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Spätlese

2008
978-3-7720-5276-7
A. Francke Verlag 
Gerhard Kaiser

Die thematisch breit gefächerten Beiträge reichen von interdisziplinären essayistischen Überblicken zu minutiösen Einzelinterpretationen literarischer Werke. In Frage stehen etwa: Literarische Strukturen in der Bibel und ihre theologische Aussage; die Umformung biblischer und theologischer Elemente in säkularer Literatur; Geschlechtersymbolik in der Literatur; der Streit der "zwei Kulturen" im Erzählprozess; das Geschichtsverhältnis "autonomer" Kunst; Eigenart und Sinn der Geisteswissenschaften. Im Bewusstsein der Voraussetzungshaftigkeit geisteswissenschaftlicher Erkenntnis bezieht Kaiser methodisch selbstreflexiv und kritisch sein eigenes Christentum in sein Denken ein. Die seit 1990 entstandenen, z.T. unveröffentlichten Arbeiten bilden die Summe eines langen, auf deutliche Positionsbestimmungen angelegten Gelehrtenlebens. Ein nachträglicher gewichtiger Beitrag zum Jahr der Geisteswissenschaften.

Gerhard Kaiser Beiträge zur Theologie, Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Spätlese Spätlese Beiträge zur Theologie, Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Gerhard Kaiser Spätlese Beiträge zur Theologie, Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte A. Francke Verlag Tübingen und Basel Gerhard Kaiser, emeritierter Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Dr. phil. Dr. phil. h.c. Dr. theol. h.c. (Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Verbands der Diözesen Deutschlands, der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Evangelischen Fachhochschule Freiburg i.Br. © 2008 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Titelbild: Jürgen Freudl, Tübingen Satz: NagelSatz, Reutlingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8276-4 Inhalt Spätlese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Ein Germanist zur Theologie Theodizee als biblisch erzählte Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Volkszählung und Gottesgeburt. Überlegungen zu Weihnachten . . . . 43 Gerhard Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig“. Von der prophetischen Vision zur pietistischen Betrachtung . . . . . . . 56 War der Exodus der Sündenfall? Fragen an Jan Assmann . . . . . . . . . 66 Christentum und Literatur Christentum und säkulare Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie . . . 108 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ . . . . . 123 Erlösung Tod. Eine Unterströmung des 19. Jahrhunderts in Raabes „Unruhige Gäste“ und Meyers „Die Versuchung des Pescara“ . . . . . 146 Christliche Lyrik heute? Die Gedichte Christian Lehnerts . . . . . . . . . 163 Das Erzählen ist die Handlung. „Der Mann an Noahs Fenster“ in „Starlite Terrace“ von Patrick Roth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Theologisierung der Kunst oder Ästhetisierung Gottes? Zu George Steiners polemischem Essay „Von realer Gegenwart“ . . . 198 6 Inhalt Literatur Polarität von Mann und Frau. Ein kulturelles Konzept und was aus ihm zu retten ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Kannitverstan oder: Über den Vorteil, keine Fremdsprachen zu sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ . . . . . . . . 233 Noch einmal Wandrer und Idylle. Zur Helena-Handlung in Goethes „Faust II“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Lazarus als Lyriker. Über die Gedichte Heinrich Heines . . . . . . . . . . 271 Experimentieren oder Erzählen? Zwei Kulturen in Gottfried Kellers „Sinngedicht“ . . . . . . . . . . . . . . . 310 Soziale Welten im Wassertropfen. Fontanes realistisches Erzählen . . . 333 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“. Erzählen als kritische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 „mein eigentum und mir unendlich fern“ Zum Dichter Stefan George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Günter Eich: „Inventur“. Poetologie am Nullpunkt . . . . . . . . . . . . . . 370 Endspiel im Tessin. Max Frischs unentdeckte Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Politische Ideologie und literarische Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Geistesgeschichte Aquarelle im Krieg. Der Soldat Karl August Hanke zeichnet und aquarelliert in Rußland 1941-1946. Zur politischen Bedeutung des Privaten im NS-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Wie die Kultur einbrach. Giftgas und Wissenschaftsethos im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 7 Inhalt Vertreibung des Geistes? Nur die Geisteswissenschaften können nach dem Menschen fragen, der naturwissenschaftliche Fragen stellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Die Wahrheit wird euch frei machen. Die Freiburger Universitätsdevise - ein Christuswort als Provokation der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Teil I: Die Universitätsdevise Joh 8,32 und ihre Geschichte . . . . . . . . . . . 449 Teil II: Das Wahrheitswort Christi und die Wahrheit der Wissenschaft hier und heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Anhang Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Auswahl weiterer Veröffentlichungen seit 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 1 Zur Verfasserfrage s. H. Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede von Grimmelshausen bis Jean Paul. 1955. S. 95f. Zitate aus Grimmelshausen: Dietwalts und Amelinden anmuthige Lieb- und Leidsschreibung. Hg. R. Tarot. Tübingen 1967. S. 101ff. Spätlese Für einen Poeten der Barockzeit schickte es sich nicht, seine literarischen Werke selbst in den Druck zu befördern, und wenn sich kein prominenter Editor fand, konnte es geschehen, daß er die Maske eines Herausgebers und Vorredenverfassers annahm und sich mit verstellter Stimme einen „Glückwünschenden Zuruff“ dichtete, in dem er all das Lob auf sich häufte, das er als Poet wohl verdient zu haben glaubte. Welcher Autor erkennt nicht geheimste eigene Gefühle der Selbstwertschätzung und verkniffenen Kritikerschelte wieder in Grimmelshausens pseudonymen 1 , von Selbstironie schillernden Versen im editorischen Vorbau seines höfisch-galanten Romans „Dietwalt und Amelinde“: Es hat warlich was er schreibet alles/ alles Händ und Füß/ Mein Hertz mir vor Freuden lachet/ wann ich seine Sachen ließ. […] Der den Simplicem gemachet ist fürwar ein kluger Kopff, Obs im Obenhin-Betrachten gleich nicht merckt manch tummer Tropff […] Wem der spielerische Sinn nicht gegeben war, solche Verse zu erfinden und sogar mit einem Verfassernamen wie „Urban von Wurmbsknick auff Sturmdorff“ zu adeln, der fingierte wenigstens einen noblen Gönner, der dem Autor seine Manuskripte zur Veröffentlichung abgedrungen habe. Ächzend habe dieser sich dem Ansinnen gebeugt und, seine sehr viel gewichtigeren Amts- oder sogar Staatsgeschäfte vernachlässigend, sein Werk dem ungeduldig harrenden Publikum zubereitet. Als 80jähriger habe ich keine Amtsgeschäfte mehr, die vernachlässigt werden könnten; aber tatsächlich hat mich ein Anstoß von außen dazu gebracht, meine zerstreut veröffentlichten späten Studien zu Theologie, Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte gesammelt herauszugeben. Spät heißt: seit dem Ausscheiden aus dem universitären Amt 1992. Zwar rechne ich nicht mit einem gespannt auf mich wartenden Publikum; eher folge ich hier, abermals ganz von fern und ohne dessen Verbitterung und Verzweiflung, einem anderen Großen, der, als er seine Zeit abgelaufen glaubte, selbst seinen „Nachlaß zu Lebzeiten“ sammelte und herausgab. Etwas von Nachlaß zu 10 Spätlese 2 P. Bahners: Unverhofftes Wiederlesen. Zum Achtzigsten des Germanisten Gerhard Kaiser. In: FAZ 1.9.2007. Nr. 203. S. 39. Lebzeiten hat auch dieser Sammelband. Hat doch ein von mir sehr geschätzter Wissenschaftsredakteur der FAZ seinem ehrenvollen Geburtstagsartikel für mich den Titel „Unverhofftes Wiederlesen“ gegeben. 2 Im leicht erkennbaren Zitat der klassischen Johann-Peter-Hebel-Geschichte „Unverhofftes Wiedersehen“ aus dem „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds“ bin ich damit typologisch in die Nachfolge jenes hübschen jungen Bergmanns gestellt, der, im Erzberg verschüttet und im Eisenvitriol blühend mumifiziert, nach vielen vielen Jahren gefunden, ausgegraben und ans Tageslicht gebracht wurde, wo ihn nur ein einziger Mensch „mit freudigem Entzücken“ wiedererkannte: seine zum grauen Mütterchen zusammengeschrumpfte schöne Braut von damals. Wer wollte in diesem Mütterlein nicht eine weibliche Personifikation der Kritik erkennen, die mich für allenfalls wiederentdeckbar hält, so, als wenn ich „erst vor einer Stunde gestorben, oder ein wenig eingeschlafen wäre, an der Arbeit“? Der Anstoß zu diesem Band kam - völlig unerwartet - von Karl Kardinal Lehmann, dem Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz. Als Geschenk zum achtzigsten Geburtstag stellte er mir einen Druckkostenzuschuß in Aussicht, wenn ich eine Auswahlsammlung von wissenschaftlichen Beiträgen meiner späten Jahre, auch und vorab meiner Studien im Umkreis der Theologie, unternehmen sollte. Der Betrag sicherte das Erscheinen. Es ist nicht nur die große persönliche Anerkennung über die Fachgrenze hinweg, über die ich mich sehr freue und die mich in Bewegung setzte. Darüber hinaus sehe ich in diesem Anerbieten an einen Wissenschaftler lutherischer Herkunft und Prägung ein eindrucksvolles Zeichen gelingender Ökumene gerade da, wo man am allerwenigsten laut davon redet. Dieses Zeichen ist für mich umso deutlicher, als, ebenfalls von mir ungefragt und unvorhergesehen, auch meine eigene Kirche für diesen Band einen Beitrag zur Verfügung gestellt hat, um eine Preissenkung zu ermöglichen. Geldgeber sind die EKD, die Badische Evangelische Landeskirche und die Evangelische Fachhochschule Freiburg. Die nachdrückliche Initiative kam von Karl-Heinz Ronecker, langjährigem evangelischen Propst von Jerusalem. Ich danke allen Beteiligten aus freudigem Herzen, den kirchlichen Institutionen und den Personen, in denen sie für mich ein Gesicht tragen. Dazu gehört Dr. Barbara Nichtweiß, Leiterin der Abteilung Publikationen im Bistum Mainz, die mich ermutigte und beriet. Auch für technische Hilfe möchte ich an dieser Stelle danken. Ich nenne Professor Dr. Albert Raffelt, stellvertretender Leiter der Universitätsbibliothek Freiburg, und meinen Verlagslektor Jürgen Freudl, der mir mit großem Engagement, Geduld und Zuverlässigkeit zur Seite gestanden hat. Seit langem in einem Weinland lebend und es genießend, habe ich diesen Auswahlband Spätlese genannt. Er ist für einen Titel, der Qualität unter 11 Spätlese Verzicht auf Quantität erwarten läßt, zu umfangreich geworden. Aber wie der Winzer in der Spätlese seine Visitenkarte abgibt, so ich hier, indem ich die Einheit der Sammlung in der Zusammenfassung meiner Forschungsrichtungen suche. Ich habe es immer als Handicap, aber auch Privileg empfunden, zugleich Subjekt und Objekt meines Forschens zu sein; denn der Geisteswissenschaftler besitzt kein anderes Erkenntnisorgan als sich selbst in seiner Individualität und mit seiner allgemeingeschichtlich eingebetteten Lebensgeschichte. Er lebt aus und in dem Zusammenhang, auf den er seinen wissenschaftlichen Blick richtet. Er kann deshalb nicht isolierte Erkenntnisobjekte sich gegenüberstellen, sondern tritt erkennend in ein Wechselspiel zwischen sich und zu erkennender Sache ein. Indem er erkennt, erfaßt er, bewußt oder unbewußt, seine zeitgeschichtliche oder geschichtlich von weit her kommende, sei es noch so indirekte Verwebung in das Phänomen mit. Er wertet, und sei es unausgesprochen, vielleicht sogar ungewollt, indem er seine eigenen Werte dem Phänomen aussetzt und umgekehrt das Phänomen seiner Wertung. Er versachlicht sein Erkennen, indem er diesen Wechselbezug erkennend miterkennt und selbstkritisch reflektiert. Mein Forschungsgegenstand klärt mich in diesem Erkenntnisprozeß über mich als Geschichte und Individualität auf, indem ich ihn als Geschichte und individuelle Erscheinung aufkläre. Mit dem Austritt aus meinen Lehrverpflichtungen habe ich die Freiheit genossen, mich bis an die Grenze des Dilettantismus und vielleicht manchmal darüber hinaus durch meine wissenschaftliche Neugier bestimmen zu lassen, die von Beginn meines Studiums an aus Grunderfahrungen und Herausforderungen meiner Lebenspraxis floß. Es gibt aber auch innere Konsequenzen, Wandlungen und Erweiterungen der Fragestellungen. So hat sich eine meiner Leitfragen, wie weit säkulare Literatur sich selbst verwandelt, indem sie biblische oder theologische Motive sich anverwandelt, in den letztvergangenen Jahren wie von selbst weiterentwickelt zu der Problemstellung: Wie weit ermöglicht und sogar erfordert die erzählerische und dabei zuweilen dichterische Verkündigungsweise zentraler Bestände des Alten und Neuen Testaments, welche die Bibel grundlegend vom Koran unterscheidet, zur Erschließung ihres letzten theologischen Horizonts auch eine literaturwissenschaftliche Perspektive. Derweise habe ich interdisziplinäre Synthesen des Denkens und Wissens nicht in Forschungsorganisationen und Exzellenz- Teams gesucht, sondern, wenn auch noch so gebrechlich, in mir selbst. Denn nur, wenn die eigenen Leitfragen in sich interdisziplinär angelegt sind, kann ein „Symphilosophieren“, wie die Romantiker sagten, mit anderen, auch anderen Disziplinen, stattfinden. Ich habe als Literaturwissenschaftler nie meine Herkunft aus dem Studium der Geschichte und Geistesgeschichte bei meinem großen Lehrer Franz Schnabel vergessen. Seitdem ich als junger Wissenschaftler durch das Thema meiner Dissertation „Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland“ meine Verknüpfung von Literaturwissenschaft und Geschichte begonnen und 12 Spätlese zum Christentum und zur Theologie gefunden hatte, habe ich bei allen Ausgriffen in die Theologie und in die Überschneidungsfelder zwischen Literaturwissenschaft und Theologie versucht, in meinen Grenzgängen und Grenzüberschreitungen die Grenzen als solche im Blick zu behalten und Grenzverwischungen zu vermeiden. In Beiträgen, in denen ich Glaubensaussagen mache, mache ich das auch deutlich. Wo ich Wissenschaft treibe - und natürlich betrachte ich auch die Theologie als Wissenschaft - war es mir zentral wichtig, meine im Selbststudium gewonnene theologische Blickschärfung für das tiefere Erkennen theologischer Motive und Strukturen in ihren säkularen geistesgeschichtlichen und speziell literarischen Transformationen einzusetzen; es war mir zentral wichtig, in der Theologie meine literaturwissenschaftliche Schulung theologisch fruchtbar zu machen; es war mir bei alledem ebenso wichtig, im Erkennen von Kontaktstellen festzuhalten, daß der Funke zwischen Gegensätzen springt. Keine christliche Heimholung des Heiden Goethe, der doch sein ganzes ihm überkommenes Christentum an den Fußsohlen mitnimmt. Umgekehrt: keine ästhetische oder erzähltheoretische Neutralisierung des Buches Hiob, das doch seine letzten theologischen Aussagen als Dichtung gewinnt. Auch deshalb - nicht nur trotz, sondern wegen der ökumenischen kirchlichen Förderung - lege ich eine Auswahl vor, die Divergierendes und keineswegs nur Theologisches umfaßt: In der Dokumentation meiner verschiedenen Forschungsneigungen möchte ich zugleich dokumentieren, daß es sich um eine Einheit in der Unterscheidung und eine Unterscheidung in der Einheit handelt. Ob und wie weit dieser Ansatz mich zu wissenschaftlich tragfähigen Ergebnissen geführt hat, darüber möge das Mütterchen Kritik entscheiden, falls es mich unverhofft wiederliest. Ich selber hoffe sogar auf Leser und Wiederleser auch im einst sogenannten „gebildeten Publikum“. Denn ich habe - in Abwandlung und Beherzigung eines spitzen Wortes von Friedrich Nicolai, des Aufklärers und Lessing-Freundes, das er an die selbstbezogen und arrogant auftretende Geniegeneration richtete - Literaturwissenschaft immer als eine Kochkunst für Esser und nicht nur für Köche verstanden. Ein Germanist zur Theologie 1 H. BLUMENBERG, Matthäuspassion, 1988. 2 Zu Blaise Pascals Bekehrungszettel s.: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Penseés). Übertragen und hg. Von E. WASMUTH, 1978, 248, und die Anmerkungen dazu 483ff. Theodizee als biblisch erzählte Geschichte Die Kritik am Christentum, die Hans Blumenberg anläßlich der Bachschen Matthäuspassion vorbringt, ist radikal und falsch 1 . Der biblische Gott ist nicht, wie Blumenberg ansetzt, ein philosophischer Gott von in sich ruhender absoluter Vollkommenheit, der den Sündenfall begeht, mit der Schöpfung in das Nacheinander und Nebeneinander der Zeit und des Raums und damit in Partikularität und Antagonismus hineinzustolpern. Er ist nicht der unbewegte Beweger des Aristoteles, das Prinzip des Kosmos und des Denkens, aus dem die mythischen Verschlingungen der Theogonie und der Göttervielfalt herausgefiltert und in die Geschichten der Dichter verwiesen worden sind, die - nach Platon - lügen. Die Schöpfung ist kein dummer Betriebsunfall, der nun einen Unfall nach dem anderen, einen vergeblichen Korrekturversuch nach dem anderen, einen Selbstrechtfertigungsversuch nach dem anderen hinter sich her zieht - der schlimmste dieser Unfälle, will man Blumenberg glauben, daß der Unbewegte zum personalen Eingott mit einer sehr bewegten Geschichte und einem auserwählten Volk heruntergekommen ist. Doch daß der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht der Gott der Philosophen ist, hat sich schon der Philosoph Blaise Pascal am 23. November 1654 mit seinem berühmten Bekehrungszettel auf den Leib geschrieben. 2 Theodizee als Heilsgeschichte Der biblische Gott ist, indem er schöpft, und er ist, indem er für den Menschen ist. Sein biblischer Auftritt ist schöpferisches Hervorrufen der Welt auf einen antwortenden Menschen hin, damit Beginn einer Heilsgeschichte. Deshalb gleitet die philosophisch gestellte Theodizee-Frage am biblischen Gott ab, und es ist ein Ablenkungsmanöver, dem Christentum und damit auch dem Judentum die philosophische Unlösbarkeit des philosophisch 16 Ein Germanist zur Theologie 3 W. BENJAMIN, Gesammelte Schriften, Hg. R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, 1974ff., 2, 693, 697. gestellten Theodizee-Problems anzulasten. Philosophisch gestellt - das soll heißen: durch eine Vernunft, die selber so absolut auftritt wie der griechische Philosophengott. Das tut sie letztendlich noch da, wo sie als Geschichtsphilosophie erscheint und ein göttliches Prinzip sich geschichtlich verwirklichen läßt. Weder der Leibnizsche Gott, der die beste aller möglichen Welten schafft, indem er das Unvollkommene zum Mittel für das Vollkommene macht, noch ein geschichtsphilosophischer werdender Gott wie der Hegels, der sich dialektisch-prozeßhaft vollendet, kann die Tränen derer trocknen, die bei diesem Vollkommenheitsgeschehen auf der Strecke blieben und bleiben. Das kann nur Erlösung. „Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.“ Sie erfüllt, was der von Walter Benjamin visionär entworfene Engel der Geschichte möchte: „die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“. So am Ende seines Weges durch den Marxismus der große messianische Denker, gut biblisch und eschatologisch, in der II. und IX. seiner Thesen „Über den Begriff der Geschichte.“ 3 Der Theologe Johann Baptist Metz hat die Theodizee-Frage als Kern biblischer Theologie neu konzipiert, indem er sie, unter Rückbezug auf Benjamin, in die Zeitlichkeit des Gotteshandelns gestellt hat, aber eben nicht in eine geschichtsphilosophische, in der, was ist, sinnvoll ist, sondern in eine heilsgeschichtliche, die durch das Dunkel der Kontingenz hindurchdringt, es durchkreuzt und am Ende in sich heimholt. Gottes Allmacht und Vollkommenheit sind nicht zeitlos beweisbar. Sie sind erfahrbar im Schöpfungsvertrauen und als Vorahnung, Glaube und ‚Anspruch‘, im Bogen von Verheißung und Erfüllung. Als Schöpfer und Erlöser ist Gott der Allmächtige und Herr der Welt, nicht indem er allzeit alles machen kann. Und als Herrn der Welt würde es - nach Metz - den biblischen Gott verkleinern, wollte man alle Schrecknisse der Welt, auch der vor- und außermenschlichen Natur, das, was Paulus das Sich-Ängsten der Kreatur nennt (Röm 8, 22), dem Sündenfall des Menschen zur Last legen, den Gott als Menschen- und Weltbeschädigung zwar vorhergesehen, aber nicht vorherbestimmt habe. Aus dem Dunkel von Leiden, die nicht durch Spitzfindeleien hinwegdisputiert werden sollten, ertönt der „Anschrei“ Gottes des Allmächtigen durch den Menschen, wie Metz drastisch sagt. Er ist Äußerung der Sehnsucht, der Ungeduld, der Klage über Qual und Sündenverlorenheit: Wo bist du, Gott? Komm Herr Jesu! Das im Judentum wurzelnde Christentum ist nicht nur deshalb der Gegenwurf der Religionen, weil in seiner Mitte die Passion Gottes steht, sondern auch deshalb, weil vom Alten zum Neuen Testament, von Abraham, den Propheten und Hiob zu Jesus Christus, von der ägyptischen zur babylonischen Gefangenschaft und zur römischen Tempelzer- 17 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte 4 Eine umsichtige und differenzierte Darstellung und Kritik der Theodizee-Deutung bei Metz in großem theologischem Zusammenhang leistet die Diss. von J.-H. TÜCK, Christologie und Theodizee bei Johann Baptist Metz. Ambivalenz der Neuzeit im Licht der Gottesfrage, 1999. Informativ für den Problemaufriß und zum Forschungsstand: M. BACHMANN, Göttliche Allmacht und theologische Vorsicht. Zu Rezeption, Funktion und Konnotation des biblischfrühchristlichen Gottesepithetons pantokrator. (Stuttgarter Bibelstudien 188. Hg. H.-J. KLAUCK und E. ZENGER. 188.), 2002. 5 J.B. METZ, J. REIKERSDORFER, Theologie als Theodizee. In: Theolog. Rundschau 95, 1999, S. 179-188, dort. S. 180. METZ hat zwar schon 1973 eine „Kleine Apologie des Erzählens“ (In: Concilium 9, 1973, 334-341) veröffentlicht, dabei aber nicht auf das Erzähltsein der Bibel, sondern auf die Verstärkung des memorativ-narrativen Moments der Theologie auf der Basis einer „erzählenden Tiefenstruktur der kritischen Vernunft“ gezielt (340). 6 METZ, Theologie als Theodizee. In: W. OELMÜLLER [Hg.], Theodizee - Gott vor Gericht? 1990, 103-118. Dort 109. störung eine Spur des Leidens an Gott gegraben ist, die in dem Psalmschrei des Gekreuzigten „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? “ kulminiert. Es ist im folgenden nicht meine Absicht, an Johann Baptist Metz Fragen zu seinem Konzept zu stellen wie die, ob es notwendig ist, das Leiden an Gott so heftig gegen das Leiden in Gott auszuspielen, die doch im Kreuzesgeschehen radikal ineinander geführt sind - zuerst und zuletzt im Gekreuzigten -, oder ob Theologie nach Auschwitz nicht ihre vielleicht äußerste Herausforderung darin hat, daß sogar nach Auschwitz noch Glück und Schöpfungslob, sogar Menschenlob legitim sein können 4 . Ich möchte vielmehr die Metzsche These zur Theodizee in ihrem Ansatz weiterdenken, indem ich sie auf ihre Basis zurückführe, den biblischen Text als inhaltsbegründende formale Struktur. Metz charakterisiert „die biblische Gottesrede“ als „eine temporale Rede, die Gott nicht als ein Jenseits zur Zeit, sondern als ihr rettendes Ende weiß“ 5 . Die Heilsgeschichte führt so in eine „universale Gerechtigkeit, die auch die vergangenen Leiden rettend einschließt“ 6 und Anfang, Mitte und Ende verwebt. Von diesem Ende her tritt alles Vorhergehende in ein neues Licht, auch alle vorhergehenden Aussagen Gottes, über Gott und zu Gott, auch der alle situativen Relativierungen sprengende „Anschrei“ Gottes. Heilsgeschichte als erzählte Geschichte, Geschichtserzählung als Theodizee Meine These ist nun: Diese biblische Gottesrede als temporale Rede, die Gott nicht als ein Jenseits der Zeit, sondern als ihren Anfang und ihr rettendes Ende weiß, ergeht genau in der Weise, die diesen ihren Charakter zur vollen Erscheinung bringt, ja, erzeugt: als biblische Erzählung. Denn Erzählung ist temporale Rede in dem eben erörterten Sinn, gespannt zwischen einer Ver- 18 Ein Germanist zur Theologie gangenheit, einer Gegenwart und einer Zukunft, dabei meist vom Ende her erzählt und auch nur vom Ende her voll erfaßbar. Diese Erfassung vom Ende her besteht vor allem darin, daß im Erzählungsverlauf, also in der zeitlichen Erstreckung der berichteten Handlung, Gegensätze und Konflikte auftreten können, die sich im Ende zur Ruhe begeben. Mit einem banalen Vergleich gesagt: Das Happy end eines Romans ist nicht die logische Auflösung aller früheren Gegensätze, im Gegenteil; es gewinnt seinen vollen Glanz vor der Folie der vorhergehenden Konflikte und wirft ihn auf sie zurück. Entsprechendes gilt für alle direkten Reden beteiligter Figuren - sie werden erst im Erzählzusammenhang adäquat situiert und integriert. In der Zeitebene der Erzählung ist so pragmatisch miteinander vereinbar, was auf der Simultaneitätsebene der Logik in der theoretischen Abhandlung unvereinbar ist, wie zum Beispiel die Allmacht Gottes und das Leiden in der Welt. Speziell im Gebrauch des sogenannten epischen Präteritums tritt die Eigenart des erzählerischen Verfügens über den Erzählgegenstand hervor. Unabhängig von einer realen Vergangenheit des Erzählten, wie sie in der Bibel gegeben ist, signalisiert es das Erzählen vom Handlungsergebnis her. So erzählt Homer im Präteritum, denn wenn er am Eingang der Odyssee die Muse anruft, sie möge ihm von den Irrfahrten des Odysseus berichten, weiß er als Erzähler schon, daß und wie der Held seiner Geschichte nach Hause zurückgekehrt ist, und spricht aus diesem Wissen. Dabei kann das Erzählerwissen sehr verschiedene Niveaus haben. Das eine Extrem möglicher Informiertheit ist das olympische Allwissen, das nicht nur Ablauf und Folgen, sondern auch Sinn und Bedeutung des zu Erzählenden überblickt und mitzuteilen vermag. Homer hat sozusagen im Rat der olympischen Götter gesessen; wobei nicht einmal sie den Ratschluß des Schicksals und damit den letzten Horizont des Weltsinns kennen, nach dem der Theodizee-Philosoph Ausschau hält. Das andere Extrem des Erzählens im epischen Präteritum ist, daß der Erzähler zwar den Fortgang der Geschichte kennt, aber Sinn und Bedeutung nur bruchstückhaft erfaßt. So etwa der Erzähler von Kafkas „Prozeß“. Er hat so wenig Überblick über Legitimation, Verfahren, Instanzenzug und Absichten des Gerichts wie der Held seiner Geschichte, der Angeklagte Josef K. Es ist unumgänglich, nicht nur das Erzähltsein der biblischen Geschichten, sondern auch das Deutungsniveau der Erzähler gegenüber ihrer Geschichte zu bedenken. Sowohl Judentum wie Christentum gründen in Stiftungsgeschichten: das Judentum in der Geschichte der Führung als auserwähltes Volk seines Gottes, einer Geschichte, die sich von der Rettung aus der ägyptischen Sklaverei nach rückwärts ausweitet bis zur Schöpfungsgeschichte und nach vorwärts bis zu Endzeitprophetien. Das Christentum gründet in der Geschichte von Leben, Wirken, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi, des Gottessohns, der erschienen ist zur Rettung der Menschheit aus der Sklaverei der Sünde und wiederkehren wird am Ende der Tage. Die Apostelgeschichte steht in diesem 19 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte 7 Prinzipiell habe ich das Thema der theologischen Valenz des Erzähltseins der Bibel angeschnitten in meinem Vortrag: Warum haben Christen einen erzählten Gott? , gehalten beim Dies Academicus der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg am 26.11.2003 und in veränderter Form anläßlich der Homiletisch-Liturgischen Sommerakademie der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Dort auch Überlegungen zur Unterscheidung von Offenbarungsgeschichte und gedichteten Geschichten und zur Alternative Mündlichkeit - Schriftlichkeit in der Offenbarung. Gedruckt in: Quatember. 70. Jg. 2006. H.1. S. 4-25. 8 Poetik 6, 1449b 26. 9 Lessings Werke, 25 Teile, Hg. J. Petersen und W. von Olshausen, o.J., Teil 5: Hamburgische Dramaturgie, 74. Stück, 310. 10 C. HINRICHS, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, 1954, 1-97, speziell 44. Dort ist Tertullian zitiert, der in seiner Schrift „Adversus Marcionem“ I,1 von Christus sagt: „Verus Prometheus, deus omnipotens blasphemiis lancinatus“. Rahmen. Gedichte, Gebete, Verkündigungsreden, Gesetzgebungen, Briefe, Belehrungen, Predigten, die Apokalypse sind der Geschichtserzählung mehr oder weniger eng zugeordnet. Welche Folgen der literarische Status des Erzähltseins für das Theodizee-Problem in sich schließt, sollen zunächst vergleichende Seitenblicke auf die griechische Tragödie und auf den Koran illustrieren. 7 „Der gefesselte Prometheus“ als Theodizee-Drama Auch das Griechentum kennt Darstellungen des Göttlichen in Geschichten von Homer und Hesiod bis zur griechischen Tragödie, in deren Frühe die großartige Theodizee-Tragödie „Der gefesselte Prometheus“ des Aischylos steht. Drama ist Handlung, und darin liegt eine Nähe zur Erzählung. Wie sie fordert es mit der intellektuellen auch emotionale Anteilnahme heraus - Aristoteles wird später von phóbos und éleos 8 , Lessing von Furcht und Mitleid als Wirkungen der Tragödie sprechen. 9 Zeus, der oberste der Götter, bereitet dem Titanen Prometheus eine Passion, indem er ihn an den Kaukasus schmieden läßt. In gewaltigen Hohn- und Trotzreden klagt Prometheus den göttlichen Weltherrscher der Willkür und Ungerechtigkeit an, weil er ihm dafür Leiden zufügt, daß er den Menschen in ihrem Elend das Feuer als Inbegriff der Kultur gebracht hat. Schon das frühe Christentum, später wieder die Romantik hat in dieser Passion des Prometheus um der Menschen willen eine Vorbildung des Kreuzesgeschehens, in Prometheus eine Hindeutung auf Christus gesehen 10 . Aber Zeus ist nicht der Eingott Jahwe, sondern der Herrscher einer Götterdynastie, die selbst unter der Zeit und dem Schicksal steht. Im Besiegen einer älteren, wiederum durch Aufruhr zur Herrschaft gekommenen Dynastie hat sie sich durchgesetzt, und zwischen Prometheus und Zeus spielen Macht- und Rivalitätsfragen, wie sie die Bibel so zwischen Gott und Mensch und erst recht zwischen Gottvater und Sohn nicht kennt. 20 Ein Germanist zur Theologie 11 Es wäre wert, im Rahmen meiner Fragestellung darzustellen, wie genial die Verknüpfung der jüdischen Bibel als Altes Testament mit dem Neuen Testament ist; genial deshalb, weil dieser Namensbezug mehreres zugleich leistet: Er markiert die Rückbeziehung Jesu auf den Glauben der Väter, die Fortschreibung der Bundestheologie des Judentums und zugleich das Überbietende der Erfüllung in Jesus Christus, der sagen kann: „Trinket alle daraus; das ist mein Blut des neuen Testaments […]“ (Mt 26,27). Im Unterschied zu den Geschichtserzählungen der Bibel führt die Handlung des „Gefesselten Prometheus“ lediglich in eine kompromißhafte Balance der Positionen, nicht in die letzte Konsequenz des Problems. Der griechische Göttermythos ist zwar sinn-, handlungs- und gestaltenreich, und so kann er auch das Theodizee-Motiv enthalten und punktuell ausbilden, doch es fehlt ihm die strikte Fokussierung in einem Zentralgeschehen, das insgesamt Theodizee zu sein beansprucht, und einer zentralen Konstellation zwischen einem Gott, der als Weltschöpfer Weltregent ist, und seinem Geschöpf, dem Menschen. Er ruft aus seiner Ewigkeit Zeit und Raum hervor und handelt in sie hinein, wie es biblisch in der Führung Jahwes für sein auserwähltes Volk und, darin gründend, im Heilshandeln Jesu Christi für alle Menschheit erzählt ist. Dieses Geschehen vollzieht sich in Führung und Bundschlüssen, die das Gottesvolk und damit jeden einzelnen in ihm zum dialogischen Partner machen, und das Neue Testament fügt sich dem an, zu guter Letzt indem es sich als Neues Testament auf das Alte bezieht 11 . Diese Struktur ist es, die nicht irgendwann einmal einen Gott oder Halbgott mit dem obersten der Götter um Macht und Gerechtigkeit hadern läßt, sondern einen einzelnen Menschen, etwa Hiob, etwa den erschöpften Mose, etwa Elia, etwa Jeremia, zur anklagenden Klage gegen den unendlich großen und unfaßbaren Herrn der Schöpfung und Weltgeschichte fähig macht und damit dem Problem letzte Stoßkraft gibt. Diese Struktur ist es aber auch, die eine Offenbarungserzählung von diesem Geschehen ermöglicht und fordert. Sowohl Drama wie Erzählung sind pragmatische Gattungen, aber sie unterscheiden sich - abgesehen von dem schlichten Faktum, daß nur die griechische Kultur das Drama als Gattung entwickelt - unter unserem Aspekt vorwiegend darin, daß das Drama - siehe der „Gefesselte Prometheus“ - unmittelbare Gegenwart des Geschehens in einem Imaginationsraum fingiert, die Erzählung hingegen die Geschichte und auch die direkte Rede der beteiligten Handlungsfiguren durch eine Erzählinstanz vermittelt. Sie ist biblisch Stimme oder Schrift eines einzelnen, der - auch er ein Partner Gottes - als Erzähler Offenbarungsträger und Vermittler zwischen einem Geschehen und einem Publikum ist, das als Gottesvolk hört, was dem Gottesvolk von seinem Gott widerfahren ist. „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause, geführt habe“, heißt es in Ex 20, 2. Hier spricht Gott in direkter Rede sein Volk an - aber im Rahmen einer Erzählung. Nicht der Unaussprechliche selber sagt: „Höre 21 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte Israel! “, sondern der biblische Autor sagt, daß Gott das sagt und gibt dabei seiner Erzählung insgesamt den Charakter des göttlichen Anrufs an sein Volk durch den Erzählermund. Diese Relationierung aber erzeugt unabweislich die Frage, wie etwas, das Menschen übermitteln, Gottes Wort sein kann - das Drama läßt diese Frage gar nicht aufkommen. Es gibt vor, als Geschehen einfach da zu sein. Der Koran: Gott spricht Die griechische Tragödie kennt also, wie die Bibel, die pragmatisch gestellte Theodizee-Frage, löst sie aber nicht und perspektiviert und legitimiert sie nicht durch eine Erzählinstanz. Die Gegenwart ihrer mythisch-innerweltlichen Götter ist ein theatralisches „als ob“, Dichtung über Götter durch Dichter. Der Koran beansprucht wie die Bibel, nicht Dichtung, sondern Offenbarung des einen Gottes zu sein, löst diesen Anspruch aber radikal anders ein als die Bibel. Er stellt die Theodizee-Frage nicht und hat keinen erzählerischen Grundcharakter. Beides hängt eng zusammen: Die Heilige Schrift der Muslime gilt - strikt seit dem Ende theologischer Streitigkeiten wegen dieses Themas um 800 - als unerschaffenes und ewiges Wort Gottes, das, nach stückweisen Offenbarungen an frühere Offenbarungsträger wie Abraham oder Jesus, in endgültigem Umfang und endgültiger Ordnung dem Propheten Mohammed durch den Erzengel Gabriel in klarer arabischer Sprache ausgeliefert worden ist. Es ist so normativ und definitiv, daß es nicht in andere Sprachen übersetzbar ist. Der Koran ist ungebrochene Mitteilung Gottes, die Bibel menschliche Geschichtserzählung von Taten Gottes. Was in der Erzähltheorie lediglich eine technische Vokabel ist, der sogenannte olympian view point, das allumfassende Wissen dessen, der die Rede in der Hand hat, im Koran ist es Wirklichkeit. Der in seinen Reden gänzlich offenbare Gott des Islam schafft und regiert die Welt, aber läßt sich nicht in sie ein. Die Verkündigung seiner Allmacht und seiner Lohn- und Strafgerechtigkeit läßt keine Fragen offen, schon gar nicht Argumente aus dem, was nur der Fall ist. Menschliche Verständnisschwierigkeiten sind aufzulösen. Gott spricht im Koran in Majestätsrede oder in dritter Person Singularis. Auch die an ihn zu richtenden Gebete gibt er vor. Er erzählt nicht; er argumentiert, verheißt, gebietet, urteilt, demonstriert auf ein gegenwärtiges Gegenüber hin. Alles Gesagte wird zum Mittel der Überzeugung und empfängt seine Ordnung aus dem Gang des Gedankens, nicht aus der Ordnung des Geschehens. Und da die Suren, also die Kapitel des Koran, nicht inhaltlich, sondern nach ihrer Länge angeordnet sind - die längsten zuerst, die kürzesten und meist frühesten zuletzt -, entsteht ein buntes Gemenge der Inhalte mit vielen Wiederholungen und mit vielfältigen Bezugnahmen auf die Bibel und innerarabische Traditionen auch erzählerischer Art, so etwa die 55. Sure: 22 Ein Germanist zur Theologie 12 Der Koran ist zitiert nach der Übersetzung von M. HENNING, Wiesbaden o.J. (VMA- Vertriebsgesellschaft Modernes Antiquariat; Lizenz Reclam-Verlag Leipzig). Zur vergleichenden Lektüre von Bibel und Koran ist sehr nützlich: J. - D. THYEN, Bibel und Koran. Eine Synopse gemeinsamer Überlieferungen, 1989. 13 H. Frhr. von CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel. (= Beiträge zur historischen Theologie. Hg. G. EBELING), 1968, 385. Ebd. 150-152 zum Selbstverständnis des Lukas. Der Erbarmer lehrte (dich) den Koran. Er erschuf den Menschen, er lehrte ihn deutliche Sprache. Die Sonne und der Mond sind Gesetzen unterworfen, und die Sterne und Bäume werfen sich (anbetend) nieder. Und der Himmel, er hat ihn erhöht und die Waage aufgestellt, auf daß ihr an der Waage euch nicht vergeht. Und wäget in Gerechtigkeit und vermindert nicht das Gewicht. Und die Erde, er hat sie hingestellt für die Geschöpfe; in ihr sind Früchte und Palmen mit Blütenscheiden und das Korn voll Halme und der Lebensunterhalt. Und welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr beide wohl leugnen? (usw.) 12 Die Schöpfungsgeschichte wird hier zum didaktischen Material einer Beeindruckungsrede, die Sachverhalt auf Sachverhalt türmt, vom tiefst Vergangenen auf Gegenwärtiges, vom Sternbild der Waage oder der Waage des göttlichen Gerichts zur Waage des Händlers hier und jetzt springt. Der Schlußsatz des Abschnitts schließlich ist eine Überredung durch anklagende Unterstellung einer Gegenmeinung, die den Hörer geradezu in die Zange nimmt. Die Bibel: Gott spricht durch Menschen Wenn in der Bibel Menschen anderen Menschen die Geschichte Gottes mit den Menschen erzählen, wenn ihre Erzählung nicht Dichtung, sondern Verkündigung höchster göttlicher Wahrheit zu sein prätendiert, wie und woher haben sie ihr Wissen? Für die biblischen Erzählungen entstand zwar im frühen Christentum - ausgehend von der Lektüre des AT auf seine prophetischen Christus-Vorverweise hin - eine Vorstellung der Inspiration der biblischen Autoren, die auf das NT übergriff und sich später dogmatisch verfestigte 13 , aber es unterlag doch keinem Zweifel, daß sie Menschen waren, in denen das Wort Gottes individuelle und historische Färbungen annahm - etwa so, daß vier verschiedene Evangelien entstehen konnten, daß der Evangelist Lukas am Anfang seines Evangeliums schriftstellerische Rechenschaft ablegt, daß die Schriften des AT in tiefe, für den Erzähler ferne Vergangenheit zurückgreifen, daß Verfasserschaften zugeschrieben wurden. Insgesamt schloß eine Theologie von der gnadenhaften Herunterlassung Gottes zum Menschen die Erduldung einer Knechtsgestalt und Leidensgestalt ein, die er auch in der Heiligen Schrift um des Menschen willen trägt. Zugespitzt gesagt: Gott ist auch in der Gotteserzählung noch des tiefst ergriffenen und erleuchteten Evangelisten Fleisch gewordenes, zur Passion bestimmtes Wort, nur zerstückt, 23 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte 14 Dafür wurde mir maßgeblich: E. JÜNGEL, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus. 6.A. 1992, 1-54. Im übrigen befinde ich mich mit meinen Überlegungen von vorn herein im Koordinatenkreuz dieses großen Werks, in dem es heißt, „daß Gott selbst erzählt zu werden verlangt“ (415). Begründet ist das schon bei Jüngel aus der temporalen Struktur des Erzählens (413), die dem entspricht, daß Gottes Sein im Kommen ist (225 u.ö.). Jüngels Ausführungen zu diesem Punkt sind wahrscheinlich über Jahre der Latenz hinweg mehr, als mir beim Schreiben bewußt war, anstoßend für mich geworden, so vor allem der Abschnitt „Die Menschlichkeit Gottes als zu erzählende Geschichte“ S. 409-430. Jüngels Argumentation geht allerdings weiter zur „narrativen Tiefenstruktur der Sprache“ (415), die natürlich für Sprache überhaupt gilt, während ich beim spezifischen Erzählcharakter biblischer Texte und dessen Aussagekraft stehen bleibe. Harald Weinrich zielt mit seinem linguistischen Aufsatz „Narrative Theologie“ (In: Concilium 9, 1973, 329-334) nicht auf theologische Konsequenzen des biblischen Erzählens, sondern auf eine die Theologie einschließende allgemeine „Theorie der Narrativität“. 15 An Ch. L.F. Schulz, 28.11.1821; vgl.a. den Gedichttitel „Offenbar Geheimnis“ im „Westöstlichen Divan“. Goethes Werke, Hg. E. Trunz, 14 Bde,. 1948ff., 2, 24. in gleichzeitiger Verdunkelung und Offenbarung faßbar, und so ist die Erzählung vom Kreuzesgeschehen zugleich dessen Vollzug im Erzählen dieser Geschichte und darin selber Theodizee. Nur als Gekreuzigten, auch in der Kirche und in der Heiligen Schrift gekreuzigten, haben Christen einen Erlöser. Auch der Auferstandene ist als Gekreuzigter auferstanden. Aber es gilt doch ebenso das andere: Der biblische Autor spricht in der Bibel als von Gott angerufener, der sich ihm mit einer Heilsbotschaft liebend mitteilt und von seinem Geschöpf verstanden und weiterverkündet sein will 14 . Daß der christliche Gott in der Rede berufener Menschen der Judenheit und Christenheit, in Heiliger Schrift und Evangelium das Heilsnotwendige als Wort Gottes verstehbar gesagt hat, ist ein Moment des Glaubens - wo keine Heilsbotschaft, da kein Heil. Und schon in den bisherigen Überlegungen deutete sich auch an, daß das biblische Grundmuster des Erzählens von den Taten Gottes nicht etwa schlicht als ein Versagen vor den Anforderungen der Logik oder der direkten argumentativen Aussage beschrieben werden kann, sondern daß gerade in der Weise der erzählerischen Vermittlung auch ein Mehr liegt gegenüber der rhetorischen oder der begrifflich-argumentativen, letztlich in den Systemzusammenhang zielenden Rede. Ja, man muß noch weiter gehen: Wir können das Absolute sinnvollerweise nicht denken als etwas, das jenseits der Relativität unseres Auffassens liegt, weil wir es überhaupt nur als Aufblitzen im Relativen haben, Goethe würde sagen, als offenbares Geheimnis. 15 Es ist - solange die Zeit währt - die Wahrheit nicht hinter dem Schleier, sondern durch den Schleier in doppeltem Sinn, durch ihn als Hülle hindurch und durch sein Vorhandensein. So haben wir das Absolute, und wir haben es im Relativen auch darin, daß der Erzähler einer ihn erschütternden Geschichte aus tiefsten Schichten seiner Existenz spricht, die ein noch so leidenschaftlicher Argumentierer um der logischen Sublimation willen zurückdrängen muß. Und wie der ergriffene Erzähler das Ganze auch 24 Ein Germanist zur Theologie seines unbewußten Lebens zum Schwingen bringt, so beansprucht er den ganzen Menschen in allen seinen Kräften, auch denen des Willens, der Phantasie und des Gefühls. Wie viel breiter ist auch die Skala der Gefühle, die von einer Geschichte zwischen Gott und Menschen ausgehen können, als es die Gefühle angesichts frontaler göttlicher Rhetorik sind! Und gerade solches Mehr will wiederum auch bedacht werden, es fordert gerade als Mehr und Anderes denn diskursive Vernunft die Vernunft heraus und ist auf sie angewiesen, auch in ihrer Unzulänglichkeit. Das soll sich an der biblischen Theodizee zeigen. Die Psalmen Der monologische Charakter der Rede im Koran - vorgeführt oben an einem Zitat aus der 55. Sure -, die rhetorische Türmung, das Ineinander von Vergegenwärtigung und abstrakter Gedankenführung, die refrainartige Wiederholung der rhetorischen Frage „Und welche der Wohltaten eures Herrn wollt ihr beide wohl leugnen? “ am Ende jedes folgenden Abschnitts kann an die nicht erzählende, liturgisch lyrische Gattung der Psalmen des AT erinnern, aber die Psalmen sind nicht Gottesrede; sie sind menschliche Gebete, Gottesanreden des Geschöpfs, also auf den Knien des Herzens gesprochen. Sie sind es sogar in den Fällen, wo der Betende Antwort in direkter Rede Gottes vernimmt, etwa in Psalm 91, denn sie ist aus der Perspektive des empfangenden Menschen wahrgenommene Antwort Gottes. Und in diese Perspektive tritt auch der Hörer, Leser oder Mitbeter. Er findet sich in den Gefühlen, in den Worten, in der Blickrichtung des Psalmisten ein, der in menschlicher Stellvertretung für ihn spricht. Weil sie menschliche Zeugnisse in einem Erfahrungshorizont sind, der niemals seinen Gegenstand voll in sich faßt, gerade deshalb ist das Thema der Psalmen so oft Bitte und Klage, Äußerung des Nichtverstehens, und so kann auch die Gattung des biblischen Psalms zum Träger der Theodizee-Problematik werden, besonders eindringlich etwa der 88. Psalm. Er beginnt und endet in völliger Verzweiflung (6ff): Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, deren du nicht mehr gedenkest, und die von deiner Hand abgesondert sind. Du hast mich in die Grube hinuntergelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. Kein Trost kommt; aber ein Trost ist da: Daß der Gepeinigte den fernen Gott, der ihn nicht hört, als ihn Hörenden und somit Anwesenden, ja, als „Heiland“ anredet, sogar anschreit, daß er ihn im Mittelteil des Psalms geradezu bedroht: „[…] werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken? “ Der Leidende, von Gott unter die Toten Geworfene, die in dieser Epoche des jüdischen Glaubens noch keine Auferstehung erwartet, geht bis zu dem Punkt des Aufstands gegen Gott, daß er ihm seine Angewiesenheit auf die lebenden Menschen in ihrem Gottesdienst vorhält. 25 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte 16 Meine Darstellung lehnt sich an bei G. von RAD, Das Opfer des Abraham. Mit Texten von Luther, Kierkegaard, Kolakowski und Bildern von Rembrandt. 