner anfänglichen Begeisterung für die „elegischen Dichter“ und dann vor allem für Dante und Petrarca, den höfischen Romanzen zu, danach Platon und schließlich der Doktrin christlicher Keuschheit. Wir wissen von seinen lateinischen Elegien und italienischen Sonetten wie gründlich Milton die Formen und die Sprache der „elegischen Dichter“ internalisierte. Auf einer ganz konkreten Ebene hat er sein Handwerk von ihnen gelernt. Aber da die Tropen klassischer Poesie, mit denen er als Student umzugehen lernte, sehr häufig auch Tropen libidinöser Überschwänglichkeit waren, machte seine dichterische Lehrzeit ihn von Anfang an mit dem linguistischpoetischen Problem bekannt, das die Säuberung der Sexualität darstellt. Obwohl Milton in der Apology for Smectymnuus ein gereinigtes Bild der keuschen Idealisierungen Dantes und Petrarcas wiedergibt, lässt sich zeigen, dass ihm die ambivalente Komplexität der Liebe in Petrarcas Rime durchaus bewusst war. F. T. Prince hat darauf hingewiesen, dass die Form von Miltons canzone “Upon the Circumcision” sehr genau der Vorlage von Petrarcas 366. Gedicht folgt, 5 dem letzten Gedicht der Rime, das die in vielen der früheren Gedichte gefeierte Liebe grundlegend problematisiert. Da Milton, wie Prince bemerkt, weder vorher noch nachher ein solch komplexes formales Schema noch einmal versuchte, könne dieses Gedicht eine besonders problematische Konfrontation markieren. Das 366. Gedicht ist an die Jungfrau Maria gerichtet und stellt eine Palinodie oder Widerrufung der irdischen Liebe des Sprechers dar, die nun als „blinde Leidenschaft, welche hier unter törichten Sterblichen brennt“ (20-21) bezeichnet wird. 6 „Sterbliche Schönheit, Taten und Worte haben meine Seele beladen“, klagt der Sprecher, „meine Tage [...] sind in Elend und Sünde verstrichen“ (70-91), und er bittet um den Beistand der Jungfrau bei seiner Suche nach Erlösung („empfehle mich deinem Sohn“ (135)). Aber es ist das Bild der Wunden Christi, durch das der Sprecher das Mitleid der Jungfrau für sich zu erwecken sucht: „Jungfrau, wende diese schönen Augen, welche mit Schmerz die erbarmungslosen Wunden an den süßen Gliedern deines lieben Sohnes gesehen haben, auf meinen gefährlichen Zustand“ (22-25), „Mutter des Königs, [...] bei dessen heiligen Wunden ich dich bitte, mein Herz zu besänftigen“ (47- 52). Der Moment in Petrarcas canzone, in dem die „erbarmungslosen“ Wunden Christi zum Fokus für das Gebet des Liebenden werden, wird für Milton 4 Vgl. die Diskussion der höfischen Liebe in Kapitel 4. 5 F. T. Prince. The Italian Element in Milton’s Verse. Oxford: Clarendon Press, 1954. 61-63. 6 Petrarch’s Lyric Poems. Hrsg. und ins Engl. übers. v. Robert M. Durling. Cambridge: Harvard University Press, 1976. 574-83. 154 - Paradise Lost zum Ausgangspunkt seines Gedichtes. Als wenn ihm die Geduld für die mystifizierende Rhetorik Petrarcas fehle, geht Milton jedoch direkt auf das von Petrarca nur Implizierte zu, wenn er die Frage nach den Kreuzigungswunden Christi auf deren Vorwegnahme durch die Beschneidung zurückbezieht. Milton betont damit, was im Gedicht Petrarcas bloß angedeutet wird, dass nämlich das Verletzten des Fleisches Christi ein Bild für die erotische Qual des Sprechers ist; die Beschneidung lokalisiert ganz präzise die spezifische Sündhaftigkeit des Fleisches, an der Petrarca leidet. 7 Darin lässt sich die Absage Miltons an die höfischen Ausschmückungen von Petrarcas Trauer ob seiner abwegigen erotischen Leidenschaft sehen. “On the Circumcision” zielt direkt auf die fundamentale, erbärmliche Wirklichkeit, welche in Petrarcas Gedicht im Hintergrund bleibt: das Bild des kindlichen Phallus, der in Sühne für die schuldhafte Sexualität der (vorherrschend männlichen) Menschheit unschuldig blutet. 8 7 Leo Steinberg hat in seinem wunderbaren Buch The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion. New York: Pantheon, 1983 dokumentiert, wie sehr die Frage nach dem Menschsein von Christus und die Betonung seiner Genitalien als Beweis dieser Menschlichkeit die Renaissance beschäftigt hat. Zu der spezifischen Bedeutung von Christus’ Beschneidung für die Renaissance vgl. S. 50-72. Steinberg weist daraufhin, dass Crashaws Sonett über die göttliche Beschneidung im gleichen Jahr wie Miltons Gedicht geschrieben wurde. 8 Auch Petrarcas Gedicht macht ein genau bestimmtes anatomisches Interesse deutlich. Petrarcas Aufmerksamkeit gilt allerdings nicht den schuldigen Geschlechtsteilen des Mannes, sondern der Vision weiblicher Geschlechtsteile, deren Reinheit selbst das menschliche Fleisch eines echten Mannes (verace omo (Anm. 6, 135-36)) umhüllen kann: Einzigartige Jungfrau, ohne Beispiel in der Welt [...], deren Schönheit den Himmel lieben ließ [...] heilige Gedanken, gnadenreiche und keusche Taten schufen einen geheiligten lebenden Tempel des einzig wahren Gottes in deiner fruchtbaren Jungfräulichkeit (tua verginitá feconda). (56-58) Und noch anschaulicher: „Vergiss nicht, dass unsere Sünden Gott veranlasst haben, zu unserer Rettung menschliches Fleisch in deinem jungfräulichen Kloster anzunehmen“ (umana carne al tuo virginal chiostro (78)). Petrarca spricht von Maria als donna von Christus (48), was im Kontext der höfischen Tradition auffällig nachklingt. Könnte Petrarca den erotischen Witz übersehen haben, welcher in dem Hinweis auf das virginal chiostro, in welchem die Gottheit umana carne annimmt, enthalten ist? Das gleiche Bild war im 12. Jahrhundert in einer Weihnachtsandacht aus Limoges verwendet worden, die als das metrische und melodische Vorbild für eines der derben Lieder von Guillaume de Poitou identifiziert wurde. Laura Kendrick zeigt, dass selbst diejenigen, die das Liederbuch zusammengestellt haben, in welchem der Conductus zu finden ist, den Witz bemerkt hatten. „Sie spielten mit einem Loch im Leder der Seite. [...] Das große, mit Rot umrahmte Loch taucht in einer Zeile auf, welche die Inkarnation beschreibt: [...] In utero virginis·o / carnem sum ( ) sit hominis o·contio [...] („Im Schoß einer Jungfrau, oh, nahm er das Fleisch eines Mannes an. Oh Vereinigung! “)“; Laura Kendrick, The Game of Love: Troubadour Wordplay (Berkeley: University of California Press, 1988), 156. Paradise Lost - 155 Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, wie schnell die Problematik höfischer Idealisierung an Komplexität gewinnt, sobald wir über die Klischees petrarkischer Konventionen hinausgehen. 9 Die beiden canzoni von Petrarca und Milton erinnern uns daran, dass die Sprache der höfischen Liebe in den Händen eines wahrhaft christlichen Dichters die Frage der menschlichen Erotik völlig neu stellt, eben weil sie auf so verstörende Weise mit der Sprache christlicher Andacht verquickt ist. 10 Das höfische, petrarkische Element in Miltons Darstellung von Eva in Paradise Lost kann daher nicht als ein rein oberflächliches Phänomen, als eine bloße literarische Verzierung abgetan werden. Eva ist der Ursprung und die Essenz der Weiblichkeit und das mit der ganzen Ambivalenz, welche die Weiblichkeit für das Christentum im Allgemeinen und für die petrarkische Tradition im Besonderen hat. Da sie teils Petrarcas Laura, teils Jungfrau Maria ist, treibt Eva die grundlegenden Spannungen des höfischen Liebeskomplexes bis an ihre Grenze. Miltons Weiterentwicklung der erotischen Idealisierung seiner Vorläufer lässt sich in einer direkten Linie von seinen italienischen Sonetten 2, 4, 5 und 6 über Comus bis zu Paradise Lost verfolgen. 11 In den Sonetten 2 und 5 mischt Milton ein meiner Auffassung nach neues Element in die Idealisierung seiner sonst so konventionellen donna leggiadra: er macht sie zu einer orphischen Sängerin („so dass selbst die rauen Gebirgsbäume antworten mögen“). Die Hypertrophie der Tugend der Keuschheit in Comus verdeckt die Kontinuität zwischen der Herrin hier und der donna der Sonette zwar zu einem beträchtlichen Maße, aber es ist offensichtlich, dass Milton in Comus eine benachbarte Gegend im Territorium erotischer Verehrung erforscht. Auch diese Herrin ist eine orphische Sängerin: sie atmet „göttliches, verzauberndes Staunen“ (1.245) und ihre „heilige Heftigkeit“ ist von der Art, „dass stumme Dinge zum Mitleid bewegt würden“ (1.796). Ihre Macht über Comus, den sie für unwürdig erklärt, ihre orphische Eloquenz zu hören, ist eine Weiterentwicklung von topoi, welche Milton zuerst im zweiten Sonett entwickelt hat, wo die „alta virtu“ (‚hohe Tugend‘) der Herrin und ihr orphischer Gesang eine solche Kraft haben, dass der indegno (‚Unwürdige‘) gewarnt wird, die Türen seiner Augen und Ohren zu bewachen. Und der unsichtbare Engelskordon der Herrin, der von ihrer 9 Bemerkenswerterweise wird das 366. Gedicht selbst von Robert Durling als „ein Gewebe aus traditionellen Beinamen und Redewendungen zum Lob der heiligen Jungfrau“ abgetan (Petrarch’s Lyric Poems, Anm.6, 574). 10 Vgl. den interessanten Versuch von Sarah Spence, das Begehren und die Rhetorik der Troubadoure in ihrem Bezug auf die augustinische Tradition zu interpretieren: “Rhetorical Anxiety in Troubadour Lyric”. In: Spence. Rhetorics of Reason and Desire: Vergil, Augustine, and the Troubadours. Ithaca: Cornell University Press, 1988. 103-27. 11 Zum Verhältnis zwischen Miltons italienischen Sonetten und Petrarca vgl. den Aufsatz von Lynn E. Enterline. “Myself/ Before Me’: Gender and Prohibition in Milton’s Italian Sonnets”. In: Milton and the Idea of Women. Hrsg. Julia M. Walker. Urbana: University of Illinois Press, 1988. 32-65. 156 - Paradise Lost Keuschheit angezogen wird, um sie vor allem Bösen zu beschützen, ist der Vorläufer von Evas „Größe des Gemüts und Edelsinn“, die „so, / Wie eine Wacht von Engeln um ihr Wesen, / Sie rings umschauernd, eine heilige Scheu [schaffen]“ (8.676-678) [“greatness of mind and nobleness” / “create an awe / about her, as a guard Angelic plac’t” (8.557-59)]. Der entscheidende Moment, in dem Adam seine Liebe zu Eva in der höfischen oder elegischen Sprache der Liebe artikuliert, geschieht in den Zeilen 529-33 des 8. Buches von Paradise Lost. Hier ist das Bild, welches Milton in Bezug auf das Herz des Liebenden im 6. Sonett gebraucht hat: Sol troverete in tal parte men duro Ove Amor mise l’insanabil ago. Nur an einem einzigen Punkt findest du es weniger hart: dort, wo Amors Pfeil unheilbar getroffen hat. Und hier ist Adams Variante in Paradise Lost: […] here passion first I felt, Commotion strange, in all enjoyment else Superior and unmov’d, here only weak Against the charms of Beauty’s powerful glance. […] verspürte hier zuerst / Die Leidenschaft, ein unerhört Gefühl, / Da ich bei allen anderen Genüssen / Wie unbewegt und überlegen bleibe, / Hier einzig schwach, wo mich der Schönheit Glanz / Mit zauberhafter Macht betörend trifft. (8.641-46). Adams erotische Idealisierung von Eva ist der Kern des ganzen Gedichtes, denn wenn er Raphael erzählt, dass er „hier einzig schwach“ ist, benennt er den schwachen Punkt seiner Willenskraft, durch den - aufgrund der durch eben diese Schwäche motivierten Entscheidung - Sünde und Tod in die Welt fließen werden. Milton wählt die Sprache der höfischen Idealisierung und kann vielleicht nur diese wählen, wenn er die Schwäche beschreibt, deren Konsequenz der Sündenfall selber sein wird. Der Engel Raphael erkennt die ihm von Adam gebeichtete Schwäche sofort als strafbar an, und man könnte argumentieren, dass Raphaels Urteil Miltons Zurückweisung der höfischen Liebe demonstriert. Aber Adam hat zuvor etwas zu Gott gesagt, was dieser ihm nicht zum Vorwurf gemacht hat, obwohl es in einer an Petrarca erinnernden Weise den gleichen erotischen Zustand beschreibt, den der Engel kritisiert. Adam beschreibt Gott gegenüber seine Gefühle in dem Moment, als er aus dem Traum von einer noch ungeschaffenen Eva erwacht ist, folgendermaßen: […] what seemed fair in all the world, seemed now Paradise Lost - 157 Mean, or in her summed up, in her contained And in her looks, which from the time infused Sweetness into my hearth, unfelt before, And into all things from her air inspired The spirit of love and amorous delight. She disappeared, and left me dark, I waked To find her, or forever to deplore Her loss, and other pleasures all abjure. (8.472-80) […] alles, was zuvor / So schön erschienen auf der lieben Welt, / Gering nun schien, oder gleichsam in ihr / Zusammen erst gefaßt, in ihr enthalten, / Und ihrem ganzen Bilde, was fortan / Noch nie gekannte Wonne in mein Herz / Und alle Dinge dieser Welt ergoß, / aus ihrem Wesen, und in allem so / Den Geist der Liebe und verliebte Lust. / Sie schwand und ließ mich dunkel; ich erwachte, / Um sie zu finden, oder ewiglich / Ihren Verlust zu klagen und den anderen Genüssen allen abzuschwören. (8.566-78) Adam ist im Paradies, in der Gegenwart Gottes, und dennoch ist sein erotisches Begehren bereits so stark, dass schon ein Moment von Evas Abwesenheit (einer Eva, die er überdies nur in einem Traum gesehen hat) ihn in die Art von erotischer Verzweiflung versetzen kann, die auch den Rime sparse zugrunde liegt. 12 Einerseits spricht die ideale Frau der höfischen Liebe den edelsten Teil in der Natur des Liebenden an und verfeinert diesen weiter. Andererseits stimuliert sie seine libidinösen Triebe und treibt ihn in eine unkontrollierbare Leidenschaft, eine Leidenschaft, die ihr jedoch übel genommen werden kann und daher zu ihrer Diffamierung führt. Bei Dante ist die Herrin so rein, dass das letztere Element gänzlich eliminiert ist und sie ihn bis zur Schwelle der himmlischen Vision führen kann. Aber Dantes Leistung ist in dieser Hinsicht einzigartig, und mit Petrarca kommen wir wieder mit jener Ambivalenz in Berührung, wie sie die Hauptrichtung der Tradition charakterisiert. Wie Turner und Diane McColley für die bildende Kunst und Literatur ausführlich gezeigt haben, wurde zu Miltons Zeit selbst die Eva vor dem Sündenfall der Kategorie der Verführerin oder des bloß irdischen Gefäßes zugeordnet. 13 Aber sie machen auch darauf aufmerksam, dass Milton die noch unschuldige Eva systematisch von einer Vielzahl an Makeln befreit, welche ihr traditionell zugeschrieben werden. McColley bemerkt dazu: „[Milton] entgiftet zahlreiche der mit Eva assoziierten Motive“ (A Gust of Paradise, 158). Jeder Makel an Eva vor dem Sündenfall würde genau jene Elemente in Miltons Darstellung einführen, wel- 12 Vgl. die Zeilen 53-65 von Petrarcas 126. Gedicht, welche sich wie eine theologisch bewusstere Version von Adams Rede lesen, eine Version, die anspricht, was Adam von einem orthodoxen Standpunkt aus hätte sagen sollen: das Element der Illusion, das Teil des von der Frau ausgeübten Zaubers ist. 13 Diane McColley. Milton’s Eve. Urbana: University of Illinois Press, 1983, und A Gust of Paradise: Milton’s Eden and the Visual Arts. Urbana: University of Illinois Press, 1993. 158 - Paradise Lost che in der Tradition der höfischen Liebe Ambivalenz signalisieren. Eva vor dem Fall muss so rein sein wie Maria („die zweite Eva“), aber anders als Maria ist sie auch in der Lage, Begehren zu erwecken und zu befriedigen. Milton stellt sich daher eine Frau vor, wie sie für Dante oder Petrarca undenkbar ist: eine vollkommen reine Frau, die man sich beim Liebesakt vorstellen kann und vielleicht sogar, wie sie dabei Lust empfindet. Milton lässt sich daher als jemand verstehen, der versucht, die Spiritualität Dantes mit der Sinnlichkeit der Troubadoure zu versöhnen, und der damit die Problematik der fin’amors wieder aufgreift, die Dante zwar auf eine bestimmte Weise gelöst hat, der er aber auf eine andere bloß ausgewichen ist. Dabei geht Milton weit über alles hinaus, was ihm in der höfischen Tradition vorausgeht, aber die exakte Beschaffenheit dieses Schritts lässt sich nur in Bezug auf jene Tradition verstehen. 14 Der ganze Rest des Gedichts existiert nur als Rahmen für den Sündenfall Adams. Wenn Eva gefallen wäre, aber Adam nicht, dann wäre nach der Logik des Mythos die Menschheit nicht gefallen. Daher führt alles in dem Gedicht zurück zu Evas Einfluss auf Adams Gefühle und Vorstellungskraft. Milton muss das Band, welches Adam an Eva bindet, so gestalten, dass seine Entscheidung, mit ihr zu sterben, verständlich wird. Dieses Band ist der eigentliche Kern des Gedichts, denn der Sündenfall und damit die ganze Geschichte hängen davon ab. Milton muss die Erotik von Adam und Eva vor dem Fall so darstellen, dass ihre Unschuld dem höchsten Standard erotischer Idealisierung entspricht, aber gleichzeitig muss die Macht ihres erotischen Bandes ausreichend stark sein, damit Adam sich für Eva anstatt für den Gehorsam gegenüber Gott entscheidet. 15 14 Vgl. den sehr interessanten und ganz anderen Ansatz, mit dem William Kerrigan und Gordon Braden Milton mit den fin’amors und der petrarkischen Tradition verbinden: The Idea of the Renaissance. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1989. 157- 218. Jean H. Hagstrum bemerkt die Affinität zwischen Milton und den Troubadouren in Sex and Sensibility: Ideal and Erotic Love von Milton bis Mozart. Chicago: University of Chicago Press, 1980. 32. 15 Zu sagen, dass Adams Entscheidung der entscheidende Punkt von Miltons Text ist, heißt nicht, dass Adam und nicht Eva der „Held“ des Gedichtes ist (was auch immer das bedeuten mag). Ich meine, im Gegenteil, dass Eva der weitaus großartigere Charakter des Gedichtes und dessen eigentliche bewegende Kraft ist - das arche-pharmakon, ohne welches nichts passieren würde. Darin, dass es die Grundlage für diese Ansicht von Eva so überzeugend entwickelt, liegt der entscheidende Wert von Empsons Buch. Vgl. William Empson. Milton’s God. Cambridge: Cambridge University Press, 1961. 163. Jüngere Studien, vor allem die von Frauen, haben die Ambivalenz der Darstellung Miltons von Evas Heroismus betont. Gilbert und Gubar weisen daraufhin, dass Eva nicht nur „Satan, dem schlangenhaften Versucher“, sondern auch „Satan, dem romantischen Geächteten“ sehr ähnlich ist, jener Figur der Rebellion und Phantasie, welche von den Romantikern seit Blake und Shelley verherrlicht wurde. Aber Gilbert und Gubar sind sich auch der mit dieser Gleichsetzung verbundenen Schwierigkeiten bewusst. Sandra M. Gilbert und Susan Gubar. The Madwoman in the Attic: The Woman Writer and the Paradise Lost - 159 Milton steht daher dem Problem der Motivation in einem eigentümlich tiefen Sinne des Wortes gegenüber - oder vielmehr, in einem tiefen Doppelsinn des Wortes. Auf der einen Seite steht die „psychologische“ Motivation (warum entscheidet Adam sich so? ), auf der anderen Seite (aber untrennbar mit der ersten verbunden), steht die Frage, wie diese Entscheidung so dargestellt werden kann, dass sie aus der linguistischen Textur der vorhergehenden Erzählung folgt und von ihr motiviert wird (in Boris Tomaschevskys Definition von Motivation). Miltons Sprache steht hier unter einem enormen Druck und wird daher in einen neuen, fast romanhaften Modus der Wahrhaftigkeit gedrängt, welcher an manchen Stellen in eine sonst mit Freud, Lawrence und Bataille assoziierte Art von Textualität übergeht. In dem entscheidenden Gespräch zwischen Adam und Raphael im 8. Buch hält Milton einen Moment echter und tief empfundener Verwirrung in Bezug auf den Eros fest. Man mag hier von einer linguistischen oder von einer psychosozialen Verwirrung sprechen: beide sind hier nicht voneinander zu trennen, weil wir uns in einer Sphäre befinden, in welcher Sprachstücke verschiedener Herkunft (philosophischer, theologischer, literarischer) aneinander stoßen, wobei Milton nur teilweise die Kontrolle behält, wenn er versucht, die menschliche Subjektivität in ihrer Beziehung zum Eros radikal neu zu definieren. In dem Maße, in dem Milton eine neue Art der Textualität oder „Motivation“ erreicht oder ihr nahe kommt, entzieht sich die Sprache seines Gedichts der Ordnung nach jenen klassischen theologischen, philosophischen und psychologischen Kategorien, die ihre Entstehung eben nicht mehr bestimmen. 16 Nineteenth-Century Literary Imagination. New Haven: Yale University Press, 1979. 187-212; hier 201. Lucy Newlyn hat die Diskussion über das „Verschmelzen von Satan und Eva“ weitergeführt: Paradise Lost and the Romantic Reader. Oxford: Clarendon Press, 1993. 153-91; hier 155. Vgl. auch Richard Corum, “In White Ink: Paradise Lost and Milton’s Ideas of Women”. In: Milton and the Idea of Woman. Hrsg. Julia M. Walker. Urbana: University of Illinois Press, 1988. 120-47. 16 Vgl. Leopold Damrosch. God’s Plot and Man’s Stories. Chicago: University of Chicago Press, 1985: Das Problem besteht hier darin, den Fall eines noch ungefallenen Mannes und einer noch ungefallenen Frau plausibel - oder auch nur möglich - erscheinen zu lassen, d.h. die Tatsache, dass ein Begehren nach dem Bösen im Geist von Menschen entsteht, die das Böse noch nicht kennen. Dieser Punkt hat zu einer ausführlichen kritischen Debatte geführt, die sich jedoch nicht abschließen lässt, da die Teilnehmer von unterschiedlichen Vorannahmen ausgehen. Die eine Gruppe meint, dass die Idee einer der Sünde anheim fallenden sündlosen Person psychologisch nicht vorstellbar ist, so dass Milton Adam und Eva schon vor dem Fall sündige Eigenschaften geben musste. Die andere Gruppe meint, dass die Idee, ob sie vorstellbar ist oder nicht, theologisch bestimmt ist, und dass Adam und Eva - wie Milton wiederholt sagt - vor ihrem Fall „rein“ und „ohne Sünde“ waren. Beide Seiten haben Recht. Milton wollte Adam und Eva so darstellen, 160 - Paradise Lost Ich behaupte nicht, dass das erotische Element in Paradise Lost Miltons Doktrin unterminiert, ihr widerspricht oder sie dekonstruiert, sondern vielmehr dass die doktrinäre Architektur an einem bestimmten Punkt anderen Kräften einen weiten Spielraum lässt. 17 Das Paradies vor dem Sündenfall ist ein Ort, dem es nicht an Spannungen, Konflikten und Gefahren fehlt: Adam und Eva zanken und verletzen sich, und ihr sexuelles Verhältnis scheint keineswegs perfekt zu sein. 18 Aber Stanley Fish, McColley und andere haben gezeigt, dass all das weder bedeutet, dass sie schon sündig sind, noch dass dies Gott anzulasten ist. Miltons theologische Maschinerie selber lässt sich, vom Kritiker geschickt umfunktioniert, so adaptieren, dass sich die meisten Details von Adams und Evas Reden und Handlungen durch die Hypothese eines freien Willens erklären lassen. Da ein solches Vorgehen am besten mit der erkennbaren Intention des Gedichtes übereinstimmt, erfordert die kritische Disziplin, dass wir es soweit wie möglich ausreizen, bevor wir uns anderen Interpretationsmöglichkeiten zuwenden. Aber auch wenn wir Miltons Konstruktion all die theologische Kunstfertigkeit zugestehen, welche konservative Kritiker darin gesehen haben, bleiben andere textuelle Kräfte erkennbar. Diesen Kräften werde ich im Folgenden nachgehen. Wir müssen nun die entscheidende Debatte zwischen Raphael und Adam noch einmal lesen und mit Geduld und Fingerspitzengefühl all jene Stränge heterogener Textualität entwirren, die Milton ererbt hat und die er in seinem Versuch, einen genuinen Eros zu entwickeln, der sogar vor den Augen seines Gottes bestehen kann, neu verweben muss. Nachdem er Raphael seine Hochzeitsnacht mit Eva beschrieben hat, fährt Adam folgendermaßen fort: dass sie ohne Sünde, aber doch der Sünde fähig waren, ein Paradox, das schließlich für das Christentum von zentraler Bedeutung ist. (106) 17 Es gibt eine gewisse Verwandtschaft, aber noch mehr grundlegende Unterschiede zwischen meiner Herangehensweise an Paradise Lost und der von Herman Rappaport in seinem Milton and the Postmodern. Lincoln: University of Nebraska Press, 1983. Rappaport konzentriert sich auf die „Unentscheidbarkeit“, auf die allegorische Distanz zwischen der Repräsentation und dem Repräsentierten, und, für mich eine seltsame Wendung, auf die Idee, dass „Spuren“ (in einem von Rappaport mit Derrida verbundenen Sinne) auf „eine Wiederherstellung des Heiligen“ hinweisen. „Die auf einer Verlusterfahrung basierende Erwartung einer authentischen Begegnung mit der Gottheit (Epiphanie) durch den Menschen muss sicherlich in dem unentscheidbaren Zwischenraum [...] zwischen Gottes Selbstverbergung und seiner Enthüllung stattfinden“ (46). Mein Interesse ist im Vergleich dazu ganz naturalistisch und textlich: meine Frage ist, ob die Texttradition des Christentums Milton die Mittel zur Verfügung stellen kann, die er zur Begründung seiner erotischen Bedürfnisse benötigt. 18 Vgl. die sensible Analyse der Trennungsdebatte von Adam und Eva in John Reicherts “‘Against his better knowledge’: A Case for Adam.” ELH 48 (1981). 83-109, bes. 88- 94. Paradise Lost - 161 Thus I have told thee all my State, and brought My Story to the sum of earthly bliss Which I enjoy, and must confess to find In all things else delight indeed, but such As us’d or not, works in the mind no change, Nor vehement desire, these delicacies I mean of Taste, Sight, Smell, Herbs, Fruits, and Flow’rs, Walks, and the melody of Birds; but here Far otherwise, transported I behold, Transported Touch; here passion first I felt, Commotion strange, in all enjoyments else Superior and unmov’d, here only weak Against the charm of Beauty’s powerful glance. Or Nature fail’d in mee, and left some part Not proof enough such Object to sustain, Or from my side subducting, took perhaps More than enough; at least on her bestow’d Too much of Ornament, in outward show Elaborate, of inward less exact. For well I understand in the prime end Of Nature her th’inferior, in the mind And inward Faculties, which most excel, In outward also her resembling less His Image who made both, and less expressing The character of that Dominion giv’n O’er other Creatures; yet when I approach Her loveliness, so absolute she seems And in herself complete, so well to know Her own, that what she wills to do or say, Seems wisest, virtuousest, discreetest, best; All higher knowledge in her presence falls Degraded, Wisdom in discourse with her Loses discount’nanc’t, and like folly shows; Authority and Reason on her wait, As one intended first, not after made Occasionally, and to consummate all, Greatness of mind and nobleness thir seat Build in her loveliest, and create an awe About her, as a guard Angelic plac’t. (8.521-59) Nun habe ich dir den Zusammenhang / Meiner Geschichte und wohin sie führte, / Zur Summe irdischer Glückseligkeit, / Geschildert, welche ich genießen darf, / Und allerdings, wie ich gestehen muß, / an allen andern Dingen auch genieße, / Wenn diese auch in dem Gemüt kaum / Solche Bewegung und Begierde schaffen, / Ob ich sie nutze oder nicht; ich meine, / Was mir die Sinne sonst an Blumen, Früchten, / Gerüchen, Kräutern, Wanderungen bieten, / Und Sang der Vögel, alles schön, doch hier / Vollkommen anders: denn verzückt betrachte, / Berühre ich, verspürte hier zuerst / Die Leidenschaft, ein unerhört Gefühl, / Da ich bei allen anderen Genüssen / Wie unbewegt und überlegen bleibe, / Hier einzig 162 - Paradise Lost schwach, wo mich der Schönheit Glanz / Mit zauberhafter Macht betörend trifft. / Oder vielleicht versagte die Natur / Mir irgendwo die Stärke, mich zu schützen / Gegen ein Solches, oder nahm von mir / Mehr als genug aus meiner Brust heraus; / So daß sie ihr wohl einen Überfluß / An Zierde gab, die außen reich gestaltet, / Doch innen weniger gediegen scheint. / Ich weiß ja auch, daß sie mir letzten Endes, / Wie die Natur sie schuf, nachstehen muß / An Geist und Intellekt, die höher sind, / Und auch im Äußern ist sie weniger / Nach seinem Bilde, der uns beide schuf, / Und weniger in ihr die Herrschgewalt, / Die uns verliehen worden, ausgeprägt. / Doch nahe ich mich ihr, so scheint ihr Wesen / In ihrer Lieblichkeit so absolut, / Und in ihr selbst vollendet, daß sie alles, / Was sie zu sagen oder tun gewillt, / So gut als ihr Ureigenstes erkennt, / Daß es das Weiseste, das Tugendhaftste, / Das Wohlerwogenste, das Beste scheint; / Jegliche höhere Erkenntnis stürzt / In ihrer Gegenwart vom Piedestal, / In ihrem Umgang unterliegt entschieden / Die Weisheit und sieht wie die Torheit aus. / Vernunft und Meisterschaft sind ihr erbötig / Wie einem Wesen, das zuerst ersonnen, / Und nicht nur nachgemacht, in einer Not, / Und schließlich bauen sich, das Ganze krönend, / Die Größe des Gemüts und Edelsinn / In ihr den schönsten Sitz und schaffen so, / Wie eine Wacht von Engeln um ihr Wesen, / Sie rings umschauernd, eine heilige Scheu.” (8.628-679) Adam präsentiert sich hier als bewundernder Liebender einer Frau, die weit über ihm steht - in direktem Widerspruch zu der maßgeblichen, von Raphael ausgesprochenen Ansicht, derzufolge er Eva überlegen sein soll. Es ist nun allgemein anerkannt, dass Raphaels Tadel an Adam eine „engelhafte“ Ansicht darstellt, welche die Komplexität menschlicher Liebe nicht anerkennt, und daher sein Ziel auf eigenartige Weise verfehlt. 19 Aus der gegenwärtigen Perspektive jedoch ist nicht Raphaels Ansicht interessant, sondern der Charakter seiner Sprache - die Tatsache, dass sie ebenso wie Adams Sprache aus dem neoplatonischen Liebesdiskurs der Renaissance abgeleitet ist. Der Engel erinnert Adam daran, dass er die Darstellung seiner Liebe zu Eva nur unvollständig platonisiert hat, denn Love refines The thoughts, and heart enlarges, hath his seat In Reason, and is judicious, is the scale By which to heav’nly Love thou may’st ascend. (589-92) 19 McColley spricht vorsichtig von „einer gewissen, einem Engel fehlenden Wahrnehmungsfähigkeit“ (Milton’s Eve, Anm. 13, 70). Andere Interpreten zeigen weniger Toleranz. David Aers und Bob Hodge nennen Raphaels Antwort „zutiefst kleinherzig“ und meinen, dass sie einen „sterilen Egoismus“ befürwortet (“Rational Burning: Milton on Sex and Marriage”. Milton Studies 31 (1979). 3-33; hier 26). Turner, Anm. 3, nennt Raphaels Urteil über Adams Liebe eine „zynische Verurteilung“ und empfindet es als „entsetzlich“ (280). Paradise Lost - 163 Die Liebe weitet unser Herz und macht / Gedanken feiner und hat ihren Sitz / In der Vernunft und weiß zu unterscheiden; / Sie ist die Leiter, über welche du / Hinauf zur Himmelsliebe steigen kannst (8.715-19). Raphael lässt jedoch den vermittelnden Faktor der Schönheit gänzlich aus: die Schönheit, die einem zuerst in physischen Körpern begegnet, auch wenn sie am Ende ein ideales Objekt intellektueller Betrachtung ist. Nach Platon und dem höfischen Neoplatonismus ist es daher richtig, die Schönheit bei dieser ersten Begegnung zu lieben. Zwar ist dies ein erstes, später zu überwindendes Stadium, aber Raphael erkennt es nicht einmal als einen Schritt auf der „Stufenleiter“ der Liebe an. Diese Vorstellung von der Liebe als einer „Stufenleiter“ ist daher in merkwürdiger Weise von den eigentlichen, den Aufstieg bildenden Stufen abstrahiert. In seiner Rede über die Liebe in The Book of the Courtier erklärt Pietro Bembo: Schönheit ist der höchste Schmuck von allem; und man kann sagen, dass in gewisser Weise das Gute und das Schöne identisch sind, vor allem im menschlichen Körper. Und der wahrscheinliche Grund von physischer Schönheit ist [...] die Schönheit der Seele. Denn da diese an wahrhaft übernatürlicher Schönheit teilhat, macht sie alles, was sie berührt, strahlend schön, vor allem wenn der von ihr bewohnte Körper nicht von solch niedrigem Material geschaffen ist, dass die Seele ihm nicht ihre eigene Qualität einprägen kann. 20 Zwar fährt Bembo dann mit der Bemerkung fort, dass „der Körper sich gänzlich von der Schönheit unterscheidet“ (338), aber diese Einsicht, welche der Liebende zuletzt gewinnt, macht die Doktrin eines früheren Stadiums nicht ungültig, in dem „äußere Schönheit“ als „wahres Zeichen inneren Wertes“ (330) anerkannt wird. Selbst wenn die Körperlichkeit und die Schönheit ihrer Essenz nach grundsätzlich verschieden sind, gibt es so etwas wie den verwandelten Körper: den Körper, der über seine bloße Physikalität erhoben ist, aufgehoben-doch-bewahrt (als ein Zeichen) durch die Macht der Schönheit. Raphael ist also kein „strikter Neoplatonist [...] wie Bembo in The Courtier“, wie Barbara Lewalski behauptet; 21 man sollte Raphaels Ansicht vielmehr mit dem „strikten Neoplatonismus“ von Marsilio Ficino vergleichen, der nichts Höfisches hat. In seinem Kommentar zum Symposium, das in der Renaissance als De Amore bekannt war, erwähnt Ficino die Schönheit des Körpers als Reflektion der Schönheit Gottes. Aber er tut dies nur, um, wie Raphael, den Körper und das physische Begehren als etwas abzutun, das sofort durchschaut und überwunden werden muss: 20 Baldesar Castiglione. The Book of the Courtier. Übers. ins Engl. George Bull. Bungay, England: Penguin, 1980. 332. 21 Barbara Lewalski. Paradise Lost and the Rhetoric of Literary Forms. Princeton: Princeton University Press, 1985. 215. 164 - Paradise Lost Wenn die Natur dir die Augen eines Luchses gegeben hätte, lieber Sokrates [lässt Ficino Diotima sagen], so dass du mit deinem Blick alles durchschauen könntest, was dir begegnet, dann würde dir der nach Außen schöne Körper deines Alcibiades sehr hässlich erscheinen. Wie wertvoll ist das, was du liebst, mein Freund? Es ist nur eine Oberfläche, oder vielmehr eine Farbe, die dich gefangen nimmt, oder es ist vielmehr nur eine bestimmte Lichtreflektion und ein wesenloser Schatten. (6. Rede, Kap. 18) 22 Es gibt also selbst im Neoplatonismus der Renaissance mindestens zwei Doktrinen über die Natur des erotischen Aufstiegs, aber wie diese Doktrinen aussehen und was der Unterschied zwischen ihnen bedeutet, wird in dem Gedicht nicht explizit ausgedrückt. Diese fehlende Deutlichkeit führt zur wachsenden Verwirrung in der Debatte zwischen Mensch und Engel. Wenn Adam von Evas Charme spricht, scheint er sie als ideal in genau der Weise zu beschreiben, wie sie der platonisierte Eros auf der ersten Stufe des Aufstiegs erfordert; aber Raphael, der mit einer verkürzten Vorstellung von der Liebesleiter arbeitet, beschuldigt Adam, von bloßer animalischer Körperlichkeit angezogen zu sein: But if the sense of touch whereby mankind Is propagated seem such dear delight Beyond all other, think the same voutsaf’t To Cattle and each Beast (8.579-82) Doch wenn aus der Berührung, deren Reiz / Die Menschheit mehrt, dir ein Entzücken ward, / Das alles übertrifft, so merke wohl, / Wie auch das Tier die gleiche Gabe hat (8.702-05) Der Engel hat den letzten Teil von Adams Rede (545-59/ dt. 661-79) ignoriert und nur auf Adams Bekenntnis im früheren Teil geantwortet: durch den Anblick und das Berühren Evas verspürte er zuerst „[d]ie Leidenschaft, ein unerhört Gefühl, / Da ich bei allen anderen Genüssen / Wie unbewegt und überlegen bleibe, / Hier einzig schwach“ (8.641-45) [“transported I behold, / transported touch; here passion first I felt, / commotion strange, in all enjoyments else / Superior and unmoved, here only weak” (529-32)]. Adam bemerkt weiter, dass Gott Eva „einen Überfluß / An Zierde gab“ [“bestow’d / too much of Ornament”] so dass Adam selber in diesen Zeilen suggeriert, dass es Evas „Äußeres“ ist, das ihn überwältigt. Aber ab Zeile 546 (dt. 661) hört sich sein Bericht ganz anders an, wenn Eva nämlich als „die Weiseste, Tugendhaftste, 22 Marsilio Ficino. Commentary on Plato’s Symposium on Love. Ins Engl. übers. v. Sears Jayne. Dallas: Spring Publications, 1985. 142. Ficino wird für die Hauptquelle von Bembos Rede im Symposium gehalten, aber in Bezug auf Ton und Betonung gibt es einen deutlichen Unterschied in der Weise, wie die beiden körperliche Schönheit behandeln. Paradise Lost - 165 Wohlerwogenste, Beste“ 23 [“wisest, virtuousest, discreetest, best” (550)] erscheint. Der Kontrast besteht zwischen „Ich weiß ja auch“ in Zeile 654 [“For well I understand” (540)] und „Doch nahe ich mich ihr, [...] / In ihrer Lieblichkeit“ in den Zeilen 661-62 [“yet when I approach / Her loveliness” (546-47)]. Adam macht hier einen klaren und expliziten Unterschied zwischen einer offiziellen Doktrin, der er pflichtgemäß zustimmt - zumindest solange er Eva nicht ansieht - und seinen wahren Gefühlen in Evas Gegenwart. Er „weiß“, dass ihre Anziehungskraft vor allem äußerlich ist, aber wenn sie tatsächlich anwesend ist, fühlt er ihre innere Macht. Ist diese nur eine Illusion? Und kann der Charme von Evas Schönheit wirklich auf die „Berührung, [...] Entzücken [...] / Das alles übertrifft“ [“the sense of touch [...] such dear delight / Beyond all other “] reduziert werden, wie es der Engel tut? Die Dinge sind hier gründlich durcheinander gebracht. Selbst wenn es hier tatsächlich nur um die Schönheit von Evas Äußerem ginge, dann ist dies nicht unbedingt eine Frage der Berührung. Adams Worte waren: „verzückt betrachte, / Berühre ich“ [“transported I behold, / transported touch.”]. Seine Verbindung von Sehen und Berühren, bei der das Sehen dem Berühren vorangeht und dem Vergnügen des Berührens seinen höchst spezifischen Charakter gibt, stimmt mit jeder Analyse menschlicher sexueller Reaktion überein. Vor allem die höfische Liebestradition behandelt das Sehen als den entscheidenden Eingang für die Liebe; der Sehsinn ist der „idealste“ aller Sinne, der einzige, der „Schönheit als sein wahres Objekt hat“ 24 . Indem er Adams visuelle Verzückung ignoriert, trennt Raphael das Vergnügen des sexuellen Berührens von jedem Ideal und sogar jeder ideationellen Komponente. Aber gerade die Rolle der Ideation und der Idealisierung ist der wesentliche Punkt in Adams Rede, ebenso wie in der höfischen Liebestradition und überhaupt im christlichen Denken über das Begehren. Die Episode mit dem Traum von der Sirene im 19. Canto von Dantes Purgatorium macht die Rolle der Ideation deutlich. Ebenso geht es in Petrarcas Laura-Gedichten fast ausschließlich um die Art und Weise, wie das Bild der Geliebten im Geiste ausgearbeitet wird. Indem Raphael die Frage der Ideation und der Idealisierung ignoriert, übersieht er also den wesentlichen Punkt. Der eigentliche Grund für die Verstörung in Raphaels Sprache ist anscheinend der höchst vorsichtige Bericht Adams in 8.510-20 über seinen Liebesakt mit Eva. To the Nuptial Bow’r I led her blushing like the Morn: all Heav’n, And happy Constellations on that hour Shed thir selectest influence; the Earth Gave sign of gratulation, and each Hill; 23 Meine Übersetzung. VH 24 Baldesar Castiglione, Anm. 20, 334. 166 - Paradise Lost Joyous the Birds; fresh Gales and gentle Airs Whisper’d to the Woods, and from thir wings Flung Rose, flung Odors from the spicy Shrub, Disporting, till the amorous Bird of Night Sung Spousal, and bid haste the Ev’ning Star On his Hill top, to light the bridal Lamp. „Hold errötend, / Führte ich sie zur Hochzeitslaube hin: / Der ganze Himmel und die Sterne übten / Den besten Einfluß aus auf jene Stunde; / Die Erde drückte ihre Freude aus, / Und jeder Hügel, alle Vögel froh; / Frisch flüsterten der Wind und linde Lüfte / Es sanft den Wäldern zu und trugen spielend / Der Rosen Wohlruch aus dem Sträucherduft, / Bis daß der liebesmuntre Vogel nachts / Das Brautlied sang und rasch den Abendstern / Sein Hochzeitshöhenfeuer hieß entzünden.“ (8.616-627) Der Engel scheint alle weiteren Bemerkungen Adams auf die nackte Tatsache der Kopulation zurückzubeziehen, die der Referent von Adams blumiger Sprache in diesen Zeilen ist. Nichts in Adams Rede suggeriert, dass der Sexualakt an und für sich der Ursprung von Adams Faszination für Eva ist, aber trotzdem lenkt das Gespräch mit dem Engel die Aufmerksamkeit auf die zentrale Rolle, welche der Geschlechtsverkehr unter den Freuden des Garten Eden spielt. 25 In Adams früheren Bemerkungen öffnet sich der Text auf eine Weise, deren Wirkung Milton nicht mehr ganz kontrollieren kann. Dies ist unausweichlich, wenn man die gegensätzlichen Imperative bedenkt, unter denen das Schreiben von Paradise Lost steht. Adam muss, wie Turner sagt, „gleichzeitig ‚ohne Libido‘ und ‚verliebt‘ sein“ (271), so dass sein späterer Sündenfall überzeugend durch seine erotische Verbindung mit Eva motiviert wird, jedoch nicht in einer Weise, die annehmen ließe, dass diese Verbindung schon vor dem Fall mit Sünde befleckt war. Aber Milton kann nicht einfach zur Realität erklären, was andere als Möglichkeit gesehen haben. Sobald nämlich die abstrakte „Möglichkeit“ als gelebte Realität im Detail ausgeführt wird, verändert sich ihre Beziehung zu der doktrinalen Umgebung, die sie einschließen konnte, solange sie unrealisiert blieb. Aber die Möglichkeit beginnt nur realisiert zu werden, und meine gesamte Interpretation wird sich auf diesen anfänglichen Moment beziehen. Wir 25 Paradise Lost entwickelt hier also das Projekt der Scheidungspamphlete weiter, über die Turner, Anm. 3, schreibt: „Zwar führen Miltons keusche Hoffnungen, gespeist von einer durch das Symposium und das Hohelied geschulten Imagination, ihn nicht dazu, irgendeinem Aspekt der Ehe die erotische Energie zu entziehen, aber seine Vorstellung von Verunreinigung lässt ihn den Geschlechtsverkehr selbst nicht als etwas Gutes feiern. [...] Er entwickelt daher eine Theorie und Praxis des Eros, die diese beiden Extreme verbindet, die also den zentralen Akt der Sexualität herabsetzt und gleichzeitig dessen periphere Freuden bis in jede Ecke der Beziehung ausdehnt“ (210). In Paradise Lost ist „der Bruch zwischen der liebevollen Geste und dem sexuellen Akt, welche Milton einst mit all der ihm zu Verfügung stehenden Verachtung verteidigt hat, [...] geheilt“ (258). Paradise Lost - 167 wissen, wie vorsichtig Milton Schicht um Schicht theologischer Korrekturen über diese sich in den entscheidenden Passagen zeigende Öffnung gelegt hat. Ein gewisses Etwas, das sich auf den Eros bezieht, wird in Paradise Lost unvollständig artikuliert, und in dem Zwischenraum, den diese Vagheit eröffnet, können die Zahnräder der Theologie sich frei drehen bis sie an einem bestimmten Punkt wieder einrasten. Ich werde diese Lücke schließen, wenn ich ausführlicher artikuliere, was Milton nur teilweise ausdrückt, aber der Zwischenraum, den ich in meinem Kommentar schließe, bleibt in Miltons Text immer offen. Der platonische und der neoplatonische Eros veredeln das Begehren, indem sie es als transzendent definieren. Es wird damit zu einer Kraft, die im Kern über das individuelle physische Wesen hinausgeht, von der sie erregt wird, um ihr wahres Ziel in etwas Höherem zu finden. Der im Eros immer schon angelegte mögliche Irrtum besteht darin, sich an ein bestimmtes Geschöpf zu binden und daher den Weg zum eigentlichen Ziel zu verfehlen. Es besteht daher eine strukturelle Instabilität in der erotischen Idealisierung. Insoweit das individuelle Objekt des Begehrens auf dem Weg nach oben nicht zurückgelassen wird, infiziert es die Idealisierung mit einer sehr unidealen Komponente. Dies ist die Tendenz, welche Raphael in Adams erstem Bericht über seine Liebe zu Eva entdeckt. Allerdings wiederholt der korrekt ausgeführte erotische Aufstieg auf eine feinsinnigere oder erhabenere Weise jenen Dualismus von Körper und Geist, den er überwindet, und Adams „korrigierte“ Antwort an Raphael, obwohl weniger direkt als der Tadel des Engels, bestätigt dessen Aussage. Raphael hat einen zu tiefen Keil zwischen den sexuellen Drang und die Spiritualität der Liebe getrieben, und Adam besteht darauf, die beiden wieder als Eros zu vereinen. Aber der Eros, auf welchen sie sich einigen, ist ätherisiert; zwar relativiert Miltons Monismus die Herabsetzung körperlicher Liebe, welche die verächtliche Differenzierung des Engels zwischen der engelhaften Vereinigung und dem „eingeschränkten Entzücken“ 26 [“restrained conveyance”] der Menschen impliziert, er nimmt sie jedoch nicht gänzlich zurück. 27 Der Liebesakt 26 Meine Übersetzung; VH. Bei Meier „Zwang“ (8.765). 27 Wie Empson, Anm. 15, bemerkt, ist auch der Engel selber zu einem gewissen Grade in den Windungen der Eros-Problematik verfangen, was wir jedoch selten bemerken, da die Beschuldigungen sich vor allem gegen Adam richten. Aber das von Raphael beschriebene engelhafte Liebesspiel ist nicht das Äquivalent des göttlichen Eros auf der Leiter des erotischen Aufstiegs, und noch weniger das des orthodoxen Aufgehens des Ichs in der Liebe zu Gott. Was der Engel beschreibt, sind zwei Individuen, die in der Liebe zueinander aufgehen, und er erwähnt an keiner Stelle Gott als das eigentliche Objekt dieses Liebesaktes. Die Tatsache, dass es gänzlich ätherisiert ist, lässt das gegenseitige Durchdringen der Engel als von Grund auf „geistig“ erscheinen, aber das lässt immer noch die Frage nach der Verbindung zu Gott offen. Denn während die irdischen Wesen den Eros zur Annäherung an Gott nutzen können, sind die Engel ja schon in seine Gegenwart eingeweiht. Empson bemerkt dazu: „Obwohl die Engel in der Lage 168 - Paradise Lost von Adam und Eva wird letztlich wegen seiner Ausrichtung, seines telos, als rein erklärt. Wenn sie auf der Leiter des spirituellen Aufstiegs bleiben, wird es ihnen irgendwann möglich sein, engelhaft zu lieben, und es wird impliziert, dass diese aufwärtsstrebende Tendenz schon auf irgendeine Weise in ihrem Liebesakt wirksam ist. Wenn man die Dinge nicht zu genau nimmt, scheint es sich hier im Grunde um eine Adaptation des platonischen Eros zu handeln. Das Konzept der engelhaften Vereinigung als telos des Liebesaktes von Adam und Eva nimmt dem physischen Sexualakt etwas von seinem verbleibenden Stigma und eliminiert das Element, das der physische Sexualakt trotz aller Sublimierung oder Aufhebung, die seine Transformation in das Element eines umfassenden moralisch-spirituellen Phänomens darstellt, noch mit den Tieren teilt. Aber gerade die Tatsache, dass dem Sexualakt dieses Stigma abgenommen wird, impliziert, dass es da ist, um abgenommen zu werden. Das wiederum bedeutet jedoch, dass der Liebesakt von Adam und Eva nicht vollständig rein ist oder, genauer gesagt, dass es Milton nicht gelungen ist, eine solche Reinheit begreifbar zu machen. Milton ersetzt den absoluten Dualismus von Körper und Geist mit einem durchlässigen Dualismus von roher und verfeinerter Substanz, aber die schwere Substanz erbt die Scham, welche in dem alten Dualismus dem Körper anhängt. Adam ist durch den Vorwurf des Engels „halb verlegen“ [“half-abash’t”], weil da eine „halbe Scham“ in der Vorstellung von Sex als „eingeschränktem Entzücken“ [“restrained conveyance”] übriggeblieben ist; daher anscheinend auch die Notwendigkeit von Evas sexueller Sittsamkeit. 28 Milton zielt anscheinend auf die Vorstellung, dass der körperliche Sexualakt in seinem unsündigen Zustand das Äquivalent eines perfekten gegenseitigen Durchdringens der engelhaften Art ist. Aber er kann dem Problem nicht ganz ausweichen, dass der leidenschaftliche Körper traditionell immer als eine Unreinheit betrachtet wurde, die einer solchen Durchdringung im Wege steht. Daher bleibt Adams Unterredung mit Raphael eine zweideutige Verteidigung der physischen Sexualität. Der dahinterstehende Impuls wird in seiner endgültigen Ausrichtung als rein verstanden, aber Raphaels Kritik an der Unreinheit der physischen Komponente wird nirgendwo widersprochen. 29 sind, sich mit Gott wiederzuvereinen, wollen sie es nicht, vor allem weil diese Fähigkeit ihnen gelegentliche Liebesakte miteinander ermöglicht.“ (Milton’s God, 139). 28 Aers und Hodge, Anm. 19, argumentieren, dass Raphaels Darstellung des engelhaften Verschmelzens „teilweise ätherisiert“ sei, aber „den physischen Aspekt nicht zurückweise“ (“Milton on Sex”, 27). Die Zurückweisung der “restrained conveyance” hat jedoch die ganze Kraft der klassischen Abwertung. In ihrer Begeisterung für die „Abweisung der reinen Genitalsexualität zugunsten eines totalen Orgasmus, einer totalen Vereinigung“, zeigen Aers und Hodge gerade den vergeistigenden Impuls, der auch Milton antreibt. Zwar wollen sie Gott natürlich nicht miteinbeziehen, aber aus der Perspektive dieser Untersuchung macht das kaum einen Unterschied. 29 Castigliones Bembo, Anm. 20, beschreibt, anscheinend von Pico della Mirandola beeinflusst, einen geistigen Kuss als eine eingeschränkte Version der von Milton erstrebten geistigen Vereinigung: „Der rationale Liebende frohlockt, wenn sein Mund die Paradise Lost - 169 Die Konzentration auf den Unterschied zwischen schweren und ätherischen Körpern in der Debatte von Raphael und Adam lenkt die Aufmerksamkeit von einer grundsätzlicheren Frage ab, nämlich der Ausrichtung jedes irdischen Wesens auf den Schöpfer. Es geht dabei sowohl für die Tradition als auch für Paradise Lost darum, sich immer bewusst zu bleiben, dass wir gegenüber der Quelle und dem Erhalter unserer Existenz in einem Verhältnis der Abhängigkeit oder Verpflichtung stehen. 30 Im Sinne der christlichen Kultur- geliebte Dame in einem Kuss berührt, nicht um sich von irgendeinem ungebührlichen Begehren erregen zu lassen, sondern weil er fühlt, dass diese Verbindung ihren Seelen den Weg öffnet, so dass diese sich von ihrem gegenseitigen Begehren angezogen in den Körper des anderen ergießen und sich so vermischen, dass jeder von ihnen zwei Seelen hat, und es ist, als ob ein einziger, aus zweien bestehender Geist ihre zwei Körper beherrscht“ (Book of the Courtier, 336). Miltons Vorstellung von sexueller Reinheit hat genug Kraft, um sich selbst den Sexualakt in diesem Sinne zu denken. Augustinus stellte sich selbstverständlich ein reines Sexualleben für Adam und Eva vor, aber, wie wir bald sehen werden, eines ohne die erotische Verzückung, welche Milton beschreibt. 30 Eben diese Schuldigkeit wurde Satan im Himmel zur Last. Der Verpflichtung ob des Seins, das ihm schon gehörte, allzu bewusst, vergaß er das ständige Fließen des Seins vom Schöpfer zu ihm und fiel: ... lifted up so high I sdein’d subjection, and thought one Step higher Would set me highest, and in a moment quit The debt immense of endless gratitude, So burdensome, still paying, still to owe; Forgetful what from him I still receiv’d, And understood not that a grateful mind By owing owes not, but still pays, at once Indebted and discharg’d. (4.49-57; Hervorhebung H.S.) (… zu sehr erhöht, / Empfand ich Dienstbarkeit als eine Schmach / Und dachte, eine Sprosse höher nur, / Und schon wärst du am höchsten und sogleich / die Riesenschuld endloser Dankbarkeit / Für immer los und ledig, die da noch / So lästig stets zu zollen, stets zu schulden, / Vergessend, daß ich stets von ihm empfing; / Und wußte nicht nicht, daß ein dankbar Gemüt, / Indem es schuldet, nicht verschuldet ist, / Da es beständig zahlt und so zugleich / Verpflichtet wird, wie von der Pflicht befreit.“ 4.70-81) Jede Versuchung bedeutet im Grunde eine Abziehung des Geistes weg von dem Bewusstsein Gottes. Daher kämpft Augustinus sogar gegen die Anziehungskraft einer Hymnenmelodie oder der Schönheit des Lichts: „Das körperliche Licht, von dem ich gesprochen habe, ist eine in Versuchung bringende und gefährliche Süße, wie eine Sauce, welche für diejenigen, die sie blind lieben, über das Leben dieser Welt gebreitet wird. Aber diejenigen, die dich für dieses Licht zu preisen wissen, [...] werden davon nicht in einen geistigen Schlaf versetzt“ (Confessions. Ins Engl. übers. Rex Warner. New York: Mentor, 1963. Buch 10, 244). Diese Lust für das Licht wäre die edelste Form „der Art von Trunkenheit, in welcher die Welt dich, ihren Schöpfer, vergisst und sich in deine Schöpfung verliebt, anstatt in dich“ (Buch 2, 43). Der allgemeine Name für 170 - Paradise Lost konstellation, welche das Gefühl der sexuellen Schuld verstärkt, verletzten Adams „Leidenschaft“ und „Verzückung“ während des Liebesaktes mit Eva die grundlegende Grenze zwischen Liebe und Lüsternheit. Es ist gerade die Entrückung durch sexuelle Leidenschaft, welche die klassische christliche Lehre zu verbieten suchte, diese Bewegungen im Selbst, welche von einem anderen Zentrum entspringen als dem des bewussten Willens und welche das bewusste Selbst in die Dunkelheit hinüberziehen. Augustinus, der aus intensiver persönlicher Erfahrung über den Sexualakt Bescheid wusste, beschreibt diese Bewegung so: [Sexuelle libido] ergreift nicht nur den ganzen Körper und bemächtigt sich seiner nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Sie bringt den ganzen Menschen in Verwirrung, wenn die mentale Emotion sich mit dem physischen Hunger vermischt und einen Genuss hervorruft, welcher alle anderen physischen Freuden übersteigt. Dieser Genuss ist so intensiv, dass an seinem Höhepunkt eine fast vollständige Auslöschung mentaler Aufmerksamkeit stattfindet. Man kann sagen, die intellektuellen Wachtposten sind überwunden. (14.16) 31 Die Frage der Sündhaftigkeit des Fleisches löst sich daher in eine Frage des Maßes auf. Thomas von Aquin und Luther sind sich darin einig, dass es im Paradies Sexualverkehr gegeben haben könnte und selbst dass dieser sicher sehr lustvoll gewesen sei, aber sie bestehen nichtsdestotrotz darauf, er habe kontrolliert und gemäßigt sein müssen. 32 Thomas von Aquin nimmt paradoxerweise an, dass paradiesischer Sex intensiver als der uns bekannte Sex gewesen sei, aber dass darin nichts gewesen sei, das ratione non moderaretur (‚nicht durch den Verstand gemäßigt wurde‘). 33 diese Kraft, welche das Bewusstsein von Gott weg auf die Dinge seiner Schöpfung zieht, ist Lust, concupiscientia: „In Lust, [...], d.h. in der Dunkelheit der Zuneigung, liegt die wahre Entfernung von deinem Gesicht“ (Buch 1, 36). 31 Augustinus. Concerning the City of God against the Pagans. Ins Engl. übers. v. Henry Bettenson. Baltimore: Penguin, 1972. 14.16. Dt. Übers. v. VH. 32 Der Platonismus und auch der Neoplatonismus verurteilen unbegrenztes Vergnügen. Milton wird von dieser Verurteilung durch Platons Philebus gewusst haben, wo Protarchus bestätigt, dass nichts „in seiner Wesenart unbegrenzter sei als Vergnügen und intensive Freude“ und dass in der Erfahrung solcher Freuden ein Element „extremer Hässlichkeit“ läge (The Collected Dialogues of Plato. Hrsg. Edith Hamilton und Huntington Cairns. Ins Engl. übers. v. R. Hackforth. New York: Pantheon, 1961. 65d-66a). Ficino mag an diese Bemerkung aus dem Philebus gedacht haben, als er in seinem Kommentar zum Symposium bemerkte, dass „geschlechtliche Tollheit zu Maßlosigkeit führt und daher zu Disharmonie. Deshalb führt sie zur Hässlichkeit, während die Liebe zur Schönheit führt. [...] Daher zeigt sich, dass das Begehren nach dem Koitus [...] und die Liebe keineswegs die gleichen Bewegungen sind, sondern vielmehr entgegengesetzte“ (Anm. 22, 41). 33 Saint Thomas Aquinas. Summa Theologiae. Ins Engl. übers. v. Edmund Hill. New York: McGraw-Hill, 1964. 13: 1a, 98, 2. Paradise Lost - 171 Raphael zieht Adam zur Rechenschaft, weil er die Grenze der Mäßigkeit überschritten habe: „Gut ist die Liebe, nicht die Leidenschaft“ (8.713]) [“In loving though dost well, in passion not” [8.588]), und Adam äußert sich nie direkt zu dieser Kritik. Er sagt, dass ihn Evas „liebenswürdige Gebärden“ [“graceful acts”] mehr entzücken als ihre sexuelle Anziehungskraft und dass er ein vernünftiges Wesen bleibt, fähig, die von ihm wahrgenommenen Dinge zu bewerten (8.595-611; dt. 8.723-742). Er sagt nicht mehr über den strittigen Punkt, seinen Geisteszustand während der sexuellen Verzückung. Er scheint dann vielmehr den Spieß umzukehren, wenn er den Engel zur engelhaften Liebe befragt, was zu Raphaels Beschreibung einer vollkommenen gegenseitigen Durchdringung der Liebenden führt, an welche die Verzückungen menschlicher Sexualität nie heranreichen können. Milton versucht in Adams Diskurs etwas als erlaubt zu definieren, was die Tradition verbietet: ungebundene erotische Lust in der tiefsten Vereinigung mit der sterblichen Geliebten. Er versucht eine Form solcher Lust zu definieren, die noch als Gehorsam gegenüber Gott zählt, und er tut dies in einer der höfischen Idealisierung entnommenen Sprache. Erotische Verzückung kann dann im höfischen, neoplatonischen Sinne gerechtfertigt werden, aber nur solange wie die genauen Bedingungen dieser Rechtfertigung nicht hinterfragt werden. Als Adam seine Liebe zu Eva erneut beschreibt, rechtfertigt er seine erotische Leidenschaft, indem er sie in eine Sehnsucht nach spirituell-ätherischer Verschmelzung übersetzt. Dies ist überzeugend, für Milton ebenso wie für uns, denn physische Liebe enthält in der Tat etwas wie diesen Drang „einzudringen und ganz und gar aufzugehen, Körper im Körper“, wie Lukretz es ausdrückt. Aber obwohl diese Darstellung oberflächlich korrekt ist, unterdrückt sie das leidenschaftliche Gefühl, das sich in den Tiefen von Adams erster Darstellung rührt, das Gefühl von der tödlichen Essenz des Eros. Milton beginnt in seiner ersten Darstellung jene Macht zu mobilisieren, die Adam zu seiner Entscheidung für den Tod führt. Nichtsdestotrotz verdeckt Milton diese Macht schon hier durch die Idealisierung Evas, welche den Weg zu einer anderen, platonisierten Version des Eros eröffnet. Dies ist natürlich nicht nur eine äußere Hülle, weil Evas Schönheit und ihre moralisch-intellektuellen Qualitäten wirklich Adams Liebe anheizen, aber die höfische Extravaganz, mit der Adam Eva idealisiert, wirft einen Schleier über den physischen Aspekt von Adams erotischem Vergnügen an ihr. 34 34 Stanley Fish meint, dass Adam in der ersten Beschreibung seiner Liebe zu Eva (8.530-52; dt. 8.645-669) bloß nachlässig war, und seine auf den Tadel des Engels hin (8.596-611; dt 8.723-43) neu formulierte Darstellung den korrekten und untadeligen Ausdruck seiner wahren Liebe darstellt (Surprised by Sin. Berkeley: University of California Press, 1971. 229-31). Aber, wie Reichert, Anm. 18, bemerkt, „widersprechen“ die ersten Worte von Adams innerem Monolog, als er sich entschließt zu fallen, „O holdestes Geschöpf, von Gottes Werken / Das letzte und das beste“ (9.1127-28) [“Oh fairest of Creation, last and best / Of all God’s works”] „explizit und direkt“ dem Wissen, das er Raphael gegenüber im orthodoxen Teil seiner ersten Rede ausdrückt: „Ich weiß ja auch, 172 - Paradise Lost Ob Adam zum Zeitpunkt seines Wortwechsels mit Raphael noch in voller Kontrolle über seinen makellosen freien Willen ist, wie es die konservativen Interpreten behaupten, oder nicht, der Punkt, an dem er versagen könnte, ist nun präzise bestimmt worden: seine Schwäche für Evas „Überfluss“ [“too much”] an Schönheit und erotischer Anziehungskraft (8.538/ dt.8.651). Und es ist klar, woher dieses Zuviel kommt: es ist ihr von Gott gegeben worden. Die Frage ist, warum. Warum würde Gott Eva so attraktiv machen, dass Adam in Gefahr gerät, um ihretwillen Gott zu vergessen? Raphaels Erklärung ist einfach und prägnant: sie „ist so schön zu deiner größern Wonne“ (668) [“made so adorn for thy delight the more” (576)]. 35 Das ist eine faszinierende Erklärung. Gott hat Eva so reizvoll für Adam gemacht, dass sich sein noch unsündiger Verstand in ihrer Gegenwart trübt. Gott hat dies getan, um Adams Vergnügen zu steigern - um es anscheinend bis zum Äußersten zu steigern. Eva ist das Paradies des Paradieses (zur Erinnerung: „Eden“ bedeutet „Vergnügen“, was Milton eindeutig immer bewusst ist), „Summe irdischer Glückseligkeit“ (8.630) [“the sum of earthly bliss” (8.522)]. Verglichen mit ihr scheint alles andere “[g]erring” (568) [“mean” (473)], und wenn er sie verlieren würde, so Adam schon, nachdem er sie im Traum gesehen hat, würde er „den andern / Genüssen allen ab[...]schwören“ (577-78) [“other pleasures all abjure” (480)]. Adam lebt im Paradies in Gemeinschaft mit Gott selber, und dennoch erklärt er, dass er all dies aufgeben würde, wenn er Eva nicht auch haben könnte. Revidiert Milton nicht schon an dieser Stelle die orthodoxe Darstellung auf eine radikale und in der Tat inakzeptable Weise? Die Genesis sagt nur, dass Eva Adam den Apfel zeigte und er davon gegessen hat, und es ist auffällig, wie wenig Augustinus, Luther oder Thomas von Aquin darüber zu sagen haben, warum Adam so gehandelt hat, als ob sein Motiv ganz klar und offensichtlich sei. Aber Milton möchte sich die gelebte Wirklichkeit von Adams Entscheidung vorstellen, die leidenschaftlich-erotische Macht der Liebe, die Adam dazu bewegt, lieber den Tod zu wählen als Eva zu daß sie mir letzten Endes, / Wie die Natur sie schuf, nachstehen muß“ (8.654-5) [“For well I understand in the prime end / Of Nature her th’inferior.” (8.540-41). Reichert sieht diesen Widerspruch als Zeichen dafür, dass Adam „Eva bewusst und ‚gegen sein besser Wissen‘ wählt“ und er daher tatsächlich nicht verführt wurde, wie Milton, Timotheus I, 2: 14 folgend, in 9.997-99 [dt. 9.1255-58] behauptet (“A Case for Adam”, 95). Aber dadurch wird auch deutlich, dass Adam zwar „weiß“, was die korrekte Auffassung ist, und die richtigen Worte vor seinem Bewusstsein aufmarschieren lassen kann, seine Feststellung, dass Eva absolut „scheint“ [“seems”] (8.547; dt. 8.661) jedoch seine eigentliche Ansicht ausdrückt. 35 Die Redewendung “so adorn” mutet italienisch an, wie Alastair Fowler in seiner Ausgabe von Paradise Lost anmerkt (The Poems of Milton. Hrsg. John Carey und Alastair Fowler. New York: Norton, 1972. 845); genauer gesagt, ist es wahrscheinlich eine Übertragung des si adorna mit welchem Dante Beatrice in dem canzone „Donne ch’avete“ in der Vita Nuova beschreibt: Dice di lei Amor: „Cosa mortale / come esser pò sì adorna e sì pura? “ Paradise Lost - 173 verlieren. Hier sind wir wieder in Fragen der Literaturgeschichte verwickelt. Es fällt Augustinus oder Thomas von Aquin nicht ein - und kann es auch nicht - die Subjektivität Adams so genau zu untersuchen. Bevor wir Miltons quasiromanhafte Darstellung der ehelichen Intimität von Adam und Eva erreichen, bedarf es einer langen literarischen Ausarbeitung der Sprache erotischer Subjektivität, die Milton zu Verfügung steht, jenen aber nicht. Doch Milton geht noch weiter. Er stellt nicht nur die komplexen und zweideutigen Details von Adams Liebe zu Eva dar, er treibt die Logik seiner Darstellung bis zu ihrer notwendigen Schlussfolgerung. Er erkennt, dass der physische Akt der Liebe nicht nur ein bloßer Zusatz zum paradiesischen Glück sein kann. Wenn Liebe Eros im vollsten Sinne ist (wie Adam Raphael zwingt zuzugeben), dann ist der Liebesakt dessen Vollendung - die volle, letzte Blüte spirituell-physischen Vergnügens, der Höhepunkt befriedigten Verlangens. Und wenn Eva für Adam die Summe aller Freuden ist, das Paradies des Paradieses, ohne welches der ganze Rest nicht das Paradies wäre, dann folgt daraus, dass für Adam das Wesen des Sündenfalles, als eines Verlusts von Vergnügen, im Verlust der unsündigen Erotik besteht. Milton zeigt, wie Adams Essen des Apfels zu einem sofortigen erotischen Rausch führt, der Adam und Eva für immer aus ihrem früheren Vergnügen vertreiben wird. Aber in ihrem rauschhaften Taumel erfahren sie ihren Liebesakt als einen Genuss jenseits jeden früheren Genusses. „Denn nie [...] hat je / Mir deine Schönheit meine Sinne so / Entzündet, dich mit Inbrunst zu genießen, / Die du holdseliger nun bist als je“ (1295-1300) [“Never did thy Beauty [...] so inflame my sense / With ardor to enjoy thee, fairer now / Than ever” (9.1029-32)], sagt Adam, und Evas Augen schießen „[a]nsteckend Feuer“ zurück (1305) [“contagious fire” (1036)]. Der Höhepunkt des sündigen, ebenso wie des unsündigen, Vergnügens ist sexuelle Liebe. Das ist es, was Milton sieht - vor dem Sündenfall ebenso wie danach. Die Qual des Falles, die Essenz jenes Verlustes, von dem Miltons Vorstellungskraft beherrscht wird, ist der Verlust des ungehinderten und ungetadelten, vollständigen, physischen/ moralischen/ intellektuellen Genusses von Evas Körper und Wesen, das Adam einst genoss - ein Genuss, dessen Vollendung oder „Siegel“ die Sexualität ist. Das gibt Adams Leiden die besondere Schärfe. Wenn er weniger erotisches Vergnügen an Eva gefunden hätte, hätte er sich nicht entschieden, mit ihr zu sterben, aber dann hätte er nicht das höchste Vergnügen erlebt, und der Garten Eden wäre nicht der Garten Eden gewesen. Auch hätte der Sündenfall nicht die besondere Bitternis gehabt, die er als Verlust des äußersten Genusses hat. Adams unsündige erotische Freude ist stark genug, um die Vollendung paradiesischen Vergnügens zu sein, und sie ist entsprechend auch so stark, dass Adam es vorzieht, Gott nicht zu gehorchen als sie aufzugeben. Aber weil er ihm nicht gehorcht, verliert er, was er durch seinen Ungehorsam bewahren wollte. Der Liebesakt vor und nach dem Sündenfall: die beiden Szenen stellen ein Paar dar. Es wird deutlich, dass wir sie nebeneinander lesen sollen. Sie sind Gegenpole, aber die eine führt zu der anderen. Die erste Szene verursacht die 174 - Paradise Lost zweite nicht. Sie ist ganz makellos. Und dennoch ist sie das sine qua non der zweiten. Das ist die Szene von Adams Rausch, dieser Matrix der erotischen Blindheit, welche ihn im entscheidenden Moment überfällt. Trotz seiner Kritik an Augustinus’ Sicht der Sexualität steht Milton diesem in gewisser Weise sehr nahe. Beide stellen Sexualität als etwas dar, was dem menschlichen Wesen auf tiefste und unausweichliche Art angehört. 36 Milton zeigt auf dramatische Weise, was Augustinus konzeptionell ausdrückt: dass der Tod in die Bewegungen der sexuellen Leidenschaft eingeschrieben ist, dass sich das Selbst im erotischen Rausch verliert, wodurch der Tod präfiguriert wird. Für Augustinus bedeutet das, dass der sexuellen Leidenschaft entsagt werden muss, aber Milton versucht in Paradise Lost eine Form von ihr zu entwickeln, die mit dem unsündigen Zustand vereinbar ist, eine erotische Berauschtheit, die nicht Wollust ist - auch wenn sie, solange der Zauber wirkt, mit der Wollust die Fähigkeit gemein hat, die Hierarchie der Vernunft umzustürzen. Diese unsündige Leidenschaft muss in ihrer Essenz von jener Leidenschaft unterscheidbar sein, die mit dem Fall einhergeht, aber sie muss, und auch das ist wesentlich, mit der sündigen Leidenschaft korrespondieren. Was wäre letztlich eine Leidenschaft, die das Selbst nicht in einen Rausch versetzt? Und dennoch ist das genau das, was Augustinus (und mit ihm die christliche Orthodoxie im Allgemeinen) aus seiner Vision von paradiesischer Sexualität ausschließt. Milton muss sich mit der grundlegenden Verbindung zwischen dem unschuldigen und dem sündigen Eros auseinandersetzen, weil er Adams Entscheidung nachvollziehen muss, jener Entscheidung, die durch „das akzeptable Entzücken der paradiesischen Liebe“ motiviert wird (Turner, 298). Milton weiß, dass die Entscheidung für den Eros notwendigerweise auch die Entscheidung für den Tod ist, dass selbst im Paradies das, was er sich vorstellt, nur in Verbindung mit dem Exzess vorstellbar ist, der die Bedingungen des ewigen Lebens verletzt, der einen Raum des Vergessens im Bewusstsein öffnet, in welchem die Selbstbeherrschung des Subjekts gebrochen ist und etwas passiert, das kein Jetzt hat, nur ein Vorher und Nachher. Die Beziehung zu Gott kann nur in diesem Vorher und Nachher existieren, in der Lücke dazwischen ist sie ausgelöscht. Für Adam ist daher der Moment der Entscheidung elidiert, gehört er nicht zum bewussten Willen. Der entscheidende Moment, der Angelpunkt des gesamten Gedichts findet nicht statt. Er wird im Nachhinein verkündigt, als etwas, das sich notwendigerweise aus dem Vergangenheitstempus von Evas Fall ergibt: […] some cursed fraud Of Enemy hath beguil’d thee, yet unknown, 36 Vgl. Peter Browns Bemerkungen zu Augustinus in The Body and Sexuality: Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity. New York: Columbia University Press, 1988. 419-22. Paradise Lost - 175 And mee with thee hath ruin’d, for with thee Certain my resolution is to Die. (9.904-7; Hervorhebung H.S.) Verfluchte Feindeslist, noch unerkannt, / Hat dich berückt und mich mit dir zerstört, / Denn mein Entschluß ist fest, mit dir zu sterben. (9.1137-39) Eva bedenkt ihre Entscheidung gründlich, bevor sie den Apfel isst, aber Adam überlegt weder, noch entscheidet er sich wirklich. Vielmehr stellt er fest, dass er sich entschieden hat. 37 Adam entdeckt seine Entscheidung anstatt sie zu fällen. Sein Motiv ist erotische Liebe, aber Milton versteht diesen Eros nicht als einen Appetit oder eine Leidenschaft von vielen. Er sieht ihn vielmehr als etwas an, das aus der grundlegenden Beschaffenheit von Adams Sein entspringt, als etwas, das ein wesentlicher Bestandteil dieses Seins ist, und zwar schon vor dem Fall. Erotische Leidenschaft wird in der christlichen Anthropologie als etwas definiert, das zur eigentlichen Essenz des Menschlichen hinzukommt, das dieses befällt oder von außen deformiert. Sie ist eine Konsequenz des Sündenfalls, und auch wenn es ihr bei der nachparadiesischen Menschheit gelungen ist, in den Kern des Selbsts einzudringen, wird dieses „gefallene“ Selbst als eine Verformung von dem Abbild des Schöpfers verstanden, das ursprünglich als dessen wahres Sein in das Geschöpf eingeprägt wurde. Aber Milton versteht 37 Adam ist entschlossen zu sterben, seine “resolution is to Die”. In welcher Verbindung steht diese “resolution” zu dem “resolve”, “resolute” und “resolution”, mit denen Macquarrie und Robinson Heideggers „entschließen“, „entschlossen“ und „Entschluss“ übersetzen? Entschlossenheit, so Heidegger, ist „die in der Sorge gesorgte und als Sorge mögliche Eigentlichkeit dieser selbst“ (301) und Sorge „birgt Tod und Schuld gleichursprünglich in sich“ (306): Das Gewissen-haben-wollen bedeutet die Anrufbereitschaft auf das eigenste Schuldigsein, das je schon das faktische Dasein bestimmte vor jeder faktischen Verschuldung und nach ihrer Tilgung. Dieses vorgängige und ständige Schuldigsein zeigt sich erst dann unverdeckt in seiner Vorgängigkeit, wenn diese hineingestellt wird in die Möglichkeit, die für das Dasein schlechthin unüberholbar ist. Wenn die Entschlossenheit vorlaufend die Möglichkeit des Todes in ihr Seinkönnen eingeholt hat, kann die eigentliche Existenz des Daseins durch nichts mehr überholt werden. (Martin Heidegger. Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 15. Auflage 1984. 307) Heidegger meint mit Schuld natürlich nicht, was normalerweise in der christlichen Doktrin darunter verstanden wird; dennoch geht es bei ihm um eine Ausführung der traditionellen Bedeutung. Und es wird deutlich, dass Adams sogenannte „Entschlossenheit“ die Bedingungen Heideggerscher Eigentlichkeit so wenig erfüllt wie die der christlichen Rechtschaffenheit. Adams „Entschluss“ ist keine „Seinsweise des Daseins [...], in der es sich zu und vor sich selbst bringt“ (309). Vielmehr bringt es ihn zu dem Umweg seines Seins durch das Sein der Frau, jener Frau, deren eigene Natur sicherstellt, dass sie ihren eigenen Weg gehen wird. 176 - Paradise Lost das, was Adam und Eva - oder zumindest Adam - vor dem Fall bewegt, nicht als eine hinzukommende Deformation, sondern als die Essenz der Essenz. Das „Band der Natur“ [“Bond of Nature”], von dem Adam spricht, ist nicht identisch mit dem Trieb zum Geschlechtsverkehr, obwohl dieser Trieb ein direkter und grundlegender Ausdruck von ihm ist. Adam wählt sich selbst, seine ganz eigene Eigenheit, und wählt damit den Tod. So forcible within my heart I feel The Bond of Nature draw me to my own, My own in thee, for what thou art is mine; Our State cannot be sever’d, we are one, One Flesh; to lose thee were to lose myself. (9.955-59) In des Herzens Grund / Spür ich mit Macht die Bande der Natur / Dahin mich ziehen, wo mein Eigen ist, / Mein Eigenes in dir, denn, was du bist, / Ist mein; so sind wir unzertrennlich eins, / Ein Fleisch; mich selbst verlöre ich in dir. (9.1202-07) Es mag daher so scheinen, als ob der männliche Narzissmus in den Vordergrund tritt, wenn es darauf ankommt, wenn sich das aus einem Mangel entspringende Begehren als gebieterische Behauptung von Besitz enthüllt. Aber wenn es auch stimmt, dass Evas Verschiedenheit, ihr Anders-als- Adam-Sein, in gewissem Sinne ausgelöscht wird, dann ist das doch nicht die ganze Wahrheit. Die Tatsache, dass sie, die fehlende und vorgeblich untergeordnete Hälfte, jetzt eine autonome Entwicklung erlebt hat, verkompliziert nämlich Adams „was du bist ist mein“ [“what thou art is mine”] ganz entscheidend. Sie ist ausgeschert und ihre eigene exzentrische Bahn gegangen, und nun ist sie nicht mehr dieselbe, die sie war, bevor sie diesen Weg begann Es soll hier noch einmal daran erinnert werden (denn dieser Punkt ist entscheidend), dass, wie Turner und McColley gezeigt haben, Miltons Darstellung von Evas Fall stark von der Tradition literarisch-künstlerischer Repräsentationen Evas abweicht. Evas Versuchung wurde charakteristischerweise als Gelegenheit für Hetzreden genutzt, in denen dem weiblichen Geist „Trivialität, eine Vorliebe für alles Neumodische und sogar eine Neigung zu allem, was verboten und böse ist“ vorgeworfen wurde (Turner, 290). Miltons Eva dagegen wird durch die scheinbare „Vernunft“ und den „Sinn“, von denen die Worte der Schlange „durchdrungen“ sind, überzeugt (9.737-38; dt. 9.930-31). Ihre Sünde wurzelt daher nicht in so einem verdorbenen Begehren, wie es mit dem erniedrigenden kulturellen Stereotyp von Frauen assoziiert wird, sondern in ihrem unabhängigen Denken und ihrem Empirismus, der sie ihren Sinneseindrücken und ihren eigenen Denkprozessen vertrauen lässt. 38 38 Wie Fish, Anm. 34, zeigt, ist Evas Empirismus selbst jedoch durch und durch sündig, eine Form des Glaubens an sich selbst anstatt in Gott (Surprised by Sin, 248-52). Paradise Lost - 177 Es wird deutlich, dass Evas Begehren des Apfels bei Milton vor allem durch das Begehren nach Wissen motiviert wird. Es ist weniger offensichtlich, was genau sie unter Wissen versteht oder wie deutlich ihr ist, was es vermag, warum es wertvoll ist. Bevor sie den Apfel isst, denkt Eva bei sich, dass Gottes Verbot sowohl „das Gute“, das die Frucht vermitteln kann, erahnen lässt als auch den „Mangel“, den Adam und Eva daran haben, und sie beschreibt diesen „Mangel“ dann folgendermaßen: For good unknown, sure is not had, or had and yet unknown is as not had at all. (756-57) unerkanntes Gut / Ist nicht gehabtes oder, wenn gehabt, / Doch unerkannt, so gut wie nie besessen. (dt. 9.952-954) In diesen Zeilen klingt die platonische Doktrin des Philebus wider, nach der ein Vergnügen, das man nicht bewusst und mit Verstand als solches erlebt, überhaupt kein Vergnügen im menschlichen Sinne sei, sondern etwas, das den niedrigsten Tieren entspräche. Sokrates spricht im Philebus von einem „ganzen Leben“, das paradiesisch „mit dem Genuss der größten Vergnügen“ verlebt werde, aber selbst dieses Leben, behauptet er, wäre nicht erstrebenswert, wenn einem „Verstand, Gedächtnis, Wissen und richtiges Urteilsvermögen“ fehle, so dass „man [...] nicht wüsste, ob man [sich seines Lebens erfreue oder nicht]“ (21a-d). Milton kannte den Philebus, welcher einer der grundlegenden platonischen Texte für die italienischen Neoplatonisten war, und er mag auch Ficinos Kommentar zum Philebus gekannt haben, in welchem Ficino erklärt, dass „wissen [sapere] ein verbreiteter Ausdruck“ für die verschiedenen Fähigkeiten sei, die Platon aufzählte. Ein dem Vergnügen gewidmetes Leben ohne sapientia, so Ficino, wäre „das, welches dem Tod am nächsten wäre, das, welches am wenigsten Leben in sich habe. 39 Platon und Ficino begreifen das Leben ohne sapientia des Genusses als das eines sehr primitiven Organismus - einer Qualle oder einer Auster. Die Frage des Wissens muss im Fall von Adam und Eva auf einer höheren dialektischen Ebene neu formuliert werden, da diese offensichtlich über die intellektuellen Fähigkeiten von Gedächtnis und Verstand verfügen. Deshalb ist es in Evas Formulierung nicht eine simple Sinnesfreude, sondern ein „Gut“, das nicht existiert, „wenn gehabt, / Doch unerkannt“. Miltons dialektischer Scharfsinn zeigt sich in dieser Interpretation von Evas Motivation, und er wird darin von Hegel bestätigt, der die Genesis ebenfalls als Bestätigung der primitiven Unterscheidung zwischen unmittelbarer Existenz und Wissen auf höherer dia- 39 Marsilio Ficino: The Philebus Commentary. Hrsg. und ins Engl. übers. v. Michael J. B. Allen. Berkeley: University of California Press, 1975. 316. Zum Einfluss des Philebus selbst und Ficinos Kommentar dazu während der Renaissance vgl. Allens Einführung (15) und seine Anmerkung 57 (526). 178 - Paradise Lost lektischer Ebene liest. Für Hegel besitzen Adam und Eva eine ursprüngliche Form von Geist, der sich hier nicht als solcher begreift, sondern in mancher Weise noch „in die Mannichfaltigkeit seines Bewußtseyns zerstreut“ ist und nun „sich selbst ein Anderes werden“ muss, und dabei durch das „insich gehen des Wissens überhaupt“ sein Einssein mit sich selber - ein unschuldiges, nichtwissendes Einssein - verlässt. 40 Es ist dieser Rückzug des wissenden Selbst aus der Unmittelbarkeit des Bewusstseins, um zu wissen, dass es weiß, den das Christentum als böse verurteilt. Miltons Verständnis von Evas Motiv nähert sich jedoch dem Begreifen seiner dialektischen Notwendigkeit im hegelianischen Sinne. Allerdings ist es für Milton ein wesentlicher Aspekt dieses Moments, in dem der Verstand sich selber ein Anderes wird, dass er ausgerechnet einer Frau gelingt - was Hegel vollkommen ignoriert. Dies ist eine auffällige Auslassung, wenn man bedenkt, dass Hegel ebenso wie Milton die Genesis kommentiert, denn Eva ist ja nicht irgendeine Frau, sondern die Frau, die universelle Frau oder der Archetyp der Weiblichkeit. Milton entwirft also das Wesen dieses Archetypus neu als den Drang zum Wissen im ganz grundlegenden philosophischen Sinne. Der Drang zum Wissen ist auf komplizierte Weise mit der Gender-Frage und mit Adams Begehren von Eva verknüpft. Das liegt daran, dass Evas Drang zum Wissen, zu dem „insich Gehen des Wissens überhaupt“ nicht nur zum „Anderswerden“ ihres Selbst, dem Verlust ihrer Selbstunmittelbarkeit, führt, sondern auch zu ihrer Trennung von Adam - einer Trennung, die er nicht will und gegen die er sich wehrt. Evas Unzufriedenheit mit der Ordnung des Paradieses wird von ihren ersten Momenten des Bewusstseins an deutlich, wenn sie das Bild ihres eigenen Gesichtes im Wasser dem Adams vorzieht. 41 Obwohl diese anfängliche Trennung schnell überdeckt wird, zeigt sie sich noch einmal in ihrem Beharren gegenüber Adam, dass es kein Paradies sei, wenn sie immer an seiner Seite sein müsse (9.322-41; dt. 9.402-427). Adam selber mutmaßt, dass die Gartenarbeit nicht der wahre Grund für Evas Wunsch ist, alleine umherzuwandern, sondern dass sie seiner müde würde (“But if much converse perhaps / Thee satiate, to short absence I could yield” (9.247-48)/ „Doch falls Geplauder dich vielleicht verdrießt, / Wenn es zu viel wird, könnte ich gar wohl / Zu einer kurzen Trennung mich entschließen“ (9.306-8)). 40 G. W. F. Hegel. Phenomenology of Spirit. Ins Engl. übers. A. V. Miller. Oxford: Oxford University Press, 1979. 467-68. [„Indem dieser Geist bestimmt ist, als erst unmittelbar daseyend oder als in die Mannichfaltigkeit seines Bewußtseyns zerstreut, so ist sein Anderswerden das insichgehen des Wissens überhaupt.“ Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Felix Meiner, 1999 (Hauptwerke in sechs Bänden, Bd. 2). 412] 41 Eine grundlegende Neuinterpretation von Eva könnte gut mit Christine Froulas Neubewertung ihres „Narzissmus“ als einem positiven Impuls für Selbstheit beginnen. Christine Froula. “When Eve Reads Milton: Undoing the Canonical Economy.” Critical Inquiry 10 (Dezember 1983). 326-39. Paradise Lost - 179 Es wäre daher zu einfach, Adams Behauptung, dass Eva ihm eigen sei, als eine bloße Reabsorption seiner „anderen Hälfte“ zu sehen. Eva war von Anfang an eine potentiell dissonante Kraft, eine Kraft, die mit ihrem Sündenfall die phallozentrische Ökonomie des Paradieses auf katastrophale Weise zerstört. Was Adam als ihm eigen akzeptiert, ist das, was die Frau alleine und gegen seinen Willen geworden ist. Innerhalb der Grenzen dieses Momentes zumindest akzeptiert er ihre Verletzung des väterlichen Gesetzes und die Strafe, die daraus folgt. 42 Wir müssen Adams „was du bist, / Ist mein“ [“what thou art is mine”] im Zusammenhang mit seiner früheren Erklärung an Raphael sehen, dass seine Liebe zu Eva so überwältigend ist, weil sie scheinbar „[s]o gut [...] ihr Ureigenstes erkennt“ (8.665) [“so well to know her own” (8.548-49)]. Natürlich hat Adam in diesem Moment noch keine Ahnung, welches Ausmaß und was für eine Art von Erkenntnis Eva kurz darauf erlangen wird, aber schon hier ist seine erste Antwort, Evas Zugang zu diesem Wissen zu akzeptieren. Hier ist die Struktur und die Tonalität seiner mentalen und verbalen Überlegungen entscheidend: seine erste Reaktion auf das, was Eva getan hat, ist Grauen, dennoch denkt er nie daran, sie im Stich zu lassen (9.896-916; dt. 9.1127-1150). Als er endlich seinen Mund zum Reden öffnet, spricht er sie in einem unter den Umständen erstaunlichen Ton an. Er wirkt konsterniert, aber ruhig und vor allem höflich: „Du hast dir kühne Tat, verwegne Ev’ / Herausgenommen“ (9.1155-56) [“Bold deed hast thou presum’d advent’rous Eve ...” (921)]. Der in „herausgenommen“ [“presum’d”] und vielleicht in „verwegne“ [“advent’rous”] implizierte Vorwurf wird durch den respektvollen Ton eingegrenzt, und ihm folgt sofort die Aufgabe jedes Bedauerns: „Doch wer macht Geschichte ungeschehen? “ (9.1164) [“But past who can recall, or done undo? ”]. In den nächsten vierundzwanzig Zeilen versucht Adam, die Situation von ihrer besten Seite zu sehen, aber all das ist zweitrangig, wie wir von seiner früheren, stummen Erklärung wissen („Denn mein Entschluß ist fest, mit dir zu sterben“ / “with thee / Certain my resolution is to Die”). Seine Entscheidung ist bereits gefallen, selbst wenn er sie in seinen gesprochenen Worten bis zum Schluss zurückhält: However I with thee have fixt my Lot, Certain to undergo like doom. (9.952-53) 42 Ich möchte hier die Grenzen meiner Behauptung betonen: ich beziehe mich auf den Moment von Adams Entscheidung und nicht auf die gesamte doktrinäre Architektur, welche diese Entscheidung umfasst. Adams Entscheidung ist definitionsgemäß der Moment des Exzesses, in dem etwas in Adam aufbricht, was die Ökonomie der christlichen Doktrin nicht mehr kontrollieren kann. Daher muss diese christliche Doktrin im Anschluss erneut bestätigt werden. Ein wichtiger Aufsatz, welcher die Begeisterung über Miltons Ideen zur Ebenbürtigkeit und Gegenseitigkeit in der Ehe dämpft, ist Mary Nyquist. “The Genesis of Gendered Subjectivity in the Divorce Tracks and in Paradise Lost.” In: Re-membering Milton. Hrsg. Mary Nyquist und Margaret W. Ferguson. New York: Methuen, 1987. 99-127. 180 - Paradise Lost Doch habe ich an dich mein Los gebunden, / Ein gleich Verhängnis sei für mich bestimmt (9.1199-1200) „However“ bedeutet hier: wie immer das aussehen mag, ob die möglichen Palliative, die ich genannt habe, wahr werden oder nicht, egal, dies ist meine Entscheidung. Wenn Adam nun erklärt, dass es das ihm Eigene in ihr ist, das ihn anzieht, dass was sie ist, sein ist, dann wird der patriarchalische Trieb, die Frau zu besitzen, hier über seine Grenze hinausgetrieben und macht sich selber durch diese Erklärung zunichte. Denn indem er sich weigert, seinen Besitz aufzugeben, gibt Adam das auf, was der Besitz der Frauen eigentlich sichern sollte: dass die Frau in ihren Grenzen gehalten und auf die Ökonomie des Haushalts beschränkt wird, dass ihre Sexualität und ihr eigenes Projekt des Wissens begrenzt werden, damit diese die Autorität des Mannes nicht unterminieren und seine Lebensenergie abziehen können. Dass die Frau „dem Tod genehm ist“, steht fest, jedenfalls in Paradise Lost und in der Hauptlinie der gräko-hebräisch-christlichen Tradition. Dass der Mann sich selber dem Zugriff des Todes entziehen kann, indem er seine Beziehungen zur Frau reguliert oder ihr gänzlich aus dem Wege geht, ist eine Folge dieser Regel. 