2. A. 1971. Trost, sogar Gottesrechtfertigung, liegt schließlich auch im Titel des Psalms: „Ein Psalmlied der Kinder Korah […] Eine Unterweisung Hemans, des Esrahiten“. Die Rotte Korah ist ein jüdischer Stamm, der sich beim Wüstenzug der Kinder Israel gegen die ausschließliche Berufung des Stammes Levi zum Priestertum erhoben hatte und daraufhin von der Erde verschlungen worden war (Num 16). Nach Num 26, 11 wurden nur die Söhne Korahs verschont, und die Korahiten bildeten später in Jerusalem ein Geschlecht des Tempeldienstes. Der im Titel genannte Heman gehörte zu ihm (1 Chr 6, 18 [33]). Der Gott, zu dem der Trostlose des Psalms ruft, hat sich also - wie die sozusagen redaktionellen Bemerkungen zum Text verraten - längst erwiesen als einer, der noch in der Öffnung des Abgrunds gnädig rettet und der aus der engsten Sippe des Rädelsführers Heil kommen läßt und ihr Heil erweist. Das Lied des Verzweifelnden ist im Mund Hemans Unterweisung zum Umgang mit Gott. Erst im Mitlesen des Perspektivismus des Psalmlieds und seiner heilsgeschichtlichen Ortung zwischen Abgrund und Erwählung wird in der Anklage Gottes die verborgene Theodizee palimpsesthaft erkennbar. Statt planer argumentativer Theodizee ist es eine Theodizee in und aus geschichtlicher Tiefe, die noch den Verzweiflungsausdruck vor einen Hintergrund leisen Lobes stellt. Die Abraham-Isaak-Opferungsgeschichte Wie viel weiter noch als die biblische Lyrik die biblische Erzählung die Theodizee entrollen kann, zeigt eine der großartigsten und meist ausgelegten Vätergeschichten, die zurückreicht in die stumme Finsternis im Vorfeld einer möglichen menschlichen Anklage Gottes. Es ist die Abraham-Isaak-Geschichte 16 . Sie wird auch im Koran, dort als Geschehen zwischen Abraham und Ismael, erwähnt, wie überhaupt der Koran eine Fülle von Geschichten aus der Bibel übernimmt, nicht um sie in ihrem Eigengewicht zu erzählen, sondern um mit ihrer Hilfe zu exemplifizieren und zu argumentieren. So ist auch die Opferungsgeschichte im Koran reduziert auf ein knappes Beispiel für extremen Glaubensgehorsam und dafür gewährten Gotteslohn, wogegen die alttestamentliche Geschichtserzählung (1Mo 22) Schritt für Schritt einen rätselhaften Vorgang von großer pragmatischer und seelischer Gewalt entwickelt. Und hier tritt nun auch hervor, welche inhaltliche Bedeutung der Erzählvorgang und innerhalb seiner der Grad an Deutungskompetenz der Erzählinstanz besitzt. Während im Koran die verkündigende Aussage so autoritativ ist, daß sie die Geschichte nur als Exempel nach sich zieht, spricht die Erzählinstanz im AT ohne Überblick über das Geschehen, ohne Einblick 26 Ein Germanist zur Theologie in das Innere der Figuren und ohne Durchblick auf den Sinn des Geschehens. Ihre Umsicht ist fast so gering wie in Kafkas „Prozeß“. Die Erzählung beginnt mit den Worten: „Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich.“ Die vorhergehenden Geschichten erzählen von Abrahams Schicksalen als „Fremdling“ auf seinen Wanderungen. Der Anschluß der Versuchungsgeschichte, warum sie chronologisch und inhaltlich gerade hier steht, ist ungesagt. Die Stimme Gottes kommt aus unendlicher Tiefe oder Höhe. Woran ist sie überhaupt als Gottes Stimme erkennbar? Keine Situationsbeschreibung findet statt, nur Abrahams Antwort: „Hier bin ich“, die alles heißen kann und heißt von der Ortsangabe bis zu grenzenloser Unterwerfung. Gott versucht Abraham im folgenden - warum? wozu? Und worin genau besteht diese Versuchung, ein Wort, das vom NT her eine enorme Aufladung und Rätselhaftigkeit gewinnt? Keineswegs deutet es auf eine bloße Gehorsamsprüfung, wie der Koran einengend motiviert. Vielmehr evoziert schon dieses Leitwort der Geschichte die Unfaßbarkeit Gottes, in die Abraham hineingerufen wird. Nichts verlautet über Abrahams Gefühle anläßlich des Opferungsbefehls, nur knappste Angaben über sein Handeln finden statt. Ebenso lastend wie Gottes Schweigen ist das zwischen Abraham und Isaak, Vater und Sohn, bis dieser nach drei Tagen der Stummheit angesichts der vollendeten Opfervorbereitungen ohne Opfertier endlich - doch wohl ahnungsvoll? - die Sprachlosigkeit durchbricht und fragt: Wer soll hier eigentlich geopfert werden? Nichts darüber hinaus von seiner Angst und seinem Nichtverstehen des Vaters und der Situation. Abrahams Antwort ist eine Lüge, die Gott schließlich wahr machen wird: „Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ Mehr bringt Abraham nicht über die Lippen. Verbirgt sich in der Lüge eine Abwehr, eine Hoffnung, eine Ahnung, ein Anruf Gottes, eine Weitergabe der Frage an ihn? Doch wohl ist die Richtung bezeichnet, in der Abraham in die Finsternis Gottes hineintastet. Dann folgen im Bericht in äußerster Knappheit, Sachlichkeit und darin Schrecklichkeit die Schritte bis zur „Schlachtung“. Und auch nach der plötzlichen Substitution des Widders ergibt sich keine Gefühlsschilderung Abrahams. Statt ihrer steht nur eine vielsagende Ortsbenennung durch Abraham: „Der Herr siehet.“ Er sieht auch den Menschen, der in der Finsternis Gottes steht. Die Stummheit des Leidens in dieser Erzählung, die auch vom Erzähler nicht gebrochen wird, ist fast noch quälender als der Anschrei Gottes im 88. Psalm. Der kommentarlose Befehl Gottes zum Kindsmord ist noch unbegreiflicher als das Schweigen Gottes in jenem Psalm. Und genau diese Abgründigkeit, in die wir als Hörer oder Leser durch den Erzählduktus einbezogen werden, macht nacherfahrbar, in welchen Abgrund Gottes hinein Abraham gehen muß - bis hinein in den Widerspruch Gottes mit sich selbst, der doch Abraham verheißen hatte, mit Isaak seinen Bund aufzurichten. Nicht ein Glaubensgebot wird hier eingeschärft, sondern eine existentielle 27 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte Glaubensentscheidung herausgefordert. Ich gehe in das Dunkel Gottes hinein, weil es das Dunkel Gottes ist. Und: Ich gehe hinein. Das Exempel des Koran für Glaubensgehorsam ist zwar an Abraham und Ismael als bekannten Frommen festgemacht, aber es geht um den ablösbaren Sachverhalt, nicht um diese Personen. In dem Maße, wie die Abraham-Isaak-Geschichte einer biographischen Erzählung von Abrahams Schicksalen integriert ist, in dem Maße auch, in dem die Figuren in der Geschichte Eigenleben gewinnen, wird beider Glaubenserfahrung ihre Erfahrung, die Erfahrung personhaft von Gott angesprochener einzelner, die den Leser oder Hörer als einzelnen trifft, jeden Empfänger der Erzählung im Gottesvolk als einzelnen angeht, wobei er, je weniger die Personen in ihren Gefühlen ausgesprochen werden, um so mehr dazu angeregt ist, ihnen seine eigenen Gefühle zu unterlegen. Deutlich wird in dieser Theodizee-Vorgeschichte wieder der Verlaufscharakter: Die Sprache argumentiert nicht; sie zieht als Erzählung in einen Vollzug hinein - den Erzähler, die erzählte Figur, den Hörer. Die Finsternis der Welt verdichtet sich in einer Finsternis Gottes, die nicht philosophisch als Bedingung der Möglichkeit des Lichts relativiert wird, sondern die Höhlung bildet, in deren fernstem Punkt erst das Licht aufgeht. Das ist erzählte Eschatologie in der Zeit. Der Herr sieht, und Abraham sieht zuletzt, daß der Herr sieht. Er hat die Erfahrung einer Himmelfahrt in einer Höllenfahrt gemacht. Das ist keine Verallgemeinerung der Gotteserfahrung zur Losung: Per aspera ad astra, weil am Ende kein Fazit und kein Resümee stattfinden. Candide in Voltaires Anti-Theodizee-Roman ist ein Exempel gegen - wie Abraham im Koran für - die von Gott garantierte Gerechtigkeit des Weltlaufs. Der Gott der Bibel macht lebendige Menschen nicht zu Exempeln von Allgemeinplätzen; er ist ein personaler Gott von Menschen in der Würde ihrer je Einmaligkeit. Die erzählte Theodizee der Bibel ist so nicht nur eschatologisch - hier: in der Rettung Isaaks vorweisend auf Gottes Erfüllung seiner Verheißung, Abrahams Samen zum zahlreichen Volk zu machen - sie ist auch eine individuelle Wahrheit, die uns bezeugt ist und deren Zeugen wir werden können; sie ist individuelle Wahrheit für alle, die auf individuelle Weise anzueignen ist. Es ist eben die Eigenart von erzählten Geschichten, daß sie rund und ganz und in großer Bild- und Prägekraft vor uns dastehen können und doch einen rational unauflösbaren Kern behalten als Stachel zu immer neuen Einfühlungs- und Verstehensanstrengungen. Begriffe werden begriffen; Gedanken gedacht. Ereignisse, Konstellationen und Personen jedoch sind unerschöpflich, nicht nur weil sie so reich, sondern auch weil sie individuell sind. Die Gestaltenfülle der alttestamentlichen Vätergeschichte - sie wird uns noch eindrücklicher, wenn wir sie im Koran auf den Typus des Frommen zusammenschrumpfen sehen. Und überhaupt ist Heilsgeschichte Geschichte gerade in ihrem Individuellsein, in ihrer Regellosigkeit, in der Lesbarkeit ihrer Wahrheit erst vom Ende her, die Sinn, aber nicht Regel erzeugt. 28 Ein Germanist zur Theologie 17 E. BLOCH, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, 1968, 148-166, dort 152. Das Buch Hiob Jüdische Theologie ist Heilsgeschichte als Theodizee zentral darin, daß die jüdische Bibel die Geschichte eines auserwählten Volkes unter die Frage stellt: Wie verhalten sich Auserwählung, Sünde, Strafe, Leid und Vergebung zueinander, worin äußert sich Auserwählung, geht sie auch durch Katastrophen, und wie sind sie zu verstehen? Der Weg der Befreiung von der ägyptischen Gefangenschaft kann als vierzigjähriger Läuterungsweg hin ins verheißene Land, letztendlich ins Davidische Großkönigtum gedeutet werden; aber die erste Tempelzerstörung, die neue babylonische Knechtschaft? Sie erforderten vom jüdischen Gottesvolk eine Umschreibung der Heilsgeschichte, Deutung der Katastrophe als strafendes Heilshandeln Gottes. Daß dieses Umschreiben nicht naiv ideologisch wurde, daß in ihm die Frage nach Gottes Gerechtigkeit immer weiter vorangetrieben wurde, dafür ist das großartigste Zeugnis das nachexilische, vielleicht in zeitlicher Nähe zur großen griechischen Tragödie anzusetzende Buch Hiob, das die schon erörterte Struktur biblisch erzählter Gottes-Infragestellung monumental erzählerisch ausprägt. Ernst Bloch, wohl auch er nicht ohne Wirkung auf Metz, tritt in seiner Hiob-Auslegung mit Recht der Domestizierung der Hiob-Gestalt nicht nur im Koran, sondern auch im Hauptstrang der christlichen Tradition zum frommen Dulder als einer Planierung von Hiobs Aufruhr gegen Gott entgegen. Bloch sieht hier den vollen Ausbruch des Theodizee-Problems in der jüdischen Bibel und zugleich seine Kassation durch eine Gestalt, die er zum Aufrührer, zum hebräischen Prometheus, ja, zur personifizierten Umkehrung der Werte macht: „Ein Mensch überholt, ja überleuchtet seinen Gott, das ist und bleibt die Logik des Buchs Hiob, trotz der angeblichen Ergebung am Schluß.“ 17 Doch in seiner schönen, ebenso spätmarxistischen wie spätexpressionistischen Leidenschaft nimmt Bloch den Text nicht wirklich ernst. Zunächst ist es eine Ungeheuerlichkeit, daß eine solche Geschichte unerhörter und unschuldiger Leiden als Versuchung eines Frommen durch Gott mittels des Satan und ein solcher Aufruhr des Leidenden gegen Gott überhaupt in der Heiligen Schrift der Juden und Christen einen kanonischen Platz gefunden hat. Und nicht nur das: Gott selbst, immer wieder von Hiob zur Antwort herausgefordert, sogar als gleichgültig gegen Gut und Böse beschimpft, antwortet ihm nicht nur, statt ihn stumm zu zerschmettern oder mit einer Strafrede als Gotteslästerer zu vernichten. Er straft darüber hinaus am Ende Hiobs Freunde, die Gott gegen ihn verteidigt haben, und stellt sich auf Hiobs Seite, indem er erklärt: „[…] ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.“(42, 7) 29 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte 18 Ebd. S. 152. All diese markerschütternden Klagen und Anklagen Hiobs gegen Gott waren also recht, und die Verteidigungsreden für Gott waren unrecht. Entscheidend für diese göttliche Wertung ist offenbar, daß Hiob - und sei es durch schwerste Vorwürfe - sich nicht von Gott abgewendet, sondern sich an ihn herangedrängt hat. Sein Geschrei ist Gebet, ist es gerade in seiner äußersten emotionalen Aufladung. In der Tat ist es eine Steigerung der Reden des leidenden Hiob, daß er vom anklagenden Reden über Gott zu seinen Freunden ins Reden und Rechten mit Gott selber fortschreitet. Was aber ist gegen die Freunde zu sagen? Bloch übergießt sie als „Glaubensspießer“ mit Hohn und Spott 18 , aber das ist nicht gerechtfertigt. Sie kommen zu ihm in seinem Elend, schweigen und leiden zunächst mit ihm, ehe sie das Wort zur Rechtfertigung Gottes ergreifen. Und dabei ist ihre Rede keineswegs banal. Im Gegenteil. Ihre Grundüberzeugung, daß, wo göttliche Züchtigung ist, auch Schuld sein muß, ist Theologie Israels. Hiobs schärfste Anklagen gegen Gott - das übersieht Bloch - sind nicht seine Reden zu Gott, sondern seine Beweisführungen gegen die orthodoxen Verteidiger Gottes, die er äußerst ernst nimmt. Innerhalb von Hiobs Theodizee-Disput mit Gott findet sich also, wie die Puppe in der Puppe, eine Binnenstruktur: Hiobs Theodizee-Disput mit den biblischen Theologen, die argumentativ eine Theodizee versuchen. Der Anfang der Dialoge ist erst einmal die schärfste Zurückweisung einer rein argumentativen Theodizee im Rahmen einer erzählten Theodizee. Wenn Hiob 19,25 in einem enormen Ausbruch die Gewißheit ausspricht, einen go’el (In der Lutherübersetzung „Erlöser“, in der Vulgata „redemptor“) zu besitzen, dann ist das - auch gegen die Anklagen seiner Freunde - ein Hilferuf an Gott, und nicht etwa, wie man nach Blochs eigenwilliger und verengender Übersetzung des hebräischen go’el als „Rächer“ meinen könnte, der Ruf nach einem Beistand, der ihn an Gott rächt. Dementsprechend dürfte Gottes Verwerfung der Freundesreden und ihre Bestrafung deshalb erfolgen, weil ihr Reden Gott rational zu übergreifen unternimmt, statt sich von seinem Wirken überwältigen zu lassen, wie es Hiob zu guter Letzt widerfährt. Sogar ihre Rede von der Unbegreiflichkeit Gottes ist gedankliche Formel, statt ihre Erfahrung. Daß aber - zunächst in Hiobs Reden anstelle der Stummheit Abrahams, dann in dem biblisch hier neuartigen Theodizee-Dialog zwischen Gott und Satan, schließlich in der Verschachtelung des Theodizee-Disputs - eine enorme gedankliche Erhellung und Durchdringung des biblischen Erzählens stattfindet, sei hier wenigstens am Rande erwähnt. Theodizee durch Erzählung meint im Blick auf das Ganze und doch auch höchst in sich Verschiedene der jüdisch-christlichen Bibel eine Theodizee, in welcher der Erzählakt eine 30 Ein Germanist zur Theologie 19 Diesen Gedanken verdanke ich, wie weitere wichtige Anregungen und Klärungen, dem Gespräch mit H. FOLKERS in Freiburg. 20 BLOCH S. 154f. zunehmend größere gedankliche Energie gewinnt, die sich als Komplexion der formalen Struktur konstituiert und durch sie äußert 19 . Der antwortende Gott im Hiob-Buch ist nun jedenfalls der überwältigende Gott, aber der Überwältigende ist auch der, der sich antwortend zu Hiob hinabbeugt und nach seiner Versuchung seine Auserwähltheit bekräftigt, denn Hiob hat die Versuchung bestanden als klagender Beter und betender Kläger. Wie Bloch die Freunde mißdeutet, scheint er mir auch Gottes Offenbarungsrede in der Schlußpartie des Buchs Hiob zu mißdeuten, wenn er in ihr eine der Bibel sonst fremde Theophanie einer dämonisch gemachten Isis oder des Natur-Baal schlechthin, einer vorprophetischen, ja, vorkanaanitischen Dämonie wahrnimmt, über die Hiob weit hinaus gewachsen sei 20 . Tatsächlich macht dieser Gott dem Herausforderer Hiob unter altertümlichen Bildern und Beispielen von Behemoth und Leviathan seine Unfaßbarkeit faßbar, die zeitdurchragend und keineswegs ein archaisches Relikt ist. Er strahlt den Schwindel und Schauder aus, der den neuzeitlichen Menschen beim Versuch erfaßt, die Tiefe des Weltraums und des atomaren Raums oder der Strukturen des Gehirns sich vorzustellen, einen Schwindel, der alle menschlichen Anschauungs-, Denk- und Handlungsdimensionen, damit auch all unser Denken von Recht und Unrecht, Strafe und Gnade und Liebe, zunächst einmal davonstieben läßt. Es spricht zu Hiob vorerst der Gott, der den Atompilz in derselben Schönheit erstrahlen läßt wie die todbringende Mikrobe unterm Mikroskop wie die Tulpe im Frühling. Doch gerade dieser Gott ist es nun auch, der vom Menschen als Gegenüber mit allen seinen Nöten und Verzweiflungen heimgesucht und angeschrien werden will. Das ist die erzählte Antwort des Hiob-Buchs: Gott nimmt Hiob an, und er war immer von Gott angenommen. Hiob hat es nicht gewußt, sonst wäre er nicht verzweifelt. Er hat es aber auch gewußt, sonst hätte er nicht gebetet. Das Neue Testament ist es dann, das, was hier als Sprung zwischen Majestätsoffenbarung und Zuwendung gewagt wird, im Gebet Christi vermittelt. „Vater unser, der du bist im Himmel“ - dieser kosmisch und mikrokosmisch in seinen Werken alle unsere Kategorien außer Kraft setzende Gott ist es, den „Vater“ zu nennen Christus ermächtigt. Und auch hier spricht wieder die Form der Darbietung: Es ist keine bloße Äußerlichkeit, daß die weitaus umfangreichste Textpartie des Hiob-Buchs dialogisch und damit dramenähnlich ist und doch eingerahmt wird von einer einleitenden und einer abschließenden erzählerischen Texteinheit. In den Dialogen treffen die Entgegensetzungen ungebremst aufeinander; der Erzählrahmen aber sieht schon den Anfang vom Ende her: In der Auslieferung Hiobs an Satan läßt Gott den Teufel die Vollkommenheit der Schöpfung in 31 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte 21 Gottfried Benn, Ges. Werke in acht Bänden, Hg. D. WELLERSHOFF, 1960, 1, S. 320. Hiob freilegen. Und er vertraut in der Wette mit Satan seinem Geschöpf Hiob den Beweis dafür an, daß die Schöpfung gelungen ist. Er setzt darauf, zu Recht, daß Hiob auch in der Qual Gott nicht fluchen und absagen, sondern an ihm festhalten wird. Fluchen hieße Wendung in die Gottlosigkeit (Spr 3, 33), der Abbruch der Reden, Verdammnis (Sir 41, 13). Aber es wird weiter geredet, und - so Gottfried Benn in seinem Gedicht „Kommt -“: „Wer redet, ist nicht tot.“ 21 In dieser Perspektive steht das Ganze des Hiob-Buchs. Der Fromme führt Gottes Sache, noch indem er ihn anklagt. So groß ist der Mensch, und so viel größer ist Gott. Auch der Erzähler des Buchs Hiob läßt den Leser oder Hörer Schritt für Schritt den Prozeß mitgehen, den Gegensatz der Positionen in sich nachvollziehen, überwältigt ihn wie Hiob durch die Gottesrede, und ist auch selbst von ihr überwältigt. Er hat die Komposition sehr deutlich in der Hand, und in der Komposition steckt hier die Summe der Geschichte, implizit, verborgen, erst durch die Komposition überhaupt voll hervorgebracht, der Arbeit der Interpretation als individueller und historisch relativer Aneignung bedürftig. Das tritt am schärfsten in dem heraus, was als Bruch in der Komposition erscheint und tatsächlich umgekehrt die Komposition unter Einschluß des Bruchs, sozusagen der geologischen Schichtenverwerfung, ist, damit die Krönung der kompositionellen Leistung. Ich meine die metábasis eis állo génos, die Bloch als einen Mangel konstatiert, von Hiobs Anklage gegen Gott im Schuld-Strafe-Schema und Gottes Majestäts-Antwort, die dieses Schema einfach beiseite wischt, um Hiob auf seine Punktualität zurückzuführen. Es wäre zu kurz gegriffen, in dieser komponierten Schichtenverwerfung einen kompositionellen Kniff des Erzählers zu sehen, und insofern ist der Begriff der Leistung unangemessen; vielmehr sehe ich den Rang des Erzählens hier gerade darin, daß der Erzähler sein eigenes argumentatives Nichtweiterkönnen in ein kompositionelles plus ultra verwandelt hat, statt es zuzudecken. Der Anstoß war hier herauszutreiben, an dem hängenzubleiben notwendig ist. Die List der kompositorischen Vernunft und der Frömmigkeit gleichermaßen war an dieser Stelle, möglicherweise hinter dem Rücken des Bewußtseins des Erzählers, mächtig. Hier am stärksten jedenfalls fordert die Geschichte das Bedenken der Geschichte ein, in einer Richtung, die von der Geschichte vorgewiesen ist, ein Bedenken nicht durch einen Klügeren als den Erzähler, sondern durch einen späteren, den Ausleger der Geschichte, der nur deshalb als theologischer Landvermesser auftreten kann, weil vor ihm ein Erzähler geistliches Neuland betreten hat. Im übrigen kann gerade an dieser Stelle wenigstens hingewiesen werden auf einen Sachverhalt, der, ausgeführt, den Rahmen der Überlegung sprengen würde. Es ist die Bedeutung der historischen Erfahrungsfülle, die der Aus- 32 Ein Germanist zur Theologie 22 Friedrich Gottlieb Klopstocks Oden. Hg. F. M UNCKER und J. P AWEL , 2 Bde., 1889. Dort Bd. 1, 72, Z. 41. Zu Hiob vgl.: G. KAISER, H.-P. MATHYS, Das Buch Hiob. Dichtung als Theologie (= Biblisch-theologische Studien 81), 2006. legung der erzählten Theodizee der biblischen Geschichten im Lauf der Geschichte zuwächst. Ich glaube, daß gerade an der hier umkreisten argumentativen Leerstelle der Hiob-Geschichte in zwei Epochen Massenschübe von historischen Erfahrungen einbrechen konnten: durch den Siegeszug der Naturwissenschaften von Kopernikus bis Newton, und durch die neuen Positionen der Naturwissenschaften seit dem 20. Jahrhundert mit Quantentheorie, Relativitätstheorie, Heisenbergscher Unbestimmtheitstheorie und Big- Bang-Theorie. Diese Einblicke wie nichts sonst konnten den Menschen auf seine Winzigkeit zurückführen; Winzigkeit, aber nicht Nichtigkeit. „Staub, und auch ewig“ - mit dieser Formel konnte Friedrich Gottlieb Klopstock 22 Mitte des 18. Jahrhunderts die Gottgeliebtheit des Menschen gegen den Weltallschauder behaupten, und nichts anderes leistet das Buch Hiob mit der Wiederaufrichtung des Helden, dem Gott, nach dem Durchbruch ins Unermeßliche, wieder Lebensraum und Maß gibt: Mein Knecht Hiob hat recht geredet. Matthäuspassion Es ist hier nicht der Raum, abschließend die Passionserzählungen des NT als erzählte Theodizee einläßlich zu erörtern, aber ich möchte doch in der bisherigen Spur einige Gesichtspunkte dafür in den Blick rücken, wobei ich mich auf das Matthäus-Evangelium konzentriere. Daß es vier gleichberechtigte höchst kompetente Erzähler der gleichen Geschichte gibt, von denen jeder spätere den vorliegenden Text kennt, zeigt ihr Moment an Unfaßbarkeit. Matthäus reagiert darauf vielschichtig. Einerseits nimmt er den vollen Überblick über den Verlauf der Geschichte Jesu bis zur Auferstehung und seinem letzten Missionsbefehl in Anspruch. Im Hinblick auf die Ereignisse erzählt Matthäus so autoritativ, daß er (was ja auch die antiken Geschichtsschreiber taten) zeugenlose Vorgänge um Christus wie die Versuchung in der Wüste und zeugenlose Reden Christi wie das Gebet am Ölberg im gleichen Tenor der Gewißheit und Direktheit vorbringt wie Ereignisse und Reden Christi vor Zeugen. Andererseits: wie schon bei dem Erzähler der Abraham-Isaak-Opferungsgeschichte und des Buches Hiob fehlt auch bei Matthäus der Blick ins Innere der Figuren weithin - im Gegensatz etwa zu Homer, der das Innere seiner Figuren hell ausleuchtet. Gefühlsregungen und Handlungsmotivationen der Figuren werden sparsam, knapp und von außen ins Erzählen der Vorgänge eingeflochten, die dadurch - wie beim Abraham-Opfer - etwas ebenso Eindringliches wie Undurchdringliches erhalten. Erst recht vermeidet Matthäus ausführliche Sinndeutungen. Bei der Darstellung von Christi Wander-, 33 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte Lehr- und Heiltätigkeit, vor allem für den letzten Aufenthalt in Jerusalem bis zur Gefangennahme, übernehmen zahlreiche direkte Reden Jesu, Gleichnisse und Predigten eine erklärende Funktion, aber gerade die umfangreichsten Äußerungen, etwa die Bergpredigt und viele der Gleichnisse, lösen sich von der Situation ab. Umso wichtiger für das Motivationsverständnis sind die Selbstprädikationen Christi, in denen er sich auf Prophetien und Verheißungen des AT bezieht und Aussagen über seine Messianität und Gottessohnschaft macht (herausragend Mt 16, 13ff). Es ist also auch für den Erzähler Matthäus festzuhalten, daß er zu seinem Gegenstand aufblickend erzählt. Die ‚Spitzenaussagen‘, die weites Licht werfen, kommen von Jesus Christus, dem Helden, nicht dem Erzähler der Geschichte. Trotzdem steckt auch hier allein schon in der Stoffauswahl, vor allem aber in der Anordnung und am meisten im Erzählakt selbst eine enorme implizite Deutungsenergie. Das gilt auch für die Einbettungen der direkten Reden Christi in ein Davor und Danach, einen Ort, eine Zeit, ein Handeln, ein Erleiden. So ist es vielsagend, daß auf die umfangreichste Wortverkündigung Jesu, die Bergpredigt mit ihrem starken praktischen Liebesappell und Umkehrimpuls, die begründungslos allein aus messianischer Vollmacht vollzogene Heilung des Aussätzigen folgt, eine Reinigung aus Gnade ohne Frage nach der Herzensreinheit oder Buße des Aussätzigen. Es hat allerhöchste Deutungskraft, daß die Stimme vom Himmel: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ anläßlich der Taufe (3,17) und noch einmal wortgleich bei der Verklärung auf dem Berg Tabor (17,5) stattfindet. Diese Offenbarung ist gerade als schlichte Tatsachenbehauptung, die keiner weiteren Beglaubigung oder Erläuterung bedürftig erscheint, und in ihrer Wiederholung eine Art Überschrift über das gesamte Evangelium, die der Erzähler setzt. Es wird deutlich, wie auch Gottesworte in der Hand und Verfügung der Erzählung bleiben. Der Erzähler ist es, der die Bergpredigt als direkte Rede aus dem Erzählbericht herausspringen läßt und ihr dadurch ihr Fluidum von Unmittelbarkeit und ihren erschütternden Ansprung verleiht. Der Erzähler ist es, der Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi schon allein durch die relative Ausführlichkeit der Schilderung der Vorgänge in die Mitte des Evangeliums rückt. Gerade wo monologische und dialogische Rede eine solche Eindringlichkeit wie hier gewinnen, bestätigt sich, daß die integrale Erzählung alle diese Verlautbarungen je für sich zur höchsten Geltung und zugleich zum vollen Zusammenklang bringt und daraus auch den Anredecharakter des Erzählens vertieft. Dennoch: Matthäus als Herr seiner Geschichte ist nicht der Herr ihres Sinns. Der Held der erzählten Geschichte überragt weit ihren Erzähler. Zuletzt ist es eine Überkreuzung von Bewußtseinshorizonten, welche die Unverfügbarkeit des Evangeliums, seine Resistenz gegen glatte lehrhafte Vereinnahmung, sicherstellt. Jesus Christus ist der Messias, der wiederkehren wird am Ende der Zeiten, auch und erst recht für den Erzähler, der um dieser 34 Ein Germanist zur Theologie frohen Botschaft willen erzählt. Als Messias ist Jesus für das Begreifen des Evangelisten in einem innersten Kern unerreichbar; aber der Evangelist als Herr der Geschichte läßt diesen seinen Herrn seinen Weg gehen, den er, der Evangelist, vom Ausgang her kennt, und der ihn, den Messias, in Dunkel, Ratlosigkeit und Schweigen hineingehen läßt. Es steht in markantem, kompositorisch erzeugtem Kontrast zu der Verbreiterung und Vertiefung der Lehrtätigkeit Jesu vor seiner Verhaftung, die sich bei Matthäus vor allem in Gerichtsreden, Gerichtsgleichnissen und Gerichtsprophetien zusammenfaßt. Von eschatologischem messianischem Feuer und Appell durchglüht, sind sie eine Hinführung auf das Abendmahl als Liebesmahl, aber wiederum auch Folie für das Gerichtsverfahren über einen sich sprachlich entziehenden Gefangenen. Zunächst lediglich durch den Mund des Hohenpriesters, als Anklage in Form der Beschwörung, kommt die Gottessohnschaft Christi zur Sprache (26, 63), so knapp und formal wie möglich vom Angeklagten beantwortet, ehe Jesus, die Bejahung der Verhörfrage noch provokativ überbietend und als totale Auslieferung an das Verfahren, hinzufügt, er, der hier vor Gericht steht, werde kommen als messianischer Weltrichter (wie bei Dan 7, 13 der Menschensohn) in den Wolken des Himmels. Mag hier noch eine letzte Warnung an sein Volk mitschwingen; vor Pilatus, dem Sendling einer fremden Welt, fällt nur noch das harte Bestätigungswort (27, 11). Das Gericht der Menschen, mag es noch so mächtig sein, ist nichtig. „Du sagst es“ (26, 64) - ihre Anklage, das Wort in ihrem Munde, richtet die Richter. Von nun an verstummt Christus im Fortgang der Passion, so daß die wichtigste bisherige Verständnishilfe, seine Selbstaussagen, gerade beim entscheidenden Geschehen ausfällt. Das Schweigen Christi wird bei Matthäus nur noch zweimal unterbrochen: mit dem Psalmzitat, in dem individuell formulierte Rede und Sinnerfahrung vergeht: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? “ (27, 46), und dem Todesschrei (27, 50). Weithin breitet sich quälend ausführlich nichts als schrecklichstes und in seiner Schrecklichkeit unerläutertes Geschehen aus, das den Leser oder Hörer, wie schon bei der Abraham-Isaak-Geschichte vorgeführt, suggestiv und ausweglos mitnimmt. Statt eines antwortenden Gottes und statt des Erzählers sprechen zuletzt Ereignisse und ein sachlich und menschlich Fernststehender, der Hauptmann des römischen Hinrichtungskommandos, ein Besatzer aus einer fremden Welt und Kultur. Der Vorhang im Tempel zerreißt - als bildliches Urteil über Tat und Täter (das Zerreißen des Gewands durch den Richter ist das Todesurteil), das zugleich gegenläufig als kryptisches Zeichen eines neuen heilsgeschichtlichen Äons gelesen werden kann, in dem in Christus das Allerheiligste Gottes vor aller Augen steht. Im Erdbeben reden die Steine, wo die Menschen verstummen, und stehen die Toten auf. Der Hauptmann ist mit seiner Rede wie das Echo eines fremden, höheren Wissens: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe! “ (3, 17; 17, 5) Wie ein sich auflösender Nachhall ist seine Aussage: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! “ (27, 54) Wenn 35 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte dieser Gottes Sohn gewesen ist, wie konnte das geschehen? Und wenn dieser Gottes Sohn gewesen ist, dann ist er Gottes Sohn, denn Gottes Sohn kann man vernünftiger Weise nicht gewesen sein, und kann Gottes lieber Sohn schreiend von Menschenhand sterben? Das ist Widersinn. Die niederschmetternde fast deutungslose Faktizität der Kreuzigung in der Erzählung des Matthäus mit dem zuletzt schreienden Jesus wirkt dadurch noch stärker, daß auch der lebende und lehrende und auf seinen Tod vorweisende Jesus vor der Passion zwar auf Messianität, Gottessohnschaft, Tod und Auferstehung hindeutet, aber nur als sogar den Jüngern im Tieferen unverständliche noch ausstehende Tatsachen. Ihre Nennung evoziert nichts von der grellen Gegenwart, welche später die Ereignisse im epischen Präteritum des Erzählers gewinnen. Kommt hinzu, daß der Menschensohn in seine Passion sehend und doch zugleich auch nicht sehend hineingeht. Sehend, wenn er wiederholt seinen Weg vorverkündet; verdüstert und blind vor Verzweiflung, wenn er in Gethsemane, von den in Erschöpfung und Leid schlafenden Jüngern allein gelassen, mit seinem Vater im Gebet darum ringt, der Kelch, den zu trinken er ja gekommen und gesandt ist, möge an ihm vorübergehen. Es muß im tiefsten Inneren Jesu hier eine Antwort vernommen worden sein, die als letztes Geheimnis der Erlösung dem Geschehen der Evangelien anvertraut, gleichsam sein Fluidum ist, aber als Wort unaussprechlich. Und dennoch: könnte ein Christus, der sich unverbrüchlich auf dem messianischen Erfüllungsweg durch den Tod zum himmlischen Vater weiß, seine Verlassenheit vom Vater als völligen Zusammenbruch erleben und hinausschreien? Seine Sendung führt durch das Vergessen seiner Sendung hindurch, führt durch das Vergessen aller seiner Vorhersagen, auch Sinnaussagen des eigenen Geschicks hindurch, und der Evangelist, so vieles er nicht weiß und erkennt, erkennt das und markiert so den äußersten Punkt der Passion in der vergeblichen Anrufung Gottes am Kreuz. Tod als Gottferne. Alles in allem entsteht so bei Matthäus eine Passionserzählung, die in nackter Faktizität wie ein Fels aus dem Leben und der Lehre Jesu herausragt. Denn diese ist zwar eschatologisch und damit messianisch ausgerichtet und streut zwar Verkündigungsfunken vom Sterben und Auferstehen des Messias und Gottessohns aus. Aber zentral ist sie eine radikale Liebesbotschaft, und Christi Messiasanspruch äußert sich zunächst vor allem darin, daß er diese Botschaft auf den liebenden himmlischen Vater durchsichtig macht. In Christus ist Gott; in ihm ist das Himmelreich nahe herbeigekommen. Aber in welcher Art und Weise die Nähe Gottes zum Menschen in ihm sich vollenden wird, ist nicht gesagt. Nichts von Opfertod, Auferstehung und Erlösung findet sich in der Bergpredigt und im Vaterunser! Damit gewinnt die Geschichte von Passion, Tod und Auferstehung, die ja die letzte aller Theodizee-Geschichten ist, weil sie nach christlichem Glauben Gott rechtfertigt als den, der den Menschen rechtfertigt, einen noch tieferen Rätselcharakter als alle bisherigen Theodizee-Geschichten der Bibel. 36 Ein Germanist zur Theologie Dabei zeigt die Passionsgeschichte in höchster Steigerung einen ähnlichen Verlaufscharakter wie diese anderen Geschichten, und es muß gesehen werden, daß in der Verlaufsanalogie erste Verständnisanstöße liegen. Der Fromme Abraham, der Fromme Hiob und Jesus werden gleicherweise ins tiefste Dunkel der Gottverlassenheit geführt. Wie Hiob Gott anschreit, so gesteigert Jesus in einem Schrei, der zugleich ein rituelles Gebet, eben Zitat des Anfangs von Psalm 22, ist. Beide adressieren den nicht hörenden Gott als einen Hörenden und lassen ihn so nicht los. Umso krasser noch das Schweigen Gottes beim Tod Jesu Christi. Allenfalls sprechen Tatsachen: - der reißende Tempelvorhang, die Steine im Erdbeben - und der römische Außenseiter. Man kann darin die Stimme Gottes hören, der sich im redenden Schweigen seiner Welt verbirgt. Und wo in begrifflich-argumentativer Rede wäre ein Zeichen denkbar, daß zugleich in sich noch ein Zeichen der Zeichenverweigerung ist? Dann folgt bei Abraham, Hiob und Jesus Christus - bei ihm erst im Durchgang durch den Tod -, denn doch noch eine Reaktion Gottes, die so mächtig ist, daß sie den Anschrei, im Fall Abraham den stummen Anschrei, aufnimmt und auf einer anderen Ebene beantwortet: so die Substitution des Opfertiers, so Gottes Rede zu Hiob und seine Segnung, so Christi Auferstehung. Wo die Steine reden, da reden auch die Erzählmuster. Noch ein weiteres Muster beginnt schon vor der Passion zu sprechen, und das geht nun über die anderen Theodizee-Geschichten weit hinaus, wie denn überhaupt das NT die schon anläßlich Hiobs festgestellte Linie einer fortschreitenden geistigen und geistlichen Verdichtung des Erzählens steil fortsetzt. Das neue Muster erscheint mit der - angesichts der vorhergehenden Erfolge Christi unerwarteten - Verkündigung Jesu, daß er ein Messias ist, zu Leid und Tod bestimmt (Mt 16,13ff). Er zieht mit seinen Jüngern seinem Tod entgegen in die heilige Stadt Jerusalem, wird als Messias-König empfangen und kurz danach als Aufrührer und Gotteslästerer hingerichtet. Doch was als Zusammenbruch seiner Messias-Mission erscheint, ist nicht nur durch Christi direkte Vorhersagen, sondern auch durch die Denkfigur der Umkehrung als deren Vollendung ahnbar. Tatsächlich findet sich diese Figur bereits im jüdischen Messianismus. In seiner Selbstoffenbarung auf Grund der Anfrage des gefangenen Täufers greift Jesus die eschatologische Bildlichkeit der verkehrten Welt auf. Er ist, wie er Johannes kryptisch mitteilt, der Messias, denn „die Blinden sehen, und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Toten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“ (Mt 11, 5f). Das ist jüdische Endzeitsymbolik, ein Zitat aus dem 35. Jesaia-Kapitel (5), das mit dem Jubelruf endet: „Die Erlöseten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen […]“ Die Welt, die so verkehrt ist, daß es Blinde, Lahme, Aussätzige, Taube und Arme und - als Abseitslage von Gott - Tote gibt, wird zuletzt vom Messias aus dieser schlimmen Verkehrtheit 37 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte heraus noch einmal ins Heil verkehrt; sie wird durch Verkehrung der Verkehrung von aller Verkehrtheit befreit. Das aber wird nun durch Christus in vorher unausdenkbarer Grandiosität dergestalt geschehen, daß es sich - und zwar eben als Erfüllung von Jesaia- Verheißungen - im Geschick des Messias selbst vorbildet und vollzieht. Und damit tritt neben die Inhaltsrelevanz der Erzählweise, neben die Strahlkraft der Herrenworte und die erhellende Kraft analoger Erzählmuster (die überbietende Antwort Gottes aus seinem Schweigen heraus) der vierte Strang einer erzählungsspezifischen indirekten Selbstkommentierung des Texts: die Markierung von Reden und Handlungen als - ebenfalls meist überbietende - Erfüllung alttestamentlicher Prophetien. Schon vorgeburtlich steht Jesus bei Matthäus im Zeichen der Jesaia-Prophezeiung vom Sohn der Jungfrau (Jes 7, 14; Mt 1, 22). Schon der Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu im Lande Sebulon und Naphtali nach der Überantwortung des Täufers ist Jesaia-Erfüllung (Jes 8, 23; Mt 4, 12ff); schon die frühen Heilungswunder Jesu sieht Matthäus als Erfüllung der Gottesknechtrede des Jesaia (53, 4f; Mt 8, 17), und eben in seiner Anwendung auf Jesus greift das jüdische eschatologische Bild der verkehrten Welt auf die herkömmliche jüdische Messiasvorstellung über und wendet sie selber um. Es ist die Spur eines neuen Jesaia-Verständnisses, die Rede vom leidenden Gottesknecht in die verbreitete jüdische Messias-Erwartung zu übertragen und deren Triumphalismus in eine Menschheitserlösung durch Leiden und Tod des Messias zu verkehren, und diese Spur ist bei allen vier Evangelisten so dicht, daß sie wohl mit Sicherheit auf das Selbstverständnis Jesu zurückweist. Dabei kommt eine Klimax der Paradoxien zustande. Wiederum unter einem Jesaia-Wort (62, 11) läßt Matthäus den Messias-König Jesus auf einer Eselin in Jerusalem einreiten (21, 5), und das Schweigen unter der Anklage (27, 12) steht abermals unter einem Gottesknechts-Bezug (Jes 53, 7), ebenso das Anspeien Jesu bei der sadistisch-inversen Huldigung als messianischer König der Juden durch die Kriegsknechte (Mt 27, 30, Jes 50,6) und seine Grablegung (Mt 27, 60, Jes 53, 9). Der durch den Geist Gottes gezeugte Jungfrauensohn herrscht durch Dienen, seine Machtsprüche sind Liebessprüche, er erweist sich in seiner Hinrichtung als König, wird am Galgen als Verbrecher zur Herrschaft erhöht, wird begraben und aufersteht als Lebensfürst aus dem Reich des Todes und fährt in den Himmel, wo er sich als stigmatisierter, von den Menschen ermordeter Menschensohn mit dem Schöpfer und allmächtigen Vater vereinigt. Von diesen Paradoxien her gewinnt auch das schon bei Abraham und Hiob formulierte Versuchungsmotiv und seine Plazierung in Mt 4 vor dem Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu seine eminente indirekte Aussage- und Deutungskraft. Die Versuchung Christi durch den Teufel ähnelt der Versuchung des ersten Menschenpaars durch die Schlange, im Ungehorsam gegen den Willen des Vaters durch Selbstermächtigung totale Lebensver- 38 Ein Germanist zur Theologie fügung zu erreichen. In Mt 4 ist es die Versuchung des Gottessohns, sich vom Vater zu emanzipieren und, dem Teufel folgsam, als Universalherrscher eine allbeglückende Weltherrschaft aufzurichten. Die Weise der Versuchung ist von äußerster Verführungskraft und übersteigt auch den Gott-Satan-Dialog bei Hiob dadurch, daß der Teufel sich bei Matthäus als Bibelgelehrter einführt und seine Aussagen patchwork-artig aus Bibelzitaten und Bibelverheißungen zusammensetzt. Umso deutlicher wird, daß hier in Zerrform die herrschende alttestamentliche Messiaserwartung zitiert ist. Sie äußert sich auch im Entsetzen des Petrus angesichts der Leidensprophezeiung Christi im Zusammenhang seiner Selbstoffenbarung als Messias und Gottessohn. Wegen der Zurückweisung dieses neuen Messiasbildes fährt Christus den eben erst selig gepriesenen Petrus so heftig als Satan an, weil sich darin die satanische Versuchung von Mt 4 an einem Wendepunkt seines Auftretens verschärft (16, 23); wegen der Umkehrgestalt seiner Messianität nennt Christus bereits in seiner Antwortrede an den Täufer diejenigen selig, die nicht Ärgernis an ihm nehmen. Die Vorspiegelung der glücklichen Welt eines Messiastriumphs steht bei Matthäus strukturell an der gleichen Stelle, die im Buch Hiob die Reden der theologisch gebildeten Freunde mit ihrem Beharren auf einem Sünde-Strafe-Schema Gottes einnehmen. Dem Wunschbild der vollkommenen Strafgerechtigkeit Gottes dort als negativem Theodizee-Gedanken steht hier das Positiv gegenüber: die fraglos wunschlose Welt eines strahlend sieghaften Messias. Doch in diesem Zeichen tritt Christus von Anfang an nicht auf. Er tut Wunder, gewiß. Aber der messianische Heiler geht auch an Tausenden Heilungsbedürftigen, der Sättiger auch an Tausenden Hungrigen vorbei, und so sind seine Wunder zugleich Ärgernis. Er verbirgt immer wieder die Momente seiner aufblitzenden Herrlichkeit und Vollmacht, ruft nicht bei seiner Festnahme Engellegionen herbei (26, 53), denn ihm ist der Weg der Allmacht in der Ohnmacht vorgezeichnet. Im schneidenden Kontrast zur Fata Morgana Satans bei der Wüstenversuchung finden wir Jesus, statt auf der Zinne des Tempels zu Jerusalem, des höchsten jüdischen Heiligtums, am Kreuz. Wie die Gottesrede zu Hiob eine metábasis eis állo génos ist, die unvorhersehbar überwältigend die jüdische Theologie von der Gerechtigkeit Gottes überfliegt und einen neuen Raum göttlicher Selbstbezeugung öffnet, so sprengt der Passionsweg Christi zur Vollendung seiner Messianität - auf den Spuren Israels über Israel hinaus - in der brutalen Tatsächlichkeit seines Vollzugs noch einmal die Dimensionen seiner eigenen biblisch überlieferten Lehrreden, auch über sein Verhältnis zum Vater und sein messianisches Mittlertum, und hier erst liegt der letzte Grund für das explizit deutungslose Schweigen über der Passion und das Sprechende dieses Schweigens im Kern der Begegnungszone von Vater und Sohn: Es sagt das äußerste, - daß nach und trotz aller Verkündigung durch Christus das letzte Geheimnis dem Menschen nicht in Worten mitgeteilt werden kann, daß es erst und nur in der „Taten- 39 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte 23 Martin KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus. Leipzig 1892, S. 46. sprache“ 23 voll zur Erscheinung kommt, als Geschehen, und so ist die höchste, alle Möglichkeiten der Durchgeistigung der Rede extremierende und zugleich sprengende Formulierung der Offenbarung - auch nach so viel Offenbarwerden - paradoxer Weise die ultimative Zusammenballung in die radikale Implizitheit des nachträglichen erzählerischen Gesagtseins gerade beim Passionsbericht. Abrahams Stummheit stand am Anfang dieser Überlegungen zur erzählten Theodizee. Und nach dem Durchgang durch Lehre und Verkündigung ist nun bei Matthäus wiederum der Rest Schweigen, aber dieses Schweigen faßt alle möglichen vorhergehenden Explikationen, sie übersteigend, in sich zusammen. Es ist die letzte erzählerische Erscheinung dessen, was Mose widerfährt, wenn ihm erlaubt wird, dem unsichtbar an ihm vorübergegangenen Gott hinterherzusehen (Ex 33, 19ff). Biblisches Erzählen der Heilsgeschichte ist: Gott Sehen in der einzig menschenmöglichen Weise, als ihm Hinterhersehen. Am meisten gilt das für die Passionserzählungen. Christus am Kreuz als Lebender und Sterbender ist das letzte Wort Gottes, jetzt nun gänzlich Fleisch gewordenes Wort, und alle menschliche Rede kann zuletzt nur wie der überlange Zeigefinger des Täufers im Isenheimer Altar auf diese ‚Körpersprache‘ zurückweisen. Eine Bedingung der Möglichkeit dieses Geschehens ist der geheime Charakter der Inthronisation in den Legitimationsworten: „Dies ist mein lieber Sohn“, die vorgreifend den Majestätsmantel um den Beter von Gethsemane legen (3, 17; 17, 5). Die Bedingung der Möglichkeit des Erzählens ist, daß ‚Gott Hinterhersehen‘ in Bezug auf die Passion Sehen von Ostern her ist und die Passion in Auferstehung und Missionsbefehl mündet. Das Sprachüberschreitende kann zu Worte kommen, ja, äußerste Sprachmächtigkeit erreichen, weil das Geschehen die Zone der Sprachlosigkeit durchschritten hat. Von der Passion her wäre die Passionserzählung nicht möglich. Aber der Missionsbefehl heißt auch: Wovon man nicht reden kann, davon sollt ihr reden, und diese Rede soll bis zum Ende und den Grenzen der Welt weitergehen. Das ist - skizzenhaft und auf die Spitze getrieben - ein Interpretationsergebnis für die Theodizee-Frage bei Matthäus, wobei ich den Text jenseits textgeschichtlicher Befunde als so intendierte Endfassung nehme. Er gibt keine konsistente Christologie und Erlösungslehre. Passion, Tod und Auferstehung, damit die Kulmination der Erscheinung Jesu Christi, sind in den Evangelien erzählt, perspektiviert, aber nicht erklärt. Explizite Theologie läuft der Geschichte, die die Evangelien im Rückblick erzählen, noch einmal hinterher, auch wenn sie ihr, wie bei Paulus, entstehungsgeschichtlich vorhergeht. Sie darf, die Evangelien vorausgesetzt, nicht den grundsätzlichen Sachverhalt überspringen, daß der Text in seiner unerbittlichen Weise, eine Geschichte 40 Ein Germanist zur Theologie 24 In Bezug auf das Markusevangelium spricht CAMPENHAUSEN die theologische und kirchengeschichtliche Bedeutung einer erzählten Jesusgeschichte 144f prägnant an. 25 zur Schwellenbedeutung des späten Schelling s. H. FOLKERS, Philosophie der Geschichte bei Hegel und Taubes und geschichtliche Philosophie seit dem späten Schelling (in: Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes. Hg. R. FABER u.a., 2001,193-219). und nichts als eine Geschichte, und sei es die des Gottessohns, zu erzählen, letzte Aussagen macht und auch verweigert. Diese Verweigerung ist nicht eine Abweisung, sondern eine Herausforderung des Weiterdenkens, ist durch die Jahrtausende hindurch von Theologie und Kirche ein Inzitament von Theologie gewesen und wird und will es bleiben. Das in seinem Bewußtseinshorizont begrenzte Erzählen von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi enthält in allerhöchstem Maß den Anstoß, der schon bei den Erzählungen von Abraham und Hiob bemerkt wurde: alle Kräfte des Empfängers der Botschaft, auch sein Verstehen, auch sein historisch und individuell relatives Verstehen zur letzten und höchsten Anstrengung einzusetzen. Die biblische Erzählung ist das Primäre, gewiß; aber sie eröffnet ein Wechselspiel der Erzählung und Auslegung von der Interpretation und Reflexion der Textgestalt bis hin zur theologischen Konstruktion, das erst lebendiges Christentum ausmacht. 