43 Adam hat noch nicht von dem Apfel gegessen, aber er fühlt schon das Aufwallen eines zwanghaften Triebes, der sich nicht sublimieren lassen wird, weil nun nicht mehr nur „das Weiseste, das Tugendhaftste, / Das Wohlerwogenste, das Beste“ [“wisest, virtuousest, discreetest, best”] Evas Begleiter ist. Wenn er nun mit Eva schläft, weiß Adam, dass er mit dem Tod schläft. Aber es kümmert ihn nicht, weil er im Griff der erotischen Verzückung ist, die Diotima die niedrigste Ebene des Eros nennt und welche Nietzsche in einer bestimmten Stimmung „Adel“ nennt. 44 Milton benennt dies als den Zustand des Gefallenseins, aber das hindert ihn nicht daran, sich diesen auf die vollkommenste Weise vorzustellen. 43 Edgar Wind hat gezeigt, dass die Verbindung von Liebe und Tod als eine Figur geistiger Verzückung ein Gemeinplatz im Denken der Renaissance war. Edgar Wind. Pagan Mysteries in the Renaissance. New York: Norton, 1968. 152-70. Aber dieser Tod war entweder bloß metaphysisch (wie in Ficinos De Amore, 2: 8) oder es war der mystische Tod, bei dem der Körper zurückgelassen wird, wenn die Seele zum Göttlichen aufsteigt, daher ganz das Gegenteil des Todes, der mit Frauen und dem Geschlechtsverkehr verbunden wird. 44 „[D]er Edle, Großmütige, Aufopfernde unterliegt in der Tat seinen Trieben, und in seinen besten Augenblicken pausiert seine Vernunft. Ein Tier, das mit Lebensgefahr seine Jungen beschützt oder, in der Zeit der Brunst, dem Weibchen auch in den Tod folgt, denkt nicht an die Gefahr und den Tod, seine Vernunft pausiert ebenfalls, weil die Lust an seiner Brut oder an dem Weibchen und die Furcht, dieser Lust beraubt zu werden, es ganz beherrschen; es wird dümmer, als es sonst ist, gleich dem Edlen und Großmütigen.“ (Friedrich Nietzsche. Die fröhliche Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Insel, 1982. 40) Paradise Lost - 181 Als Adam sich entschließt, mit Eva zu sterben, tut er genau das, was die gesamte moralisch-ontotheologische Tradition verhindern soll. Er akzeptiert die vollkommene Verausgabung, welche die sterbliche Liebe mit sich bringt. Aber er weiß nicht wirklich, was er tut, und er wird nicht fähig sein, zu seiner Entscheidung zu stehen. Er kann es nur tun, weil er Eva immer noch durch einen idealisierenden Schleier sieht und weil der Druck des erotischen Triebes so stark ist. Sie war den ganzen Tag weg, und Adam, der von Anfang an nicht wollte, dass sie wegging (und wie McColley argumentiert, nicht nur, weil er um ihre Sicherheit fürchtete), hat „[v]oll Sehnsucht ihrer Rückkehr harrend“ (9.1056) [“waiting desirous her return”], ihr eine Blumengirlande gewoben, während er „Freude sich und neu Ergötzen / Bei ihrer lang-erwünschten Heimkehr aus[malte]“ (9.1061-62) [“Great joy he promis’d to his thought, and new / Solace in her return, so long delay’d” (9.839-44)]. 45 In dieser Stimmung wird er plötzlich und unvermittelt mit der Möglichkeit konfrontiert, von Eva getrennt zu werden. Das Essen des Apfels nimmt seinem Bild von Eva dann die höfische Idealisierung, aber es steigert sein erotisches Feuer zu physischer Erregung, und in diesem Zustand vermisst er den idealisierenden Schleier nicht. Als der Druck des sexuellen Triebes sich jedoch gelöst hat, wird Adam von dem, was er nun nackt sieht, überwältigt. Natürlich sind beide, er und sie, erregt, und beide stehen am Ende daher „entblößt, / Ein nacktes Ziel der schuldbewußten Scham“ da (9.1333-34) [“naked left / To guilty shame” (9.1058)]. Aber diese Erregung und diese Scham bedeuten für Adam etwas Anderes als für Eva. Als Adam Eva das erste Mal gesehen hat, war sie nackt und stand anscheinend seinem sexuellen Trieb gegenüber offen. Er näherte sich ihr und drängte sofort auf sexuelle Vereinigung (8.484-511; dt.8.591-627). „[U]nd sie sollen / Ein Fleisch, ein Herz, und eine Seele sein“, erklärt Adam (8.600-601) 45 Wir dürfen nicht vergessen, dass “solace” [Trost] das Wort ist, mit dem Milton ihr Liebesspiel nach dem Sündenfall beschreibt: “the Seal / the solace of thir sin” (9.1043- 44) / „das Siegel [...] / Als ihrer Sünde Trost“ (9.1315-6). McColley, Anm. 13, argumentiert, dass Adams sexueller Eifer „einer der Gründe ist, warum Eva sich später entscheidet, Adam für eine Weile alleine zu lassen“ (Milton’s Eve, 71): Der Garten ist nicht nur ein wirklicher Garten, welcher der Pflege bedarf, er ist auch eine Metapher für wohl-temperierte Leidenschaften und Freuden, und Eva, wie sie taktvoll erwähnt, [...] hat die Worte „[v]om Engel selbst, als er von dannen ging“ (Meier 9.343) [„parting Angel“ (9.276)] gehört. [...] Was sie den Engel zu Adam hat sagen hören, zu Adam, der gerade von seinem Kampf mit seiner Leidenschaft für Eva gesprochen hat, war: „gib acht, daß nicht / Die Leidenschaft dein Urteil übel leite, / Wohin dein freier Wille nicht gewollt“ (8.773-5) [„take heed lest passion sway / Thy judgment“ (8.635-36)]. Die Metaphorik ihrer Rede verweist auf das Mäßigen der Leidenschaften, in Reaktion auf Adams stärkstes Verlangen, das ihr Raphaels Warnung und zweifellos auch ihre eigenen Beobachtungen deutlich gemacht haben. (146) 182 - Paradise Lost [“And they shall be one Flesh, one Heart, one Soul” (8.499)], der damit sein dringendes Begehren sanktioniert und heiligt. Mit Adam und Eva sind wir auf unbekanntem erotischen Boden, denn keine der normalen Barrieren sexueller Vereinigung scheint zu existieren. Die Konventionen höfischer Liebe haben jedoch eine solche imaginative Kraft für Milton, dass er sich ihre spontane Geburt - zumindest in ihren Grundzügen - im ersten paradiesischen Moment erotischer Begegnung vorstellen muss. Eva muss irgendeine Schranke aufbauen, die Adams Begehren zwar nicht entschieden ablehnt, aber es doch verlangsamt und damit seine Befriedigung aufschiebt und in der kurzen Zwischenperiode die Zeremonie des Werbens erwirkt. Die nackte Direktheit von Adams sexueller Erregtheit muss in eine mentale/ linguistische Auflistung von Evas Qualitäten kanalisiert werden, die seine Annäherung an sie vermittelt. Sie muss sich zunächst abwenden, und nachdem sie sich ihm dann doch zugewandt hat, muss sie erröten und Adams stürmischer Leidenschaft nur mit der „süße[n] Frist verliebten Widerstrebens“ (4.416) [“sweet, reluctant, amorous delay” (4.311)] nachgeben, welche ihre „Unterwerfung“ (4.411) [“subjection” 94.308)] gegenüber Adam im Allgemeinen charakterisiert. 46 She heard me thus, and though divinely brought, Yet Innocence and Virgin Modesty, Her virtue and the conscience of her worth, That would be woo’d, and not unsought be won, not obvious, not intrusive, but retir’d, The more desirable, or to say all, Nature herself, though pure of sinful thought, Wrought in her so, that seeing me, she turn’d; I follow’d her, she what was honor knew, And with obsequious Majesty approv’d My pleaded reason. To the Nuptial Bow’r I led her blushing like the Morn. (8.500-511) So hörte sie, und ob auch göttlich zwar / Hervorgebracht, jedoch die Unschuld und / Jungfräulich Gesittung, ihre Tugend / Und das Bewußtsein ihres eignen 46 Sowohl linke als auch rechte Kritiker haben unwillig auf Miltons Darstellung von einer sexuell schamhaften Eva reagiert. „Seine Eva zeigt zuviel Sittsamkeit in sexuellen Kontexten“, schreibt C. S. Lewis, „und sein Adam zeigt überhaupt keine.“ (C. S. Lewis. A Preface to Paradise Lost. New York: Oxford University Press, 1961. 124). Dagegen beklagen Aers und Hodge, Anm. 19, dass die Eva vor dem Fall „nicht ‚[a]nsteckend Feuer schoß‘ [‘dart contagious fire’]: sie widersetzt sich nur nicht ernsthaft. Liegt sie da und denkt an England, wie es die viktorianischen Ehefrauen tun sollten? “ („Milton on Sex“, 28). In einem jüngeren Buch haben Kerrigan und Braden, Anm. 14, versucht, Evas „Schüchternheit“ als intensivierte paradiesische Erotik zu bewerten (Idea of the Renaissance, 204-6), ein Argument, gegen das McColley, Anm. 13, sowohl Eva als auch Milton verteidigt (A Gust for Paradise, 180n). Paradise Lost - 183 Wertes, / Die unumworben nicht, noch ungesucht / Gewonnen werden wollten, noch zu offen, / Noch drängend auch, sondern zurückgehalten, / Nur um so mehr begehrt, mit andern Worten: / Die eigene Natur in ihr bewirkte, / Daß sie, von sündigem Gedanken frei, / Sich wieder wendete, da sie mich sah. / Ich folgte ihr. Sie wußte, was die Ehre / Von ihr verlangte, und geruhte erst, / Mich auf verständig vorgetragne Gründe / In Hoheit zu erhören. Hold errötend, / Führte ich sie zur Hochzeitslaube hin. (8.602-627) Es lässt sich nicht umgehen: in dieser Tradition muss die Frau das stürmische Begehren des Mannes zähmen, seine Impulse reinigen und erhöhen. Wenn die höfische Tradition sich der Wahrheit der Natur stellt, bedeutet das, sich der Frau als Wissender im biblischen Sinne von „Erkennen“ zuzuwenden. Wenn der Schleier entfernt wird, wird er von der Frau entfernt, denn der Mann bzw. sein Begehren war immer schon mehr oder weniger entschleiert. Milton zeigt keine Skrupel, jene Szene darzustellen, die jeder erotischen Idealisierung ein Ende macht. Sie ist nicht so explizit, wie wir es heute gewöhnt sind, aber sie ist explizit genug: „Das Fleisch entbrannte ihnen. Er begann, / Begehrend seinen Blick auf sie zu werfen, / Und sie erwiderte mit gleichen Sinnen, / Und beide flammen nun in Fleischeslust.” 9.1276-79) [“carnal desire inflaming hee on Eve / Began to cast lascivious Eyes, she him / As wantonly repaid; in Lust they burn” (9.1013)]. Adam „entriet der Blicke nicht, / Noch zugespielter Liebeständelei, / Von Eva aufgefangen, deren Auge / Ansteckend Feuer schoß, das übersprang“ (9.1302-05) [“forbore not glance nor toy / of amorous intent, well understood / of Eve, whose Eye darted contagious Fire” (9.1034-36)]. Ein nackter Mann mit einer Erektion sendet einer ebenfalls nackten Frau lüsterne Signale, während sie seinen nackten Körper mit dem gleichen unverhüllten Begehren ansieht. Und die Frau ist Mutter Eva. Es ist als ob Milton, der Königsmörder, hier sogar die „Urszene“ zu enthüllen wagte. Wenn auch die zweite Liebesszene, der Logik der Doktrin entsprechend, ein Abfall von der ersten ist, stellt sie andererseits der Logik der Repräsentation gemäß den Höhepunkt der gesamten Entwicklung dar. Dies ist der Moment des Durchbruchs bzw. der Offenbarung. Offenbarung im womöglich tiefsten Sinne, indem die Wahrheit der Nacktheit als Nacktheit der Genitalien enthüllt wird. Die Zeichen der Lüsternheit sind in den Gesichtern sichtbar, aber die Scham strahlt von den sexuellen Körperteilen (“most / to shame obnoxious” [9.1093- 94] / „Was uns zumeist das Schamgefühl verletzt“ (9.1381)) nach oben. Die Genitalien sind der physische Ort der Sündhaftigkeit, der Scham und des Gefühls von Ungehorsam. 47 Technisch gesehen ist ihre Sünde natürlich der Ungehorsam des Apfelessens, aber der Apfel stellt sich als Aphrodisiakum heraus, und es ist der darauf folgende Liebesakt, auf dem das ganze Gefühl der Sündhaftigkeit lastet: Milton nennt diesen Liebesakt das „Siegel“ ihrer gemeinsamen Schuld (9.1043/ dt. 9.1315), als ob dieser Akt die Natur ihrer Schuld gänzlich offenbart, sie sowohl bestätigt als auch unwiderrufbar macht. 47 Vgl. meine obige Diskussion von Miltons „On the Circumcision“. 184 - Paradise Lost Adam impliziert, dass der aphrodisische Effekt des Apfels in der Lust an der Überschreitung wurzelt: „Ist solche Wonne in verbotnen Dingen, / Wohlan, so möchten statt des einen Baums / Uns zehn verboten sein.“ (9.1290-92) [“if such pleasure be / In things to us forbidden, it might be wish’d / For this one Tree had been forbidden ten” (1024-26)]. Dies ist ein Genuss-in-der-Auflösung, Genuss, der durch das Verletzen von Grenzen und Beschränkungen erhöht wird. Es stimmt zwar, dass die ekstatische Auflösung oder Verflüssigung ebenso das Ziel des religiösen Mystikers ist wie des sinnlichen Liebenden. Darum finden die Mystiker die Sprache der erotischen Vereinigung so brauchbar. Aber es gibt eine gute und eine schlechte Verflüssigung: nur die Auflösung in den Willen des Vaters ist ohne Schuld. Bataille merkt an, dass die christlichen Mystiker ohne Verlegenheit erwähnt haben, dass sie inmitten ihrer göttlichen Entrückungen häufig ejakulieren, 48 was deutlich macht, dass Ungehemmtheit nicht notwendigerweise eine Sünde ist, das Auflösen von Grenzen nicht notwendigerweise das Verletzen eines Verbotes. 49 Ebenso mag die Entrückung mit einer sterblichen Geliebten oder einem sterblichen Geliebten gerechtfertigt werden, vorausgesetzt, sie endet nicht dort, an der Grenze des geliebten Individuums, sondern geht weiter zu der Quelle aller individuierten Wesen. Nun ist Fleischlichkeit die Essenz der Perversion der Liebe. Sich von Gott ab und den von ihm geschaffenen Wesen zuzuwenden, bedeutet, sich „der Welt“ als dem Reich der physischen Körper zuzuwenden. Und sexuelles Begehren ist, wie Augustinus erklärt, die Essenz der Sinnlichkeit, es ist der tiefste, unauslöschlichste und verstörendste Hunger von allen - weil es durch einen Genuss erregt wird, der alle anderen übersteigt (CG 14.16). Aber „es war nicht das verdorbene Fleisch, das die Seele sündhaft machte; es war die sündhafte Seele, welche das Fleisch verdarb“ (CG 14.3). Das Böse in der sexuellen Wollust darf daher letztlich nicht im Sinne von Körperlichkeit an sich verstanden werden, sondern im Zusammenhang mit der Frage, in welche Richtung die Liebe fließt. Sündiges Begehren muss nicht unbedingt „lüstern“ in dem Sinne 48 Georges Bataille. Erotism: Death and Sensuality. Ins Engl. übers. v. Mary Dalwood. San Francisco: City Lights, 1986. 255. 49 Der junge, keusche Milton träumte von vollkommener Freude als einer Auflösung von Grenzen und Beherrschung, aber er tat dies in der Figur der Musik („L’Allegro“). Der canzone “On the Circumcision” ist formal und zeitlich mit “At a Solemn Music” gepaart, eine durchsichtige Nebeneinanderstellung. In dem einen Gedicht wird der kindliche Phallus in Buße für die menschliche/ männliche Schuld gestraft, in dem anderen wird perfekte Freude als das Hören göttlicher Musik beschrieben. Weil die göttliche Musik nur von den Reinen gehört werden kann, könnte die Sublimation, die der Bewegung von der “Circumcision” zur “Music” zugrunde liegt, kaum deutlicher sein. Aber Milton besteht auch bei der Melodie auf einer Unterscheidung. Es gibt eine keusche, göttliche Musik und eine schlechte, sirenenhafte Musik, wobei letztere natürlich mit sexueller Freizügigkeit verbunden ist. Daher ist der Verführer in Comus der Sohn von Circe, und er ist es auch, der von der Unterscheidung zwischen den beiden Arten von Musik spricht. Paradise Lost - 185 sein, dass sein Objekt physisches Vergnügen ist. Auch wenn Adams Liebe zu Eva eine höfische, idealisierende Liebe ohne sexuellen Kontakt wäre, könnte diese Liebe in Augustinus’ Augen „Buhlerei“ oder „Unzucht“ gegen Gott (1.13; 2.6) 50 darstellen, insoweit sie Adams Wesen absorbiert und ihn Gott vergessen lässt. 51 Selbst wenn wir daher akzeptieren, dass der sündhafte Sex von Adam und Eva eine sinnliche Grobheit hat, die nicht da war, als sie noch unschuldig waren, wird ihre Liebe vor dem Fall deswegen nicht von dem Stigma der schuldigen Leidenschaft freigesprochen, das Raphael ihr gegeben hat, als er Adam daran erinnerte, dass Liebe „die Leiter, über welche du / Hinauf zur Himmelsliebe steigen kannst“ (8.718-19) [“the scale / by which to heav’nly Love thou may’st ascend” (8.591-92)] sein sollte. Adams „Leidenschaft“ für Eva findet ihre Vollendung im physischen Geschlechtsakt, aber sie liegt auch in seiner Verehrung für sie, seinem Gefühl, dass Eva „absolut“ sei, „in ihr selbst vollendet“ (8.662) [“in herself complete” (8.547-48)], wie er zu Raphael gesagt hat. Im Kontext der Doktrin des platonisch-augustinischen Eros sind diese Worte entscheidend. Sie bedeuten „Eva ist diejenige, welche“, sie ist der Endpunkt, das Ziel, nicht eine Stufe auf der Leiter des Eros; diese Worte bedeuten eben das, wovor Raphael Adam gewarnt hat. 52 Aber wenn der Liebesakt und sogar die Liebe an sich schon vor dem Sündenfall leidenschaftlich, maßlos und ekstatisch war, also bereits die Saat des Todes in sich trug, welche Grenze wird dann überschritten, als Adam und Eva zur sündigen Erotik übergehen? Anders als zuvor schämen sie sich nun, aber wessen schämen sie sich, wenn nicht dessen, dass sie sich vom Schöpfer dem Geschöpf zugewandt haben, was Adam jedoch vorher schon getan hatte? Es ist kein Zweifel, dass Milton an der Unterscheidung zwischen unschuldigem und lüsternem Sex festhält, die Frage ist jedoch, wie er diese Unterscheidung zu artikulieren sucht. Jüngere Apologeten von Paradise Lost haben zu bereitwillig die Intention des Autors mit ihrer Durchführung gleichgesetzt. Turner etwa weist sorgfältig nach, wo die Beschreibungen des Sexualver- 50 1. Buch, XIII, 21: „Buhlerei von Dir weg“ (46), 2. Buch, VI, 14: „So treibt die Seele Unzucht, wenn sie sich von Dir kehrt“ (62). 51 Augustinus’ Gedanken bezüglich sexueller Libido veränderten sich im Laufe der Zeit, aber mein grundsätzliches Argument bleibt gleich. Für eine sehr gründliche Darstellung vgl. Emile Schnitt. Le Mariage Chrétien dans L’Oeuvre de Saint Augustin. Paris: Études Augustiniennes, 1983. Bes. 90-105. 52 Vgl. John Halkett. Milton and the Idea of Matrimony: A Study of the Divorce Tracts and Paradise Lost. New Haven: Yale University Press, 1970. 121-22. Meiner Meinung nach unterschätzt Halkett die zentrale Rolle der Sexualität in dem Band, das Adam an Eva bindet, aber seine Darstellung der doktrinären Situation ist korrekt: „Adam entscheidet sich ganz einfach für Eva anstatt für Gott; er sieht die menschliche Liebe nicht mehr als Mittel, sondern vergöttlicht sie als Ziel“ (122). Vgl. auch Damrosch, Anm. 16: „Vollkommene und haltlose Liebe zu einem anderen menschlichen Wesen, selbst zu der noch perfekten Frau, die Eva war, ist eine katastrophale Form der Selbstliebe, denn nur Gott verdient die vollkommene Liebe“ (God’s Plot and Man’s Stories, 110). 186 - Paradise Lost kehrs vor und nach dem Fall sich ähneln, um dann gerade diese ausgeprägte Ähnlichkeit als bewusst ironisch zu lesen (301-3). C. S. Lewis jedoch sah darin den Beweis dafür, dass es Milton nicht gelungen war, klar zwischen Lust und Unschuld zu unterscheiden. Lewis findet nur einen Aspekt überzeugend, nämlich das Gefühl, dass Eva nun für Adam „ein Ding“ [“a thing”] wird, ein Sexualobjekt, wie wir sagen würden, und dass „es sie nicht kümmert“ [“she does not mind”] (Preface, 128). Es besteht kein Zweifel daran, dass Lewis hier einen wichtigen Punkt berührt. Milton suggeriert in gewisser Weise den Übergang von Adam und Eva zu „bloßem Sex“. „Denn nie [...] hat je / Mir deine Schönheit meine Sinne so / Entzündet, dich mit Inbrunst zu genießen“ [“Never did thy Beauty ... so inflame my sense with ardor to enjoy thee”], sagt Adam, und in diesen hungrigen Worten schwingt unüberhörbar ein grober Ton mit, der scharf mit seiner früheren Sprache kontrastiert, wenn auch nicht mit der Dringlichkeit seiner früheren Annäherungsweise. Wenn Evas Lust mit der Adams zusammentrifft, klärt das nicht notwendigerweise die ethische Situation. Das moderne Ideal von gegenseitigem Einverständnis löst nicht automatisch das Problem der Objektivierung des/ r Anderen, welches jede sexuelle Beziehung heimsucht. Nichtsdestotrotz wird ein glaubwürdiger Unterschied zwischen „Liebe machen“ und bloßem „Sex haben“ nur durch Adams Wechsel im linguistischen Register angezeigt - von höfischer Indirektheit zu hungriger Offenheit - und wir wissen nicht genug über Adams oder Evas Innerlichkeit, um die stattfindende Veränderung im Detail zu analysieren. 53 In Bezug auf Evas erotische Subjektivität wissen wir vielmehr so gut wie nichts, so dass wir vor allem über Adam sprechen müssen. Und in Bezug auf Adam wissen wir, dass sein noch unsündiges Begehren für Eva „Leidenschaft“ [„passion“] und „Verzückung“ [„transport“] war, selbst wenn es auf eine offensichtliche, jedoch (angesichts der unausweichlichen Tatsache der Erektion) schwer zu definierende Weise unsinnlich blieb. 54 53 Selbst nach dem Sündenfall ist Adams erotischer Diskurs durch seine Anklänge an die Ilias literarisch verfeinert; aber diese Veredelung dient nur dazu, seinen sexuellen Appetit zu vermitteln, und so unterscheidet sich die Sprache dieser Rede von der früherer Reden durch ihre größere Nähe zur „tierischen Natur“. 54 Es scheint, als ob selbst die rechtmäßigste Erektion einen unauslöschbaren Rest fleischlicher Gesetzlosigkeit in sich hielte, was zu den Gewundenheiten in der christlichen Interpretation von der Beziehung zwischen Sex und Sünde führt. (Zu diesem Thema vgl. C. S. Lewis. Allegory of Love. London: Oxford University Press, 1981. 14- 17. Der Versuch, sich eine vollkommen lustfreie Sexualität vorzustellen, führt uns anscheinend in Augustinus’ Lager. Laut Augustinus ist es möglich, dass im Paradies „die sexuellen Organe auf Geheiß jenes Willens aktiviert werden konnten, der auch die anderen Organe kontrollierte“ (City of God, Anm. 31, 14.26), denn „der Mensch [...] mag einst von seinen unteren Organen einen Gehorsam empfangen habe, welchen er durch seinen eigenen Ungehorsam verloren hat“ (14.24). Die Möglichkeit eines solchen Gehorsams zeigt sich durch die ungewöhnlichen Kunststücke von Menschen, welche Paradise Lost - 187 Es scheint daher, dass der Unterschied zwischen sündhafter und unschuldiger Erotik in Paradise Lost nicht der von Raphael angesprochene klassische Unterschied zwischen Mäßigung und Rausch ist, sondern der zwischen Idealisierung und De-Idealisierung der geliebten Frau. Und der Weg zur De-Idealisierung von Eva wird durch die Tatsache vorbereitet, dass ihre Idealisierung selber schon in sich gebrochen ist. Genauer gesagt, ist die Verbindung dieser Idealisierung zur christlichen Axiomatik gebrochen, da sie durch die „höfische“ erotische Idealisierung in ihrer nichtplatonischen Form verunreinigt wird, durch die Idealisierung der Geliebten selber, die als „absolut“ und „in ihr selbst vollendet“ gesehen wird und nicht als Stufe auf dem Weg zum wahren Ziel der Liebe. Für das Christentum sind sowohl die Schuld mit der daraus folgenden Scham als auch der Tod das Resultat von Ungehorsam; und Schuld ist ein intrinsischer Teil des sexuellen Aktes insoweit dieser die Grenzen bewusster Rationalität verletzt und ein unermessliches Vergnügen auslöst. Milton akzeptiert die Verbindung zwischen der sexuellen Schuld oder Scham und dem Tod, aber er stellt sich auch einen sexuellen Rausch ohne Schuld vor. Er postuliert die Verbindung zwischen Rausch und Schuld als zufällig und daher trennbar. Indem er die Entstehung der Schuld vom sexuellen Rausch auf die De-Idealisierung des Objektes verlagert, stellt Milton überzeugend dar, wie die sexuelle Schuld und der Tod gleichzeitig auftraten. Auf dieser Ebene von Paradise Lost sind beide auf grundlegende Weise verbunden, und in Miltons Vorstellung ist eine Welt ohne sexuelle Schuld notwendigerweise auch eine Welt ohne Tod. Er kann sich jedoch nicht vorstellen - in dem Sinne, dass er sich dessen explizit bewusst ist -, dass Schuld vielleicht doch nicht unausweichlich und ihrem Wesen nach mit entweder Sexualität oder Tod verbunden ist und Sexualität trotzdem wesenhaft mit Sterblichkeit zusammenhängt, dass die reinste Liebe, die sich vorstellen lässt, trotzdem und notwendigerweise dem Tod „genehm ist“. Und dennoch denkt er auf bestimmte Weise eben das, wie wir gesehen haben. Milton malt sich in Adam, bevor dieser die Schwelle des Sündenfalls überschreitet, den erotischen Entschluss aus, den Tod selber zu akzeptieren - und als logische Folge seines Begehrens damit auch eine sterbliche Frau, eine „verwegne“ Eva, die das Gute und das Böse kennt und sterben muss. Auf der anderen Seite dieser Schwelle stellt er sich in Adam eine gebrochene, gequälte Sexualität vor, welche die Konsequenzen ihrer eigenen essentiellen Entscheidung nur ertragen kann, indem sie ihre Schuld durch Misogynie, Frommheit und den Glauben, dass alles zum Besten war, bricht. Adam nach dem Fall ihre Ohren bewegen können oder auf Kommando schwitzen können oder welche „nach Belieben solche musikalischen Geräusche mit ihrem Hintern produzieren können (ohne Gestank), dass es scheint, als ob sie daraus sängen“ (ebd.). Diese Beispiele zeigten die Möglichkeit, dass die Erektion im Paradies durch einen „ruhigen Willensakt“, ohne „den Reiz der Leidenschaft“ erreicht werden konnte (14.26). 188 - Paradise Lost ist ein Mann, der, wie D. H. Lawrence gesagt haben könnte, „in seiner Sexualität verwundet“ ist. Der gefallene Adam hat nicht mehr den Mut seiner früheren Entschlossenheit. Schuld und Scham machen ihn fromm und nehmen seiner Erotik alle edlen Gefühle. 55 Dies ist merkwürdig. Es ist der gefallene Adam, der die angeblich korrekte Doktrin bezüglich Eva äußert (“all was but a show / Rather than solid virtue” [10.883] / „alles nur / Ein äußerer Schein und keine rechte Tugend / Von Festigkeit [...] war“ (110.1118-20)), während der Adam vor dem Fall so empfänglich für diesen Schein war, dass er daran zweifelte, dass es einer war. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich natürlich im orthodoxen Sinne auflösen. Luther zum Beispiel erklärt, dass Adams Augen gerade als Konsequenz des Falles für die Wahrheit der Sünde geöffnet werden. 56 Aber der Erzähler von Paradise Lost spricht ausdrücklich davon, dass Adam nun aus „so verstörter Brust“ [“distemper’d breast”] „[m]it fremdem Blick in gänzlich anderem Ton“ [“estrang’d in look and alter’d style”] seine vorwurfsvollen Worte an Eva richtet (9.1131-32; dt. 9.1430-31). Es ist eben dieser verstörte Adam, der nun behauptet, dass vor dem Fall der Anblick von Gottes Gesicht seine „höchste Wonne“ (10.913) [“highth / Of happiness” (10.723-24)] gewesen sei, ein ganz anderes Gefühl als alles, was der von seiner Liebe zu Eva Überwältigte vor dem Fall ausgedrückt hat. Es scheint, als ob der zerstörerische Effekt des Falls vor allem den erotischen Zauber betroffen habe, welcher die höchste von Gott gegebene Freude des Paradieses gewesen war. Wenn Milton den sexuellen Drang bis ganz an seine tiefsten Wurzeln zurückverfolgt, stellt er fest, dass dieser den Tod in sich birgt, und schreckt zurück. Denn innerhalb des christlichen Diskurses ist es nicht möglich, diesen Gedanken zu denken, ohne sich des väterlichen Auges bewusst zu werden, das den schuldigen Phallus sieht, und ohne sich „[b]efleckt, besudelt“ (9.1359) [“soil’d and stain’d” (9.1076)] zu fühlen und sich deswegen zu schämen, als ob die „[d]ie grellen Lichter schändlicher Begierde“ (9.1360) [“signs of foul concupiscence”] in seinem Gesicht erkennbar wären. Und dann ist alles vorbei: ohne den idealisierenden Schleier gibt es keine edlen erotischen Gefühle mehr, kein Akzeptieren einer Liebe, welche mit dem Tod einhergeht. Miltons paradiesisches Begehren ist in seiner Selbstbehauptung ehrfurchtgebietend. Er weiß in seinem fast antinomischen Selbstbewusstsein, dass sein Begehren berechtigt und richtig ist, er weiß, was absolute Freude ist und er kennt seinen Gott als einen, der die Befriedigung von Miltons Verlangen nach 55 Wie Juliana Schiesari bemerkt, wird Adam von der mittelalterlichen Nonne Hildegard von Bingen auf eine Weise wegen seiner „Melancholie“ kritisiert, die noch heute erstaunlich relevant ist. Schiesari. The Gendering of Melancholia: Feminism, Psychoanalysis, and the Symbolics of Loss in Renaissance Literature. Ithaca: Cornell University Press, 1992. 154-59. 56 Vgl. Luther’s Works. Bd. 1: Lectures on Genesis, Kap. 1-5. Hrsg. J. Pelikan. St. Louis: Concordia Publishing House, 1958. 164. Paradise Lost - 189 einer solchen Freude beabsichtigt hat. „Was ich als nächstes bringe, wird dir ganz / Gefallen, dessen sei gewiß“ (8.537-8), hat Gott zu Adam gesagt [“What next I bring shall please thee, be assur’d [...] / Thy wish, exactly to thy heart’s desire.” (8.449-51)]. Raphael sagt über Eva: „Sie ist so schön zu deiner größern Wonne“ (8.598) [“so adorn for thy delight the more.” (8.576)]. Und wenn Eva sagt, dass sie härter arbeiten müssten, um den Garten in Ordnung zu halten, antwortet Adam: „er erschuf uns nicht zur sauren Mühe, / Sondern zur Freude“ (9.298-9) [“not to irksome toil, but to delight / he made us” (9.242-43)]. Aber Miltons Begehren wird letztendlich durch sein eigenes Gedankensystem vereitelt. Am Ende kann Milton sich nicht aus der Fessel befreien, die er durch seine eigene Version der christlichen Axiomatik geschaffen hat. Wenn Tod und sexuelle Scham die Strafe für Ungehorsam sind und wenn der Mann wegen einer Frau und damit, dem erotischen Imperativ folgend, ungehorsam war, dann gibt es keinen Ausweg aus dem Labyrinth, jedenfalls nicht in Richtung der ekstatischen erotischen Erfüllung, die Milton sich vorzustellen versucht. Wenn Miltons Adam die Entscheidung fällt, sich unwiderruflich der dem Tod genehmen Frau anzuschließen, stellt Milton sich damit einen Mann vor, der kurz davor ist, die Sterblichkeit seines organischen Seins anzunehmen. Aber dieser Entschluss, der dem fundamentalen Impuls des historischen Christentums entgegenläuft, wird schließlich zerbrochen, überwältigt, gedemütigt durch die unzerbrechliche Verbindung, welche zwischen ihm und der Scham zu bestehen scheint. Es gibt eine höhere Perspektive als die der organischen Sterblichkeit: es gibt das Auge des alles-sehenden Vaters, der Sexualität zwar sanktioniert, aber nur in begrenztem Maße, ohne das vollständige Loslassen, welches mit dem Tod isomorph ist. Auf der einen Seite verabscheut Milton den Tod und die schuldhafte Sexualität. Sie wären vermeidbar gewesen, denn sie sind ganz einfach das Ergebnis von Ungehorsam. Auf der anderen Seite stellt Adams Entscheidung eine Notwendigkeit in der einzigen Form dar, in welcher die Menschheit sie jemals gekannt hat. Wenn er sich Adams Entscheidung ausmalt, denkt Milton sich das Wesen seines eigenen Seins als gefallen - was Milton nicht gewählt hat - und denkt es sich als Wahl. Das Zusammenspiel von Freiheit und Notwendigkeit auf verschiedenen Diskursebenen ist subtil und komplex. Theologisch gesehen hatte Adam die Freiheit, nicht zu fallen und unsterblich zu bleiben. Gemäß dem Christentum bzw. der Version des Christentums, die gewonnen hat, hätte alles anders kommen können; es hätte keinen Tod geben können. Aber es ist nicht anders gekommen. Es gibt den Tod, und weil dies die Geschichte darüber ist, wieso es ihn gibt, muss Adam diesen wählen, in der Genesis ebenso wie in Miltons Gedicht. Seine Entscheidung ist vorherbestimmt in einer Weise, die nichts mit Theologie zu tun hat, die vielmehr zu den Bedingungen gehört, unter denen die Theologie und alle anderen Erzählungen entstehen. 190 - Paradise Lost Und dennoch spielt die Doktrin des freien Willens jenseits der Theologie eine tiefgehende Rolle, nämlich auf der Ebene jener Zwangsläufigkeit, die sowohl Adam als auch Milton einschränkt. Milton muss sterben, er hat kein Mitspracherecht in dieser Angelegenheit. Wenn es eine Alternative gäbe, würde er sie ergreifen, aber es gibt keine. Und dennoch, wenn er sich in Adam hineinversetzt, um dessen Entscheidung zu wiederholen, stellt sich Milton einen Moment vor, in dem es eine Alternative gibt. Aber es ist eine Alternative, die er nicht wählt, obwohl er wie Adam die Freiheit dazu hätte. Nichts könnte quälender für Milton sein, als diese Entscheidung nachzuvollziehen - diese Entscheidung, in der er, Milton, keine Entscheidungsfreiheit hat - und sie wie eine frei gewählte nachzuvollziehen. Und damit entsteht eine verstörende und unlösbare Ambiguität. Stellt Milton Adams Wahl nicht als eine Zustimmung and Bestätigung des Zustandes sterblicher Liebe dar? Hier sind noch einmal die folgenschweren Worte, die Adam in jenem entscheidenden Moment zu Eva sagt, Worte, die in der Literatur vor und lange nach Miltons Zeit beispiellos sind: „[…] Bist du dem Tod genehm, so ist der Tod / Mir wie das Leben.“ [“If Death Consort with Thee, Death is to mee as Life.”]. Hier gibt es keine Beschuldigung der Frau als Verführerin, aber auch keine gnostische Vermeidung des Körpers, indem Eva als spirituelles Prinzip behandelt wird, als Prinzip des Aufstiegs vom Physischen. 57 Es ist etwas gänzlich anderes: die Frau zieht den Mann hinunter zum Körper und zum Tod, aber die Zustimmung dazu ist notwendig und richtig, das Ziel des Eros als Leben-Tod selber. Der Eros wird Platon entrissen, und die vom phallozentrischen Gesetz abweichende Eva wird als das absolute Ziel des Begehrens akzeptiert: die schwerwiegendste Tat für die christlich-platonische Erbschaft. Und wenn Adam vom Grunde seines Wesens aus Ja zu Eva und dem Tod sagt, und Milton sich zu diesem Zweck in Adam hineinversetzt, bestätigt dann nicht Milton dasselbe? Diese Frage lässt sich nicht ohne weitere Differenzierungen beantworten. Offensichtlich stimmt nicht der ganze Milton zu, oder wenn, dann anscheinend nur für einen Moment, als Experiment, mit der vorgeschützten Freiheit des Dichters. Milton durchschreitet den Moment dieser Zustimmung und hinterlässt die Spur dieses Durchschreitens eingeschrieben in den Text, so dass wir sie zurückverfolgen können. Der Moment der Zustimmung steht in Klammern, eingerahmt von dem größeren Corpus von Paradise Lost als Ganzem, von Miltons Werk als Ganzem, von der christlichen Doktrin. Und dieser Kontext steht ganz auf der Seite des Erzählers, der Adams Entscheidung als „böse Be- 57 Für gewisse Gnostiker ist Eva „das geistige Prinzip der Menschheit, das Adam aus seinem bloß materiellen Zustand erhebt“: Elaine Pagels. The Gnostic Gospels. New York: Random House, 1979. 31. Diese gnostische Doktrin kehrt die Bewertung der Frau um, während sie gleichzeitig die Trennung von Körper und Geist aufrechterhält, die der Gnostizismus mit der orthodoxen Tradition nicht nur teilt, sondern noch verstärkt. Paradise Lost - 191 reitschaft“ [“compliance bad” (9.994)] verurteilt. Aber innerhalb der Klammern findet etwas statt, das absolut ist - für uns, aber noch mehr für Milton, der glaubt, dass der Tod wirklich mehr oder weniger so unser Schicksal wurde. TRAGISCH-EXISTENZIELL 7. Kapitel Trauern/ Trauer-Zufügen: Heart of Darkness Heart of Darkness ist Joseph Conrads radikalstes erzähltechnisches Experiment und ein Meilenstein in der Entwicklung modernistischen Erzählens. 1 Conrad kreuzt hier zwei Arten der Wahrhaftigkeit: die Wahrhaftigkeit gegenüber dem Erzählstoff und die Wahrhaftigkeit gegenüber den Einschränkungen eines Erzählers, der an den von ihm berichteten Ereignissen selber teilgenommen hat. Diese zweifache Wahrhaftigkeit ergibt jedoch nicht einen verdoppelten Eindruck von Realitätsnähe, sondern deren Auflösung. Weil der Erzähler den Kunstgriff auktorialen Formens zurückweist und sich den Launen von Gedächtnis und Sprache überlässt, wie sie „wirklich“ sind, neigt die Erzählung dazu, die Erzählbarkeit an sich zu thematisieren und sich einem Skeptizismus zu öffnen, der zugleich epistemologisch und moralisch ist. Es liegt nahe, einen essentiellen Zusammenhang zwischen der extremen Natur von Marlows Subjekt, der Reise an einen Ort, an dem die Konventionen europäischer Realität aufgehoben sind, und der Radikalität der narrativen Technik zu sehen. Aber wenige Jahre später reizte Conrads Freund Ford Madox Ford, mit dem er gelegentlich auch zusammengearbeitet hat, die dezentrierende Implikation dieser Technik der doppelten Wahrhaftigkeit in The Good Soldier noch weiter aus und demonstrierte damit, dass die Desorientierung, welche Conrad im Dschungel gefunden hat, auch inmitten der eleganten Gesellschaft entdeckt werden kann. 2 Jenseits ihrer ganz unterschiedlichen Schauplätze und Handlungen teilen diese beiden Romane ein grundlegendes Interesse an dem unkontrollierten Be- 1 Die ausführlichste Diskussion des Stils und der Erzähltechnik von Heart of Darkness findet sich in Ian Watt. Conrad in the Nineteenth Century. Berkeley: University of California Press, 1979. 168-214. Vgl. besonders die Diskussion von Conrads Einfluss auf Henry James, 200-214. 2 Im Original zitiert nach Ford Madox Ford. The Good Soldier. New York: Vintage Books, 1989. 196 - Heart of Darkness gehren, das unter den zügelnden Konventionen der Kultur existiert. So fragt sich Fords Dowell zu Beginn der Erzählung, ob „ein echter Mann, ein Mann mit Daseinsberechtigung“ nicht „ein wilder Hengst, der ständig den Frauen seines Nachbarn hinterherwiehert“ sei (14), eine Bemerkung, die an Marlows Vorstellung von den „starke[n], wollüstige[n], rotäugige[n] Teufel[n]“ (dt. 30) erinnert, die wahre Männer antreiben. 3 Es fällt daher auf, dass Conrads Geschichte, welche scheinbar von der vollkommenen Befriedigung der Lust handelt, die Existenz von Sexualität nur andeutet, während Fords sich explizit und ausschließlich auf die sexuelle Leidenschaft konzentriert. Selbst Dowell, der sich schon früh als „Eunuch“ bezeichnet, endet mit der Erklärung, dass er „wirklich gerne ein Polygamist wäre, mit Nancy und mit Leonora und mit Maisy Maidan und möglicherweise sogar mit Florence [seiner Ehefrau, mit der er niemals wirklich die Ehe vollzogen hat]“, und er meint, dass er darin „ohne Zweifel wie jeder andere Mann sei“ (257). Fords Roman, der an einer Stelle direkt auf Heart of Darkness anspielt, ist auf grundlegende Weise eine Revision des früheren Romans. 4 Nicht nur ist Fords Erzähltechnik von Conrads Geschichte beeinflusst, die psychische Ökonomie der Dowell/ Edward Ashburnham-Paarung wiederholt auch die Dublette von Marlow/ Kurtz. In beiden Fällen beobachtet der relativ gehemmte Erzähler mit einer Mischung von Abscheu und Bewunderung die ungesetzlichen, aber männlichen Taten des anderen. In beiden Fällen siecht der Männliche dahin und stirbt am Ende, während der Erzähler übrig bleibt, um die Geschichte zu erzählen. Im Unterschied zu Marlow haben die Geheimnisse im Herzen der Finsternis für Dowell jedoch mit sexuellem Begehren und sexueller Untreue zu tun. Der abgemagerte, geschwächte Kurtz zeigt die Symptome, welche von der viktorianischen Medizin (der von Foucault dokumentierten antiken Tradition folgend) als Resultat sexuellen Exzesses interpretiert werden. Der Verlust von Lebenskraft durch die Ejakulation spielt dabei eine besonders wichtige Rolle und führt zu dem Zustand, den Dr. William Acton als „spermatorrhea“ bezeichnet hat. Ich beziehe mich hier auf Steven Marcus’ Diskussion von Actons The Functions and Disorders of the Reproductive Organs (1857), das in den folgenden Jahrzehnten mehrmals neugedruckt wurde. „Neben der Tuber- 3 Im Original zitiert nach: Joseph Conrad. Heart of Darkness. Hrsg. Robert Kimbrough. New York: Norton, 1988. 20. Auch alle weiteren Zitate stammen aus dieser Ausgabe. Wenn nicht anders vermerkt, wird der deutsche Text zitiert nach Joseph Conrad. Herz der Finsternis. Übers. Reinhold Batberger. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2. Auflage 1996. 4 Die Anspielung auf Heart of Darkness geschieht im Zusammenhang mit Dowells Gefühl, dass hinter Nancy Ruffords Fröhlichkeit „unbestimmte Ängste lauern“. Eines Tages, während sie „miteinander plaudern“, hören sie in den Arkaden hinter ihnen die Stimme ihres Vaters, eine Stimme, die ihr schlechte Träume verursacht: „Er ging mit einem italienischen Baron davon, der viel mit dem belgischen Kongo zu tun hatte. Sie müssen sich über die richtige Behandlung der Eingeboren unterhalten haben, denn ich hörte ihn sagen: ‚Oh, zum Teufel mit der Menschlichkeit‘“. (141). Heart of Darkness - 197 kulose“, kommentiert Marcus, scheint spermatorrhea „eines der fast universellen Leiden der Zeit gewesen zu sein“ 5 . Marcus fragt: Worin besteht dann aber die Prävention, die Heilmethode oder Lösung all dieser Gefahren? Actons einzige Empfehlung ist Kontinenz, welche nicht nur in sexueller Abstinenz besteht, „sondern im Kontrollieren jeglicher sexuellen Erregung“. Wahre Kontinenz [schreibt Acton] „ist vollkommene Kontrolle über die Leidenschaften, ausgeübt von jemandem, der ihre Macht kennt, und der, wenn er nicht einen so starken Willen hätte, ihnen nicht nur nachgeben könnte, sondern dies auch tun würde.“ (23) Marlows Diskurs über Selbstbeherrschung und der von Acton sind eindeutig Variationen des gleichen Themas. Allerdings fällt auf, dass Marlow in seiner Darstellung der gesetzlosen Leidenschaften von Kurtz die Sexualität auslässt. Interessanterweise hat Conrad selber eine Geschichte geschrieben, welche so etwas wie eine heimische und erotisierte Version von Heart of Darkness ist. Seine frühe Kurzgeschichte “The Return” ist die Geschichte von Alvan Hervey, der eines Tages nach Hause kommt und einen Brief von seiner Frau findet, in dem sie ihm mitteilt, dass sie ihn für einen anderen Mann verlassen hat. 6 Er lässt den Brief fallen, als ob er „heiß oder giftig oder schmutzig“ sei und eilt zum Fenster, von dem er in „eine grenzenlose Finsternis“ hinausblickt. In einer an Marlows Eindrücke vom Dschungel erinnernden Beschreibung kommen die Geräusche der Stadt ihm vor wie „das tiefe Murmeln von etwas ungeheuer Großem und Lebendigen“ (126). In diesem Moment ist Hervey „sehr übel - physisch übel - als ob er auf etwas Ekelerregendes gebissen habe“ (128). Marlow sagt in Heart of Darkness, dass Lügen ihm Übelkeit bereiten, „als bisse ich in etwas Verwesendes “ (29; dt. 50). Der Ekel, den Marlow dem „Hauch des Todes“ zuordnet, den die Lügen in sich tragen, wird in „The Return“ mit der Untreue einer Frau verbunden. Für Hervey ist unkontrolliertes sexuelles Begehren, das hier einfach als „Leidenschaft“ bezeichnet wird, „die unverzeihliche und geheime Schande unserer Herzen, die zu verfluchen, zu verbergen und zu verleugnen ist“ (130). „Die Vergiftung durch ihr Verbrechen verbreitete sich, verschmutzte das Universum [...] verursachte eine entsetzliche Art des Hellsehens, durch welche er die Städte und Felder der Erde sehen konnte, ihre heiligen Orte, ihre Tempel und ihre Häuser, bevölkert von Monstern - von Monstern der Doppelzüngigkeit, der Lust und des Mordes“ (135). An dieser und verschiedenen anderen Stellen wird das Gefühl von Abscheulichkeit und grauenhaftem Exzess, das in Heart of Darkness von Kurtz inspiriert wird, durch eine Frau ausgelöst. 5 Steven Marcus. The Other Victorians: A Study of Sexuality and Pornography in Mid- Nineteenth-Century England. New York: New American Library, 1974. 27. 6 “The Return” wird im Original zitiert nach Joseph Conrad. Tales of Unrest. New York: Doubleday, Page & Co, 1924. 118-83. 198 - Heart of Darkness Hervey begreift nach und nach, was er wirklich will, was er sein ganzes Leben lang gewollt hat, ohne es zu wissen: das „Geschenk“ der Treue und Liebe einer Frau; aber er begreift auch, dass er dieses Geschenk nie bekommen wird, dass er sie nie wirklich kennen kann, dass er ihrer inneren Haltung ihm gegenüber nie sicher sein kann. „Was dachte sie? Was fühlte sie? Und in der Gegenwart ihrer vollkommenen Regungslosigkeit, in der atemlosen Stille, fühlte er sich unbedeutend und machtlos vor ihr, wie ein Gefangener in Ketten. Die Wut seiner Ohnmacht rief düstere Bilder hervor.“ Es ist diese Erkenntnis, dass sie ihm nie die ersehnte Antwort geben wird, die Hervey in eine fast unerträgliche Traurigkeit versetzt: „Ihr deine Gedanken, deinen Glauben anzuvertrauen, war wie deine Beichte über den Rand der Welt hinauszuflüstern. Nichts kam zurück - nicht einmal ein Echo.“ (183). Am Ende steht Hervey dem Nichts in den Augen eines weiblichen Medusenkopfes gegenüber: Er stand schon in der Mitte des Raumes, bevor er irgendetwas außer dem blendenden Lichtschein sehen konnte, und dann, wie losgelöst und in Augenhöhe auf dem Licht schwebend, erschien der Kopf einer Frau. Sie war aufgesprungen, als er in den Raum gestürzt war. [...] Er blickte in die unergründliche Offenheit ihrer Augen. Nichts darin - nichts - nichts. Er stotterte verstört. „Ich will .... ich will ... wissen ...“ (184-85) Am Ende von Heart of Darkness legt Conrad der Zukünftigen fast die gleichen Worte in den Mund wie hier Hervey: „Ich will - ich will - irgendetwas - etwas -...“ (dt.143). In “The Return” werden die Dunkelheit des Herzens und das Grauen des existenzialistischen Abgrundes ausschließlich in Bezug auf eine Unruhe und ein Bedürfnis erforscht, die der Protagonist in Beziehung auf eine Frau empfindet. 7 In Heart of Darkness dagegen ziehen die Männer auf der Suche nach ihren dunklen Wahrheiten auf Abenteuer aus, während die Frauen angeblich auf eine Welt beschränkt sind, die von solchen Wahrheiten abgeschirmt ist. Dennoch wird alles im Wohnzimmer einer Frau kulminieren, einer Frau mit einem „bleiche[n] Kopf“, die in der Dämmerung auf Marlow „zu[...]schwebt“ (72-73; dt. 138) und mit deren Stimme sich die letzten Worte von Kurtz in Marlows Vorstellung „mischten“ (76; dt. 139). 7 Conrad gibt der Frau in “The Return” kaum mehr Substanz als der Zukünftigen, aber trotz ihres undeutlichen Porträts gelingt es ihm zumindest in bestimmten Momenten, uns einen Eindruck von „dem geistigen und tragischen Kampf ihrer Gefühle“ zu geben (185). Auf die Forderungen ihres Mannes antwortet sie: „Ich habe ein Recht - ein Recht - auf mich selbst“ (ebd.). Eine solche Bemerkung geht über alles hinaus, was man sich aus dem Mund der Zukünftigen vorstellen kann. Heart of Darkness - 199 Marlows Erzählweise in Heart of Darkness ist durch eine außergewöhnliche Reserviertheit gekennzeichnet, ein Gefühl unüberbrückbarer Isolation von anderen Menschen, und das nicht nur innerhalb der erzählten Geschichte, sondern auf kompliziertere Weise auch in der Situation des Erzählens. Innerhalb der von ihm erzählten Geschichte zieht Marlow eine undurchdringliche Grenze zwischen sich selber und bestimmten anderen Menschen. Die Ausgeschlossenen sind einerseits Frauen, vor allem seine Tante und die Zukünftige von Kurtz, andererseits Männer ohne Überzeugungen, ohne Mut und innere Stärke, ohne wahre Männlichkeit. Indem Marlow an die von seinen Zuhörern geteilte Vorstellung von dieser Grenze appelliert, bestätigt er die Solidarität der Gruppe, die er und sie repräsentieren. Aber obwohl Marlow und seine Zuhörer auf der Nellie sich den gleichen maskulinen Idealen und der gleichen Idee von Männlichkeit verpflichtet fühlen, werden die Stränge, die Marlow an die Gemeinschaft binden, bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit strapaziert durch die Art und Weise, in welcher er die Kategorien erweitert und letztlich verformt, auf denen ihre Übereinkunft basiert. Daher ist das Erzählen der Geschichte, Marlows erzählte Reise an die Grenze seiner Erfahrung, bis zu einem gewissen Grad auch die Reise seiner Erzählung, die sich weiter und weiter von den gemeinsamen Prämissen des narrativen Vertrages mit seiner Zuhörerschaft entfernt - einen Vertrag, auf den Marlow sich dennoch immer wieder geschickt beruft. Der schwedische Kapitän, der ihn landeinwärts mitnimmt, der treue Kesselmacher, der Marlows Interesse für Nieten teilt, sogar, wenn auch weniger glaubhaft, die kannibalische Besatzung mit ihrer unerklärlichen Zurückhaltung („Es waren Männer, mit denen sich arbeiten ließ“ [36; dt. 64]) und schließlich der Harlekin (der Marlow „Bruder Seemann“ nennt [53; dt. 99]): wenn Marlow von seinen Begegnungen mit diesen erzählt, bestätigt er innerhalb seiner Geschichte das männliche Band, auf welcher die identifikatorische Anteilnahme seiner Zuhörer basiert. Marlows Unterhaltungen mit dem schwedischen Kapitän und dem Kesselmacher zum Beispiel sind mit einer unausgesprochenen sublimierten Intimität aufgeladen, wie sie für Männer angemessen ist, deren libidinöses Band das der geteilten Arbeit ist. „Ich reiste auf einem kleinen Seedampfer. Der Kapitän war ein Schwede, und da er wusste, dass ich ein Seemann war, bat er mich auf die Brücke. [...] Als wir den elenden kleinen Kai verließen, wies er mit dem Kopf verächtlich zur Küste. [...] „Ich bin gespannt, was aus solchen wie denen wird, wenn’s ins Landesinnere geht.“ Ich sagte, ich erwartete, das in Kürze selbst zu sehen.“ (18/ dt. 27). Hier besteht ein absolutes Vertrauen in die geteilten moralisch-soziologischen Kategorien. Es ist atemberaubend, was für eine tiefe Gemeinschaft hier mit der verächtlichen Kopfbewegung und dem elliptischen Verweis auf „solche wie die“ zwischen zwei vollkommen Fremden impliziert wird. Und über Marlow werden die Zuhörer auf der Nellie in das Vertrauen des Schwedens miteinbezogen. Aber selbst diese Unterhaltung ist deutlich und explizit im Vergleich zu der Art und Weise, in welcher dieses geteilte Gefühl durch das Wort ‚Nieten‘ in dem Gespräch mit dem Kesselmacher ausgedrückt wird: „Ich gab ihm einen 200 - Heart of Darkness Klaps auf den Rücken und brüllte: „Wir kriegen unsere Nieten! “ Er rappelte sich auf seine Füße und schrie: „Nein! Nieten! “, als traue er seinen Ohren nicht. Dann, etwas leiser: „Sie haben wohl ...he? “ [...] „Gut für Sie! “ rief er, schnalzte mit den Fingern über dem Kopf und hob einen Fuß. Ich versuchte es mit einer Gigue. Wir hüpften auf dem Eisendeck herum.“ (32/ dt.54-55). Im Gegensatz dazu funktioniert das gleiche Wort als Zeichen der Distanz, Feindseligkeit und Verständnislosigkeit, welche zwischen Marlow und dem Agenten mit dem gespaltenen Bart herrschen: „Was wollte ich mehr? Was ich wirklich wollte, waren Nieten, Himmel noch mal! Nieten. Um mit der Arbeit vorwärts zu kommen - um das Loch zu stopfen. Nieten wollte ich.“ (30/ dt. 51). Das Wort Nieten treibt die komprimierende oder inartikulierte Tendenz der sich um die Arbeit drehenden Sprache maskuliner Intimität an ihre Grenze: ein einziges Wort absorbiert sowohl den Sinn als auch den Affekt eines bestimmten Kontexts und Ethos. Als Marlow weiter in den Dschungel eindringt, werden die Identifikationen, die er in seiner Erzählung macht, jedoch problematischer und damit angreifbarer, denn weder die Kannibalen noch der Harlekin passen wirklich in die privilegierte Kategorie von Männern, die ehrliche Arbeit leisten. Der Bruch zwischen Marlow und seinen Zuhörern zeigt sich zuerst bei seinen Bemerkungen über die Menschlichkeit der Afrikaner, welche „kreischten und hüpften und [herum]wirbelten [...] und [...] fürchterliche Fratzen [schnitten]“ (37; dt. 67). In diesem Moment seiner Erzählung scheint sich Marlow selber des gemeinsamen Bodens mit seiner Zuhörerschaft nicht mehr sicher zu sein, denn er erklärt schon in Erwartung von Widerspruch, dass nur wahre Männer seine Reaktion auf die Afrikaner teilen können würden, und er greift jeden als „Narren“ an, dem dies unmöglich ist. An dieser Stelle reagiert einer seiner Zuhörer mit einem Knurren, was von Marlow als Spott aufgefasst wird: […] was einen so entsetzte, war ja gerade der Gedanke, daß sie Menschen waren - wie wir -, daß wir selbst entfernt verwandt waren mit diesem wilden und leidenschaftlichen Toben. Häßlich. Ja, es war ziemlich häßlich, aber wenn einer Manns genug war, konnte er sich eingestehen, daß die erschreckende Unbefangenheit dieses Lärms in ihm, wenn auch noch so leise, die Spur eines Widerhalls fand [...]. Soll der Narr nur immer gaffen und zittern vor Angst - der Mann weiß Bescheid; und er kann hinschauen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber er muß mindestens so viel [Mann; VH] sein wie jene am Ufer. [...] Gewiß, ein Narr mit seiner nackten Angst und Herzenseinfalt ist allemal gerettet. Wer knurrt da? Ihr wundert euch, daß ich nicht an Land ging und mitgekreischt und getanzt habe? Nein - das tat ich nicht. (37-38; dt. 67) „Der Mann weiß Bescheid; und er kann hinschauen, ohne mit der Wimper zu zucken“: dies ist die gleiche ideologisch-rhetorische Maschinerie, die in Bezug auf Kurtz’ Vision und Marlows Beziehung zu dieser Vision in Kraft treten wird. Marlow bereitet hier seine Zuhörer auf das Kommende vor, indem er sie Heart of Darkness - 201 in die Richtung der schwierigeren Grenzüberschreitung drängt, die noch bevorsteht. Der rhetorische Kern von Marlows Erzählung besteht in seiner Reaktion auf Kurtz’ Verhältnis zum Dschungel und seinen Menschen. Kurtz ist weder einer von „uns“ noch einer von „denen“ („diese“ können dabei als Europäer ohne Ideale und ohne Maskulinität, als Afrikaner oder als Frauen verstanden werden), und dennoch sieht Marlow, für den die Grenzen der Gruppenidentifikation so wichtig sind, sich durch eine tiefe Affinität unlösbar mit Kurtz verbunden. Marlows Verbindung mit Kurtz wird für ihn zu einem moralischen Problem, was notwendigerweise auch ein rhetorisches Problem ist. Diese Verbindung betrifft nämlich nicht nur die Subjektivität zweier Individuen, sondern es geht hier auch darum, ein Individuum (Kurtz) ganz oder teilweise in ein Wertesystem einzugliedern, das eine Gemeinschaft definiert. Es ist dies die Gemeinschaft der Männer, die ehrliche Arbeit leisten, eine Gemeinschaft, welcher das andere Einzelwesen (Marlow) schon angehört. Diese Einbeziehung ist problematisch, und während Marlow damit ringt, kann er sich nicht von dem Urteil der Gruppe lossagen, deren Werte er anwendet. Wie auch immer seine persönlichen Kämpfe ausgesehen haben mögen, was seine Loyalität zu Kurtz betrifft, er muss seine Überlegungen, wie er es hier tut, den anderen Seemännern zur Prüfung unterbreiten. Er muss auch versuchen, sie von der Plausibilität seines Urteils über Kurtz zu überzeugen; auch wenn es nicht das sein mag, das sie getroffen hätten, dann dürfen sie es doch nicht direkt ablehnen. Seine Zuhörer stellen also eine zumeist, wenn auch nicht gänzlich stumme Jury dar, der Marlow seinen Fall präsentiert. Ihre Reaktionen, so sparsam sie auch sind, zeigen sehr deutlich die Spannungspunkte zwischen ihnen und Marlow. Abgesehen von diesen Reaktionen lassen jedoch auch die impliziten und expliziten Appelle, die Marlow an seine Zuhörer richtet, die hier stattfindende Verhandlung erkennen. Marlow ist sich eindringlich, fast verzweifelt bewusst, wie schwierig es sein wird, den Freunden seine Sicht von Kurtz und von seiner Dschungelerfahrung überhaupt zu vermitteln. Ihr könnt das nicht verstehen. Wie auch? - wo ihr doch ein festes Pflaster unter den Füßen habt, umgeben seid von reizenden Nachbarn, die allzeit bereit sind, euch zuzujubeln oder über euch [...] herzufallen [...] - wie sollt ihr imstande sein euch vorzustellen, in welche ganz besonderen Regionen der ersten Zeitalter einen Mann seine ungefesselten Füße tragen können - nur wegen der Einsamkeit - [...] nur wegen des Schweigens - des tiefsten Schweigens, weil kein netter Nachbar mehr mit warnender Stimme die öffentliche Meinung flüstert. (49-50; dt. 90-91) Die Rhetorik dieser Passage ist auf einer bestimmten Ebene transparent und sogar roh. Marlow hat zuvor bereits betont, dass Männlichkeit notwendig sei, um das Dschungelgeheimnis ohne Wimpernzucken anzublicken. Wenn seine Zuhörer ihm nicht weiter zuhören wollen, müssen sie daher seine verächtliche 202 - Heart of Darkness Charakterisierung akzeptieren. Aber Marlow stellt hier auch die entscheidende Frage, was die Zugehörigkeit zu einer Gruppe angeht: was passiert mit dem Mitglied einer Gruppe, wenn diese Gruppe gänzlich abwesend ist? Indem Marlow diese Vision ihrer Abwesenheit aufruft, appelliert er an eben jene Stimme der öffentlichen Meinung (in der Person seiner Zuhörer), die nicht da war, um zu Kurtz zu sprechen. Er tut dies, um sie zu überzeugen, dass selbst ein Mann, der über alle ihre „erlaubten Ziele“ hinaus geht, doch noch in bestimmter Weise als Mitglied der Gruppe in Frage kommt, oder zumindest kein absolutes Nicht-Mitglied sein muss - sondern vielmehr die Werte der Gruppe besonders gründlich bestätigt, wenn er selbst in dem Moment, in dem er deren Grenzen überschreitet, fortfährt, wie die Gruppe zu urteilen. Der Appell an die männliche Gruppenidentifikation, den Marlow an seine Zuhörer richtet und der im entscheidenden Moment sogar den schwierigen Fall von Kurtz einschließen muss, wird zunächst nicht durch den Gegensatz zu unverständigen Dummköpfen oder den ungläubigen Agenten des Reiches etabliert, sondern durch den Gegensatz zu Frauen. Marlows Ton und die Implikationen dieses Tons, wenn dieses Element seiner Rhetorik in der Erzählung zum ersten Mal auftaucht, verdienen hier besondere Beachtung. Nur zweimal in seiner Erzählung wendet Marlow sich in solch einem Ton nervöser Selbstentschuldigung direkt an seine Zuhörer, und wir werden sehen, dass diese beiden weit auseinander liegenden Stellen eng miteinander verbunden sind. 8 Hier ist die erste Stelle: „Dann - ob ihrs glaubt oder nicht - versuchte ich mein Glück bei den Frauen. Ich, Charlie Marlow ließ die Frauen machen - um eine Stelle zu kriegen! Lieber Gott! “ (12, dt. 16). Marlow führt dann die Figur seiner Tante ein, welche ihm die gewünschte Stelle verschafft, worauf die Beschreibung seiner „Initiation“ im Hauptsitz der Gesellschaft folgt. Dann kehrt er noch einmal zu seiner Tante zurück, und hier wird das Thema des „wir Männer“ als denjenigen, welche der Wahrheit ins Auge sehen, zum ersten Mal verkündet. Marlow kommentiert die sentimentale Sicht seiner Tante bezüglich des Kolonialismus und sagt: Es ist seltsam, wie wenig Ahnung die Frauen von der Wahrheit haben! Sie leben in ihrer eigenen Welt, einer Welt, die es so nie gegeben hat und nie geben wird. Sie ist viel zu schön, und wenn es den Frauen gelänge, sie tatsächlich wahr zu machen, ginge sie vor dem ersten Sonnenuntergang unter. Irgendeine verwünschte Tatsache, mit der wir Männer seit dem Beginn der Schöpfung zufrieden gelebt haben, würde das ganze Ding über den Haufen werfen. (16) 9 8 Zu dem Ton der „nervösen Unruhe und übertriebenen Bestimmtheit“ in Marlows Bemerkungen über Frauen vgl. Walter J. Ong. “Truth in Conrad’s Darkness”. Mosaic 2 (1977). 162. 9 Übersetzung VH. Heart of Darkness - 203 Die Resonanzen dieser Stelle in der abschließenden Szene von Marlows Erzählung sind wohl bekannt und ich werde sie daher nicht wiederholen. 10 Mein Interesse richtet sich vielmehr (1) auf die Weise, in der diese Bemerkung beginnt, die Stränge der Gruppenidentifikation zwischen Marlow und seiner Zuhörerschaft enger zu ziehen und (2) auf den eigenartigen Riss in dieser Identifikation, der schon in dem nervös vehementen Ton deutlich wird, mit dem Marlow seine Tante das erste Mal einführt („Ich, Charlie Marlow [...]! Lieber Gott! “). Seine Besorgnis wird in der zweiten Stelle noch deutlicher. „Grundgütiger Herr! Darf ein Mann denn niemals -,“ 11 sagt Marlow und kann dann für einige Momente seine Erzählung nicht fortführen. Der ungewöhnlich reiche und extensive Kontext dieser elliptischen Aussage muss weiter ausgeführt werden. Marlows Bemerkung findet gegen Ende seiner Schilderung von dem Angriff der Afrikaner auf das Dampfschiff statt. Die Beschreibung beginnt fast genau in der Mitte seiner Geschichte, so dass der „Vorfall“ im physischen Zentrum von Heart of Darkness platziert ist, und es gibt innerhalb dieser Schilderung eine auffällige Verdoppelung des Rahmens, in welchem Marlows Erzählen stattfindet. Marlows Dampfboot, das wegen des Nebels nicht weiterfahren kann und in der Mitte des Stroms verankert ist, wird zum Spiegelbild des vor der Küste verankerten, auf den Wechsel der Gezeiten wartenden Bootes, auf dem er Jahre später diese Geschichte erzählt. Dies ist die präziseste und wortgetreueste Spiegelung von Rahmen und Erzählung in Heart of Darkness, und sie dient als Fokus der anderen, allgemeineren Spiegeleffekte. Marlow beschreibt Kurtz als körperlose Stimme (48; dt. 87), und der Rahmenerzähler beschreibt Marlow in der gleichen Weise (30; dt. 51). Und die Gruppe der Zuhörer auf der Nellie konstituiert einen Mikrokosmos der rechtlich-bürokratischen Struktur jener Gesellschaft, die für die koloniale Ausbeutung Afrikas zuständig ist: der Steuermann ist „Direktor der Handelsgesellschaften“ und die beiden anderen genauer bestimmten Figuren sind „der Rechtsanwalt“ und „der Buchhalter“. Es gibt keinen Rechtsanwalt in Marlows Geschichte, aber die Rechtsanwaltsfunktion ist eine wichtige Präsenz: es heißt, dass die sterbenden schwarzen Männer im Gehölz des Todes „ganz legal mit Zeitverträgen“ dorthin gebracht worden seien (20; dt. 31), und die verhungernden Kannibalen auf dem Dampfschiff werden dort kraft „ein[es] Fetzen[s] Papier [...], der im Einklang mit diesem oder jenem dort unten am Fluß gemachten lachhaften Gesetz vollgekritzelt war“ festgehalten (42; dt. 75). Der Buchhalter auf der Nellie wird als Kommentar auf die Rolle präsentiert, welche jener scheinbar harmlose Buch- 10 Für eine feministische Lesart, welche sich auf diese und ähnliche Passagen konzentriert vgl. Johanna M. Smith, „Too Beautiful Altogether: Patriarchal Ideology in Heart of Darkness“, in Joseph Conrad, Heart of Darkness: A Case Study in Contemporary Criticism, hg. Ross C. Murfin (New York: St. Martin’s, 1989), 179-95. 11 Übersetzung VH. 204 - Heart of Darkness halter, dem Marlow im Dschungel begegnet, innerhalb der tödlichen kolonialen Struktur spielte: sein Dominospiel wird als „architektonisches Spiel mit Knochen“ beschrieben (7). 12 Es geht mir hier um die Weise, in welcher der Rahmen bestimmte Elemente des Gerahmten spiegelt und klarer macht, und vor allem darum, dass es einen Moment in der gerahmten Erzählung gibt, der eine besonders privilegierte Beziehung zum Rahmen hat. Es ist „stockfinster“ (30; dt. 51) auf der Nellie, als Marlow seine Geschichte erzählt, und seine Freunde haben das Boot in der Themse verankert, um auf die Ebbe zu warten. Während Marlow auf der verankerten Nellie sitzt, erzählt er, wie er ein Dampfschiff in der Mitte eines afrikanischen Flusses verankert hat und wie dessen Besatzung von der Nacht „mit Blindheit“ geschlagen wurde (41; dt. 73). In der afrikanischen Szene herrscht jedoch sowohl vollkommene Stille aus auch vollkommene Dunkelheit: „Nicht der geringste Laut war zu hören“ (dt. 73). Die Stille steigert den Wert des Geräusches, verstärkt seinen Effekt auf die Sinne: „Gegen drei in der Frühe schnellte ein großer Fisch aus dem Wasser, und das laute Platschen ließ mich hochfahren wie ein Kanonenschuß.“ (dt. 73). Dann wird seltsamerweise diese ganze Szene in einer anderen Modalität wiederholt. Die Nacht endet und die Sonne geht auf, aber das Schiff bleibt durch „einen weißen Nebel, sehr warm und klebrig, der einen noch blinder machte als die Nacht“ gelähmt (hier findet also wieder eine der von den Kommentatoren bemerkten Bedeutungstransferierungen von Dunkelheit und Licht, schwarz und weiß, statt). 13 Und dann noch einmal: der Nebel steigt lange genug, so dass die Mannschaft beginnt, den Anker zu lichten - aber sinkt dann plötzlich wieder. Dreimal wird das Dampfboot also durch die blinde und stumme Dunkelheit oder die Helligkeit seines Ankerplatzes isoliert. Plötzlich bricht in diese schwimmende Isolation, die durch das Platschen eines Fisches wie durch einen Kanonenschuss aufgeschreckt werden kann, ein so außergewöhnlicher und durchdringender Lärm, dass es Marlow scheint, als ob „der Nebel selbst geschrieen“ hätte (dt. 73). Hier ist die Schilderung dieser bemerkenswerten Folge von Geräuschen, die fast genau in der Mitte der Geschichte stattfindet: […] ein Schrei, ein sehr lauter Schrei wie von unendlicher Trostlosigkeit [stieg] langsam in die undurchsichtige Luft [...]. Erstarb. Wildes dissonantes Klagegeschrei toste in unseren Ohren. Das Haar sträubte sich mir unter der Mütze, so unerwartet kam es. Ich weiß nicht, wie es die anderen empfanden; für mich hatte der Nebel selbst geschrieen, so plötzlich und anscheinend von allen Seiten zugleich entstand dieser wüste und trostlose Tumult. Er gipfelte in einem jäh ausbrechenden, beinahe unerträglich ausufernden Kreischen, das gleich abbrach, 12 Übersetzung VH. 13 Zu den Grundlagen der Licht/ Dunkel-Metaphorik vgl. Eloise Knapp Hay. The Political Novels of Joseph Conrad. Chicago: University of Chicago Press, 1963. 134-39. Heart of Darkness - 205 indes wir, in allerlei albernen Posen erstarrt, verharrten und wie gebannt in das fast ebenso erschreckende und ausufernde Schweigen lauschten. (41; dt. 73) Dies wird in Gegenwart der Afrikaner verkündet, welche einige Stunden später einen verzweifelten „Versuch der Abwehr“ gegen das Dampfschiff unternehmen werden. Den Teil der Erzählung, von der Entscheidung, für die Nacht vor Anker zu gehen, bis zur Beseitigung der Leiche von Marlows eingeborenem Steuermann, betrachte ich als eine strukturelle Einheit. Die Handlung, für welche das Ankern des Bootes die Bühne bereitet hat, ist erst dann beendet; es gibt an dieser Stelle eine sehr konventionelle Kohärenz der narrativen Sequenz, von der ominösen Stille, die dem Aufruhr vorangeht, über die Attacke und deren Abwehr, bis zu der abschließenden Beseitigung der Leiche. Aber der Effekt dieser konventionellen Action-Abenteuer-Sequenz wird zu einem beträchtlichen Grad durch die Art ihrer Erzählweise vereitelt, welche noch abschweifender ist und die Chronologie noch mehr unterbricht als anderswo in der Erzählung. Zwischen dem eröffnenden Tumult und dem Angriff gibt es einen langen Exkurs über Kannibalen, zwischen dem Tod des Steuermanns und seinem hastigen Begräbnis gibt es eine noch längere Abschweifung über Kurtz. Die Kohärenz der gesamten Sequenz wird jedoch auf der Ebene des Erzählens durch ein Leitmotiv gesichert, das nach seinem ersten Auftauchen noch drei Mal erscheint: das Motiv des klagenden Schreis der Afrikaner, welcher die nebelumschlossene Stille durchbricht. 1. Durch diesen Schrei kehren wir nach dem Exkurs über die Kannibalenbesatzung des Dampfbootes zu der Haupterzählung zurück: Nur ein Mann mit all seiner eingeborenen Stärke kann richtig gegen den Hunger kämpfen. Es ist wirklich einfacher, einen Todesfall, Entehrung und den Verlust seiner Seele zu erleben - als diese Art von langandauerndem Hunger. Traurig, aber wahr. Und diese Typen hatten noch dazu überhaupt keinen Grund für irgendwelche Skrupel. Zurückhaltung! [...] eine Tatsache sah mir ins Gesicht [...] ein Rätsel, das - wenn ich darüber nachdachte - größer war als der seltsame, unerklärliche Ton verzweifelter Traurigkeit in dem wilden Lärm, der am Flussufer hinter der blinden Weiße des Nebels an uns vorbeirauschte. (43) 14 Marlow verleiht hier wieder seiner grundlegenden Konzeption von Männlichkeit Ausdruck: Männlichkeit als etwas jenseits von Idealen und Überzeugungen, eine unfassbare, geheimnisvolle Essenz, welche das dem Mann eigene, unveräußerliche Eigentum ist - und, wie wir gesehen haben, versucht Marlow seine Zuhörer davon zu überzeugen, dass diese Essenz in der Lage ist, auf bestimmte Weise sogar die moralische Gemeinschaft zu transzendieren, die sie hervorgebracht hat. Mit der Erwähnung des Schreis nimmt Marlow dann wieder seine eigentliche Erzählung auf. 14 Übersetzung VH. 206 - Heart of Darkness 2. Marlow berichtet nun, wie an Bord des Dampfschiffes diskutiert wird, ob die Eingeborenen angreifen werden oder nicht, und wieder taucht das Thema des Schreis oder der Schreie auf. Er hält den „Pilgern“, die denken, dass Marlow „verrückt geworden“ ist, einen „regelrechten Vortrag“ 15 über die Natur der Schreie der Afrikaner: Der entscheidende Grund aber, weshalb ich mir einen Angriff nicht vorstellen konnte, war die Art des Lärms - der Schreie, die wir gehört hatten. Das war nicht jenes wutschnaubende Gebrüll gewesen, das von offen feindlichen Absichten kündet. Dieses Schreien, so wild und gewaltsam es auch gewesen war, hatte auf mich unwiderstehlich kummervoll gewirkt. Der Anblick des Dampfschiffes hatte diese Wilden aus irgendeinem Grund mit hemmungslosem Schmerz erfüllt. Die Gefahr, falls es denn eine gab, erklärte ich, bestehe allein in unserer Nähe zu einem Ausbruch [großer; VH] menschlicher Leidenschaft. (44; dt. 79-80) Ich glaube nicht, dass die Eigenartigkeit dieses Moments jemals richtig gewürdigt worden ist. Der strenge, selbstkontrollierte Marlow empört sich gegenüber Leuten, die er verachtet und vor denen er seine Innerlichkeit normalerweise hinter einer „stoischen Haltung“ versteckt (30-31) 16 , weil ihn seine die Gefühle der Eingeborenen betreffende Überzeugung so bewegt. Und noch als er den Zuhörern auf der Nellie von diesen Ereignissen berichtet, bleibt Marlow bei dieser Überzeugung, sogar angesichts der Tatsache, dass seine Vorhersage falsch war und die Eingeborenen in der Tat angriffen. Marlow besteht dennoch darauf, dass das, was er den Pilgern sagte, „wahr [war]“ und „einfach den Tatsachen [entsprach]“, denn „[w]as wir später Angriff nannten, war in Wirklichkeit ein Versuch, unseren Angriff abzuwehren.“ Und er macht die folgende subtile Unterscheidung: „Die Aktion war alles andere als ein Angriff; es war nicht einmal eine Verteidigung im üblichen Sinn; ausgelöst hat sie der Druck der Verzweiflung, und im Kern war sie eine reine Schutzmaßnahme.“ (44; dt. 80). Marlows Interesse richtet sich nicht auf den Angriff oder den Versuch der Abwehr an sich, sondern auf die Art des Affekts, der die Angreifer motiviert. Die Gefahr, „falls es denn eine gab“, liege „in unserer Nähe zu einem Ausbruch [großer; VH] menschlicher Leidenschaft“ und insbesondere der Leidenschaft von „maßlose[m] Schmerz“ (44; dt. 80). 3. Danach folgt eine Beschreibung von dem Kampf und von dem Tod des Steuermanns, und wir sind fast am Ende der Angelegenheit, da erwähnt Marlow noch ein drittes Mal den unkontrollierten Kummer der Eingeborenen, und diese Erwähnung resultiert direkt in dem grundlegenden Bruch zwischen Marlow und seiner Zuhörerschaft, dem wir uns seit einigen Seiten genähert haben. Der Steuermann stirbt, aber für einen Moment kann Marlow „nichts 15 Übersetzung VH. 16 Übersetzung VH. Heart of Darkness - 207 anderes denken“ (47; dt. 87), als dass Kurtz ebenfalls tot sein muss, und dieser Gedanke löst bei ihm überwältigenden Gram aus: „Wir kommen zu spät; er ist hin - die Gabe ist hin, durch irgendeinen Speer, Pfeil oder Knüppel. Nun werde ich diesen Kerl doch niemals reden hören, und mein Kummer wuchs sich plötzlich aus zu einem Schmerz, so maßlos wie im Klageschrei jener Wilden im Busch. Hätte man mir meinen Glauben genommen, oder hätte ich meine Bestimmung in diesem Leben verfehlt, meine Einsamkeit und Verzweiflung hätten nicht größer sein können ...“ (48; dt. 87). Hier wird Marlow durch die Reaktion eines der Zuhörer unterbrochen, worauf er antwortet: „Warum seufzt da einer wie ein Tier? Absurd? Na gut, absurd. Großer Gott! Darf ein Mann denn niemals... He, gebt mir ein bisschen Tabak ...“ (48). 17 Immer noch hallt hier der Moment wider, in dem ein Schrei von „unendlicher Trostlosigkeit“ die Stille durchbrach, in der Marlows Dampfboot blind und stumm in der Mitte des Flusses lag. Marlows Reaktion auf diesen Schrei hat seine Wahrnehmung von allem, was danach passierte, bis zum Tod des Steuermanns und der Beseitigung seiner Leiche, dominiert. Und zuletzt hat Marlow selber für einen Moment das Gefühl erlebt, das ihm dem „maßlosen Schmerz“ der Eingeborenen zu entsprechen schien - und tatsächlich weiß er zum Zeitpunkt des Erzählens, dass er um die gleiche Person trauert wie die Eingeborenen. An dieser Stelle zeigt sich zum zweiten Mal und viel deutlicher als zuvor Marlows Unbehagen gegenüber seiner Zuhörerschaft. Das Einvernehmen zwischen Marlow und seinen Zuhörern wird nicht durch die Zügellosigkeit von Kurtz belastet, sondern durch die von Marlow. „Guter Gott! Darf ein Mann denn niemals -.“ Der Spott eines Zuhörers, dem anscheinend das von Marlow aufgegriffene absurd zuzuschreiben ist, verstört Marlow so sehr, dass er seine Erzählung für einige Momente unterbricht, und selbst als er sie fortzusetzen sucht, bleibt seine Erregung auffällig. Vier weitere Male (also sechs Mal insgesamt) wird er das beleidigende Wort wiederholen. Wie er glaubt, soll es ihm zu verstehen geben, dass das von ihm beschriebene Verhalten in den Augen seiner Zuhörerschaft etwas ist, was ein Mann „niemals darf“. Wie zuvor geht Marlow in die Offensive und schleudert seinen Zuhörern den Vorwurf entgegen, dass sie nicht qualifiziert seien zu beurteilen, was (wie er vorher gesagt hat) „der Mann weiß“ und „ohne mit der Wimper zu zucken“ ansehen kann (38; dt. 67): „Absurd! “, schrie er. „Das ist das Schlimmste daran, wenn man zu erzählen versucht ... Hier hockt ihr, jeder vertäut an zwei guten Adressen, wie ein Hulk an zwei Ankern, um die eine Ecke der Metzger, um die andere der Wachtmeister, Appetit vorzüglich, Temperatur normal - hört ihr - normal, jahrein, jahraus. Und ihr sagt absurd! Absurd, darauf pfeif ich! Absurd! (48; dt. 88) 17 Leichte Abänderung von Batenbergers Übersetzung, die so aussieht: „Warum seufzt da einer wie ein Tier? Absurd? Na gut, absurd. Herrgott! kann der Mensch nicht irgendwann mal ... He, gebt mir ein bisschen Tabak ...“ (88). 208 - Heart of Darkness Aber Marlow hat zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen, sich abzusichern. Es ist nicht nur, dass er draußen im Dschungel war, wo ein Mann seltsame und verstörende Dinge sehen kann, sondern auch dass er, wie er zuvor erwähnt hat, nicht sein normales Selbst war, denn er „hatte oft ‚etwas Fieber‘“ (43; dt. 77) - daher seine Bemerkung über die „normale Temperatur“ seiner Zuhörer. Und nun beginnt er sehr schnell, die gemeinsame Ebene mit den Zuhörern wiederherzustellen: „Liebe Leute, was könnt ihr denn erwarten von einem Mann, der eben, aus reiner Nervenschwäche, ein Paar nagelneuer Schuhe über Bord geworfen hat! “ (dt. 88). Auf diese Weise revidiert Marlow seinen Bericht. Er mindert das „Übermaß an Gefühl“, welches seine gesamte Erzählung über die Begegnung mit den Eingeborenen bestimmt hat, von dem ersten Schrei ab, als ihm war „als ob der Nebel selber geschrieen hätte“, und lässt es sogar als lächerlich erscheinen . Und tatsächlich wandelt er nun seinen Moment der Schwäche in einen Moment der Stärke um, in einen Moment männlicher Selbstbeherrschung in dem ganz primitiven Sinn, wie sie einem Jungen in frühster Kindheit beigebracht wird: „Wo ich jetzt darüber nachdenke, wundert es mich, daß ich nicht losgeheult habe. Ich bin im großen und ganzen stolz auf meine Seelenstärke.“ (dt. 88). Und nachdem Marlow durch die Abwertung seines Moments emotionalen Überschwangs und die Wiederherstellung der Grenzen, welche „uns Männer“ zusammenbinden, nun seine Fassung zurückgewonnen hat, ist es nicht mehr weit bis zur Bestätigung derjenigen Hauptkategorie, durch deren Gegensatz Männlichkeit definiert wird. Nach einigen wenigen Zeilen über Kurtz wird Marlow plötzlich und wie aus heiterem Himmel an eine Frau erinnert: „Stimmen, Stimmen - sogar das Mädchen - nun ja ...“ (49; dt. 89). Hier wird die Erzählung zum zweiten Mal unterbrochen: „Er schwieg lange Zeit.“ Wenn er wieder spricht, wiederholt er fünf Mal die Idee, dass Frauen „unberührt von der Wahrheit“ sind. Diese Wiederholung suggeriert, dass die Erregung, die schon zu Marlows früherer Selbstverteidigung geführt hat, noch nicht gänzlich überwunden ist, besonders weil die Lüge, die er nun erwähnt, inzwischen den schrecklichen Trauerschrei der Zukünftigen verursacht haben wird - den Schrei, der den Schrei der Wilden mit seinem außergewöhnlichen Schmerz wiederholt, mit eben jenem Übermaß, welches Marlow selber, ebenso wie die Eingeborenen, wie die Zukünftige, erlebt hat. „Zuletzt habe ich das Gespenst seiner Begabungen mit einer Lüge umgelegt“, begann er plötzlich. „Mädchen! Was? Habe ich Mädchen gesagt? Oh, sie ist aus dem Spiel - vollkommen. Sie - die Frauen, meine ich - sind aus dem Spiel - man sollte sie aus dem Spiel lassen. Wir müssen ihnen helfen, in ihrer eigenen schönen Welt zu bleiben, damit unsere nicht noch schlimmer wird. Oh, sie mußte aus dem Spiel bleiben.“ (49; dt. 89). Heart of Darkness - 209 Man kann Marlows Haltung gegenüber Kurtz - die Haltung, die er etwas trotzig seiner Zuhörerschaft zur Zustimmung unterbreitet - nicht wirklich Bewunderung nennen. Dafür ist Marlow zu streng, zu asketisch. Und dennoch kann er Kurtz ob seiner Männlichkeit seine Loyalität nicht versagen. Kurtz hat in geringeren Männern Hingabe und in seinen Feinden Angst ausgelöst, und er hat eine Frau „erobert“, die es wert war, gewonnen zu werden, eine Frau, um deren Besitz selbst ein beherrschter Mann ihn wohl beneiden mag: „Aber andererseits, versteht ihr, geht es nicht darum, was ich will. Man wird ihn nicht vergessen. Was immer er gewesen ist, Mittelmaß war er nicht. Er hatte die Macht, unbehauene Seelen zu verzaubern oder ihnen einen solchen Schrecken einzujagen, dass sie ihm zu Ehren in einen schon recht heftigen Hexentanz verfielen; auch konnte er die kleinen Seelen der Pilger mit bitterbösen Ahnungen füllen - er hatte wenigstens einen ergebenen Freund, und er hatte sich in dieser Welt eine Seele unterworfen, die weder unbehauen noch durch Selbstsucht verdorben war.“ (51; dt. 93-94) Marlows Definition von Männlichkeit ist also seltsam zweideutig. Während er Maskulinität meistens mit Selbstbeherrschung, Effizienz und Hingabe an die Arbeit gleichsetzt, gibt es eine alternative Definition, ein „Sicherheitsventil“, welche eine andere Richtung eröffnet: die Definition, welche die Möglichkeit einer gewaltsamen, zerstörerischen Form der Männlichkeit erlaubt. Obwohl er in keiner Weise mit dem beherrschten Typ identisch ist, wird diesem Typ des „rotäugigen Teufels“ eines Mannes, als Gegensatz zu dem „schwabbeligen“, uneffizienten Typen dennoch ein Platz neben dem beherrschten Typ zugeordnet. „Ich habe den Teufel der Gewalt gesehen und den Teufel der Gier und den Teufel der Geilheit; aber, bei allen Sternen! das waren starke, wollüstige, rotäugige Teufel, die Männer beherrschten und hetzten - Männer, sage ich euch. Aber als ich am Abhang dieses Hügels stand, ahnte ich, daß ich im blendenden Sonnenschein dieses Landes die Bekanntschaft mit einem schwabbeligen, großmäuligen, scheeläugigen Teufel machen würde, raubgierig und gnadenlos verrückt.“ (19-20; dt. 30). „Starke, wollüstige, rotäugige Teufel“ - „wir sind nicht so“, mögen die Männer auf der Nellie denken, „aber als Männer können wir erkennen, dass darin nichts essentiell Unmaskulines liegt, dass es ein Aspekt des von uns akzeptierten „Mannseins“ ist.“ Aber darüber hinaus scheint Marlow implizit die Frage zu stellen, ob der Teufel der Gewalt, der Gier und der Geilheit nicht tatsächlich der Kern oder die Essenz der Männlichkeit ist, so dass es zwar männlich ist, diese Essenz zu unterdrücken, sie aber unter bestimmten Umständen männliche Selbstbeherrschung überwältigen kann und zwar aus einem wahrhaft männlichen Impuls heraus. Auf der einen Seite fühlt Marlow also so etwas wie Bewunderung oder Respekt für Kurtz als „Teufel der Geilheit“, auf der anderen macht gerade dieses Kurtz zu einer obszönen Figur der Raubgier, deren wahre Natur der Zukünftigen vorenthalten werden muss („Oh, sie mußte aus dem Spiel bleiben“). Indem Marlow den Fokus seiner Erzählung auf die ausgesprochen männliche 210 - Heart of Darkness Problematik von der wahren Natur von Kurtz und der Schwäche der Zukünftigen richtet, löst er sich von dem gleichsam femininen Strang, mit dem er seit dem Moment des klagenden Tumults der Eingeborenen gekämpft hat. Aber was ist mit dem Moment, in dem Marlows Erzählung zum Erliegen kommt, in welchem die Kategorien des erzählerischen Vertrags mit seiner Zuhörerschaft für einen Augenblick außer Kraft gesetzt werden? Dies ist kein Moment der Verirrung, der Schwäche, von dem aus Marlow sich wieder zusammenreißt; seine Erzählung hat eine andere Ökonomie als diejenige, welche durch das Abkommen mit seinen Zuhörern erzwungen wird, eine Ökonomie, in deren Geflecht Marlows Reaktion auf die Afrikaner in essentieller Weise an seine Reaktion auf die Zukünftige gebunden ist. Ich werde jetzt das Thema der Rhetorik von Marlows Geschichte verlassen und die Funktionsweise dieser anderen Ökonomie nachzeichnen. Diese ist weniger offensichtlich als das bisher Besprochene in Marlows Sprache eingeschrieben. Wir werden auf den kulminierenden Schrei der Zukünftigen zuarbeiten, der neben dem klagenden Tumult der Eingeborenen der zweite Hauptpol ist, um den herum Marlows Erzählung strukturiert ist. Warum besucht Marlow die Zukünftige? Der „asketische“ Marlow hat nichts mit Frauen zu tun; seine Libido fließt in die Arbeit und durch die Arbeit in seine Bindungen an andere Männer. Aber ihn verfolgt die Erinnerung an jenen Mann, der alle seine Lebensenergie in die Befriedigung seine Lüste gegossen hat. Genauer gesagt verfolgt ihn der Gegensatz zwischen der Verderbtheit von Kurtz und der vollkommenen Reinheit, welche Marlow in der Zukünftigen sieht. Er zeichnet diesen Gegensatz zwischen ihrer Reinheit und der Verdorbenheit von Kurtz so scharf wie möglich; die Zukünftige muss so frei von jedem Makel sein wie Kurtz verdorben ist. Aber auch wenn die Seele der Zukünftigen „durchscheinend rein wie ein kristallines Riff“ ist (70; dt. 132), wird Marlow dennoch das „Echo“ der von Kurtz geflüsterten Sterbeworte von ihr hören. Am Ende entsteht daher der Eindruck, dass die Grenze, welche die Reinheit von der Verderbtheit trennt, überschritten wird. Diese Grenzüberschreitung geschieht nur in Marlows Bewusstsein und berührt niemals das der Zukünftigen. Marlow jedoch scheint durch ein Bedürfnis getrieben zu sein, das von Kurtz Verbleibende in die unmittelbare Nähe jener Reinheit zu bringen, die seiner Meinung nach vor diesem geschützt werden muss. Als er durch das Tor der Zukünftigen geht, versetzt ihn das Gefühl fast in Hysterie, dass er ihr in einem „von Rache beseelten Überfall“, vor dem er sie beschützen muss, die „siegreiche Finsternis“ überbringt (72; dt. 136-37), und dennoch geht er weiter. Er selber sagt, dass er die Frau besucht, um mit ihr über Kurtz zu sprechen, in dem Glauben, dass sie den Abdruck der Erinnerung an Kurtz tief, vollkommen und ohne Widerstand aufnehmen wird, die schreckliche Erinnerung, welche er bei ihr abladen will. Es ist ihre scheinbare Aufnahmebereitschaft, welche Marlow als den direkten Grund für seinen Besuch präsentiert: „Sie schien bereit zuzuhören, ohne inneren Vorbehalt, ohne Argwohn, ohne einen Heart of Darkness - 211 Gedanken an sich selbst. Ich entschloß mich, zu ihr zu gehen und ihr das Porträt und jene Briefe persönlich zurückzugeben.“ (71; dt. 135) Zwei Eindrücke stehen also in Marlows Vorstellung nebeneinander: der von einem verschlingenden, obszönen, dominierenden Kurtz (der wiederum ganz maskulin in seinem letzten Moment das Urteil über sich selber gefällt hat) und der von einer durchscheinend reinen, gänzlich selbstlosen, endlos aufnehmenden femininen Substanz, auf welche Marlow, entsetzt von seinem eigenen Tun, zwanghaft den Abdruck von Kurtz’ Bild übertragen muss. Sein Besuch wird durch seine bereits bestehende Faszination mit der Diskrepanz dieser beiden Bilder verursacht, ebenso wie die folgende Vision, welche nur mehr die physische Präsenz der Zukünftigen in ein Szenario einfügt, das in Marlows Einbildungskraft schon vorbereitet ist, und das damit eine halluzinatorische Realität bekommt. Die Szene mit der Zukünftigen und Marlows Erzählung insgesamt werden in dem „jubelnden und zugleich schrecklichen Schrei, dem Schrei unfassbaren Triumphs und unaussprechlicher Qual“ (dt. 143) der Frau kulminieren. Erfüllt dieser auch das Begehren, das Marlow in ihre Gegenwart trieb? Geht Marlow nicht gerade deshalb zu ihr, um ihr Herz bis zum Äußersten auszuwringen und sie auf diese Weise aufschreien zu lassen? Aber was ist dann mit dem „jubelnden“ Aspekt ihres Schreis, ihrem „unfassbaren Triumph“? Erinnern wir uns an die in den letzten Worten von Kurtz ausgesprochene Intention, als er auf dem sich flussabwärts bewegenden Schiff im Sterben liegt: „‚Schließen Sie den Fensterladen‘, sagte Kurtz eines Tages plötzlich; ‚ich ertrage es nicht, das alles zu sehen! ‘ Ich schloß ihn. Es herrschte Schweigen. ‚Oh, ich werde dir doch noch das Herz auswringen! ‘ schrie er in die unsichtbare Wildnis.