24 Es kann hier nicht darum gehen, eine Theologie des Kreuzes und damit eine theologische Theodizee nach Matthäus nachzureichen, sondern nur darum, die Aufgaben, den Status und die mögliche Reichweite solcher theologischen Theodizee anzudeuten. Es ist klar, daß es auch keine Theologie des olympian view-point geben kann; Theologie kann weder allumfassend noch endgültig sein. Trotzdem wird ihr Provisorisches sich vom Provisorischen des Erzählens unterscheiden. Das Erzählen konkretisiert und individualisiert. Theologie abstrahiert und verallgemeinert, aber ihre Abstraktionen können und dürfen sich - im Unterschied zu denen der klassischen Philosophie von Platon bis zum späten Schelling 25 - mit einer mittleren und situativen Reichweite zufrieden geben, die eine Ablösung vom grundsätzlich pragmatischen Charakter der biblischen Gottesoffenbarung und ihrer Konsistenz in ihrem pragmatischen Charakter ebenso vermeidet wie das Absehen von der Standortgebundenheit hermeneutischer Erkenntnis. Die Wahrheit des Pragmatischen und Individuellen kann nur hermeneutisch zur Erscheinung gebracht werden. Trinitätslehre, Zwei-Naturen-Lehre, Lehre von der Selbstzurücknahme Gottes, vom Leiden Gottes und Leiden an Gott, Zulassung und Providenz, noch die tiefsinnigsten Theologumena, die die Theologiegeschichte hervorgebracht hat, können nur facettiert das Ganze des Heilsgeschehens in den Blick nehmen und es fragmentiert begrifflich auf Konsequenzen ausschöpfen, wobei wohl jedes der so entstandenen Konstrukte offene oder verdeckte Widersprüche zu anderen in Kauf nehmen muß. Sowohl der Wille zum letzten wie die Einsicht, es nicht erreichen zu können, gehören zu diesem Unternehmen. 41 Theodizee als biblisch erzählte Geschichte Allein diese Verfahrensweise ermöglicht es, bei der grundsätzlichen Unmöglichkeit einer geschlossenen rationalen Theodizee, theologisch eine wenigstens sinnvoll scheiternde Theodizee zustande zu bringen. Sie scheitert von vorn herein darin, daß die Bibel, auf die sich Theologie bezieht, das Verhältnis von Allmacht Gottes und Willensfreiheit des Menschen nicht grundsätzlich angeht - siehe das Judas-Problem - und das Böse als gegeben voraussetzt - die Schlange im Paradies, Satan im Buch Hiob, den Teufel in der Versuchungsgeschichte Jesu. Die biblische Frage nach der Rechtfertigung Gottes durch die Rechtfertigung des Menschen beschränkt sich auf den Sieg über das Böse. Was sie aber philosophischen Theodizeen voraus hat, ist ihre Fähigkeit, die Rechtfertigung Gottes nicht im Allgemeinen eines Begriffs oder einer Idee oder einer Synthese denken zu müssen. Diese wäre konstruierbar und konstruiert, damit Negation der Kontingenz. Aber die theologische Theodizee denkt das Unausdenkbare. Es ist der Zusammenfall tausendfältiger diffuser und auch gebündelter, individuell und auch historisch begründeter Sünde und Blindheit und partikularer Bestrebungen, eingesprengt ein paar Blitze des verzweifelten Glaubens, mit weltbegründender Notwendigkeit eines Gotteshandelns, das auch den Vater in die Verlassenheit führt, die er dem Sohn bereitet. Das Böse ist losgelassen in seiner sinnlosen Nichtigkeit und Zufälligkeit und Negativität, das Gewimmel eines toll gewordenen Ameisenhaufens, und gerade darin Medium eines Heilshandelns, nicht dialektisches Moment eines Vollendungsprozesses. Das Sinnlose dient dem Sinn, einem Handeln Gottes mit sich selbst, damit - in Anlehnung an Metz, aber über ihn hinaus formuliert - einem Leiden in Gott als Leiden an Gott. Das kann die Theologie aber nur denken, weil und soweit sie dem Geschehen hinterher denkt. Und sie kann es nur, weil sie es am Ende aller Denkanstrengungen verstummend tun kann - letztendlich im Zeigen auf eine erzählte Heilsgeschichte, die ihre Eintragungen auf einem Zeitpfeil, und nicht auf einem logischen Pfeil vornimmt. Noch einmal: auch im theologischen Rezeptionsprozeß der Bibel wiederholt sich die Kreuzigung. Bleibt die positive Wendung dieses Befunds: Noch im Abgleiten des Erzählens von der unsäglichen Wirklichkeit des sich offenbarenden Gottes, noch im Abgleiten der Lehrformeln vom Geheimnis des Erzählens findet nicht nur Verhüllung, sondern auch Offenbarung statt. Daß der Höhepunkt des Wandels des Gottessohns auf Erden im biblischen Text lehrhaft nicht eingeholt werden kann, daß er alle innertextuellen und außertextuellen Deutungen überragt, daß zuletzt auch Christi Lehre hinter seiner Lebensvollendung im Untergang zurückbleibt oder besser von daher in neues und tieferes Licht rückt, das ist begründet in der Christus-Rede des Johannes-Evangeliums: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (14, 6) Christus ist zuletzt nicht Verkündiger einer Wahrheit als Lehre, er ist die Wahrheit in der Fülle seiner Existenz, die den Weg durch Tod und Auferstehung geht, deshalb kann man ihn auch nicht in einer Lehre völlig auslegen. 42 Ein Germanist zur Theologie 26 II, 2; Goethes Werke, Hg. E. Trunz, 1948ff, 8, 164. So ist das letztlich und höchst Zusammenfassende - das bildhafte Zeichen. Es ist Erzählungsverdichtung und -stillstellung in dem Moment, der alle vorherigen und nachfolgenden Momente der erzählten Geschichte in sich enthält, damit wiederum auch einen Splitter unauflöslicher Stummheit und Rätselhaftigkeit. Das größte dieser Bilder ist das Kreuz mit seiner Inschrift. Es ist mißverstanden als „Martergerüst“, das dem „Anblick der Sonne auszusetzen“ eine „verdammungswürdige Frechheit“ ist, wie Goethe in den „Wanderjahren“ 26 in geschmäcklerischem Humanismus meint. Was es ist, sagt die Inschrift an diesem verkehrten Thron Davids: Jesus Nazarenus Rex Judaeorum. Diese Inschrift ist justizförmig veröffentlichtes Urteil, enthält römischen Hohn und weltmännische Skepsis, Ironie des Pilatus gegen die Judenobrigkeit, die ja bei Johannes diesen Titel (19,21) ausdrücklich zur Anmaßung des Gekreuzigten erklärt haben will, und vielleicht auch ironische Abwehr des Tremendum und Fascinosum, das den Römer für einen historischen Moment seines Lebens in Jesus Christus angeweht hat. Aber alles in allem und über das Bewußtsein aller Beteiligten hinaus ist diese Inschrift sieghafte Offenbarung der Wahrheit im Kreuz: Dies ist der König der Juden, der Messias aus dem auserwählten, Menschheit repräsentierenden Volk, damit aller König, von allen Menschen und um aller Menschen willen ans Kreuz gebracht, der Hingerichtete als Sieger, der König als Verbrecher, der Erniedrigte als der Erhöhte, am Galgen als Thron. Dieses Bild als Zusammenfassung der Geschichte, die das Christentum ausmacht, ist die Theodizee. Darüber eschatologisches Licht. Hans Blumenberg mit seinem Essay unter dem sarkastischen Titel „Matthäuspassion“ hat Bachs „Matthäuspassion“ mit dem Kreuz in der Mitte zwar falsch interpretiert, aber sein kluges und ironisches Denken hat an der richtigen Stelle angesetzt: da, wo die Selbstherrlichkeit der Philosophie aufhört. Volkszählung und Gottesgeburt. Überlegungen zu Weihnachten Die historisch datierte Geburt des Gottessohns Die Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums ist uns so vertraut, daß wir leicht über ihre Ungeheuerlichkeit im ganzen und ihre Befremdlichkeit im einzelnen hinwegsehen. Eine Merkwürdigkeit steht schon am Anfang: „Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war […].“ Diese scheinbar exakte Datierung ist fragwürdig, wie uns die Historiker erklären. Aber umso deutlicher ist das Bestreben des Autors, der Weihnachtsgeschichte einen markanten historischen Ort zuzuweisen. Damit wird die Geburt eines Gottessohns von einer Menschenfrau, die auch andere Religionen kennen, aus dem Raum des Mythos in die Geschichte versetzt. Geschichte wiederholt sich nicht, aber alle geschichtlichen Ereignisse wirken in ihrem Verlauf weiter. Eine geschichtlich datierte Gottesgeburt verändert ein für alle Mal die Welt, stellt sie gemäß der Botschaft des Neuen Testaments ins Licht der Erlösung. Die historische Datierung der Christgeburt sagt auch, daß die Menschwerdung ein Geschichtlichwerden Gottes ist. Er hat sich in freier, schöpferischer Entscheidung in diesen geschichtlichen Zeitraum begeben und sich dessen Voraussetzungen unterstellt. Der lehrende Christus sagt und tut revolutionär Neues, aber er tut es aus der Tradition des Judentums der Zeitenwende heraus. So ist es bewegend, mit welcher zeituntypischen Selbstverständlichkeit und Energie Christus Frauen zu Empfängern und Trägern seines Evangeliums gemacht hat. Dagegen scheint es mir töricht, krampfhaft nach weiblichen Zügen seiner Gottesvorstellung zu suchen. In einer patriarchalischen Gesellschaft ist es Umsturz genug, den unnennbaren Herrn als: „Abba, lieber Vater“, also „Väterchen“, anrufen zu lassen. Es wäre ein Nichternstnehmen der Inkarnation, einen Christus zu verlangen, der mühelos im Mainstream unserer Tage schwimmt. Nur indem er sich vor 2000 Jahren bis zur letzten Konsequenz auf die Geschichtlichkeit des Menschen eingelassen hat, hat er sich auf alle Menschen eingelassen, darin auch auf uns. Umgekehrt ist festzustellen: die Allgegenwart Gottes schlägt mit Christus wie ein Blitz in die Geschichte ein, und zwar an einem Punkt, der für die 44 Ein Germanist zur Theologie frühen Christen sehr viel näher war als für die Verfasser des Alten Testaments die zentrale Gottesbezeugung des Judentums, die sich im Dunkel der Sage verliert: die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Der horizontale Ablauf der Weltgeschichte wird durch die Geburt Christi senkrecht durchkreuzt. Von nun an ist in einem tieferen Sinn nichts mehr, wie es war. Das Judentum hat die Rettung aus der ägyptischen Gefangenschaft und den Gottesbund am Sinai als Beginn seiner Geschichte als Gottesvolk, als unmittelbaren Geschichtseingriff Gottes gedeutet. Das Neue Testament aber geht auf der gleichen Spur viel weiter. Es deutet die Christusgeburt als geschichtliche Menschwerdung Gottes. Christus und Augustus Dabei ist die Einführung des ersten und berühmtesten aller Römischen Kaiser als maßgeblich handelnde Person in die Geburtsgeschichte von großer Prägnanz. Christus ist - nach neutestamentlicher Verkündigung - in der Verborgenheit messianischer Friedensfürst; das Reich der göttlichen Herrlichkeit, die endzeitliche Neuschöpfung des Himmels und der Erde hat in seiner Geburt begonnen. Es steht noch aus, und es ist keimhaft schon da. Aber auch der Römische Kaiser Augustus hat sich feiern lassen als der Begründer eines Friedensreiches und einer Friedensepoche, der Pax Augusta, die so weit reichte, wie das römische Weltreich seine Grenzen in die Finsternis des Barbarentums hinausverlegen konnte. Der Orbis terrarum, der Erdkreis, ist nach römischem Verständnis der Orbis Romanus. In Rom wurde die Ara Pacis als Heiligtum des julischen Hauses errichtet, dem Augustus zugehörte. Vergil hat wahrscheinlich ihn in der geheimnisvollen vierten seiner Eklogen gefeiert, wo der Dichter die Geburt eines göttlichen Kindes verkündet. Es soll das Goldene Zeitalter der Welt erneuern, das in Bildern geschildert wird, wie sie ähnlich in den messianischen Reden der Bibel vorkommen. Die Römischen Kaiser von Augustus an sind als Götter verehrt worden. Das kultische Kaiseropfer, das den Christen in der Verfolgung abverlangt wurde, eröffnete die Alternative: der Gottessohn Christus, der König, dessen Königreich kein Ende haben wird - so der Verkündigungsengel zu Maria Lk 1,33 - oder der Gottkaiser. Diese Konstellation wird im Weihnachtsevangelium eröffnet. Das römische Friedensreich des Augustus hatte nun aber seinen Ausgang in Bürgerkrieg und Proskription, nicht in einer göttlichen Liebes- und Friedensbotschaft. Es ruhte auf den massiven Fundamenten der Macht, der Verwaltung, der Kriegsführung und der Besteuerung, und so war das Gebot des Kaisers Augustus, daß alle Welt geschätzt würde, dem wir, gemäß Lukas, die Geburt Christi in einem Stall von Bethlehem verdanken, ein Zensus, wie Luthers Übersetzung mit dem Begriff der Schätzung exakt sagt, eine Personenstandserhebung für die Steuer. Lukas gibt ihr äußerstes Gewicht. Der Kaiser 45 Volkszählung und Gottesgeburt wird direkt zum Urheber gemacht, und gezählt wird, wie der griechische Urtext sagt, die ganze Oikumene, die ganze bewohnte Erde, die Lutherübersetzung formuliert noch knapper und allgemeiner: „alle Welt“. Die ganze Welt wird quantifiziert und registriert. Volkszählung als Herausforderung Gottes im Alten Testament Und das lenkt nun die Aufmerksamkeit auf den speziellsten Bedeutungsinhalt dieser historischen Datierung. Volkszählungen sind heutzutage eher neutrale statistische Maßnahmen, obgleich es noch gar nicht so lange her ist, daß vor allem eine außerparlamentarische Opposition den Widerstand gegen eine Volkszählung in der Bundesrepublik mit der symbolischen Aufladung des Zählens zum Zeichen der Staatsomnipotenz entfachte. Im Altertum - sowohl in der griechisch-römischen Antike wie im Alten Testament - kann die Zählung des Volks als Hybris und Frevel, als Anmaßung göttlicher Allwissenheit und Allmacht verstanden werden. Im Zusammenhang der Wüstenwanderungszeit berichtet das Alte Testament von Volkszählungen auf Befehl Gottes, die der Aufstellung des Heerbanns, der Ordnung des Opfers und der Landverteilung dienten. Der alte König David aber befiehlt auf dem Boden des inzwischen institutionalisierten jüdischen Königtums und auf dem Höhepunkt seiner Macht aus eigener Machtvollkommenheit eine Zählung des jüdischen Volks, die in der Sicht der alttestamentlichen Chronik den Sündenfall wiederaufnimmt. Dort reizt die Schlange den Menschen, die Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen, derart göttliche Allwissenheit und damit Allmacht zu gewinnen. Über Davids Volkszählung heißt es 1 Chron 21,1: „der Satan stund wider Israel und reizte David, daß er Israel zählen ließe.“ So wichtig ist übrigens diese Volkszählung, daß sie im Alten Testament gleich zweimal berichtet wird, nämlich außerdem noch im 2. Buch Samuel 24,1ff., wobei die Unterschiede zwischen der Samuel-Erzählung und dem Chronik-Bericht hier unerörtert bleiben müssen. Das Volk zählen - das ist jedenfalls in beiden Darstellungen eine Umschreibung dessen, was dem Menschen nicht zusteht. Dem Stammvater Abraham ist von Gott verheißen worden, er wolle seinen Samen wie den Staub auf Erden (Gen 13,16) und die Sterne am Himmel machen (15,5). Den Staub und die Sterne zählen ist eine Metapher für göttliche Allwissenheit. Es zu versuchen, ist der Griff nach der Gottgleichheit, der Schritt in die Selbstvergötterung. „Kann ein Mensch den Staub auf Erden zählen, der wird auch deinen Samen zählen“, sagt der Herr zu Abraham (Gen 13,16). Und so sträubt sich ausgerechnet der mit der Volkszählung beauftragte Heerführer Joab gegen das gotteslästerliche Unterfangen, weil es keinen anderen Grund erkennen läßt als Davids Willen zur Dokumentierung, Registrierung und Demonstration seiner überaus erfolgreichen Herrschaft mit ihrer großen 46 Ein Germanist zur Theologie Volks- und Landesvermehrung. Was Gott einst dem Abraham als überschwenglichen Segen zugesprochen hat, das beginnt David größenwahnsinnig nachzurechnen und sich als Guthaben zuzuschreiben. Statt, wie der junge David nach dem Sieg über Goliath, die Herrlichkeit Gottes zu preisen, will er sich in seiner Selbstherrlichkeit sonnen. Und Gott antwortet auf diese Provokation mit einer furchtbaren Pest, die Davids Volkszählung zu Makulatur macht. Volkszählung und Gottesgeburt im Neuen Testament: Jesus als Ziffer und als „eingeborener Sohn“ Die lukanische Motivverknüpfung zwischen einer Volkszählung des römischen Kaisers Augustus und der Christusgeburt im Stall von Bethlehem ruft diese Erinnerung herauf, die in Israel sehr gegenwärtig war. Stand doch der Tempel von Jerusalem an der Stelle des Sühnealtars, den David da errichtet hatte, wo durch Gottes Gnade das Strafgericht der Pest angehalten worden war. In den Tempel, in dem das Gottesvolk seine Auserwählung und seinen Gottesbund feiert, ist die Erinnerung an Davids Autonomiefrevel und seine Rückkehr unter Gottes zugleich segnende und strafende Hand eingemauert. Wiederum werden bei Lukas eine menschliche Aktion hybrider Weltverfügung und göttliches Handeln aufeinanderbezogen - wie in der alttestamentlichen Geschichte von der Volkszählung König Davids. Wieder, jetzt mit weit perfektionierten bürokratischen Mitteln, soll Herrschaftswissen, ein Stück menschlicher Allmacht, gewonnen und bewiesen werden. Und dabei wird nun das Verhältnis von menschlicher Herausforderung Gottes und göttlicher Antwort bis zum äußersten zugespitzt und überraschend gesteigert. Gott antwortet nämlich nicht mit einem Strafgericht, sondern mit seiner Menschwerdung in Jesus Christus, die ein Akt der Allmacht in der Erscheinungsform der Ohnmacht ist. Die Geburt des Gottessohns läßt biblisch zwei Sphären dramatisch und doch völlig lautlos ineinander stoßen: Jesus mit der Heimatgemeinde Nazareth, geboren in Bethlehem, ist irgendeiner aus den Millionenmassen, die der römische Verwaltungsapparat erfaßt. Kaum geboren, wird er als Ziffer verbucht. Doch dieser verwaltungsmäßig erfaßte, infolge einer Verwaltungsmaßnahme überhaupt erst in Bethlehem geborene Säugling Jesus ist zugleich, wie die Christen aller Zeiten und Räume bekennen, das fleischgewordene Schöpfungswort, Gottes „eingeborener“, also einziger Sohn, Retter, Mittler, Erlöser, Träger all der Arttribute, mit denen die Christenheit ohnmächtig seine Einzigkeit umkreist und umschreibt. Der kleine Jedermann, eine Nummer, ist die Mitte der Geschichte; der kleinste Teil einer Summe ist, vom weitsichtigen römischen Reich registriert und ignoriert in einem, die Potenz aller Potenzen. Und ausgerechnet die römische Verfügung, die alle Leute 47 Volkszählung und Gottesgeburt zur Zählung in die Stammgemeinde ihrer Sippe zurückbeorderte, hat diesen Heiland im Schoß seiner Mutter aus der Niemandsgemeinde Nazareth („Was soll aus Nazareth Gutes kommen? “ fragen die Leute Joh 1, 46), wo die Eltern wohnten, für seine Geburt weggeführt nach Betlehem, der Stadt Davids, und damit ein Zeichen der Verheißung auf ihn als neuen David, und das heißt nach alttestamentlicher Prophetie als Messias, gelegt (Micha 5, 12; Mt 2, 3-8; Joh 7, 42). Das Lukas-Evangelium markiert damit die ahnungslos und anmaßend zugleich herumregierenden Römer als Werkzeuge der Heilsgeschichte. Ebenso präzise wie beiläufig rückt die Weihnachtserzählung des Lukas das selbstzufriedene Weltreich in den Blick, das als Steuer- und Verwaltungsstaat das neue Goldene Zeitalter des Heils kreieren will und dabei keinen Platz und keine Rubrik hat für die Geburt des Heilsbringers. Wo in der Lutherischen Übersetzung: „kein Raum in der Herberge“ steht, verwendet der Urtext des Lukas die Worte „ou tópos“, deren härtester Sinn sich vielleicht am treffendsten mit dem Buchtitel der Christa Wolf „Kein Ort, nirgends“ ausdrücken läßt. Die Welt hat keinen Ort für den Gottessohn, aber an diesem Nichtort erscheint er, der doch durch ihn der Ort aller Orte, die Achse der Welt und der Geschichte ist. Darin faßt sich eine überwältigend neue Verknüpfungsweise menschlichen und göttlichen Handelns zusammen. Nicht: menschliche Hybris ruft, quasi kausal, göttliches Strafgericht hervor. Sondern: ausgreifende menschliche Weltmacht wird von göttlichem Handeln unmerklich und darin um so tiefgründiger durchkreuzt. Das göttliche Handeln nimmt den - geistlich blinden - menschlichen Aktionismus in Dienst, und zwar in zweierlei Hinsicht: um ihn sich selbst entlarven zu lassen und um sich dabei als Heilshandeln zu verwirklichen. Daß - auch in einem geistigen Sinn - kein Raum in der Herberge ist für das göttliche Kind, daß es auf der Zählungsliste zwar steht, aber nicht erscheint, richtet die Menschen. Daß Gott die Peripherie zur Mitte seiner Selbstoffenbarung macht, schmilzt nach biblischer Vorstellung das Gericht in die Gnade ein. Macht und Ohnmacht Schon der Gott des Alten Testaments kann in den Schwachen mächtig sein, von der Auserwählung des kleinen jüdischen Volks bis zum Sieg über den Riesen Goliath durch den Hirtenjungen David, der zum mächtigen, nach der Pest wieder begnadigten König der Juden wird. Geboren aber ist er als Sohn eines Nobody namens Isai im kleinen Bethlehem, weshalb ja auch Joseph, „weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war“, dorthin zur Schätzung ziehen muß. Diese Tendenz ist nun bei Lukas und den anderen Evangelisten grandios gesteigert. Jesus Christus gehört zwar durch Joseph zu dem Ge- 48 Ein Germanist zur Theologie schlecht Davids, ist also von königlichem Haus, aber das ist gleichsam verhüllt in dem Handwerker Joseph. Christus ist ‚standesamtlich‘ ein Handwerkersohn. Der Gott des Neuen Testaments läßt seine Gesendeten - die schwangere Maria und Joseph - als brave Untertanen des Kaisers Augustus zur Volkszählung auf die Reise gehen. Seine Offenbarung in der Geburt seines Sohns ist wie die stille Mitte im Zyklon des Sturms der von Menschen pompös inszenierten Weltgeschichte, und die ersten Empfänger der Botschaft sind Hirten auf dem Felde. Daß die Engel ihnen die Windeln als Erkennungszeichen des Heilands nennen, - erst die vornehmen Könige und Magier folgen standesgemäß dem astronomischen Sternzeichen, das die kosmische Dimension der Gottesgeburt öffnet, - deutet in fast ärgerniserregender Weise auf die wahre und wirkliche Fleischwerdung des göttlichen Kinds. Wahrhaftig - „Er liegt dort elend, nackt und bloß“, „Er äußert sich all seiner Gwalt, wird niedrig und gering, er nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding.“ So Nikolaus Hermann 1560 in einem unserer schönsten Weihnachtslieder über diesen Neugeborenen, und Grünewald stellt auf dem Ilsenheimer Altar der Krippe einen Nachttopf bei. Jesus und Herodes Dem synoptischen Blick auf die Evangelien zeigt sich die lukanische Geburtsgeschichte des Messias am ou tópos geradezu eingerahmt durch Signale menschlicher Allmachtsanmaßung; erst der Zensus des römischen Weltherrschers, dann - bei Matthäus - der Bethlehemitische Kindermord des Königs von römischen Gnaden Herodes. Stimmen beim angeblichen Zensus des Kaisers Augustus die historischen Datierungen nicht zusammen, so fehlt für diese Episode vollends jede historische Grundlage, und wiederum zeigt auch hier die historische Willkür gerade die Wichtigkeit der geschichtlichen Bezugnahme für die Deutungstendenz des Evangeliums in den Berichten von der Gottesgeburt. Mit der Verflechtung des jüngeren Herodes in die Geburtsgeschichte ist neben der römisch-imperialen Macht das jüdische Königtum auf den Plan gerufen, dessen letzter Ausläufer Herodes Antipas ist. Der Augustus weiß nichts vom jüdischen Messianismus. Herodes steht so weit in dieser Tradition, daß er in der Legende des Matthäus brutal versuchen kann, in das messianische Heilsgeschehen einzugreifen, indem er den neugeborenen messianischen König der Juden als seinen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen unternimmt. Dabei vereinigt er Angst, List, Heuchelei, mörderischen Zugriff und - schlauen Instinkt für die Eigenart dieser Messiasgeburt: In den römischen Zensuslisten ist der neugeborene König der Juden als Nummer da und in der Zahl verschwunden, als Sortenexemplar „wahr Mensch“ gezählt, aber nicht in seiner Einzigkeit „und wahrer Gott“ wahrgenommen. Herodes’ Handeln 49 Volkszählung und Gottesgeburt ist die böse Reaktion auf die Verborgenheit des Gottes in seiner Geburt: Weil er zwar von der Verheißung des Messias weiß, aber seine Augen und die seiner Häscher das neugeborene göttliche Kind nicht erkennen können, rottet er die Sorte der Neugeborenen in Bethlehem aus, in der dieser Messiaskönig vor Herrschaftswissen und rationaler Weltverfügung versteckt und nur dem Glauben offenbart ist. Alle Neugeborenen in Bethlehem müssen sterben, weil einer unter ihnen der einzige ist. Noch einmal ein Akt der absolutistischen Quantifizierung, dem der Gott ‚entspringt‘. Auch dieser Frevel evoziert kein göttliches Strafgericht, sondern wiederum eine Auswanderung, eine Flucht, ausgerechnet nach Ägypten, von wo der Exodus, der göttlich geführte Weg der Juden in die Freiheit seinen Ausgang nahm. Der neue Exodus des Gottesvolks in die Freiheit der Kinder Gottes beginnt unscheinbar, als traumgeleitete, vorsichtige und ängstliche Rückkehr eines Hausvaters mit seiner kleinen Familie in sein Eigentum. Eschatologische Umkehrung der verkehrten Welt Von Geburt an liegt um die schmächtige Gestalt dieses Kindes, des geretteten Retters, und des späteren Wanderpredigers, der nichts hat, wo er sein Haupt hinlegen kann, eine Hoheit wie die Korona um die abgedunkelte Sonnenscheibe bei einer Finsternis. Es ist eine Korona, die nicht als alloffenbare Evidenz, sondern als geoffenbarte Botschaft dem Hörenden sichtbar wird - in der demonstrativen Gegensatzeinheit und wechselweisen Umschlägigkeit von Zeichen und Sache. Die Menge der himmlischen Heerscharen wird aufgeboten, um den paar Hirten auf dem Feld die Geburt des Heilands mit den Attributen der Niedrigkeit und der menschlichen Notdurft zu verkündigen, und sie fürchteten sich sehr. Vor Boten und einer Botschaft, die in so unerhörter Weise, gleichsam glühend, Extreme verschmelzen, muß man sich fürchten. Der greise Simeon und die Witwe Hanna, die in der lukanischen Geschichte für die jüdische prophetische Tradition stehen, bekommen, wie sie da beim Tempel harren, nichts vor Augen als kleine Leute, Maria und Josef, die ihr Neugeborenes nach dem Ritus darstellen und das Opfer für den Erstgeborenen bringen wollen, aber Simeon sieht: „Siehe, dieser wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehung vieler in Israel und wird zu einem Zeichen, dem widersprochen wird.“ (Lk 2, 34). Schon im Zeichen ist der Widerspruch, der noch einmal die ganze Weihnachtsgeschichte in sich zusammenfaßt: der Messias in der Gestalt des hilflosen Säuglings. Ja der Widerspruch selbst, das Muster der verkehrten Welt, ist ein altes eschatologisches Zeichen und meint als solches die Verkehrung der scheinbar normalen, in Wirklichkeit aber kranken Welt zur Gesundheit. Ein Inbegriff dafür ist der Fleisch gewordene Logos des Johannes-Evangeliums. Der Logos wird Fleisch, das ist verkehrte Welt. Aber zum Heil verkehrte. Der Logos, der Fleisch wird, ist nicht einfach 50 Ein Germanist zur Theologie Fleisch; er ist als Fleisch Logos, er hat sich ins Fleisch herabgelassen und es in sich hineingehoben. Und die Krippe, Inbegriff der Improvisation und Beschränkung im Unzulänglichsten, enthält so ganz leise auch schon die Botschaft, daß im Futterbehälter im viehischen Stall der Menschheit die Lebensnahrung gegenwärtig ist. Darin liegt ein Vorgriff auf die „Ich-bin“-Worte Christi mit seiner Selbstprädikation als Brot und Wasser des Lebens, letztendlich schon auf das Abendmahl. Das Sternzeichen, das den Stall markiert und die Magier aus fernen Weltgegenden zur Huldigung herbeiruft, führt zum Kniefall der Prächtigen in Streu, Mist und Viehfutter, beurkundet die Weltwende am Futtertrog. Hat nicht Herodes begründete Angst vor diesem Wickelkind? Schon das Loblied der Maria weiß, daß der verheißene Sohn die eschatologische Richtigstellung der verkehrten Welt bringen wird, die Christus dem Täufer auf seine Frage, ob er der Erwartete sei, als Rätsel übermittelt: „Gehet hin und verkündigt Johannes, was ihr gesehen und gehört habt. Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten stehen auf, den Armen wird das Evangelium gepredigt“ (Lk 7,22). Maria aber mit dem Kind im Leib jubelt: „Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und läßt die Reichen leer.“ (Lk 1,52f). Beide Male wieder: ins Heil verkehrte Welt. Und in der Tat: Der große Augustus, der kleingroße Herodes sind in der Heilsgeschichte nur Fußnoten. Christus aber geht später souverän durch eine Passion, die auf Erniedrigung angelegt ist. Die Jünger fliehen bei der Gefangennahme Jesu nicht nur, weil sie seine Ohnmacht zu erweisen scheint, sondern noch mehr, weil er in der Ohnmacht verkündet, der Mächtige zu sein, der mehr als eine Legion Engel nicht herbeiruft. Er ist der Mächtigste im ausdrücklichen Anwendungsverzicht. Wenn - bei Johannes - in der Gefangennahme das Verhaftungskommando zu Boden stürzt, ist es wie die Proskynese im antiken Herrscherkult, und so bekennt sich ja auch Christus im Verhör vor Pilatus als ein König der Wahrheit, an dessen Königtum Pilatus nicht heranreicht (Joh 18,37). Dergestalt entsteht die Paradoxie einer Vollmacht in der Ohnmacht, die an Tiefe weit über die Offenbarungen des alttestamentlichen Gottes hinausgeht. Und sie zielt repräsentativ in die drei Weltrichtungen: in die jüdisch-messianische, in die antik-imperiale, in die global-heidnische der Magier aus dem Morgenland. Gott kommt in die Welt, wird Mensch, läßt widerstandslos allen Widerspruch der Welt, alle Gottferne, Schuldhaftigkeit und Blindheit des Menschen an sich geschehen und hervortreten bis zum Erleiden des Justizmords am Kreuz als Aufrührer und Gotteslästerer. Als Lastträger der Welt, als der Geschmähte und Verschmähte offenbart er sich. Wer kann in die ganze Welt hineinsprechen, wer kann die Last der Welt tragen, außer Gott? Indem Christus sie trägt, vollendet er, was die Bibel als Grundverhältnis Gottes zum Menschen ausspricht und was auch im Alten Testament noch 51 Volkszählung und Gottesgeburt hinter seinen Macht- und sogar Strafäußerungen steht. Er erweist sich als treuer gnädiger Gott, der sich zum Menschen herabläßt. Im Neuen Testament geschieht das so radikal, daß es eine neue Qualität annimmt. Gott kommt zu den Menschen, indem er einer von ihnen wird. An der Stelle der Abendmahlseinsetzung steht bei Johannes, dem theologisch kühnsten der Evangelisten, die Fußwaschung Christi für die Jünger, die Erhöhung der Geringen, der Knechtsdienst des Herrn, der gerade dadurch in erschütternder Hoheit erscheint. Indem Christus derweise der Herr bleibt, hält er den Menschen in seiner Hand; indem er zum Bruder des Menschen wird, läßt er ihn in seiner Hand frei. Paradoxie des Heils. Verkehrte Welt. Mündigerklärung des Menschen Diese Freilassung ist eine Art Mündigerklärung des Menschen. Keine Gesetzgebung mehr und keine unmittelbaren göttlichen Strafgerichte mehr wie nach dem Sündenfall oder in der Sintflut oder eben bei der Pest der Davidgeschichte. Eine bis zum äußersten für den Menschen freigegebene Welt, wobei allerdings die Freigabe die Verantwortung noch erhöht. Alle Gebote werden eingeschmolzen in ein universales Liebesgebot, das doch aufs tiefste bindet. Denn die Liebe ist eine Erfahrung, die dem anderen Freiheit gibt und die Freiheit und Eigenart des Anderen, der und das nicht wir selbst sind, nicht nur achtet, sondern mit liebt. Für die Vorgabe, die Initiative Gottes in diesem Verhältnis gibt es biblisch viele gedankliche Entfaltungsmöglichkeiten. Wir können lieben, weil wir immer schon von Gott Geliebte sind. Gott ist immer schon da, wo wir erscheinen können; er ist immer schon der Ermöglicher dessen, was uns möglich ist; wir kommen immer schon als die Herausgerufenen vor. Wir können das Licht erkennen, weil wir in seinem Licht stehen. Wir können ihn anrufen, weil wir immer schon Gehörte sind. Wir sind sein Psalm, weil wir ohne ihn keine Gebetsworte hätten. Bonhoeffer: Gott ist da als der, der sich herausdrängen läßt Die weihnachtliche Verkündigung der Allmacht Gottes in der Ausgesetztheit und zugleich urgründigen Lebenskraft eines Kindes ist keine abgetane, sondern eine für ein aktuelles Verständnis aufgetane, aufschließende Geschichte. Der große und auch noch von heute her gesehen radikal moderne Theologe Dietrich Bonhoeffer, der vom omnipotenzwahnsinnigen Hitlerregime ermordet wurde und dabei ein Freier und Herr geblieben ist, hat das in Weihnachten angelegte neutestamentliche Gottesbild in den Gedanken zusammengefaßt und durch seine eigene Passion im KZ Flossenbürg nackt am Galgen bewahrheitet: Gott kommt in die Welt als der, der sich herausdrängen läßt. 52 Ein Germanist zur Theologie Der Gott, der als hilfloses Kind unter dem Weltregiment des Kaisers Augustus auf die Welt kommt, der vor dem Popanzkönig Herodes in Sicherheit gebracht werden muß und unter Pontius Pilatus als Wanderprediger duldet, daß er aus der Welt eliminiert wird, ist vorab der Schöpfer dieser Welt, die das Regiment des Augustus und dessen - biblisch gesehen - hybride Zählaktion ebenso wie die Hybris des Schicksal spielenden Herodes trägt, erträgt und zum Medium seiner Selbstoffenbarung macht. Er steht in seiner Allmacht tragend hinter uns, in seiner brüderlichen Liebe bis zum Selbstopfer vor uns. Auch diese brüderliche Liebe kann richtend sein, sofern wir als Sünder an der Gottesverdrängung aus der Welt teilhaben, aber es ist ein Gericht, das von innen zu uns spricht, als Gewissen und Bewußtsein der Teilhabe am Schuldzusammenhang des Lebendigen. Der Weg nach vorn ist dem Christen freigegeben und seinem Gewissen anheimgestellt; aber dieser Weg erstreckt sich auf dem Boden Gottes, auf dem nach christlichem Glauben alle stehen, ob sie wollen oder nicht, Christen und Heiden, Demütige und Übermütige, die den Menschen, statt zum Statthalter Gottes, zum Gott der Welt einsetzen wollen. Das weist auch dem Geist des Zählens seinen Platz an und begrenzt ihn. Schon alttestamentlich ist die Volkszählung nicht an sich selbst sündhaft - siehe die von Gott gewollten Zählungen im Zusammenhang der Wüstenwanderung. Sie ist sündhaft als Ausdruck eines Geists der Selbstvergötterung, eines Absolutismus des menschlichen Weltzugriffs. Schon alttestamentlich ist der Mensch von Gott beauftragt, Mitarbeiter am Schöpfungswerk und Schutzherr der Schöpfung zu sein. „[…]füllet die Erde und macht sie euch untertan“ ist - verglichen mit anderen Religionen und Kulturen und ihren Vorstellungen des Gott-Mensch- Verhältnisses - eine sehr starke göttliche Ermächtigung des Menschen, und ideenhistorisch wird mit Recht betont, daß in diesem Auftrag und in der jüdisch-christlichen Entmythisierung der Natur ein entscheidender und nachhaltiger Antrieb für die abendländische Sonderentwicklung von Naturwissenschaft und Technik gelegen hat. Aber, wie ähnlich die griechisch-römische Kultur, schärft nun auch die jüdisch-christliche dem Menschen gerade wegen seiner privilegierten Stellung ein, daß sein Weltzugriff Grenzen anerkennen muß, daß eine zentrale Versuchung des Menschen in der Hybris besteht, die Gott oder die Götter herausfordert. Sündenfallerzählung, prometheischer Raub des Feuers, übermütiger Höhenflug des Ikarus und andere alte Geschichten umkreisen das Thema der Grenzüberschreitung, und wo dabei diese Grenze angesetzt wird, ist weniger wichtig, als daß sie angesetzt wird und daß interkulturell eine Überzeugung zu finden ist, der Mensch bedürfe des Maßes und der Begrenzung, ein Schauder müsse ihn von der totalen Selbstermächtigung zurückhalten - sei dieses Unterfangen nun altertümlich als eine die Menschen rücksichtslos hin und her schiebende Verwaltungsmaßnahme zum Zweck der lückenlosen Erfassung der Menschen oder modern als Vernutzung der Welt und des Lebens wie einer 53 Volkszählung und Gottesgeburt Verfügungsmasse des Menschen vorgestellt. Handlungen und Ereignisse greifen über den Abgrund der Zeiten, wenn sie in ihrer Symbolik verstanden werden. Vollends die lukanische Verschränkung von Volkszählung und Gottesgeburt erreicht uns in unserer Modernität, denn sie löst, indem sie das Lohn- Strafe-Schema der Davidischen Volkszählung hinter sich läßt, auch alle von außen gesetzten Begrenzungen des menschlichen Weltverhältnisses in der großen Paradoxie des Heils auf, die mit Christus einbricht: Gott kommt als der, der sich herausdrängen läßt. Aber indem er sich herausdrängen läßt, kommt er auch. Er antwortet auf die Grenzüberschreitung durch den Zensus des Gottmenschen Augustus, der im Symbolhaushalt des Lukanischen Geschichte ans Geheimnis der Welt rührt, ohne es auch nur wahrzunehmen. Aber Gott antwortet seinerseits mit der radikalen Grenzüberschreitung - seiner Menschwerdung in Christus. Die Freisetzung des Menschen durch Christus ist die Gefangennahme im Geist der Liebe im Verhältnis zur gesamten Schöpfung. Der Geist der Liebe setzt strengere Grenzen als der Geist der Gesetze. Er lizensiert das Messen, soweit es nicht die Welt und den Menschen als ganze vermessen, quantifizieren und einer Herrschaftsvernunft unterwerfen will. Was jedoch der enthemmten Weltregistratur als immanentes Gericht widerfährt, zeigt sinnbildlich die Schätzung des Kaisers Augustus: Sie erfaßt die Weltwende Gottes nicht, weil sie keine Kategorien dafür besitzt. Und bei aller Kompetenz im Quantifizieren ist sie darin nichtig. Der Ort Gottes und das Weltbild der Physik Daß Gott als der Exilierte der Allgegenwärtige ist, dieser Gedanke hat Dietrich Bonhoeffer sein Verständnis der Aufklärung als Säkularisierung bis hin zum Atheismus finden lassen. Sie ist ihm moderner denkerischer Nachvollzug dieser Selbstoffenbarungsweise Gottes, auch wo die Aufklärung darüber nicht aufgeklärt zu werden wünscht. Und so hat er seine durch Gefangenschaft und Tod fragmentarisch gebliebene Theologie im Blick auch auf die moderne Naturwissenschaft konzipiert. Aus dem Gefängnis zitiert er die damals gerade erst erschienene Aufsatzsammlung Carl Friedrich von Weizsäckers: „Zum Weltbild der Physik“ (1943), die - quer zum Zeitgeist - mit der Reflexion der Grenzen des naturwissenschaftlichen Weltbilds beginnt. Bonhoeffer hat die in der Christusoffenbarung freigegebene Weltlichkeit der Welt voll bejaht, und er hat es scharf abgelehnt, Gott trickreich als Lückenbüßer zu empfehlen, der sich da breitmacht, wo unsere wissenschaftliche Naturdurchdringung noch nicht hinreicht, und der überflüssig wird, sobald unsere Erkenntnisfortschritte diese Lücke füllen. Er hat Gott nicht als Lückenbüßer in den dunklen Winkeln der Welterkenntnis gebraucht, weil sein Gott mitten in der weltlichen Welt den Sog ausübt, der aus seiner Selbstzurücknahme entspringt, und weil 54 Ein Germanist zur Theologie Gott das Ganze trägt. Er trägt auch die modernen Naturwissenschaften, die in führenden Vertretern ein sehr deutliches Bewußtsein dafür entwickeln, daß sie moralisch und wissenschaftlich in die Irre laufen, wo sie den Geist der Quantifizierung, den mathematisch-experimentellen Weltzugriff verabsolutieren. In dem von Bonhoeffer beigezogenen Werk sagt der Physiker und Philosoph Weizsäcker, „es ist […] plebejisch, sich krampfhaft an das Nachrechenbare zu halten, nur um gewiß zu sein, daß man recht behält, aber das ist auch nicht Objektivität, sondern Schwäche.“ Derselbe Mensch, dessen quantifizierendes Denken grenzenlos ausgreift, ist als individueller Träger dieses Denkens in einer unauslotbaren Tiefe gegründet. Unsere Vernunft ist ein in die Stirn eingesetztes Auge, das seinen Sitz nicht sehen kann. Was der Mensch exakt im Sinne der klassischen Naturwissenschaften zu denken und zu wissen vermag, ist wie ein Ölfleck, der auf einer unbegrenzten Wasserfläche schwimmt. Diese existentielle Situation des Menschen ist unabhängig davon, ob er sie zur Kenntnis nimmt oder verdrängt. Im berühmten und berüchtigten Ausspruch des sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin, er habe Gott im Weltraum nicht angetroffen, erscheint jener Geist in zeitgemäßer Gestalt, den Lukas als Zensus des Kaisers Augustus kontrastiv in die Heilsgeschichte eingeführt hat. Gott ist in der Welt des alles vermessenden Menschen nicht identifizierbar, hat keinen Topos, ist ein Utopia, denn er ist es, aus dem Raum und Zeit fließen; Gagarin konnte ihn nicht antreffen, denn er ist überall und in allem, und ohne daß er überall und in allem ist, hätte dieser vermessene Satz gar nicht im Weltraum gesprochen werden können. Die blinde Hybris seines Ausspruchs besteht darin, gemeint zu haben, daß es nichts außerhalb seiner Perspektive gibt und deshalb da nichts ist, wo er nichts feststellt. An diesem Ort und Nichtort zugleich glauben Christen ihren Gott und blicken quer zur Volkszählung des Kaisers Augustus auf das mächtige ohnmächtige Kind in der Krippe, das da ist, sogar als Ziffer im Zensus, aber nur mit den Augen des Glaubens erkennbar. Der weihnachtliche Gott Der Christ ist durch seinen weihnachtlich erscheinenden Gott dazu berufen, das, woher alle Menschen kommen und worauf alle beruhen, als personales Gegenüber, als seinen Gott zu ergreifen, der ihn als Schöpfer trägt und als Kind in der Krippe vor ihm liegt. Ich kenne keine tiefere Erfahrung und kein besseres Denkbild als einen Gott der uns und der Welt vorausliegenden Liebe, der uns in die Liebe und in die Freiheit der Kinder Gottes ruft. Er ist das göttliche Kind, das uns braucht, das uns die Freiheit gibt, ihn zu verfehlen und zu verdrängen, und die Freiheit, das Verfehlte und Verdrängte in der Mitte unseres Lebens als Christus zu finden und anzunehmen. Als der, der 55 Volkszählung und Gottesgeburt immer hinter uns steht, steht er vor uns mit geöffneten Armen. Alles, was der Mensch denken kann, ist von ihnen umschlossen und in ihnen ermöglicht. Auf dem Boden Gottes stehen die Atheisten, auf dem Boden Gottes stehen Augustus und Herodes, auf dem Boden Gottes stehen wir, sogar noch wenn wir das Unantastbare antasten. Denn aus der Welt Gottes können wir nicht fallen, wir sind einmal drin. Gerhard Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig“ Von der prophetischen Vision zur pietistischen Betrachtung „[…] wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit“ - die Schlußformel des Gloria Patri spricht das Wesen der liturgischen Feier Gottes aus. Die Ewigkeit Gottes gießt sich in die Schöpfung aus, damit in die Zeit, in Heilsgeschichte. Und die Liturgie spiegelt aus der Schöpfung, damit aus der Zeit, aus der Heilsgeschichte die Ewigkeit Gottes zurück. Sie tut es, indem sie ihn so lobt, wie sie es von Anfang her getan hat, jetzt tut und in aller Zukunft tun wird, bis die Zeit in Ewigkeit wieder eingeht. Deshalb verbietet die Liturgie aktualistische Verbesserungen. Sie reicht über uns hinaus, geht durch die Zeiten und Räume, versammelt die lebende und die tote Gemeinde, die vierundzwanzig Ältesten und uns, die Christen aller Konfessionen und Kulturen, die Engel und die Menschen im Gotteslob. Jesaja 6 und die Apokalypse geben eine alttestamentliche und eine neutestamentliche Darstellung dieses universalen Gotteslobs. In Jesaja 6 legt der Prophet Rechenschaft ab über seine Berufung. Eine historische Zeitbestimmung verankert die zeitentrückte Vision, die ihm zuteil geworden ist, in der Geschichte und beglaubigt sie damit. Auf hohem Stuhl sitzt der Herr, eine so übermächtige Erscheinung, daß der Blick nur den Saum des Kleides faßt, der schon für sich allein den Tempel füllt. Die Raumordnung ist damit expressiv gesprengt. Seraphim mit sechs Flügeln stehen über dem Thron und rufen einander mit so gewaltiger Stimme das Gotteslob zu, daß ihr Ruf „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll“ wie ein Erdbeben die Tempelschwelle erschüttert. Der Beiname Zebaoth beruft den Allmächtigen als den Herrn der himmlischen Heerscharen. Rauch verbirgt noch in der Offenbarung diesen Gott, dessen Anblick kein Mensch aushalten würde. Jesaja spricht angesichts der Erscheinung: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen“, aber einer der Seraphim reinigt seinen Mund zum Zeichen der Sündenvergebung, so daß der berufene Prophet nun sagen kann: „Hier bin ich.“ Das 4. Kapitel der Apokalypse übersteigt noch einmal dieses Bild. Der Thron der Herrschaft steht nun im Himmel, die vierundzwanzig Ältesten der 57 Gerhard Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig“ Stämme Juda sitzen um ihn. Vor dem Thron erstreckt sich das gläserne Meer, über ihm wölbt sich der Regenbogen des Friedens, von ihm gehen aber auch Blitz und Donner und Stimmen aus. An Stelle der Seraphim umstehen die vier Evangelistensymbole den Thron und stimmen das Dreimalheilig an, erweitert um die Aussage der in die Zeit ergossenen Ewigkeit Gottes. Schon im 1. Kapitel der Offenbarung verkündet Gott: „Ich bin das A und O, der Erste und der Letzte.“ Jetzt preisen die Evangelisten den Allmächtigen, „der da war und der da ist und der da kommt.