“ (67). 18 Die Wendung “I will wring your heart yet” [dt. „Ich werde dir doch noch das Herz auswringen“] erscheint nicht in der Manuskript-Version von Heart of Darkness. Wie Robert Kimbroughs Ausgabe anmerkt, hat Conrad an ihrer Stelle ursprünglich geschrieben: “I will make you serve my ends.” [dt. „Ich werde dich mir noch zunutze machen.“]. Die Revision bringt eine Ambiguität in den Text, die in dem Manuskript nicht vorhanden war; über die bewahrte utilitaristische Bedeutung hinaus vermag die neue Formulierung ein Begehren auszudrücken, ein Begehren danach, Leid zuzufügen, genauer gesagt, das Leid der Trauer. Und wie Conrad zumindest unterschwellig bewusst gewesen sein mag, ist letztere Bedeutung besonders deutlich durch die Literaturgeschichte markiert. Bevor Hamlet sie beschuldigt, ihren toten Ehemann nicht richtig betrauert zu haben, richtet er die folgenden Worte an Gertrud: Leave wringing of your hands. Peace, sit you down, And let me wring your heart, for so I shall If it be made of penetrable stuff. [...] (Hamlet, 3.4.34-46) 18 Übersetzung VH. Batberger: „‚Oh, ich werde dir doch noch das Herz herausreißen! ‘ schrie er in die unsichtbare Wildnis.“ (dt. 128) 212 - Heart of Darkness (Dies ist im Übrigen womöglich das erste Mal, das “wring” [dt. „(aus)wringen“] im Zusammenhang mit “heart” [dt. „Herz“] vorkommt; die frühste Nennung im Oxford English Dictionary ist von 1766 und die Wendung wird anscheinend erst nach 1780 üblich.) Deutet der Ausruf von Kurtz also auf ein Begehren hin, der Wildnis mit Gewalt eine Reaktion von Qual oder Trauer zu entlocken? Aber, wenn das der Fall ist, dann wird die Frage der phallischen Maskulinität von Kurtz hier auf eine ganz andere Weise aufgerufen, als Marlow sie explizit gestellt hat. Nun ist die Geschichte offensichtlich voller „ausgewrungener Herzen“: denen der Eingeborenen im Allgemeinen und der wilden Geliebten im Besonderen, das der Zukünftigen und für einen Moment das von Marlow - alle ‚ausgewrungen‘ durch den Schmerz über den wahren oder imaginierten Verlust von Kurtz. Aber die Intention von Kurtz ist ausdrücklich an die Wildnis gerichtet, und die Wildnis ist herzlos, „gnadenlos“ (56; dt. 104) und „ungerührt“ (57; dt. 106). Aber ab und zu erlaubt Marlow sich, den Unterschied zwischen der Wildnis und ihren Bewohnern in Verbindung mit Kurtz zu elidieren. Auf seine Weise kreiert er die Illusion eben jenes Phänomens, nach dem Kurtz anscheinend ein Begehren ausdrückt, wenn er sagt: „ich werde dir doch noch das Herz auswringen“. „[…] für mich hatte der Nebel selbst geschrien, so plötzlich und anscheinend von allen Seiten zugleich entstand dieser wüste und trostlose Tumult.“ (41; dt. 73) „Der Busch begann zu heulen.“ (46; dt. 84) [...] und dann erscholl aus der Tiefe der Wälder ein Klagelaut, so bebend und langgezogen, so voll von Trauer, Furcht und äußerster Verzweiflung, wie er wohl folgen mag, wenn die letzte Hoffnung von der Erde gewichen ist. (47; dt. 85-86) In genau dem Moment, als er Kurtz zum ersten Mal sieht, hört Marlow einen Schrei (dessen Ursprung unspezifiziert bleibt, möglicherweise ist es Kurtz’ afrikanische „Geliebte“), den er so beschreibt: „schrill bohrte er sich durch die stille Luft wie ein spitzer Pfeil, der mitten ins Herz des Landes drang“ (59; dt. 110) Später gibt Marlow sich explizit einer bis dahin nur angedeuteten Vorstellung hin, wenn er die wilde Geliebte als Personifizierung des „riesigen Leibes“ des Dschungels beschreibt. Der Eindruck ihres „wilden Kummers“ lässt Marlow zumindest für einen Moment das Land selber „kummervoll“ nennen und diesem wenigstens im Simile eine „leidenschaftliche Seele“ zuschreiben (60; dt. 113-14). Heart of Darkness - 213 Das Merkwürdige daran ist, dass die gewalttätige Aggressivität von Kurtz und seine Fähigkeit, die Herzen der Frauen und sogar fast das der Natur selbst mit Trauer zu erfüllen, in Marlows Vorstellung miteinander verbunden sind. Marlow, der Mann der Selbstbeherrschung und der Hingabe an die Arbeit, kann der Versuchung nicht ausweichen, diesen hemmungslos seine Triebe auslebenden Mann zu bewundern, der nicht nur Dschungelreiche, sondern auch die Seelen von Frauen „erobert“. Dabei fasziniert ihn weniger die Eroberung an sich, und sicher nicht die Form, welche der Genuss ihrer Früchte annimmt, als vielmehr der affektive Tribut, welchen das Erlöschen von Kurtz’ Präsenz auslöst, ein Tribut, der Kurtz ob seiner Fähigkeit, anderen gewaltsam den Stempel seines Seins aufzudrücken, gezahlt wird. Am Ende wird Marlow eine Frau anlügen, und als er es tut, wringt er ihr das Herz durch ein überwältigendes Ausmaß an Schmerz für den toten Kurtz aus, und befriedigt damit auf eine seltsame und unerwartete Weise das Begehren, das Kurtz vor seinem Tod ausgesprochen hat. Im Schrei der Frau drückt sich die unkontrollierte Trauer auf besonders extreme Weise aus, was die von Marlow gesuchte Vollendung zu sein scheint, aber es ist eine ironische Vollendung, denn es ist nicht nur ein Schrei der Trauer, sondern auch ein Schrei des Triumphs. Der Gedanke, dass Kurtz, im „höchsten Augenblick vollkommener Erkenntnis“ (68; dt. 129), nur sie kannte, dass sein Wesen im Moment des Todes gänzlich auf ihres konzentriert war, versetzt sie in Ekstase. Kurtz’ Tod ist ihr Triumph, weil sein Wesen damit gänzlich ihr gehört, aber er ist auch ihr absoluter Verlust - ein Verlust, von dem Marlow gerne glauben möchte, dass sie ihn nie überwinden wird. Hier sind die genauen Worte, mit denen Marlow von ihrem erstaunlichen Schrei berichtet: „Ich hörte einen leichten Seufzer, und dann stand mein Herz still, hörte einen Augenblick auf zu schlagen von einem jubelnden und zugleich schrecklichen Schrei, dem Schrei unfaßbaren Triumphs und unaussprechlicher Qual.“ (75-76; dt. 143). Es ist ein dionysischer Schrei, und er befreit den angesammelten affektiven Druck, der durch all die wichtigen Antithesen der Geschichte entstanden ist. 19 Aber es ist nicht so leicht, sich einen solchen Schrei wirklich vorzustellen, besonders wenn er in einem viktorianischen Salon im Rahmen eines formellen Gesprächs mit einem Fremden von einer Frau der Oberschicht ausgestoßen wird. 19 Conrad mag hier an Nietzsches Beschreibung der dionysischen „Erscheinung, dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust“ in Die Geburt der Tragödie (2) gedacht haben: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 1. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München: dtv, 1980. 33 [Im Original zitiert nach The Birth of Tragedy and the Case of Wagner. Übers. ins Engl. v. Walter Kaufmann. New York: Vintage, 1967. 40. 214 - Heart of Darkness Einfach oder nicht, es ist keine Frage des Realismus. Die häufig geäußerte Kritik an der Charakterisierung der Zukünftigen verfehlt ihr Ziel, weil die ganze Szene und vor allem der Schrei durch textuelle Kräfte motiviert werden, die über die der Wahrscheinlichkeit hinausgehen. Schon die Tatsache, dass sie nur als die Zukünftige bekannt ist, platziert die Frau in ein allegorisches oder quasi-allegorisches Register. Und der die Szene strukturierende topos der „letzten Worte“ gehört zu den ältesten der Literatur und taucht schon in der Ilias in Andromaches Klage über Hektor auf: ... doch mich vor allen betrübt nie endender Jammer! Denn nicht hast du mir sterbend die Hand aus dem Bette gereichet, Noch ein Wort mir gesagt voll Weisheit, welches ich ewig Eingedenk erwöge, bei Tag’ und Nacht dich beweinend. (24.742-45) Aber die Szene deutet auch auf eine subtilere und generalisierte Textualität hin. Denn wenn der Schrei der Zukünftigen auch nicht wirklich orgasmisch ist, liegt er doch in beunruhigender Nähe zu einem Feld sexuell-libidinöser Kräfte, die in ihm auf komplexe Weise widerhallen. Ich unterbreche hier meine Interpretation von Heart of Darkness, um einen Teil der textuellen Topographie nachzuzeichnen, in deren Rahmen diese komplexe Resonanz hörbar gemacht werden kann. Die topoi dieser Topographie gehören nicht zu einem offiziell anerkannten literarischen System, sie sind die Krisenpunkte der libidinösen Dialektik, deren textuelle Kohärenz ich in diesem Buch zu definieren versucht habe. Ich habe bereits bemerkt, dass Heart of Darkness an ein Repräsentationsfeld grenzt, das es nicht explizit betritt, nämlich das der Sexualität. In einer Querbewegung wenden wir uns nun von Heart of Darkness ausgehend einigen anderen Texten zu, und es wird sich zeigen, dass deren Erforschung des sexuell-libidinösen Feldes auf bestimmter Ebene an Heart of Darkness angrenzt. William Actons medizinischer Diskurs über Sexualität wurde bereits kurz erwähnt, und es gibt in Conrads Zeit noch einen anderen, inoffiziellen Diskurs über Sexualität, den Steven Marcus als „in allen Punkten“ isomorph zum medizinischen Diskurs bezeichnet: den der Pornographie. 20 Was in der Pornographie verfügbar ist, zumindest als Phantasie, ist die leidenschaftliche sexuelle Reaktion einer Frau, die, wie Acton sagt, in der Realität nicht nur notwendig für die Erregung des Mannes, sondern auch selten anzutreffen ist. Auf der einen Seite „scheint alles, das wir gelesen und gehört haben, zu beweisen, dass eine Erwiderung des Begehrens notwendig ist, um den Mann zu erregen“, aber auf der anderen Seite glaubt Acton, dass „die Mehrheit der Frauen (zu ihrem Glück) selten durch irgendwelche sexuellen 20 Steven Marcus. The Other Victorians: A Study of Sexuality and Pornography in Mid- Nineteenth-Century England. New York: New American Library, 1974. 27. Heart of Darkness - 215 Gefühle beunruhigt werden. Was die Männer gewohnheitsmäßig sind, sind die Frauen nur ausnahmsweise“ (zitiert bei Marcus, 30-31). Ich wende mich nun Marcus’ Darstellung von The Lustful Turk zu, einem pornographischen Roman von 1828. Es geht dabei nicht darum, ob Conrad Pornographie gelesen hat oder nicht, entscheidend ist vielmehr, dass es zu seiner Zeit bestimmte topoi eines weitverbreiteten Phantasiediskurses über die Natur und das Begehren gab, topoi, die in Heart of Darkness auf interessante Weise neu gestaltet werden. 21 Die männlichen sexuellen Phantasien, welche in The Lustful Turk repräsentiert werden, sind zumeist von einer Art, wie sie die Pornographie bis heute dominiert (und nicht nur die Pornographie, wie der Höhepunkt von Dantes Rime petrose gezeigt hat): es sind Phantasien aggressiver Dominanz. Und das ist schon damals typisch; laut Marcus konzentriert sich schon im 19. Jahrhundert „die überwältigende Mehrheit“ von pornographischen Büchern auf solche Darstellungen (211-12). Aber Marcus ordnet The Lustful Turk auch in die breite intellektuelle Debatte über die Frage der „Empfindsamkeit“ ein, und er tut dies auf eine Weise, die erkennen lässt, wie Heart of Darkness in Bezug auf diesen größeren Kontext gelesen werden kann. In The Lustful Turk wird „die Sexualität selber vor allem durch die Sprache, die Diktion der Empfindsamkeit repräsentiert“ (204). Insbesondere der Begriff der Natur wird, so Marcus, auf eine für das 18. Jahrhundert charakteristische Weise eingesetzt: „Sie schlummert, aber sie kann aufgeschreckt werden, und dann ist sie „zu mächtig“. Sie ist implizit mit den verborgenen Winkeln des Herzens assoziiert. Sie wird durch die Sinne wahrgenommen, durch ‚neue und wilde Empfindungen‘, und sie produziert zunächst nicht Vergnügen, sondern Unordnung, Verwirrung, ‚einen totalen Aufruhr‘“ (205). Am Grenzpunkt der männlichen Phantasie von der weiblichen Erregung reagiert die Frau mit „einer wilden Lust und Verzückung“ (206), welche vollkommen überwältigend ist, eine „reine Wonne [sagt eine der Frauen in The Lustful Turk], ich kann sogar sagen, eine Qual der Lust“ (213). Marcus kommentiert: „Das heisst, dass die Gefühle von Lust und Schmerz gleichzeitig vorhanden sind, in einem Zustand, der größer, intensiver, überwältigender ist, als jedes Gefühl für sich alleine sein könnte“ (206). Wenn wir die abschließende Szene mit der Zukünftigen in direktem Zusammenhang mit dem pornographischen topos der weiblichen Lust-an-der- Schmerzgrenze sehen, kann sie nur als ein ironisches Auflösen der von diesem 21 Es stimmt jedoch, dass Conrads Epoche sich durch ein explodierendes Interesse an Pornographie auszeichnete, häufig unter “gentlemen”, und anscheinend oft im Britischen Museum unter dem Deckmantel eines Interesses für „Anthropologie“ befriedigt. Vgl. Ronalds Pearsall. The Worm in the Bud: The World of Victorian Sexuality. Harmondsworth, Middlesex, England: Penguin, 1971. 454-56. Auch Bernard Meyers These, dass Conrads Geschichte stark durch Sacher-Masochs Venus in Furs beeinflusst worden sei, ist vielleicht erwähnenswert. Bernard C. Meyer. Joseph Conrad: A Psychoanalytic Biography. Princeton: Princeton University Press, 1967. 310-16. 216 - Heart of Darkness topos repräsentierten Phantasie erscheinen. Der gebieterische Mann, der eine Frau zum Orgasmus bringen kann, fehlt vollkommen; sein Fehlen ist tatsächlich die notwendige Voraussetzung für ihre Verzückung. Und wenn ihr Schrei in seiner Mischung aus Schmerz und Jubel einem Schrei des sexuellen Höhepunkts ähnelt, dann nicht als Lust, welche die Schwelle zum Schmerz überschreitet, sondern umgekehrt: wie in Nietzsches Darstellung des dionysischen Schreis brechen an der äußersten Grenze des Schmerzes Jubel und Triumph hervor. Im Vergleich zur Situation des Türken scheint sich hier das Gleichgewicht zum anderen Extrem verlagert zu haben: Marlow will glauben, dass die Zukünftige Kurtz und damit ihm selber nichts als „geistige“, liebende Achtung - eine absolute, ewige, trauernde Achtung - entgegenbringt, wie fehlgeleitet dies auch immer sein mag. Und dennoch bleibt in dieser vergeistigten Trauerszene der lüsterne, gewalttätige, dominierende Mann eine unsichtbare Präsenz, und für den erzählenden Marlow fließt die Ironie ausschließlich in die andere Richtung: die geisterhafte Präsenz, welche die den Frauen vorzuenthaltende Realität repräsentiert, lässt die Erhabenheit und die Sublimierungen der Zukünftigen als illusorisch erscheinen. Zudem ist die Reaktion der Frau schon in The Lustful Turk ein komplexes Problem. Unser Türke ist nicht gänzlich zufrieden mit der bloß natürlichen Potenz, durch welche er seine Frauen in einen Taumel der Wollust versetzt. Er begehrt eine tiefere oder weitreicherende sexuelle Erfüllung. Marcus interpretiert den folgenden Absatz als einen mechanischen Effekt von der „Konversion der Terminologie der Empfindsamkeit in die Terminologie der [...] sexuellen Träumerei“ (205); aber wenn man bedenkt, dass sich hier ein auch anderswo, etwa bei Hegel, dokumentierter Aspekt männlicher Angst zeigt, mag man fragen, ob es sich dabei wirklich nur um ein Versehen handelt und inwieweit dieser sich historisieren lässt: […] wie seltsam es ist, [sinnt der Türke] [...], dass diese Sklavinnen, deren Schicksal von unserem Willen abhängt, unsere Lust selten so feurig erwidern, wie es für die wahrhaft wollüstige Energie des Vergnügens notwendig ist. Es ist wahr, dass die Natur immer ihre Macht über das schwächere Geschlecht ausüben wird und dass die Frauen häufig ihrer Erregung nachgeben, aber die von ihnen erlebte Lust ist nur animalisch. Daher scheint bei Zelda [...] selbst auf dem Höhepunkt unserer Ekstase eine Wolke über ihrem schönen Antlitz zu schweben, so dass deutlich wird, dass die Natur, nicht die Liebe für ihren Taumel verantwortlich ist. (zitiert bei Marcus, 204-5) Diese Zeilen implizieren nicht nur die Notwendigkeit, dass die Frau durch Lust in einen Taumel versetzt wird, sondern auch dass es ihr Liebhaber an sich ist, den sie als den Ursprung und Ziel ihrer Lust erlebt; es wird, mit anderen Worten, eine Gegenseitigkeit des Begehrens gesucht, eine Gegenseitigkeit, welche ein Erkennen im Hegelschen Sinne einschließt. Aber der Türke meint, dass ein solches Erkennen durch eine Frau im Erlebnis sexueller Lust eben nicht erreicht Heart of Darkness - 217 werden kann. Der Mann kann durch seine (sexuelle) Macht ihren Widerstand bezwingen, indem er eine unwiderstehliche Lust in ihr aufsteigen lässt, und wenn er ihre Lust über die Grenze zum Schmerz hinaus steigert, scheint er sich ihr als absoluter Ursprung ihrer Ekstase einzuprägen. Aber je größer der Taumel der Lust ist, je mehr ist sie von der Macht der „Natur“ erfasst, nicht von seiner Macht, von ihm als solchem. Hegel erklärt, dass die Frau in ihrer Lust „unmittelbar allgemein und der Einzelnheit der Begierde fremd bleibt“ 22 . Die Allgemeinheit, an welcher die Frau interessiert ist, ist natürlich nicht die wahre Allgemeinheit, nach welcher der Mann strebt, es ist „das Verhältniß des einzelnen Familiengliedes zur ganzen Familie als [...] Substanz“ (243), während das „wahrhafft Allgemeine“ nicht die Familie, sondern das politische Gemeinwesen ist. Auch sind die Beziehungen von Mutter und Ehefrau, obwohl auf das Allgemeine gerichtet, teilweise bestimmt „als etwas natürliches, das der Lust angehört“ (247). Aber selbst wenn das sittliche Leben der Ehefrau „nicht rein“ ist (248), die Form der Allgemeinheit, auf die sie gerichtet ist, diktiert, dass für sie „die Einzelnheit [...]etwas zufälliges [ist], das durch eine andere ersetzt werden kann.“ (247). Für sie zählt „nicht dieser Mann, nicht dieses Kind, sondern ein Mann, Kinder überhaupt“ (247). 23 Diese Bemerkungen Hegels müssen im Zusammenhang mit seinen Äußerungen in der Sektion über Vernunft, Untersektion über die Lust und die Notwendigkeit, verstanden werden, in welcher er auf sehr explizite Weise die Aufhebung des individuellen Wesens in sexueller jouissance beschreibt. Das Subjekt der Lust, das Hegel dort beschreibt, ist nicht explizit als männlich definiert, aber Hegel macht durch ein Zitat deutlich, dass Goethes Faust hier sein Modell ist. Auch ist die Lust, die er beschreibt, nicht explizit als sexuell definiert, obwohl die Darstellung offensichtlich genug ist, wie Jean Hyppolite gezeigt hat. 24 Und Hegel beschreibt die das Individuum im Moment der Lusterfüllung befallene Aufhebung auch nicht als eine im Charakter des femininen Prinzips wurzelnde. Aber wir haben gesehen, dass die Lust der Frau „unmittelbar allgemein“ ist, und es ist die Macht der Allgemeinheit, welche in der erotischen Erfüllung entfesselt wird und an welcher der Lust-suchende (männliche) Einzelne scheitert. Die Abschnitte, in welchen Hegel das hedonistische Projekt des Begehrens beschreibt, sind mindestens so wesentlich für das Gesamtkonzept der Phä- 22 Hegel. Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Felix Meiner, 1999, (Hauptwerke in sechs Bänden, Bd. 2). 247. 23 „die Einzelnheit [...] ist [...] etwas zufälliges, das durch eine andere ersetzt werden kann. Im Hause der Sittlichkeit ist es nicht dieser Mann, nicht dieses Kind, sondern ein Mann, Kinder überhaupt, nicht die Empfindung, sondern das Allgemeine, worauf sich diese Verhältnisse des Weibes gründen.“ (247) 24 Jean Hyppolite. Genesis and Structure of Hegel’s Phenomenology of Spirit. Übers. ins Engl. v. Samuel Cherniak und John Heckman. Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 1974. 282-84. 218 - Heart of Darkness nomenologie wie die über die Herr-Knecht-Dialektik. Wie Hyppolite bemerkt, nimmt die Diskussion von „Lust und Notwendigkeit“ im Grunde die Dialektik, die in der Begegnung von Herr und Knecht kulminierte, „auf höherer Ebene“ wieder auf (Genesis and Structure, 281). Dennoch ist dieser Moment in der Phänomenologie meines Wissens in der poststrukturalistischen Debatte vollkommen ignoriert worden. Im Falle des erotischen Begehrens sucht das begehrende Subjekt nicht die Destruktion des Objekts. Vielmehr erkennt das Subjekt das Andere als Bewusstsein, aber indem es das Andere nicht als autonom erkennt, versteht es das Andere als „an sich [...] dasselbe Wesen, oder als seine Selbstheit“. Es gelangt also zum Genuße der Lust, zum Bewußtseyn seiner Verwirklichung in einem als selbstständig erscheinenden Bewußtseyn, oder zur Anschauung der Einheit beyder selbstständigen Selbstbewußtseyn. Es erreicht seinen Zweck, erfährt aber eben darin, was die Wahrheit desselben ist. Es begreifft sich als dieses einzelne Fürsichseyende Wesen, aber die Verwirklichung dieses Zwecks ist selbst das Aufheben desselben, denn es wird sich nicht Gegenstand als dieses einzelne, sondern vielmehr als Einheit seiner selbst und des andern Selbstbewußtseyns, hiemit als aufgehobnes Einzelnes oder als Allgemeines. (Phänomenologie des Geistes, 199) Hegel nennt diese Annullierung des Individuums Notwendigkeit oder Schicksal, das Verhängnis, nach dem Einzelnheit notwendigerweise in der Allgemeinheit aufgeht und damit seine wesensmäßige Inhaltslosigkeit beweist (200); aber dies ist ein gescheiterter Übergang in die Allgemeinheit, weil es im bloßen Gefühl, nicht im Denken stattfindet, und das Subjekt der Lust daher „seinen Zweck und Thun in dem Schicksale, und sein Schicksal in seinem Zwecke und Thun“ nicht erkennen kann (201). Das Erfüllen des Schicksals in der Vollendung des erotischen Begehrens bleibt daher etwas, das rein passiv erlebt wird. Hegel beschreibt damit, was der lüsterne Türke nicht ausdrücken kann: den Abgrund des individuierten Seins, der angeblich in der erotischen Beziehung des Mannes zu einer Frau liegt. Und aus einer Notwendigkeit heraus, deren Struktur inzwischen bekannt sein sollte, wendet Hegel sich dann der Antigone zu, um in der Trauer einer Frau den Höhepunkt der einzigen Beziehung zu identifizieren, in welcher wahre gegenseitige Anerkennung zwischen einem Mann und einer Frau möglich ist. Es stimmt jedoch, dass Hegel die Betonung auf das Begräbnisritual als Ausdruck familiärer Pietät und damit als Erheben des toten Individuums über die bloße Zerstörung der natürlichen Zersetzung legt (244-45), nicht auf Antigones Affekt des Grams an sich. Gram ist ein nur subjektives Gefühl und hat als solches nicht die Kraft, die Passivität des Todes auf die notwendige Weise zu transformieren. Die Schwester führt den Begräbnisritus als Vertreterin der Familie durch, und die Familie ist das „natürliche sittliche Gemeinwesen“ (243), die Schwelle des Überganges von bloßer Natur zu der wahrhaft sittlichen Sphäre des politischen Gemeinwesens. „Zunächst, weil das Sittliche das an sich Heart of Darkness - 219 allgemeine ist, ist die sittliche Beziehung der Familienglieder nicht die Beziehung der Empfindung oder das Verhältniß der Liebe.“ (243). Hegel schreibt der Trauer einer Frau damit ein wesentliches strukturelles Privileg zu und neutralisiert gleichzeitig alle Elemente dieser Trauer, welche sie auf die Ebene des bloß Natürlichen herabziehen würden - d.h. auf die Ebene dessen, was die Frau als solche für Hegel und für die thanatoerotophobe Tradition überhaupt repräsentiert. Ohne Begehren, nur aus dem Verständnis familiärer Pietät und einer Pflicht gegenüber dem Bruder heraus, welche „die höchste“ ist (248), erkennt Antigone ihren Bruder als das einzelne sittliche Wesen an, das er ist, und führt im Symbolischen den essentiellen Akt der trauernden Erinnerung durch. Durch diese Handlung bewahrt sie ihn vor der natürlichen Zerstörung, welche das Individuum zu der bedeutungslosen Negativität des natürlichen Prozesses zurückzuführen droht. 25 Hegel neutralisiert damit auch die misogyne Gewalt, die erweckt wird, wenn der Frau die unendliche Passivität des Todes angelastet wird, die das [männliche] Individuum überfällt. Aber was, wenn ein Mann dem Tod nicht philosophisch begegnete, wenn das Ende seiner Individualität sein ganzes Sein mit leidvollem Groll erfüllte, und er nur noch daran interessiert wäre, eine Entschädigung für sein Leiden zu finden? Was wenn er Marlow/ Kurtz oder Achilleus wäre? In der Ilias ist der Kampf zwischen Herren und Sklaven eng mit einer von Hegel nicht erwähnten erotischen Gewalt verbunden, wobei Thomas McCary allerdings argumentiert hat, dass die Homerischen Helden das Modell für Hegels Darstellung von Herrschaft und Knechtschaft abgegeben haben. 26 Wenn die homerischen Helden tatsächlich Hegels Modell waren, hat er jedoch die Konturen ihres Kampfes radikal vereinfacht. In der Ilias wird sexuelles Begehren in den Dienst eines Machtwillens gestellt, der Rache bzw. Kompensation für die natürliche Zersetzung sucht, welche das Los jedes Kriegers ist (moira). Der Feind muss getötet werden, aber der Triumph über ihn ist erst vollkommen, wenn man erstens seiner Frau und seiner Familie Leid zugefügt hat und zweitens seine Frau vergewaltigt hat. Und all dem liegt der nicht zu stillende Affekt des Selbstverlusts zugrunde, der Gram des Kriegers über seinen eigenen Tod - diese ultimative Passivität, welche kein menschlicher Wille überwinden kann, aber welche der Krieger zeitweise in eine Illusion von 25 Auch The Lustful Turk registriert auf groteske Weise die Notwendigkeit der trauernden Erinnerung durch eine Frau. Wenn eines seiner Opfer den Penis des Türken abschneidet, „ruft er seinen Arzt, um die Kastration zu vollenden, und lässt „sein verlorenes Glied in Alkohol [spirits of wine] in gläsernen Vasen ,konservieren‘. Dann lässt er Emily und Sylvia [seine etablierten Sklavinnen-Geliebten] kommen, gibt jeder von ihnen eine der Vasen und lässt beide Mädchen nach England zurückbringen“ (Marcus, Anm. 20, 203). 26 W. Thomas McCary. Childlike Achilles: Ontogeny and Phylogeny in the Iliad. New York: Columbia University Press, 1982. 22-25 220 - Heart of Darkness Aktivität verwandeln kann, wenn er das Pathos des Verlustes anderen zufügt, insbesondere Frauen. Was in der Ilias nicht dargestellt, aber als Horizont der Darstellungsmöglichkeit unausweichlich impliziert wird, ist das Extrem der Pornographie. Es geht hier nicht mehr um die Lust der Frau: Andromaches Ehemann wird getötet, ihr Sohn wird ermordet, ihre Stadt zerstört und sie endet in der Sklaverei, und inmitten von all dem wird sie - wie alle trojanischen Frauen - vergewaltigt: „Drum daß keiner zuvor wegdräng’ und strebe zur Heimkehr, / Eh’ er allhier mit einer der troischen Frauen geruhet, / Eh’ er gerächt der Helena Angst und einsame Seufzer! “ (2.354-56), ermahnt der weise alte Nestor die Griechen. Der griechische Krieger wird seine Rachsucht und seine Lust in einem einzigen Akt befriedigen, mit einer Frau, welche in eben jenem Moment das höchste Leid empfindet, weil sie alles außer ihrer physischen Existenz verloren hat, und dieses Leid ist das Resultat der gewalttätigen Macht des Mannes, der sie nun vergewaltigt. Frauen aufschreien zu lassen, ihnen das Herz mit Leid auszuwringen: für den rachsüchtigen Mann, der von der Trauer um sich selbst erfasst ist, liegt darin ein gewisser emotionaler Genuss. Es ist, als ob ihm etwas vorenthalten worden sei, wofür er eine Frau verantwortlich macht, so dass nur ihr Leiden seine Rachsucht befriedigen kann. Aber gleichzeitig ist es als ob, jenseits von Schuld und Rache, der Schmerz eines Mannes über den Verlust dessen, was ihm im Innersten angehört, nur in und durch eine Frau, in dem endlosen Fluss ihres Affekts, das notwendige Ventil finden kann. Marlow wird weder durch einen sexuellen Drang, wie man ihn gewöhnlich versteht, verführt, noch durch ein anderes Begehren, das er bereit wäre, zu benennen, sondern durch ein erotisches Begehren, das ihn unerwartet trifft und das er niemals erkennt - das Begehren, einer Frau Trauer zuzufügen und dann ihren Schmerz zu trinken. Aber es stellt sich heraus, dass der Reiz, den der Schmerz der Frau ausübt, den Mann in seiner eigenen Falle fängt, und dass es bestenfalls ein Unentschieden zwischen dem Triumph des potenten (wenn auch geisterhaften) toten Mannes und der rezeptiven Frau gibt. Marlow, wie Pentheus ein Voyeur „grausamer und wahnwitziger Mysterien [...], nicht geschaffen für Menschenaugen“ (73; dt. 139), aber auch ein Doppelgänger des toten Mannes, der den Schrei der Frau auslöst („Mir ist, als hätte ich seinen Todeskampf durchlebt.“ [69; dt. 131]), sieht zwei Szenen zugleich, die sich für einen Moment überlagern: „Ich sah sie und ihn im selben Augenblick - seinen Tod und ihren Schmerz -, ich sah ihren Schmerz im Moment seines Todes.“ (73; dt. 138). In diesem „höchsten Augenblick vollkommener Erkenntnis“ (68; dt. 129) flüstert Kurtz: „Das Grauen! Das Grauen! “, und die Frau, die denkt, dass dieser Moment ihren Namen über seine Lippen bringt, schreit in Schmerz, aber auch in Jubel auf. Die Ironie wirkt in beide Richtungen. Auf der einen Seite ist die Frau am Ende in ganz klassischer Weise das hyle, welches sich der maskulinen Form hingibt, deren Abdruck es von da ab tragen Heart of Darkness - 221 wird (hyle ist das, was die Griechen ‚Materie‘ oder Substanz-ohne-Form nannten, abgeleitet von dem ursprünglichen Sinn als Holz, daher „Zeug“, „Stoff“). 27 Aber in gleichem Maße wie die Zukünftige sich in Marlows Bewusstsein durch die Wiederholung der Trauergeste mit der afrikanischen Geliebten von Kurtz und damit auch mit der Wildnis selber zu vermischen neigt, ruft sie auch die Form-auflösende Kraft der Natur wach, die Kurtz liebkost und seine Substanz genossen hat (hyle bedeutet auch ‚Wald‘). In Heart of Darkness gibt es keine hegelianische Neutralisation der „individuellen Bestimmung“ der Frau oder ihres Begehrens; sie ist nicht Schwester, sondern Geliebte, und ihre Trauer stellt keine sittliche Intervention dar, welche gegen den Prozess der natürlichen Zersetzung schützt, sondern gehört zu dem Reich der Natur, welche für die Zersetzung verantwortlich ist. Daher ist der Tod des Mannes, den die Frau betrauert, in männlicher Angst auch als ihr „unfassbarer Triumph“ eingeschrieben. Sie ruft für Marlow jene Matrix vom Urschlamm und von der ekelerregenden Fäulnis der Verwesung auf, welche die Individualität des Mannes nach ihrem kurzem Flug im Streben nach dem Sittlichen wieder absorbiert. 28 Von Anfang an prägte der Gestank von Schlamm und Sterblichkeit Marlows Erfahrung der Wildnis: in Flüsse hinein und wieder heraus, Ströme des Todes im Leben, deren Ufer in den Schlamm faulten, deren zu Schleim verdicktes Wasser (17; dt. 27) Schlammgeruch, Geruch von Urschlamm Herrgott noch mal hing in meinen Nasenlöchern (29; dt. 48) einen Vorrat an Nilpferdfleisch [...], der vor sich hinfaulte und mir das Geheimnis der Wildnis als Gestank in meine Nasenflügel wehte. Puh! Ich rieche es noch heute. (36; dt. 64) Ich fühlte ein unerträgliches Gewicht auf meiner Brust lasten, die Ausdünstung der feuchten Erde, die unsichtbare Gegenwart siegreicher Fäulnis [...] (62; dt. 116) Alle diese Erwähnungen kommen in dem Geschmack der Lügen zusammen, dem Geschmack, „als bisse [man] in etwas Verwesendes“ (29; dt. 50), und 27 Vgl. Judith Butler zur „stummen Faktizität des Weiblichen, das auf die Signifikation durch das entgegengesetzte männliche Subjekt wartet“. Judith Butler. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge, 1990. 37. 28 Für eine immer noch interessante freudianische Interpretation der sexuellen Unruhe in Heart of Darkness, vgl. Frederick Crews. “Conrad’s Uneasiness - and Ours”. In: Crews, Out of My System. New York: Oxford University Press, 1975. 222 - Heart of Darkness damit in der kulminierenden Lüge, welche Marlow der Frau erzählt, der Lüge, die sie ihn zwingt zu erzählen. 29 Dennoch gehört die „Macht“ der Frau, von der Marlows Angst ausgelöst wird, so wenig zu einer autonomen weiblichen Subjektivität wie die reine Passivität, auf welche die Zukünftige durch Marlows Phantasie von ihrem ewigen Schmerz reduziert wird. 30 Die Frau als lebenschaffende Macht ist hier eine männliche Phantasie, und vielleicht ist es die Kraft einer solchen Phantasie, die zu dem Versuch führt, Frauen durch die Restriktionen einer beschränkten „getrennten Sphäre“ zu kontrollieren. 31 Die hier operierende Phantasie und ihr spezifischer Effekt im Sinne des Versuches, Frauen zu kontrollieren, ist weder auf Conrads Geschichte beschränkt noch auf das viktorianische Milieu, dem sie entspringt. Der Triumph in dem Schrei der Zukünftigen nimmt den der alaladzo oder ololuge wieder auf, den Schrei der Mänaden, wenn sie sich auf ihr Opfer werfen. Wie in Heart of Darkness ging es in Euripides’ Bacchae um den „natürlichen“ Impuls, der jede kulturelle Beherrschung überwältigt, und um eine Männlichkeit, die versucht, ihre Grenzen gegen den Angriff einer als „weiblich“ konstruierten Natur zu verstärken. (Die Athener haben die Sphäre der Frauen jedoch zu einem Grade eingeschränkt, welcher den Viktorianern unvorstellbar war.) Wenn wir also mit Heart of Darkness die Moderne erreichen, stellen wir fest, dass sich im Laufe der westlichen Geschichte hinsichtlich der thanatoerotischen Angst nichts geändert hat. Wenn das (männliche) Denken die Tiefe der Existenz auslotet, findet es wie immer die unerträgliche Umklammerung des verderblichen Körpers der Liebe - welcher bezeichnenderweise als weiblich vorgestellt wird. 29 Zur Art und Weise, in der die Zukünftige beschrieben wird, [“is described as maneuvering Marlow into his lie”, vgl. Bruce R. Stark. „Kurtz’s Intended: The Heart of Heart of Darkness“. Texas Studies in Literature and Languages 16 (1974). 535-55. 30 Vgl. Butlers Warnung, nach der „jede Theorie, die versichert, dass die Signifikation auf der Negation oder Repression eines weiblichen Prinzips basiert, überlegen sollte, ob die Weiblichkeit wirklich außerhalb der kulturellen Normen steht, durch welche sie unterdrückt wird. [...] Man mag sogar behaupten, dass die Repression erst das Objekt produziert, das negiert werden soll“ (Anm. 27, 93). 31 Für eine Analyse von Heart of Darkness im Sinne der Ideologie der „getrennten Sphären“ vgl. Smith. “Too Beautiful Altogether”, Anm. 10. Hilfreich war mir Smiths Kritik in diesem Aufsatz an einer früheren Version des vorliegenden Essays, welcher in Critical Inquiry veröffentlicht wurde. 8. Kapitel Die nackt entblößte Braut oder Lacan avec Platon Jenseits des Lacanschen Imaginären und Symbolischen gibt es immer noch das Jenseits des wahren Subjekts. 1 In der „Rede von Rom“ wird dieses Jenseits als „die unvermittelte Besonderheit des Begehrens“ benannt (E 1: 166), im 7. Buch des Seminars wird darauf mit „dem zweiten Tod“ verwiesen, und im 11. Buch wird es auf besonders überraschende und rätselhafte Weise als verlorene Unsterblichkeit identifiziert. 1 Ich beziehe mich hier auf Lacans Werke aus den Jahren 1948 bis 1964, und zwar ausschließlich auf die Écrits, Paris 1966, und jene fünf Seminare aus dieser Periode, die zum Zeitpunkt meines Schreibens veröffentlicht worden waren. Im Deutschen zitiert nach: Jacques Lacan. Schriften I-III. Hrsg. und übers. v. Norbert Haas u. a. Freiburg i. Br., 1977-1980 (zitiert als E 1-3; gelegentlich wird auf die englische Ausgabe Bezug genommen: Jacques Lacan. Écrits. A Selection translated from the French by Alan Sheridan. New York: W. W. Norton 1977, zitiert als E/ English). Jacques Lacan. Freuds technische Schriften. Das Seminar I (1953-1954). Übers. von Werner Hamacher. Olten und Freiburg/ Br.: Walter, 1978 (zitiert als 1). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Übers. von Hans-Joachim Metzger. Olten und Freiburg/ Br.: Walter, 1980 (zitiert als 2). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar XI (1964). Übers. von Norbert Haas. Olten und Freiburg/ Br.: Walter, 1978 (zitiert als 11). Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar VII (1959-1960)I. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. von Norbert Haas. Quadriga: Weinheim, Berlin, 1996 (zitiert als 7). Die Psychosen. Das Seminar III (1955-1956). Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, übers. von Michael Turnheim. Quadriga: Weinheim, Berlin, 1997 (zitiert als 3). Wenn nach der französischen Ausgabe zitiert wird, stehen die Seitenzahlen nach dem Schrägstrich: Écrits. Paris: Seuil, 1966; Le Seminar I: Les écrits technique de Freud. Paris: Seuil, 1975; Le Seminaire II: Le moi dans la théorie de Freud at dans la technique de la psychoanalyse. Paris: Seuil, 1978; Le Seminaire III: Les psychoses. Paris: Seuil, 1981; Le Seminaire VII: L’éthique de la psychoanalyse. Paris: Seuil, 1986; Le Seminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Paris: Seuil, 1973. 224 - Lacan Ich glaube nicht, dass dem Moment, in dem Lacan uns mitteilt, dass die Unsterblichkeit das erinnerte Objekt der Nostalgie des Mangels ist, ein absolutes Privileg innewohnt. Lacan findet immer wieder neue Ausdrucksformen für seine via negativa, und jede von ihnen verschiebt auf subtile Weise Aspekte, die vorhergehende Formulierungen verlässlich platziert zu haben schienen. Jedoch gibt Lacan selber der Trope der verlorenen Unsterblichkeit einen privilegierten Status, wenn er uns von Platons Symposium ausgehend mitteilt, dass Unsterblichkeit als der reale Mangel verstanden werden muss. Jener andere Mangel, der üblicherweise als Grundlage des Lacanismus überhaupt gesehen wird, kommt zu diesem „realen, vorgängigen Fehlen“ hinzu: Zwei Arten von Fehlen überlagern sich hier. Die eine kommt [...] aus dem Grund, dass das Subjekt vom Signifikanten abhängig ist und der Signifikant zuerst auf dem Feld des Andern erscheint. Dies Fehlen trifft mit jenem andern Fehlen zusammen, das als reales, vorgängiges Fehlen notwendig zur Entstehung des Lebens, das heißt zur geschlechtlichen Fortpflanzung gehört. [...] Real ist er [dieser Mangel], weil er sich auf ein Reales bezieht, nämlich auf die Tatsache, dass das Lebewesen, weil dem Geschlecht unterworfen, dem Zugriff des individuellen Todes ausgesetzt ist. ( 11.215) Angesichts dieses „realen Mangels“ wird das mysteriöse „objet a“ überraschend positiv dargestellt: „alle Gestalten des Objekts a“ sind „Stellvertreter“ oder „Darsteller“ des „unsterblichen Lebens“, welches bei der Geburt verloren wird (11: 207). Wenn Lacan auch nicht ganz wörtlich genommen werden darf, wenn er sagt, dass das objet a der Stellvertreter des unsterblichen Lebens ist, so handelt es sich hier doch keineswegs um eine Sache von unentscheidbarer „Spekulation“ der Art, wie sie Derrida in Freuds Jenseits des Lustprinzips analysiert hat. 2 Lacan formuliert einen ethischen Standpunkt, ein Urteil über das libidinöse Sein, und dieser Moment [in seinem Text] ist Teil der ethischen Architektur seines gesamten Systems, welches wiederum auf einer wesentlichen Ebene - der Ebene, die mich in diesem ganzen Buch interessiert hat - mit dem platonisierenden Christentum solidarisch ist. Daher ist das objet a leicht in eine christliche Sprache zu übersetzen: „die religiöse Tradition“, so Lacan in seiner Interpretation von Hamlet, nennt das objet a eine „vanitas“. „Auf diese Weise werden alle Objekte präsentiert, sie alle sind Spielpfänder in der Welt menschlichen Begehrens - die objets a.“ 3 2 Jacques Derrida. “To Speculate - On ‘Freud’”. In: The Post Card: From Socrates to Freud and Beyond. Ins Engl. übers. v. Alan Bass. Chicago: University of Chicago Press, 1987. 257-409. 3 Übersetzung VH. Im Original zitiert nach Jacques Lacan. “Desire and the Interpretation of Desire in Hamlet”. In: Literature and Psychoanalysis. Hrsg. von Shoshana Felman. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1982. 11-53, hier 30. Lacan - 225 Solche Momente in Lacans Text lassen eine interessante Frage aufkommen. Lacan operiert in seiner Gedankenbewegung mit einer anscheinend einzigartigen Negativität, die Mikkel Borch-Jacobsen meisterhaft beschrieben hat. 4 Leerstellen und Abwesenheiten und dahinter wiederum Leerstellen und Abwesenheiten: Lacan scheint der Nostalgie für Präsenz auf „dekonstruktivste“ Weise die Befriedigung zu versagen. Dieser Aspekt seiner Doktrin ist wohlbekannt und stellt ohne Zweifel das wesentliche Element seiner Attraktivität für die poststrukturalistische Theorie dar. Was mich hier jedoch interessiert, ist, dass Lacan in und durch dieses Moment der Negativität hindurch auf eine verfeinerte neue Art die christlich-platonische Herabsetzung des weltlichen libidinösen Objekts als „vanitas“ bewahrt, eine täuschende Erscheinung, welche das Subjekt von seinem 5 ontologischen Schicksal weglockt. Für Lacan ebenso wie für die Tradition ist die Annullierung dieses Reizes, die Verbannung des libidinösen Objekts in das Reich des Nichtseins, die notwendige Bedingung für die Freisetzung des wahren Begehrens des Subjekts, eines Begehrens, dessen Ziel nicht durch ein empirisches Objekt - eine vanitas oder ein objet a - realisiert werden kann. Indem es die Wahrheit seines Begehrens erkennt, erkennt das Subjekt die Wahrheit seiner selbst, wird es das wahre Subjekt, das es immer war, aber von dem es entfremdet worden ist. Für Lacan ist dieses wahre Subjekt nicht mehr eine „Präsenz“, weil die angestrebte Selbst- Aneignung oder -Wiederaneignung eine Annullierung dieses wiederangeeigneten Selbst einschließt, was einen wichtigen Bruch mit der idealisierenden Tradition markiert, die jenseits des Opfers des empirischen Selbst oder Egos eine andere, vollere Wirklichkeit verspricht. Dennoch werden wir sehen, dass der Punkt der Annullierung/ Wiederaneignung der Punkt des Jenseits ist, der immer wieder aus den Trümmern der Lacanschen Negativität aufsteigt und, wie ich vor allem betonen möchte, dies immer auf Kosten des libidinösen Objekts. Das Jenseits des Subjekts, welches sein ureigenes Eigentum darstellt, kann nicht innerhalb der Dialektik von Selbst und Anderem verstanden werden; es ist vielmehr das, was bei einer solchen Verwicklung immer übrig bleibt. „Es gibt tatsächlich etwas dem Signifikanten in radikaler Weise nicht Assimilierbares. Das ist ganz einfach die singuläre Existenz des Subjekts.“ (3: 213). Ganz einfach: es geschieht nicht oft, dass Lacan den Gebrauch eines seiner Konzepte auf diese Weise autorisiert. Die „singuläre Existenz“ des Subjekts ist Nichts, 4 Mikkel Borch-Jacobson. Lacan: The Absolute Master. Ins Engl. übers. von Douglas Brick. Stanford: Stanford University Press, 1991. Borch-Jacobsons Interpretation von Lacan ist meiner Meinung nach die gründlichste und erhellendste seit Derridas „Le Facteur de la Verité“ (in The Post Card, 411-96). Ganz schematisch würde ich sagen, dass Derrida die Fülle der Authentizität und der vollen Rede bei Lacan überbetont, während Borch-Jacobson die Leere des transzendenten Subjekts zu eindeutig darstellt. Ich versuche hier die Matrix der leeren Fülle zu definieren, welche sowohl Derridas als auch Borch-Jacobsons Lesarten zugrunde liegt. 5 H.S. verweist hier und im Folgenden auf das „Subjekt“ als weiblich - im Deutschen ist das jedoch ohne zusätzlichen Hinweis nicht möglich. 226 - Lacan aber es ist ein absolut determiniertes Nichts, weil es das Nichts dieses bestimmten Schicksals ist. Absolute Besonderheit selber ist notwendigerweise Nichts, weil es sowohl außerhalb der Identifikationen des Imaginären als auch außerhalb der Bedeutungen des Symbolischen liegt; dennoch ist dieses Nichts nicht die bloße Negativität der Leere, sondern die Bestätigung einer absoluten Selbstnähe und eines absoluten Selbstbesitzes Diese negative Bestätigung ist die Quelle eines tragisch-existentialistischen Pathos der Authentizität, welches Lacans Geschichte von den blutenden Augenhöhlen zu mehr als einer reinen Horrorvision werden lässt; für Lacan ist „[die] Haltung [des Ödipus] schön, doppelt schön, weil schön, wie es im Madrigal heißt“ (7: 365). Menschliches Begehren ist für Lacan im äußersten Fall ein Begehren, sich in die grenzenlose Besonderheit des eigenen Seins als eines Seins des Nichts zusammenzuziehen. Das bedeutet, dass es, während die verschiedenen Dialektiken von Begehren und Erkennen auf der Ebene des Spiegels, des anderen und des Anderen durchgespielt werden, eine gänzlich andere Ebene gibt, eine ontologische oder transzendentale Ebene, auf welcher das wahre Schicksal des Subjekts entschieden wird, auf welcher es in gewisser Weise immer schon entschieden ist. Das Sein des Subjekts ist auf dieser ontologischen Ebene niemals in die Bilder oder Signifikanten verwickelt, zu denen es entfremdet wird. Nur daher ist es überhaupt möglich, von Entfremdung zu sprechen: nur etwas, das ursprünglich seinen „eigenen/ richtigen“ Platz hatte, kann entfremdet werden. Deshalb ist das Spiegelstadium, währenddessen das Subjekt zuerst entsteht, in einem scheinbaren Paradox schon eine Bewegung der Entfremdung (ein „Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität“ [E 1: 67], „ein Bild, das ihn von sich selber entfremdet“). 6 Gleichermaßen entsteht bei dem Prozess, aus dem das Begehren durch die Subtraktion des Bedürfnisses vom Anspruch hervorgeht, der Eindruck, dass das Begehren das Wiederauftauchen von einer mysteriösen Essenz darstellt, die von Anfang an da war, dem mysteriösen „es“, das „in den Bedürfnissen entfremdet“ erscheint (ce qui se trouve aliéné dans les besoins), wenn diese zum Subjekt „zurückkehren“, nachdem sie den Anspruch vorgebracht haben. Seine Bedürfnisse [kehren] in dem Maße, wie sie dem Anspruch unterstellt sind, entfremdet zu ihm wieder[...]. [...] Was also in den Bedürfnissen sich entfremdet findet, bildet eine Urverdrängung*, weil es, per Hypothese, sich nicht im Anspruch zu artikulieren vermag: was aber dennoch erscheint in einem Abkömmling, der das darstellt, was sich beim Menschen als Begehren* zeigt [E 2: 126] In gewissem Sinn ist Bedürfnis das, was befriedigt werden kann, wie etwa Hunger durch Nahrung; in einem anderen, komplexeren Sinn ist es Träger eines 6 Jacques Lacan. “Aggressivity in psychoanalysis”. In: Écrits. A Selection translated from the French by Alan Sheridan. New York: W. W. Norton 1977. 8ff. (hier 19). Übersetzung VH. Lacan - 227 Begehrens, das nie befriedigt werden kann, in seiner archaischen, unfertigen Form. Das Auftauchen von Begehren ist eine Frage der Aufhebung im strengen Sinne, der Realisation der Wahrheit des Bedürfnisses im Moment seiner Annullierung. Begehren ist auf eine sicherlich komplexe metaphysische Weise „immer schon“ im Bedürfnis vorhanden, und wir müssen alle notwendigen Zugeständnisse gegenüber der Negativität von Lacans Diskurs machen. Das „Vorher“ der Besonderheit des Subjekts wird nachträglich projiziert, und zwar als ein Nichts. Dennoch existierte es schon von Anfang an, bevor es im Spiegel reorganisiert wurde als „Zustand [...] des ursprünglichen, unausgebildeten und verworrenen Begehrens“ (1.280). Innerhalb der Bewegung von Lacans Diskurs kommt zu diesem „es“-das-wiederkehrt eine absolute Vorgängigkeit; es häuft die am höchsten bewerteten Eigenschaften für sich an und orientiert letztlich den Sinn aller anderen Termini. In „Die Bedeutung des Phallus“ und an anderen Stellen signalisiert der Terminus Besonderheit (particularité) die residuale Positivität von Lacans Jenseits, die Existenz des „wieder-“: Auf diesem Weg hebt der Anspruch die Besonderheit von alledem, was gewährt werden kann, auf und verwandelt es in einen Liebesbeweis, wobei selbst die Befriedigungen, die er für das Bedürfnis erwirkt, erniedrigt werden dadurch, dass sie nicht mehr darstellen als das Zerschellen des Liebesanspruchs [...] . So entsteht dann also die Dringlichkeit, dass die dergestalt aufgehobene Besonderheit jenseits des Anspruchs wieder auftaucht. Und tatsächlich erscheint sie auch dort wieder, aber indem sie die Struktur konserviert, die vom Unbedingten des Liebesanspruchs unterschlagen wird. Vermöge einer Umkehrung, die keine einfache Negation der Negation darstellt, taucht die Macht des reinen Verlusts auf aus dem Überrest einer Obliteration. Dem Unbedingten des Anspruchs substituiert das Begehren die „absolute“ Bedingung: Diese Bedingung entbindet in der Tat, was im Liebesbeweis gegen die Bedürfnisbefriedigung rebelliert. Daher ist das Begehren weder Appetit auf Befriedigung, noch Anspruch auf Liebe, sondern vielmehr die Differenz, die entsteht aus der Substraktion des ersten vom zweiten, ja das Phänomen ihrer Spaltung* selbst. (E 2: 127) Teil der Schwierigkeit dieser oft zitierten Textstelle liegt in der Tatsache, dass die Besonderheit, die wiederkehrt, nicht oder nicht ganz die ist, die aufgehoben 7 wurde. Das, was jenseits des Anspruchs in der Wiederkehr dieser aufgehobenen Besonderheit wiederauftaucht, ist nicht das aufgehobene 8 Objekt (die Milch oder Brust), sondern das Subjekt, welches das nun aufgehobene Objekt zuvor verlangt hat und sich damit identifiziert hat. 9 Diese Wiederkehr ist 7 Deutsch im Original. 8 Deutsch im Original. 9 Lacans Sprache ist hier wie so oft sehr komprimiert, das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise eine Verwirrung. Wegen der hier stattfindenden Gleichsetzung zwischen Subjekt und Anderem und wegen der Transitivität der Beziehungen zwischen Subjekt und Anderem (E 1: 126f.), kann Lacan an vielen Stellen mit Recht von einer Seite der Beziehung zur anderen wechseln; wie Borch-Jacobson (Anm. 4) feststellt ist 228 - Lacan undeutlich beschrieben als der Übergang von der Besonderheit eines Dings zu einer Besonderheit, von der wir nur wissen, dass sie eine „Struktur konserviert“, die ursprünglich im „Unbedingten des Anspruchs“ „unterschlagen“ wurde; und was kann Lacan meinen, wenn er sagt, dass diese Struktur in die „absolute Bedingung“ des Begehrens umgekehrt wird? Dass die hier bewahrte Besonderheit die des Subjekts ist, wird durch Lacans erneute Beschreibung der Genesis des Begehrens in „Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten“ zwei Jahre später bestätigt. Hier verweist er auf die „Spanne“ zwischen Anspruch und Bedürfnis, in welcher „das Begehren [Gestalt] gewinnt“, als eine „subjektive Opazität“ (opacité subjective) (E 2: 89/ 813). Diese „subjektive Opazität“ ist mit der „Angst“ des Subjekts verbunden, die von der Bedrohung durch die imaginierte Allmacht des Anderen - d.h. der Mutter - ausgelöst wird, der das Subjekt ausgeliefert ist. „Subversion des Subjekts“ macht deutlich, dass das Gesetz des Vaters dem Kind nicht den Zugang zur Mutter verwehrt, sondern es vor dem „Elefantentritt“ der „allmächtigen“ Laune der Mutter rettet. „[...] diese Laune [führt] das Phantom der Allmacht [...] des Andern [ein], in dem sich sein Anspruch einnistet [...] und mit diesem Phantom entsteht auch die Notwendigkeit seiner Bezähmung durchs Gesetz.“ (2: 189). 10 Und Lacan erhellt nun auch die „absolute Bedingung“ des Begehrens: in der „Bedingungslosigkeit des Liebesanspruchs“ bleibt das Subjekt „dem Andern unterworfen“, aber indem es sich zur „absoluten Bedingung“ erhebt, kann sich das Subjekt offenbar von dem Anderen/ der Mutter loslösen (2: 189-90). 11 Die Darstellung der „subjektiven Opazität“ in „Subversion des Subjekts“ suggeriert daher, dass das, was in dem Übergang von Bedürfnis zu Anspruch zu Begehren impliziert wird, vor allem die Bewahrung der „Besonderheit“ des Subjekts vor einem Anderen - der Mutter - ist, das seine Angst verursacht und droht, es zu überwältigen. Im Hintergrund der beiden eben besprochenen Passagen steht die Beschreibung des kindlichen fort-das in Jenseits des Lustprinzips, welche Lacan in der „Rede von Rom“ von 1953 entwickelt hat. Dieser Darstellung nach löst sich das Kind aus Freuds Anekdote oder Fabel aus seiner Abhängigkeit von der das aufgehobene Objekt in der zitierten Textstelle ein Objekt „in dem das Subjekt sich selber liebt“ oder „ein Signifikant, in dem es sich selber bezeichnet“ (208). 10 Vgl. Borch-Jacobson (Anm. 4), der, das unveröffentlichte Seminar 5 zitierend, meint, dass bei Lacan „der symbolische Vater“ der Mutter verbietet, „ihr Produkt zu reintegrieren (mehr als er dem Kind verbietet, die Mutter zu besitzen, so wie bei Freud)“ (226; auch 220). 11 „Aber wir unterbrechen hier noch einmal und wenden uns zurück zum Status des Begehrens, welches sich als autonom ausgibt bezüglich einer solchen Vermittlung über das Gesetz, und zwar darum weil dieses seinerseits aus ihm entspringt in dem Umstand, dass das Begehren durch eine besondere Symmetrie die Bedingungslosigkeit des Liebesanspruchs, in dem das Subjekt dem Anderen unterworfen bleibt, umkehrt, um es der Gewalt der absoluten Bedingung auszuliefern (absolut dann auch in der Bedeutung von „losgelöst“).“ (2: 189-90) Lacan - 229 Gegenwart der Mutter, indem es sein Begehren auf das Spiel eines Signifikanten (einer Garnrolle an einer Schnur) transponiert, mit dem es die Beziehung von Anwesenheit und Abwesenheit ausspielt. Die Handlung des Kindes, schreibt Lacan, „negativiert damit das Kräftefeld des Begehrens [d.h. das Feld, das das reale Andere umfasst], um sich selbst zum eigenen Objekt zu werden“; Begehren wird damit zur „zweiten Potenz“ erhoben (E 1: 165), während es sich von der Realität des Objekts löst und sich selber in Beziehung zu einem Signifikanten setzt. Die Frage in der „Rede von Rom“ ebenso wie in Lacans späteren Darstellungen ist die der „Absolutheit“ des Begehrens, welche die Ablösung von dem Anderen impliziert, dessen An- oder Abwesenheit das Subjekt quält. Und dennoch, wie wir sehen werden, gerät das Subjekt vom Regen der Mutter erst in die Traufe des Symbolischen. Was dabei immer in Frage steht, ist die Autonomie eines Selbst, dessen Besonderheit als Begehren beständig der Entfremdung oder Aufhebung ausgesetzt ist. Nun kann das Subjekt als reines Begehren nicht die Besonderheit eines Dinges in der Welt haben, sondern nur die reine Struktur oder Form, wie es der Fall mit Kants moralischem Gesetz ist, das „seine Substanz einzig in seiner Form findet“, so Lacan in „Kant avec Sade“ (E 2: 140; E/ English 770). Jedoch ist Struktur normalerweise das Element der über die Besonderheit hinausgehenden Universalität, während die Struktur des Lacanschen Begehrens gerade als Struktur der absoluten Besonderheit verstanden werden muss, der Individuation jenseits dessen, was die Materie geben kann. Begehren ist nichts als die Selbst-Anziehung oder die Rück-kehr einer sterblichen Besonderheit zu sich selbst, das Ansaugen ihres Todes, durch den sie sich, jenseits des cogito, als das Wesen des Nichts erkennt, das sie ist. Diese Besonderheit ist die ursprüngliche und immer wiederkehrende (Un-)Substanz, aus welcher das Sein zum Tode auf den letzten Seiten der „Rede von Rom“ gewebt wird. Hier beschreibt Lacan den Selbstmord der Besiegten im Kampf zwischen Herr und Knecht als „den äußeren Umweg [...], durch den die unvermittelte Besonderheit [particularité immediate] des Begehrens, indem sie ihre unaussprechliche Form zurückerobert, in der Verleugnung einen letzten Triumph erlangt.“ (E 1: 166/ 320). Diese Verleugnung, bekräftigt Lacan, ist „jene verzweifelte Affirmation des Lebens, die die reinste Form darstellt, in der wir den Todestrieb erkennen“ (E 1: 167). Wie wir sehen werden, wertet Lacan im 7. Seminar eben diese „verzweifelte Affirmation“ des Todesinstinkts als Pfad des tragisch-existentialistischen Heldentums auf. Der selbstmörderische Knecht der Rom-Rede muss daher als in seiner Negation schon heldenhaft verstanden werden. Dieses Heldentum schließt die Negation des Symbolischen selber im Interesse der unmittelbaren-Besonderheit-jenseits-aller-Dinglichkeit des begehrenden Subjekts ein: „Das Subjekt sagt Nein zu diesem Wieselspiel der Intersubjektivität, in dem das Begehren sich nur für einen Moment zu erkennen gibt, um sich in einem Wollen zu verlieren, das das Wollen des anderen ist. Geduldig entzieht es sein ungewisses Leben den schäfchenwolkigen Vereini- 230 - Lacan gungen des Eros des Symbols, um dieses schließlich in wortloser Verwünschung doch zu bestätigen.“ (E 1: 167). Es stimmt, dass Lacan dann fortfährt, diesen Moment der Negation als den einen Pol einer „endlosen Zirkularität“ zu beschreiben: Die Dialektik Lacanscher Psychoanalyse hat „nichts Individuelles“ und nur innerhalb dieser Dialektik wird das Subjekt „seiner Einsamkeit gewahr“ (E 1: 167). Dennoch gibt es zwischen dem Symbolischen und dem „der Sprache äußerlichen Mittelpunkt“ (ebd.), welcher ihre Transformation in volle Rede möglich macht - der Mittelpunkt, der durch die Beziehung des Individuums zu einem Tod konstituiert wird, den Lacan, Heidegger zitierend, die „eigenste“ und „unüberholbare“ Möglichkeit [des Subjekts] nennt (E 1: 164)) - eine destruktivere, weniger dialektische Beziehung als Lacans beschwichtigende und (untypische) Bemerkung über „jedermanns Befriedigung“ (E 1: 168) hier suggeriert. Es gibt eine Modifikation des Begehrens, eine Art Reflex, welcher es überallhin begleitet, bis an den Punkt des Todes; und dieser Reflex von Aggressivität oder Hass, welchen Lacan im 7. Seminar den „destrudo“ (7.234) nennt, ist immer bereit, jedes Übereinkommen mit dem Symbolischen zu zerstören, welches Lacan für einen Moment vielleicht noch bereithielte. Lacan, der manchmal eine historisierende Geste hinsichtlich seiner Theorien macht, scheint an den intrinsischen Charakter eifersüchtiger, aggressiver Rivalität zu glauben; er zitiert gerne Augustinus’ berühmte Bemerkung aus dem 1. Buch der Confessiones über das Neugeborene, das „einen anderen Säugling, der seine Milch teilt“ schon mit Hass ansieht. 12 Jeder, der sich darüber wundert, bei Lacan der augustinischen Denkweise über die „menschliche Natur“ zu begegnen, hat übersehen, wie genau dieser seinen Text an die in der platonisierenden Tradition ausgeführte Dialektik des Trauerns anbindet. Letztlich ist Begehren für Lacan nicht eine Sache, die dieser oder jener empirische Befund beweisen oder widerlegen könnte; die Ebene empirischer Demonstration oder „klinischer Erfahrung“ ist immer nur ein Übergangsmoment auf dem Weg zur Definition einer transzendenten Struktur. Die „Freudsche Erfahrung [...] beginnt damit, eine Welt des Begehrens zu setzen. Sie setzt sie vor jeder Art von Erfahrung an“ (2: 283). Die auf der Ebene imaginärer Beziehungen entfesselte Aggressivität muss hergeleitet werden, aber sie kann letztlich nicht einmal im Wege der Aufhebung 13 von etwas wie einem biologisch gegebenen Trieb oder solcher Energie hergeleitet werden. Die mysteriöse „Spannung“, welche vor dem Spiegelstadium erlebt und durch die Spiegel-Erfahrung zu 12 (Übersetzung VH) Wenn Lacan in “Aggressivity in Psychonanalysis” (1948) auf diese Beobachtung Augustinus’ verweist, macht er eine vage Geste in Richtung einer historisierenden Rechtfertigung: Augustinus „nahm die Psychoanalyse vorweg“, weil er „zu einer ähnlichen Zeit lebte“ (E/ English 20). Aber anderswo, etwa im 1. Seminar, verweist Lacan auf dieselbe Stelle ohne die Allgemeingültigkeit ihrer Wahrheit irgendwie einzuschränken. 13 Deutsch im Original. Lacan - 231 Aggressivität katalysiert wird (E/ English 19), muss letzten Endes ontologisch, auf der Seins-Ebene des Subjekts, hergeleitet werden. Lacan deutet daher schon 1948 an, dass die mit dem Ego assoziierte Aggressivität in der ursprünglichen Disharmonie wurzelt, dass die „negative Libido“ (E/ English 21), welche durch das Spiegelstadium entfesselt wird, etwas mit Heraklits Vorstellung einer ursprünglichen Unstimmigkeit (E/ English 21) zu tun hat; im 7. Seminar zitiert er dann Luther hinsichtlich der Existenz „ein[es] Ha[sses], der schon vor der Erschaffung der Welt da war“ (7: 120-121). 14 Die Vorstellung von Aggressivität spielt eine ganz zentrale Rolle in Lacans Theorie der klinischen Technik. Aggressivität ist die Macht, welche die Analyse antreibt. Der Analytiker wartet in seiner Neutralität auf die Explosion der Aggressivität seines Patienten, welche die negative Übertragung ist, „der anfängliche Knoten des analytischen Dramas“ (E/ English 14) 15 . Wenn die negative Übertragung einmal aktiviert ist, weiß der Analytiker, dass das Subjekt eine „Regression“ begonnen hat, welche ihn durch die „Dekompositions“- Stadien der Struktur des Egos führen wird (1: 90), weil die durch die negative Übertragung angezapfte Aggressivität genau das ist, was das Selbst in seine Ego-Beziehung verstrickt hat. Aber die Bedeutung des destruktiven Impulses der Aggressivität geht über seine Rolle im Narzissmus hinaus; er ist mit dem ultimativen Impuls des Selbst, alle Geschöpfe negieren zu wollen, verbunden, erklärt Lacan im 7. Seminar. „[W]as man schamhaft negative therapeutische Reaktion nennt“, so erklärt er jetzt, ist identisch mit dem, was er „auf eine Weise, die in ihrer literarischen Allgemeinheit besser belegt ist“, als „Verfluchung“ des Ödipus bezeichnet (7: 373), als den Fluch gegen die Existenz, welcher in dessen me phynai [‚lieber nicht zu sein’] impliziert ist, wie Lacan es übersetzt (7: 364). Dieser Fluch zeigt uns den Pfad kompromisslosen Begehrens. Ödipus’ Verfluchung ist das Wort des wahren „Sein[s] zum Tode“ (7: 368), und seine Negation zeigt die „wahre[...] Fortdauer, die die Fortdauer des menschlichen Wesens ist, eine Fortdauer, in der dieses selbst von der Ordnung der Welt abgezogen wird“ (7: 365). Hier kommentiert Lacan, dass diese Haltung „schön“ sei. Schön, weil es letztlich nicht, wie Mikkel Borch-Jacobson uns zu bedenken gibt, eine Sache der Leere-jenseits-der-Leere ist, sondern der leer-jedoch-vollen Besonderheit des Eigensten. „Wenn die Analyse einen Sinn hat“, ist Begehren „die eigentliche Artikulierung dessen, was uns in einem besonderen Schicksal wurzeln lässt (destinée particuliere)“ und welches „uns immer in ein bestimmtes Kielwasser zurück[führt], in das Kielwasser dessen, was im eigentlichen Sinn unsere Affäre ist“ (7: 381/ 7: 368)). 14 Dieser Hass, der sich von Gott auf die Menschen richtet, ist das „Korrelat“ der Struktur destruktiver Aggressivität, die Lacan selbst beschreibt und die die Beziehung zwischen „dem Gesetz“ und dem Ding betrifft (7: 99). 15 Übersetzung VH. 232 - Lacan Im 7. Seminar benutzt Lacan das Beispiel von Sophokles’ Antigone, um noch einmal die paradoxe Beziehung zu artikulieren, welche die Besonderheit des individuellen Geschickes zur Ordnung der Sprache hat. Antigones Bruder ist „ein Einzigartiges“; deshalb unterscheidet Antigone ihn von einem Ehemann oder Kindern, welche ersetzt werden können (7: 334). Der Wert seines Wesens ist ganz einfach seine Einzigartigkeit oder Besonderheit, „jenseits aller Inhalte“ (7: 335). Was auch immer Polynices getan hat, die Eigenschaften, die mit seinem Wesen verbunden werden können, sind irrelevant; aber das „Register des Wesens dessen, der durch einen Namen situiert werden konnte, [muß] durch den Akt des Begräbnisses bewahrt werden“ (7: 334-335). Der damit verbundene „einmalige[...] Wert“ kann nicht außerhalb der Sprache existieren; es ist genau die Tatsache seiner sprachlichen Wesenheit, welche seine Einzigartigkeit vor der Universalität der Tiere schützt (7: 335). Und dennoch ist diese Einzigartigkeit gerade das Jenseits auf welches Sprache nur verweisen kann, der „der Sprache äußerliche[...] Mittelpunkt“ der Rede von Rom. „Es geht um den Horizont, der durch ein strukturelles Verhältnis bestimmt ist - er existiert nur von der Wortsprache aus, deren unübersteigbare Konsequenz er freilich aufscheinen läßt.“ (7: 334). Auf der einen Seite fängt das Symbolische das Begehren des Subjekts in der endlosen Runde der Signifikation ein, hält es auf Distanz von jouissance, indem es das Subjekt dem Lustprinzip unterwirft. „Die Funktion es Lustprinzips besteht in Tat darin, das Subjekt von Signifikant zu Signifikant zu tragen, indem es soviele Signifikanten setzt, als notwendig ist, jenes Spannungsniveau möglichst niedrig zu halten, das das gesamte Funktionieren des psychischen Apparats regelt.“ (7: 147) Aber auf der anderen Seite kann der Signifikant „in seiner radikalsten Form“ (7: 352) auf eine mysteriöse Weise, in der Hand mancher Experten, so sagt Sophokles oder Lacan, „[den Menschen] in ein Verhältnis“ zu dem setzen, was absolut transzendent zum Signifikanten ist, zur transzendenten Leere, welche dem Begehren des Subjekts in seiner authentischen Besonderheit entspricht (7: 148). Lacan nennt diese Leere im 7. Seminar das Ding. Das Ding ist das transzendente oder transzendentale Nicht-Objekt, das Negativ der platonischen Idee, an deren Stelle es nichtsdestotrotz steht, auf dem Gipfel der Hierarchie der Begehren. Da dieses Ding „stets durch eine Leere repräsentiert sein [wird]“ (7: 160), geht mit der Funktion des Symbolischen als dem Zugangsweg zum authentischen Begehren grundsätzlich die Aufhebung der Besonderheit aller empirischen Objekte des Begehrens einher. Diese Aufhebung enthüllt das Ding, für welches Objekte nur Stellvertreter oder Erinnerungen sind, und enthüllt damit auch die unaussprechliche Besonderheit des Subjekts. Im Kern des Strebens nach jouissance als der Annäherung an das verbotene Ding liegt daher der transzendente destrudo. An der äußersten Grenze des „unbenennbaren Feld[es] des radikalen Begehrens“ liegt „das Feld absoluter Destruktion, der Destruktion über die Verwesung hinaus“ (7: 262); sie sucht „selbst [den] Zyklus der natürlichen Transformationen“ zu zerstören (7: 299). Lacan - 233 Auf dem Weg zu diesem apokalyptischen Höhepunkt (welchen Lacan Sade folgend den „zweiten Tod“ nennt (7: 255; 7: 299), geht es jedoch um eine bescheidenere, aus der gegenwärtigen Perspektive folgenreichere Aufhebung aller libidinösen Objekte im gewöhnlichen irdischen Sinn. Indem er die Themen vom 7. Seminar und „Kant mit Sade“ aufnimmt, schreibt Lacan im 11. Seminar, dass „das Begehren im Reinzustand [...] auf das Opfer eigentlich all dessen hinausläuft, was Gegenstand der Lieben in ihrer menschlichen Zärtlichkeit werden kann - ich sage ausdrücklich, daß es sich nicht nur um die Verstoßung des pathologischen Objekts, sondern um dessen Opfer und Tötung handelt.“ (11: 290). Das ist es, wozu die Funktion der Aggressivität oder Destruktivität im Extremfall führt: zum „Opfer“ und zur „Tötung“ des Objekts. Lacan spricht natürlich nicht von einem tatsächlichen physischen Opfer und von Mord, sondern von dem Bedürfnis, auf das Objekt durch das Intervenieren der „Vatermetapher“„Verzicht zu tun“ (11: 290). Er artikuliert das Fort- Da-Spiel und die Auflösung des Ödipus-Komplexes neu. Dennoch fällt auf, dass Lacan nur in der äußersten Gewalt passende Figuren für das findet, was er als die ultimativen Tendenzen des Begehrens ansieht. Dies fällt vor allem deswegen auf, weil Lacans Darstellung von Anfang an in einer ganz klassischen Verurteilung aller libidinösen Objektbesetzungen wurzelt. Wie wir sehen werden, ist Lacans Kritik an dem Reiz des „pathologischen“ Objekts nicht frei von der thanatoerotophoben Misogynie der Tradition, der sie entstammt; und das lässt Fragen über die Natur jenes Dranges, das Objekt „zu zerstören“, entstehen, den Lacan im Kern der jouissance sieht. Die gesamte Problematik der imaginären Gefangennahme wird, man erinnere sich, am sexuellen Reiz auf der Ebene der Tiere dargelegt; dies ist eines der Themen, die Lacan im 1. Seminar wiederholt und mit besonderer Nachdrücklichkeit ausführt. „[I]n der Tierwelt [ist] der ganze Zyklus des sexuellen Verhaltens vom Imaginären beherrscht“ (1: 177); „seine Besetzung durch Libido“ ist in der Tat eben die „Eigenheit des Bildes“ (1: 182). Durch das libidinös besetzte Bild gefangen zu sein, bedeutet, wie ein Tier auf im „Zyklus des Sexualverhaltens“, „der mechanischen Schaltung des Sexualtriebs“ (1: 158-59) gefangen zu sein. Selbstverständlich wird an der Liebe-als-imaginärer-Gefangennahme gerade kritisiert, dass man den Anderen nicht als solchen sieht, sondern nur sein eigenes Bild im Anderen (1: 183) - aber dieser „egomorphe“ Charakter (2: 213) ist es auch, was die christliche Tradition an jeder sterblichen Liebe verurteilt. Das Problem mit der egomorphen Liebe ist für Augustinus wie für Lacan, dass es das Selbst verfehlt; das Subjekt lässt sich auf einen billigen Ersatz ein und verliert dabei seine besondere Eigenheit. „Die libidinöse Verhaftung [enthält] für das Individuum einen unheilbar tödlichen Wert“ (1: 192); „das Individuum [ist] dermaßen dem Typus verhaftet [...], dass es sich, im Bezug zu diesem Typus, vernichtet“ (1: 188). Dies ist der Tod einer bloß tierischen Natur, der Tod, welcher spätestens seit den Griechen zugleich verstanden wird als organisches Ende, den Zuckungen sexueller Vereinigung, als Übergang des 234 - Lacan Individuums in die Universalität der Art und als Reduktion der individuellen Form durch das, was Hegel als „die unbewussten Kräfte der Natur“ bezeichnet hat. Auch Lacan spricht in der Rede von Rom von diesem Tod, wobei er anscheinend an Hegel und Hegels Antigone denkt, auch wenn diese nicht erwähnt werden. Dieses [menschliche] Leben allein überdauert und ist wahrhaftig, denn es wird, ohne sich zu verlieren, in einer ununterbrochenen Tradition von Subjekt zu Subjekt übermittelt. Wie kann man nur übersehen, wie weit es jenes ererbte Leben des Tieres transzendiert, in dem das Individuum in der Gattung verschwindet, da kein Grabmal seine ephemere Erscheinung von der unterscheidet, die es in der Unveränderlichkeit des Typus wieder hervorbringt. (E 1: 166; E/ English 104) Lacan, der Nietzsche selten erwähnt, ist diesem doch in mancher Weise sehr nah, zumindest dem Nietzsche, der die Grenze seiner absoluten Besonderheit bis zum Äußersten verteidigt, der mehr als andere fürchtet, durch sexuelles Begehren, eine Frau, oder die Universalität der Art zerrissen zu werden und der, zumindest in seiner frühsten Phase, wie Lacan das Pathos vom sparagmos zu einer Interpretation der Tragödie und der „tragischen Erfahrung des Lebens“ (7: 373) entwickelt. 16 „Das Begehren hat einen radikal zerrissenen Charakter“, sagt Lacan, weil das Subjekt „unrettbar getrennt“ von dem Objekt ist, einem Objekt, das es „wesentlich zerstört“ (2: 213). „[D]as vollkommene Weib zerreisst, wenn es liebt“, schreibt Nietzsche in Ecce Homo 17 , und Lacan mag dies als eine tiefe Einsicht in das Wesen des Dings erkannt haben. Wir haben schon gesehen, dass dem Subjekt vor allem von der Mutter Zerstörung droht, von der Mutter, die anscheinend nie „gut genug“ sein kann, um D. W. Winnicotts Formulierung zu zitieren. Sie ist von der Struktur her oder ihrem Wesen nach dazu verurteilt, die absolute Besonderheit des Subjekts mit Zerstörung zu bedrohen, wohin sie sich auch immer wendet. Denn wenn das Befriedigen eines Bedürfnisses ein Weg ist, den Anspruch auf Liebe zu zerstören, wäre es doch noch schlimmer, diesen Anspruch zu befriedigen. Es gibt den Fall, in dem der Andere, der ja auch seine Vorstellungen von seinen [d.h. des Subjekts] Bedürfnissen hat, sich einmischt, und [das Subjekt] anstelle von dem, was er nicht hat, bis zum Ersticken vollstopft mit dem Brei dessen, was er hat, und so seine Pflege mit dem Geschenk seiner Liebe verwechselt. Gerade das Kind, das man mit dem höchsten Maß an Liebe nährt, verweigert die Nahrung und spielt mit seiner Weigerung wie mit einem Begehren (mentale Anorexie). 16 Zu diesem Aspekt Nietzsches, siehe Henry Staten. Nietzsche’s Voice. Ithaca: Cornell University Press, 1990; vor allem Kapitel 6, 108-121. 17 Friedrich Nietzsche. Werke. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin: de Gruyter, 1969. 6,3: 304. Lacan - 235 An diesen äußersten Grenzen begreift man wie nirgendwo, dass der Hass auf die Liebe herausgibt (rend la monnaie de l’amour) [...] (E 1: 219; E/ English 263-64). Feministische Interpretationen von Lacan neigten dazu, die präödipale Beziehung des Säuglings zur Mutter als lustvolle Symbiose zu interpretieren, welche durch den Vater gestört wird 18 , aber wir haben gesehen, dass das, was Lacan „den privilegierten Modus der Präsenz“ des durch den Vater repräsentierten Gesetzes nennt, „dem Begehren entstammt“, dem Bedürfnis, das Andere/ die Mutter ‚durch das Gesetz zu bezähmen“ (E/ English 311) 19 . Tatsächlich ist, wie Marcel Marini feststellt, „die Mutter als Ursprung“, für Lacan „eine undenkbare Figur“. 20 Das ist so, obwohl Lacan auch sagt, dass „[d]as Begehren der Mutter [...] der Ursprung von allem“ sei (7: 339). Streng genommen ist die Mutter nur die erste, die den transzendentalen Platzes des Dings empirisch einnimmt, des Dings, das in sich das unerreichbare Objekt des Begehrens ist, das in Wahrheit nur durch eine Leere repräsentiert werden kann (7: 160). Alles, was mit der „Mutter/ Kind-Interpsychologie“ zu tun hat, wurzelt im Inzest-Tabu, aber das Inzest-Tabu selber drückt nur „[den] essentiellen Charakter[...] der Muttersache, der Mutter, insofern diese den Platz des Dings, von das Ding 21 einnimmt“ aus (7: 84; vgl. 131, wo Lacan Melanie Klein kommentiert). Das Ding selber ist absolut unerreichbar, eine Erinnerung wie die der Unsterblichkeit; es ist „dieser prähistorische Andere, der unmöglich zu vergessen ist“ (7: 89). Das Gesetz des Vaters kommt, um uns vor dem „erstickenden Brei“ der Mutterliebe zu retten, so dass die transzendentale Form des Begehrens hinter den empirischen Wesen, die dafür stehen, enthüllt werden kann. Lacan meint, dass diese transzendentale Form auf besonders tiefgründige und wichtige Weise durch die Troubadoure enthüllt wurde. Die Liebe der Troubadoure ist eine „geschichtliche Modifizierung des Eros“ (7: 122), deren Effekte auf uns „entscheidend“ gewesen sind; sie hat „Spuren in einem Unbewußten hinterlassen [...] einer ganzen Welt von Bildern [...] die eben die ist, in der wir in unseren Verhältnissen mit der Frau leben“ (7: 139). Was so bedeutsam an der „höfischen Liebe“ ist, ist, dass ihr Objekt „zur Würde des Dings erhoben [wird]“ (7: 130), indem die Dame mit kulturellen Attributen umgeben wird, welche sie als „unerreichbar“ und „unpersönlich“, „bar jeder realen Substanz“ darstellen (7: 183). Aber das Ding kann nur als Leere oder Absenz dargestellt werden; um Leere fassbar zu machen, wurde zum Beispiel die Töpferei erfunden (7: 149); darin liegt auch das grundlegende Geheimnis der Architektur (7: 167). Es sollte daher nicht überraschen, wenn am höchsten Punkt der Erhö- 18 Siehe etwa Elizabeth Grosz. Jacques Lacan: A Feminist Introduction. London: Routledge, 1990. 70. 19 Übersetzung VH. 20 Marcelle Marini. Jacques Lacan. Paris: Pierre Belford, 1986. 85-86. 21 Deutsch im Original. 236 - Lacan hung der Frau, wo sie die „Würde“ des Signifikanten des Dings erlangt, es ihr entblößtes „Ding“ ist, welches „auf das Roheste die Leere eines Dings“ (7: 199) manifestiert. Lacan erreicht diese Schlussfolgerung auf der Basis eines Gedichts von umstrittener Autorschaft, das jedoch zumeist Arnaut Daniel zugeschrieben wird: das berüchtigte sirventes „Pois En Raimons ni Truc Malecs“. 22 Das Gedicht ist eine offensichtliche Satire auf die Idee vom höfischen Liebesdienst. Die Herrin bittet ihren Liebhaber, einen gewissen Bernard de Cornilh, etwas mit ihr zu tun, was „cornar“ genannt wird und manchmal als analer Geschlechtsverkehr oder - was wahrscheinlicher ist - als oral-analer Kontakt interpretiert wird. Das Wort „cornar“ wird daher als „ihr Horn blasen“ oder „den Mund an ihr Horn setzen“ wiedergegeben. Das Gedicht ist der Beitrag des Autors, nehmen wir also an Arnauts, in einer satirischen Debatte der Frage, ob Bernard de Cornilh richtig gehandelt hat, als er der Herrin ihre Bitte verweigerte. Zwei andere Dichter, Raimon und Truc Malec aus Arnauts erster Zeile, verurteilen Bernards Weigerung; aber Arnaut ergreift Bernards Partei und äußert, dass cornar kein gültiger Liebestest ist: „Es wird wirklich andere Tests (assais) geben / Schöner und von größerem Wert“ (18.19-20). Die Debatte darüber umfasst drei überlieferte Gedichte und Teil eines vierten, und wie Pierre Bec bemerkt, wird der „innere Zusammenhang“ des Zyklus durch die Wiederholung des gleichen Reimschemas garantiert, „welches darüber hinaus [im Troubadour-Korpus] auf diese vier Gedichte beschränkt ist“ (139). Dieses Schema besteht darin, dass in jeder Strophe ein bestimmter Reim am Ende von jeder der neun Zeilen der Strophe wiederholt wird, was dem Ganzen einen ausgelassenen, komischen Effekt gibt. Dieser Zyklus stellt ein besonders übermütiges Beispiel für die Dialektik des Troubadour-Formalismus dar; hier wird die Burleske der Konventionen der fin’amors ganz offen verfolgt. In einem der Gedichte, auf die Arnaut anscheinend antwortet, erklärt Truc Malec, dass Bernard ein Narr war, den Anus oder das ‚Horn‘ (corn) der Herrin zu verachten, dessen Anblick sie ihm gewährt hat, und dass er für seinen Teil freudig „seinen Mund an ihr Horn gelegt“ hätte (ieu lai volgr’ aver cornat / Alegrament); in dem anderen Gedicht, dem von Raimon de Durfort, wird die Herrin wenn auch nur fiktiv zitiert, wie sie sagt, dass sie sich gründlich gewaschen habe, so dass ihr Liebhaber keine unangenehmen Gerüche erleiden müsse: Qu’ein l’ai fach lavar e forbir / E ja no’l sentiretz pudir (23-24). Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, generiert die Dialektik des Troubadour-Formalismus regelmäßig Verstöße gegen die aufgestellten formalen Regeln, selbst innerhalb des Genres des canso, des ‚Liebesgedichts‘. Arnauts Gedicht kann daher auf rein formaler Ebene als satirische Inversion jener Gedichte erklärt 22 Das Gedicht Arnauts ist zusammen mit den drei anderen dieser Debatte in Pierre Becs unschätzbarem Burlesque et obscenité chez les troubadours: Pour une approche du contre-texte médiéval. Paris: Editions Stock, 1984 versammelt und mit einem Kommentar versehen. Lacan - 237 werden, auf die er antwortet, wenn er das „Horn“ der Herrin als „rau und schmutzig und haarig“ (12), als „Sumpf“ (14), dessen „Gestank dich in Kürze getötet haben würde“ (33) bezeichnet. Arnaut war vielleicht unter seinen Freunden als ein enthusiastischer sexueller Experimentalist bekannt - für diese Möglichkeit spricht, dass Dante ihn unter die Sodomiten im Purgatorio platziert - so dass seine Zuhörer vor Vergnügen geheult hätten, wenn sie ihn solch einen affektiert prüden Standpunkt hätten einnehmen hören. Lacan jedoch ignoriert die eigentlich literarische Ebene des Spiels der Signifikanten und kommt (wie im Fall von The Purloined Letter) direkt zur Aussage, die er darin verkörpert findet und die er als die Äußerung einer Frau übersetzt. Indem er das tut, ignoriert er zudem die Tatsache, dass Arnaut anders als Raimon nicht einmal vorgibt, die Stimme der Frau zu zitieren, sondern explizit die ganze Zeit die männliche Stimme benutzt. Weil diese Herrin keine wirkliche Frau ist, sondern ein kulturell konstruierter Signifikant, zögert Lacan nicht, ihrer Aussage von dem Ort aus eine Stimme zu verleihen, der seiner Meinung nach von Arnauts Gedicht bestimmt wird. Die idealisierte Frau in der Position des Anderen und des Objekts setzt unvermittelt, brutal an einem Ort, der kunstvoll vermittels raffinierter Signifikanten konstruiert wird, auf das Roheste die Leere eines Dings, das in seiner Nacktheit sich als das Ding zeigt, ihr Ding, jenes, das sich im Innersten ihrer Selbst befindet in seiner grausamen Leere. (7: 199) [...] die Frau [...] tut [...] dem Dichter im extremen Grad seiner Anrufung des Signifikanten die Form kund, die sie als Signifikant anzunehmen vermag. Ich bin, sagt sie ihm, nichts anderes als die Leere, die in meiner Kloake ist, um keine anderen Ausdrücke zu brauchen. Reiben Sie sich die Augen, um zu sehen - um zu sehen, ob Ihre Subliminierung noch hält. (7: 260) Man mag fragen: wie kann Leere der Rohheit beschuldigt werden? Wann war eine Kloake jemals leer? Und wie kommt es, dass das „Ding“ der Frau in ihrem Innersten zu finden ist? Hier sind wir wieder, allerdings offener als bei Conrad, bei jener männlichen Fantasie vom Herzen der Finsternis, der grausamen Leere im Herzen einer Frau, welche der „Kloake“ in ihr entspricht. Aber wo sind wir in der Lacanschen Topographie? Die Herrin ist keine imaginäre Herrin; wenn sie es wäre, würde ihr Liebhaber nur die egomorphe Reflektion seines eigenen Narzissmus wahrnehmen. Diese Herrin ist kein Bild; sie ist aus Worten geschaffen, und wir finden sie auf der Ebene der symbolischen Ordnung, inmitten des Netzwerks aus Signifikanten, dort wo es am komplexesten ausgeformt ist. „Man spricht nie so ausdrücklich in den derbsten Liebesworten wie dann, wenn die Person transformiert wird in eine symbolische Funktion.“ (7: 184). Indem diese Worte das Reale des Körpers aufrufen, zerbrechen sie das Symbolische und öffnen es seinem Jenseits als dem Feld des Dings. Wieder interessiert Lacan hierbei das Paradoxon, wie die Beziehung zum Signifikanten, welche den Menschen auf der Ebene des Lustprinzips ge- 238 - Lacan fangen hält, den „Menschen“ [gleichzeitig] ins Jenseits führen kann, wie es „diesen in ein Verhältnis setzen [kann] zu einem Objekt, das das Ding repräsentiert“ (7: 148). Daher die besondere Bedeutung der höfischen Liebe. „[M]it der höfischen Liebe [erscheint] eine Problematik des Begehrens als solchen“ (7: 283). Der Platz des Dings, der in der empirischen Genese der Psyche ursprünglich von der Mutter eingenommen wird, wird am anderen Ende des symbolischen Aufstiegs von der Grausamen Herrin besetzt. Und am äußersten Punkt dieser symbolischen Ausführung, an der Schwelle der Passage zu dem reinen Nichts, welches das Begehren begehrt, finden wir den Ekel vor einer stinkenden weiblichen Öffnung. Natürlich bezieht sich Lacan streng genommen nicht auf eine weibliche Öffnung, sondern auf eine geschlechtsunspezifische Öffnung, eine Kloake, die keiner Frau und auch keinem Mann gehört, sondern einem „betörende[n]“, „unmenschlichen“ (7: 185) Wesen, das als weiblich erscheint. Und das Ding, das die Herrin oder die „Kloake“ der Herrin darstellt, ist noch unmenschlicher und geschlechtsunspezifischer als die Kloake selber. Lacan meint anscheinend, dass es keine notwendige Verbindung zwischen dem Ding und der Weiblichkeit gibt, wenn die Herrin und vor ihr die Mutter für das Ding stehen. Es gibt eine empirische Bedingung von fast universeller Tragweite, welche die Mutter als das erste Andere positioniert, aber das gibt ihr kein logisches oder transzendentales Privileg. Die „primäre Dyade“ (11: 230) des Fort-Da-Spiels muss in einem allgemeinen Sinn verstanden werden, als eine Beziehung zum Anderen, aber nicht notwendigerweise der Mutter, selbst wenn sie es in dem ursprünglichen Beispiel und im Allgemeinen ist. Die Mutter ist nur ein Beispiel: „Im Intervall zwischen den zwei Signifikanten lagert das Begehren, bereit zur Auszeichnung des Subjekts in der Erfahrung des Diskurses des Andern, des ersten Andern, mit dem des zu tun bekommt, sagen wir, um’s zu illustrieren, der Mutter.