“ Über den jüdischen Gottesdienst ist das Sanctus als Anbetungsruf zum Bestandteil der Messe geworden. Dabei ist es von den Seraphim an die Kirche übergegangen. Luther hat für seine Deutsche Messe von 1526 das Lied „Jesaja dem Propheten das geschah, / daß er im Geist den Herren sitzen sah“ gedichtet und komponiert, das den Huldigungsruf der Messe in die Vision des thronenden, von den Engeln angebeteten Herrn wiedereinbettet. Leicht sind im alttestamentlichen Berufungsbericht selber die liturgischen Stationen: Gotteslob, Sündenbekenntnis, Lossprechung - wiederzuerkennen. Luthers Lied setzt andere Akzente als die Erzählung. Die Erzählung spricht beglaubigend von der Berufung, Reinigung und Aussendung des Propheten. Luthers Lied stellt die liturgische Feier am Thron des Herrn in den Mittelpunkt. Zwar läßt er wie im biblischen Bericht die Engel schreien, aber als Komponist und reimender Dichter verwandelt er das Geschrei in Gesang, die expressive Gewalt in mächtiges liturgisches Schreiten einer Melodie. Er kann dabei zurückgreifen auf das Moment liturgischer Ordnung und Wiederholung, das als Dreifachheit des Engelrufs im Prophetenbericht steckt. Das liturgische Gotteslob ist zugleich damit bei Luther auch Stiftungsurkunde und Lob der Liturgie. Die tiefstgreifende Änderung Luthers, der mit seinem Lied dem Jesaja-Text in eigener Übersetzung im ganzen recht nahe bleibt, ist die Ersetzung des Tempels als Ort der Gottesoffenbarung und Anbetung durch den Chor: „Sein Saum füllet den Tempel“ wird im Lied: „seines Kleides Saum den Chor füllet ganz.“ Man kann darin die noch in der Frühneuzeit übliche Verlegung der biblischen Erzählungen in die vertraute heimische Umgebung sehen, aber das scheint mir als Charakterisierung des Eingriffs nicht zu genügen. Indem Luther den Thron Gottes aus dem jüdischen Tempel in den Chor der christlichen Kirche verlegt, wo sich das Allerheiligste befindet, deutet er das alttestamentliche Gottesbild des Jesaja christologisch um: Das Kreuz überm Altar ist als Galgen zugleich Thron Christi, des am Kreuz erhöhten, erniedrigten und verherrlichten Gottessohns. Luthers Lied vollzieht mit diesem einen Wort ausdrücklich die Übertragung des alttestamentlichen Gloria Dei in den christlich-reformatorischen Gottesdienst. Die Spuren der Jesaja-Szene gehen weit über das sechste Kapitel der Apokalypse hinaus, sogar in die außerchristliche Dichtung. So feiert etwa Goethes freirhythmische Hymne: „Grenzen der Menschheit“ von 1789 Gott 58 Ein Germanist zur Theologie folgendermaßen: „Wenn der uralte / Heilige Vater / Mit gelassener Hand / Aus rollenden Wolken / Segnende Blitze / Über die Erde sät, / Küß’ ich den letzten / Saum seines Kleides, / Kindliche Schauer / Treu in der Brust.“ Wir erkennen Blitz und Donner und den Mantelsaum Gottes wieder. Auch im protestantischen Kirchenlied nach der Reformation sind die Bezüge auf Jesaja 6 mannigfaltig, die jedesmal die Vorstellung aneignen und zugleich verwandeln. Ich möchte hier das viel gesungene Kirchenlied „Gott ist gegenwärtig“ des berühmten reformierten Pietisten und Mystikers Gerhard Tersteegen von 1729 herausgreifen, weil es ein eindringliches Beispiel dafür ist, wie enge Bezugnahme und tiefe dichterische Verwandlung ineinandergreifen können. Das Lied trägt bei Tersteegen den Titel: „Erinnerung der herrlichen und lieblichen Gegenwart Gottes“. Der Originaltext, der durch die Kirchenliedbearbeitung in den Gesangbüchern zum Teil gestört ist, lautet: 1 Gott ist gegenwärtig; lasset uns anbeten, Und in Ehrfurcht vor ihn treten! Gott ist in der Mitte; alles in uns schweige Und sich innigst vor ihm beuge! Wer ihn kennt, Wer ihn nennt, Schlagt die Augen nieder. Kommt, ergebt euch wieder! 2 Gott ist gegenwärtig, dem die Cherubinen Tag und Nacht gebücket dienen; „Heilig, heilig! “ singen alle Engelchören, Wenn sie dieses Wesen ehren. Herr, vernimm Unsre Stimm’, Da auch wir Geringen Unser Opfer bringen! 3 Wir entsagen willig allen Eitelkeiten, Aller Erdenlust und Freuden; Da liegt unser Wille, Seele, Leib und Leben Dir zum Eigentum ergeben. Du allein Sollst es sein, Unser Gott und Herre, Dir gebührt die Ehre. 59 Gerhard Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig“ 4 Majestätisch Wesen, möcht’ ich recht dich preisen Und im Geist dir Dienst erweisen! Möcht’ ich wie die Engel immer vor dir stehen Und dich gegenwärtig sehen! Laß mich dir Für und für Trachten zu gefallen, Liebster Gott, in allen! 5 Luft, die* alles füllet, drin wir immer** schweben, Aller Dinge Grund und Leben. Meer ohn’ Grund und Ende, Wunder aller Wunder, Ich senk mich in dich hinunter. Ich in dir, Du in mir, Laß mich*** ganz verschwinden, Dich nur sehn und finden! 6 Du durchdringest alles; laß dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte! Wie die zarten Blumen willig sich entfalten Und der Sonne stille halten, Laß mich so Still und froh Deine Strahlen fassen Und dich wirken lassen! 7 Mache mich einfältig, innig, abgeschieden, Sanfte und im stillen Frieden, Mach mich reines Herzens, daß ich deine Klarheit Schauen mag in Geist und Wahrheit. Laß mein Herz Überwärts Wie ein Adler schweben Und in dir nur leben! 8 Herr, komm in mir wohnen, laß mein’ Geist auf Erden Dir ein Heiligtum noch werden; Komm, du nahes Wesen, dich in mir verkläre, Daß ich dich stets lieb’ und ehre! Wo ich geh’, Sitz und steh’, Laß mich dich erblicken Und vor dir mich bücken! * Jer 21,34 ** Apg 17,28 *** Gal 2,20 60 Ein Germanist zur Theologie Beim ersten Zusehen möchte man kaum glauben, daß hier die Urszene der Liturgie im Hintergrund steht, aber schon die zweite Strophe macht es gewiß. Gegenüber Luthers Jesaja-Lied ist freilich die Einmaligkeit des aufwühlenden visionären Ereignisses entschieden weiter zurückgenommen, die Dramatik ist in Stille übersetzt. Schon die Überschrift macht den Wandel der Grundstimmung klar: „Erinnerung [hier zu verstehen als innere Vergegenwärtigung] der herrlichen und lieblichen Gegenwart Gottes“ [Unterstreichung von mir]. Der Herr der himmlischen Heerscharen bei Jesaja ist nicht lieblich, sondern erschütternd und dröhnend. Dagegen findet sich im Text Tersteegens dreimal das Wort „still“, einmal „schweigen“, einmal „Frieden“, zweimal „innig“ bzw. die Steigerungsform „innigst“, zweimal „ergeben“ im Sinn von „sich hingeben“, einmal „abgeschieden“ mit der Bedeutung von: „der Unruhe des Lebens abgewandt.“ Diese Stimmungswandlung gegenüber Jesaja und Luther deutet zum ersten auf Tersteegens Pietismus. Die sehr verschiedenen Richtungen dieser religiösen Erneuerungsbewegung an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert, die sich ebenso bei den Lutheranern wie den Reformierten findet, haben ihre Gemeinsamkeit darin, daß sie auf eine persönliche emotionale Gotteserfahrung drängen, die in der Innerlichkeit des Herzens stattfindet. Deshalb nannte man sie auch, obwohl aus dieser Innerlichkeit starke soziale Aktivitäten hervorgehen können, halb spöttisch „die Stillen im Lande“. Bei Tersteegen ist diese Haltung in Richtung eines sogenannten Quietismus, wie er konfessionsübergreifend aus Frankreich herüberdrang, gesteigert. Die Stimmungsumwandlung hat aber auch - und das liegt dem heutigen Christen wohl näher - mit der Bestimmung des Liedes zum Gottesdienst zu tun, deren Auswirkung sich ja schon bei Luthers Jesaja-Lied zeigte. Tersteegen zieht letzte Konsequenzen aus der bei Luther vollzogenen Neuformierung des alttestamentlichen Texts. Das Exzeptionelle ist im Liedtext Schritt für Schritt in die Wiederholungsform der Andacht transformiert, wobei aber die großartige Leistung Tersteegens, der Appell dieses Liedes über die Zeiten hinweg auch an uns, darin besteht, daß er das Wunder der Gegenwärtigkeit Gottes nicht etwa zum Gewöhnlichen und Üblichen, sondern das Gewohnte zum Wunderbaren macht. Die gegenwärtige versammelte Gemeinde ist angesprochen - „wir Geringen“ mit unserer schwachen Stimme und Kraft - und zur gottesdienstlichen Feier - als Beugung, Hingebung, Ehrerbietung - aufgerufen; aber in all unserer Geringfügigkeit und bürgerlichen Durchschnittlichkeit sind wir in überwältigender Gemeinschaft mit den gewaltigen Cherubinen der Jesaja-Vision, die wiederum uns dadurch angenähert sind, daß sie gebückt in Demutshaltung stehen. Die Chöre aller Engel singen, und mit ihnen vereinigen sich die Stimmen der Gemeinde, des irdischen Chors. An die Stelle der prophetischen Vision unter Furcht und Zittern ist die gottesdienstliche Einheit der himmlischen und irdischen Gemeinde getreten. 61 Gerhard Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig“ Bei diesem Neuformungsprozeß hat dem niederrheinischen Tersteegen das Loblied „Wunderbarer König“ von Joachim Neander, der Leitgestalt des reformierten Kirchengesangs, vor Augen gestanden, der als Schulrektor und Frühprediger in Düsseldorf tätig war. Tersteegen dichtete sein Lied auf die Melodie des etwa fünfzig Jahre älteren Gesanges von Neander, so daß man „Gott ist gegenwärtig“ als eine Paraphrase auf „Wunderbarer König“ verstehen kann. Wie Tersteegen war Neander, der frühzeitig mit Philipp Jacob Spener bekannt geworden war, Pietist, allerdings studierter Theologe. Tersteegen dagegen war ein hoch gebildeter Laie, als solcher Seelsorger, Erbauungsschriftsteller und Erweckungsprediger, Betreuer von Kranken und Bedürftigen, ein hervorragender Zeuge für die Bedeutung von Laientheologen im radikalen Pietismus. Schon Neander hatte als Pietist Schwierigkeiten mit der Amtskirche. Tersteegen bewegte sich in Konventikeln und Separatistenkreisen, war allerdings frei von aller theologischen Streitbarkeit, ein gelassener Argumentierer und Mystiker. Sein Leben war geprägt durch eine mönchisch-asketische Haltung, die ihn zur Trennung vom ererbten Kaufmannsberuf mit seiner Umtriebigkeit und seinen materiellen Interessen geführt hatte. Er wandte sich dem Handwerk der Weberei von Seidenbändern zu, das er in Stille und Konzentration ausüben konnte - man denkt an Spinozas Berufstätigkeit als Brillenschleifer. Auch Neanders Loblied „Wunderbarer König“ hält die Erinnerung an die Jesaja-Szene fest: „wirf dich in den Staub darnieder. / Er ist Gott / Zebaoth, / er nur ist zu loben / hier und ewig droben.“ Der Gott seines Lieds ist König, Herrscher und Schöpfer im Weltenraum von Sonne, Mond und Sternen. Schon bei ihm wandelt sich das „Wir“ des Gemeindeliedes - „Herrscher von uns allen“ - in das „Ich“ der anbetenden Seele. Aber das Lied behält den Charakter der Gemeindeöffentlichkeit. Tersteegen dagegen löst die anfangs exponierte Gottesdienstsituation, wie wir sie nachgezeichnet haben, von der fünften Strophe an auf in eine völlig nach Innen zurückgenommene, monologische Betrachtung. Er radikalisiert die Wendung aus der Objektivität des liturgischen Zeremoniells in die Subjektivität der Selbstaussprache. Er geht aus der öffentlichen Anbetung in die innerliche Anschauung über, aus der Gegenwart in die innere Vergegenwärtigung, aus der Kirche als Wohnung Gottes in die seelische Einwohnung als stetig durchgehaltenen Lebensbezug. So sind die Schritte: „Möcht’ ich wie die Engel immer vor dir stehen / Und dich gegenwärtig sehen! “ Das ist noch gottesdienstlich. Der nächste: „Laß mich ganz verschwinden / Dich nur sehn und finden! “ - das ist eine einsame Ekstase. „Wo ich geh’, Sitz’ und steh’, / Laß mich dich erblicken / Und vor dir mich bücken.“ Das ist die Konkretheit des praktischen wochentäglichen Lebens mit all seinen Verrichtungen im Licht Gottes. So kann man, am Webstuhl sitzend, Gott schauen. 62 Ein Germanist zur Theologie Die Reihe einander verwandter Bitten entfernt sich also aus der Hoheitsszenerie der liturgischen Feier in der Gemeinschaft der Engel hin ins alltägliche Sitzen und Stehen; aber was wie ein Abflauen wirken könnte, ist in Wirklichkeit Vertiefung des sonntäglichen Gottesdienstes zum Wunschbild immerwährender Anwesenheit Gottes in der Menschenseele als seinem Heiligtum. Freilich sind das fast alles biblisch geläufige Vorstellungen, und Tersteegen versäumt nicht, seine Formulierungen, soweit sie eigensinnig scheinen könnten, in Fußnoten biblisch abzusichern. Welche Bilder und Gedanken aber aus dem großen Schatz aktiviert werden, wie und mit welcher Folgerichtigkeit sie aufeinander bezogen werden, ist eigentümlich. Entsprechend konsequent ist auch durch Tersteegen die bei Neander vorbereitete Wendung vom Wir- Lied zum Ich-Lied durchgeführt. Drei Strophen des „Wir“ der Gemeinde im Gottesdienst folgen fünf Strophen des „Ich“ in der Betrachtung, wobei die vierte Strophe den Übergang von der liturgischen Situation mit der Parallelität der himmlischen und irdischen Chöre in die Stille vollzieht - in die psychische Aneignung Gottes als alles umfassenden, auch die Raumrelationen aufhebenden Lebenselements. „Gott ist gegenwärtig“. Diese schlichte Aussage findet sich in der Bibel so nicht. Freilich spricht die Bibel häufig von der Gegenwart Gottes, aber entweder in Form ereignishafter, das gewohnte Lebensmaß durchstoßender Vergegenwärtigungen, oder aber in staunender, rhetorischen Ausdruck verlangender Wahrnehmung der Allgegenwart, Allweisheit und Allmacht. Tersteegens „Gott ist gegenwärtig“ ist weniger und mehr, eine einfache begriffliche Tatsachenfeststellung ohne Ausrufezeichen, das er sonst häufig verwendet, und gerade darin liegt schon und erst recht ein überwältigender Einbruch dessen, was selbstverständlich bis zur Vergessenheit ist, in meine aktuelle Wahrnehmung. Gott ist immer schon da. Und so sinkt das Lied durch die Erhabenheit der liturgisch rezipierten Jesaja-Situation im kirchlichen Gottesdienst hindurch in die Tiefe dessen, was unaufhörlich tragend immer und überall der Fall ist, die Gegenwart Gottes, in der wir unser Leben bis hin zu den banalsten Handlungen führen. Daß wir uns durch Stille, Hingabe und Sammlung für den Aufgang Gottes in unserem Bewußtsein zubereiten können, nimmt der Demut Tersteegens jeden Anklang von Leisetreterei und Sklavenmoral, den stolze Leute wie etwa Nietzsche dem Christentum vorgehalten haben. In dieser Stille und Unterwerfung herrscht eine Art von Stolz, Gott bis zur Vereinigung nahe sein zu können. „Ich in dir Du in mir“ ist eine mystische Vorstellung der Verschmelzung der Seele mit Gott, und in der Tat läuft eine Traditionslinie der mittelalterlichen Mystik über die Barockmystik zu Tersteegen. „Ich in dir Du in mir“ ist aber auch eine Umkehrformel wechselseitiger Liebe, wie sie für den Geist der Partnerschaftlichkeit etwa in der Liebeslyrik des jungen Goethe charakteristisch ist und wie sie an zentraler Stelle der Hymne „Ganymed“ für die liebende Wechselumschlingung der Seele mit Gott steht: „umfangend 63 Gerhard Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig“ umfangen“. Vielleicht nicht ganz so genial wie Goethe, aber metrisch und im Reim höchst prägnant hat Tersteegen die Kurzzeilen seiner Strophen, jeweils die fünfte Verszeile, zur formelhaften Verdichtung geführt. Sie bewirkt in der zitierten Wendung ein Einswerden geradezu in Brüderlichkeit. Gewiß ist es kein Zufall, daß der junge Goethe Zugänge zum Pietismus und zur Mystik besaß und auch die gleichen Autoren wie bei Tersteegen dafür namhaft gemacht werden können: der separatistische Pietist Gottfried Arnold und die quietistische Mystikerin Madame Guyon. Goethe ist reicher in den Tönen, aber einen Ton hat er mit Tersteegens Liedern gemein. „Gott ist gegenwärtig“. Der Dreiwortsatz von Tersteegens Liedanfang verlangt nach einer Pause, ruft für einen Augenblick Stille hervor, in der mystische Meditation sich ausbreiten könnte. Dieser Stille erst entspringt die Aufforderung „Lasset uns anbeten“. Bei Tersteegen zeigt sich in solchen vermeintlich beiläufigen Momenten noch einmal die Kraft der mittelalterlichen Mystik, begrifflich das Unaussprechliche heraufzurufen und als Gestimmtheit wirksam werden zu lassen. Mystisch paradox und nüchtern zugleich ist auch die mit der fünften Strophe beginnende Auflösung der Raum- und Wahrnehmungsordnung (übrigens auch wieder vergleichbar mit Ganymed), die der Erfahrung der Allgegenwart Gottes entspricht: Das Ich will Gott sehen und finden, indem es in ihm verschwindet; es will ihn erblicken, während er innerlich sich in ihm verklärt; das Herz will zugleich in das grundlose Meer Gottes eintauchen und „überwärts“, nicht nur aufwärts, schweben wie ein Adler, um in der göttlichen Gegenwart zu leben, in der es doch schon immer ist. Trotz all dieser Eindringlichkeiten wäre das Lied Tersteegens noch nicht der unermeßliche Schatz, der es durch seine sechste Strophe wird. Sie spricht nicht nur von den zarten Blumen und ihrer Stille; sie ist selber von äußerster Zartheit und Ruhe, ja Zärtlichkeit. Die Sonne, oft Bild der blendend überwältigenden Majestät Gottes, ist Medium leisester, fast immaterieller göttlicher Berührung des Gesichts. Auch Paul Gerhardt kann in seinen Liedern herzliche Freude an den Naturdingen äußern - „Geh aus mein Herz und suche Freud“ -, aber sie bleiben dem Menschen streng gegenüber und werden Allegorien einer geistlichen Lehre. Bei Tersteegen ist der Vergleich durchflutet von Einfühlung in den genau gesehenen Naturvorgang. Die willig dem Licht stillhaltende Blume ist nicht nur Metapher der Seele, sie erscheint selbst als beseelt. Damit ergibt sich auch ein Gegengewicht zur wiederholten, in der Zeit geläufigen, uns heute eher befremdlichen Weltabsage von Tersteegens Lied. Sie mag vieles ausschließen, was der Christ sehr wohl als Gottesgeschenk irdischer, geschöpflicher Freuden und Aktivitäten zu erleben vermag; aber die stille Intensität der Fühlung von Sonne und Blume läßt doch auf schmalem Feld eine große und schöne Schöpfungsfrömmigkeit aufklingen. Das Niederschlagen der Augen, zu dem die erste Strophe auffordert, meint nicht Blind- 64 Ein Germanist zur Theologie heit für das Schöne, sondern Konzentration. Und welche geistlichen Möglichkeiten diese Sprache in aller von Gott erbetenen Einfalt und Innigkeit hat (wer dächte nicht an Matthias Claudius’ Aufnahme der Bitte „Laß uns einfältig werden“ in sein Abendlied), erweist der Strophenschluß mit seiner paradoxen Gebetsformulierung: „laß mich […] wirken lassen“. Sie faßt die mystischen Anklänge zusammen und sammelt zugleich eines der schwierigsten Glaubensgeheimnisse in großer Klarheit: Noch daß der Mensch die Wirkung Gottes auf sich und in sich zuläßt, hat Gott erst zugelassen und veranlaßt. Denn in seinem Lichte erkennen wir das Licht. Luthers Jesaja-Lied als Bibelparaphrase nennt den Namen Christus nicht, evoziert ihn aber durch die Verlegung der Szene in den Chor der christlichen Kirche. Neander führt das Lob des „wunderbaren Königs“ in der letzten Strophe seines Liedes auf Christus hin: „Halleluja bringe, wer den Herren kennet, wer den Herren Jesum liebet“. Tersteegen nennt Gott dreimal in seinem Lied „Wesen“, einmal mit dem Beiwort „majestätisch“, einmal mit dem Beiwort „nah“. Luther kennt dieses Wort durchaus, aber er wendet es in der Bibelübersetzung meist auf das Wesen des Menschen an; einmal spricht er vom Wesen Gottes, aber nirgends heißt Gott „Wesen“. Auch das ist ursprünglich mystischer Sprachgebrauch, später auch aufklärerischer, wie es denn manche Berührungen zwischen Pietismus und Aufklärung gibt. Gott als Wesen anzusprechen, kann aufklärerisch einer gewissen Verdünnung der Personhaftigkeit dienen, die dem Wort „Gott“ innewohnt. Einen spöttischen Nachklang solcher Verdünnung finden wir in Heinrich Bölls Satire Doktor Murkes gesammeltes Schweigen, wo ein Rundfunkautor seine restaurative Nachkriegsfrömmigkeit mit dem Wechsel der Zeitmode aufklärerisch zu übertünchen sucht, indem er nachträglich in den Tonbandaufzeichnungen seiner Kulturfunkbeiträge immer da, wo er früher mal „Gott“ gesagt hatte, die Formel „jenes höhere Wesen, welches wir verehren“ einsetzt. Tersteegens Anrede Gottes als „nahes Wesen“ sagt dem Entgegengesetztes. Er kommt ohne Namensnennung Christi und auch ohne Zeichen Christi, wie es Luther in seinem Text gibt, aus. Aber Gott kann nahes Wesen nur in Christus sein. Daher kommt es wohl auch, daß das Wort ‚Wesen‘ in der Mystik mit ihrem Dringen auf innere Gotteserfahrung sich durchsetzt. Mit der Wendung in die Intimität, aus der Offenbarung in die Einwohnung, aus der Majestät in die Nähe Gottes ist Christus, die brüderliche Gestalt Gottes, zur Sphäre des Liedes, zur Luft, in der es atmet, geworden. Und das ist vielleicht noch mehr, als wenn er sein Thema wäre. Damit entfaltet das Substantiv „Wesen“ auch eine neue Bedeutungsnuance; seine Begrifflichkeit wird verlebendigt, es gewinnt an Vergegenwärtigungskraft. Wo Gott nah ist, spüren wir seine ‚Anwesenheit‘, seine Präsenz. Die Gemeinde lobt Gott, „wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Die Kirchenlieddichter und -komponisten loben ihn mit besonderer Vollmacht, weil sie mit der Fülle und Vielschichtigkeit 65 Gerhard Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig“ 1 Der Text des Tersteegen-Liedes folgt orthographisch und in der Zeichensetzung der Ausgabe Gerhard T ERSTEEGEN : Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen mit der frommen Lotterie und einem kurzen Lebenslauf des Verfassers. 3. Aufl. der Neuen Ausgabe. Stuttgart 17. A. 1988, S. 340-342. Alle anderen Zitate sind der modernen Orthographie angepaßt. Zu Luthers Jesaja-Lied siehe Gerhard K AISER : Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther bis Paul Celan interpretiert. Frankfurt a.M. 1987. S. 63-77. Vielfältige Anregungen verdanke ich der literatur- und geistesgeschichtlich orientierten Abhandlung von Hans-Georg K EMPER : Vielsinnige „Blumen“-Lese. Zum literaturhistorischen Standort Gerhard Tersteegens. In: Pietismus und Neuzeit. Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 19 (1993), S. 117-142. ihrer Ausdrucksmittel Möglichkeiten in uns aufschließen, die Sprache als geläufiges Verständigungsmittel nicht aktiviert. Wie unsere Kirchenlieder als ein geschichtlicher Schatz uns, indem wir sie singen, in die geschichtsdurchdauernde Kontinuität der Kirche stellen und damit zum lebendigen Bewußtsein der liturgischen Versammlung der Zeiten und Räume unter dem Kreuz beitragen, so manifestieren sie zugleich, daß alle Zeiten und Epochen nicht ausreichen, die Fülle dessen auszuschöpfen, was uns als Evangelium gesagt ist. Jedes große Kirchenlied unserer Tradition bringt eine historische und individuelle Facette des Ganzen zum Aufleuchten, erhellt eine Facette unserer Glaubensmöglichkeiten. Sie sind viel reicher, als die historisch und individuell begrenzten Erfahrungen, die wir unmittelbar machen. Wir brauchen Mut - auch zu fremden Erfahrungen und Formulierungen, die unsere eigenen wecken und reizen. Wir müssen sie nur wirken lassen - siehe Gerhard Tersteegen. 1 1 Vgl. dazu: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1999, 2000, 3-40. 2 Vgl. im Vorfeld: J. A SSMANN / T. H ÖLSCHER (Hg.), Kultur und Gedächtnis, 1988. Zahlen in Klammern ohne Zusatz in meinem Text sind immer Seitenzahlen von Assmanns „Moses der War der Exodus der Sündenfall? Fragen an Jan Assmann Der Ägyptologe Jan Assmann hat im Jahr 1999 den sehr angesehenen Preis des Historischen Kollegs zuerkannt und durch den Bundespräsidenten verliehen bekommen. 1 In seiner reichen und vielfältigen wissenschaftlichen Produktion hat Assmann die Spezialisierungsgrenzen gesprengt, übergreifende Fragestellungen kulturwissenschaftlicher, religionswissenschaftlicher, ideengeschichtlicher Art entwickelt und energisch in die internationale wissenschaftliche Diskussion eingegriffen. Darüber hinaus hat seine publizistische Dynamik entscheidend dazu beigetragen, daß sich ein Bewußtsein der Kulturmächtigkeit des alten Ägypten in der früher so genannten gebildeten Öffentlichkeit ausbreitet und vertieft. Ein Meilenstein in dieser Richtung war Assmanns Monographie „Moses der Ägypter“ (englisch 1997, deutsch 1998), die eine Hauptfigur des Alten Testaments von ägyptischer Religion, Kultur und Geschichte her sieht. Moses vor der Folie Ägyptens erscheint in Assmanns Monographie als Gegenstand einer durch die Zeiten laufenden Debatte, in die der Leser hineingezogen wird. Als derart Herausgeforderter antworte ich; nicht als Fachmann. Weder bin ich Ägyptologe noch Alttestamentler noch Ideengeschichtler, und selbst unter den Historikern bin ich als Vertreter der deutschen Literaturgeschichte eher randständig. Immerhin sehe ich eine gewisse Chance als Außenseiter darin, aus dem Abstand einen Blick für das Grundsätzliche zu entwickeln, und zwar sowohl des historiographischen Zugriffs wie der inhaltlichen Befunde. Das Konzept Gedächtnisgeschichte Die deutsche Ausgabe der Moses-Monographie, von der ich ausgehe, trägt den Untertitel „Entzifferung einer Gedächtnisspur“. Darin zeigt sich eine wissenschaftstheoretische Programmatik: Assmann will ein Exempel für einen neuen Zweig der Historiographie geben, die Gedächtnisgeschichte. 2 Einen 67 War der Exodus der Sündenfall? Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur“ in der Fischer Taschenbuch Ausgabe Frankfurt a.M. 2000. 3 Vgl. TH. W. A DORNO u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1980. 4 F. N IETZSCHE , Werke, hg. von K. S CHLECHTA , Bd. 3, 1965 6 , 903. 5 F. M EINECKE , Die Entstehung des Historismus, 1936, 66. Großteil des historischen Stoffes, den er in seiner Monographie behandelt, hat er schon früher in seinen zahlreichen Veröffentlichungen bearbeitet. Aber da ging es vorwiegend um die Frage nach dem fernen Vergangenen selber, die in diesem Fall hieße: Gibt es eine historische Figur Moses, und was wissen wir von ihr? Jetzt geht es Assmann um Überlieferungstraditionen: Was bedeutet die Gestalt Moses - mag sie gelebt haben oder nicht - im kulturellen Gedächtnis? Welche Wandlungen hat sie durchgemacht? Wofür steht sie? Diese Trennung zwischen Vergangenheit und deren Überlieferung scheint einfach, hat es aber in sich. Mit gutem Grund beläßt Assmann das Widerlager der Gedächtnisgeschichte, die Geschichte der „Vergangenheit als solcher“ (26), im vagen. Er setzt bei der Begriffsfügung „objektive ‚Fakten‘“, an denen die Erinnerung überprüft werden müsse, das Wort ‚Fakten‘ in Anführungszeichen (28), läßt aber bei der „Unterscheidung zwischen Gedächtnisgeschichte und Faktengeschichte“ (31) und bei der Erwähnung von „Faktenhistorikern“ (31) diese Anführungszeichen weg. Andernorts ersetzt er „Faktengeschichte“ durch „geschichtswissenschaftliche Erforschung der Ereignisse“ (33), obwohl „Vergangenheit als solche“ ja keineswegs nur Fakten und Ereignisse, sondern auch Konstellationen, sogar ideelle, umfaßt. Schließlich spricht Assmann von der „Aufgabe des historischen Positivismus“, das Historische vom Mythischen zu trennen (28). Aber der Positivismus ist kein Forschungsthema, sondern eine umstrittene Wissenschaftstheorie, wie etwa der Positivismusstreit zwischen Vertretern des kritischen Rationalismus und der kritischen Theorie gezeigt hat. 3 Das nicht nur terminologische Schwanken Assmanns deutet auf das Problem in der Sache. Auch wenn ich mit meinen Überlegungen, Assmann folgend, diesseits der Schwelle bleibe, die durch Nietzsches wissenschaftstheoretisch so folgenreiche Notiz im Nachlaß der achtziger Jahre gezogen wird, „Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen“, 4 so ist es doch jedenfalls lange her, daß der späte Ranke den „idealen Wunsch“ äußerte, „sein Selbst auszulöschen, um ganz die überwältigende Macht geschichtlicher Phänomene in sich aufzunehmen“. 5 Die moderne Geschichtsschreibung, auch der „Vergangenheit als solcher“, ist sich des fließenden Übergangs zwischen Fakten und Deutungen und der Problematik der darstellerischen Vermittlung zwischen Einzeldaten bewußt, sei sie narrativ oder systematisierend. Es ist ein Gemeinplatz, daß der Historiker in sein Verständnis des Gewesenen unvermeidlich seine Erfahrungen und Überzeugungen mit einbringt - Assmann etwa das Verantwortungsgefühl für historische deutsche Schuld, speziell an 68 Ein Germanist zur Theologie 6 Vgl. E. S CHULIN , „Ich hoffe immer noch, daß gestern besser wird. „ Bemerkungen zu einem von Jörn Rüsen gewählten Motto (in: Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, hg. von H.W. B LANKE u.a., 1998, 3-12). 7 Zur Esoterik-Komponente bei Spencer-Brown siehe das Vorwort zur deutschen Erstausgabe von „Dieses Spiel geht nur zu zweit“, aus dem Englischen von Andreas Baar, (1971) 1994, 12: „Du magst dich nun vielleicht fragen, warum ich die ‚Gesetze der Form‘ nicht auch für ein schlechtes Buch hielt, da ich zu der Zeit, als ich es schrieb, nicht erleuchtet war. Die Antwort lautet: Weil ‚Laws‘ das Vehikel ist, das ich für meine Erleuchtung konstruiert habe. Und es kann von anderen für die ihre benutzt werden und wird so benutzt.“ der Shoah als grauenvoller Konsequenz des Antisemitismus im europäischen Kulturkreis. Seine Frage nach den Ursprüngen des Hasses, der hinter diesem Genozid steht, in der Geschichte des Monotheismus gewinnt auch von hier ihre Leidenschaft. Dieses Engagement braucht seine Notwendigkeit nicht zu begründen, und überhaupt sollte sich der Historiograph dessen bewußt sein, daß er mit seiner Erforschung und Darstellung von Geschichte auch daran mitwirkt, in welcher Richtung Geschichte weitergehen wird, ja, sogar daran, daß und wie von diesem Fortgang her auch die bereits geschehene Geschichte in ein neues Licht rückt. 6 Trotzdem muß gerade das starke moralisch-politische Engagement auch kritisch darauf befragt werden, ob es nicht im Gefühl der guten Sache einen besonders starken Impuls zum Geschichtsarrangement, auch zum gedächtnisgeschichtlichen Arrangement hat. Mit diesen Vorgegebenheiten des historischen Sehens ist es nicht genug. Im Akt des wissenschaftlichen Deutens hat der Historiker nicht nur Voraussetzungen, er benutzt auch Deutungsmodelle, die den Gegenstand modellieren - so stellt Assmann an den Anfang seiner Darstellung das „Erste Konstruktionsgesetz“ von George Spencer-Brown, einem Grenzgänger zwischen mathematischer Logik und Esoterik, das er in seinen „Laws of Form“ (englisch 1969, deutsch 1997) aufgestellt hat: „Triff eine Unterscheidung. Nenne sie die erste Unterscheidung. Nenne den Raum, in dem diese Unterscheidung getroffen wird, den ‚Raum, der durch diese Unterscheidung getrennt oder gespalten wird‘.“ (17). 7 Diese demonstrative Strukturierung der folgenden Darstellung beeindruckt; sie weckt aber auch die Frage, ob diese Vorgabe nicht allzu dominierend ist, als daß sich das Eigengewicht des Historischen voll dagegen zur Geltung zu bringen vermöchte. Auch wenn es - wie erwogen - unmöglich ist herauszufinden, „wie es eigentlich gewesen“ (Ranke), kann man doch alle historischen Quellen, alle Erfahrungen und alle theoretischen Konstrukte zu dem Ende einsetzen, dem Vergangenen möglichst nahe zu kommen. In entgegengesetzter Blickrichtung versucht die von Assmann so genannte Gedächtnisgeschichte, den Wandlungen nachzugehen, die von den schaffenden und umschaffenden, kollektiv wirksamen Kräften der Erinnerung und des Gedächtnisses am Bild der Vergangenheit vorgenommen werden. Assmann stellt diese 69 War der Exodus der Sündenfall? Gedächtnisgeschichte als neuen Zweig der Historiographie neben andere Spezialgeschichtsschreibungen wie Ideengeschichte, Sozialgeschichte, Mentalitätsgeschichte, Alltagsgeschichte usw. (27). Diese Parallelordnung übergeht aber den selbstreflexiven Zug, der der Gedächtnisgeschichte der Sache nach innewohnt. Sozialgeschichte etwa behandelt einen Gegenstand, der seinen Sachkonnex nicht primär in seiner Geschichtlichkeit hat, vielmehr in sozialen Strukturen. Deren Geschichte wird untersucht. Gedächtnisgeschichte hingegen ordnet sich anderen Weisen der Geschichtsschreibung zu, die sich mit der Geschichte des menschlichen Geschichtsverhältnisses selber befassen, wie etwa Traditionsgeschichte, Rezeptionsgeschichte, Überlieferungsgeschichte und vor allem die von Assmann nicht genannte, aber andernorts intensiv betriebene Geschichte der Geschichtsschreibung. Diese Geschichten von Geschichtsverhältnissen unterliegen gleichfalls den eben skizzierten Prämissen und Kriterien der Geschichtsschreibung, auch wenn ihr Gegenstand nicht die tatsächlichen Ereignisse und Gegebenheiten von einst sind, sondern deren geistige Bearbeitung durch spätere Generationen und Generationenfolgen, auch anderer Kulturen. Darüber hinaus haben diese selbstreflexiven Weisen von Geschichtsschreibung eine zusätzliche Prämisse für ihre angemessene Entfaltung. Wie der Erforscher des einst Vorgegangenen auf Quellen und frühere Deutungen angewiesen ist, so ist der Erforscher der Geschichte von Geschichtsverhältnissen darauf angewiesen, die späteren Sichtweisen des Vergangenen daran zu messen und dadurch zu charakterisieren, wie sie sich zur tatsächlich gewesenen Vergangenheit verhalten, die doch selber schon in ihrer Erschlossenheit ein Konstrukt ist, wenn auch mit der Bestimmung, dem Gewesenen so nahe wie möglich zu kommen. Kurz: Die Geschichten des Geschichtsverhältnisses brauchen zur Folie eine Realgeschichte. Wir müssen ein wissenschaftliches Bild haben von dem, was war, damit wir eine adäquate Vorstellung von dem gewinnen können, was im historischen Rückblick daraus gemacht worden ist, welche Stilisierungen warum erfolgt sind. Wer Karl Brandis Geschichte Karls V. charakterisieren und würdigen will, muß nicht nur die historischen Darstellungen des gleichen Gegenstandes vor und nach Brandi kennen, er muß auch ein wissenschaftlich tragfähiges, auf der Höhe der Forschung stehendes realgeschichtliches Konzept von Karl V. und seiner Zeit besitzen. Für die Gedächtnisgeschichte spitzt sich diese Notwendigkeit noch zu, denn sie ist ihrem Anspruch nach ein Sammelbecken der anderen selbstreflexiven Geschichtsschreibungen. Tacitus zum Beispiel, der zweifellos ein Gegenstand der Geschichte der Geschichtsschreibung ist, ist zugleich ein Gegenstand der Gedächtnisgeschichte, sofern sein Geschichtsbild eine große Breiten- und Tiefenwirkung in die gesamte Geistesgeschichte gewonnen hat. Überhaupt liegt in jeder Geschichtsschreibung, und sei sie sachlich und methodisch noch so selbstkontrolliert, ein Moment der Teilhabe am Zeitgeist. Und jede Historiographie, auch die fachlich introvertierte, leistet einen Bei- 70 Ein Germanist zur Theologie trag zu dem, was Assmann das kulturelle Gedächtnis nennt und in seiner manipulativen Kraft eindringlich beschreibt. Allerdings richtet die Gedächtnisgeschichte ihre Aufmerksamkeit vor allem auf Überlieferungen, die besonders tiefgreifend und ohne Rücksicht darauf, „wie es eigentlich gewesen“, Vergangenes umformen. Die Gedächtnisgeschichte will wissen, wie und warum spätere Zeiten Vergangenheit aufgegriffen haben, wie sie instrumentalisiert wurde, welche Impulse davon ausgegangen sind. Verwandlungskraft und Tendenzladung des Gedächtnisses und der Erinnerung sind zu erfassen bis hin zu phantastischen Umbildungen. Es kann gedächtnisgeschichtlich sogar die Frage auftauchen, ob und wie Spätere das Vergangene vergessen oder verdrängt haben. Um so mehr muß geklärt sein, wie das Realitätsmaterial beschaffen war, mit dem so verfahren wird. Die Erklärungsfigur „Verdrängung“ führt den Historiker allemal in die heikle Lage, daß das Vergessen oder Verdrängen sozusagen zur negativen „Quelle“ wird. Es sagt etwas, wenn von etwas nicht gesprochen wird. Daß es gedächtnisgeschichtlich relevante Fälle kollektiver Verdrängung gibt, dürfte gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte nach 1945 klar sein. Viel ist da beschwiegen worden, was doch in tiefen Schichten des Gedächtnisses da war. Trotzdem muß mit diesem Konzept äußerst vorsichtig gearbeitet werden. Es muß gesichert sein, was verdrängt wurde. Es muß eine gewisse zeitliche und vor allem mentale Nähe des Geschichtsschreibers zu den verdrängten Sachverhalten da sein. Er muß sich in die Prozesse hineinversetzen können. Es sollte der Rückbezug zu Zeitzeugen möglich sein, am besten solchen, denen ihre eigenen Verdrängungen irgendwann bewußt geworden sind. Je weniger man vom Verdrängten weiß, je weniger man die Rahmenbedingungen, auch die psychischen, des Verdrängungsprozesses kennt, um so problematischer - oder sagen wir wenigstens um so hypothetischer - wird die Anwendung dieser Kategorie. Welche Rolle sie bei Assmann spielt, wird zu bedenken sein. Echnaton und Moses Zunächst jedenfalls geht auch Assmann als Gedächtnisgeschichtsschreiber von gedeuteter Realgeschichte aus: Es ist die religiöse Revolution des ägyptischen Pharaos Echnaton um 1350 v. Chr., die den altägyptischen Polytheismus durch königlichen Machtspruch als falsch verwarf, auszumerzen versuchte und durch eine von Assmann so genannte monotheistische Gegenreligion ersetzte. Diese geschichtlich erstmalige Einsetzung einer Gegenreligion wurde nach dem Tod Echnatons im offiziellen ägyptischen Gedächtnis so gründlich gelöscht, daß Echnaton als Gestalt und seine Religion erst im 19. Jahrhundert von der modernen wissenschaftlichen Ägyptologie wiederentdeckt wurden. 71 War der Exodus der Sündenfall? 8 Zum Forschungsstand siehe R. S MEND , Mose als geschichtliche Gestalt (in: D ERS ., Bibel, Theologie, Universität, 1997, 5-20). Nun hat dieser realgeschichtliche Ansatzpunkt für eine Gedächtnisgeschichte mit dem Titel „Moses der Ägypter“ den Mangel, daß Moses nicht darin vorkommt. Eine realgeschichtliche Beziehung zwischen Echnaton einerseits, Moses und dem Exodus andererseits hat sich nicht erhärten lassen, obwohl der Exodus in zeitlicher Nähe zu Echnaton angesetzt wird. Eine solche realgeschichtliche Beziehung ist - freilich nicht in historiographischer, sondern in religionspsychologischer Absicht - am eindringlichsten von Sigmund Freud postuliert worden, den Assmann ans Ende seiner Rezeptionsreihe stellt. Nach Freuds Abhandlungen „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1939) war Moses ein ägyptischer Echnatonanhänger, der auf der Flucht vor Verfolgung den Israeliten dessen Monotheismus brachte, aber von ihnen, weil sie dafür nicht reif waren, ermordet wurde. Sie haben diese Schuld derart verdrängt - Freud gebraucht diesen terminus technicus der Psychoanalyse in diesem Zusammenhang -, daß sie den ermordeten Moses im Alten Testament zum Offenbarungsträger und charismatischen Führer überhöhen. Diese These läßt sich als realgeschichtliche schon deshalb nicht halten, weil Moses als historische Gestalt nicht zwingend nachweisbar ist. 8 Zeitgenössische ägyptische Quellen erwähnen weder Moses noch den Exodus. Und Schriften des Alten Testaments überliefern zwar im Abstand von Hunderten von Jahren die Mosesgestalt, enthalten aber keinen Beleg für die Existenz Mosis als historische Figur. Assmann löst das Problem einfach, indem er den Zusammenhang Moses-Echnaton für gedächtnisgeschichtlich erklärt. Gestützt auf spätere Geschichtsdarstellungen aus dem Raum ägyptisch-griechisch-römisch-jüdischer Wechselbeeinflussung, die immer wieder aufeinander zurückgreifen und deren Ausgangspunkt die nur in Exzerpten überlieferte, griechisch geschriebene Geschichtsdarstellung eines ägyptischen Priesters Manetho um 280 v. Chr. ist, bietet er folgenden Zusammenhang an: Amalgamiert mit anderen Schreckenserinnerungen wie früheren Hyksos- Einfällen, Pest und Fremdherrschaft, kehrt Echnatons Religions-Revolution nach langer Zeit der Verdrängung, die auf die Tiefe der von ihr ausgelösten Erschütterung schließen läßt, im historischen Gedächtnis wieder. In Moses mit dem Exodus, der die Unterdrückten aus Ägypten wegführt, geht ein sagenhaftes kollektives Gemurmel von der religiösen Umwälzung Echnatons ein. Im Alten Testament als dem Grundbuch Israels fließt es in die Lichtgestalt des Volksbefreiers und charismatischen Begründers einer monotheistischen Gegenreligion, die den ägyptischen Polytheismus ausschließt und durch Negation aufhebt; von Ägypten her gesehen verdichtet sich die traumatische Erinnerung in finsteren Umstürzlern. Der bei Manetho zur Zeit eines Königs Amenophis auftauchende Rebell - Amenophis IV. hieß Echnaton vor 72 Ein Germanist zur Theologie seiner Konversion - nimmt den Namen Moses an. Er erscheint als Outcast und Spalter der heiligen Ordnungen. „Verdrängung“ ein hermeneutischer, „Erste Unterscheidung“ ein formal-logischer Ansatz; ihre Kombination Bei dieser Kombination spielen die beiden schon erwähnten Deutungsmuster eine Schlüsselrolle: Freuds Konzept der „Verdrängung“ und Spencer-Browns Konstruktionsgesetz der „Ersten Unterscheidung“. Assmann aktualisiert es als fundamentalen religiösen Unterscheidungsakt Echnatons, der auf die Gedächtnisgestalt Moses verschoben und in ihr radikalisiert wieder aufgenommen wird. Auch er verkündet eine monotheistische Gegenreligion und merzt alle anderen Kulte aus. In Ägypten wird zwar Echnatons Gedächtnis offiziell getilgt; subkutan aber wandert der Eingott Echnatons, der ein kosmischer Gott ist, in der auf Echnaton folgenden Ramseszeit als verborgenes göttliches Einheitsprinzip in den wiederhergestellten Polytheismus ein und wird zum Grund des ägyptischen Pantheons. Die Vielgestalt der Götter wird nun als Veräußerung der göttlichen Einheit in die Vielheit verstanden. Sie wird durch das Prinzip Schöpfung oder durch das Prinzip Emanation auf die Einheit zurückbezogen. Der mosaische Gott bleibt dagegen exklusiv. Diese Konstruktion Assmanns kann exakt auch in seinem Sinne kaum als gedächtnisgeschichtlich bezeichnet werden, weil in erheblichem Umfang die Folie der realgeschichtlich vorgegebenen Sachverhalte fehlt. Assmann selbst stellt fest: „Als ein Zweig der Geschichtswissenschaft kann auch Gedächtnisgeschichte nicht ohne Geschichte auskommen“ und fordert „fortwährende historische Reflexion“ - doch wohl auf die der Gedächtnisgeschichte zugrundeliegenden Sachverhalte (42). Was aber, wenn sie unbekannt sind, und was, wenn die bekannten realen Ausgangsdaten gedächtnisgeschichtlich nicht vorkommen? Um die alttestamentliche Gedächtnisgestalt Moses in eine gedächtnisgeschichtliche Beziehung zu Echnaton zu bringen, gibt es nur eine Möglichkeit: dessen Absenz in der Gedächtnisgeschichte als eine Art von Präsenz zu bestimmen. Und so muß Echnatons Vergessenheit zur Verdrängung erklärt werden. Sie wird derart ex negativo zum Element der Gedächtnisgeschichte und dort zum missing link zwischen den Religionsstiftern. Damit wird nicht nur der Begriff aus Freuds Zusammenhang gerissen und von Moses auf Echnaton übertragen. Das ganze Argumentationsgebäude gewinnt allein dadurch Zusammenhalt und Bezug auf Moses, daß die hermeneutischpsychologische These der „Verdrängung“ und die strukturelle These der „Ersten Unterscheidung“ ineinandergeschoben werden. Zur Abschätzung der Tragfähigkeit dieses Verfahrens empfiehlt sich noch einmal der Blick auf die zeitlichen Relationen: Vor 1300 wird Echnatons Gedächtnis offiziell getilgt. Etwa um 1300 dürfte der Exodus stattgefunden 73 War der Exodus der Sündenfall? 9 R. A LBERTZ , Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, 1992, 435ff; vgl. a.a.O. 245ff. 10 J. A SSMANN , Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, (1992) 2.A. 1997, 203. haben. Aber die heilsgeschichtliche Akzentuierung der Exodustradition mit der Universalisierung und Potenzierung der Jahwe-Vorstellung und der scharfen Wendung gegen Fremdgötterkulte greift erst seit der prophetischen Oppositionsbewegung des 8. Jahrhunderts Raum. Und in der Exilszeit erst stieß die Deuterojesaia-Gruppe „ - wahrscheinlich überhaupt zum erstenmal in der Religionsgeschichte Israels - zur Formulierung eines konsequenten Monotheismus durch“. 9 In den über 500 Jahren zwischen dem Exodus und der Krise des jüdischen Königtums, die schließlich zum Exil führte, konnte im jüdischen Raum von herrschendem Monotheismus nicht die Rede sein, wie gerade Assmann in seiner früheren Monographie „Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen“ (1992) besonders pointiert herausstellt: „Die Frühzeit Israels, von den Anfängen bis weit ins 7. Jahrhundert hinein, hat man sich als polytheistisch […] vorzustellen. Jahwe ist Staatsgott, wie Assur in Assyrien, Marduk in Babylonien, Amun-Re in Ägypten, aber er wird nicht exklusiv verehrt, sondern als Oberhaupt eines Pantheons. Das kulturelle Leben ist gegenüber der kanaanäischen Umwelt offen, Heiraten mit Midianitern, Moabitern, Gibeonitern, sogar Ägyptern (Salomo) usw. sind gang und gäbe, Baalskulte blühen überall im Lande. Die Religion Israels ist lediglich eine regionale Variante gemein-vorderorientalischer Kulte und Vorstellungen.“ So Assmann. 10 Wenn also der von Assmann dem Moses zugeschriebene Monotheismus mit theoklastischem Impuls eine gedächtnisgeschichtliche Beziehung zum Monotheismus Echnatons haben sollte, müßte sie am Ende dieses von Assmann so genannten israelitischen Polytheismus über Räume, Kulturen und viele Jahrhunderte hinweg virulent geworden sein. Und wieder erst Jahrhunderte später verknüpft sich - laut Assmanns These - schriftlich in ägyptischen Quellen die namenlose Erinnerung an Echnaton mit einer vagen Kenntnis der jüdischen Mosestradition. Ein so unsicheres und loses chronologisches Netz von Bezügen zur Basis eines gewaltig dimensionierten Argumentationsgebäudes zu machen, wie Assmann das tut, scheint mir sehr problematisch. Mein zweiter Einwand gegen die Kombination der Verdrängungsthese mit der These von der ersten Unterscheidung ist deren kategoriale Verschiedenheit. Sie besteht darin, daß „Verdrängung“ eine inhaltliche Erklärungsfigur innerhalb eines Verstehensprozesses ist. Die dahinterstehende Frage lautet: Wie kommt ein solches kollektiv-psychologisches Phänomen zustande? „Erste Unterscheidung“ hingegen ist ein Indikationskalkül der mathematischen Logik, die bei ihren Formalisierungen von allen inhaltlichen Bedeutungen absieht. Spricht man historischen Gestalten oder Erinnerungsträgern wie 74 Ein Germanist zur Theologie 11 G. S PENCER -B ROWN , Laws of Form. Gesetze der Form, Übersetzung Thomas Wolf, (1969) 1997, X. 12 J. A SSMANN , Monotheismus und Kosmotheismus. Ägyptische Formen eines „Denkens des Einen“ und ihre europäische Rezeptionsgeschichte (SHAW.PH, Jg. 1993, Ber. 2, vorgetragen am 24. April 1993), 1993, 10. Echnaton oder Moses solche logischen Setzungen zu, nimmt man sie aus allen historischen oder mnemohistorischen Verflechtungen heraus und stellt sie als Subjekte der Erkenntnis der Geschichte gegenüber. Und indem Assmann ein Konstrukt herstellt, in dem er Verhaltensweise und Handlungen der Gedächtnisfigur Moses, der doch ein von Gott Ergriffener und kein Logiker war, zur „Ersten Unterscheidung“ stilisiert und komprimiert, tritt auch er als Historiker aus der Geschichte heraus und macht sie zum Objekt logischer Konstruktionen. Worauf er sich mit Spencer-Brown einläßt, zeigt schon ein flüchtiger Blick. Ich habe zur mathematischen Logik keinen Zugang. Ich frage mich aber, wieso ein Historiker, dessen Darstellung durchgehend interpretatorische und narrative Züge aufweist, auf den Ansatz eines Forschers zurückgreift, der schon in der Einleitung von „Laws of Form“ vom „gigantischen Betrug“ spricht, mit dem „das ganze gegenwärtige Bildungsestablishment der zivilisierten Welt“ beschäftigt sei, „dem großen Schwindel von GI - Gerede und Interpretation: der ganz und gar falschen Doktrin, daß jemand etwas wissen kann, indem man es ihm erzählt“. 11 Unerfindlich ist mir jedenfalls, wie man eine logische Setzung mit der Verfahrensweise historischen Verstehens kombinieren kann, das sich auf die Phänomene einläßt, statt ihnen von vornherein gegenüberzutreten. Schwanken zwischen Hermeneutik und Konstruktion Selbst bei einem abgeschwächten, sozusagen metaphorischen Gebrauch eines Indikationskalküls (der in sich nichts als hölzernes Eisen wäre) ist es zweierlei, den Monotheismus des Echnaton und des Moses im historischen Kontext inhaltlich zu beschreiben oder sie formal zu analogisieren. Assmann aber wechselt zwischen beiden Verfahren hin und her. Formal besteht da und dort eine „Gegenreligion“ (47), die sich intolerant gegen einen Polytheismus absetzt und ihn als Idolatrie verdammt. Aber immer dann, wenn Assmann zu inhaltlichen Charakterisierungen kommt, zeigt sich alsbald ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Mosaischen und Echnatonischen Gottesvorstellungen. So schreibt Assmann 1993 in einer Abhandlung der Heidelberger Akademie „Monotheismus und Kosmotheismus“ über Echnatonischen und jüdischen Monotheismus, „daß die beiden von Haus aus gar nichts miteinander zu tun haben“. 12 Diese Position hat er nicht etwa später verlassen. 75 War der Exodus der Sündenfall? 13 J. A SSMANN , Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, 2000. Zit. im folgenden: HuH. In „Moses der Ägypter“ heißt es: „Zwischen Echnatons und Moses’ Monotheismus liegen Welten.“ (268) Vergleichbar äußert sich Assmann wiederholt in seinem neuesten Werk „Herrschaft und Heil“, 13 dessen einzelne Beiträge zwar zum Teil älter sind als das Mosesbuch, die aber alle laut Assmann durchgreifend überarbeitet und also doch wohl auf den neuesten Stand seines wissenschaftlichen Denkens gebracht worden sind (vgl. z.B. HuH 268). Wie bei einem Vexierbild rückt jedoch dieser inhaltliche Gegensatz in den Hintergrund, sobald Assmann wieder auf die formale Analogie zurückgreift, wobei sie unversehens in eine substantielle Übereinstimmung changieren kann. Etwa so: „Eine Beziehung zwischen diesen beiden Figuren [Echnaton und Moses] läßt sich nicht bestreiten. Beiden schreibt die Geschichte dieselbe Tat zu: die Verwerfung der polytheistischen Götterwelt zugunsten eines einzigen Gottes.“ (HuH 248) „Was beide [Moses und Echnaton] gemeinsam haben, ist die Gründung einer antiägyptischen Gegenreligion, der theoklastische Impuls. Diese Gemeinsamkeit hat sie in der Erinnerung verschmelzen lassen. „ (HuH 258) Ich kann da nur fragen: Ist hier „dieselbe Tat“, was ja vollkommene Übereinstimmung bezeichnet, inhaltlich oder formal gemeint? Ist unter der zuschreibenden Geschichte, die ja ohnehin nur allegorisch ein Handlungssubjekt ist, die Erinnerungsgeschichte oder die Realgeschichte verstanden? Und weiter: Echnaton konnte schon deshalb nicht in der Erinnerung mit Moses verschmelzen, weil er vergessen war. Allenfalls konnte eine schattenhafte Erinnerung an ihn in der Mosesgestalt aufgehen. Und antiägyptisch konnte Echnatons Gegenreligion auch nicht sein, denn er war ägyptischer König, und Assmann selbst hat im ramseszeitlichen Polytheismus Rückgriffe auf die ausgelöschte Atonreligion des Echnaton aufzuweisen unternommen. Letztendlich überwächst im Ganzen der Moses-Monographie die strukturell-formale Gleichung die individualisierende Gegenüberstellung dadurch, daß sie den Aufbau des Buches bestimmt. Tatsächlich ist das Spiel zweier gegensätzlicher Argumentationsweisen des Autors tendenziell unendlich wie eine Schaukelbewegung: Eine Zuckertüte und ein Delinquentenhut der spanischen Inquisition gehören zusammen, weil sie beide Tütenform haben; nein, sie haben nichts miteinander zu tun, weil sie gänzlich verschiedenen Zwecken dienen usw. Weil die Argumente auf verschiedenen Ebenen liegen, lassen sie sich nicht gegeneinander austarieren. 76 Ein Germanist zur Theologie Europäische Tradition synkretistischer Moses-Deutungen Meiner Ansicht nach wäre die Konsequenz aus der Einsicht, daß Mosaischer und Echnatonischer Monotheismus von Haus aus inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, ganz klar die, daß beide dann auch nicht sinnvoll unter einen gemeinsamen formalen Oberbegriff gebracht werden können, zumal dieser weder realgeschichtlich noch gedächtnisgeschichtlich überzeugend festgemacht werden kann. Denn die von Assmann herausgearbeitete gedächtnisgeschichtliche Linie der europäischen Ägyptenrezeption läuft nicht auf Analogisierung zweier intoleranter Monotheismen der Unterscheidung hinaus, sondern vielmehr auf einen Synkretismus, der - viele Abschattierungen auf einen groben Raster gebracht - einen kosmologisch-philosophischen Eingott aus dem ägyptischen Polytheismus herausschält und als Bundesgott eines auserwählten Volkes exoterisch einkleidet (vgl.z.B. 269). Damit bin ich nun aber bei demjenigen Teil von Assmanns Monographie angelangt, der methodisch der am wenigsten neuartige, inhaltlich für mich aber der am meisten aufregende und überzeugende ist. Es ist die gelehrte Rezeptionsgeschichte von Buch zu Buch des aus relativ wenigen Quellen gespeisten europäischen Ägyptenwissens, fokussiert in der Mosesgestalt. Dabei führt Assmann in einer faszinierenden Auslegungsgeschichte von Maimonides und der Renaissance über die englische Aufklärung und den deutschen Idealismus bis zu Freud eine dritte Mosesdeutung und ihre Geschichte vor, indem er sie als schrittweise Entwicklung aus zunächst jüdisch und christlich theologisch-apologetischen Positionen heraus interpretiert (278f). Neben den Outcast Ägyptens und den antiägyptischen Heilsträger der Israeliten tritt nun Moses der Philosoph, Kosmotheist und Ägypter, nach dem Assmanns Buch seinen Titel führt, wobei es eher gleichgültig ist, ob er als Mann ägyptischer Herkunft oder als ägyptisierter Hebräer gedacht wird. Diese dritte Mosesdeutung besagt, er habe unter dem Deckmantel der Entgegensetzung zu ägyptischer Religion und Kultur - Bilderverbot versus Idolatrie, Monotheismus versus Polytheismus - den esoterischen Kern ägyptischer Gottes- und Weltdeutung exoterisch ins Judentum übertragen. Die Träger dieser Deutungstendenz spüren in einer durch die Jahrhunderte laufenden Debatte im ägyptischen Pantheon das göttliche Einheitsprinzip auf, von dem oben anläßlich Assmanns Bezug auf altägyptische religiöse Quellen nach Echnaton die Rede war. Derart erscheint die ägyptische Religion und - in einem verzweigten Ast der Rezeptionsgeschichte - die Gestalt des Moses schließlich in einer Vorläuferrolle neuzeitlicher Weltdeutungstendenzen wie Deismus und Pantheismus, die unter dem Verdikt der autoritären christlichen Orthodoxie stehen. In einer List der Vernunft, die von orthodoxen Bibelwissenschaftlern bis zu Freidenkern wirkt, wird in der ägyptischen Religion das ausgegraben, was zeitgenössisch intolerabel ist, und die Mosaische Unterscheidung, die eine 77 War der Exodus der Sündenfall? fundamentale Opposition zwischen Israel und Ägypten setzt, wird aufklärerisch unterlaufen. In einer Unterströmung der europäischen Geistesgeschichte, die sich an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert durchsetzt, avanciert Moses vom religiösen Spalter zur überragenden Vermittlungsfigur, die allerdings ihre Translatio des Ägyptischen nach Israel mannigfach tarnen muß. Assmann ermittelt also zuerst in Echnaton die verdrängte historische Urszene dessen, was er in der Mosestradition die Mosaische Unterscheidung zwischen Monotheismus und Polytheismus nennt; darauf findet er - pointiert gesagt - in der zeitlich anschließenden altägyptischen Theologie auch das Urmodell der untergründigen Aufweichung und Vermittlung dieser Unterscheidung, wie er sie dann seit der Renaissance präsentiert. Wieder stellt sich nun die Frage der Verbindung zwischen altägyptischen Schriften und europäischen Auslegern, die weder diese frühen Quellen kannten noch sie hätten lesen können, und wieder beantwortet sie Assmann kühn, indem er den hellenistischen und spätantiken Gewährsleuten seiner Rezeptionsreihe, die selbst schon weit von den ramseszeitlichen Dokumenten entfernt waren, ein adäquates Verständnis dieser fernen Zeugnisse zuspricht. Damit gewinnen über mehrere Jahrhunderte verstreute Texte der hermetischen und kompilatorisch-historischen Tradition, deren Wert als Zeugnisse Altägyptens man nach Maßgabe ihrer Spätzeitlichkeit geringer eingeschätzt hatte, eine hohe Dignität als Bindeglieder der Zeiten und Kulturen, und zwar nicht nur gedächtnisgeschichtlich, sondern auch als Weg zu den Sachen selbst. So etwa das „Corpus Hermeticum“, eine Sammlung von geheimwissenschaftlichen, halb religiösen, halb philosophischen Schriften von großer Nachwirkung, das man lange Zeit für altägyptisch gehalten hat. Obwohl es schon im 17. Jahrhundert als Werk der Spätantike nach der Zeitwende erkannt worden ist, stellt sich Assmann tendenziell hinter ein Argument des Philosophen Ralph Cudworth (1617-1688), Hauptes der Cambridger Schule, das beweise nur, „wie lange die ägyptische Geheimtheologie lebendig blieb, und nicht, wie spät sie erfunden wurde“ (130). Assmann allerdings bezieht diese Position in Kenntnis der alten Texte und als Ägyptologe. Ich kann nun die ägyptologischen Befunde Assmanns nicht beurteilen; methodisch bin ich skeptisch angesichts der Gefahr eines so entstehenden Zirkels, in dem erst in der neuzeitlichen Bearbeitung des Moses-Ägypten-Komplexes die aufklärerische Tendenz des Pantheismus/ Panentheismus als Konterbande aufgedeckt und dann in den altägyptischen Quellen dieselbe Tendenz als innerster Kern aufgewiesen wird. Politischer Monotheismus im Alten Testament? Doch zurück zum Kernproblem: Kann das Konzept der Mosaischen Unterscheidung allenfalls ein Widerlager für die synkretistischen Tendenzen der 78 Ein Germanist zur Theologie 14 J. A SSMANN , Monotheismus und Kosmotheismus (s. Anm. 12), 11. europäischen Moses-Ägypten-Rezeption abgeben, so ist nun der Einwand gegen die strukturelle Gleichung da wieder aufzunehmen, wo Assmann selbst Mosaische Religion und Echnatonische Religion inhaltlich strikt unterscheidet, und zwar bis zu dem äußersten Punkt, daß dabei nun die Echnaton- Religion sogar in engsten Zusammenhang mit dem ägyptischen Religionsdenken insgesamt tritt, mithin der Graben zwischen Israel und Ägypten mit einem Mal tiefer erscheint als der zwischen Polytheismus und Monotheismus (vor allem 281). Dabei muß ich etwas ausholen, weil Terminologisches beigezogen und auf seine inhaltliche Bedeutung abgehorcht werden muß. In der bereits zitierten Akademieabhandlung von 1993 bringt Assmann den dort festgestellten Gegensatz zwischen Echnatons monotheistischem Kosmotheismus und dem jüdischen Glauben auf die Formel, in Israel und als dessen „exklusive Erfindung“ herrsche ein „politischer Monotheismus“. Die Exklusivbindung Israels an Jahwe habe „von Anfang an und im innersten Kern politische Gründe“. 14 In einer vorher noch unveröffentlichten Partie von „Herrschaft und Heil“, also zeitlich nach dem Mosesbuch, formuliert Assmann ähnlich, daß es sich beim biblischen Monotheismus „um eine im Kern politische Idee und Bewegung handelt. […] Echnaton ging es zwar ebenso um die ausschließliche Verehrung eines einzigen Gottes. Aber dieser Gott war die Sonne, eine kosmische, keine politische Gottheit.“ (HuH 245) Auch in der Moses-Monographie findet sich der Satz: Der Gott des Exodus „ist ein politischer Führer und entspricht eher [als dem ‚unbewegten Beweger‘ des Aristoteles] einem orientalischen Rechtskönig, der Gesetze erläßt und Loyalität fordert“ (270). Ich zitiere das zunächst einmal, um dem genauen Sinn von Assmanns Kennzeichnung „politischerMonotheismus“ für Israel nachzufragen, und zwar von Assmann selbst her. Vier Kapitel vor dem letzten Zitat konstatiert Assmann: „Indem Israel aus Ägypten auszieht, zieht es aus der ‚Welt‘ einer auf äußeres Glück, säkulares Gelingen, ziviles Wohlbehagen, materielle Güter und politische Macht ausgerichteten Kultur aus. […] Der Auszug aus Ägypten ist der Gründungsakt einer Religion, die auf Weltbeheimatung verzichtet, um Gott nahe zu sein. Für sie ist der Rückfall in die Weltlichkeit das Nein zu Gott und damit die Sünde“ (246f). Abgesehen von der auffälligen emotionalen Negativladung dieser und benachbarter Passagen, auf die ich zurückkommen werde; abgesehen auch von der Schiefheit dieser Charakteristik des Judentums auf krasse Weltfeindschaft hin - immerhin umfaßt „Segen“ im Alten Testament geistliches und weltliches Heil, Gesundheit, Reichtum und zahlreiche Nachkommenschaft, immerhin ist es Gottes Verheißung für Abraham, ein großes Volk aus seinem Samen zu machen, immerhin wird dem Volk des Exodus eine Heimstatt 79 War der Exodus der Sündenfall? 15 J. A SSMANN , Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, Privatdruck, 1992, 79. versprochen, wo Milch und Honig fließt, und immerhin waren die Juden der Exodus-Zeit am „zivilen Wohlbehagen“ Ägyptens wahrscheinlich wenig beteiligt. Alles das dahingestellt. Aber wie will Assmann den Widerspruch auflösen, daß er den jüdischen Glauben einmal auf politische Freiheit und dann auf ein „Nein zur Welt“ hin stilisiert (247)? Ist bei einem Nein zur Welt politische Freiheit überhaupt ein Wert? Entweder müssen die Bestimmung der Freiheit als politisch oder die Bestimmung des Glaubens als weltfeindlich oder beide Bestimmungen falsch sein. Was also meint die Kennzeichnung des mosaischen Glaubens als politischer Monotheismus? Zentral steht Assmanns Argument, daß der Auszug aus Ägypten als Bezugspunkt der Gotteserfahrung Israels ein Weg aus der Unterdrückung in die Freiheit ist. Am krassesten ist eine Formulierung aus Assmanns Essay „Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel“ (1992), „daß das Projekt des israelitischen Monotheismus im Kern und vom Ursprung her politisch ist und mit der Umbuchung politischer Bindungen auf Gott eine Befreiung von der als Unterdrückung empfundenen staatlichen, d.h. ägyptischen Staatsgewalt bedeutete“. 15 Das ist kraß in bezug auf die Terminologie: Der Begriff „Projekt des Monotheismus“ macht eine Offenbarungsreligion zur zweckrationalen Veranstaltung, wenn er überhaupt etwas Spezifisches besagen soll. Die Metapher „Umbuchung“, die hier für die Umorientierung zentraler Bindungen steht, klingt nach Kalkulation und Buchhaltung. Vor allem aber scheint mir die Argumentation sachlich ungedeckt. Was anders als Haß und Wut können die Israeliten des Exodus für die ägyptische Staatsgewalt und ihren Pharao empfunden haben; sollen sie diese politischen Bindungen auf ihren Gott „umgebucht“ haben? Und geht es hier überhaupt „im Kern und Ursprung“ um Politik? Ich bin der Ansicht, daß die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, die Gotteszusagen und -ansprüche an Israel und die Gesetze im Alten Testament ganz umfassend gedacht sind und nicht speziell politisch oder sozial. Israel wird durch Gott zu Gott befreit, aus einem universalen Unheilszustand in einen universalen Heilszustand göttlicher Nähe, Führung und Offenbarung gebracht, in dem das Ende der Unterdrückung und die Regelung des Zusammenlebens nur Teilaspekte der Rettung sind. Es ist kein Zufall, daß den früheren Schriften des Alten Testaments ein Äquivalenzbegriff zu Freiheit im politischen Sinn fehlt, und umgekehrt zeigt das jüdische Fest der Thorafreude (Simchat-Thora), bei dem der Rabbiner mit der Thorarolle tanzt, daß die Mosaischen Gesetze keineswegs primär als Rechtsvorschriften oder gar politischer Kodex, sondern als göttliches Geschenk erfahren worden sind. Volk ist in Israel Volk Gottes. 80 Ein Germanist zur Theologie 16 A LBERTZ (s. Anm. 9), 39 u.ö. Nun könnte sich Assmann für seine These auf religionsgeschichtliche Standarddarstellungen wie die des Theologen Rainer Albertz mit seiner umfangreichen „Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit“ (1992) berufen, das partienweise zu ähnlichen Ergebnissen wie Assmann kommt. Nur: Gerade die Übereinstimmungen machen den Unterschied der Perspektive deutlich. Albertz schreibt eben Religionsgeschichte als Rekonstruktion von Realgeschichte; d.h. er versucht, historische Sachverhalte aus dem alttestamentlichen theologischen Deutungszusammenhang herauszuschälen und spätere alttestamentliche Deutungszusammenhänge wiederum nicht theologisch zu interpretieren, sondern realgeschichtlich aus politischen und sozialen Fraktionen, Konstellationen und Ereignissen in Israel abzuleiten. Das geschieht erklärtermaßen mit religionssoziologischem Akzent. 16 Assmann hingegen setzt bei seinen alttestamentlichen Forschungen von vornherein einen gedächtnisgeschichtlichen Akzent - so in seinem Buch „Das kulturelle Gedächtnis“. Das heißt aber: Gerade die theologische Durcharbeitung der Geschichte Israels müßte für ihn im Vordergrund stehen; ist doch das Alte Testament als heilsgeschichtliche Geschichtsdeutung und Verkündigung in sich selbst ein Muster- und Spezialfall von Gedächtnisgeschichte. Und auch hier wiederum könnte man sagen, genau dieser Erwartung entspricht Assmann, wenn er von Theologisierung des Politischen spricht. Aber nun erst stellt sich die Gretchenfrage: Ist das, was Assmann Theologisierung des Politischen nennt, als gedächtnisgeschichtlich sich abspielende theologische Einkleidung eines wesentlich politischen Kerns verstanden? Genau dieser Schritt ist es, den Assmann über die hier vergleichsweise beigezogene Religionsgeschichte von Albertz hinausgeht. Albertz läßt den theologischen Sinn der von ihm herausgearbeiteten realgeschichtlichen Bestände und ihrer damaligen Deutungen dahingestellt; Assmann aber erklärt politische Implikationen und Positionen der biblischen Texte, die ja zweifellos vorhanden sind, zum „Kern und Ursprung“ der Sache. Das heißt, Assmann sieht die politischen Implikationen und Positionierungen der biblischen Texte als den Primärbestand, und das, was die biblischen Texte sein wollen, ein Zeugnis der Geschichte Israels mit seinem Gott, als sekundär. Mit welchem Recht? Noch dazu: mit welchem Recht in gedächtnisgeschichtlicher Perspektive, die ja erklärtermaßen der Kulturbedeutung von Traditionen nachgeht? Mir ist zweifelhaft, ob die relativ spät ausformulierte alttestamentliche Theologie des Bundes - hier einmal historisch undifferenziert genommen - in ein politisches Programm zugespitzt werden darf, bei dem die Theologie zum Medium der Politik wird, oder ob nicht vielmehr umgekehrt Offenbarung und Theologie im Selbstverständnis Israels das Übergreifende bleiben und 81 War der Exodus der Sündenfall? 17 A SSMANN , Politische Theologie (s. Anm. 15), 79. - theologisch gesagt - Gott Könige, Propheten, Priester und Richter als seine Werkzeuge einsetzt und verwirft, ermächtigt, kritisiert und relativiert. An dieser theologischen Grundorientierung ändert nichts, daß das Wechselverhältnis von Verheißungen und Geboten Gottes und Zusagen Israels sprachlich auf altorientalische Vasallitätsverträge zurückgreift. Natürlich steht die deuteronomistische Theologie, die in einem Abstand von 800 Jahren einen theologischen Zusammenhang der Sinai- und Exodus-Traditionen herstellt, nicht im luftleeren Raum, natürlich arbeitet sie mit Formulierungshilfen. Aber grundsätzlich ist nicht der Wortlaut, sondern die Funktion und der Stellenwert von Formulierungen entscheidend, und dabei ist zu berücksichtigen, daß Bund, hebräisch berît, ursprünglich einen recht weiten Sinn hat und etwa in der altertümlichen Vätergeschichte vom Abrahamsbund (Gen 15,12ff) dem Geist politischer Vertragsschlüsse denkbar fernsteht. Alle Rede von Gott ist metaphorisch Überhaupt ist hier eine prinzipielle Erwägung fällig: Auch Assmann setzt eine Primärerfahrung „Gott“ an, wenn er Religion eine der „Grundbedingungen des menschlichen Daseins“ nennt (HuH 30, Grundbedingung ist noch mehr als Grundtatsache). Es ändert diesen Charakter der Grundbedingung nicht, daß es für die Primärerfahrung „Gott“ nur symbolische Ausdrucksmöglichkeiten in Handlungen und Worten gibt. Die Sprache für diese Primärerfahrungen kann nur sekundär sein. Es gibt nur abgeleitete, unzulängliche, aspekthafte Umschreibungen, Metaphern, Gleichnisse, die im Umkreis menschlicher Erfahrung gründen und zugleich über ihn hinausweisen. Sprachliche Offenbarung Gottes ist immer ein Heruntersteigen zum menschlich Denk- und Vorstellbaren, Anbetung und Rede des Menschen von Gott immer stammelnde menschliche Annäherung. Nun erkennt Assmann das Metaphorische der Redeweise da, wo bei den ältesten Propheten „die Beziehung zwischen Jahwe und seinem Volk […] im Bild des Ehebundes […] ausgedrückt“ wird. Hingegen ist nach Assmann „das politische Bündnis […] keine Metapher der Gott-Mensch-Beziehung, sondern die Sache selbst, die jeder kennt“. 17 Aber der Sache selbst nach ist Gott doch nicht ein Feudalherr oder in der Rolle eines Feudalherrn, allenfalls ein göttlicher Herr anstelle und im Gegensatz zu Feudalherren, und das ist die theologische Aussagerichtung: Sooft Israel versagt und die Treue bricht, Gottes Gnade und Treue hält sich durch. So weit die Befreiungstat Gottes beim Exodus über menschliche Handlungsmöglichkeiten und innerweltliche Zielsetzungen hinausgeht, so weit Gottes Treue mehr ist als menschliche Treue, 82 Ein Germanist zur Theologie 18 A.a.O. 79. 19 A.a.O. 35. - Assmann unternimmt es in seinem hier zitierten Essay „Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel“, exemplarisch an den Begriffen von Liebe und Zorn Gottes die Theologisierung politischer Begriffe vorzuführen. Nur am Rande möchte ich auf die These eingehen: Assmann argumentiert für den Zorn Gottes: „Erst als durch den Bundesschluß am Sinai die Beziehung Gottes zu Israel die politische Form des Vertrages angenommen hatte, entsteht der Boden für den Zorn Gottes. Dieser Zorn ist ein spezifisch politischer Affekt. Er wächst Jahwe zu mit der Königsrolle, die er in Bezug auf Israel übernimmt. Nicht die irrationale Leidenschaftlichkeit eines >Wüstendämons<, wie man sich das früher gern vorstellte, sondern ganz im Gegenteil die hochkulturelle Idee der Gerechtigkeit bedingt diesen Zorn.“ (A.a.O. 85) Tatsächlich ist in den Vätergeschichten der Genesis nicht vom Zorn Gottes die Rede, sondern erst in Exodus. Trotzdem gibt es in ältesten Schichten der Überlieferung Spuren einer schrecklichen, dämonischen Unbegreifbarkeit Gottes - etwa in den Geschichten vom Opfer Isaaks, vom Jakobskampf am Jabbok, von der Todesdrohung gegen Moses, solange der Sohn nicht beschnitten ist. Und es gibt durchaus frühe Auftritte Gottes als furchtbarer Schlacht- und Wettergott (etwa Ri 5, Ps 68). Es wäre auch schwer vorstellbar, daß ausgerechnet die Gottesvorstellungen des Alten Testaments nichts vom Fascinosum und Tremendum menschlicher Gottesvorstellungen aufwiesen. Allerdings ist das Hervorstechende solcher Geschichten wie Isaaksopfer und Jabbokkampf eben das Unbeso weit ist auch das Treueverhältnis Gottes zu Israel mehr als jede feudale und königliche Treue. Gäbe es dieses „Mehr“ und „Anders“ göttlichen Handelns mit dem Menschen nicht, warum stellen dann - nach Assmann - die ältesten Propheten „das factum brutum des Vertragsbruchs in das wesentlich schärfere Licht der Ehe-Metapher“? „Die Metapher der Liebesbeziehung ist eine verschärfende Ausdeutung dieser [von mir ergänzt: Bundes-] Beziehung.“ Wäre „das politische Bündnis keine Metapher der Gott-Mensch-Beziehung, sondern die Sache selbst“ in nackter Klarheit und Eigentlichkeit, wozu brauchte sie noch metaphorische Überbietungen, um „im Bilde klar [zu machen], was es damit auf sich hat“? 18 Tatsächlich sind die Ehe (Hos 2) wie die Vater-Sohn-Bindung (Hos 11) wie die Mutter-Kind-Beziehung (Jes 49,15; 66,13) wie die Vorstellungen des Vasallenvertrags in Bezug auf das Verhältnis Gottes zu seinem Volk gleicherweise Metaphern und Interpretamente, auch wenn die Metapher vom Bund als Vasallenvertrag eine privilegierte Stellung und in den politischen Auseinandersetzungen Israels einen spezifischen aktuellen Sachbezug gewinnt. Alle Metaphern in Bezug auf Gott und das Gottesverhältnis haben trotzdem prinzipiell die gleiche Funktion: das, was als Ganzes die Begriffe, ja, die Vorstellung übersteigt, wenigstens aspekthaft in Bildern aufleuchten zu lassen. Man kann deshalb nicht - wie Assmann in Polemik gegen Carl Schmitts Begriff der Säkularisierung in der Staatslehre - den Spieß von dessen Argumentation einfach umkehren. Sagt Schmitt, „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“, so kontert Assmann in Hinblick auf Ägypten und Israel: „Einige zentrale Begriffe der Theologie sind theologisierte politische Begriffe“. 19 Es sind in Israel 83 War der Exodus der Sündenfall? greifliche, der blinde Fleck der Motivation der Furchtbarkeit. Der Gedanke vom „Zorn Gottes“ als Strafe für Missetaten, überhaupt die Heraushebung und Benennung eines Affekts mag gewiß später sein, ein Schritt zur Klärung und „Ordnung“ des Gottesbildes. Der Zorn Gottes wird aber dadurch noch nicht zum „politischen Affekt“, daß die Lohn-Strafe-Relation auch in Vasallenverträgen u.ä. vorkommt. Es ist das eben auch eine Bändigung und Klärung der Vorstellung von Herrschaft. Wohl denkbar, daß begriffliche und Gedankenvorgaben aus der Herrschaftsideologie bei der Artikulation des Gotteszorns eine Rolle gespielt haben. Aber eine strikte Ableitung des einen aus dem anderen ist doch schon deshalb fraglich, weil sachlich die berît-Vorstellung nicht ins Politische eingeengt werden kann. 20 Vgl. die Kritik des Alttestamentlers K. K OCH , Monotheismus als Sündenbock? (ThLZ 124, 1999, 873-884). theologisch benutzte und/ oder subsumierte politische Begriffe, und wenn im Alten Testament immer wieder, unter Umständen mit antiköniglicher Spitze, deklariert wird: „Der Herr ist unser König“, postuliert das nicht die politische Herrschaft Gottes, sondern schließt sie ein. Gott ist die ultimative Macht und Appellationsinstanz. Er ist in Israel in einer Weise König, die alle königliche Macht umgreift und durchdringt und zum Moment seines Heilskönigtums macht. Vollends der neutestamentliche Gebrauch streicht den ursprünglichen Sinn des Wortes in der Verwendung durch, denn Christus vollendet sein Königtum in der „Erhöhung“ am Verbrechergalgen des Kreuzes. Er ist König, indem er sich nicht gemäß den Erwartungen an Könige, auch nicht den jüdischen Erwartungen an einen messianischen König, verhält. Alle diese Erwägungen lassen mich Assmanns oben zitierte Formulierungen, daß es sich beim Monotheimus des alten Israel „um eine im Kern politische Idee und Bewegung handelt“, daß der Gott Israels „eine politische Gottheit“ und der Gott des Exodus „ein politischer Führer“ war, für schief halten. Noch wichtiger als die Infragestellung der Assmannschen Rede vom politischen Monotheismus Israels ist aber hier, daß Assmann in diesem problematischen konzeptionellen Zusammenhang doch den Handlungs- und Entschlußcharakter der israelitischen Gottesbeziehung heraushebt, der sich praktisch, in Handlungen Gottes, und nicht theoretisch, in Gotteserkenntnis, bewahrheitet und der nicht auf die Einzigkeit, sondern auf die Ausschließlichkeit Gottes ausgerichtet ist. Das geht im Begriff der Mosaischen Unterscheidung vor der Folie der Echnatonischen Unterscheidung unter. Denn diese ist logisch-theoretischer Art, eine Erkenntnisleistung, kein Treuebündnis. Was sagt das Alte Testament vom Mosaischen Gott? Prinzipiell verwundert, daß Assmann in „Moses der Ägypter“ die älteste und zentrale Moses-Quelle - das Alte Testament - viel mehr beiseite läßt als andernorts und daß er das Alte Testament, wo er es beizieht, fast nur in die Beleuchtung der letztlich aufklärerischen Auslegungsgeschichte stellt, weniger in die Beleuchtung der modernen alttestamentlichen Forschung. 20 Dieser 84 Ein Germanist zur Theologie Einwand kann nicht dadurch entkräftet werden, hier sei das - auch von Assmann selber an anderer Stelle - gut erschlossene Forschungsfeld beiseite gelassen und die wenig erschlossene Unterströmung thematisiert worden, eben: Moses der Ägypter, wie er schattenhaft noch in der Apostelgeschichte des Neuen Testaments auftaucht. Trotzdem wäre es tunlich gewesen, wenigstens den Ansatzpunkt der anderen Gedächtnisspur - Moses der Hebräer - im Alten Testament und aus dessen eigener Perspektive zu markieren. Denn auch der Blick auf Moses den Ägypter wird verzerrt, wenn er von einer falschen Opposition ausgeht. Und auch der Aufweis von Parallelen und womöglich Rückgriffen des Alten Testaments auf religiöse Quellen Altägyptens und speziell der Echnaton-Religion erzeugt Irritation, wenn dem religiösen „Leihgut“ nicht sein Platz im übergreifenden Glaubenszusammenhang des alten Israel zugewiesen wird. Was ergibt nun das Alte Testament zur Mosaischen Unterscheidung Assmanns? Ich wiederhole Altbekanntes, auch Assmann Altbekanntes, indem ich aus Platzgründen ein Konstrukt synchronisierter alttestamentlicher Aussagen unter Vernachlässigung der Diachronie herstelle. Der Dekalog sagt: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ (Ex 20,3) Das ist keine Aussage, sondern ein Gebot. Es bestreitet nicht die Existenz anderer Götter und ist deshalb keine Proklamation des Monotheismus, sondern eine Indienstnahme. Sie ist nicht wahr oder falsch, sondern verpflichtend. Der Mosaische Gott ist ab ovo keineswegs der einzige Gott, sondern der Gott seines Volkes. Und er ist kein Gott kosmischer Ordnung, sondern vornehmlich geschichtlich handelnder Gott. Seine Urbezeugung an Israel ist ein geschichtlicher Eingriff, der erst den Dekalog beglaubigt und bekräftigt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause, geführt habe.“ (Ex 20,2) Ägypten ist nicht primär das Land der falschen Götter und des Götzendienstes; das wird später Kanaan. Es ist primär das Land der Gefangenschaft. Das heißt aber, die Kraft- und Willensnatur des mosaischen Geschichtsgottes steht quer zu der von Assmann formulierten und grundgelegten Mosaischen Unterscheidung. Es dauert viele Jahrhunderte der Geschichte, bis der mosaische Gott in Israel strikt monotheistisch gedacht wird. Bei alledem ist er schon ursprünglich nicht ein Gott des Volkes in dem Sinne, daß der einzelne im Kollektivsubjekt nur indirekt angesprochen wäre. Der Dekalog adressiert im Volk den einzelnen; eine Mehrzahl der Gebote richtet sich direkt an ihn. Zwar kann er nur als Glied des Volks bestehen, aber im Volk ist er Person als Anredegegenüber des personalen Gottes. Moses und die Erzväter sind die Gesprächspartner Gottes; jeder, zu dem der Dekalog spricht, besitzt etwas von deren Würde. Vollends im Christentum wird die personale Gott-Mensch-Beziehung zentral, und noch das Christentum erkennt den wahren Gott in Christus daran, daß er der Freimachende ist, und noch die Freiheitsverheißung des Christentums greift bis zur Urszene der Befreiung aus ägyptischer Sklaverei durch. Der Gott, der die Väter in die Freiheit ge- 85 War der Exodus der Sündenfall? führt hat, erscheint wieder in demjenigen, der in Christus die Menschen aus der Knechtschaft des Todes und der Sünde in die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ führt (Röm 8,21). „Erlösung“, auch im Hebräischen der Herkunft nach ein Begriff aus der Rechtssprache, der den Loskauf des Unfreien meint, ist eine begriffliche Klammer zwischen Altem und Neuem Testament als Evangelium vom „Erlöser“ Jesus Christus. Schon im Alten Testament findet sich das Wort sowohl als „Erlösung“ des Volkes Israel aus Ägypten (Ex 6,6; 15,13 u.ö. - und ist schon hier metaphorisch transformiert und erweitert, denn beschrieben ist nicht ein Loskauf, sondern ein Machtkampf) - wie auch als „Erlösung“ Israels aus allen seinen Sünden (Ps 130,8). Ein Gott der Befreiung ist der Grund der jüdischen und christlichen Religion, und nicht, wie Assmanns Formulierung nahelegt, das schlechte Gewissen und die Erfindung der Sünde (281f.). Sie sind primäre Erfahrungen des Menschen, die von der Religion mehr oder weniger intensiv aufgenommen und bearbeitet werden. Vom Judentum und Christentum ohne Zweifel besonders intensiv. Assmanns Parteinahme Schon bisher dürfte deutlich geworden sein, daß Assmann ein von seinem Gegenstand sehr bewegter Geschichtsschreiber ist, ob er nun Realgeschichte oder Gedächtnisgeschichte oder beides kombiniert schreibt, ob er Moses den Unterscheider oder Moses den Vermittler betrachtet. Die Mosaische Unterscheidung, die schließlich doch die Kernkategorie seines Buches bleibt, ist ihm der Bruch, ich möchte sagen der Sündenfall aus einer heilen Welt des Polytheismus. Denn der Polytheismus ist - nach Assmann - in seinem Wesen duldsam. Er macht die kulturell bahnbrechende Entdeckung, daß fremde Götter dem eigenen Götterhimmel integriert und in eigene Götter übersetzt werden können. Die Mosaische Unterscheidung hingegen ist wesentlich unduldsam, denn sie setzt eine Opposition zwischen wahr und unwahr, die sich in immer neue Spaltungen der einen kulturellen Welt fortsetzt: Ägypten und Israel, „Juden und gojim, Christen und Heiden, Muslimen und Ungläubige“, „Katholiken und Protestanten, Lutheranern und Calvinisten“ usw. (17f). Eine Welt des religiösen Eifers, der Leidenschaften, der Trennungen, der Verfolgungen, der sich absolut setzenden „Gegenreligionen“ tut sich auf, deren historische Negativrolle schon aus dieser ihnen von Assmann zugewiesenen Bezeichnung spricht. Sie führt übrigens geradewegs in eine terminologische Sackgasse, relationiert man den Begriff „Gegenreligion“ mit Assmanns eigener Grundsatzüberlegung in „Herrschaft und Heil“, wo er der „Entstehung der Religion“ die gleiche Systemstelle zuweist wie Christian Meier der „Entstehung des Politischen bei den Griechen“ (1980), nämlich den Stellenwert der Entstehung 86 Ein Germanist zur Theologie einer Reflexionskategorie. In Assmanns eigenen Worten: „Entstehung der Religion“ bedeutet nicht einfach „die Entstehung von Religion überhaupt, sondern von sekundärer, gesteigerter Religion“ (HuH 30). Danach wäre nun die Entstehung der Religion nichts anderes, als was in der Mosesmonographie und auch noch andernorts in „Herrschaft und Heil“ Entstehung einer Gegenreligion heißt. Der ägyptische Polytheismus, den Assmann so entschieden höherschätzt, wäre gar nicht im exakten Sinne eine Religion (denn wie könnte die eigentliche Religion als Gegenreligion entstehen, wenn sie schon vorhanden wäre? ), und zwar seltsamerweise deshalb, weil er eine primäre Religion ist. Muß nun Religion, die ja erst als Gegenreligion überhaupt Religion wird, generell abgewertet werden, oder gilt die Abwertung der Gegenreligion eigentlich nicht? Noch wichtiger: Wohin führt es, wenn man den ursprünglichen Zug der Mosaischen Religion, den Anruf Gottes, später geronnen zur Formel „Höre Israel“, in ein Reflexionsverhältnis verdünnt? Als Gegensatz zur Mosaischen Gegenreligion mit dem Christentum als ihrem Derivat steht in den Schlußsätzen von Assmanns Monographie jedenfalls das helle Bild Ägyptens, das nun auch Echnaton einbezieht, obwohl Assmann andernorts dessen Monotheismus „antiägyptisch“ nennt (HuH 258). „Nichts könnte nämlich Echnatons Religion fremder sein als die Semantik der Sünde. Das gilt nicht nur für die Amarna-Religion, sondern für die ägyptische Religion insgesamt. Sünde und Erlösung sind keine ägyptischen Themen. Die ägyptische Religion gründet nicht auf schlechtem Gewissen, sondern ganz im Gegenteil auf dem Bewußtsein einer Versöhntheit mit Gott und Welt zugleich, das dem christlichen Bewußtsein fremd und zuweilen geradezu anstößig ist. […] Dieser moralische Optimismus, der ‚sein Brot mit Freuden ißt‘ im Bewußtsein, daß ‚Gott längst sein Tun gesegnet hat‘ - einer der ägyptischen Verse der Bibel - ist vermutlich ebenso das Kennzeichen des Kosmotheismus, wie das umgekehrte Leiden an der Sünde den biblischen Monotheismus kennzeichnet. Von Ägypten aus betrachtet sieht es so aus, als sei mit der Mosaischen Unterscheidung die Sünde in die Welt gekommen. Vielleicht liegt darin das wichtigste Motiv, die Mosaische Unterscheidung in Frage zu stellen.“ (281f) Im vorletzten Satz des Zitats spricht Assmann noch aus der Perspektive des alten Ägypten. Im letzten Satz stellt er sich selbst als Geschichtsschreiber in diese Perspektive. Die wissenschaftliche Fragestellung der Gedächtnisgeschichte erweist sich im nachhinein als Versuch, die Spur einer besseren Welt aus dem Trümmerhaufen von Haß und Gewalt auszugraben, den die drei monotheistischen Weltreligionen hinterlassen haben. Diese Spur geht vom philosophischen Eingott im Hintergrund des ägyptischen Polytheismus zur synkretistischen Heilung der Mosaischen Unterscheidung in der europäischen Mosesdeutung bis zum deutschen Idealismus. Das wissenschaftliche Ergebnis der Gedächtnisgeschichte gewinnt dabei fast das Pathos eines Glaubensbekenntnisses. Wie sonst, wenn nicht Pathos mitschwänge, könnte man 87 War der Exodus der Sündenfall? 21 A LBERTZ (s. Anm. 9), 436ff. es verstehen, daß Assmann die von der ägyptischen Religion gewährte „Versöhntheit mit Gott und der Welt zugleich […] dem christlichen Bewußtsein fremd und geradezu anstößig“ nennt. Zerrgestalten des Christentums beiseite gelassen; biblisch enthält die in Christus geschenkte Versöhnung mit Gott die Versöhnung des Gläubigen mit sich selbst und der Schöpfung. Das gerade ist ja „Erlösung“ und Freiheit der Kinder Gottes. Wie sonst, wenn nicht ein Pathos der Parteinahme mitschwänge, käme Assmann dazu, den monotheistischen Gott, der strikt erst unter der Exilerfahrung Israels formuliert wird, in eine Mosaische Unterscheidung der vorstaatlichen Zeit zurückzudatieren, die aggressiv den Götterhimmel in den einen wahren und die vielen falschen Götter spaltet? Die finsteren Züge von Eifersucht und Feindeshaß haften vor allem dem alten Exklusivgott Israels an, der über die anderen Götter triumphiert, wogegen der Gott des späten Israel, der nun tatsächlich monotheistisch Schöpfer der Welt und Herr und Gott aller Völker ist, am Ende der Tage auch von allen Völkern in freier Bekehrung und Zuwendung angebetet werden kann. In anderen Worten: Mit der Herauskristallisierung des strikten Monotheismus wird in Israel ein Vereinigungsdenken möglich. 21 Spaltung ist nicht notwendig monotheistisch, Monotheismus nicht notwendig spalterisch. Bei alledem liegt es mir fern, den Anteil der jüdisch-christlichen Tradition an Intoleranz, Haß und Gewalt in unserer Geschichte kleinzureden. Aber niemand wird behaupten wollen, Sünde und Schuld seien die Folgeerscheinung der Weltspaltung durch die Mosaische Unterscheidung - eine Folgerung, die zudem in letzter absurder Konsequenz den Juden die Verantwortung für den Antisemitismus aufbürden würde. Die Juden wären die Outcasts, die mit ihrem Exklusivgott den Haß der Völker auf sich gezogen und sich ins Unheil gestürzt hätten. Doch das Unheil war immer schon da und ist immer noch da und wird nicht weniger in der Welt und im Menschen. Dagegen als Heilmittel einen Rückgang zu den Ursprüngen des Hasses zu empfehlen (242) scheint mir etwas zu wissenschaftsgläubig, und dagegen einen „moralischen Optimismus“ (282) aufzurufen scheint mir etwas zu dürftig zu sein. Wer das tut, darf sich jedenfalls nicht auf Freud beziehen, denn Freud steht in seiner Mosesdeutung noch so tief im Judentum, daß er ins Zentrum seiner Geschichte Israels den mythischen Vatermord der Juden an dem Ägypter und Echnatonanhänger Moses stellt, eine Art Ursünde. Auch da geht es nicht um wahr und unwahr, sondern um Schuld. 88 Ein Germanist zur Theologie 22 W. B ENJAMIN , Gesammelte Schriften, hg. von R. T IEDEMANN und H. S CHWEPPENHÄUSER , Bd. 1, 1974, Teil 1,138. 23 C.M. M ARTINI / U. E CO : Woran glaubt, wer nicht glaubt. 1998. 92 24 G. B ÜCHNER , Dantons Tod III. 1, Sämtliche Werke und Briefe. Hist. krit. Ausgabe, hg. von W.E. L EHMANN , Bd. 1, Hamburg o.J., 48. Der Historiograph und sein kulturelles Wertsystem Obwohl Assmann erklärt, gedächtnisgeschichtlich vertikale Verknüpfungen unter weitgehender Ausblendung der horizontalen zu verfolgen, neigt er stark zu panoramischer Ausweitung seines Blicks auf die Gesamtkulturgeschichte Europas. Das macht nicht nur seine Aussparung der christlich-jüdischen Gedächtnisspur, sondern auch der griechisch-römischen Antike, soweit sie nicht Medium der Ägyptenvermittlung ist, schwerwiegend. Ist sie doch in ihrer zweitausendjährigen Amalgamierung mit dem Judentum-Christentum und in ihrer paganen Gegenbildlichkeit dazu eine Säule der Geistesgeschichte Europas. Auch sie wäre nicht darzustellen, aber doch zu orten gewesen. Und gerade Assmanns Tendenz zum Panoramischen setzt ihn der Grundsatzfrage aus, unter der - wie aus den Eingangsüberlegungen deutlich sein dürfte - auch und gerade der Historiker steht: Wo seine Maßstäbe für die großen Welt- und Menschendeutungen liegen, die uns geschichtlich gegeben sind. Ich meine damit nicht Glaubenspositionen des wissenschaftlichen Autors, sondern das Ensemble von Kulturwerten, ohne deren explizite oder implizite Konstellierung und Anwendung ja wohl keine Geschichtsschreibung auskommen kann. In dieses Ensemble gehören nach meiner Einschätzung gewiß Summen wie „Deus sive natura“ und „hen kai pan“, die Assmann in die Rezeptionsgeschichte Ägyptens zurückverfolgt, noch mehr aber, weil in voller Kontinuität über 3000 bis 2000 Jahre durchgehalten, christlich-jüdische Denkbilder wie „Abba, lieber Vater“ und jenes andere, das Walter Benjamin den „Schuldzusammenhang von Lebendigem“ genannt hat. 22 Es gehört hierhin „das Modell des Christus, das Modell der universalen Liebe, der Vergebung für die Feinde und des zur Rettung für die anderen geopferten Lebens“, von dem der Nichtchrist Umberto Eco sagt, man könne „die jämmerliche und niederträchtige Spezies“ Mensch „allein dadurch als erlöst betrachten, daß sie es geschaffen hat“. 23 Dieses „Modell“ geht aus dem Mosaischen Gott hervor und reicht bis in den europäischen Atheismus hinein. Wenn Georg Büchner eine Dramenfigur sagen läßt: „Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus“, 24 dann deutet noch diese Frage auf eine metaphysische Leerstelle, an der vorher das Kreuz dessen gestanden hat, der das Leid der Welt auf sich nimmt. Und auch dieser Atheismus sagt: „Ich“ mit dem Pathos, das unter dem personalen Anruf eines nun verlorenen Gottes entstanden ist. Er hat wohl mehr als jeder andere Anstoß dazu beigetragen, das Individuum als Leitbild unserer Kultur hervor- 89 War der Exodus der Sündenfall? zurufen. Und in der Befreiung des Menschen von kosmischen Göttern hat dieser Gott unsere Wissenschaft und Technik ermöglicht. Dahinter kann niemand zurück, und so ist es auch nicht möglich, „die Mosaische Unterscheidung in Frage zu stellen“ (282). Auch Assmann schreibt von ihr her und auf ihrem Boden, sofern er mit diesem Namen die Urszene des Alten Testaments meint und sofern noch sein Geschichtsbegriff Israels Erfahrung eines geschichtlich handelnden und die christliche Erfahrung eines sich geschichtlich konkretisierenden Gottes in sich trägt. Christentum und Literatur 1 E. Jüngel: Gott als Geheimnis d. Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus. 6.A Tübingen 1992. S. 54-137, speziell S. 84. Christentum und säkulare Literatur Friedrich Nietzsche ist der Evangelist der Botschaft „Gott ist tot“. Herausfordernd hat er seine Selbstdeutung unter den christologischen Titel „Ecce homo“ gestellt, denn er sah sich als Erlöser neuer Art: Er wollte die Menschheit vom Gotteskomplex erlösen. Doch die Rede vom Tod Gottes ist ein alter gedanklicher Bestand der christlichen Theologie, wie noch der klassische Philosoph Hegel wußte und aussprach. In seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ zitiert er einen Kirchenliedvers des barocken lutherischen Theologen Johannes Rist: „O große Not! / Gott selbst liegt tot.