“ (11: 230; Hervorhebung H.S.). Dennoch sind die Mutter und das weibliche Geschlecht, das von ihr verkörpert wird, nicht nur ein Beispiel von vielen möglichen. Lacan versichert, dass die ganze Frage der Kastration für das kleine Kind vor allem aufgrund der Entdeckung der Kastration der Mutter entsteht, durch die Tatsache, dass da nur „Abwesenheit, [...] Leere, [...] Loch“ ist (3: 209), wo der Phallus sein sollte. Da ist also etwas am weiblichen Körper, das es auf der Ebene des Realen und des Imaginären geeignet macht, die zentrale Leere zu repräsentieren, eben jene Tatsache, die versichert, dass das Geschlecht der Frau von der symbolischen Ordnung subtrahiert werden wird, denn „[s]treng genommen [...] gibt es keine Symbolisierung des Geschlechts der Frau als solchen“ (3: 208). Aber dieses zweifelhafte Privileg der weiblichen Anatomie ist metaphysisch gesprochen rein zufällig. Auf der differenzierteren symbolischen Ebene der Darstellung, welche von den Troubadouren erreicht wurde, sehen wir, dass der Anus ebenso gut funktioniert, vielleicht sogar besser, insofern er ein transsexuelles Loch ist; u.a. weil der Anus, wie Lacan uns in einer merkwürdigen Passage informiert, sich mehr wie ein Ring anfühlt, und daher dem „signifikanten Wert“ näher ist, Lacan - 239 während die Vagina sich rein natürlich anfühlt, „eher molluskenhaft als sonst was“ (3: 372-73). Und dennoch steht fest, dass Lacan in bestimmten besonders wichtigen Momenten seines Textes die Leere anhand des weiblichen Körpers für minderwertig erklärt. Nicht nur in der kulturell entscheidenden Darstellung der Begehrensproblematik durch die Troubadoure, sondern auch in dem „Initialtraum, dem Traum der Träume, dem inaugural dechiffrierten Traum“ (2: 190), der am Ursprung der Psychoanalyse steht: Freuds Traum von Irmas Injektion. In einer seiner brilliantesten und überzeugensten Textanalysen argumentiert Lacan, dass das, was Freud in diesem Traum entdeckt hat, und das besonders kennzeichnend durch die chemische Formel für Trimethylamin repräsentiert wird, das Geheimnis der symbolischen Struktur des Traums und des Unbewussten ist (2: 202-06). Aber um zu dieser Einsicht zu kommen, muss Freud einen Augenblick „peinlicher Empfindung“ durchmachen, einen Moment, an dem Freud Irma zwingt, ihn in ihren Hals sehen zu lassen. Hier ist Freuds eigene Darstellung von dem, was er sieht: „ich finde rechts einen großen Fleck, und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weißgraue Schorfe“. 23 Und hier ist Lacans Interpretation: er [sieht] auf dem Grund diese mit einem weißlichen Häutchen überzogenen Nasenmuscheln, ein scheußlicher Anblick. Es gibt zu diesem Mund alle Äquivalenzbedeutungen, alle Verdichtungen, die Sie nur wollen. Alles vermischt und assoziiert sich in diesem Blick, vom Mund bis zum weiblichen Geschlechtsorgan, und zwar vermittelt über die Nase [NB][...] Es gibt da eine schreckliche Entdeckung, die des Fleisches, das man niemals sieht, den Grund der Dinge [...], das Fleisch, von dem alles hervorgeht, aus der tiefsten Tiefe selbst des Geheimnisses, das Fleisch, insofern es leidend ist, insofern es unförmig ist, insofern seine Form durch sich selbst etwas ist, das Angst hervorruft. Vision der Angst, Identifikation der Angst, letzte Offenbarung des Du bist dies [...] dies, welches das Unförmige ist. (2: 199-200). Hier ist wieder die hyperwörtliche Vision im hysterischen Modus. Wie bei Hamlets Hysterie geht es hier um die Gleichsetzung des Körpers an sich mit dem Körper der Auflösung, absolute Unförmigkeit als das verborgene Geheimnis der körperlichen Form, und irgendwie, jenseits der Form - dort, wo das Geschlecht von “my chapfallen lady” nicht mehr von dem Yoricks unterschieden werden kann - die Form der Frau. Der Tod ist weder männlich noch weiblich, er ist die Auflösung der Unterscheidung; und doch ist er in diesen Texten mehr weiblich als männlich (sogar bis zu dem Punkt, dass die Nase in das weibliche Genital gewendet oder eingeschrieben werden kann). 23 Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud u.a. London: Imago, 1942 (Neudruck 1948). 2/ 3 (Die Traumdeutung). 111-112. 240 - Lacan Man beachte, wie stark Lacan bekräftigt, dass dies die „letzte Offenbarung des Du bist dies“ (2: 200) ist. „Du bist dies“ ist eine Wendung, die entscheidende Bedeutung für Lacan hat. „Das ist die Grundlegung oder das stiftende Sprechen. Du bist das, meine Frau, mein Herr“ (3: 328); aber im Traum von Irmas Injektion geschieht das Du bist dies an der Grenze aller Sprache und jeder Beziehung, dort, wo wir in das Jenseits starren. Muss es daher nicht eine direkte Beziehung geben zwischen diesem Moment totaler Angst, in welchem Freud in die Fäulnis des Nase-Gebärmutter- Grabes sieht, aus dem er dann durch den Zugang zur symbolischen Ordnung herauskommt, indem er „an die Versammlung jener appelliert, die wissen („Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt [...]. Mein Freund Otto steht jetzt auch neben ihr, und Freund Leopold perkutiert sie über dem Leibchen“ 24 ), so dass „eine andere Stimme“ zu hören ist, die Stimme dessen, der Mene, Mene, Tekel, Upharsin auf die Mauer schreibt (2: 204-05) - muss es da nicht eine direkte Beziehung, wenn nicht eine komplette Identität, zwischen diesem Moment der Angst und jenem in der „Subversion des Subjekts“ geben, in welchem das Begehren das Gesetz aufruft, als Reaktion auf die Bedrohung durch die Allmacht des Anderen/ der Mutter? Man beginnt sich zu fragen, was für eine Art von Bemutterung Lacan als kleines Kind erfahren haben muss. Wie kann jemand, der gelernt hat, psychoanalytisch zu lesen, sich nicht fragen, ob Lacans eigene persönliche Geschichte nicht in bestimmten Momenten seinen Diskurs bestimmt, wenn er in verallgemeinernder Weise von der Beziehung des Kindes zur Mutter spricht? Und wenn Lacans Darstellung nur die Geschichte einer von vielen möglichen Beziehungen ist, gegründet auf die Wechselfälle einer bestimmten Kindheit - eine bloß zufällige, empirische Möglichkeit, selbst wenn diese mit gewisser Häufigkeit in Lacans Kultur aktualisiert wird - dann verlieren viele von Lacans Behauptungen ihre Gültigkeit, ebenso wie die gewichtige Tonalität in einem großen Teil seines Diskurses. Eloquenz, Tiefe und philosophische Subtilität sind kein wissenschaftlicher Beweis. Natürlich behauptet Lacan, die Täuschungen der gewöhnlichen wissenschaftlichen Methode zu durchschauen und sie durch seine eigene „Wissenschaft des Begehrens“ abzulösen; aber diese Behauptung ist nur so überzeugend wie seine Darstellung des Moments, in dem das Begehren entsteht, jenes Moments, um den es hier geht“. 25 24 Freud, Anm. 23, 112. 25 Für eine Verteidigung von Lacans Behauptung, dass er die etablierte Wissenschaft überwunden habe, siehe Shoshana Felman. Jacques Lacan and the Adventure of Insight: Psychoanalysis in Contemporary Culture. Cambridge: Harvard University Press, 1987. Bes. 154-58. Für eine detaillierte Kritik dieser Behauptung, siehe François Roustang. The Lacanian Delusion: Why Did We Follow Him for So Long? Ins Engl. übers. von Greg Simms. Oxford: Oxford University Press, 1990. Lacan - 241 In dieser Darstellung wiederholt Lacan fast wörtlich die Hauptthemen der thanatoerotophoben Tradition. Man mag ihm darin folgen wollen, aber dann sollte man wenigstens wissen, welcher Metaphysik man sich anschließt - wie es Lacan mit Sicherheit weiß, selbst wenn es viele seiner Nachfolger nicht tun. Lacan braut bewusst ein Gemisch aus Platonismus und Augustinianismus, wenn er schreibt, dass „jede Objektbeziehung [...] mit einer fundamentalen Ungewissheit geschlagen“ ist, weil das empirische Objekt „nur als Trugbild fassbar ist“ (2: 217) und warnt uns, „wenn wir in der Gewalt eines anderen sind, sind wir in großer Gefahr“ (7: 105). Und es wird wieder deutlich, dass diese Gefahr, welche die Gefahr des libidinösen Objekts im Allgemeinen ist, eine besondere Beziehung zu Frauen hat: die Wörter „damage“ (dt. ‚Schaden‘) und „danger“ (dt. ‚Gefahr‘) sind etymologisch verwandt mit „domination“ (dt. ‚Herrschaft‘) und mit „dame“ im Sinne von „notre dame“ (dt. ‚Unsere Liebe Frau‘) (vgl. ebd.). Lacan macht sich häufig über die von anderen Psychoanalytikern vertretene Vorstellung einer reifen Genitalsexualität lustig, einer erotischen „Oblativität“, welche die Basis für eine andauernde und befriedigende sexuelle Beziehung liefern würde. Aber ab und zu bietet er ein anderes Ideal einer solchen Liebe an, eine weiterentwickelte Reife und eine großzügigere Oblativität, welche auf der Ebene der symbolischen Ordnung operieren würde. Diese Liebe wird im 1. Seminar als die „aktive Gabe“ beschrieben, die es von der Liebe als „imaginärer Leidenschaft“ zu unterscheiden gilt (1: 346). Imaginäre Leidenschaft ist „ein Versuch, den andern in sich selbst einzufangen, in sich selbst als Objekt“; nicht als ein Objekt mit diesen oder jenen Eigenschaften, sondern „in der absoluten Besonderheit seiner selbst als Objekt“ in „dem, was diese Besonderheit an Undurchsichtigstem, Unausdenkbarstem haben kann“ (ebd.). Wir erkennen die Begriffe wieder - Undurchsichtigkeit, Besonderheit - mit denen Lacan an anderer Stelle das unaussprechliche Jenseits des Subjekts bezeichnet. Und wenn sie hier auch mit narzisstischer Liebe assoziiert werden, so bedeutet das keineswegs, dass seine Kritik sich gegen eine durch diese Begriffe bezeichnete Illusion richtet. Im Gegenteil, Liebe „auf der symbolischen Ebene“ (ebd.), „jenseits der imaginären Verhaftung“ (1: 347) ist gerade gegen jene „Besonderheit“ gerichtet, die Lacan (etwa in seiner Darstellung von Antigones Liebe zu Polynices) mit dem „Sein des geliebten Subjekt“ (ebd.), „jenseits dessen [...], was es zu sein scheint“ (1: 346) gleichsetzt. Narzisstische Liebe und wahre Liebe sind daher auf die gleiche „Besonderheit“ jenseits von „Spezifität“ gegründet (ebd.), jedoch mit zwei Unterschieden. Die authentische Variante ist aktiv, während die andere passiv ist; und authentische Liebe liebt den anderen nur insofern als der andere eine authentische Selbst-Beziehung aufrechterhält, denn „wenn das geliebte Wesen im Verrat seiner selbst zu weit geht und in der Selbsttäuschung verharrt, folgt die Liebe nicht mehr“ (1: 347). 242 - Lacan Dies ist eine frühe und noch relativ wenig entwickelte Darstellung, aber sie deutet einen durchgängigen Strang in Lacans Denken an. 26 Zehn Jahre später, am Ende vom 11. Seminar, evoziert er eine „grenzlose Liebe“, die nur „außerhalb der Grenzen des Gesetzes“ leben kann (11: 290). Man kann eine solche Liebe nur erreichen, nachdem man durch „die Erfahrung dieses opaken Verhältnisses zum Ursprung, zum Trieb hindurchgegangen ist“ (11: 288), eine Erfahrung, die „Opfer und Tötung“ des Objekts involviert. Die Undurchsichtigkeit scheint hier wie anderswo den Sinn zu haben, als Grenzpunkt der Besonderheit des Subjekts zu fungieren. 27 Daher scheint die Erfahrung des „phantasme radical“, des „Wurzelphantasmas“ (11: 288), welches diese Beziehung zum Ursprung möglich macht, Lacans Version der ultimativen Selbsterkenntnis zu sein. Alles im 7. und 11. Seminar impliziert, dass das Wurzelphantasma eine Überschreitung des Inzesttabus einschließt; aber weil die Mutter nur der Stellvertreter für das Ding ist, und weil der unbewusste Sexualtrieb nichts mit genitaler Sexualität zu tun hat, sondern mit der Beziehung zum Fehlen und zum Tod (11: 215), scheint der tiefste Sinn dieser Erfahrung die Beziehung zur Überschreitung und absoluten Zerstörung als transzendentaler Struktur der 26 Das Konzept des Seins des Subjekts, das hier ebenso wie die Unterscheidung zwischen der imaginären und der symbolischen Dimension der Liebe auf dem Spiel steht, stimmt mit Lacans späteren Arbeiten überein; dennoch scheint die Definition der Liebe auf der symbolischen Ebene schon im 2. Seminar fundamental neu konfiguriert zu sein. Die imaginären Beziehungen der libidinösen Objektbesetzung werden nun nicht mehr von der Liebe zu dem wahren Wesen des Anderen unterschieden, sondern von einem „symbolischen Pakt“. Es heißt nun, dass die Liebe auf der symbolischen Ebene, die eheliche Liebe, nicht auf eine bestimmte Person zielt, „sondern auf ein Wesen jenseits“ - nicht das „Wesen jenseits“ der absoluten Besonderheit des Ehepartners, sondern auf eine „universelle Funktion“, „[den] universale[n] Mann, die universale Frau“ (2: 332). In der „ursprünglichen Form der Ehe“, welche die Natur der Liebe auf der symbolischen Ebene am besten deutlich macht, ist der universale Mann ein „Gott“, in dem Sinne, dass er die transzendente Funktion der symbolischen Organisation verkörpert, die die Frauen zwischen „androzentrischen Linien“ (2: 334) austauscht, und diesem Gott wird eine Frau in der Ehe gegeben. In dem heruntergekommenen Zustand unserer eigenen Kultur jedoch haben Männer und Frauen aufgehört, universelle Funktionen zu verkörpern und sind zu bloßen imaginären Rivalen geworden (2: 334). 27 Diese Besonderheit ist im 11. Seminar mit der Vorstellung des „ersten“ Signifikanten verbunden, dem Signifikanten, der nicht ersetzt werden kann, der „einzigartig“ ist und daher für keinen anderen Signifikanten stehen kann (11: 264). Als solcher ist er „reiner Un-sinn“ und wird „zum Träger der Verunendlichung des Werts des Subjekts, die nicht in jedem Sinn offen ist, aber jeden Sinn tilgt“, und konstituiert damit das Subjekt „in seiner Freiheit bezüglich jeglichen Sinns“ (11: 265). Der „bestimmte Wert“ der Beziehung des Subjekts zum Unbewussten, welches den ursprünglich unterdrückten Signifikanten enthält, wird wie in Lacans anderen Darstellungen dennoch möglich gemacht durch die „in der Beziehung des Begehrens des Andern dialektisierte[n] Bedeutungen“ (ebd.). Lacan - 243 Beziehung zwischen dem Begehren und dem Gesetz zu sein. In dieser Erfahrung berührte man also das destrudo, welches der Kern der jouissance ist; das „pathologische Objekt“ würde getötet, um das absolute Nicht-Objekt zu enthüllen, welches das wahre Korrelat des Begehrens ist und in Beziehung steht zu der inhaltlosen Besonderheit jenes ‚Selbst, das nichts ist‘, als letzte Station auf dem Weg zum Nichts, des ‚Selbst, das Scheiße ist‘ (11: 282-3). Und dann, auf der anderen Seite dieser Beziehung, würde man endlich der wahren Liebe fähig sein. Man mag dann argumentieren, dass Lacan im 11. Seminar immer noch die „Pazifizierung“ der Aggression verfolgt, von der er in “Aggressivity in Psychoanalysis” spricht. Er wertet die Liebe nicht ab, aber er erkennt ihre Schwierigkeiten; er erhöht die Zerstörungskraft nicht, sondern stellt sich ihrem tiefen Einfluss auf die Menschheit. Nur die Reise in das absolute Zentrum der Zerstörungskraft kann in das letzte Jenseits der „grenzlosen Liebe“, deren Name in der Tradition agape ist, vordringen (hier ist noch einmal Anders Nygrens Agape und Eros eine entscheidende Quelle für uns). „Grenzlose Liebe“ bedeutet hier wie in der Tradition die Herabsetzung jener gewöhnlichen Lieben, in welchen die Menschheit immer schon ihr Wesen verschwendet hat - und es scheint wenig Aussicht zu bestehen, dass sie jemals damit aufhören wird. Wie andere Moralisten mit absolutem Anspruch, sucht Lacan uns fühlen zu lassen, dass die von uns gelebten Leben eine niedere Version der eigentlichen Sache sind. Aber ist es nicht ein bisschen spät, um eine solch scharfe Scheidelinie zwischen Finsternis und Licht zu ziehen, um dem Kreatürlichen eine so klare Absage zu erteilen? Die Lacansche agape scheint unerreichbar oder doch nur gerade erreichbar zu sein. Man muss in die innersten Mysterien der Psychoanalyse eingeweiht sein, wenn man sie zu erreichen sucht, diese Mysterien, zu denen Lacan den Schlüssel hat. Zu dem, was „jenseits der Analyse“ liegt, gibt es „bis jetzt“ nur einen Zugang auf der Ebene des Analytikers, insofern nämlich gefordert wird, dass er den Kreis der analytischen Erfahrung in seiner Totalität ausgeschritten habe. Es gibt nur eine Analyse, die Lehranalyse - das heißt: eine Analyse, die die Schleife bis an ihren Term geschlungen hat. Die Schleife ist mehrmals zu durchlaufen. (11: 288) Wer diese Schleife mehrmals durchlaufen hat und daher sein Begehren in den „Reinzustand“ versetzt hat, wird fähig, andere zur absoluten Erfüllung zu führen. Diese konkurriert insbesondere mit jener anderen, die mit Frauen assoziiert wird. Der Analyst ist die mystische Braut/ der mystische Bräutigam, die oder der allein die „aktive Gabe“ jenseits jeder imaginären Gefangennahme bieten kann, die Lacan im 1. Seminar beschrieben hat. Was der Analytiker, im Gegensatz zum Liebespartner, zu geben hat, ist etwas, das die schönste Braut der Welt nicht überbieten kann, es ist das, was er hat. Und was er hat, das ist nichts anderes als sein Begehren [...]. (7: 358) 244 - Lacan Die Wahrheit der Nichtigkeit des Subjekts und Objekts: in mancher Weise vertritt Lacan eine sehr traditionelle Wahrheit, wie wir gesehen haben. Aber vielleicht ist sie, je nachdem wie wir ihn lesen, nicht ganz und gar traditionell. Es mag sein, dass für Lacan (zumindest in bestimmten Teilen seines Textes) der Preis der Authentizität die Konfrontation mit dem absoluten Nichtsein des Selbst ist, und daher mit etwas, das in der Tradition nie vorher angegangen worden ist, nämlich die Frustration eines jeden Begehrens nach Selbst- Präsenz. Nichtsdestotrotz lässt Lacan, wenn er im 11. Seminar das object a als repräsentativ für die verschwundene Unsterblichkeit des sexualisierten Individuums beschreibt, erkennen, dass das Begehren von endloser Selbst-Präsenz operativ ist, dass der Abgrund des Nichtseins durch die Kraft eines Begehrens geöffnet wird, das in der Tat eitel ist, aber eitel ob seines Idealismus, ob seines Dranges nach der Transzendenz aller irdischen Reize. Das Lacansche Begehren ist keine Negation des platonischen Begehrens; es ist platonisches Begehren, das von der Illusion der Selbst-Präsenz befreit ist und dennoch dessen Imperativ des Selbstbesitzes gehorcht, wo Selbstbesitz die Rückkehr eines Nichtseins zu sich selbst bedeutet. Meine Frage ist, ob nicht auch Lacans Projekt der Negativität im Ganzen von den Mächten der Dialektik der Trauer motiviert ist, das heißt von Mächten, die dem unausweichlichen Charakter der libidinösen Beziehung eines Objekts entspringen, das, was auch immer es selber sein mag, eine ganz zwingende Realität für das begehrende Subjekt hat. So zwingend und so gefährlich ist diese Realität, dass selbst die Aufhebung des Selbst ein willig bezahlter Preis sein mag, so lange diese Aufhebung die Authentizität des aufgehobenen Subjekts bestätigt und dessen autonome Aktivität ist, um das Selbst aus der Umarmung oder dem Abgrund des Objekts zu befreien. Um sich dieser Frage auch nur zu nähern, müssen wir das ganze Feld der Dialektik der Trauer sich aus den Texten der Tradition entfalten lassen, angefangen mit Homer und Platon, den Texten, in welchen die Pfade dieser Dialektik eröffnet worden sind, und ohne diese Texte vorzeitig dem Gitter des Lacanschen Systems zu unterwerfen, welches selbst zu dem Inneren des Feldes gehört, das sie definieren. EPILOG 9. Kapitel Die Auflösung der Form in Joyces Ulysses Am Ende von “Calypso” (Kap. 4) liest Bloom eine Geschichte, einen „besonderen Leckerbissen“ (im Englischen heißt es “prize titbit” (56; Z. 502)), 1 in einer alten Ausgabe der Zeitschrift Titbits, während er seinen Darm entleert; als er fertig ist, reißt er die Seite entzwei und wischt sich mit der „halbe[n] Preisgeschichte“ ab (W 98). Ich sehe darin eine tiefgründige Allegorie der Berührung von Literatur und Wirklichkeit. Die Versuchung liegt nahe, diese Begebenheit einfach als einen kleinen Witz Joyces zu verstehen, einen Kommentar auf den subliterarischen Charakter besagter Geschichten, aber Ulysses ist ein Text, in welchem dem Subliterarischen freier Lauf gelassen wird. Und Blooms Interpretation der Geschichte, eingebettet in eine Szene von bis dahin vielleicht einmaligem Realismus, führt zu einer Reflektion über mimetische Wahrhaftigkeit: „Das Leben könnte so sein“, denkt Bloom. 2 In Blooms Toilette sind sowohl literarische Mimesis, so wie sie als Realismus bekannt ist, und Ulysses selber auf mehr als eine Weise mis en abyme. 3 1 Wollschläger: „Preisausschreiben, der Leckerbissen der Woche“ (W 96). Im Folgenden wird, wenn nicht anders vermerkt, Ulysses nach Wollschlägers Übersetzung zitiert: James Joyce. Ulysses. Übersetzt von Hans Wollschläger. Frankfurter Ausgabe, Werke 3.2. Frankfurt: Suhrkamp, 1975 (= W). Die englischen Originalzitate sind folgender Ausgabe entnommen: James Joyce, Ulysses. Ed. Hans Walter Gabler. New York: Vintage-Random, 1986. 2 Meine Übersetzung. Im Original: “Life might be so” (56; Z. 511). Wollschläger: „Könnte alles im Leben so“ (W 96) 3 Zur Analität und Fäkalität in Ulysses und Joyce im Allgemeinen, vgl. Chester G. Anderson, “On the Sublime and Its Anal-Urethral Sources in Pope, Eliot, and Joyce.” Essays in Honor of William York Tindall. Ed. Raymond J. Porter and James D. Brophy. New York: Iona Coll. Press, 1972. 235-49; Clive Hart. “The sexual Perversions of Leopold Bloom.” Ulysses: Cinquante ans après. Ed. Louis Bonnerot, with J. Aubert and C. Jaquet. Paris: Didier, 1974. 131-36; und vor allem Kelly Anspaugh. “Powers of Ordure: James Joyce and the Excremental Vision(s).” Mosaic 27.1 (1994): 73-100. 248 - Ulysses Allerdings wird der Realismus nur durch einen Prozess zerstört, der ihn gleichzeitig auf eine nach den Gesetzen klassischer Repräsentation unvorstellbare Weise wiederherstellt. 4 In Ulysses wird realistische Mimesis als der Isomorphismus zweier Auflösungsserien verstanden, wobei die eine die Sprache, die andere den Körper betrifft: das Beschmieren des logos mit Scheiße wird zum Sinnbild für die Übereinstimmung zwischen diesen beiden Serien. Es ließe zwar sich argumentieren, dass diese Übereinstimmung eine Illusion sei, da alles - die Toilette, die Darmentleerung, eben alles - in der Sprache stattfindet, aber dieses Argument wäre so überholt wie die Metaphysik, auf die es antwortet und die eine substantialistische Metaphysik ist, welche die einfache Übereinstimmung zwischen Worten und Dingen behauptet. Es geht hier vielmehr um die Bewegung von Formschaffung und Formauflösung, welche die gemeinsame Matrix von Text und Körper ist. In „Scylla“ (Kap. 9) erklärt Stephen Dedalus die Übereinstimmung von dieser doppelten Bewegung in Körper und Text: „Wie wir, oder Mutter Dana, unsere Körper weben und entweben [...] von Tag zu Tag [...], so auch webt und entwebt der Künstler sein Bild.“ (W 273). Die Analogie mit dem lebenden Körper deutet an, dass das Weben und das Entweben des Künstlers, anders als Penelopes, nicht abwechselnd stattfinden. Stephen benennt vielmehr die Gleichzeitigkeit, wenn nicht gar die Einheit von Komposition und Dekomposition, und Ulysses führt diese Gleichzeitigkeit vor. An einem bestimmten Punkt endet das individuelle Leben jedoch, und dennoch geht dieser Prozess der „(De)Komposition“ weiter (dies ist Blooms Vision in „Hades“ [Kap. 6]). Die Auflösung des individuellen Körpers und seine Einfügung in einen überindividuellen organischen Zyklus markieren die Grenze von dem, was die philosophische Tradition des Westens verstehen und aufnehmen kann, und sie lösen daher ihre tiefste Angst oder Hysterie aus, die Angst der Individualisierung. Diese Hysterie sollte nicht unterdrückt werden - wie es etwa in der Heideggerschen Konfrontation des Todes geschieht, welche die Verachtung der bloßen Biologie zum fundamentalen Prinzip der Authenti- Anspaughs Aufsatz ist ein wichtiger Begleittext zu diesem Kapitel. Er behandelt einige Punkte, die ich hier aus Platzgründen nicht ansprechen konnte: Kot als das Abjekte im Sinne Kristevas, die Beziehung zwischen Kot und Schreiben im Shem-Teil von Finnegans Wake ebenso wie die Beziehung von Joyces „exkrementaler Vision“ zu der von Rabelais und zu Bachtins Interpretation von Rabelais. 4 Zur dekonstruktiven Problematisierung der Mimesis vgl. Christine van Boheemen. The Novel as Family Romance: Language, Gender, and Authority from Fielding to Joyce. Ithaca: Cornell UP, 1987 (132-69). Sie schreibt: Ulysses „versucht den Logos neuzuschreiben und ihn für das zu öffnen, was er notwendigerweise ausschließen muss“ (163). Ich stimme jedoch nicht mit ihrem Urteil überein, dass Joyce sich am Ende für eine „Ganzheit“ entscheidet, die auf „einer oralen inkorporativen Strategie“ beruht (184). Für einen offeneren dekonstruktiven Ansatz zu Ulysses vgl. Patrick McGee. Paperspace. Style as Ideology in Ulysses. Lincoln University of Nebraska Press, 1988. Ulysses - 249 zität macht 5 , denn die hysterische Einsicht, dass die Erosion des logos - sogar bis an den Punkt des vollkommenen Sinnverlustes - und das Kot-Werden des menschlichen Körpers in ihrer Formlosigkeit letztlich nicht wirklich zu unterscheiden sind, hat ihren Wert. Ulysses sichert den Isomorphismus dieser Auflösungsserien auf der Ebene jener Nichtunterscheidbarkeit als Boden für ein verschwenderisches Erzeugen neuer Formen. Ist es immer noch Mimesis, wenn das Objekt der Darstellung das Formloswerden von Form ist? Es scheint klar zu sein, dass einige der besonders charakteristischen Effekte von Ulysses erreicht werden, indem die innere Logik der Mimesis bis an ihre Grenze ausgereizt wird. Dies geschieht vor allem durch Onomatopöie, welche auf eigenartig kondensierte Art den widersprüchlichen Charakter des realistischen Projekts deutlich macht. Idealerweise sollte eine Onomatopöie die unvermittelte Präsentation der Form des Repräsentierten sein, aber eine solche Präsentation würde das Medium der Sprache transzendieren, ohne die Onomatopöie unmöglich ist 6 . Onomatopöie ist daher eine Figur für den Abgrund am Rande der Mimesis. Form im Sinne der wiederholbaren Identität des Dinges - die aristotelische Definition, auf welcher die klassische Mimesis basiert - löst sich im onomatopoetischen Projekt auf. Und dieses Ende der Form hallt auf jeder Ebene von Ulysses wider, wo sich jede ontologische Sicherheit auflöst und die Angst der Individuation entfesselt wird. Mir geht es im Folgenden vor allem um die Frage, wie diese Angst, welche einerseits mit Onomatopöie und dem Untergang der mimetischen Form zusammenhängt, andererseits mit der Furcht vor Untreue verbunden ist. I Onomatopöie taucht in Ulysses häufig auf, besonders im Kapitel „Sirens“ (Kap. 11) 7 , welches mit dem Geräusch von Blooms Furzen endet, und in den animistischen Überlegungen von Bloom und Stephen über die Sprache lebloser Dinge wird ihr eine metaphysische Grundlage gegeben: „Horch: eine vierwortige Wellensprache: ssiissuu, hrss, rssiiiss, uuuss“ (W 71), denkt Stephen, als er die hereinkommende Flut beobachtet. Ähnlich sinniert Bloom, wenn er die Maschinen im Zeitungsbüro hört: „Sllt. Fast menschlich, die Art wie sie sllt einen aufmerksam macht auf sich [...]. So spricht ein jedes Ding auf seine Weise. Sllt.“ (W 171). Stephen und Bloom verstehen ihre Onomatopoeias als reinen Selbstausdruck der Realität. Diese Vorstellung von Selbstverkündigung wird auch angedeutet, wenn Stephen bemerkt, dass er hier sei, um die „Unterschriften aller 5 Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer, 17. Auflage 1993), 246-49. Siehe auch Kapitel 3. 6 Vgl. Derek Attridge. Peculiar Language: Literature as Difference from the Renaissance to James Joyce. Ithaca: Cornell UP, 1988. 156. 7 Die deutsche Ausgabe hat keine Kapitelüberschriften. 250 - Ulysses Dinge“, 8 zu „lesen“, da eine Unterschrift (zumindest theoretisch) das einzigartige Zeichen eines einzigartigen Individuums ist. Die Metapher des Lesens ruft eine Beziehung zum Ding auf, die weniger unmittelbar ist als die des Hörens, aber dennoch liest Stephen die „Unterschrift“ der Wellen, wenn er die „Wellensprache“ onomatopoetisch darstellt. Er lässt also Lesen und Hören zusammenfallen: die Unterschrift eines Dings wäre, wenn sie existierte, anders als die eines menschlichen Wesens, keine konventionelle Notation, sondern die Strahlung oder Resonanz der Quiddität des Dings. Selbst eine menschliche Unterschrift liegt jedoch, obwohl sie eine innerhalb der linguistischen Konventionen funktionierende Form von Schreiben ist, an der Grenze des Linguistischen. Selbst die lesbarste menschliche Unterschrift bleibt das stellvertretende Zeichen eines Eigennamens, des Namens eines endlichen, zufälligen Individuums, welches als Individuum nicht wiederholbar ist; daher impliziert oder beschwört der Name oder die Unterschrift, selbst wenn sie selber essentiell wiederholbar sind, die Präsenz einer absoluten Einzigartigkeit als ihren Grund oder Ursprung. Die Illusion dieser Präsenz entsteht vor allem durch die Isolation der Unterschrift oder Onomatopöie vom Netz der Syntax und des linguistischen Differenzsystems. Da diese Isolation mit der Einzigartigkeit des Wesens übereinstimmt, ist die Funktion der Unterschrift und der Onomatopöie analog zu dem des Demonstrativadjektivs in Bertrand Russels logischem Atomismus. Russell argumentiert in seiner atomistischen Phase, dass Wörter wie dies und das, wenn sie in der Präsenz der isolierten Einzelheiten ausgesprochen werden, auf welche sie im Moment der Äußerung verweisen, „im logischen Sinne die einzig wahren Namen“ seien 9 . Die Begegnung mit dem Realen wird hier zu der Art von Wahnsinn, welche Wittgenstein in seinem Porträt eines Philosophen satirisiert hat, der ein Objekt anstarrt und immer wieder „dieses“ sagt. 10 Die isolierte Unterschrift, die Onomatopöie, der Name oder das Demonstrativadjektiv weisen auf die Begegnung mit dem Realen hin, indem sie das vermittelnde Medium leugnen, das jedoch, wie Derek Attridge zeigt 11 , im Hintergrund steht und diesen Hinweis erst möglich macht. Von Platon an haben die Philosophie und oft auch die Literatur darauf gezielt, einen direkten Abdruck des Dings auf die Wahrnehmung oder Erkenntnis sicherzustellen und dies zumindest teilweise indem sie die Rolle der Sprache unterdrückt haben. Jacques Derrida hat behauptet, dass die platonische eidos (‚Idee‘) ihrem Wesen nach ein typos (‚Typus‘) ist, ein Modell, das direkt der Substanz der Seele ein- 8 Meine Übersetzung; VH. Wollschläger benutzt hier „Handschrift aller Dinge“ (W 53). 9 Bertrand Russell. The Philosophy of Logical Atomism. Ed. David Pears. La Salle: Open Court, 1985. 62-63. 10 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen/ Philosophical Investigations. The German text, with a revised English translation, transl. by G. E. M. Anscombe. Oxford, Malden/ Mass.: Blackwell, 3 rd Edition 2001. 16 (Nr. 38). 11 Attridge, Anm. 6, 136-57. Ulysses - 251 gedrückt werden kann. 12 Die von Aristoteles, dem in Ulysses wiederholt erwähnten Philosophen, vertretene Doktrin der Wahrnehmung ist noch deutlicher eine Doktrin des direkten Abdrucks. 13 Wo immer Wissen um ein Ding existiert, so Aristoteles, ist das Gewusste die eidos (‚Form‘) eines Dings, welche von der Sache ablösbar ist, in der es verkörpert ist. Wahrnehmung und Wissen sind keine vermittelten Verwandten eines Dings, das selber unzugänglich bleibt; sie stellen die tatsächliche Rezeption von der eidos des Dings durch die psyche (‚Seele‘) dar. Die von Aristoteles in Über die Seele erreichte Schlussfolgerung bezüglich dieser Analyse des Wissens, der Satz, der sein ganzes System zusammenfasst, wird von Stephen wiederholt zitiert: „die Seele als Form der Formen“ (Aristoteles, Über die Seele, 3.8). 14 Wenn Aristoteles den Prozess beschreibt, aufgrund dessen die Seele als „Form der Formen“ verstanden wird, benutzt er das „typographische“ Bild, das schon Platon verwendet hat: „Ganz allgemein ist von den Sinnen zu sagen, daß die Wahrnehmung ein Aufnehmen der wahrnehmbaren Gestalten ohne den Stoff bedeutet, so wie das Wachs das Zeichen des Siegelrings aufnimmt ohne das Eisen oder Gold; es empfängt wohl den Druck des goldenen oder ehernen Zeichens, aber nicht in seiner Eigenschaft als Gold oder Erz.“ (Aristoteles, Über die Seele, 2.12). 15 Onomatopöie, wie Stephen und Bloom sie sich vorstellen, führt die alte Vorstellung von dem direkten Abdruck des Realen auf die Psyche an ihre Grenze. Im weiteren Verlauf von Ulysses - und wie Karen Lawrence gezeigt hat, vor allem von „Aeolus“ (Kap. 7) an - wird die scheinbare Transparenz der Sprache jedoch unterminiert, indem die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Textualität des Textes gezogen wird. Man mag die onomatopoetische Phantasie als bloßes Zeichen für die Nostalgie nach der Präsenz lesen, welche das Werk als Ganzes dekonstruiert. Aber die Mimesis ist in Ulysses auf komplexe Art mit 12 Jacques Derrida. “Plato’s Pharmacy.” Dissemination. Trans. Barbara Johnson. Chicago: University of Chicago Press, 1981. 61-171 (108-113). 13 In Platons Theaitetos stellt Sokrates sich die Seele als einen „Wachsblock“ vor, in welchen man Wahrnehmungen oder Gedanken „eindrücken“ kann, „wie [man] den Abdruck eines Siegelringes eindrückt“ (191d). In der nachfolgenden Diskussion erklärt Sokrates das Modell jedoch als unzureichend. Vgl. Platons Sämtliche Werke in zwei Bänden. Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Wien: Phaidon, 1925, 1: 284-85: einen „wächsernen Guß, welcher Abdrücke aufnehmen kann [...] wie beim Siegeln mit dem Gepräge eines Ringes“. 14 In dieser Textstelle unterscheidet Aristoteles die rationale Fähigkeit (glossiert als „Form der Formen“), als dem höheren Teil der Seele, von der Empfindung (glossiert als „Form der empfindenden Objekte“) als dem niederen Teil. Aber dann erklärt Aristoteles, dass „die Form der rationalen Fähigkeit in den Formen der empfindenden Objekte enthalten ist“ („en tois eidesi tois aisthetois ta noeta esti“). Zu Joyces intensivem Interesse an und seinen Studien zu Aristoteles’ Schriften über den Geist und Mimesis vgl. Jacques Aubert. The Aesthetics of James Joyce. Baltimore: Johns Hopkins UP, 1992. 83-99, 131- 37. 15 Aristoteles. Über die Seele. Hg. und übertragen von Paul Gohlke. Paderborn: Schöningh, 2. Auflage 1953. 252 - Ulysses ihrer Dekonstruktion verwickelt. In „Aeolus“ etwa geht der Einbruch autonomer Textualität mit besonders auffälligen mimetischen Effekten einher; das Kapitel ist, um mit Lawrence zu sprechen, ein „witziges Wortspiel mit Form und Inhalt“ 16 . Die im Büro einer Zeitung stattfindende Szene klingt wider von der rhythmischen Bewegung typographischer Maschinen, und Überschriften der einzelnen Abschnitte sind Schlagzeilen nachempfunden und stellen den direkten Abdruck des Zeitungsmäßigen auf der Oberfläche des literarischen Textes dar. Sowohl Onomatopöie als auch das „Wortspiel mit Form und Inhalt“ von „Aeolus“ sind Typen von „imitativer Form“. 17 Während literarische Mimesis vorwiegend die semantischen und referenzielle Funktionen der Sprache nutzt, welche die arbiträre Beziehung zwischen Signifikat, Signifikant und Referent ins Spiel bringen, versucht die nachahmende Form, das zu verkörpern oder nachzuahmen, was repräsentiert wird - um etwas von der phänomenologischen Form des Referenten direkt in die sinnliche Substanz des linguistischen Mediums zu übertragen, wie es die Onomatopöie auf der Ebene des Klangs tut oder die Schlagzeilen in „Aeolus“ auf der Ebene der Typographie. Ulysses als Ganzes jedoch imitiert keine phänomenologische Form, sondern vielmehr deren Schaffung und Auflösung an der Grenze, an der die nachahmende Form von der Dekonstruktion nicht mehr zu unterscheiden ist. Indem Joyce sich über die referenzielle Funktion von Sprache hinaus auf die Ebene der nachahmenden Form begibt, erhöht er den philosophischen wie auch literarischen Einsatz seiner Dekonstruktion. Die Seiten von „Aeolus“ sind unmittelbar durch die Trope des unmittelbaren Abdrucks abgedruckt. Diese philosophische Trope ist für das Konzept der Wahrnehmung wesentlich, das die realistische Mimesis ermöglicht. Die Erzählung wird die rezeptive Substanz oder Stütze der Einschreibung, aber sie bekommt die Form von modernen Medien, von Werbung, Sensationalismus, Gerüchten und falschen Darstellungen - wie Blooms Bitte an den Reporter, der Liste von Trauernden bei Dignams Begräbnis einen Namen hinzuzufügen (W 158). Daher bildet diese Szene zwar das klassische Modell von der Seele als einem Medium für die direkte Einschreibung der Realität, von der Seele als der „Form der Formen“ nach, satirisiert sie aber gleichzeitig. Tiefer als die Möglichkeit der falschen Darstellung liegt jedoch das Prinzip des Todes, das der Trope des wahrhaftigen Abdrucks wesenhaft zu eigen ist. Die Seele ist ihrer innersten Natur nach das Lebende, reine Spontanei- 16 Karen Lawrence. The Odyssey of Style in Joyce’s Ulysses. Princeton: Princeton UP, 1981. 58 17 Derek Attridge spricht von „ikonischen” und „direkt nachahmenden Mitteln“: Attridge, Anm. 6, 136. „Ikonisch“ scheint jedoch ungeeignet, eine Imitation des Auflösungsprozesses zu beschreiben, und „Mittel“ verliert den Kontakt mit der Vorstellung von Form, auf die ich mich konzentriere; der alte Terminus imitative Form scheint für meine Zwecke am besten geeignet zu sein. Ulysses - 253 tät, ein Prinzip der Lebenskraft, welches sich der bloßen Materialität sinnlicher Eindrücke im Allgemeinen und der Schrift im Besonderen eingeben muss. Aber der Abdruck einer Type auf die lebendige Substanz ist eine mechanische Aktion: im Moment der Übertragung muss die Seele, wenn auch nur für einen winzigen Moment ihre Spontaneität aufgeben, um die Richtigkeit des Abdruckes zu sichern. Die typographische Maschinerie in „Aeolus“ funktioniert als ein hyperbolisches Bild von dieser Aktion des Todes und es figuriert daher als eine textuelle und linguistische Maschinerie, in welcher Tod, Untreue und mechanische Reproduktion unlöslich miteinander verbunden sind. 18 II Diese linguistische Maschinerie, die verschiedene Umkehrungen und „Spiegeltransformationen“ einschließt, wird besonders in Blooms Gedanken über die Fähigkeiten des Schriftsetzers bewusst gemacht: „Liests zuerst rückwärts. Mordsfix macht er das. [...] mangiD. kcirtaP.“ (W 172). Der typographische Abdruck ist hier ein Name, aber die Gegentype einer Unterschrift: der Name ist der eines Toten, der mechanisch reproduziert und durch die Anwendung eines mechanischen Umkehrungsprinzips entstellt wird - die Spiegeltransformation stellt den Tod als Operation von linguistischen und technologischen Mechanismen dar, welche der Präsenz eines lebenden Bewusstseins, das mit seinem eigenen Namen unterschreiben könnte, gleichgültig gegenüberstehen. Die Bedeutung des Todes wird in Ulysses in den Prinzipien von Umkehrung und Umkehrbarkeit zusammengefasst. Zum Beispiel endet die durch das „mangiD kcirtaP“ bei Bloom ausgelöste Assoziationsreihe mit dem „rückwärts“ Lesen der Haggadah seines Vaters, was wiederum zu dem Kommentar führt, dass „der Engel des Todes [...] den Metzger [tötet], und der tötet den Ochsen, und der Hund tötet die Katze. [...] Es soll Gerechtigkeit bedeuten, aber es heißt bloß, dass einer den anderen frisst. So ist das Leben eben letzten Endes.“ 19 Für Bloom drückt diese Stelle den transitiven Charakter der Beziehung zwischen Fressendem und Gefressenem aus, ein Phänomen, das sich auf der grammatischen Ebene als die Umkehrbarkeit von Subjekt und Objekt manifestieren würde. In diesem gegenseitigen Verschlingen ist jeder sowohl der Fresser als auch der Gefressene. 18 Vgl. Ziareks Diskussion zu „der Beziehung zwischen mechanischer Reproduktion und weiblicher Sexualität“; Ewa Ziarek. “The Female Body, Technology, and Memory in ‘Penelope’.” In: Richard Pearce, ed. Molly Blooms: A Polylogue on “Penelope” and Cultural Studies. Madison: University of Wisconsin Press, 1994. 264-84 (269). Anders als Ziarek sehe ich jedoch die Untreue in Ulysses nicht nur mit der Frau verbunden. 19 Leicht verändert gegenüber Wollschlägers Übersetzung: „und dann der Engel des Todes, der den Metzger schlägt, und dieser schlägt den Ochs, und der Hund schlägt die Katze. [...] Soll Gerechtigkeit bedeuten, aber heißt bloß, daß alles sich frißt, immer einer den andern. So ist das Leben eben, letzten Endes.“ (W 173) 254 - Ulysses Diese Umkehrbarkeit von aktiver und passiver Rolle ist in Ulysses nicht eine von vielen grammatischen Transformationen, sondern die formale Matrix der Mimesis. Die Transformation wird als formales Spiel in „Aeolus“ eingeführt, wenn ohne sichtbaren Grund ein Satz in seiner passiven Form wiederholt wird: „Plumpgestiefelte Fuhrleute rollten dumpfdröhnende Fässer [...] dumpfdröhnende Fässer, welche von plumpgestiefelten Fuhrleuten [...] hinaufgerollt worden waren.“ (W 164-5). Die mechanische Gleichgültigkeit dieses Objekt- Subjekt-Wechsels auf der oberflächlichen Ebene der Grammatik offenbart die grundlegende Auslöschung der Binarität von Aktiv- und Passivsein. Diese Auslöschung wirkt sich auf bestimmte feststehende Fakten der menschlichen Existenz besonders stark aus. Wie bereits bemerkt zählen dazu das (Fr)essen und der Tod, aber auch die Sexualität: „Sie küßte mich wieder. Ich wurde geküßt.“ (W 247). Shakespeare ist „Kuppler und Hahnrei. Er spielt und lässt sich mitspielen.“ (W 297). Und Bloom, der wie Shakespeare Kuppler und Hahnrei ist, hat eine „ feste[...] volle[...] männliche[...] weibliche[...] passive[...] aktive[...] Hand“ (W 852). Eine „passive aktive Hand“, wie eine Hand, die schreibt, die zusammenfügt und zergliedert. In Ulysses bringt die linguistische Form der (De)Komposition immer wieder die biologische mit sich, wie in Cunninghams „orthographische[r] Scherzaufgabe“, worüber Bloom denkt: “It is amusing to view the unpar one ar alleled embarra two ars is it? double ess ment of a harassed pedlar while gauging au the symmetry with a y of a peeled pear under a cemetary wall. Silly, isn’t it? Cemetary put in of course on account of the symmetry” (100; Kap. 7, Z. 166-70) [„Es ist greulich ehuh zu sehen, mit welcher beispiello doppel el sen Lieder jawohl ieh lichkeit ein selbstän ein esstee nur, oder? diger Händler die Symmetrie zweier geschälter Birnen unter einer zementierten Kirch haha hofsmauer mustert. Schöner Quatsch, was? Zementiert steht natürlich bloß wegen Symmetrie mit drin.“ (W 171)]. Diese Scherzaufgabe entsteht durch den quasi-phonemischen Charakter der englischen Schreibweise, die nur teilweise mit dem Klang des gesprochenen Wortes korrespondiert. Wie in „mangiD kcirtaP“ wird an dieser Stelle der alphabetische Charakter der geschriebenen Sprache betont; Worte beginnen sich in ihre Bestandteile zu zersetzen und einzelne Buchstaben gewinnen gleichsam Autonomie. Dennoch ist dieses Spiel der Auflösung in einen kompositorischen Rahmen eingebunden, der von Symmetrieeffekten beherrscht wird. Laut dem letzten Satz der zitierten Stelle ist cemetary „bloß wegen“ der Symmetrie mit symmetry eingefügt worden; aber auch embarassment und harassed sind „bloß wegen Symmetrie“ auf der Ebene von Klang und Alphabet da. Solch eine Symmetrie ist das Hauptprinzip des Wortspiels in Ulysses - etwa in Stephens “Oomb, allwombing tomb” (40; Kap. 3, Z. 402) [„Schluft. Allumschoßende Gruft.