“ 1 In der Verwandtschaft der Formulierungen ist der Gegensatz der Mitteilungen extrem. Nietzsche will die Menschheit von ihrem selbsterzeugten Denkgebilde Gott befreien; Rist macht eine dogmatische Aussage zum erlösenden Kreuzestod dessen, der „wahr Mensch und wahrer Gott“ ist. Dieser Gottestod führt in die Auferweckung und damit zum Sieg über den Tod. Er ist ein Eckdatum des christlichen Glaubens. Diese Verschlingung gegenläufiger Bezüge illustriert die gewaltige kulturprägende Kraft des Christentums. Die Entstehungsschübe einer programmatisch weltlichen Welt in Renaissance und Aufklärung konnten ihr nichts anhaben. Die kulturelle Kraft des Christentums reicht ungebrochen über die epochalen Schwellen der westlichen Welt hinweg. Die Stoßrichtung der Aufklärung geht zwar auf Vernunftautonomie und Selbstbegründung des Menschen, die in letzter Konsequenz eine Emanzipation nicht nur von der Kirche, sondern vom Christentum meint. Seitdem ist nichts mehr wie vorher. Doch jeder Schritt fort aus der Zentrierung von Gesellschaft und Kultur in Kirche und Christentum, die durch viele Jahrhunderte bestanden hat, wirkte sich auch als Streuung des Christentums aus. Das zerstreute Christentum erwies sich als eine Fülle von Samenkörnern. Mit jedem künstlerischen Werk, das sich von den traditionellen christlichen Themen abwandte und den autonomen Menschen darstellte, das die Sphäre der sich selber genügenden Wirklichkeit durch Gestaltung erweiterte, das Weltfrömmigkeit gegen Kirchenfrömmigkeit ausspielte, schleppten die Träger dieser Bewegung biblisch-christliches Gut gleichsam an den Fußsohlen in die neu eröffneten Räume ein und setzten dort dessen Wirkungs- und Formungs- 94 Christentum und Literatur 2 G. Keller: Der grüne Heinrich. 2. Fassung, in: Werke. Hg. Thomas Böning u.a. Bd. 3 Hg. Peter Villwock. Frankfurt (Deutscher Klassiker Verlag) 1996. S. 313. 3 Für meine Keller-Deutung s.: G. Kaiser: Die heilige Musa u.d. Musen. Himmel, Erde und der Ort der Dichtung bei Gottfried Keller. In: ders.: Bilder lesen. Studien zu Literatur und bildender Kunst. München 1981. S. 76-128; ders.: Gottfried Keller: Das gedichtete Leben. Frankfurt 1981. energien frei, so daß die sich säkularisierende europäische Welt seit der Aufklärung auf Schritt und Tritt diese Imprägnierung aufweist, ja, daß sogar die antichristliche Polemik in ihren Zuspitzungen auf die Formulierungshilfe des Christentums zurückgreift - siehe das Nietzsche-Wort vom Tod Gottes. Literarische Indienstnahme biblischer und theologischer Elemente Auch das Stichwort „Weltfrömmigkeit“ führt auf einen heidnischen Sämann christlicher Samenkörner. Gottfried Keller, nicht Nietzsches Freund, aber sein Zeitgenosse, ein Anhänger der Feuerbachschen Philosophie, die den Gottesbegriff als Projektion menschlicher Wünsche und Ängste psychologisch aufzulösen unternahm, ist ein Repräsentant solcher Programmatik. Er feiert im „Grünen Heinrich“ einen von Weltlichkeit strahlenden Gott, den er aggressiv dem Gott der reformierten Kirche in der Schweiz gegenüberstellt, in der er aufgewachsen ist. 2 In den „Sieben Legenden“ setzt der Pantheist Keller die Gottesmutter Maria als Patronin ganzheitlicher Liebe ein, und in dem Erzählgedicht „Der Narr des Grafen von Zimmern“ stellt er ein Meßwunder eigener Art dar, indem er vom Ciborium Glanz und Veilchenduft ausgehen läßt: „Der Herr, der durch die Wandlung geht, er lächelt auf dem Wege.“ So verfährt ein Dichter, der in seiner Jugend an einem Freischarenzug gegen das katholische Luzern teilgenommen und zahlreiche antiklerikale Gedichte geschrieben hat und der die katholische Messe als Pomp und Theater einschätzt. Er benötigt Bilder und Motive des Christentums in der Topographie seiner dichterischen Welt, einmal um einen Dualismus zwischen lebensfeindlicher Ordnung und heidnischer Lebensfülle zu etablieren, andererseits aber auch, um Symbole der Weltharmonie zu gewinnen, deren Glanz transitorisch vor der dunklen Folie der Melancholie aufleuchtet. 3 Ein weiteres Beispiel für die nichtchristliche Verwendung christlicher Symbolik ist die Erlösungshandlung in „Faust II“. Sie entfaltet eine katholisch-kirchliche Sphärenordnung, obwohl Goethe sich als dezidierten Nichtchristen bezeichnet hat. Aber christliche Vorstellungen, Bilder, Redeweisen hat er auf Schritt und Tritt gebraucht - in doppeltem Sinn: er hat sie benutzt, und er war darauf angewiesen. Die Gebetsformel „Jungfrau, Mutter, Königin / Göttin bleibe gnädig“ (Vers 12102f.), die sich an die Mater gloriosa richtet - bei Goethe höchste Repräsentation der Göttlichkeit der die Welt tragenden 95 Christentum und säkulare Literatur 4 I. Graham: Der zerbrochene Krug - Titelheld von Kleists Komödie, in: Heinrich von Kleist. Aufsätze u. Essays, hg. W. Müller-Seidel. Darmstadt 1973. S. 272-295. 5 Zum Zusammenhang hier u. später: G. Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. 2.A. Frankfurt 1973. Liebe -, greift mit der Anrede „Jungfrau, Mutter, Königin“ auf eine marianische Vorstellung zurück. Aber Goethe benutzt diese Formel in einer Klimax als Überstieg zur heidnischen Vorstellung einer „Göttin“, deren Vorbild die Große Mutter ist. Gottesmutter und Magna Mater werden verschmolzen. Freilich ist solches Gebrauchmachen vom Christentum, von der Bibel und der kirchlichen Tradition eine Weise, sie in Dienst zu nehmen, anderen Intentionen ein- und unterzuordnen. Wir sind in unserer modernen Kultur und Gesellschaft weit weg von Christus als Weg, Wahrheit und Leben, von der Kirche als Mitte der Welt. Die Kirchen sind in der Defensive, oft im Rückzug. Wo sich der verunsicherte christliche Schriftsteller noch bekenntnishaft christlich gibt, wird er im Nachhutgefecht gegen den Zeitgeist zuweilen eng und konventionell. Das mag auf Autoren wie Paul Claudel, Graham Greene, George Bernanos, den späten Alfred Döblin nicht zutreffen. Trotzdem suche ich die Dialektik und Dramatik des hier in Rede stehenden Prozesses mit Vorliebe an ihren äußersten Punkten auf, wo Christliches im Fallenlassen weitergetragen wird. Denn gerade das Mitnehmen des Christlichen aus der Mitte ins Exzentrische, seine Säkularisierung, seine Funktionalisierung, seine Vermischung mit anderen Traditionen und geistigen Welten erzeugt einen erstaunlichen Reichtum an Figurationen der Gedanken und Bilder, eine enorme Vielfalt an Ober-, Zwischen- und Untertönen. Das Spektrum reicht von der Pathosformel bis zur Blasphemie, von der Ausformulierung eines nichtchristlichen Glaubens mit christlichen Mitteln bis zur Überhöhung anthropologischer und politischer Konzepte. So stellt Heinrich von Kleist das Vertrauen zwischen Liebenden unter die Christusformel „Glauben und nicht Sehen“. 4 So vollzieht der Nationalismus Begriffsanleihen bei der Andachtssprache wie nationale „Erweckung“, völkische „Wiedergeburt“, nationaler „Erlöser“. 5 So entstehen Witze, Parodien, Blasphemien bis hin zu albernen Sprachspielen der Werbung. Verlust der kulturellen Zeichensysteme? Wenn ein Prospekt für die Mercedes-A-Klasse den Anfang des biblischen Schöpfungsberichts benutzt, um unter dem Titel „Am Anfang ist das Licht“ die hervorragende Beleuchtungsausstattung dieser Mini-Nobelkarosse anzupreisen, und verkündet: „Der Himmel kann warten“, denn: „Steigen Sie 96 Christentum und Literatur 6 Th.O. Brandt: Die Vieldeutigkeit Bertolt Brechts. Heidelberg 1968. S. 13. einfach in die A-Klasse ein, und schon sind Sie im siebten Himmel“ - dann kann man Ärgernis nehmen, aber auch staunen über die Zuversicht dieser Profitgeier der Spaßkultur, daß da überhaupt in den Köpfen der Yuppie- Generation, die speziell angesprochen wird, noch Bibelerinnerungen und Reminiszenzen ans Christentum vorhanden sind, die man parodistisch plattwalzen kann. Immerhin hat der inzwischen zum Klassiker entschärfte ehemalige linke Bürgerschreck Bertolt Brecht 1928 auf die Frage nach seinem tiefsten Literatureindruck die bekannte, ebenso kokette wie provokante Antwort gegeben: „Sie werden lachen, die Bibel.“. 6 Erst wenn niemand mehr die Spur dieses Eindrucks nicht nur bei Brecht, sondern auch bei Günter Grass, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Tankred Dorst, James Joyce, Jorge Luis Borges, Paul Celan, Fedor Dostojewski, George Tabori, Michail Bulgakow, Tschingis Aitmatow und vielen anderen wird entziffern und vernehmen können, wird es in den Köpfen finster werden. Was ich bisher gesagt und meist an literarischen Beispielen erläutert habe, ist Basiseinsicht jedes Sprach-, Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaftlers oder sollte es jedenfalls sein. Gewiß gibt es ein ungefähres Verständnis literarischer und künstlerischer Werke auch ohne volle Kenntnis des kulturellen Bestands, der in Form und Inhalt eingegangen ist, aber es kann keine Tiefenschärfe gewinnen und verfehlt generell den Zugang zu einem für Literatur und bildende Kunst gleichermaßen konstitutiven Moment. Es ist die Vielstimmigkeit, die Vielstrahligkeit der Darstellung und der Weltentwürfe, der Reichtum an Nuancen und Schattierungen, die eine Totalmobilisierung unserer Imagination und unserer Wahrnehmungsfähigkeit bewirken. Um dieser Feststellung in Hinblick auf das Christentum einen besonderen Nachdruck zu geben, um den Spuren des Christentums in den Werken und in unserer Kultur generell forschend nachzugehen, braucht man kein Christ zu sein. Man kann dabei völlig neutral bleiben. Christentum und Antike als Bild- und Motiv-Arsenale Neutral läßt sich auch das Verhältnis zwischen Christentum und Antike als den zwei großen Bild-, Gedanken- und Vorstellungsarsenalen der westlichen Kultur und Kunst beschreiben. Ihre Durchmischung hat in der deutschen Literatur ihren Höhepunkt in Goethe und Hölderlin, in dessen später Hymnik Christus, Dionysos und Herakles als Brüder erscheinen. Dem Christentum wohnt in dieser Durchmischung aus verschiedenen Gründen die noch größere Reichweite und vor allem Sprengkraft inne. Der wichtigste scheint mir zu sein, daß das Christentum als Bezugspunkt bis in unsere Gegenwart aktuell, 97 Christentum und säkulare Literatur 7 Zum Zusammenhang: G. Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. 3 Bde. 2.A. Frankfurt 1996. Bd. 1, S. 552-559: Christliche Tradition und antike Mythologie; ders.: Erscheinungsformen der Säkularisierung in der deutschen Literatur d. 18. Jh. In: Säkularisierung und Säkularisation vor 1800. Hg. A. Rauscher. München 1976. S. 91-120. die Antike lediglich in vielfachen Brechungen historisch vermittelt präsent ist. Wenn man Zeus in einer Dichtung polemisch heraufruft, ist kein Ärgernis mehr im Spiel, wohl aber, wenn man den jüdisch-christlichen Gott in der ungebrochenen Kontinuität seiner Gegenwart in Kirche und Synagoge zitiert. Ein scheinbares Gegenbeispiel beweist die Richtigkeit dieser Aussage: Goethes Prometheus-Hymne, ein Anti-Gebet, gewann ihre gewaltige zeitgenössische Wirkung, gewinnt auch ihre heute noch spürbare Wirkungskraft erst daraus, daß, wie zumindest damals der gebildete Leser wahrnahm, hinter dem göttlichen Tyrannen Zeus, gegen den Prometheus den Raum seiner Autonomie abgrenzt, der christlich-jüdische Gott steht, der zurückgewiesen wird. Diese Anti-Gebetshaltung geht bis ins Detail. Goethes Prometheus schleudert Zeus seine Verachtung sitzend entgegen, unter der Arbeit. Das ist das Gegenbild zum kniend gesammelten Beter. Es kommt hinzu, daß die heidnischen Götter nur durch den längst erstorbenen Kult verbürgt sind; der christlich-jüdische Gott aber ist es durch Buch und Schrift. Aus ihnen kann er jederzeit lebendig hervortreten. Die antiken Göttermythen hingegen waren nicht Verkündigung, sondern Sagen, und so stellte die antike Mythologie durch viele Jahrhunderte hindurch, ja, schon in der Antike selber nicht den Anspruch der Glaubenswahrheit, sondern der Literatur. Gerade das ermöglichte es, daß nach dem Verbindlichkeitsverlust der geistigen Welt des Christentums in Kultur und Gesellschaft vielfältigste gleichberechtigte Vermischungen zwischen antiker Mythologie einerseits, biblischem und theologischem Gut andererseits stattfanden. 7 So verweist der Name der Heldin Phöbe in Wilhelm Raabes Roman „Unruhige Gäste“ gleichzeitig auf die christliche Glaubensbotin dieses Namens aus dem Römerbrief und auf Artemis, die jungfräuliche Jägerin, die Schwester des Phoebus Apollo. Die doppelte Namensanspielung ist der Kreuzungspunkt einer christlichen und einer antik-mythologischen Symbolik im Roman, die einander kommentieren und relativieren. Wer jedenfalls die Elemente des Christentums und der Antike nicht buchstabieren kann, wer die Bibel und die antike Mythologie und ihre synkretistischen Vermischungen und Konstellationen nicht kennt und in literarischen oder bildkünstlerischen Neukonstellierungen nicht wiederzuerkennen vermag, wer für atmosphärische Schwingungen und Duftnuancen nicht aufnahmefähig ist, weil er die Ingredienzien nicht kennt und spürt, dem wird Wesentliches nicht nur der alten, sondern auch der neueren Kunst verschlossen bleiben. Am 5. Juni 1997 erschien in der „Badischen Zeitung“ ein Artikel des Gießener 98 Christentum und Literatur Soziologen Reimer Gronemeyer: „Die Schriftkultur endet als T-Shirt.“ Dort steht zu lesen: „Meine Studenten können die Bronzetafeln einer mittelalterlichen Kirchentür mit den klassischen Geschichten (Adam und Eva, Kain und Abel, Abraham und Isaak) nicht mehr entziffern […] Was vom Buch und vom Lesen nachbleibt, wenn man sie aus diesem Zusammenhang löst, erinnert an die blecherne Lockente auf dem Teich, mit der Jäger eine Falle stellen: tot und dumm.“ Ich nehme diesen Vertreter einer Wissenschaft, die sich nicht auf Literatur richtet, als Zeugen für die Drohung eines neuen Analphabetismus, der im Verlust der kulturellen Zeichen liegt. Ich erinnere mich an das kulturstolze bundesrepublikanische Gelächter über eine DDR-Anekdote aus den 60er Jahren: Ein Abiturient habe im Abituraufsatz geschrieben: „,Der Mensch lebt nicht vom Brot allein‘, wie ein großer sowjetischer Autor gesagt hat.“ Das Gelächter würde uns heute im Halse steckenbleiben, denn wer von unseren Abiturienten würde noch hinter dem systemkritischen sowjetischen Autor Wladimir Dudinzew den erheblich größeren biblischen Autor Matthäus und das 4,4 von ihm überlieferte Christuswort erkennen, das der Sowjetschriftsteller mit dem Titel seines Romans von 1956 zitiert hat? Der Stellenwert christlicher Elemente in literarischen Werken Allerdings ist es mit der Aufdeckung der kulturellen Zeichenwelt nicht getan. Es ist um der Vielgesichtigkeit der Moderne willen fast genauso wichtig, den Stellenwert und die Perspektive zu erfassen, mit dem und in der Christliches auftaucht und verwendet wird. Beides kann sogar beim gleichen Autor wechseln. Brechts „Hauspostille“ ist ohne die Gattungstradition der christlichen Hauspostille als spezielle Form des Andachtsbuchs nicht goutierbar, aber das macht Brechts Postille natürlich nicht zum christlichen Werk. Er zitiert die Tradition der Postille, um sie zu persiflieren. Das wunderbare Brechtsche Weihnachtsgedicht „Maria“ hingegen steht punktuell christlichem Denken sehr nahe. Georg Büchners Robespierre überhöht sich zum Blutmessias, aber diese Feststellung reklamiert „Dantons Tod“ gewiß nicht als christliches Drama. Es ist ein antichristliches Drama. Goethes „Hermann und Dorothea“ stilisiert die Französische Revolution als ein Pfingstereignis und den Flüchtlingszug als Auszug der Kinder Israels, aber das zeigt nicht ein expansives Christentum Goethes, sondern seine Tendenz, die Französische Revolution zu entpolitisieren, und mehr noch: Zeitgeschichtliches auf idealtypische Urbilder durchsichtig zu machen, die dem geschichtlichen Wandel zugrunde liegen. Goethes „Faust II“ führt in eine mit Hilfe des Christentums artikulierte Erlösung des Strebenden durch Liebe, und man kann darüber streiten, ob dieser Erlösungsglauben als Glaube ernst zu nehmen ist oder nicht. Aber die Meinung, dieser Glaube sei der Ernst 99 Christentum und säkulare Literatur 8 G. Kaiser: Ist der Mensch zu retten? Vision und Kritik der Moderne in Goethes „Faust“. Freiburg 1994. dieses Werks, indiziert nicht eo ipso eine christliche Faust-Interpretation. 8 Zwar sind die Bilder dieses Glaubens weitgehend christlich, zwar ist die Struktur des hier sich darstellenden Erlösungsglaubens weitgehend christlich, zwar ist dieses Szenario undenkbar ohne christlichen Hintergrund. Trotzdem kann man den Inhalt dieses Glaubens für nichtchristlich halten (was ich tue), ja, man kann das Ganze sogar als Parodie einschätzen (was ich nicht tue). Überspitzt gesagt: Man mußte nicht Christ sein, um Hitler für den Messias seines Volkes zu erklären. Im Gegenteil. Wer mit Ernst Christ war, dürfte diese Verwechslung vermieden haben, gerade weil sie über christliche Bildlichkeit und Vorstellungsformen lief. Die Feststellung der Verwendung von Denkformen, die Bestimmung des gedanklichen Inhalts dieser Formen und die Erörterung der Funktion dieser Anleihe sind dreierlei. Verselbständigung christlicher Elemente in säkularer Literatur Generell ist die Annahme einer folgenlos freien Disponibilität religiöser Formeln und eines frei schaltenden Stilwillens zur Säkularisierung christlicher Metaphorik zu vordergründig. Beim Rückgriff auf christliche Elemente für die Konstitution eines säkularen dichterischen Weltbilds werden historische Kraftquellen und Bedeutungszentren berührt, die Eigenrecht und Eigenmächtigkeit entfalten können. Wenn Bertolt Brecht in der Schlußszene der „Mutter Courage“ im Dreißigjährigen Krieg die stumme Kattrin, die durch Mißhandlung sprachlos gemachte menschliche Kreatur, aufs Dach klettern und die Trommel schlagen läßt, weil sie die Bewohner der nächtlich schlafenden lutherischen Stadt Halle vor dem Überfall der kaiserlichen Truppen warnen will, mit denen ihre Mutter als Marketenderin zieht, dann tut sie eine Tat der Menschenliebe, für die sie ihr Leben gibt, mit der sie aber das Leben vieler rettet. Diese Tat steht im strikten Widerspruch zur Gesamttendenz des Stücks, den Menschen als Produkt der Verhältnisse darzustellen, denen er sich im Akt der großen Kapitulation ein für allemal anpaßt, mögen sie auch noch so absurd sein - wie eben der Krieg es ist. Aber Kattrin, die Mißhandelte und Mißachtete, agiert spontan, aus einer ursprünglichen Menschlichkeit, den Spielregeln der sie umgebenden Gesellschaft zuwider, und deshalb wird sie niedergeschossen. Sie handelt auch im Widerspruch zu der von Brecht stark herausgestellten Untätigkeit der frommen Bauern, die sich aufs Beten beschränken, wo die Tat der Liebe gefordert wäre. Aber trotz der antichristlichen Polemik noch in dieser Szene ist der Dramenschluß des in seinem Selbstverständnis marxistischen Dramatikers tendenziell christlich, ja soteriologisch. Die stumme Kattrin hat sich, unter dem Gebet der Bauern, auf den Weg der 100 Christentum und Literatur 9 A. Schöne: Bertolt Brecht. Theatertheorie und dramatische Dichtung. In: Euphorion 52 (1958) 290f. Nachfolge Christi begeben. Singt Mutter Courage anfangs: „Das Frühjahr kommt, Wach auf, du Christ! “, und meint sie mit dieser Parole absurderweise den Aufbruch der Soldateska in das Geschäft und die Geschäftigkeit des Kriegs, dann erwacht Kattrin Jahre später unvermerkt in einer Januarnacht zu ihrem geistlichen Frühling. Singt der heruntergekommene Feldprediger beim Geschirrspülen das Horenlied auf die Passion Christi mit dem Schluß: „Solches stellten sie uns an/ Mit dem Menschensohne“, dann ist das untergründig der Kommentar zum Märtyrertod der stummen Kattrin, der überhaupt nicht in das Programm von Brechts begrifflich formulierter Dramaturgie paßt. 9 Forschungsinteresse als Historiker und Literaturwissenschaftler Indem ich mich hier verallgemeinernd zur kulturellen und literarischen Säkularisierung äußere, ziehe ich eine persönliche wissenschaftliche Bilanz und spreche von einem lebenslänglichen Forschungsinteresse. Es setzt ein mit meiner von Heinz Gollwitzer angeregten, von Franz Schnabel vertretenen historischen Dissertation aus dem Jahr 1956 über Pietismus und patriotische Erweckung an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert und reicht bis zu meinem vorläufig letzten Buch von 1997: „Christus im Spiegel der Dichtung“. Ich wollte mir und anderen Geschichte und Literatur tiefer verständlich machen, indem ich den Anteil und die Bedeutung christlicher Bestände in säkularer Dichtung aufdeckte und interpretierte. Als Historiker wollte ich in meiner Dissertation zeigen, was es etwa für die Eigenart des deutschen Nationalismus bedeutet, daß er seine Prägung weitgehend durch Nachfahren der protestantischen Frömmigkeitsbewegung des Pietismus erfahren hat; was es politisch heißt, wenn etwa der pietistische Staatsrechtslehrer Friedrich Carl von Moser Montesquieus aufklärerischer Formel „l’esprit des loix“, der Geist der Gesetze, 1765 die Begriffsneuschöpfung vom „deutschen Nationalgeist“ entgegenstellt. Montesquieus Prägung meint, die Gesetze eines Staates müßten den natürlichen und historischen Gegebenheiten Rechnung tragen; ihr Geist soll nicht ein allgemeiner, sondern ein konkreter sein, sozusagen die Essenz der spezifischen Gegebenheiten. Moser meint genau das Gegenteil: der deutsche Nationalgeist werde nach Art des Pfingstwunders in einer Art Erweckungserlebnis erscheinen und sich über alle Verschiedenheiten und Bedingtheiten ausgießen. Mit meinem 1957 erfolgten Übergang von der Geschichtszur Literaturwissenschaft erweiterte sich meine Fragestellung von der Geistes- und Begriffsgeschichte auf die künstlerische Motiv- und Formengeschichte, da die literarischen Werke als Kunstgebilde nicht nur durch ihre begrifflichen Aus- 101 Christentum und säkulare Literatur 10 s. G. Kaiser: Lessings „Nathan der Weise“. Glaube, Liebe, Hoffnung: der Grund des Toleranzdramas. In: Pastoraltheologie. 80. 1991. S. 568-584. sagen, sondern als fiktionale Weltentwürfe durch alle ihre Gestaltelemente wie Handlung, Figurenkonstellation, Bildverknüpfung, Sprachduktus usw. sprechen. Am Beispiel: Lessings „Nathan der Weise“ wird verflacht, wenn man das ganze Drama zusammenzieht auf die berühmte Erzählung des Helden von den drei Ringen vor dem Sultan Saladin. Diese Toleranzpredigt erklärt erzählerisch argumentativ die drei monotheistischen Weltreligionen für gleichwertig in ihrer Eigenschaft, zu tätiger Nächstenliebe herauszufordern. Der Glaube erscheint funktionalisiert zur Motivation guten Handelns. Nun wird aber diese Erzählung im Handlungsgang polarisiert mit einer anderen, in welcher der scheinbar so rationale Jude Nathan dem frommen Klosterbruder die Tiefe seines Herzens öffnet: Nach einem fürchterlichen Judenpogrom, in dem Christen alle Angehörigen Nathans verbrannt hatten, übergab ihm der Klosterbruder ein verwaistes Christenkind, und Nathan, der wie Hiob mit seinem Gott gehadert hatte, brachte die Glaubenskraft auf, dieses Kind als Geschenk und Pfand göttlicher Liebe zu verstehen und anzunehmen. Das heißt: nicht sekundär wird der Glaube gerechtfertigt durch gutes Handeln, sondern gutes Handeln wird im letzten ermöglicht durch Glauben. Das ganze Stück erweist sich gegründet in einem vorgreifenden Glauben an eine göttliche Weltordnung, die der Mensch glaubend, liebend und hoffend entziffert und heraufführen hilft. 10 Im Brennpunkt: der soteriologische Christus Auch in meinem eben genannten Buch über „Christus im Spiegel der Dichtung“ richtet sich die gründende Fragestellung auf Gestalt und Leistung christlicher Elemente in literarischen Werken, allerdings nun zentriert auf die Mitte des christlichen Glaubens: den messianischen, soteriologischen Christus, wie er uns als Bezugsfigur schon in Brechts „Mutter Courage“ begegnete. Welche Spuren zieht er, welche Spiegelungen erfährt er als Heilsträger und Erlöser in der Dichtung, speziell der weltlichen Dichtung? Dabei ist die theologische Urspiegelung schon mitgedacht und eingeschlossen: sein spiegelverkehrtes Bild im Antichrist und dessen literarische Rezeptionen. Zugleich ist mitgedacht und eingeschlossen die liturgische Gegenwart Christi in Brot und Wein und deren Umdeutung in literarischen Werken. Dieses Thema in seiner Breite und in der tiefen Dialektik der formalen und inhaltlichen Momente der Dichtung darzustellen, würde allein für die deutsche Literatur Bände erfordern. Ich bediene mich deshalb der exemplarischen Interpretation von Werken paganer Literatur, in denen der soteriologische 102 Christentum und Literatur 11 J.H. Voß: Idyllen. Faksimiledruck. Heidelberg 1968. S. 82, 92. 12 G. Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik. Bd. 1. S. 325-328. Zum geistesgeschichtlichen Zusammenhang: H.-G. Kemper: Herders Konzeption einer Mythopoesie und Goethes „Ganymed“. In: Von der Natur zur Kunst und zurück. Neue Beitr. zur Goethe-Forschung. Festschrift G. Wunberg. Tübingen 1997. S. 39-77. Bei seiner Kritik an meiner Ganymed- Interpretation übersieht Kemper, daß meine Feststellung der christlichen Bezüge keineswegs eine Vereinnahmung der Hymne für das Christentum bedeutet. Ich stimme mit ihm überein, daß in dieser Rezeption eine Absatzbewegung vom Christentum liegt. Bezug positiv oder negativ präsent ist. Das kann sich an der Textoberfläche abspielen, wenn etwa in der sozialkritischen Idyllik von Johann Heinrich Voß, wo der liberale Adlige, der seine Bauern freiwillig aus der Leibeigenschaft entläßt, als Erlöser und Heilsbringer stilisiert ist. Er „löst […] die rostigen Ketten der Knechtschaft“ und läßt damit „Heil nach […] erbarmungswürdigem Unheil“ entstehen. Wie Christus das Joch der Sünde bricht, so der adlige Gutsherr „des Frones Joch“. 11 Das christologische Modell kann aber auch in die Grundvorstellungen und die Tiefendynamik der Texte eingehen, sogar ohne daß die Textoberfläche markant davon gezeichnet wäre, und dabei noch stärker konstitutiv wirken. So taucht etwa in Goethes Sturm-und- Drang-Hymne „Ganymed“ hinter dem antik-mythologischen Bild des homoerotischen Knabenraubs durch den Göttervater Zeus gleich zweifach ein Christusbezug auf: Die panentheistische Gott-Welt-Vorstellung des jungen Goethe schwankt hier lyrisch-enthusiastisch in der unlösbaren Spannung, Gott zugleich als identisch mit der Welt und weltbegründend darstellen zu wollen. Ich, Vatergott und Frühling-Geliebter treten momenthaft aus dem einen umfassenden Göttlichen heraus und benötigen aufblitzende vorgegebene Umrisse zu ihrer Präsentation. So sucht die sprechende Seele - allegorisch traditionell auch beim Mann weiblich vorgestellt - zunächst den irdischen Frühling-Geliebten als Mittler zum himmlischen Vater, wie die christliche Seele den Bräutigam Christus als Mittler zum Vater sucht. Und aus dem Scheitern dieser Bewegung - die Gestaltvorstellung des Frühlings löst sich im Prozeß der Hymne auf - ergibt sich ein neuer Anlauf, in dem nun das Ich selbst, mit dem alliebenden Vater vereinigt, eine Himmelfahrt selbstherrlich ohne Vermittlungen erfährt - das geniehafte Selbstgefühl ermächtigt sich zur Selbsterlösung: unter Anleihen beim Christentum eine Emanzipationsbewegung von ihm. 12 Derartigem Rezeptionsgeschehen von großer innerer Dramatik geht das zuletzt genannte Buch nach. Ich beginne mit einer 1618 in Konstanz aufgeführten Märtyrerkomödie des Jesuiten Jacob Bidermann, die - noch voll auf dem Boden der Kirche und der Theologie - den Märtyrer in der Imitatio Christi, auf dem Weg der Christusförmigkeit zeigt, wodurch sein Opfer selber heilende und - im Namen Christi - erlösende Kraft gewinnt. Ich ende mit dem 1996 in Köln uraufgeführten Triptychon „Der Gott der Pfeile“ von Tankred Dorst, dessen erstes Teilstück eine Bearbeitung des ungenannten 103 Christentum und säkulare Literatur 13 K.-J. Kuschel: Der andere Jesus. Ein Lesebuch moderner literarischer Texte. Gütersloh 1983; ders., Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zürich 1978; ders., Ausdruck der Kultur - Protest gegen die Kultur. Das Jesus-Paradox in Filmen und Romanen der Gegenwart. In: Concilium 33. 1997. S. 4-13; P.K. Kurz: Gott in der modernen Literatur. München 1996. 14 D. Sölle: Zum Dialog zwischen Theologie und Literaturwissenschaft. In: Internat. Dialog- Zeitschrift. 1969. S. 296-318; dies.: Realisation. Studien zum Verhältnis von Theol. und Dichtung nach der Aufklärung. Darmstadt 1973. Bidermann-Dramas ist, nur daß jetzt der Name Christi in der Bearbeitung getilgt ist - der Held ist der Märtyrer eines unbekannten Gottes, der nur ihn allein im Tod ergreift. Für alle anderen bleibt dieser Tod stumm und folgenlos, als bedeutendes Zeichen erkennbar, aber in seiner Zeichenbedeutung unentzifferbar, eine in ihrer Stummheit erschütternde Botschaft: Gott ist eine Leerstelle, um die alles kreist. Christus wird im mittleren Teilstück indirekt mit einer Anspielung auf Gerhart Hauptmanns Drama „Michael Kramer“ als unvollendbares Bild eines mäßigen Malers evoziert, das durchgehend hinter einem geschlossenen Vorhang verbleibt. Der Altar bleibt karfreitäglich verhüllt. In diesem Anfang und diesem Ende des Buchs liegt gewiß ein Hinweis auf eine geistesgeschichtliche, glaubensgeschichtliche und kirchengeschichtliche Linie, aber trotzdem geht es in der Folge der exemplarischen Interpretationen nicht zuerst um Chronologie und historische Entwicklung, sondern mehr noch um einen Fächer der oft gleichzeitigen Möglichkeiten der Literatur, auf Jesus als den Christus zu antworten. Somit kann ich nun mein Unternehmen auch abgrenzen gegen literaturtheologische Fragestellungen anderer Art. Ich suche literarische Spiegelungen Christi auf, und Spiegelungen bedeuten Reflexion und Brechung, die an einer Grenze erfolgen. Ich suche nicht, wie etwa Josef Kuschel in zwei schönen Büchern, den „Jesus incognito“, der uns im geringsten unserer Brüder menschlich begegnen kann - damit auch in den fast zahllosen Gestalten der modernen Literatur, die an der Nacht- und Notseite des Lebens wohnen. 13 Ich meine auch nicht, wie die frühe Dorothee Sölle, die Frage der Unterscheidung christlicher oder nichtchristlicher Literatur mit einer Rollenverteilung zwischen Theologie und Kirche einerseits, Literatur andererseits überspringen zu können, die den literarischen Werken den Part einer inoffiziellen, verborgenen, zuweilen sogar sich selbst verborgenen Christlichkeit zuspricht. 14 Die Aufklärung bleibt für mich die zentrale Epochenschwelle im Verhältnis von Christentum und Literatur. Ich suche im seitdem herrschenden Auseinanderdriften nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, an dem eine humanistische Identifikation mit Jesus, dem Mann aus Nazareth, und eine theologische Abschleifung des christologischen Anspruchs ineinander übergehen können, sondern ich ziele auf Divergenzen zwischen dem Christentum als Erlösungsbotschaft und einer säkularen Dichtung, die den Menschen vom Menschen her in den Blick nimmt und die christliche Botschaft allenfalls 104 Christentum und Literatur 15 Zu meiner Auffassung von Literatur: G. Kaiser, Wozu noch Literatur? Über Dichtung u. Leben. 2.A. Würzburg 2005. dahingestellt sein läßt. Gleichzeitig geht es mir darum, die unterscheidende Interpretation der Werke in ihrer literarischen Autonomie und ihre „Anstößigkeit“ für eine christliche Selbstverständigung dergestalt aufeinander zu beziehen, daß gerade das Trennende zum Reflexionsanstoß wird - eben als Grenze, an der die Spiegelungen Christi stattfinden. Das scheint mir sowohl den Werken wie dem Glauben angemessener als eine Lektüre, die nach dem Motto: „Die Kirche hat einen großen Magen“ das Verdauliche verdaut und das Unverdauliche links liegenläßt. Wie kann man als Christ Literaturwissenschaftler sein - und umgekehrt? Mit diesen Überlegungen habe ich bereits kenntlich gemacht, wie meine Fragestellungen in dem Band „Spiegelungen Christi“ einen Schritt über meine früheren Forschungen hinausgehen. Ich habe wie in allen meinen vorhergehenden Publikationen zum Themenbereich der Säkularisation wissenschaftliche Argumentationsgänge und Interpretationen entwickelt, die sich der Fachkritik stellen und die, wie ich hoffe, eine gewisse wissenschaftliche Tragweite haben. Zuletzt aber möchte ich hier den Standort des neutralen wissenschaftlichen Beobachters ausdrücklich überschreiten, indem ich die von diesem Punkt aus gewonnenen Ergebnisse reflektierend auf mich und die Möglichkeiten der christlichen Existenz beziehe. Ein lediglich literaturwissenschaftlich interessierter Leser kann von diesem Rückbezug absehen. Für mich ist er grundlegend, denn ich versuche damit, mein Verhältnis als Christ zu meiner gewiß weltlichen Wissenschaft, eben der universitären Literaturwissenschaft, noch einmal genauer zu fassen und als „Professor“ darüber Rechenschaft abzulegen. Für dieses Verhältnis ist auffällig und charakteristisch, daß mein Weg zum Christentum gerade von der Wissenschaft herkam. Das Studium der Bibel, Luthers und der Pietisten unter der historischen Fragestellung meiner Dissertation nach Pietismus und Patriotismus im deutschen Sprachraum hat mich zum Christentum geführt. Trotzdem und gerade deshalb hoffe ich, lebenslänglich die Grenzverwischung zwischen den Sphären vermieden zu haben, und zwar nicht durch die Abspaltung eines wertneutralen Fachmanns aus meiner Gesamtexistenz, sondern mit Hilfe der Einsicht, daß meine wissenschaftlichen Gegenstände - seit meiner Wendung zur Germanistik die literarischen Phänomene - zwar voraussetzen, daß man sich auf sie einläßt, aber indem man durch sie hindurchgeht. Dichtungen sind Weltentwürfe, Entwurfswelten. 15 Ich will sie nicht auf meinen Boden ziehen, sondern in ihrer Eigenart verstehen. Darauf leben und 105 Christentum und säkulare Literatur sterben, das kann man mit dem Evangelium, aber nicht mit Goethes „Faust“ oder Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Das eine ist Verkündigung. Die anderen sind Weltspiele, bei denen ich neugierig und gespannt darauf bin, was herauskommt. Das eine beansprucht mich unbedingt. Das andere lädt mich bedingungsweise ein, mir Erfahrungsräume und Weltperspektiven öffnen zu lassen. Für mich als Wissenschaftler heißt das: In einem Erkenntnisprozeß, der aus dem Hin und Her zwischen Identifikation und Distanzierung hervorgeht, gewinnen die Erkenntnisobjekte in dem Maß an Konturschärfe, in dem ich als Erkenntnissubjekt an ihnen Konturschärfe gewinne. Meine Position wird mir klarer, indem mir die Positionierung der Werke klarer gelingt. Damit ist die Spannung benannt, die ich herzustellen und aufrechtzuerhalten versuche zwischen meinem Glauben und den Werken, die ich in ihrem Eigenrecht interpretierend zu erfassen bestrebt bin. Die säkulare Literatur als Herausforderung des Christen So erfahre ich den Respons, der mir als modernem Christen aus der Erschließung der Werke und der literarhistorischen Phänomene und Prozesse in ihrer Paganität und Weltlichkeit zukommt. Ich kann diesen Respons, von mir absehend, an einem theologiegeschichtlichen Fall erläutern: Die „Gott-isttot“-Parole Nietzsches, deren antichristliche Polemik sich, wie gezeigt, auch aus theologischen Wurzeln speist, hat nun umgekehrt die moderne Theologie herausgefordert und damit befruchtet. Ohne daß ich hier auf die vielstrahlige Gott-ist-tot-Theologie unserer Tage eingehen möchte, soll nur so viel festgestellt werden, daß sie Nietzsches Behauptung auf den Boden der Theologie zurückholt und von da aus die Radikalität des Kreuzesgeschehens neu bedenkt. Ich wäre glücklich, wenn auch ich den Funken weiterspringen lassen könnte. Neutral und distanziert kann man feststellen, daß, wie skizziert, das Christentum gerade mit der Lockerung und vielleicht sogar Auflösung der Bindekraft der Kirche, der Gemeinde und des Glaubens mit besonderem Nachdruck zum Ferment der allgemeinen Kultur geworden ist, und man kann angesichts der Dramatik und Reichweite dieses Prozesses fragen, ob es damit nicht seine Substanz aufzugeben im Begriff ist, ob es nicht in dem Maß an Glaubenswirkung verloren hat, in dem seine Kulturwirkung ausgestrahlt ist, ob nicht mit der Breite die Tiefe geschwunden ist. Allein durch Beschreibung und Analyse ist diese Frage nicht beantwortbar; allenfalls kann man auf das hinweisen, was ich oben an Brechts „Mutter Courage“ erläutert habe: daß das Christentum, säkular in Dienst genommen, unvermerkt die säkulare Dichtung in Dienst nehmen und umpolen kann. Das ist beschreibbar. Letztlich aber fordert die literarische Säkularisation vom Christen eine Glaubensantwort, und sie kann ihn an einen tragenden Grund seines Glaubens heran- 106 Christentum und Literatur führen. Ich möchte ihn mit einer Berufung auf Dietrich Bonhoeffer mehr andeuten als erörtern: Die Offenbarung Gottes findet nicht jenseits der Grenze der säkularen Welt statt, so daß Gott verlöre, was das Säculum gewinnt. Vielmehr erscheint Gott in Christus inmitten der säkularen Welt, als Anwesenheit dessen, der sich hinausdrängen läßt, als Offenbarung der Macht des Ohnmächtigen. Noch und gerade ohne Gott als mächtigen und verfügbaren Helfer, noch und gerade nach dem Zusammenbruch aller religiösen Gottesbilder steht der Christ vor Gott. Und in der Tat: Was ich als Wissenschaftler nur feststelle, das kann für mich als Christen eine Stärkung bedeuten, weil ich es zu glauben vermag und als Glaubender erfahre: Christus ist Licht vom unerschöpften Licht, im Doppelsinn: Es ist als Leuchten Gottes nicht erschaffen, und es ist unerschöpflich. In ihm erscheint eine Kraft, die sich bis in die gottfernsten Winkel der Welt ausgibt, ohne sich zu verschleißen oder zu verflüchtigen. Ja noch mehr: Gerade in der säkularen Dichtung in ihrer Eigenart als säkulare Dichtung kann sich Gott darstellen. Freilich nicht in der Fülle einer entfalteten theologischen Aussage, aber aspekthaft und punktuell in einer Grundsätzlichkeit, in einer Problematik, in einer extremen Konsequenz, die zuweilen stärker bewegen als theologisch ausgewogene Rechtgläubigkeit. Und was heißt schon Ausgewogenheit? Glaubens-, Theologie- und Kirchengeschichte lehren, daß auch im Schoß der Kirche und der Gemeinde das Ganze als Ganzes nie begriffen und ergriffen werden kann. Auch theologisch erscheint Gott in immer neuen Brechungen, und diese Brechungen gehören zu seiner Verherrlichung - als Herr in der Knechtsgestalt. So kann es auch geschehen, daß innerchristlich oder außerchristlich polemische Dichtungen durch Isolieren, Herausleuchten, Verzerren, Konterkarieren von Glaubens- und Verkündigungsgehalten des Christentums ein Stachel im Fleisch der Kirche und Gemeinde werden, daß sie dem, der bereit ist, sich treffen zu lassen, schockartig ein Licht aufstecken, gerade indem sie anderes radikal ausblenden - man denke an Dostojewskis Großinquisitor oder seinen christusförmigen Idioten, man denke an Gerhart Hauptmanns „Der Narr in Christo Emmanuel Quint’“ man lasse sich ein auf Friedrich Dürrenmatts Kreuzigung des christusförmigen Christen an den Windmühlenflügeln Don Quijotes. Überall hier kann und darf der Christ nicht nur Spuren, sondern Zeugnisse Christi erkennen - im Negativ, in der Kontrafaktur, in der Karikatur, eben: in Spiegelungen. Wo bleibt die Offensive? So gehe ich in meinem bisher letzten Buch erstmals und ausdrücklich ausformuliert interpretierend jeweils bis an den Punkt, der bisher als eine Art magnetischer Nordpol in verborgener Weise mein wissenschaftliches Denken 107 Christentum und säkulare Literatur 16 „Der Tauben weißeste […]“: P. Celan: Ges. Werke. Bd. 1. Frankfurt 1983. S. 61. geortet hat: den Punkt, wo mich als Christen auch nichtchristliche oder antichristliche Dichtungen provozierend in Anspruch nehmen. Als Literaturwissenschaftler möchte ich über die Interpretation der einzelnen Werke hinaus einen Beitrag leisten zur Erkenntnis der Kulturbedeutung des Christentums auch in einer sich immer rascher und tiefer säkularisierenden Welt. Als Christ möchte ich denkende Christen herausfordern, sich in ihrem Glauben der modernen Welt zu stellen mit der Zuversicht, daß, laut Römerbrief, denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen. Christen haben keinen Grund, sich entmutigt ins stille Kämmerlein zurückzuziehen, weil draußen der Wind der Welt weht, denn auch im Wind der Welt ist der Wind des göttlichen Geistes. Wir müssen nur wagen, offensiv zu werden, aus uns herauszugehen, dann kann jedes Ärgernis sich in einen positiven Anstoß verwandeln, tiefer nachzudenken, weiter auszugreifen, uns eindringlicher zu artikulieren, Stellung zu nehmen, praktisch und damit „wirklicher“ zu werden. Jedes Buch, das wir lesen, fordert uns dazu heraus, jedes Buch der Dichtung in besonderer Weise, weil sie an unser Gesamtpotential an Gefühl, Phantasie und Intelligenz appelliert. Noch die schärfste Negation kann dazu beitragen, die Position klarzumachen. Noch die weiteste Entfernung vom Christentum kann, solange überhaupt ein Bezug aufrechterhalten wird, zur Ent-fernung, zum Wegnehmen von Ferne führen. „Du bist so nah, als weiltest du nicht hier“, sagt Paul Celan, ein Meister der literarischen Umkehrtheologie, in einem frühen Gedicht. 16 Er meint die Geliebte, aber gerade deshalb ist das Wort auch auf Christus anwendbar. Ferne vermag in Nähe umzuschlagen, tatsächlich, wie in einem Schlag. Auch Christen, gerade Christen, sollen in den schwarzen Spiegel blicken, den manche Werke uns entgegenhalten; wissen sie doch ohnehin, daß sie hier nur in einem dunklen Spiegel sehen. Die Welt der Literatur bringt uns in unseren Erfahrungen und Entscheidungen auf den Prüfstand. Ästhetische Wahrnehmung muß gerade nicht zu dem führen, was Søren Kierkegaard als ästhetische Existenz kritisiert und der christlichen Existenz gegenüberstellt. Die christliche Existenz kann Tiefe und Weite gewinnen durch ästhetische Erfahrung, wenn die Polarität von Wirklichkeitswelt und Möglichkeitswelt klar ist. Der heiligen Teresa wird zugeschrieben, sie habe auf den Vorwurf, sie erfreue sich zu sehr des Essens, geantwortet: Fasten ist Fasten, und Rebhuhn ist Rebhuhn. Nur wer Rebhuhn genießen kann, kann richtig fasten, und umgekehrt. In diesem Sinn möchte ich sagen: Leben ist Leben, und Lesen ist Lesen. Das eine hilft beim anderen. Auch dem Christen. 1 Ungedruckter Text eines öffentlichen Vortrags, den ich als Inhaber einer im Wintersemester 2004/ 05 von der Theologischen Fakultät vergebenen Stiftungsprofessur an der Universität Basel gehalten habe. 2 F.D. Theater-Schriften und Reden. Zürich 1966. S. 92-131. Dort S. 120. Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie Wir leben im Grenzbereich zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz in einem Ballungsraum der Atomindustrie sowie der Chemie und der Genetik und ihrer technisch-industriellen Anwendung. 1 Es ist deshalb fast überflüssig, daran zu erinnern, daß der Mensch umso mächtiger und chancenreicher, aber auch umso gefährlicher wird, je mehr er die Welt, das Leben und sich selbst in den Griff bekommt, und daß ihm daraus eine immer schwerere Verantwortung zuwächst. Schon 1947 läßt Max Frisch in seiner theatralischen Farce „Die chinesische Mauer“ eine Theaterfigur „Der Heutige“ auftreten, der einer blind und taub in sich rotierenden Gesellschaft und ihren Repräsentanten im Blick auf die atomaren Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki das Menetekel an die Wand schreibt: „Die Sintflut ist herstellbar! “ Die Sintflut, einst einmal Sache Gottes, ist zur Sache des Menschen geworden. Aber dieser universalen Verantwortung des Menschen ist in unserer Zeit umso schwerer gerecht zu werden, als in der Massengesellschaft Entscheidungsprozesse sich im Anonymen verlieren. „Kreons Sekretäre erledigen den Fall Antigone“, sagt der andere moderne Klassiker der Schweiz Friedrich Dürrenmatt zur Charakterisierung des Weltzustands in seinem Vortrag „Theaterprobleme“. 2 Im Zuge dieser Anonymisierung entstehen Ethik-Kommissionen in großer Zahl und auf verschiedenen Ebenen, deren Voten unentbehrlich sind und doch zugleich in zweifacher Weise problematisch bleiben müssen: erstens, weil Gewissensentscheidungen nicht in Mehrheitsentscheidungen aufgehen, und zweitens, weil Mehrheitsentscheidungen keine normativen Letztverankerungen setzen können, sondern sie voraussetzen. Ihr Fehlen oder ihre Brüchigkeit macht aber auch die Gewissensentscheidungen schwächlich. Sie hängen ins Leere, wenn sie sich nicht an Normen abarbeiten können. Das dritte Problem ist, daß die moderne Welt zunehmend von solchen Konflikten durchzogen ist, deren Praxisseite immer spezialistischer und deren Gesinnungsseite immer abstrakter wird - so etwa Gentechnik und 109 Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie Menschenwürde. Wir werden im folgenden sehen, daß Gewissenskonflikte von vornherein eine Tendenz zur Unlösbarkeit haben; aber heutzutage scheinen die gegensätzlichen Positionen oft nicht einmal mehr auf eine gemeinsame Ebene gebracht werden zu können. So ist die Häufigkeit der Berufung auf das Gewissen bei gesellschaftlich relevanten Problemen, von denen wir umstellt sind, nicht unbedingt der Maßstab einer besonders weit verbreiteten und geschärften Gewissenhaftigkeit in unserer Gesellschaft, sondern auch Zeichen des Rückzugs auf eine der weiteren Diskussion sich entziehende Position. Desto dringlicher scheint es mir zu fragen, was es denn mit dem Gewissen nun auf sich hat und woher es sich schreibt, denn die Meinung hat viel für sich, daß man etwas Vorhandenes nicht zuletzt aus seinem Gewordensein verstehen kann. Dazu hat nun auch der Literaturwissenschaftler etwas zu sagen, was vielleicht zur Klärung beiträgt, denn von alters sind mimetische Texte der Literatur, indem sie den ganzen Menschen und den Menschen ganz in den Blick nehmen, auch deutend und darstellend auf das Gewissen gestoßen. Gewissen tritt landläufig zuerst als schlechtes Gewissen auf. Das Urbild des schlechten Gewissens sind im Buch Genesis des Alten Testaments Adam und Eva nach dem sogenannten Sündenfall. Nachdem sie die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, ist ihre erste Erkenntnis, daß sie nackt sind. Deshalb verbergen sie ihre Scham hinter selbstgemachten Schürzen und verdoppeln die Verbergung, indem sie sich zusätzlich vor Gott dem Herrn verstecken. Entdeckt, entziehen sie sich noch weiter hinter Ausreden. Seine Blöße zu empfinden, seine Schuld zu verstecken, sind typische Äußerungen des schlechten Gewissens. Eine andere Urszene des schlechten Gewissens ist die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin im Neuen Testament, Joh 7,8: Als die Pharisäer und Schriftgelehrten eine im Ehebruch lebende Frau vor Jesus bringen, auf das Gesetz Mosis hinweisen, das für die Ehebrecherin die Steinigung vorsieht, und ihn nach seinem Urteil fragen, bückt er sich, schreibt mit dem Finger in den Sand und sagt: „Wer von euch ohne Schuld ist, hebe den ersten Stein.“ Niemand weiß, was Jesus da in den Sand geschrieben hat. Vielleicht den Buchstaben des Gesetzes? Vielleicht hat er auch nur durch sein Wegsehen den Anwesenden Gelegenheit gegeben, sich selbst in den Blick zu nehmen. Wie dem auch sei; Jesus fragt jedenfalls nach Schuld, die offenbar nicht einfach als Gesetzesverstoß, sondern als durchdringende Lebensversehrung manifest wird. Und da von dieser Frage sich alle aus dem Kreis der Umstehenden, auch die Provokateure und Ankläger, getroffen fühlen, gehen sie weg, geben sie im Wortsinn ihren Standpunkt auf, und manche kehren vielleicht sogar innerlich um. Beide Geschichten sind Parallelgeschichten und sind es auch nicht: Sie sind parallel als Geschichten vom schlechten Gewissen. Sie sind Kontrastgeschichten, weil sich das schlechte Gewissen bei Adam und Eva schlichtweg auf ein ihnen von Gott gegebenes Gebot oder Gesetz bezieht und weil ihre Reaktion 110 Christentum und Literatur nichts anderes als eine Ausflucht ist. Jesus hingegen appelliert an ein Wahrnehmungs- und Abwägungsvermögen im Menschen, das die Frage zugleich radikal und allgemeiner faßt. Lediglich der Handlungszusammenhang stellt sicher, daß es sich um Schuld im Sexualverhältnis handelt, und keineswegs ist gesagt, daß diese Schuld tatsächlich im vollzogenen Ehebruch besteht. Es kann - im Sinne der Bergpredigt - mit Schuld hier schon das Vagabundieren des Begehrens gemeint sein. Insgesamt kann man ja die Jesuanische Auslegung der Zehn Gebote in der Bergpredigt als Radikalisierung von relativ schlichten Verhaltensnormen zu Gesinnungsansprüchen charakterisieren, wobei sofort deutlich wird, daß die Gesinnungsansprüche die Verhaltensnormen nicht außer Kraft setzen, sondern sich an ihnen ermessen und sie als Bezugsgröße in Anspruch nehmen. Es geht um Erfüllung durch Überbietung. Mit diesen Beobachtungen an Geschichten ist schon etwas für unsere Fragestellung gewonnen: Es gibt literarische Zeugnisse, die für eine historische Entwicklung des Gewissens sprechen - hier von der alttestamentlichen Garantie-Instanz für die Befolgung von Handlungsvorschriften zur neutestamentlichen Selbstbefragungs-Instanz, von der autoritativen Gebotsmacht zur Stimme in uns, die mit großer Zartheit spricht und sprechen muß, weil sie tief ins Uneindeutige hineinreicht. Das Gesetz führt man aus, punktum. Die Stimme des Gewissens fordert unser geduldiges Hinhören, unsere Auslegung, unsere Abwägung, die Ergründung des Sachverhalts in seiner Relation zu den Normen und zu uns. Eben bei der Geschichte von der Ehebrecherin: Wie tief reichen die Wurzeln dessen, was Jesus hier Schuld nennt? Und noch etwas: Nicht nur bei Adam und Eva und kleinen Kindern tritt Gewissen vornehmlich als schlechtes Gewissen auf. Nur wer schon einmal ein schlechtes Gewissen gehabt hat, kann wissen, was ein gutes Gewissen ist. Generell wird kaum jemand unprovoziert sagen: Ich habe heute ein gutes Gewissen, so wie man spontan sagen kann: Ich habe heute gute Laune. Vielmehr ist auch das gute Gewissen immer ein angefragtes, ein infrage gestelltes Gewissen. Wenn Luther vor dem Reichstag von Worms den Widerruf seiner Thesen verweigert mit der Begründung: „weil wider das Gewissenn zu handeln beschwerlich, unheilsam und [ge]ferlich ist“, dann heißt das nicht: Solange ich nicht widerrufe, habe ich ein gutes Gewissen, sondern: wenn ich widerriefe, dann würde mein Gewissen gegen mich aufstehen und mich anklagen, dann hätte ich ein schlechtes Gewissen. Eine Beobachtung aus einem anderen Kulturkreis, der Antike, die sich mit der jüdisch-christlichen Kultur in Europa verschmolzen hat, bestätigt das: Der große Artikel „Gewissen“ in dem evangelisch-theologischen Nachschlagewerk „Religion in Geschichte und Gegenwart“ sagt noch in der dritten, neuesten Auflage fälschlicherweise, in der Antike seien die Erinyen - uralte Rachegottheiten, die wir alle zumindest aus Schillers Ballade „Die Kraniche des Ibykus“ kennen und im folgenden noch genauer kennen lernen werden - das schlechte Gewissen, und die Eumeniden seien das gute Gewissen. Wichtig ist an dieser Behaup- 111 Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie 3 s. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. J. Ritter. Bd. 1ff. 1971ff. Art. Gewissen. tung, daß auch in diesem Kulturkreis der Weg von außen nach innen geht: Wenn der Muttermörder Orest von den Erinyen gehetzt wird, ist das nicht einfach eine Metapher für die Qualen des schlechten Gewissens, sondern vielmehr ist das, was wir schlechtes Gewissen nennen, die Verinnerlichung dessen, was ursprünglich bei den Griechen als Verfinsterung des Übeltäters durch Götter, Geister und Dämonen bis zum Wahnsinn erlebt worden ist. Noch wichtiger aber ist mir im gegenwärtigen Zusammenhang: Die Eumeniden sind nicht das gute Gewissen, sondern sie sind die Erinyen im Zustand der Versöhntheit, sie sind das versöhnte schlechte Gewissen. Eine antike Gottheit des guten Gewissens ist mir unbekannt. Aber nun werden Sie mir mit Recht vorwerfen: Wie kann denn ein Literaturwissenschaftler, der doch immer auch ein ganz kleines bißchen Sprachwissenschaftler sein sollte, so einfach darüber hinweggehen, daß er bisher die Gewissensthematik ausschließlich an Textbelegen verhandelt hat, in denen weder das deutsche Wort „Gewissen“ vorkommt, noch das griechische Syneídäsis, noch das lateinische Conscientia, wofür das deutsche „Gewissen“ als Übersetzungswort dient. Ich möchte meine Verfahrensweise also wenigstens einbekennen und weiterhin auch feststellen, daß in der Septuaginta, also der kanonisierten griechischen Übersetzung des Alten Testaments, das Wort Synaídäsis nur selten und in relativ späten Texten, etwa bei Hiob, vorkommt. Desgleichen fehlt es im Neuen Testament in den Evangelien und ist häufiger nur in den Briefen des Paulus, dem es wahrscheinlich aus der zeitgenössischen griechischen Popularphilosophie zugeflossen ist. 3 Weiter kann und will ich mich auf die Begriffsgeschichte nicht einlassen, sondern schlicht festhalten, daß Wort und Phänomen Gewissen zumindest in der Dichtung, der ich mich nun speziell zuwenden will, keineswegs zusammen auftreten müssen. In meinen hier herangezogenen Erzählungen fehlt das Wort, und doch, glaube ich, handeln sie vom Gewissen oder von der seelischen Systemstelle, an der wir Gewissen ansetzen. Es ist vielleicht sogar sehr typisch, daß in der Dichtung, deren Weltdeutung ja vorwiegend implizit, durch mimetische Darstellung erfolgt, die Gewissensthematik da, wo sie am tiefsten in den Personkern hineinreicht, im Untergrund der begrifflichen Formulierung bleibt. Der Leser stellt aus dem Überblick eine Gewissensthematik fest, in die die handelnde Figur möglicherweise bis zur Blindheit verstrickt ist. Erlauben Sie mir, daß ich deshalb noch einmal rückblickend die Bibel zitiere, weil sie das großartigste Beispiel der Gewissensringens gibt, das radikal und zunächst blindlings durchgestanden wird. Es steht im 32. Kapitel des 1. Buches Mose, Vers 23 bis 31 und handelt von Jakob an der Furt des Flusses Jabbok in Jordanien, am Vorabend seiner Wiederbegegnung mit seinem Bruder Esau, den er vor Jahren um sein Erstgeburtsrecht betrogen hat. 112 Christentum und Literatur 4 Meinem Thema gemäß klammere ich die Philosophie hier aus. Nur im Vorbeigehen möchte ich bemerken: Entgegen verbreiteter Ansicht (z.B. Ernst Stadler: Psychoanalyse und Gewissen Stuttgart u.a. 1970) ist das Daimonion des Sokrates, das als Warner und Abmahner im vorhinein auftritt, etwas Mantisches, nicht Stimme des Gewissens. Die innere Warnungsstimme bezieht sich nicht auf den sittlichen Wert, sondern auf den Erfolg einer Handlung. Sie entspringt einem scharfen Gefühl für das der eigenen Individualität Angemessene. S. Platon: Theätet. Übers. und. erläutert von Otto Apelt. (Felix Meiners Philos. Bibl. Bd. 82.) Leipzig 4.A. 1923. S. 157f. Das Erstgeburtsrecht im alten Israel war ein höchstes - auch materielles - Gut für den Empfänger und seine Nachkommen. Esau und Jakob sind beide Nomadenfürsten geworden, Jakob will Buße tun und schickt fürstliche Geschenke voraus, aber vor allem hat er Angst vor Esaus blutiger Rache, und diese Angst ist es, die ihn schwach und feige macht und auch kleingeistig beten läßt, indem er nicht einfach um Vergebung bittet, sondern Gott auf seinen Segen, eben das erschlichene Erstgeburtsrecht, festzunageln versucht. Und dann kommt über den Einsamen und noch in der seelischen Not Berechnenden die Nacht und in ihr, wie das Alte Testament vage sagt, ein Mann, der mit ihm bis zur Morgenröte erbittert ringt und ihm dabei fürs Leben die Hüfte ausrenkt. Die Ausleger haben zu diesem gesichtslosen Kämpfer gesagt: Das ist ein Dämon, ein Flußgeist aus einer uralten Überlieferungsschicht, das ist der biblische Gott in der Gestalt des deus absconditus, der sich vor dem Menschen verbirgt, es ist ein Engel. Ich meine, es ist Gott, ins Unkenntliche verdunkelt vom Schuldgefühl, das in Jakob gegen Jakob aufsteht, dem er sich erst einmal konfrontieren muß, das sich ihm erst einmal aus Bedrücktheit in Gewissen verwandeln muß, ehe es zu seinem schlechten Gewissen wird, ehe Sprache gefunden und zur Anrede an den Entgegenstehenden werden kann: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Jakob, der standhält, lernt seine Verletzung im Kampf als abermalige, nun wirklich ihm geltende Segnung zu verstehen, sein Gewissen als Heilsvoraussetzung. Wohlgemerkt: Jakob hat keinen Gewissenskonflikt, sondern im seelischen Ringen mit dem Unbekannten Gewissenskonstitution und Gewissenserhellung erlebt. Am nächsten Tag, nach leichter und heiterer Versöhnung, kann er zu Esau sagen: „ich sah dein Angesicht, als sähe ich Gottes Angesicht […]“ (Gen 33,10). Als diese Versöhnungsgeschichte aus Gewissenserhellung ist der Jakobskampf ein Gegenstück zur Sündenfallsgeschichte als Geschichte des sich verbergenden schlechten Gewissens. Nun aber der Schritt von der Bibel zu den Büchern der Dichtung, vorab der griechischen. 4 Mein ältester hier beigezogener Dichtungstext ist eine dramatische Trilogie, also eine zusammengehörige Folge von drei Theaterstücken, nämlich die Orestie des Aischylos, aufgeführt 458 a. Chr. in Athen. Wie meist in der griechischen Tragödie, die ja ein kultisches Weihespiel der Polis war, stammt der Stoff aus dem Mythos, hier aus dem Atriden-Mythos. 113 Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie Das zweite Stück, „Das Totenopfer“, führt vor, wie der mykenische Königssohn Orest seine Mutter Klytemnästra und deren Liebhaber Aigisth ermordet, und zwar als Strafgericht, weil die Mutter mit Aigisths Hilfe ihren aus dem Trojanischen Krieg siegreich heimkehrenden Ehemann, Orests Vater, den mykenischen König Agamemnon, heimtückisch umgebracht hat. Der Grund dafür war, daß wiederum Agamemnon als griechischer Oberbefehlshaber die gemeinsame Tochter Iphigenie der Göttin Artemis als kultisches Menschenopfer dargebracht hat, als sie das Auslaufen der griechischen Flotte zum trojanischen Krieg durch eine anhaltende Windstille verhinderte. Orest, um den es mir hier geht, steht in einem Konflikt der Pflichten: Als Sohn hat er die heilige Pflicht, den Mord am Vater zu rächen. Da die Mutter die Mörderin des Vaters ist, muß er die Mutter töten und damit die heilige Pflicht der Sohnesliebe zur Mutter verletzen. Das ist ein typischer Gewissenskonflikt zwischen zwei konkurrierenden rechtlichen und religiösen Pflichten - für die der Vaterrache steht der Zeussohn und Lichtgott Apoll ein, für die der Mutterheiligkeit stehen die uralten Erd-, Mutter- und Rachegottheiten der Erinyen, von denen schon die Rede war. Man könnte mit dem großen Basler Johann Jakob Bachofen auch feststellen, es ist ein Konflikt zwischen Vaterrecht und Mutterrecht. In dieser Tragödie des Aischylos zeigt sich nun aber etwas sehr Merkwürdiges: Sie enthält einen tragischen Konflikt mit der vollen Anlage zum Gewissenskonflikt, aber er wird nicht als Gewissenskonflikt erlebt. Orest ist zwar der Muttermord zuwider, aber er zweifelt keinen Augenblick an seinem Recht und seiner Pflicht dazu, denn er führt damit den Befehl des Gottes Apoll zur Vaterrache aus, und so wird er auch vom Gott für seine Tat entsühnt und rein gemacht. Trotzdem aber jagen ihn seit dem Mord unerbittlich die Erinyen als Rächerinnen des Muttermords, und so kommt es zu einem Konflikt nicht im Gewissen des Helden, sondern zu einem Götterkonflikt zwischen Apoll, dem Gott der Vaterordnung, und den Erinyen, den Muttergottheiten, der schließlich vor dem athenischen Gerichtshof, dem Areopag, durch die Stadtgöttin Athene, als aus der Stirn des Zeus entsprossen auch väterlich kodiert, geschlichtet wird. Wie, das braucht im einzelnen hier nicht weiter zu interessieren; es kann genügen, daß am Schluß die Polis Athen und ihre Gerichtsbarkeit doppelten Ruhm davonträgt: mit der Versöhnung und kultischen Beheimatung der Gottheiten des Vaterrechts und des Mutterrechts und mit der Verherrlichung des athenischen Gerichts, vor dem die Stadtgöttin erscheint und sich rechtfertigt und in ihm wie ein Mensch unter Menschen abstimmt. Orest jedenfalls ist am Ende vor den Erinyen sicher und freigesprochen. Damit erweist sich der Konflikt, der kein Gewissenskonflikt geworden ist, zwar als versöhnbar, aber nicht eigentlich lösbar. Hier zeigt sich eine Nähe zum Gewissenskonflikt. Für Gewissenskonflikte gibt es häufig keine schlüssigen Lösungen, weil die im Konflikt stehenden Werte und Lebensmächte nicht gegeneinander aufgewogen werden können. Ist der Vater oder die Mutter heiliger? Über den Zeit- 114 Christentum und Literatur 5 Zitiert in der Übersetzung: Aischylos: Tragödien und Fragmente. Verdeutscht von Ludwig Wolde, Bremen 1960. 6 Zitiert in der Übersetzung: Euripides. Tragödien und Fragmente. Bearbeitet und eingeleitet von Franz Stoessl. Zürich, Stuttgart. 2. Bde. 1958, 1968. Bd. 2. abgrund hinweg in ähnlicher Weise sieht sich Luise Millerin in Schillers „Kabale und Liebe“ zerrissen zwischen Vater und Geliebtem und sagt in ihrer Qual, den Vater oder den geliebten Mann verleugnen zu müssen, ohne es innerlich zu können: „Verbrecherin, wohin ich mich neige.“ (V,1) Dabei ist es ist schon typisch für Schillers Verstandeshelle im hellen Welt- und Menschenbild der Klassik, daß seine Heldin überhaupt fähig ist, zu dieser begrifflichen Schärfung einer unaussprechlichen Qual vorzustoßen. Versöhnung allerdings kann allemal sein, wo die Werte-Legitimation auf beiden Seiten auf der gleichen Ebene liegt: im Fall des Orest bei den Göttern. In der Orestie findet sich also die Situation des Gewissenskonflikts, aber kein Gewissen im Konflikt. Fünfundvierzig Jahre später stellt Euripides, der jüngste der großen griechischen Tragiker, in seiner „Elektra“ die gleiche Szene des Muttermords anders dar als Aischylos. Bei Aischylos ist das einzige Zeichen eines Zögerns, daß Orest, die Waffe in der Hand, den Freund fragt, nicht sein Herz: „Was tun, mein Pylades, laß ich vom Muttermord? “ (V 899) 5 , und dieser wiederum antwortet mit dem Verweis auf den drohenden Zorn Apolls, wenn Orest den Befehl des Gottes nicht ausführen sollte. Die Tat selbst geschieht bei Aischylos in voller Kälte, so auch die Rechtfertigung vor dem Volk, wenngleich im Vorgefühl des Herannahens der Erinyen: „daß ich die Mutter schlug mit vollem Recht, / Die Mörderin, die Schande, Göttern allverhaßt. / Anstifter zur verwegnen Tat heiß’ ich zuerst den Pythonseher“ (V 1027f.) - also Apoll. Anders der Orest des Euripides. Er fragt nochmals, ob wirklich der Muttermord geschehen soll, er klagt über seinen furchtbaren Auftrag, nennt Apolls Gebot unverständig und geht schließlich zur Tötung mit den Worten: „bösen Auftrag fang ich an / Und Böses werd ich wirken. Ist’s der Götter Schluß, / So sei es.“ (V. 985f.) 6 Hier regt sich etwas wie eine Keimform des Gewissens, und besonders Euripides unter den griechischen Tragikern entwickelt eine große Kunst in der Darstellung seelischer Regungen und Schwankungen bis in Extreme. Sie geht über das Alte und Neue Testament hinaus, die in ihren Erzählungen kaum in die psychischen Motivationen der Figuren hineinleuchten. Umgekehrt ist aber auch zu sagen, daß die breite Offenlegung von Seelenzuständen bei den Griechen den psychischen Vorgängen etwas von ihrem Geheimnis nehmen kann, daß der Abgrund im Menschen weniger spürbar wird als in der Bibel. Und auch bei Euripides wird der Gewissenskonflikt nicht zentral und nicht zugespitzt, denn immer noch bleibt die Erfüllung des Götterwillens letzte Rechtfertigung auch der zwiespältigen Tat. Letzten Endes geht es bei der Knappheit und Verschwiegenheit der biblischen Texte nicht um eine geringere 115 Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie 7 Zitiert in der Übersetzung: Sophokles: Die Tragödien. Übersetzt und eingeleitet von Heinrich Weinstock. 2.A. Stuttgart 1953 Darstellungskunst, sondern um ein Weltbild: Die Tragiker verschwinden in den Figuren, denen sie das Wort geben, und sind damit dem Götterstreit enthoben, den der Mythos ihnen vorgibt; Homer erzählt aus olympian view point, als säße er, von der Muse inspiriert, auf der Höhe des Göttersitzes. Die biblischen Erzähler stehen wie die Figuren, von denen sie erzählen, tief unter dem einen, allmächtigen, wissenden Gott, der allein den Menschen ins Herz sieht und dem Geschehen Sinn gibt. Indem sie erzählen, gehen sie mit den Figuren in Gottes Dunkel hinein. Sie haben den Geschehnisablauf und den Erzählprozeß in der Hand, aber nicht die Deutung. Die Häufigkeit der Schriftberufung unterstreicht das: Wenn etwas geschieht, weil es verheißen ist oder damit die Schrift erfüllt wird, dann ersetzt das die Motivation aus der erzählten Situation und gibt dem so Beglaubigten Dignität von Gott als alleiniger heilsgeschichtlicher Begründungsinstanz her. Selbst wo die Figuren, wie Adam und Eva, über ihre Motivationen reden, geht ihr Fühlen weit über ihre Rede hinaus. Indem aber die biblischen Erzähler sich ins Unbegreifliche vortasten, haben sie überwache Sinne, Konstellationen und stumme Wendungen des Geschehens wiederzugeben, und speziell die Gewissensthematik ist, auch wenn nicht explizit psychologisiert, in äußerster Knappheit mit einer Schärfe gefaßt, wie in der antiken Tragödie nicht. Das möchte ich noch einmal illustrieren an der antiken Tragödie, die als Inbegriff der Gewissenstragik gilt: der Antigone des Sophokles. Hier haben zwei Brüder aus königlichem Haus einander im Kampf getötet, der eine in Verteidigung der Polis, der andere beim Versuch, sie zu erobern und sich zu unterwerfen. Der König befiehlt, den Stadtverteidiger in allen Ehren zu bestatten und den Aufrührer unbeerdigt auf freiem Feld verrotten zu lassen, bei den Griechen die schrecklichste Schande für einen Toten. Beider Schwester Antigone aber bestattet symbolisch gegen das mit der Todesstrafe belegte Verbot des Königs den verdammten Bruder. Und nicht nur das. Sie tritt dem König in offenem Widerspruch entgegen, verwirft seinen Befehl und rechtfertigt ihr Handeln. Hier stellt sich also das Gewissen gegen die Staatsraison. Allerdings tritt auch hier das Gewissen nicht, wie es im Gegensatz dazu in der biblischen Geschichte von der Ehebrecherin geschieht, als innere Stimme und Instanz auf, sondern als Berufung auf die fromme, von den Göttern gesetzte Sitte, die in diesem Fall sogar ein besonders altertümliches Gesicht der Verpflichtung auf die Herkunftssippe zeigt: Antigone erklärt sich bereit, um der Erfüllung der Pflicht gegen den toten Bruder willen in den Tod zu gehen, und sie sagt dazu ausdrücklich: ein Bruder sei mehr als Ehemann oder Sohn, weil die sich ja ersetzen ließen. Zwar spricht der Chor Antigone den Ruhm zu, „Nach eignem Gesetz gehst von allen allein/ Du lebend hinunter zum Hades“ ((V 821f.) 7 , anerkennt also 116 Christentum und Literatur 8 Der Anspruch auf ein autonomes Gewissen wäre für Luther sündhaft; erst bei Kant wird es autonom gesetzt, aber diese Autonomie bezieht sich wiederum zurück auf einen normativen kategorischen Imperativ. Beide zitierten Lutherworte nach: Martin Luther, Kritische Gesammtausgabe (Weimarer Ausgabe). Bd. 7. 1887. S. 877-880. 9 Goethe, Dichtung und Wahrheit. Hamburger Ausgabe. Hg. Erich Trunz u.a. Hamburg 1948 u.ö. Bd. 10, S. 75. Die Herkunft der Sentenz ist nicht geklärt. autonomes Handeln bei ihr, aber das ist eine Interpretation im Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis, somit nicht die von außen verbalisierte innere Stimme in der angefragten Person. Man könnte allenfalls sagen, es zeige sich hier ein objektiver Selbstdeutungshorizont der Tragödie, äußerte nicht kurz darauf derselbe Chor „Du schrittest vor zum letzten Trotz/ Und an des Rechtes hohem Thron/ bist heftig du gescheitert, Kind“ (V 850ff). Hier wie oft in der griechischen Tragödie schwingt die Dialogie eher in einer großen Amplitude der Deutungsmöglichkeiten, als daß eine Deutungslinie prägnant hervorträte. Und auch die Alternative staatliches Gesetz gegen Sitte wird wieder verwischt, denn dem König als Widerpart geht es mindestens so sehr um sein Prestige wie um das Wohl der Polis. Unter Schicksalsschlägen zweifelt er, „ob’s nicht das Beste sei,/ Gültige Satzung bis zum Tod zu ehren“ (V 1114f), wie es Antigone getan hat, und er bricht am Ende zusammen mit der Einsicht, er habe im Todesurteil gegen Antigone „Schuld, Todesschuld“ auf sich geladen (1262). Antigone ihrerseits, die im Streitgespräch gewillt war, heroisch für ihre Auffassung zu sterben, begeht schließlich Selbstmord in Verzweiflung. Blicken wir von hier zurück auf unsere biblischen Beispiele für die Gewissensthematik, stehen wir vor einem markanten Ergebnis. Die biblischen Beispiele für die Gewissensthematik waren nicht konflikthaft, und das läßt sich verallgemeinern: Die Bibel enthält zwar Konflikte, sie enthält auch Situationen tiefer Ungewißheit, tiefer Dunkelheit des Gotteswillens vom Abrahamsopfer bis zu Jesus in Gethsemane und am Kreuz mit seinem Verlassenheitsschrei, aber sie enthält keine Gewissenskonflikte. So wie es im Judentum/ Christentum nur einen Gott gibt, gibt es auch nur einen Gotteswillen, wenn auch zuweilen schwer ergründbar. Es gibt nur ein göttliches Gesetz. Das Gewissen kann nicht in Konflikt mit göttlichen Geboten kommen; und Luther sagt einen Satz vor der bereits zitierten Gewissensberufung auf dem Wormser Reichstag - er sei „gefangen im Gewissen an dem Wort Gottes […]“, und das ist es auch, was das Gewissen ihm sagt: Gib dich Gott gefangen! 8 Aber wenn auch keinen Gewissenskonflikt, so gibt es in der Bibel doch viele Beispiele für die Anfrage des Gewissens im Menschen, und diese Fälle sind auf die Gewissensthematik auch wirklich zentriert. Denken Sie noch einmal an die Sündenfallgeschichte. Denken sie an Judas, der an seinem Gewissen zugrunde geht. Umgekehrt kennt die antike Dichtung den Konflikt der Wertordnungen bis zum Extrem des Widerstreits der Götter, so daß hier der äußerste Fall eintritt: nemo contra deum nisi deus ipse. 9 Aber die Antike fokussiert die Gewissensthematik weniger deutlich, führt sie nicht auf den 117 Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie letzten Punkt einer Gesinnungsnachfrage, die über Gesetz und Norm hinausgeht. Hierin, d.h. im Rückgang auf eine letzte Stimme in uns, wirkt die christlich-jüdische Tradition mit ihrem Anspruch weiter. Wie unsere europäische Kultur insgesamt auf den Säulen von Judentum- Christentum und Antike ruht, kann man mit einer leichten Schematisierung auch sagen, daß die voll ausgereifte Konfliktsituation als voll ausgetragener Gewissenskonflikt erst da vielfältig variiert in der Literatur auftritt, wo die Radikalität und Tiefe der Instanz Gewissen in der christlich-jüdischen Tradition ausgereift ist, zugleich aber neuzeitlich die christliche Tradition als autoritative Stimme der Kirche ins Wanken gerät. Der erste Schritt dahin ist, daß eine persönlich verantwortete christliche Glaubenserfahrung sich der kirchlichen Lehrautorität gegenüberzustellen fähig wird - Schlüsselwort scheint mir hier wiederum Luthers Erklärung vor dem Wormser Reichstag, allein dem Zeugnis der Heiligen Schrift sich unterwerfen zu wollen. Der zweite Schritt nimmt Richtung auf die Autonomie des Menschen in einer weltlichen Welt. Damit wird das menschliche Gewissen mit den Normen, auf die es sich bezieht, in die alleinige menschliche Verantwortung überführt, es wird zum freigestellten Austragungsort auch der Wertkonflikte, die sich früher als Götterkonflikte darstellten. Auf dieser Basis, in Deutschland seit Lessing, kann die antike Gattung der Tragödie mit ihrer Möglichkeit des Werteantagonismus rezipiert und erneuert werden, nun aber mit voller Erscheinung und Wirksamkeit eines individuellen Gewissens in biblischer Tradition. Ich möchte das an einer neuzeitlichen Version der Atriden-Dramatik vorführen, die ich ja schon für die Antike ins Auge gefaßt hatte. Ich meine Goethes „Iphigenie auf Tauris“, eine Neudichtung des Euripideischen Dramas gleichen Titels, das die Atriden-Trilogie des Euripides abschließt. Goethe übernimmt als Handlungsvoraussetzung von Euripides eine Variante des Prozesses vor dem Areopag, der bei Aischylos die Entsühnungshandlung zuende führt. Danach schließt sich eine Gruppe der Erinyen dem Versöhnungsurteil nicht an und verfolgt Orest weiterhin. Im Tempel des Apoll zu Delphi, des göttlichen Auftraggebers des Orest, wird dem Gehetzten dann ein Orakel zuteil, das ihm endgültige Entsühnung verspricht, wenn er die Schwester aus dem Barbarenland Taurien - der heutigen Krim - nach Athen holt. Apolls Schwester ist Artemis, dieselbe Göttin, der König Agamemnon seine Tochter Iphigenie zum Menschenopfer gebracht hat, damit die griechische Flotte nach Troja auslaufen konnte. Tatsächlich aber hat die Göttin die scheinbar geopferte Iphigenie nach Taurien entführt, wo sie als Priesterin der Göttin dem Kult vorsteht. Sowohl bei Euripides wie bei Goethe werden Orest und seine Begleitung im Versuch, das Kultbild zu rauben, von den Tauriern gefangen genommen und sollen nun ihrerseits von Iphigenie, der Artemispriesterin, zum kultischen Opfer zubereitet werden - es wäre die Fortsetzung der gräßlichen Kette von Kindesmord - Gattenmord - Muttermord zum Geschwistermord. 118 Christentum und Literatur Bei Euripides tritt wie bei Aischylos in der völligen Verknäuelung des Konflikts Athene als Dea ex machina auf, hier, indem sie den Griechen das Kultbild zuspricht und es den Tauriern wegnimmt. Orest kann mit dem Kultbild der Apollo-Schwester und mit der eigenen Schwester Iphigenie zur Entsühnung nach Griechenland zurückkehren. Daß die Griechen alle Mittel der List und der Lüge gegen die Taurier angewendet haben, spielt weder für sie noch für die Göttin eine Rolle - dafür trägt Apoll die Verantwortung, und die Taurier sind ohnehin als Barbaren disqualifiziert, weil bei ihnen ein Menschenopferkult für Artemis herrscht, der in Athen in der neuen Kultstiftung nicht wiederaufleben wird. Die Griechen sind Friedensbrecher und Räuber mit gutem Gewissen. Und wieder stehen die Götter als Letztverantwortliche der problematischen Menschenhandlungen im Hintergrund. Weil sie bei Euripides nicht, wie bei Aischylos, untereinander im Konflikt stehen, sondern geschlossen hinter den Griechen, ist ihre legitimierende Macht um so größer. An dieser Stelle des bei Euripides ausbleibenden Gewissenskonflikts greift nun Goethe ein. Seine Iphigenie ist bis in den Grund ihres Herzens zerrissen durch das Dilemma, entweder mit Lug und Trug die Taurier vernichtend zu schädigen - denn die Wegnahme des Kultbilds müßte ihre Identität als Volk zerstören. Es wäre zudem schmählicher Undank für gewährtes Asyl und taurisches Vertrauen auf sie als religiös-sittliche Autorität. Sie würde ein ganzes Volk moralisch zugrunde richten. Die andere Unmöglichkeit: die Taurier aufzuklären über die Flucht- und Entführungsabsichten und damit nach menschlichem Ermessen nicht nur das eigene Leben, sondern auch das ihres Bruders und aller Griechen aufzuopfern. Denn gerade weil das Kultbild der Göttin die Taurier zum Volk macht, können sie es nicht hergeben. In ihrer Verzweiflung betet Iphigenie zu den Göttern, die sie in dieses Dilemma gebracht haben, aber nun nicht einfach um Rettung, sondern mit der Aufforderung: „Rettet mich und rettet euer Bild in meiner Seele.“ Damit ist gesagt: Mit dem physischen und vor allem dem psychischen Untergang des Menschen und seines Glaubens ginge auch das Göttliche in der Welt unter; es hätte keinen Ort und keine Erscheinungsweise mehr. So heißt es in der zeitlich und geistig Goethes „Iphigenie“ nahe stehenden Hymne „Das Göttliche“: „Ihr Beispiel“ - nämlich das der guten Menschen - „lehr uns jene“ - die Götter also - „glauben“. Umgekehrt bedeutet das: Erst im wahrhaft menschlichen Menschen kann das Göttliche in der Welt in seiner ganzen Herrlichkeit wirksam und darin wirklich werden. Und in diesem Sinne handelt Iphigenie: Sie rettet und verwandelt das Göttliche, indem sie in einem voll ausagierten Gewissenskampf in völlige Nacht der Aussichtslosigkeit hinein alles, auch ihren Glauben, aufs Spiel setzt - im Vertrauen auf den Mitmenschen, in dem gleichfalls das Göttliche wohnt und angesprochen werden kann. Indem Iphigenie das Göttliche in sich zur Erscheinung bringt, vermag sie vom Zeitpunkt ihrer Asylgewährung an die Taurier zu humanisieren und, schon vor der rituellen Entsühnung, ihren Bruder Orest innerlich frei zu 119 Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie 10 Wolfgang Wittkowski (Goethe. Homo homini lupus - Homo homini deus. Über deutsche Dichtungen 2. Frankfurt u.a. 2004. Dort das Iphigenie-Kapitel) und andere neuere Interpreten vernachlässigen sowohl den in der griechischen Tragödie vorgegebenen mythischen Bezug auf die antiken Götter als auch die hier und andernorts, etwa in der Prometheusmachen zur Konfliktlösung. Sie ist der Katalysator beim letzten Andrang der Erinyen, die bei Goethe zur innerpsychischen Wirklichkeit geworden sind, und läßt dadurch den Paroxysmus zur Katharsis werden. Die Schwerter bereits gezogen zum Zweikampf auf Leben und Tod, Auge in Auge mit dem taurischen König Thoas, der sich im Konfliktdialog als menschlich ebenbürtiger Partner erwiesen hat, versteht der geheilte, klarsichtig gewordene Orest plötzlich das Orakel völlig neu und in seiner ganzen Tiefe: Der Befehl des Apoll, die Schwester heimzuholen, bezog sich nicht auf das Kultbild der Artemis, sondern auf Orests ihm neu geschenkte Schwester Iphigenie, die Artemispriesterin, die von den Tauriern liebevoll entlassen werden kann. Und das ist nicht ein intellektueller Trick als Lösung, sondern die Wahrheit des Menschen bei Goethe: In Iphigeniens bis zum Grund durchsichtigen menschlichem Handeln ist die Göttin sichtbar geworden. Iphigenie ist als Schwester des Orest auch Schwester des Apoll. Es gibt in Goethes „Iphigenie“ selbst eine indirekte Bestätigung meiner These, daß solche dramatische Ausfaltung und Vertiefung des Wertekonflikts, wie er uns aus der Antike zukommt, zum Gewissenskonflikt der Weiterwirkung der jüdisch-christlichen Tradition zu verdanken ist. Sie findet statt in der sich säkularisierenden Welt der europäischen Neuzeit. In der Klassik Goethes, in seiner Erneuerung eines antiken Dramas, tauchen nämlich säkularisiert ein Grundelement des Judentums und zwei Elemente des Christentums auf: In Iphigeniens Klage und Anklage der Götter, die sie zugleich als Helfer in Anspruch nimmt, wirkt die jüdische Tradition der frommen Gottesanklage weiter, wie sie am wirkungsmächtigsten in Hiob Gestalt annimmt, dem anklagenden Beter und betenden Ankläger Gottes. In Iphigenie als Simulacrum der Göttin erscheint transformiert Jesus Christus, der im Menschen inkarnierte und erst darin sich voll offenbarende Gott. In der heillosen Verstickung des Atridengeschlechts unterm Götterfluch steckt verwandelt die Erbsünde. Wie Jesus Christus, in dem Gott Mensch wird, den Bann der Erbsünde löst, so löst Iphigenie, die menschliche Erscheinung der Göttin Artemis, den Geschlechterfluch über die Atriden. Iphigenie steht an der heilsgeschichtlichen Systemstelle Jesu Christi, in dem der Gott des Alten Testaments sich offenbart als Gott des neuen Testaments. Und in dieser Rezeption liegt zugleich eine grundstürzende Umdeutung der Tradition im Sinn der Aufklärung: In Jesus Christus ist nach christlichem Glauben Gott Mensch geworden, um den an seine Sündhaftigkeit verlorenen Menschen zu erlösen. In Iphigenie hat der Mensch in sich das Göttliche freigesetzt und erlöst sich darin selbst. 10 120 Christentum und Literatur Hymne, bei Goethe in der Rezeption der Antike stattfindende Auseinandersetzung mit dem Christentum-Judentum. Von der Verfinsterung her, die das Göttliche in beiden Traditionen annehmen kann - die Hiob-Anklage zieht sich schließlich bis zu Christi Gebet des Psalms 22 am Kreuz - bedarf die Undurchdringlichkeit und Finsternis Gottes, die Iphigenie und die Griechen in einer Gotteskrise erleiden, keiner weiteren Erklärung. Die angeblich bei Goethe in Götterkritik eingekleidete Absolutismuskritik mag allenfalls ein leichter Beiklang sein. Vor allem wird die Iphigeniengestalt Goethes nur von ihrem geistesgeschichtlich-literaturgeschichtlichen Hintergrund her in ihrer aus dem Christentum kommenden und dabei doch das Christentum herausfordernden Bedeutung und Funktion verständlich. In der Inkarnation des Göttlichen in Iphigenie offenbart - analog zur Inkarnation Gottes in Christus - das Göttliche ein menschliches, ein neues Gesicht. Über den Abgrund hinweg, daß in Christus Gott Mensch wird, bei Goethe aber im Menschen Iphigenie das Göttliche erscheint, könnte man die Christusworte Joh 14,9: „Wer mich sieht, der sieht den Vater“; 14, 5: „niemand kommt zum Vater, denn durch mich“ zur Erläuterung von Orests neuem Orakelverständnis heranziehen, daß nämlich die „Schwester“ nicht das Kultbild der Göttin, sondern Iphigenie als deren menschliche Entsprechung meint. Wie schon das alte Israel ging auch die Aufklärung, und somit Goethe, mit dem Theodizee-Problem schwanger. Hier, nicht im Absolutismusproblem, liegt der springende Punkt seiner „Iphigenie“. Das Drama von der Lösung des göttlichen Geschlechterfluchs durch das im Menschen verwirklichte Göttliche ist seine ‚Lösung‘ des Theodizee-Problems. Solches wird - ich wiederhole es - literarisch und dramatisch entworfen in eine Welt hinein, in der schon eine Vorstufe dessen heraufgekommen ist, was heute Wertepluralismus heißt; Vorstufe deshalb, weil in der universalen Kommunikationsgemeinschaft, die wir Aufklärung nennen, noch alle Positionen mit allen selbstverständlich im Gespräch sind, wo heute die Positionen weitgehend beziehungslos, oft Rücken an Rücken, gegeneinander stehen. In dieser aufklärerischen Kommunikationsgemeinschaft gibt es eine Fülle religiöser Standpunkte vom orthodoxen Christentum bis zum Atheismus, eine Pluralität anthropologischer Grundüberzeugungen von der Gottesebenbildlichkeit und Geschöpflichkeit des Menschen bis zu seiner Auffassung als determiniertem Automaten, und die einflußreichste Ethik, die Immanuel Kants, geht nicht mehr von einer Tafel objektiver, womöglich göttlich offenbarter Gesetze aus, sondern von einer inneren Instanz, dem guten Willen, den jeder für sich auf ein letztes menschheitliches Prinzip orientieren kann, soll und muß. Daß damit nicht die Laxheit und das „anything goes“ an die Macht gerufen werden, auch das rückt Goethes Iphigenie mit letzter Klarheit vor Augen, denn ihr Gewissen ist radikal. Es tritt im Menschen nicht als Instanz der Entschärfung, sondern der letzten Verschärfung des sittlichen Anspruchs auf. Eine solche Sternstunde des menschlichen Selbstentwurfs, die Schürzung eines Gewissenskonflikts, in dem der Mensch ganz auf dem Spiel steht, und seine Lösung dadurch, daß sich der Mensch ganz aufs Spiel setzt, und zwar aufs Spiel der vertrauenden Mitmenschlichkeit, ist geschichtlich situiert und ermöglicht. Nicht nur durch die streithaft-produktive Auseinandersetzung von europäischer Aufklärung und einem Christentum, das im Land der Reformation besonders tief in die kollektive und individuelle Geistesverfassung eingegraben war, sondern auch durch Weimar, den thüringischen Klein- 121 Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und der antiken Tragödie staat als europäische Geistesgroßmacht, der - lange Zeit abseits der Zentren der geschichtlichen Vorgänge - einen Logenplatz zur Betrachtung der epochalen Umwälzungen, der Heraufkunft der Moderne in der Französischen Revolution und der industriellen Revolution, zur Verfügung stellte. Schiller und Goethe, die in dieser Loge mit divinatorischem Blick saßen, waren gegenüber den großen geschichtlichen Erscheinungen in einer Balance von Betroffenheit und Abstand, und so konnten sie die Moderne als Krise begreifen, die in geschichtlicher Konkretion herausarbeitete, was am Menschen ist oder besser, was ihm möglich ist. Der Gewissenskonflikt als Chance des Menschen ist jedenfalls meines Wissens nicht noch einmal so tiefgründig und differenziert literarisch erfaßt worden wie in Goethes „Iphigenie“. Keine 150 Jahre später hatte Hitlerdeutschland die schwerste Katastrophe der Weltgeschichte heraufgeführt, und wieder kann die Gewissensproblematik in der literarischen Rezeption des Atriden-Mythos auch als Index einer Weltverfinsterung verstanden werden. Schon Eugene O’Neills „Trauer muß Elektra tragen“, uraufgeführt 1931 in New York, zeigt das Gewissen degeneriert zum tödlichen Selbsthaß, der in einer atridischen Familie des 19.Jahrhunderts in Amerika nach dem Bürgerkrieg wütet. Bis zu seinem Tod kurz nach Kriegsende arbeitete der alte Gerhart Hauptmann an einer Atriden- Tetralogie, in der rebarbarisierte Götter sich in rebarbarisierten Griechen spiegeln. Iphigenie kennt kein Gewissen. Ambivalent wie ihre Göttin, die als lichte Artemis zugleich finstere Hekate ist, begeht sie, das Kultbild im Arm, Selbstmord, während die Griechen in Massenorgien scheinhafter Versöhnung mit den vernichtenden Göttern schwelgen. Jean-Paul Sartres „Fliegen“, 1943 in Paris uraufgeführt, zeigen in Orest einen Muttermörder, der den Mord als Befreiungstat von der versklavenden Macht des Gewissens begeht und ins Leere entschreitet. Es ist ein Herrschaftsinstrument irdischer und himmlischer Tyrannen. Die Orest verfolgenden Erinyen haben sich aus Gewissens-Gottheiten in ekelhaftes Fliegen-Geschmeiß verwandelt. Dieser natürlich grob skizzenhafte Einblick in die literarische Genese des Gewissens läßt die gesamte Auffächerung der Gewissensproblematik etwa von Shakespeares „So macht Gewissen Feige aus uns allen“ (Hamlet III,1) bis zum Phänomen des irrenden Gewissen beispielsweise in Ibsens „Wildente“ außer Betracht, obwohl es gerade in der jüngsten deutschen Geschichte als Bindung an den Fahneneid auf Hitler verhängnisvoll geworden ist. Führt diese Skizze zu irgend einem Fazit? Ich denke ja. Das Gewissen ist eine prozessuale Instanz von einer an Normen sich abarbeitenden Radikalität, und darin liegt seine Schwäche und seine Chance. Seine Schwäche, denn es kann die Normen nicht ersetzen, ja, es schärft sich in Spannung zu ihnen. Seine Chance, denn in seiner Herausbildung ist eine unendliche Dynamik angelegt, der es tendenziell eingesenkt ist, tiefer und tiefer graben zu müssen. Es muß gelingen, seine Degeneration zum Faulbett („das ist eben meine Position, basta“) zu verhindern und es als Stachel zur Dialogie zu erkennen, ist es doch schon in sich 122 Christentum und Literatur 11 Heinz D. Kittsteiners Monographie „Die Entstehung des modernen Gewissens“ setzt erst nachreformatorisch ein, bleibt punktuell und berücksichtigt außer einigen moralisch-religiösen Gebrauchsreimereien die Dichtung nicht (Frankfurt 1991). Was ich hier gegeben habe, ist nur ein Problemaufriß und eine literarhistorische Entstehungsskizze, zentriert auf den Punkt, in dem die gesamte Thematik des Gewissens für uns heute die größte praktische Bedeutung besitzt und zugleich die größte theoretische Herausforderung enthält. Ich meine den Fall des Gewissenskonflikts. dialogisch. Aber die Welt wird damit leben müssen, daß klassische Lösungen von Gewissenskonflikten, wie sie etwa die Verschwörer gegen Hitler vom 20. Juli geleistet haben, zur äußersten Ausnahme werden, weil in unserer diffusen Welt kaum noch solche modellhaft klar moralisch formulierbaren Dilemmata auftauchen werden. Warum ist der Blick auf die Literatur für diese Problematik so aufschlußreich? Weil die Dichtung als entwerfende und darstellende Deutung der Welt und des Menschen eine Durchleuchtung des Faktischen zustande bringt, die noch das Schweigen und schweigende Handeln höchst sprechend machen kann. Das Gewissen ist seiner Eigenart nach verschwiegen und schlägt seine Schlachten, gewinnt seine Siege, erleidet seine Niederlagen meist im Verborgenen. So die Adam-Eva-Episode als eine Geschichte des Verbergens. Und doch und gerade so ist sie mit geradezu experimenteller Deutlichkeit eine Urszene des Gewissens. Etwas Weiteres kommt hinzu: Literatur bringt nicht nur Vorhandenes zum Ausdruck, sie treibt auch Vorhandenes zur letzten Konsequenz, ja sie kann, vor allem im Bereich des ebenso plastischen wie fluktuierenden Seelischen, eine Potenz der programmatischen Lebensentwürfe sein. Wenn es in einem geistlichen Morgenlied des Barock von Christian Knorr von Rosenroth heißt: „Morgenglanz der Ewigkeit, / Licht vom unerschöpften Lichte,/ Schick uns diese Morgenzeit / Deine Strahlen zu Gesichte/ Und vertreib’ durch deine Macht/ Unsre Nacht“ dann rufen diese Verse geradezu hervor, wovon sie sprechen. Noch wichtiger wird diese Entwurfskraft der Literatur in der Moderne seit Goethe, in der individuelle Lebensentwürfe als Spontaneitätsentwürfe gegenüber traditionell geprägten Lebensweisen immer wichtiger werden. In Goethes Sesenheimer Liebeslyrik oder in Matthias Claudius’ Wiegenliedern ist für Generationen bürgerlich Gebildeter die moderne Liebe oder die moderne Mutter-Kind-Beziehung geradezu erfunden worden: nämlich als Entwurf vorgelebt, experimentell evoziert. So sind zwar Experimente mit dem Menschen und am Menschen in den Konstellationen seines gelebten und erlebten Lebens verwerflich und exakt auch nicht möglich. Die Literatur aber mit ihrem Imaginationsraum ist das Feld zulässiger Menschenexperimente, indem sie potentiell demonstriert, was praktisch aktualisiert werden kann, weil es an der Zeit ist, und indem sie das Dunkle gestaltend ans Licht hebt. So ist die Ausprägung des Gewissens in literarischen Texten vielleicht das Aufschlußreichste, was wir über die Lebensmacht des Gewissens erfahren können. 11 1 Text eines Vortrags, der am Schluß des Symposions „Literatur in den Prozessen religiöser Transformation der Moderne“, veranstaltet von Alfred Bodenheimer, Georg Pfleiderer und Bettina von Jagow vom 1. bis 3. März 2005 im Landgut Castelen, Kaiseraugst bei Baden, gehalten wurde. Er greift in einigen Teilen auf eine ältere Veröffentlichung in der Zeitschrift „Pastoraltheologie“ zurück, geht aber über sie hinaus. s. G.K.: „Nathan der Weise“. Glaube, Liebe, Hoffnung. Der Grund des Toleranzdramas. (80. Jg. 1991/ 92. S. 568-584). 2 So hat Lessings Spezialgegner, der Hauptpastor Goeze in Hamburg einen gewissen Johann Ludwig Schlosser verklagt, weil er als Kandidat der Theologie Schauspiele verfaßt hatte. Siehe J. Geffcken: Der Streit über die Sittlichkeit des Schauspiels im Jahr 1769. In. Zs. Des Vereins für hamburgische Geschichte 3. S. 56-77. Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ Autonomie der Literatur seit der Aufklärung Mit der Aufklärung wird die Literatur zur kulturellen Instanz, die dem Christentum und seinen Institutionen, den Kirchen, kritisch eigenständig gegenübertritt. Diese Eigenständigkeit könnte nicht deutlicher werden als durch das, was Lessing in seinem letzten, 1779 im Druck erschienenen, 1783 in Berlin uraufgeführten Drama „Nathan der Weise“ unternimmt. 1 Er thematisiert hier das Verhältnis der drei monotheistischen, auf schriftliche Offenbarungen gegründeten Weltreligionen zueinander von einem vierten Ort aus, dem in Deutschland seit Gottsched literarisch gewordenen Theater. Zwar war der Anstoß dafür äußerlich - die Weisung an den herzoglich braunschweigischen Bibliothekar in Wolfenbüttel, seine in Streitschriften ausgetragene theologische Kontroverse mit dem hamburgischen Hauptpastor Johann Melchior Goeze abzubrechen -, aber Lessing machte diesen Schritt durch das Motto seines Dramas programmatisch: „Introite, nam et hic dii sunt! “ Mit diesen Worten soll der Philosoph Heraklit Besucher aufgefordert haben, in einen großen Backofen einzutreten, in dem er sich seine kalten Glieder wärmte. Will sagen: auch an einem profanen Ort wie dem unter Frommen damals noch leicht anrüchigen Theater 2 und somit auch in der säkularen Dichtung kann der Diskurs über Gott geführt werden. In diesem Sinn schreibt Lessing mit Bezug auf „Nathan den Weisen“ an seine Freundin Elise Reimarus am 6. September 1778: „Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater, wenigstens noch ungestört will predigen lassen.