“ (W 69)]“, wo die Symmetrie der Wörter wieder an einen Friedhof denken lässt. Das Prinzip des Wortspiels und der linguistischen Symmetrie zieht das Wort cemetary [Kirch-, Friedhof] magisch in den Text, und wenn es erst einmal im Spiel ist, wird es zu einem Knotenpunkt, der textuelle Effekte produziert. Ulysses - 255 Die Textstelle hat auch eine sexuelle Resonanz, denn das „unter der Mauer“-Motiv taucht, ohne den „Kirchhof“, in „Nausicaa“ (Kap. 13) auf, wenn Bloom denkt: „Molly, wie Leutnant Mulvey sie unter der maurischen Mauer küßte, bei den Gärten.“ (W 518). In „Sirens“ denkt Bloom, während er in der Ormond Bar sitzt, an die „Symmetrie einer zementierten Kirchhofsmauer.“ (W 385). Und die Assoziation zwischen einem Friedhof und Küssen wird in „Hades“ weitläufig entwickelt: „Aber küssen würden sie ganz ordentlich [...]. Liebe zwischen den Grabsteinen.“ (W 152). Essen wird in diesem Satz ebenfalls angesprochen, denn die Birne ist „geschält“, zugerichtet, um sie im Schatten der Friedhofsmauer zu essen; es ist diese Birne, welcher die Symmetrie zugeschrieben wird (obwohl die Symmetrie des Buchstaben Y in der Scherzaufgabe dazwischenkommt). Die wesentliche Verbindung zwischen der Autonomisierung des Alphabets und der grundlegenden Umkehrung des Fressen/ Gefressen Werdens wird in „Lestrygonians“ (Kap. 8) in Großbuchstaben illustriert. Die Buchstaben sind H, E, L, Y und S, welche wie lebendige Figuren auf den Hüten der fünf “Sandwichmen” (Männern mit Reklamebrettern) durch Dublin wandern (127; Z. 123). 20 Wieder geht es hier um einen Eigennamen (einen Familiennamen genauer gesagt, welcher in einem Sinne „eigen“ ist, der schon das Ausfransen der Einzigartigkeit impliziert) und um das Entstellung des Namens - in diesem Fall durch seine partielle Auflösung: Y (warum schon wieder Y? ) verlässt seinen Platz, weil er hungrig ist. „Y, der etwas nachschwänzte, zog einen Klumpen Brot unter seinem Vorderbrett hervor, stopfte ihn in den Mund und mampfte im Weitergehen.“ (W 215). Es gibt keinen direkten Verweis auf den Friedhof, aber in Ulysses ist dieser jedes Mal impliziert, wenn es ums Essen geht, da „einer den anderen frisst“. Diese Redewendung meint nicht nur, dass menschliche Wesen sich gegenseitig verzehren, wie im Kannibalismus der Eucharistie, sondern schließt auch die Zirkulation lebendiger Wesen durch das Verdauungssystem anderer im Allgemeinen mit ein - zum Beispiel durch das der „feiste[n] graue[n] Ratte“ (W 161), die Bloom im Friedhof sieht. Für diese ist ein totes menschliches Wesen nur „[g]ewöhnliches Fleisch“ (W 161). Der brotessende Y ist selbst ein “Sandwichmann”, und Bloom kommt aus dem Metzgerladen, gierend nach den „Qualitätswürstchen“ (W 84) der Frau, deren „Schinken“ (W 84) vor ihm gehen. Jeder in Ulysses ist ein Sandwichmann oder eine Sandwichfrau, eine Sandwichperson oder eine Oblatenperson, wie Jesus, dessen Sakrament in dem Roman allgegenwärtig ist. „Dies ist mein Leib“, sagt Jesus im Lukas-Evangelium , wenn er sich selber zur Nahrung für seine Jünger erklärt, Fleisch in der Form von Brot (22.19). Bloom benutzt dieselben Worte, wenn er sich vorstellt, wie die „Blume“ seines Phallus im Badewasser schwimmt (W 122). In „Proteus“ (Kap. 3) vergleicht Stephen den Phallus des toten Mannes mit einem „spongy titbit“, einem „schwammigen Leckerbissen“, welcher von den Elritzen gefressen werden wird, die in seinen 20 Wollschläger: „Männer [...], Reklamebretter tragend“, W 215. 256 - Ulysses Hosenschlitz flitzen (41; Z. 477; W 72): diese Phallophagie präfiguriert die von Molly imaginierte Fellatio (W 1003). An dieser Aufrufung des Phallus ist nichts Phallozentrisches, denn dieser Phallus ist gewöhnliches Fleisch, dieser Buchstabe gänzlich unfähig, der Teilung zu widerstehen (Joyces vorherwissende Antwort auf Lacan). Das “spongy titbit”, das der Penis des toten Mannes ist, ist ein Echo auf das “prize titbit” des Logos, mit dem Bloom sich abwischt. Schlaff oder erigiert, passiv oder aktiv unterliegt der Phallus der universellen Umkehrbarkeit, welche den Zyklus der (De)Komposition kennzeichnet. Dieses den Text durchziehende Prinzip nenne ich „allgemeine Gastronomik“. Stephens Gedanken wandern von den am Penis des toten Mannes knabbernden Elritzen zu dieser Gastronomik: „Gott wird Mensch wird Fisch wird Bernikelgans wird Federbettenberg. Toten Odem atme lebend ich aus, trete toten Staub, verschlinge urinigen Abfall von allem Toten.“ (W 72). III Jeder Aspekt des organischen Lebens - vor allem die Sexualität - wird in Ulysses als ein Moment oder Aspekt eines allgemeinen Kreislaufs verstanden, deren wichtigste Figur das Essen und der Verdauungsprozess sind: „Und wir stopfen Futter in ein Loch und ’s hinten wieder raus“ (W 248), wie Bloom sagt. Ulysses als Ganzes ist die Epiphanie allgemeiner Gastronomik, die Heiligsprechung von Scheiße. Mollys von Bloom imaginiertes „leck mir die Scheiße“ (W1012) ist die logische Folge der gleichen Zirkulation oder gastrosexuellen Kommunion, die impliziert wird, wenn Bloom den schon halbverdauten Kümmelkuchen aus ihrem Mund annimmt („Sanft gab sie mir in den Mund den Kümmelkuchen, warm und gekaut. [...] Freude: ich aß ihn: Freude.“ (W 247)). 21 „Da treffen sich beide Enden.“ (W 152), denkt Bloom in „Hades“. Aber Molly, die hier die priestergleiche Verteilerin von Kommunionsnahrung ist, stellt sich an anderer Stelle vor, etwas „wie Haferschleim“ (W 1003) aus Stephens Penis zu trinken. Die Frau ist in dieser allgemeinen Gastronomik nicht mehr und nicht weniger mit dem Körper oder mit Essen verbunden als der Mann: „Ich bin die Opferbutter“, denkt Stephen in „Scylla“ (W 261). Dennoch ist die Funktion von Molly innerhalb der allgemeinen Gastronomik von Ulysses bestimmt durch ihre dialektische oder dekonstruktive Kraft und den Gegensatz zur idealisierenden Tradition, die immer noch einen großen Einfluss auf Stephen hat. Mollys Gastrosexualität ist in abstrakter Weise eine Antwort auf sein Begehren („Und wann bin ich dran? Wann? “ (W 268)), aber in konkreter Hinsicht mag sie sein Alptraum sein, da er immer noch in einer Ideologie verfangen ist, welche die Vergänglichkeit des Körpers mit einem moralischen und metaphysischen Ma- 21 Wollschläger übersetzt hier Mohnkuchen statt Kümmelkuchen. Vgl. Karen Lawrence. “Legal Fiction or Pulp Fiction in ‘Lestrigonyians’.” In: Ulysses: Engendered Perspectives. Ed. Kim Devlin and Marilyn Reizbaum. Austin: University of Texas Press, 1997, zur Diskussion des sakramentalen Charakters des Kümmelkuchenkauens. Ulysses - 257 kel assoziiert, der mit Sexualität verbunden ist. In Reaktion auf sein ambivalentes sexuelles Bedürfnis („in meines Geistes Dunkelheit ein Faultier der Unterwelt“ (W 37)), denkt Stephen an Aristoteles und die „[r]uhige Klarheit“ (W 37) des grundlegenden Satzes „die Seele ist Form der Formen“ (W 37), als ob sie ihn vor der „Sünde von Paris“ (W 37) bewahren könnte. In einer der westlichen Kultur unvorstellbaren Geste stellt Ulysses eine schöne Heldin vor, die sich selbst befriedigt, die promisk und voller Leichengas ist. 22 Stephen nennt den Ertrunkenen „[e]in[en] Sack Leichengas, schwampend in fauliger Lake“ (W 72) und Mollys menstruierender, urinierender und furzender Körper entspricht nicht der archetypischen mütterlichen oder väterlichen See, in welcher der Ertrunkene schwimmt, sondern dem aufgeblähten, sich zersetzenden Körper des Toten. Im Friedhof assoziiert Bloom das Leichengas explizit mit Mollys Blähungen: „Molly kriegt Blähungen immer nach Kohl. [...] sie [müssen] manchmal ein Loch in die Särge bohren, um das Faulgas abzulassen und zu verbrennen.“ (W 146-47). Die „allumschoßende Gruft“ ist daher auch ein Anus oder hat einen Anus, ein Loch, durch das giftige Gase entweichen, und diese Gleichstellung oder analoge Beziehung erinnert daran, dass die Verdauung eine Form der Zersetzung ist, der zentrale Schaltpunkt, durch den Ulysses seine vielen Figuren bewegt. Der Magen ist ein Sarg, in welchem sich tote Wesen auflösen. Diese Figuren sind alle Aspekte von „jener nemlichen vilfelltigen concordantia“ (W 552), über die Stephen in „Oxen“ nachdenkt (Kap. 14). Diese wird durch die „retrogressivam metamorphosim“ (W 552) von „wachstumb [...] von geburds an“ (W 552) impliziert, einem Prozess, durch den „all ding letz zil vnd ende zusam stimbt [...] mit ihrn anfeng vnd ursprüng“ (W 552). Im Kontext einer Diskussion über Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt vermischt sich in Stephens Kopf die „retrogressive“ Bewegung von „abnemen vnd verlöschen“ (W 552) mit dem Streben nach einem aristotelischen Ende (telos or entelecheia). 23 Im Gefüge von Ulysses ist „Oxen“ die antiphonale Antwort auf oder chiastische Inversion von „Hades“, wo das vorherrschende Thema Tod und Zersetzung ist. Schwangerschaft wird in „Oxen“ als die Komposition beschworen, deren Dekomposition die Fäulnis ist. Ebenso wie Mr. Power und Stephen Dedalus, ohne von Blooms Vater zu wissen, Selbstmörder in „Hades“ als Feiglinge beschimpfen, macht Stephen, der nichts von Rudy weiß, in „Oxen“ eine makabre und sehr komische Bemerkung über Neugeborene als „staggering bob“ (W 590), was, wie uns erzählt wird, „in der gemeinen Umgangssprache der niederen Klassen unserer Schankwirte das koch- und eßbare Fleisch eines 22 Zu Mollys Verhältnis zu ihrem sozio-kulturellen Kontext vgl. Richard Pearce, ed. Molly Blooms: A Polylogue on “Penelope” and Cultural Studies. Madison: University of Wisconsin Press, 1994. 23 Vgl. die Darstellung dieser Diskussion in Richard Brown. James Joyce and Sexuality. Cambridge: Cambridge UP, 1985. 63-78. 258 - Ulysses frisch vom Muttertier geworfenen Kalbes bezeichnet.“ (W 590). Wie es weiter heißt, stellt Stephen fest, daß ein allesfressendes Wesen, welches so mannigfaltige Lebensmittel wie kanzeröse, durch Partus ausgezehrte Frauen, korpulente berufstätige Herren, gar nicht zu sprechen von hepatitischen Politikern und chlorotischen Nonnen, in allervollkommenster Unerschütterlichkeit kauen, schlingen, verdauen und durch den gewöhnlichen Kanal wieder ausscheiden kann, möglicherweise in einer unschuldigen Kollation staggering bob gastrische Erleichterung finden könnte [...]. (W 590) Die Identität des „allesfressenden Wesens“ ist nicht klar; der offensichtlichste Kandidat ist die Made („your worm is your only emperor for diet“, sagt Hamlet (4.3.21)), aber es gibt da auch noch die feiste graue Ratte vom Friedhof, und natürlich sind auch die Menschen Allesfresser, und einige von ihnen mögen sogar den Geschmack beginnender Zersetzung („es gibt Leute, die mögen verdorbenes Wild“, denkt Bloom in „Lestrygonians“ (W 245)). Insoweit diese Textstelle an den Weg des Menschen durch die Gedärme einer Made erinnert, beschreibt sie den Mikroprozess des Verdauungszyklus, den Moment der äußersten Inversion oder Introversion im Fressen/ Gefressenwerden-Zyklus. (Aber gibt es da nicht ein tiefes Pathos und sogar eine sakrale Resonanz in der Beschwörung der „unschuldigen Kollation“, ein leises Echo auf den neugeborenen Jesus und die Eucharistie ebenso wie auf Rudy Bloom? ) IV In der Gastronomik von Ulysses wird die biologische Zersetzung formal als Textualität dargestellt, und Onomatopöie, die Figur repräsentationeller Fülle, bietet einen Ansatzpunkt für die textuelle Auflösung. In Stephens und Blooms Gedanken erscheinen „sllt“ und „ ssiissuu [...] uuuss“ als Laute; aber im Text erscheinen sie wie „mangiD kcirtaP“ als unkonventionelle Gruppierungen von Buchstaben. Und indem sich die englische Sprache in ungewohnte und manchmal unaussprechliche Buchstabengruppen auflöst (wie im „mkgnau“ von Blooms Katze (W 77)), wird der quasi-phonemische Charakter ihres Alphabets wiederum in den Vordergrund gerückt. Auf diese Weise wird die gesamte Mimesisproblematik auf ihre elementarste Ebene zurückgeführt, denn das Alphabet ist eine auf Konventionen beruhende Notation, welche die Laute der Sprache zu repräsentieren sucht und damit proto-onomatopoetisch ist. Das ABC ist das „in Lettern setzen“ der Lautelemente, aus denen sich Bedeutung zusammensetzt. Und wie gewöhnliche Onomatopöie, wenn auch radikaler, beruht das Alphabet auf der Zersetzung von Sinn, denn die durch das Alphabet dargestellten bedeutungstragenden Laute existieren „in der Natur“ nur als Bestandteile von Wörtern oder Äußerungen, die höhere Ebenen der Integration repräsentieren. Wenn diese höheren Ulysses - 259 Ebenen der Integration in ihre kleinsten Bestandteile zerlegt werden, bleibt (in Form von Buchstaben) nur ein Überrest der Bedeutsamkeit, der für sich genommen jedoch bedeutungslos oder von verschwindender Bedeutung ist. Obwohl die Buchstaben „in der Natur“ nicht als isolierte Einheiten funktionieren, da sie nur Zeichen eines linguistischen Systems von Unterschieden sind, werden sie als individuell zu manipulierende Einheiten verfügbar, sobald die alphabetische Analyse durchgeführt worden ist. Und sobald die Buchstaben verfügbar sind, kann die Sprache als ein „Kombinatorium“ operieren, welches Worte, Äußerungen und Diskurse einfach durch Kombinationen von Buchstaben produziert. So ein Prozess lässt sich etwa in „Ithaca“ (Kap. 17) in der Aufzählung der Anagramme beobachten, die Bloom einst aus seinem Namen gemacht hat: Ellpodbomool Molldopeloob Bollopedoom Old Ollebo, M. P. (W 857) Anders als „mkgnau“ folgen diese Anagramme den Regeln der Silbenbildung im Englischen. Obwohl sie zum größten Teil bedeutungslos sind, deuten sie hier und da auf eine aleatorische Entstehung von Bedeutung hin, wie in „Moll dope“. „Old Ollebo, M. P.“ suggeriert ein anderes mögliches Leben für Bloom, eines, das eine Karriere in der Politik und einen anderen Namen mit sich gebracht hätte - aber „Bloom“ ist sowieso nicht sein „richtiger“ Name. „Old Ollebo, M. P.“ könnte der Beginn einer Geschichte sein, denn die nächste Sektion von „Ithaca“ hätte sich leicht aus der Biographie dieses alternativen Blooms entwickeln können („Welche Zukunftskarrieren waren für Bloom in der Vergangenheit möglich gewesen und nach welchen Vorbildern? “, fragt der Erzähler wenig später (W 873)). Die Erzählung ist ebenfalls das Produkt des generativen Formalismus der Sprache, der Prinzipien des alphabetischen Kombinatoriums. Die Autonomisierung der verschiedenen Sprachmaschinen wird durch eine Analogie mit der Mathematik besonders deutlich gemacht. Wenn Stephen und Bloom sich gegenseitig einige Lettern des irischen und hebräischen Alphabets aufschreiben, erklärt Bloom die „arithmetischen Werte“ der hebräischen Buchstaben (W 871). Dann wird durch Mathematik eine hypothetische Biographie entwickelt, wenn Bloom durch „kreuzweise Multiplikation von Schicksalsschlägen“ und „durch Eliminierung aller positiven Werte“ „zu einer negativen irrationalen unwirklichen quantité négligeable“ im „Nadir des Elends“, einem „sterbenskranke[n] schwachsinnige[n] Arme[n]“ gemacht wird (W 922). Dies ist nicht wirkliche Mathematik, dennoch gibt es eine strukturelle Analogie zwischen den diskursiven und den mathematischen Mechanismen, die, wenn sie einmal in Gang gesetzt worden sind, in konsequenter, unerbittlicher und arbiträrer Weise ihre Ergebnisse entwickeln - arbiträr in dem Sinne, dass diese 260 - Ulysses Ergebnisse nicht durch eine bestehende Wirklichkeit diktiert werden. „Man kann machen, was man will, wenn man mit Zahlen jongliert“, denkt Bloom in „Sirens“ (W 385). Die Kombination von mathematischer Unerbittlichkeit mit Willkürlichkeit wird in der vielleicht verrücktesten Stelle von „Ithaca“ deutlich, wenn Stephens und Blooms zukünftige Alter durch das Verhältnis ihrer Alter im Jahre 1883 berechnet werden: „wo Stephen 22 war, [wäre] Bloom 374 geworden, und 1920, wenn Stephen 38 sein würde, wie Bloom jetzt war, würde Bloom 646 geworden sein“ und so weiter (W 859). Wenn die Mathematik einerseits die Autonomie des reinen Formalismus darstellt, so ist sie, wie Philosophen seit Pythagoras und Platon betont haben, aber gleichzeitig auch der verlässlichste Ausdruck des Realen, und Joyce bombardiert den Leser in diesem Kapitel mit Zahlen, die abmessen, verweisen und benennen. Der reinste Formalismus mag der Besonderheit des Realen gänzlich gleichgültig gegenüberstehen, aber er fängt das Reale im Netz einer abstraktiven Universalität ein. 24 Wie Hegel bemerkt, ist Universalität selbst ein Element von „Dieses! “: „was wir sagen ist: Dieses, das heißt das allgemeine Diese; [...] Wir stellen uns dabei freilich nicht das allgemeine Diese [...] vor, aber wir sprechen das Allgemeine aus“ 25 . Das Universelle oder die Form (eidos), die Referenz erst möglich macht, löst gleichzeitig die Besonderheit auf. Die Automatismen von Mathematik und Sprache machen die Unmenschlichkeit des Universellen offenbar, welche in einer unerbittlichen Bewegung die Form des Individuellen gleichzeitig schafft und auflöst. Die unendliche Ausdehnung des Makrokosmos und die unendliche Teilbarkeit des Mikrokosmos, über welche Bloom nachdenkt (W 885-86), haben ihre logische Folge in den unendlich rekursiven Mechanismen mathematischen Schreibens. Bloom kennt eine Zahl, die dreiunddreißig tausendseitige Bände füllen würde, „de[n] Kern des Nebelflecks einer jeden Ziffer einer jeden Reihe[, der] in Kurzfassung die Potentialität enthielt, bis zur äußersten kinetischen Resultante einer jeden Potenz einer jeden seiner Potenzen gebracht zu werden.“ (W 886). Diese unendliche Ausdehnung stellt eine Bedrohung für die Existenz des selbst-identischen Individuums dar, sogar der Gesamtheit solcher Individuen. Daher erwähnt der Text sofort nach der Ausdehnung von Blooms und Stephens zukünftigem Alter über menschliche Grenzen hinaus „die Inauguration einer neuen Ära oder eines neuen Kalenders, die Annihilierung der Welt und, daraus unvermeidlich, doch nicht vorhersagbar folgend, die Eliminierung der Menschenart“ (W 859). Ich habe den Fokus zuvor auf den Wahnsinn der Besonderheit gerichtet; „Ithaca“ beschwört den Wahnsinn der Universalität als der Unermesslichkeit des Kosmos oder der unendlichen Ausdehnbarkeit einer rekursiven Serie. Wenn die Mechanismen linguistischer Generativität mit denen der Natur iso- 24 Zu Form und dem Universellen als klassischem Problem der Philosophie vgl. vom Verf., Wittgenstein und Derrida. Lincoln: University of Nebraska Press, 1984. 5-8. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. Berlin Wien: Ullstein, 2. Aufl. 1973. 67. Ulysses - 261 morph sind, liefert diese Tatsache nur schwachen Trost. Als Stephen weggeht, fühlt Bloom „[d]ie Kälte des interstellaren Raums, tausende von Graden unter dem Gefrierbeziehungsweise dem absoluten Nullpunkt von Fahrenheit, Celsius oder Réaumur“ (W 893) und flieht in die „menschliche[...]“ Wärme von Mollys Körper mit seiner „überlegene[n] Qualität“ der „(reifen weiblichen) [...] Erwärmung“ 26 . Diese Sehnsucht nach Wärme spiegelt einen Moment in „Hades“ wider: „Lebendige warme Wesen nah sich fühlen. Laßt die hier doch schlafen in ihren madigen Betten. Mich kriegen sie nicht dazu ran, mich nicht. Ich bin für die warmen Betten: warmes blutvolles Leben.“ (W 162). In beiden Textpassagen wird ein durch einen menschlichen Körper erwärmtes Bett als Gegenmittel für eine unmenschliche Kälte gesehen: die Kälte des Alls, einer unendlich rekursiven Serie oder des Grabes. Am Ende jedoch wird die Begegnung mit Mollys Bett diese Antithese nicht aufrechterhalten können. V Eines sollte inzwischen deutlich geworden sein: wenn Bloom sich mit einer erfundenen Geschichte den Hintern abwischt, ist es kein bloßer Witz, darin ein Zusammentreffen von Sprache und Realität dargestellt zu sehen. Wo die beiden durch diese Begriffe bezeichneten Serien der Zersetzung zusammenfließen, entsteht kein Realitätseffekt, sondern ein Realitätsaffekt. Der Realitätsaffekt ist Angst, die durchdringende, überwältigende, grenzenlose Angst der Individuation, die Angst, eine zufällige Einzelheit zu sein. Eine zufällige Einzelheit zu sein, bedeutet, dass man ebenso gut nicht existiert haben mag und ganz sicherlich aufhören wird zu existieren (und aus diesem Ende folgt die Zersetzung des Körpers); es bedeutet auch, dass man Mitglied einer Art ist, d.h. eine Größe, die einer rekursiven Operation unterliegt, welche eine unendlich ausdehnbare Serie von Größen hervorbringt. Weil es einen so besonders zufällig und ersetzbar fühlen lässt, wenn man Objekt einer Untreue ist, setzt dieser Umstand eine Angst des Nichtseins in Gang, in welcher der Schmerz des Todes widerklingt. Dennoch ist hier nicht Bloom, sondern Blazes das Opfer des Witzes, weil Untreue eine transzendentale Struktur ist, die zur eigentlichen Natur der Individuation als Mitgliedschaft einer Art gehört. Blazes ist es, der auf Eros hereinfällt; Bloom, „[w]enn er gelächelt hätte“, hätte bei dem Gedanken gelächelt, dass „jeder, der hereinkommt, sich einbildet, er sei der erste, der hereinkommt, während er doch immer der letzte einer vorangegangenen Reihe ist, selbst wenn er der erste einer nachfolgenden ist, [...] weder der erste noch der letzte noch der einzige und alleinige ist in einer Reihe, die im Unendlichen beginnt und ins Unendliche sich fortsetzt.“ (W 930). Die Liste von Mollys Liebhabern, die von der Forschung nicht länger wörtlich verstanden wird, macht dies deutlich. Den Witz der unendlichen Serie, dessen Kehrseite eine extreme Angst ist, kümmert es nicht, wie viele Männer Molly gefickt hat, und 26 Bei Wollschläger steht: „(reifes Weib) [...] Erwärmung“ (W 926). 262 - Ulysses (so rigoros ist seine Logik) nicht einmal Molly selber ist von Bedeutung für ihn. Der springende Punkt ist die nicht vorhandene Einzigartigkeit des Individuums, die Macht des Universellen, des Eros, des Arterhaltungstriebs als der Vernichtung des zufälligen Individuums. Das Prinzip der Untreue gehört zum Wesen des sexualisierten Wesens (ob hetero- oder homosexuell): es ist immer schon Teil nicht nur des sexuellen Akts, sondern der Liebe selber, vor allem in ihren leidenschaftlichsten Formen, in denen das Selbst sich vergisst. Blooms potentielles Lächeln steht zwischen Komödie und Tragödie, zwischen zwei Perspektiven auf das gleiche Phänomen: den (komischen) Triumph der Art, der eins ist mit dem (tragischen) Ende des Individuums. In Shakespeare ist dies die Perspektive des Hahnreis; in Joyce ist dieser Hahnrei der bewusste Agent seines eigenen Betrogenwerdens, „Kuppler und Hahnrei“, Handelnder und Objekt der Handlung. Er mag als solcher die Figur einer Tragödie sein: „der hörnertolle Jago, der unaufhörlich will, daß der Mohr mit ihm leide.“ (297). Oder er mag an einer manischen Komödie teilnehmen: BLOOM (die Augen wild aufgerissen, legt bei sich selber Hand an): Zeig’s ihr! Rein! Zeigs ihr! Pflüg sie durch! Mehr! Schuß! BELLA, ZOE, FLORRY, KITTY: Ho ho! Ha ha! Hi hi! (722) In jedem Fall repräsentiert der Hahnrei das Individuum als den entbehrlichen Abfall des Artentriebs; aber da jeder dieses Schicksal teilt, kann das Kuppler- Hahnrei-Sein als eine repräsentative und letztlich sakramentale Haltung gelesen werden. Die Sakramentalisierung besteht darin, dass der Vorgang von „Leben/ Tod“ oder Universalität, jener Prozess, den ich (De)Komposition genannt habe, am individuellen Körper deutlich gemacht wird und dass in diesem Prozess die Gemeinsamkeit aller durch die Gedärme der Universalität zirkulierenden Wesen erkannt wird. Aber bevor es zur erotischen Epiphanie der allgemeinen Gastronomik kommt, gibt es eine grenzenlose Angst. Stephens Beschäftigung mit Aristoteles’ Doktrin der Möglichkeit macht diese Angst offenbar. Der Tod seiner Mutter löst in Stephen, dessen Ambivalenz gegenüber der Sexualität bereits erwähnt wurde, die Angst aus, dass er als Säugling hätte sterben können, dass er abgetrieben oder sogar durch Verhütung oder Masturbation verloren hätte werden können, bevor er empfangen werden konnte - „unmöglich gemacht“ wie all die anderen „gottmüglichen selen welche allnächtlich wir unmüglich machen vnd zunichte“, wie er in „Oxen“ sagt (W 546). Das Thema der „Unmöglichmachung“ wird zuerst in „Nestor“ eingeführt (Kap. 2), wenn Stephen über die Tode von Pyrrhus und Caesar nachdenkt, und überlegt, dass damit all die „unbegrenzten Möglichkeiten“ „ungenutzt gelassen“ wurden, deren Platz sie eingenommen haben (W 36-37). Dann fragt er sich, ob diese anderen, nicht aktualisierten Möglichkeiten wirklich möglich waren, „angesichts dessen, daß sie niemals waren“ oder ob „allein das möglich [war], was sich auch wirklich begab“ (W 37). Dann identifiziert Stephen sich Ulysses - 263 mit dem toten Sargent, wenn er denkt, dass seine eigene tote Mutter „ihn bewahrt [hatte] davor, unter Füßen zertrampelt zu werden“ (W 40). Am Anfang von „Proteus“ schließt er die Augen gegenüber der „[u]nausweichliche[n] Modalität des Sichtbaren“ (W 53) und fragt sich, ob er sie einfach verschwinden lassen kann, aber kommt zu dem Schluss, dass seine Existenz nicht essentiell ist, denn „[a]llzeit dort außerhalb deiner jetzt und immerdar: Welt ohne Ende.“ (W 54). Als er die Hebamme Florence McCabe sieht, erinnert er sich sofort daran, dass eine Hebamme ihn, „ein quäkendes Etwas“, „ins Leben gezerrt“ hat, und spekuliert, dass es eine „Fehlgeburt“ sein muss, die sie in ihrer Tasche trägt (W 54). Stephen versucht sich zu versichern, dass sein Leben niemals Subjekt der Kontingenz war: „Vor der Äonen Anbeginn hat Er mich gewollt und wird nicht hinweg mich wollen jetzt noch jemals.“ (W 54). Wenn Stephen sich in „Scylla“ mit der Frage seiner eigenen Existenz und Identität auseinandersetzt, zitiert er Aristoteles’ Formel, dass „Notwendigkeit [...] dasjenige [ist], kraft dessen es unmöglich ist, daß eines etwas anderes sein kann.“ (W 270). Die Formulierung „Form der Formen“ (W 266) taucht noch einmal auf, um Stephens Selbst-Identität zu sichern: „Moleküle ändern sich alle. Ich bin jetzt ein ander Ich. [...] Aber ich, Entelechie, Form der Formen, bin ich kraft Gedächtnis, weil unter immer sich ändernden Formen.“ (W 266). Dennoch gleitet er durch das Pronomen in der 1. Person (im Englischen „I“) zurück in die Suppe der Alphabetizität: I that sinned and prayed and fasted. A child Conmee saved from pandies. I, I and I. I. A. E. I. O. U. (156; Z. 210-13) Ich, der gesündigt, gebetet und gefastet. Ein Kind, das Conmee vor Schlägen auf die Hand bewahrte. Ich, ich und ich. Ich. A. E. I. O. U. (W 266) Das Problem der sich im Flux befindenden Materie in Stephens Körper wird in einer komplexen Textpassage wieder aufgegriffen, die das Thema der zwei (de)kompositionellen Serien mit einer der vorherrschenden Fragen von „Scylla“ verbindet - der Vater-Sohn-Beziehung: Wie wir, oder Mutter Dana, unsere Körper weben und entweben, sagte Stephen, von Tag zu Tag, unter fortwährendem Herüber- und Hinüberschießen der Moleküle, so auch webt und entwebt der Künstler sein Bild. Und wie das Mal [engl. mole] auf meiner rechten Brust genau noch da ist, wo es war, als ich geboren wurde, obschon mein ganzer Körper im Lauf der Zeit aus neuem Stoff gewoben worden ist, so blickt auch durch den Geist des ruhelosen Vaters das Bild des nicht-lebenden Sohns. (W 272-73) 264 - Ulysses Stephen zieht eine Analogie zwischen seinem Muttermal und dem verinnerlichten oder verkörperten Bild des „nicht-lebenden Sohns“. Der Signifikant mole [dt. Muttermal, aber auch Maulwurf] ist in Hamlet der Knotenpunkt für ein dichtes assoziatives Cluster 27 . In Shakespeares Drama bezeichnet Hamlet seinen Vater als “old mole” [alten Maulwurf; 205] und von sich selber spricht er als “some vicious mole of nature” [schlimmes Muttermal; 198] (1.5.162, 1.4.24). Obwohl Stephen es als ein Prinzip der Permanenz über die Veränderung hinweg bezeichnet, deutet mole auf ein Netz von Identifikationen hin (es schließt zumindest die Paare Shakespeare und Hamlet, Hamlet und seinen Vater, Leopold und Rudy, Hamlet und Gertrude, Stephen und Mrs. Dedalus ein), das ein Knäuel ambivalenter Gefühle mit sich bringt: Trauer, Schuld und sexuelle Angst. Da Stephen sich in seiner Angst, was seine eigene mögliche Verunmöglichung betrifft, mit einem toten Sohn identifiziert („Ich bin in seinem Sohn.“ (W 273)), und da Bloom ein „ruheloser Vater“ ist, der immer noch seinen toten Sohn betrauert, mag man annehmen, dass Stephen und Bloom auf einer Ebene der gemeinsamen Angst kommunizieren, Angst über die Fragilität der Existenz des Sohns - die Verunmöglichung, die den einen Sohn schon eingeholt hat (Rudy) und ebenso leicht den anderen hätte ereilen können (Stephen). 28 Blooms Trauer um Rudy vermischt sich mit seiner Angst vor dem Tod und der Verwesung, welche ihn, den Liebhaber von Innereien, die Attraktionen des Vegetarianismus bedenken lässt (W 239), anscheinend als Nachwirkung seiner Überlegungen zur Verwesung auf dem Friedhof. Stephens Sein wiederum wird beeinträchtigt durch den Tod seiner Mutter, seine Armut, seine Demütigung durch Mulligan und sein Empfinden, in seiner Berufung versagt zu haben oder sie zumindest nicht bewiesen zu haben. Er identifiziert sich mit seinem Schatten („Form meiner Form“ (W 69)), aber in dem Moment, in dem sich das Ich (engl. „I “) im Alphabet auflöst, geht auch diese Form im kosmischen Unendlichen auf, und fließt damit über die Grenzen seines individuierten („endlichen“) Seins hinaus: „Warum nicht endlos bis zum fernsten Stern? [...] Ich werf’ diesen endlichen Schatten ab von mir, Menschengestalt, unausweichlich, ruf’ ihn zurück. Doch wär’ er, endlos, meiner noch, Form meiner Form? “ (W 69). Eine Angst und ein Schmerz sind sowohl für Bloom als auch für Stephen untrennbar miteinander verbunden. Die unbeendete Trauer um ein Kind, das nie gewesen ist oder doch fast nicht, sondern das nur gerade lang genug existiert hat, um einen Namen zu bekommen und ein Begräbnis zu verdienen, 27 Ned Lukacher. Primal Senses. Literature, Philosophy, Psychoanalysis. Ithaca: Cornell UP, 1986. 212-129. 28 Vgl. Rabatés Diskussion von Bloom als dem symbolischen Vater Lacans; Jean-Michel Rabaté. “Fathers, Dead or Alive, in Ulysses.” In: James Joyce’s Ulysses. Ed. Harold Bloom. New York: Chelsea, 1987. 81-98. Ulysses - 265 scheint für Bloom zum Abbruch des Geschlechtsverkehrs mit Molly zu führen. 29 Warum es nicht noch einmal versuchen, wenn Molly denkt, dass sie ein weiteres Kind haben möchte? Vielleicht hat Bloom Angst, den gleichen Schmerz noch einmal zu erleben, oder vielleicht hat er eine Phobie gegen die Ausstoßung seiner Substanz in die Vagina einer Frau. 30 In jedem Fall ist das, was er erlebt, die große Angst der Individuation. VI Molly mag untreu sein (ebenso wie Bloom es zumindest im Geiste ist), aber sie hintergeht Bloom nicht. Zwischen den beiden besteht ein unausgesprochenes Verständnis. Dennoch wird deutlich, wie extrem traumatisch die Sache für Bloom ist, wenn er Blazes den ganzen Tag physisch meidet und im Geiste vor dem Gedanken zurückschreckt, zu dem er doch immer wieder zurückkehrt. Die psychopathia sexualis von „Circe“ (Kap. 15) macht die massive libidinöse Aufladung, die Mollys Untreue für Bloom mit sich bringt, explizit, eine Aufladung, die wie Elektrizität in die letzten Wurzeln seiner Sexualität schießt und fantasmatisch deren „perverseste“ Möglichkeiten erleuchtet. (Ich benutze „pervers“ als Kurzschrift, obwohl Ulysses lehrt, dass das, was heute Perversion genannt wird, bloß der unterdrückte Teil der Sexualität ist.) Auf der untersten Ebene schließt die sexuelle Ökonomie eine Serie von (grammatischen) Umkehrungen und Aktiv-Passiv-Transformationen ein: männlich/ weiblich, Sadismus/ Masochismus, Lust/ Schmerz. In „Circe“ hat Bloom eine Vagina, er will bestraft werden, er masturbiert, während er zusieht, wie Molly mit Blazes schläft. Die Vorstellung von Blooms Voyeurismus und Masturbation bringt jenes Ereignis auf die Bühne, um welches herum der ganze Roman konstruiert ist. Blooms physische und mentale Wanderungen stellen eine endlose Anspielung auf dieses Ereignis dar, welches in seiner realen, fiktionalen Präsenz nicht repräsentiert wird. Und von vier Uhr nachmittags an rückt der Moment der tatsächlichen physischen Begegnung mit der Szene und den Zeichen der Vollziehung ebenso wie mit dem Körper der (weiblichen) Täterin immer näher. In dieser Situation scheint Bloom auf direkte Weise an den Akt zu denken und kompromisslos das aufrichtigste verfügbare Verb zu benutzen. In einer Textpassage, die selbst in Ulysses ob ihrer umsichtigen Periphrase auffällt, reflektiert Bloom über de[n] natürliche[n] grammatikalische[n] Übergang eines Satzes im Aorist (gegliedert in maskulines Subjekt, bisyllabisches onomatopoetisches transitives 29 Meine Überlegungen zum Verhältnis von Molly und Leopold verdanken James Mc- Michaels viel: Ulysses and Justice. Princeton: Princeton UP, 1991 (172-94). 30 Zu dieser weit verbreiteten Angst, die sowohl in der Geschichte der westlichen Kultur und in anthropologischen Berichten über nicht-westliche Kulturen oft beschrieben wird, vgl. Gilbert Herdt und Robert J. Stoller. Intimate Communications. New York: Columbia UP, 1990 (145, 81-83, 188-89). 266 - Ulysses Verb mit direktem femininem Objekt) durch einfache, keine Sinnveränderung bewirkende Inversion aus dem Aktiv in das Korrelat eines Satzes im Aorist Passiv (gegliedert in feminines Subjekt, Hilfsverb und quasibisyllabisches onomatopoetisches Partizip Perfekt mit komplementärem maskulinem Agens) (W 934) Die hier beschriebene Proposition ist offensichtlich „Er fickte sie“, mit dem passiven „Korrelat“ „Sie wurde von ihm gefickt“. Die unkonfrontierbare Tatsache wird auf linguistisch höchst verbrämte Art suggeriert, und dennoch wird das Verb ficken als onomatopoetisch und damit als direkte linguistische Repräsentation des Nichtrepräsentierten und Nichtrepräsentierbaren aufgerufen. Das Ereignis der Untreue ist so lebendig, dass es der Erkenntnis entgleitet und das Reich des „Diesen“ flieht. Daher Blooms Unfähigkeit, trotz des Gebrauchs höchst expliziter Formulierungen, über die Tatsache direkt nachzudenken. Er denkt stattdessen an „de[n] natürliche[n] grammatikalische[n] Übergang“ der „aktiven“ in die „passive“ Proposition. Dennoch vermischt die extreme Umsicht, mit welcher die entscheidenden Propositionen erzählt werden, den Automatismus der Sprache (genauer die Aktiv-Passiv-Transformation) mit dem des Körpers. Blooms Abstraktionen deuten auf ein fortdauerndes Ausweichen hin, aber diese Strategie schlägt fehl, denn die gleichgültige Transformation der Grammatik und das transzendentale Gesetz der Untreue, das den sexuell-gastronomischen Zyklus kennzeichnet, bedeuten das Gleiche für das Schicksal des Individuums. Grammatische und nachahmende Form sind hier so miteinander vermengt, dass diese erstaunliche Textstelle leicht den verwirrenden Eindruck hinterlässt, dass die Inversion natürlicherweise ein fickendes Geräusch macht oder sogar, wenn man an die Position denkt, welche Bloom in Mollys Bett einnimmt, dass die grammatische Inversion symmetrisch mit den „perversen“ Positionen sexueller Körper ist. VII Als Bloom an seinem letzten Ruheplatz ankommt, begegnet er einer bemerkenswerten Manifestation nachahmender Form: neben Molly ist der „Eindruck einer menschlichen Gestalt, männlich, nicht seiner“ (W 930). Im englischen Original heißt es hier “the imprint of a human form, male, not his” (601; Kap. 17, Z. 2124). Weil kein wirkliches Bett einen lesbaren Abdruck eines Körpers registrieren würde, dessen Geschlecht erkennbar und von dem des gewöhnlichen Bewohners zu unterscheiden wäre, muss dieser Eindruck sich in Blooms Seele formen. Es gibt hier eine tiefe philosophische Ironie: Joyce wählt die Worte “imprint of a form” sicherlich nicht zufällig, schon gar nicht in diesem Buch. Außerdem heißt es in „Scylla“, wenn es um Untreue in Shakespeare geht, dass „[Shakespeare] Odysseus Aristoteles zitieren [läßt]“ (W 296). Im englischen Original heißt das “[Shakespeare] makes Ulysses quote Aristotle” (174; Kap. 9, Z. 996), und wenn nur ein Wort dieser Bemerkung kursiv gedruckt wäre, hieße das, dass die in Ulysses zitierten Sätze der aristotelischen Ulysses - 267 Ontologie auf einer anderen Seinsebene motiviert sind als der von Aristoteles angesprochenen. Shakespeare lässt Ulysses Aristoteles zitieren: der Shakespeare, der nach Stephens Interpretation von der Untreue seiner Frau besessen ist. Der Abdruck einer männlichen Form, die nicht Blooms ist, in Mollys Bett bezeichnet das nicht greifbare Nichtding selber, das Ding, das Untreue genannt wird, die uneigentliche Essenz oder Essenz der Ungehörigkeit für das ethischontologische Schema, das Ulysses zitiert. Aber das Schema wird in eine textuelle Zirkulation gestellt, die es nicht beherrschen oder auch nur begreifen kann. Alles das, was die Metaphysik der Form und des Gehörigen nicht begreifen kann, wird in der scheinbaren Bejahung zusammengefasst, mit der das Buch endet, Mollys Ja, als Bloom ihr einen Heiratsantrag macht. 31 In dieser erinnerten Szene schlägt Blooms Herz wild, als Molly ihn in den erotischen Abgrund ihrer Brüste zieht. Allerdings wird in dieser Szene sexuellen Taumels oder erotischer Torheit, foudatz im Sinne der Troubadoure, eine andere berühmte Textpassage von Joyce, in welcher erotischer Rausch zum Erliegen kommt, umgeschrieben. Als Bloom seinen Antrag macht, antwortet Molly zunächst nicht, denn sie „mußte an so viele Sachen denken von denen er gar nichts wusste“ (W 1014). Am Ende von „The Dead“ kommt die erotische Erregung eines anderen Ehemannes, Gabriel Conroys, zum Erliegen, weil seine Frau so sehr mit einer ihm unbekannten Vergangenheit beschäftigt ist; die Enthüllung von Grettas unglücklicher Jugendliebe macht ihm mit einem Schlag schmerzhaft seine Uneinzigartigkeit, seinen zufälligen Platz in einer Serie bewusst (W 224-25). In Ulysses enttäuscht Molly ihren Liebhaber nicht, indem sie ihm ihre Gedanken enthüllt, aber der Leser weiß, was Bloom in dem Moment nicht weiß. Molly denkt an ihren ersten Liebhaber, Mulvey, den ersten Mann, der sie „unter der maurischen Mauer“ geküsst hat, als sie sich entscheidet, Blooms Antrag anzunehmen, denn „na schön er so gut wie jeder andere“ (W 1015). Der Grund ihres Jas ist daher gerade jene Nichteinzigartigkeit oder Ersetzbarkeit, welche den Abgrund erotischer Angst darstellt. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass es jeder sein könnte, aber doch, dass es immer einen Set möglicher erotischer Partner (für den Mann oder die Frau) gibt, dass man immer Gegenstand eines Ene, mene, miste zwischen den Mitgliedern des Sets ist. Erotischer Taumel bedeutet den Fall in eben jenen Abgrund des Kombinatoriums der (De)Komposition, wenn auch mit einem Ja und einem wild schlagenden Herzen. Mollys letzte Zeilen bringen unterschiedliche textuelle Kräfte in Ulysses zusammen: 31 Vgl. Derrida, der das Ja in Ulysses „die transzendentale Bedingung aller performativen Dimensionen“ nennt; Jacques Derrida, “Ulysses Grammophone.” Amended trans. by Shari Benstock. In: James Joyce: The Augmented Ninth. Ed. Bernard Benstock. Syracuse: Syracuse UP, 1988. 27-75 (62). 268 - Ulysses ja und wie er mich geküßt hat unter der maurischen Mauer und ich hab gedacht na schön er so gut wie jeder andere und hab ihn mit den Augen gebeten er soll doch nochmal fragen [...] und ich hab ja gesagt ja ich will Ja. (W 1015) Im englischen Original heißt es hier: [Y]es and how he kissed me under the Moorish wall and I thought well as well him as another and then I asked him with my eyes to ask again ... and yes I said yes I will Yes. (643-44; Kap. 18, 1603-09) Das a, e, i der Reihe von „wall ... well ... well ... will“ in diesen Zeilen erinnert an Stephens „A. E. I. O. U.“ in „Scylla“. Die maurische Mauer, unter der Molly geküsst wird, wiederholt die Kirchhofsmauer von Cunninghams Scherzaufgabe und erinnert an die Friedhofssymmetrie des armen, nackten, gegabelten y, welches das y von Mollys wiederholtem „yes“ [dt. ja] wird. Und „will“, das Schlüsselwort in „Scylla“ und Shakespeares Vorname, führt zu Mulligans Frage „Which will? “ [dt. „Welcher Will? “ (W 289)]“ und John Eglintons Unterscheidung zwischen dem Shakespeare zugeschriebenen Willen zum Leben und dem „[der] arme[n] Ann, Wills Witwe“ zugeschriebenen Willen zum Tod (W 289). Am Ende von „Penelope“ kann diese Unterscheidung nicht mehr aufrechterhalten werden; Mollys Ja trägt sowohl den Willen zum Sterben und das strukturelle Gesetz der Untreue in sich und bestätigt eben dadurch das Leben. Leopold scheint jedoch ambivalenter als Molly zu sein, was den Willen zum Leben-Sterben angeht. Aber als er mit ihr schläft, drängt es ihn instinktiv zu ihrem allbegrabenden, „allumschoßenden“ Anus, traditionell dem allerprivatesten der Organe, obwohl es der Natur nach (wenn „Natur“ das meint, was für den Logos am Unverdaulichsten oder Ekelhaftesten ist) der Zentralbahnhof des Lebens ist, der Punkt, an dem das aufgelöste Leben sich neu verteilt, sich selber wieder über die beschriebene Seite schmiert. 32 Poldy sagt nicht ja, aber er sagt auch nicht nein. Am Ende dieses epochemachenden Tages bleibt er unentschieden. 32 Zur Vorstellung von der Privatisierung des Anus vgl. Guy Hocquenhem, Homosexual Desire. Trans. Daniella Danghoor. Durham: Duke UP, 1993, bes. 93-112. Hocquenhem bemerkt in einem anderen (wenn auch, wie mir scheint, nicht gänzlich unverbundenen) Zusammenhang als ich, dass „der Gruppenmodus des Anus ringförmig ist, ein Kreis, der in alle Richtungen offen ist und so unendlich viele Kontaktmöglichkeiten eröffnet, ohne feste Plätze“ (111).