“ 124 Christentum und Literatur Durchdringung von Aufklärung und Christentum in Deutschland Nun greift Lessing in „Nathan der Weise“ bekanntlich die Ringparabel aus der dritten Novelle des ersten Buchs von Boccaccios etwa 420 Jahre älterem „Decamerone“ auf. Doch die elegant skeptische Destruktion der religiösen Wahrheitsansprüche durch den Renaissance-Dichter ist nur ein kleinformatiges Vorspiel zu dem, was im deutschen Kulturraum nach den schweren Erschütterungen durch die Reformation mit den folgenden blutigen Religionskriegen und nach dem großen, von Westeuropa ausgehenden Aufbruch der Aufklärung an Programmatik möglich wird. Bei uns, wo die christliche Prägung besonders tief und nachhaltig ist, faßt die Aufklärung zunächst schwer Fuß, wird dann aber auch zur besonders aufwühlenden und fruchtbaren Herausforderung. Aus der eindringlichen Begegnung zwischen Christentum und Aufklärung entspringen nicht nur radikale gegenseitige Infragestellungen, sondern auch mannigfaltige wechselseitige Bestrahlungen, Verwandlungen, Vermittlungen und Synthetisierungen. So entsteht der geistige Nährboden für die deutsche Klassik in Philosophie und Literatur. Für einen historischen Augenblick werden deutsche Literatur und Philosophie, die aus dieser Reibung und Osmose hervorgehen, europäisch maßgeblich, und sie werden pointiert - vage und abgekürzt gesagt - Weltanschauungsdichtung. Die gegenseitige Bestreitung und Durchdringung der Elemente zeigt sich früh und exemplarisch in Lessings Religionsdrama als Fortbildung der bei Boccaccio herrschenden bloß skeptischen Destruktion zur Dekonstruktion. Sie ergreift Elemente der Monotheismen und baut sie in den Zusammenhang einer Humanitätsreligion ein, die in einem Glauben verankert ist. Lessing spricht nicht obenhin vom Theater als seiner Kanzel. Die Wechselwirkung von religiösem Denken und gelebtem Glauben im Drama Die bei Lessing stattfindende Diskussion der Religionen spielt sich nicht nur am Ort der Literatur, sondern auch in einer eigentümlich literarischen Weise ab. Es werden nämlich nicht einfach theologische oder philosophische Lehrinhalte literarisch eingekleidet. Vielmehr tritt im Drama und durch das Drama als einem dargestellten Lebens- und Handlungszusammenhang hervor, daß religiöse Argumentation und gelebter Glaube zweierlei sind und das gelebte Leben das religiöse Denken sowohl gründet wie übersteigen kann. Das geschieht in „Nathan“ auf zwei Ebenen: erstens indem eine religionsphilosophische Aussage aus einer dramatisch vermittelten erzählten Handlung hervortritt und zweitens, indem die Aussage dieser Parabel durch das dramatische Geschehen noch einmal kommentiert und überboten wird. Auf diese Weise wird dieses Drama auch - und das ist literarisch sehr modern - poeto- 125 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ 3 Bd. 4. 1951. 5.A. 1975/ 4 S. 164f. logisch selbstreflexiv. Es führt vor, daß Literatur eine autonome Erkenntnisweise ist, weil sie im mimetischen Entwurf gelebten Lebens zu Einsichten und Aussagen fähig ist, die logisch-begrifflich nicht gemacht werden, sondern allenfalls im Nachhinein interpretierend eingeholt werden können. Weil sich aber in Lessings „Nathan“ die religiöse Botschaft nicht einfach an der Oberfläche der Begrifflichkeit vorfinden läßt und sich erst im Durchgriff auf die dramatische Struktur voll aufschließt, hat die Theologie, die vorwiegend auf die theologische Explikation geachtet hat, wenig anderes in „Nathan der Weise“ gefunden als die Ringparabel und noch ein bißchen Theater drum herum. Es sagt viel, daß Emanuel Hirsch in seiner bahnbrechenden fünfbändigen „Geschichte der neuern evangelischen Theologie“ bei insgesamt 45 Seiten über Lessing knapp eineinhalb Seiten auf die Ringparabel verwendet, ohne auch nur einen Blick auf das Drama als Ganzes zu werfen. 3 Annäherungspunkte der Aufklärung an Judentum und Islam Die Hauptreibungsflächen der Aufklärung mit dem Christentum waren: Trinitätstheologie, Erbsündenlehre, Erlösungslehre. Weil die beiden verwandten monotheistischen Schriftreligionen Judentum und Islam diese Ärgernisse für die diskursive Vernunft nicht boten, konnten sie in der Epoche der Aufklärung eine Aufwertung erfahren, die eine viele Jahrhunderte währende Diskriminierung der Juden und Perhorreszierung der Muslime abzuschwächen oder aufzuheben half. 1657 bringt der schlesische Barockdichter Andreas Gryphius das Schicksal der christlichen georgischen Königin Katharina als Märtyrerdrama auf die Bühne, die 1624 zum Entsetzen Europas von dem muslimischen Perserschah Abas wegen ihrer Glaubenstreue gefangen genommen und zu Tode gefoltert worden war - ein zeitcharakteristischer Theatervorwurf. 1683 standen die muslimischen Türken, über Jahrhunderte der Schrecken Europas, noch einmal vor Wien; neunundneunzig Jahre später lebt in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ der türkische Edle Bassa Selim dem Wiener Publikum die Botschaft der Aufklärung und der Humanität vor. Noch waren die Juden zu Lessings Zeit in Gettos gepfercht, aber die pantheistische „Ethik“ des von seinen Glaubensgenossen exkommunizierten holländischen Juden Benedikt Spinoza von 1677 gelangte gerade im späten 18. Jahrhundert in der deutschen Philosophie zu umfassender Wirkung, und wenig vorher wurde Moses Mendelssohn im preußischen Toleranzklima ein bekannter Philosoph und Freund der anderen Berliner Aufklärer, allen voran Lessings. Selbstbewußt konnte er öffentlich einen albernen Bekehrungsversuch des großen Zürcher Theologen Johann Kaspar Lavater zurückweisen. Boccaccios 126 Christentum und Literatur Erzähler der Ringparabel ist dem antisemitischen Vorurteil vom gerissenen Juden nicht ganz fern; Nathan kann mit Pathos „der Weise“ heißen. Lessings Beziehung zum Christentum Indem er von der Bibel zu den Büchern überlief, machte der sächsische lutherische Theologensohn Lessing eine in dieser Epoche typische Karriere. Untypisch aber war, mit welcher Intensität er sich auch als weltlicher Autor im Feld der Theologie bewegte. Der Literat und Polemiker wurde einer der originellsten Denker zur protestantischen Theologie seiner Zeit. Ein persönlich formuliertes und begründetes christliches Glaubensbekenntnis hat der fintenreiche theologische Florettfechter dabei nie herausgelassen. Er hat sich mit Hilfe der ursprünglich leibnizschen Unterscheidung zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenbzw. historischen Wahrheiten aus der Affäre gezogen. Daß es einen Gott als Weltschöpfer, Weltregenten und Garanten einer moralischen Weltordnung gibt, galt im 18. Jahrhundert zumindest in Deutschland noch als eine Vernunftwahrheit, nämlich eine solche, die sich mit Vernunftgründen beweisen läßt. Hingegen sind die spezifisch christlichen Offenbarungswahrheiten - Menschwerdung Gottes, Erlösung am Kreuz, Auferstehung Christi von den Toten, Himmelfahrt - für Lessing bloße historische Wahrheiten, durch viele Jahrhunderte bezeugt und weithin geglaubt, aber aus Vernunftgründen weder beweisbar noch widerlegbar. Ein persönliches Glaubensbekenntnis der nach Lessings Verständnis historischen Wahrheiten des Christentums gehört deshalb für ihn nicht in den rationalen Diskurs. Daß diese Glaubensartikel für Lessing keine Herzensanliegen waren, kann man mit Sicherheit annehmen, waren sie es doch kaum noch für die führende evangelische Theologenschule der Zeit, die aufklärerischen Neologen, die zum Spott Lessings den christlichen Kirchenglauben vernunftgemäß zu machen suchten, indem sie diese unzeitgemäßen Glaubensinhalte auf ein kaum noch identifizierbares Minimum zusammenschnurren ließen. Gerade die theologische Streitlust Lessings zeigt indessen, daß Religion ein Lebensthema für ihn bedeutete, und da er trotz seiner philosophischen und theologischen Schlagkraft zuerst und zuletzt ein Dichter war, verdanken wir dieser Fixierung sein Nathan-Drama, das nicht einfach ein Aufklärungsdrama über Fragen der Religion ist, sondern das Wechselverhältnis von Religion und Aufklärung in Szene setzt. Warum ist ein Nichtchrist der Held eines Toleranzdramas? Daß Lessing dabei ausgerechnet einen Nichtchristen zum Helden seines Religionsdramas machte, kann nicht überraschen. Schon unter seinen ersten, 127 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ 4 Lessings Werke. Vollst. A. in 25 Teilen. Hg. J. Petersen und W. von Olshausen. Berlin u.a. (Bong) o.J. Teil 20. S. 110-130. Dort S. 124. (Nach dieser Ausgabe wird zitiert.) 1754 veröffentlichten theologischen Schriften ist die „Rettung des Hieronymus Cardanus“, eines europäisch berühmten italienischen Arztes, Naturforschers, Mathematikers und Philosophen, der von 1501-76 gelebt hat. Für dessen Ehrenrettung wendet Lessing einen genialen Trick an, der vorgeblich die Christlichkeit dieses seinerzeit angefeindeten Gelehrten demonstrieren soll, indirekt aber vor allem die Superiorität des Islam und des Judentums durchblicken läßt. Cardanus hatte nämlich ein religiöses Streitgespräch zwischen einem Heiden (der Antike), einem Muslim, einem Juden und einem Christen verfaßt und veröffentlicht, das angeblich - so der zeitgenössische Vorwurf gegen ihn - den Streit der Religionen in der Schwebe beließ. Lessing verteidigt Cardanus gegen die Anklage des religiösen Indifferentismus, indem er süffisant behauptet, tatsächlich habe Cardanus die christliche Position verteidigt und begünstigt, und zwar, indem er die Haupteinwände der Muslime (und indirekt damit auch der Juden) gegen das Christentum gar nicht zur Sprache brachte. Zum Beweis führt Lessing aus, wie der Muslim in der Diskussion dem Christen hätte gefährlich werden können: „Schwatze nicht von Wundern, wenn du das Christentum über uns erheben willst! Mahomet hat niemals dergleichen tun wollen; und hat er es denn auch nötig gehabt? Nur der braucht Wunder zu tun, welcher unbegreifliche Dinge zu überreden hat, um das eine Unbegreifliche mit dem andern wahrscheinlich zu machen. Der aber nicht, welcher nichts als Lehren vorträgt, deren Probierstein ein jeder bei sich führet. Wann einer aufstehet und sagt: ‚Ich bin der Sohn Gottes‘, so ist es billig, daß man ihm zuruft: ‚Tue etwas, was ein solcher nur allein tun könnte! ‘ Aber wenn ein anderer sagt: ‚Es ist nur ein Gott, und ich bin sein Prophet‘, […] was sind da für Wunder nötig? “ 4 Das ist deutlich, und doch nicht von der Zensur zu fassen, denn Lessing hat ja nichts Anstößiges gesagt; er hat nur gesagt, was ein Muslim Anstößiges gesagt hätte, hätte Cardanus ihn über den Christen triumphieren lassen wollen. Boccaccios „Decamerone“ als Versteck Lessings Daß Lessing nun aber nicht einen Muslim, sondern einen Juden zum Repräsentanten der reinsten Religion gemacht hat, lag wohl nicht nur an der Freundschaft mit Moses Mendelssohn, der ihm die Gestalt des Frommen und Philosophen vor Augen stellte, wohl auch nicht nur an der erfahrbaren Nähe des jüdischen Glaubensmilieus und der Vertrautheit des studierten Theologen mit der jüdischen Bibel, dem Alten Testament der Christen; es lag zunächst im Kristallisationspunkt seines Dramas, eben der dritten Novelle des ersten Tages des „Decamerone“, deren Held ein Jude ist. Auch bei Boccaccio haben 128 Christentum und Literatur 5 Lessings Werke. Teil 5. S. 51. wir ein fingiertes Religionsgespräch vor uns, aber in der entspannten Weltlichkeit, die in der Frührenaissance möglich war, ungleich radikaler in seiner Aussage und ungleich dichterischer als das des nachreformatorischen Cardanus, denn nicht nur findet Boccaccios Aussage als Erzählung einer Handlung statt; diese Geschichte ist auch das Ergebnis einer dichterischen Figurenkonstellation, die erzählerische Subversion und Tarnung geradezu herausfordert. Der Text begründet in sich selbst, daß er ein Religionsproblem nicht theologisch, sondern dichterisch pragmatisch abhandelt, indem er auf die Rahmenbedingungen verweist, die das Thema gefährlich machen: Ein reicher, deshalb erpreßbarer Jude erzählt dem regierenden, kriegführenden und deshalb geldbedürftigen Sultan Saladin eine Parabel, um dessen Fangfrage nach der wahren Religion auszuweichen, die ihn unter Druck bringen soll. Und des Sultans Sinn für gute Geschichten übersteigt offenbar seine Geldnot und seine Neigung, den Juden zu erpressen. Platz eins und zwei seines Figurenensembles sind also auch bei Lessing für einen weisen Juden und einen ritterlichen Muslim reserviert, beide Vertreter eines relativ vernunftkonformen und stark moralorientierten Monotheismus. Erst Platz drei und folgende in der Phänomenologie der Religionsrepräsentanten - vom intellektuell anspruchslosen, aber herzensklugen und wohlmeinenden Klosterbruder bis zum schwarzen Fanatiker - gehen an Christen. Daß es Lessing in seinem Drama um die Gemeinsamkeit der monotheistischen Religionen gehen würde und damit um wechselseitige Toleranz, eines der großen Themen der Aufklärung und des aufgeklärten Absolutismus, lag nahe, denn Intoleranz hatte ihm ja gerade die kontroverstheologische Auseinandersetzung abgeschnitten und ihn damit aufs Theater verwiesen. Die übrigen Kriterien der Stoffwahl lassen sich beinahe deduzieren, aber gerade das zeigt Lessings dichterischen Instinkt. Die dramatisierte Geschichte war Weltliteratur, hinter deren Kulissen sich Lessing zurückziehen und doch aus ihnen herausschauen konnte. Die Handlung war noch dazu zeitlich und geographisch weit abgerückt. Beides entschärfte die Brisanz des Gegenstandes; immerhin gab es noch eine Zensur. Sultan Saladin war schon seit dem Mittelalter eine legendäre, in vielem positiv besetzte Figur, ein edler Heide, bei Boccaccio vollends einem Märchenmilieu eingebettet. Er ist im „Decamerone“ Sultan von Babylon, und der reiche Jude wird aus dem weit entfernten Alexandria herbeigeholt. Lessing versetzt Saladin an einen seiner historischen Handlungsorte, an dem es tatsächlich zu einem gelebten und zugleich höchst instabilen Nebeneinander der Religionsvertreter gekommen war. Es war das Jerusalem der Kreuzzüge, von Lessing eine „unselige Raserei“ genannt, 5 deretwegen die Christen bei ihm, gewiß dichterisch willkommen, von vorn herein schlecht dastehen. 1187 hatte Sultan Saladin die heilige Stadt Jerusalem von den Kreuzfahrern zurückerobert und 1192 einen Friedensvertrag 129 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ zustande gebracht, der Juden und Christen gewisse Rechte zubilligte und unter relativ duldsamer muslimischer Oberherrschaft ein gebrechliches Nichtkriegsverhältnis der drei Religionen ermöglichte. Das etwa ist die Voraussetzung des Dramengeschehens. Im übrigen ist Lessings Palästina ein Theaterorient ohne dichte historische Beglaubigung und Atmosphäre. Es geht lediglich um die Herbeiführung einer Situation, in der vor dem Hintergrund des stets zum Losbrechen bereiten Fanatismus bis zum Pogrom eine tagtägliche Berührung und ein philosophisch-theologisches Gespräch zwischen Vertretern der verschiedenen Religionen vorgestellt werden kann, an dem schon von der literarischen Quelle her nur ein Muslim und ein Jude teilzunehmen die Ehre haben. Das Christentum, Initiator der Kreuzzüge und damit hauptverantwortlich für das Prekäre der Situation, bleibt also schon von der Konstellation der literarischen Quelle her draußen - zum Vorteil des Dichters, der sich nicht darauf einzulassen braucht, christliche Positionen argumentativ stark zu machen. Das Christentum hat im grundsätzlichen Religionsdisput keine eigene Stimme; es wird zwischen dem Juden und dem Muslim beiläufig mit verhandelt. Der Büchermensch Lessing brauchte die Exempelerzählung des Boccaccio nun nur noch dramatisch zu dynamisieren und als Handlungsbestandteil eines Theatergeschehens zu positionieren. Aber dieses ‚nur‘ war fast alles. Lessings Umbildung der Ringparabel: Skeptische wird aktive Toleranz Die Ringparabel bei Boccaccio erzählt, daß ein reicher Vater, als er zum Sterben kommt, je unter dem Siegel der Verschwiegenheit seinen drei von ihm völlig gleich geliebten Söhnen drei völlig gleich gestaltete Ringe schenkt, von denen aber einer das Original und zwei vom Vater in Auftrag gegebene Kopien sind. Da der Original-Ring, durch Generationen hindurch vom Familienoberhaupt getragen, den Träger zum Erben und Clanchef bestimmt, entsteht nach dem Tod des Vaters der bitterste Streit darüber, wer nun den echten Ring bekommen hat. Dieser Streit ist unschlichtbar - genau so wie der Streit um die wahre Religion. Das läuft bei Boccaccio auf eine indifferentistische Toleranz hinaus. Lessing läßt nun seinen Juden die Geschichte weiterspinnen, und sie gewinnt dabei neue Aussagemomente. Bei Boccaccio soll der Träger des Rings geehrt werden - er verleiht Herrschaft und Reichtum. Bei Lessing hingegen macht der Ring „vor Gott und Menschen angenehm“ (V. 2017). Er verleiht Zuneigung. Die zusätzliche Bedingung dafür ist, daß der Eigentümer in dieser Zuversicht ihn trägt. Es gehört eine bestimmte Gesinnung dazu, daß der Ring seine Kraft bewährt. Man muß an die Wahrheit glauben, damit sie wirkt, damit sie überhaupt erst Wahrheit wird. Von daher kommt dem Richter, vor den bei Lessing die Streitfrage gebracht wird, die Lösung des Problems: 130 Christentum und Literatur Wenn die Ringe schon äußerlich nicht zu unterscheiden sind, muß sich am Besitzer die Echtheit seines Rings erweisen. Derjenige, dem es gelungen ist und gelingt, vor Gott und Menschen angenehm zu sein, trägt den wahren Ring. Wahrheit ist also kein fester und ein für allemal verliehener Besitz, sondern eine Aufgabe; die Wahrheit muß bewahrheitet werden. Das geschieht durch alltägliches Verhalten. Der Liebenswürdige wird geliebt. Die Wahrheit, von der hier die Rede ist, kann nicht theoretisch formuliert und bewiesen, sondern nur praktisch gelebt werden. Deshalb ist das Theater ihr Ort. Die eschatologische Perspektive der Ringparabel bei Lessing Mit dieser Wendung der Geschichte hat Lessings weiser Jude dem verstörenden Faktum, daß es eine Mehrzahl der Religionen gibt, einen tieferen, und zwar heilsamen, Sinn verliehen. Sie ist eine Heilsveranstaltung Gottes, denn sie versetzt den Menschen, wenn er diesen Sinn ergreift, in eine Wettbewerbssituation der Religionen, aber, recht verstanden, nicht als Streitfall, vielmehr als Provokation zur Liebe. Das heißt: aus der negativ begründeten, skeptischen Toleranz Boccaccios ist bei Lessing eine positiv begründete, aktivistische Toleranz geworden. Die Religionen dienen der Vervollkommnung des Menschen. Es muß aber hier auch bereits vorgreifend gesagt werden: Schon in der Ringparabel ist zwar nicht ausgesprochen, aber angelegt, daß der Mensch derart der Bezeugung und Herrschaft Gottes dient. Schließlich stellt Lessing die Ringparabel in eine heilsgeschichtliche Perspektive: Am Jüngsten Tag, verheißt der Richter bei Lessing, wird Gott das Urteil fällen, das den Wettbewerb der Religionen beendet, doch gerade nicht, wie beim Wettbewerb üblich, indem er einer der drei Religionen den Sieg zuerteilt. Alle werden gleich wahr sein, nämlich bewahrheitet durch das Handeln der Gläubigen. Die erzielte Wahrheit aber wird den Wahrheitsentwurf so weit übersteigen, wie eschatologische Hoffnungen durch eschatologische Erfüllungen überboten werden. Wenn alle Ringträger vor Gott und Menschen angenehm sein werden, wird ihre Frage vergessen sein; kommt doch die Frage nach der wahren Religion - als Frage der Privilegierung - von Leuten, die in ihrem Konkurrenzneid vor Gott und Menschen nicht angenehm sein können. Keiner wird am Ende die Wahrheit haben oder auch nur haben wollen, aber alle werden in der Wahrheit sein und leben. Religionsunterschiede sind bloße Akzidentien; Funktionalisierung der Religion Damit sind wir aber auch bei der - auf den ersten Blick - schwachen Stelle der Ringparabel angekommen: Sie bringt zwar ein Argument für die Mehr- 131 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ zahl der monotheistischen Religionen, doch sie übergeht ihre Unterschiedenheit, „bis auf die Kleidung, bis auf Speis’ und Trank“, wie Lessings Sultan Saladin einwendet (V. 1974). Aber diese anscheinende Schwäche ist eine versteckte Pointe. Die Bestimmung „bis auf“ kann zweierlei heißen: die Unterschiede reichen sogar bis zur Kleidung; aber auch: nur bis zur Kleidung. Saladin hat offenbar die Minimierung der Unterschiede im Sinn. Indem er nur äußerliche, kulturelle Unterschiede der Religionen nennt, geht er, während er scheinbar einen gewichtigen Einwand erhebt, genauso wie Nathan über alle tieferen dogmatischen und Glaubensunterschiede hinweg. Sie werden von diesem Muslim und diesem Juden schon jetzt als unwesentlich erachtet, und das wird immer deutlicher hervortreten. Nachdem Nathan statt der unterschiedlichen Glaubensinhalte ein gemeinsames Telos der Religionen - in Nathans Worten „die unbestochne, von Vorurteilen freie Liebe“ (V. 2042) - herausgestellt hat, schreitet er deshalb fort zu einem gemeinsamen Glaubensgrund: Alle drei Religionen sind gleichermaßen geschichtlich überliefert und gründen als Offenbarungsreligionen auf - mit dem Philosophen Lessing zu reden - geschichtlichen Wahrheiten, die, in der Generationenfolge von den Vätern übernommen, der Vernunftkritik und dem Vernunftbeweis unzugänglich sind. So kann das Religionsgespräch, das ja ein vernünftiges Raisonnement aus Anlaß eines „Märchens“ (V. 1890) ist, sie ebenso beiseite lassen, wie es die letzte Konsequenz der Parabel zwar erschließbar macht, aber nicht aussprechen muß: Wenn über tausend tausend Jahre alle drei Religionen gleichermaßen gelernt haben werden, in ihren Bekennern liebenswürdig zu sein, werden sie sich zu einer Religion der reinen Menschlichkeit vereinigen. Und eine weitere Frage hat sich bei Lessing gleich mit erledigt: Da nicht Religionen, sondern nur Menschen liebenswürdig sein können, sind alle Religionsangehörigen auf dem Weg zu diesem fernen Ziel Einzelstrebende, die von Mensch zu Mensch, und nicht von Religionsgemeinschaft zu Religionsgemeinschaft leben, lieben und in der Bewährungsprobe ihrer religiös gegründeten Liebeskraft stehen. Nathans Ringparabel und seine Lebensführung Blicken wir von der Ringparabel her auf Nathans Lebensweise, dann zeigt sich, daß Nathans Handeln seiner Idee der zu bewahrheitenden Liebe voll entspricht, nicht aber seiner Behauptung, ganz im Glauben der Väter zu stehen. Vielmehr bekennt er sich nur nach außen - exoterisch - zum Judentum; im innern Kreis aber - esoterisch - wird deutlich, daß seine Religion schon menschheitlich geworden ist. Im Gespräch mit dem Tempelherrn sucht Nathan einen Gesinnungsgenossen, dem es genügt, ein Mensch zu sein, und dann erst Christ oder Jude. Das Positive der Religionen ist ihm nur ein Kleid, die Rinde der Bäume, eine Schale, weshalb er eben im Gespräch mit Sultan 132 Christentum und Literatur 6 Übrigens formuliert Mendelssohn anläßlich des Lavaterschen Bekehrungsversuchs im gleichen Sinne - ‚Sie sind ein christlicher Prediger, ich bin ein Israelit, ohne unser Kleid sind wir beide Menschen.‘ s. E. Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bde. Berlin 2.A. 1899. Bd. 2. S. 396. Saladin die Unterschiede der Religionen nur als Lebensgewohnheiten, sein Judentum sozusagen als ‚Kulturjudentum‘ auffaßt. 6 Die angenommene Tochter Recha, die als Tochter ja kraft List göttlicher Vorsehung von der Nagelprobe der Beschneidung ausgenommen ist, wird ohne alles Unterscheidende religiös im Sinn einer humanen Liebesreligion erzogen. Schon die Art und Weise, wie Nathan sich vor Saladin zum Glauben der Väter bekennt, zeigt übrigens, daß er zugleich in diesem Glauben und über ihm steht, denn er bekennt sich ja nicht, wie er es seinen Vätern zuschreibt, zum Glauben der Väter, nur weil er der Glaube der Väter ist, sondern er hat ihn als zu bewahrheitende Wahrheit und damit als Mittel zum Zweck erkannt. Er nimmt seine jüdische Religion, wie die Religionen überhaupt, nicht wörtlich und substantiell, sondern funktional. Und das ist ein eminenter Schritt Nathans als Religionsdeuter, ganz unauffällig getan. Hat er ihn überhaupt selbst bemerkt? Darüber sagt er nichts; aber wir nehmen den Fragenkomplex zum Gesamttext des Dramas mit. Nathans Glaubensgespräch mit dem Klosterbruder So viel zur Ringparabel. Meist übersehen, enthält Lessings Drama aber noch ein zweites großes, auf Einverständnis zielendes religiöses Gespräch, das sich genau polar zur Ringparabel verhält, und erst in dieser Polarität gewinnt das Werk sein Gewicht und Gleichgewicht. Auch in dieser zweiten Szene erzählt Nathan eine Geschichte, doch sie hat einen gänzlich anderen Charakter und wird unter gänzlich anderen Umständen erzählt. Das Gespräch Nathans mit Saladin, das durch die Parabelerzählung ausgelöst wird, zielt in den öffentlich-politischen Raum und könnte als religionsphilosophische Begründung der religiösen Toleranzpolitik eines aufgeklärten Monarchen dienen, aber auch - ganz aktuell auf unsere heutige Situation bezogen - der Etablierung eines von den Religionen getragenen Weltethos des kleinsten gemeinsamen Nenners im Sinne von Hans Küng als Antwort auf die bedrohlich heraufziehenden religiösen Fundamentalismen, mögen sie sich nun äußern als christlich verbrämter imperialistischer Weltherrschaftsanspruch von Gods own people, als alttestamentlich unterfütterter israelischer Anspruch auf das gottverheißene Heilige Land oder als Terrorismus im Namen Allahs. Das der Ringerzählung korrespondierende Gespräch Nathans mit dem Klosterbruder, der eigentlich ausgesandt ist, um ihn auszuspionieren, tatsächlich aber ihn vor den Machenschaften des christlichen Patriarchen im Bund mit dem unbedarf- 133 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ ten christlichen Tempelritter warnt, öffnet den Raum der Innerlichkeit der Glaubenserfahrung. Nathan erzählt dem Sultan in taktischer Absicht eine Geschichte, die eine religionsphilosophische Aussage enthält. So erfunden die Geschichte ist, so wenig sagt sie - wie sich zeigen wird - über Nathans Glauben im gelebten Kern aus. Die Geschichte dagegen, die Nathan dem Klosterbruder erzählt, ist erlebt, es ist seine Geschichte, wohl das wichtigste Erlebnis in seiner Biographie überhaupt, und enthält ein völlig unverhülltes Glaubensbekenntnis. Mit der Ringparabel möchte Nathan am liebsten die ganze Welt ansprechen. Die Herkunftsgeschichte des Pflegekinds Recha ist nur für den Klosterbruder bestimmt. Sie spricht die Mitte von Nathans personaler Existenz aus und damit die Kraft, die Nathan überhaupt erst fähig macht, der Liebesreligion der Ringparabel entsprechend zu leben und sie aus dieser Lebenserfahrung heraus als Ethos zu formulieren. Die Wahrheit muß durch Glauben bewahrheitet werden In Nathans zweiter Erzählung hören wir von dem entsetzlichen Pogrom, in dem Christen Nathans ganze Familie umgebracht haben. Seine Frau und sieben Kinder sind in den Flammen umgekommen. Nathan berichtet: […] Als Ihr kamt, hatt’ ich drei Tag und Nächt’ in Asch’ Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. - Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet, Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht; Der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen. - Klosterbruder: Ach! Ich glaub’s Euch wohl! Nathan: Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder. Sie sprach mit sanfter Stimm’: ‚und doch ist Gott! Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan! Komm! übe, was du längst begriffen hast, Was sicherlich zu üben schwerer nicht, Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh’ auf! ‘ - Ich stand! und rief zu Gott: ich will! Willst du nur, daß ich will! - Indem stiegt Ihr Vom Pferd, und überreichtet mir das Kind, In Euern Mantel eingehüllt. - Was Ihr Mir damals sagtet; was ich Euch: hab’ ich Vergessen. Soviel weiß ich nur; ich nahm Das Kind, trug’s auf mein Lager, küßt’ es, warf Mich auf die Knie und schluchzte: Gott! auf Sieben Doch nun schon Eines wieder! (V. 3045-3066) Mit der wiederkehrenden Vernunft im Sturm der Gefühle ist ein Zentralbegriff Lessings und der Aufklärung benannt. Die personifizierte Vernunft 134 Christentum und Literatur sagt Nathan, daß Gott ist und daß alles Gottes Ratschluß ist. Der Kern seines Glaubens ist ein Vernunftglaube an den gütig lenkenden Gott. Doch müssen wir darin die Ungeheuerlichkeit vernehmen. Welch radikaler Glaubensakt gehört dazu, diese Botschaft der Vernunft zu hören, das als Botschaft der Vernunft, diese Fürchterlichkeit als Ratschluß Gottes zu akzeptieren! Von daher kann man auch sagen, die Bedingung des Erscheinens solcher Vernunft bei Nathan sei ein Glaube bis zum ‚credo, quia absurdum‘. Eine solche Zumutung der Vernunft ist es, die Nathan „begriffen“ hat - wieder ein Schlüsselwort aus der Sprache der Vernunft. Trotzdem antwortet Nathan nicht ihrer „sanften Stimm’“, sondern ruft zu dem antwortenden Gott seiner Väter. Sein Begreifen und Erzählen tastet dem Glauben nach; der Glaube läßt ihn handeln. In einem weiteren Schritt will Nathan üben, will das Begriffene tun - sich schicken in Gottes Schickung. „Ich stand und rief zu Gott: Ich will! / Willst du nur, daß ich will! “ Das ist zum dritten Mal ein Schlüsselwort des Stückes. Nathan versteht seinen Willen, seinen Entschluß, sich Gott zu fügen und aufzustehen, als nicht nur gottgewollt, sondern durch Gott ermöglicht, was wiederum einen antizipierenden Glaubensakt impliziert: Nathan unterstellt Gott, daß dieser Nathans Willensentschluß zum Aufstehen will; er wagt es auf diese Zuversicht hin, die einen vorgängigen Willen Gottes noch einmal glaubend vorentwirft. Nathan und Hiob Man könnte nun zwar einwenden, daß Gott dem Nathan ja tatsächlich ein Zeichen seines Willens gibt, indem er ihm in diesem Augenblick das Christenkind durch den Klosterbruder zukommen läßt. Aber auch das muß Nathan als Zeichen nehmen, damit es ein Zeichen wird. Auch damit unternimmt Nathan einen glaubenden Vorgriff. Darin liegt die zu bewahrheitende Wahrheit des Glaubens, die der zu bewahrheitenden Wahrheit der Religionen aus der Ringparabel vor- und übergeordnet ist. Schon die Ringparabel setzt mit der zu bewahrheitenden Wahrheit eine dritte Position jenseits der in Lessings theoretischem Denken vorgefunden Opposition von Geschichtswahrheiten, die lediglich für wahr gehalten, und Vernunftwahrheiten, die ausargumentiert werden können. Beide sind statisch; die durch Praxis zu bewahrheitende Wahrheit ist dynamisch und im Wortsinn hervorgerufen. Der in der Pogromerzählung Nathans sich bekundende aktuelle Glaube ordnet sich erst recht nicht der Alternative zwischen geschichtlichen Gründen und Vernunftgründen zu. Er ist erfahren und ergriffen in der Evidenz Gottes jetzt und hier - als dialogisch. Die Allusion der Pogromerzählung an die Hiob-Geschichte ist unüberhörbar - bis hin zu Nathans merkwürdiger Rede beim Empfang des Kindchens: „Gott! auf sieben/ Doch nun schon eines wieder! “ (V. 3065f.). Alle Kinder, sieben Söhne und drei Töchter, werden Hiob genommen und 135 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ wiedererstattet. In der Hiob-Reminiszenz steckt eine leise Korrektur von Zahlenpedanterie und Patriarchalismus des Alten Testaments. Der töchterlose Nathan nimmt ein Mädchen für seine sieben toten Söhne, Kind für Kind. Vielleicht klingt damit aber in Nathans Hiobzitat auch noch ein weiterer alttestamentlicher Unterton an: Wenn Nathan das Gottesgeschenk Rechas mit den Worten begrüßt: „Auf sieben doch nun schon eines wieder“, wird ihm ein neu geschenktes Kind zum Versprechen auf neue Vollkommenheit und Ganzheit. Symbolisch erweist sich ihm damit das Christenkind Recha als Verheißungsträger, analog zu Isaak, dem einzigen Sohn Abrahams mit Sarah, aus dem das Gottesvolk hervorgehen zu lassen Gott versprochen hat. Hiob erlangt den letzten Glaubens- und Segensstand durch eine unerhörte, bis zur Schmähung Gottes gehende Glaubenskrise. Ähnlich auch Nathan. Aber wo Hiob eine direkte Offenbarung Gottes zuteil wird, gewinnt Nathan Boden echt lutherisch sola fide, im Glauben an Gottes Verheißung. Sein Denken über Gott ist so wenig Frucht einer Religionsphilosophie, daß noch der viele Jahre später erzählende Nathan, statt das Theodizeeproblem zu durchdenken, seinen Glaubensweg reflektiert. Dieser Glaube, der hinter Nathans durch eine Parabelerzählung gewonnener Religionsphilosophie steht, ist nicht funktional; er ist existentiell gründend. Dieser Jude glaubt nicht zum Zweck, ethisch richtig zu leben; er lebt, weil und indem er glaubt. Nathans Glaube unterfängt seine Religion, die Dramenhandlung seinen Glauben Das gesamte Drama bestätigt und erweitert die an der Pogromerzählung gewonnenen Einsichten. Entscheidend ist zunächst in der Szene selbst, daß Nathan durch die Erzählung, oder besser aus der Erzählung die Kraft findet, sich zu einer Wiederholung des einstigen Entsagungs- und Schickungsakts bereit zu erklären und die angenommene Tochter ihren leiblichen Verwandten, also Andersgläubigen, herauszugeben: […] Aber laßt uns länger nicht Einander nur erweichen. Hier braucht’s Tat! Und ob mich siebenfache Liebe schon Bald an dies einz’ge fremde Mädchen band, Ob der Gedanke mich schon tötet, daß Ich meine sieben Söhn’ in ihr aufs neue Verlieren soll: - wenn sie von meinen Händen Die Vorsicht wieder fodert, - ich gehorche! (V. 3073-3077) Nathan lebt nicht in einem sicheren religiösen Besitzstand seit damals, er erbrachte nicht eine Leistung ein für alle Mal. Er findet seinen Weg von Tag zu Tag neu, im Rückbezug auf seinen gründenden Glaubensakt. Sein Glaube ist eine tägliche Bereitschaft, bis zur letzten, für sein Gefühl tödlichen Konse- 136 Christentum und Literatur quenz, die wiederum - nach der Hiob-Reminiszenz - an Abrahams Opfergang mit dem Verheißungsträger und einzigen Sohn Isaak erinnert: „Ob der Gedanke [das einzige Kind herzugeben] mich schon tötet […].“ Umgekehrt ist Nathans Glaube auch täglich gefährdet. Er ist als Träger und Täter des Heils nicht in einem banalen Sinne auf- und abgeklärt. Nathans Parabelerzählung vor Sultan Saladin enthält eine religionsphilosophische Abhandlung, pragmatisch formuliert in Gestalt einer Exempelerzählung. Nathans Bericht an den Klosterbruder ist ein Glaubensbekenntnis auf Grund einer Lebensgeschichte. Nathans Religionsphilosophie empfängt ihr Feuer aus Nathans gelebtem Glauben, der viel tiefer gegründet ist und weiter reicht als sein logisches Denken und sich deshalb auch nicht von ihm übergreifend auf den Begriff bringen läßt. So wenig, wie die dem Lessingschen Drama in toto immanente Glaubenshaltung. Man kann sie nur hermeneutisch interpretierend fassen. Denn Lessing besitzt die Kraft des Dichters, die sich äußert, indem er nicht einfach eine religiöse Lehre mit einer Geschichte illustriert, sondern in der Pragmatik des Dramas selbst das Verhältnis von Argumentation und Existenz reflektiert, und zwar auf drei Stufen: erstens indem er atmosphärisch vergegenwärtigt, daß es jenseits der Worte noch eine Tiefenverständigung zwischen Nathan und Saladin gibt - wollte Saladin dem Nathan nicht wohl, wäre dieser verloren -; zweitens indem Lessing anschaubar macht, daß Nathans Glaube sein religiöses Denken begründet und dessen ethische Funktionalisierung der Religionen im Sinne eines Weltethos weit hinter sich zurückläßt, drittens, indem Lessing Nathans lebensprägenden Glauben im Kontext einer Dramen-Gesamthandlung zu Wort bringt, die noch einmal diesen Glauben umfängt, situiert und beantwortet. Es entsteht in der Dialektik des Dramas eine doppelte Relativierung und Relationierung - der Ringparabel als Religionsphilosophie durch Nathans gelebten Glauben und beider wiederum durch das Gesamt der Dramenhandlung, die an der Stelle einer theologischen Selbstexplikation und Botschaft Lessings steht. Sie macht derweise gesamthaft erst die religiöse Verkündigung des Dramas aus. Diese Konstruktion zeugt nicht nur oder in erster Linie von Taktik, weil der Herzog des Wolfenbütteler Bibliothekars die Fortsetzung der theologischen Polemik mit dem Hauptpastor Goeze nicht wünschte. Sie hat vielmehr auch und vor allem ihren Grund in der Sache. Die Pragmatik des Dramas als Bewahrheitung und Glaubensvorgriff Auch für Lessing selbst gilt, daß Fülle, Tiefe und Dynamik der von ihm angezielten Wahrheit nicht theoretisch, sondern nur pragmatisch hinreichend darzulegen sind: in der Pragmatik des Dramas, die deutende Darstellung entworfener Wirklichkeit ist. Die Dramenhandlung verweist spiegelbildlich auf die Ringparabel zurück, indem die Parabel von der Entzweiung der 137 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ Religionen ausgeht, das dramatische Geschehen aber ihre geschwisterliche Wiedervereinigung vorwegnimmt. Die völlig unerwartete Aufdeckung von weitläufigen Verwandtschaften, die wunderbare Zusammenführung des Auseinanderliegenden, die von weither gesponnenen Zufälle, die auf ein gutes Ende hinauslaufen, sind literarische Trivialmuster. Lessing verwendet dieses Trivialschema aber in einer neuen Funktion. Es dient dazu, eine Welt zu konzipieren, in der eine letztendlich gute Vorsehung - Lessing sagt im Stil der Zeit „Vorsicht“ (V. 3077) - Gottes waltet, die noch das Gräßlichste, das Pogrom, zum Heil wenden kann, aber auch im Glück noch Entsagung fordert - die Geschlechterliebe zwischen Recha und dem Tempelherrn muß sich zur Geschwisterliebe neutralisieren. Die Vorsehung rechtfertigt Nathans Glauben als Gegenzeichnung seines Vorgriffs. „Nathan der Weise“ kann so als heilsgeschichtliches Drama verstanden werden. Es ist vordergründig ein religionsphilosophisches Drama, in letzter Instanz, wie sich noch weiter zeigen lassen wird, ein Glaubensdrama. Dabei sind die Menschen nicht Objekte der Vorsehung im religiösen Weltbild des Dramas. Sonst wäre es nur ein erbauliches Märchen, schon zur Zeit Lessings ohne jede Aktualität. Die Menschen bewähren sich vielmehr als Subjekte des Geschehens. Die Vereinigung der Getrennten schreitet in dem Maße fort, wie es ihnen gelingt, das in der Parabel formulierte Gebot vorurteilsfreier praktischer Frömmigkeit und Nächstenliebe zu erfüllen. Die verwandtschaftliche Beziehung zentraler Personen ist vorgegeben, aber sie muß innerlich nachvollzogen und angeeignet werden, ehe die vorgegebene Beziehung Wirksamkeit und damit volle Wirklichkeit gewinnen kann. Dabei gehört der Protagonist Nathan, der Motor des Geschehens, gerade nicht in die Konfiguration der Blutsverwandtschaft des Stückes hinein. Stattdessen ist Nathans Name - bei Boccaccio heißt der kluge Jude noch Melchisedek - das geistige Siegel auf das Verhältnis von göttlicher Vorsehung und menschlicher Aktivität, denn Nathan bedeutet auf Hebräisch ‚Gott hat gegeben‘. Durch die Namenssymbolik ist auf Gott als den Ausgangspunkt der Gesamtbewegung des Stückes hingewiesen. Wenn Nathan aus seiner tiefsten Verzweiflung aufsteht und zu Gott sagt: „Ich will! willst du nur, daß ich will! “ dann hat Gott diesen seinen Willen schon von einem Anfang her kundgetan, der hinter Nathans gläubiges Argumentieren zurückreicht. Gott will, daß Nathan will, weil Nathan diesen Namen trägt. Gott hat gegeben - Nathans ganzes Leben und speziell das Christenkind, das er ihm in diesem Augenblick als Versöhnungsgeschenk und -aufgabe in den Arm legt. Indem Nathan die Wahrheit des gütigen Gottes bewahrheitet, bewahrheitet Gott die Wahrheit von Nathans Namen, die Nathans Bewußtsein weit vorausliegt und von ihm auch nicht eingeholt wird. Er begreift seinen Namen nicht; er handelt aus ihm. Durch diesen Namen, ein geistiges Zeichen, und nicht durch Zeugung ist er Vater Rechas und wird durch Gesinnung Bruder Saladins. Bei allen anderen Hauptfiguren hat die göttliche Providenz Blutsverbindungen vorgegeben. In 138 Christentum und Literatur 7 Denkbar wäre, daß bei der Namensgebung der Hauptfigur auch eine Allusion an den Propheten Nathan vorliegt, durch den König David eine zentrale Verheißung der jüdischen Heilsgeschichte zuteil wird. Lessings Nathan wäre dann der Prophet einer neuen Heilsbotschaft, wie er in der Abraham-Isaak-Allusion schon untergründig Träger einer neuen Verheißung ist. Beide Verständnismöglichkeiten des Namens schließen einander natürlich nicht aus. Nathans Namen bezeugt sich in letzter Instanz: Gottes Vorgaben sind Glaubensherausforderungen. 7 Das „Projekt“ Liebe. Der letzte Ring als Liebesring der Figuren Diese gesamthaft im Stück verankerte Gottesauffassung darf weder als bloße Metapher des dramatischen Telos, noch einfach als Restbestand der christlich-jüdischen Tradition verstanden werden. Das erste Verständnis entzöge Nathans Dialog mit Gott den Boden. Zu einer Metapher gibt es kein dialogisches Verhältnis. Das zweite Verständnis ließe außer acht, daß der Gott dieses Dramas durch den Dramatiker ein ganz eigentümliches Gepräge erhalten hat. Diese Eigentümlichkeit liegt darin, daß Gott wohl die Voraussetzungen des Geschehens schafft, das Heilsziel aber als Projekt erscheint, dessen Gelingen beim Menschen liegt. Dabei ist zu konzedieren, daß das Problem von Willensfreiheit und Providenz mit diesem dramatischen Modell ebenso wenig logisch gelöst oder lösbar ist wie in allen Theologien und Philosophien. Jedenfalls zeigt sich im Drama die Freiheit des Menschen voll in seiner Fähigkeit, zu lieben, damit zu seinem Erkennen, zur Einsicht ‚ja‘ zu sagen, und zwar in freudiger Bereitschaft, nicht nur auf Grund eines moralischen Gebots. Hier liegt der Quellpunkt der Spontaneität, die sich durch dieses Stück zieht. Weil noch der mit Gott hadernde Nathan sich von Gott geliebt glaubt, kann er Liebe aufbringen. Sie ist eine Leistung, aber eine, die dem Menschen zufließt, indem er glaubt. Das Gebots-, Leistungs- und Vorgriffsmoment der Liebe, zugleich mit ihrem vom Ursprung her religiösen Gebotscharakter, zeigen sich explizit in der meist übergangenen Formulierungsmerkwürdigkeit des bekanntesten „Nathan“-Zitats: „Es eifre jeder seiner unbestochnen, / Von Vorurteilen freien Liebe nach! “ (V. 2041f.). Liebe erscheint hier so ‚vorläufig‘, daß man ihr nacheifern muß, damit sie volle Kraft gewinnen kann. Das Vorurteil stellt still; die Liebe setzt in Bewegung. Nathan strahlt Menschenliebe aus. Ein Liebesband schlingt fortschreitend die Figuren zusammen, in dem sich Vorsehung und Freiheit verflechten, in dem Geben und Nehmen eins werden. Am Ende entsteht ein lebendiger Ring, der neue echte Ring der Ringparabel, indem sich die alten und neuen ‚Religionsverwandten‘ in wechselseitigen Umarmungen vereinigen. Wohlgemerkt: Personen aus verschiedenen Religionen vereinigen sich, nicht die Religionen. 139 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ Eschatologie und Utopie Dieser Liebesring wirkt nicht gefällig und oberflächlich, denn er umfaßt nicht unterschiedslos alle, sondern nur die Menschen guten Willens. Wenn der christliche Patriarch von Jerusalem nie gewürdigt wird, mit Nathan zusammenzutreffen, ist das Gottes innerweltliches Gericht über diesen finsteren Fanatiker. Vor allem aber ist durch die Erinnerung an das Pogrom das Bewußtsein wach gehalten, wie gefährdet die Welt durch Haß ist, wie gebrechlich ihre Balance überhaupt. Ein eindringliches Zeichen dafür erfindet Lessing, indem er den Beginn des Stückes markiert durch den gleichen Schrecken, den Nathan schon einmal durchleiden mußte. Einst sind ihm Frau und Kinder durch Christen verbrannt worden; jetzt ist seine Recha durch Feuer am Leben bedroht gewesen, und Nathan reagiert auf diese Nachricht bei der Rückkehr von einer langen Geschäftsreise nicht weise, sondern fast panisch. Im gräßlich-komischen Refrain des Patriarchen: „Tut nichts! der Jude wird verbrannt! “ (V. 2546) äußert sich gleichfalls die ständige Präsenz des in Flammen wütenden Pogroms als Möglichkeit. Immer und überall steht alles auf dem Spiel. Saladin hätte den gefangen genommenen Tempelherrn töten lassen können - es lag sehr nahe. Der Klosterbruder hätte das Spiel des Patriarchen mitspielen können. Und was, wenn Nathan damals verzweifelt wäre? Wenn er die Darbietung des Christenkinds als Hohn einer teuflischen Macht empfunden hätte? Sein Freiheitsakt, eine Art geistiger ‚Auferstehung‘ aus seiner Passion, hat die Welt für diesmal gerettet, und dieser Entschluß forderte das letzte von ihm. Hier ist das Stiftungsgeschehen für den Vorsehungsglauben und die Liebesreligion des Stückes. Und noch der Dramenschluß bleibt ja in der Geschichte, ist nur ein Wimpernschlag des Friedens in ihren sich fortwälzenden Umschlägen und Katastrophen. Dem gebrechlichen Frieden in Jerusalem folgt neues endloses Kriegsgeschehen in Palästina und im vorderen Orient bis in unsere Tage. Die wechselseitige Umarmung der Figuren aus den drei Religionen beim Fall des Vorhangs läßt die Handlung zum lebenden Bild gerinnen. Es entsteht ein Tableau mit eschatologisch-utopischem Horizont, ein aus dem Fluß des Geschehens herausgehobenes Sinnbild der Vollendung und Vollkommenheit, das keine Erfahrung, sondern eine Glaubenshoffnung zum Ausdruck bringt, die das Stück zu pflanzen unternimmt. Die Erziehung des Menschengeschlechts und das Prinzip Glaubensvorgriff Nathans Programm einer Bewahrheitung der Wahrheit wird im Drama durch Praxis bewahrheitet. Lessings philosophisch-theologische Theorie der Wahrheit wird in der Pragmatik seines Dramas überstiegen, die wiederum nicht 140 Christentum und Literatur einfach sagt, was ist oder war, sondern anzielt, was wahr werden soll. Indem die Dramenhandlung bestätigt, was Nathan glaubt, und damit auf ein Geschichtsziel vordeutet, erweist auch sie sich als Ausdruck eines impliziten Glaubensakts, der auf ein Publikum übergreifen will - gemäß Lessings Dramaturgie nicht nur auf seine Einsicht, sondern auch auf seine Emotionalität. Diese Anlage des Dramas ähnelt der Struktur der zeitlich benachbarten Spätschrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780), wo das heilsgeschichtliche Modell einer durch Vernunft anzueignenden und in sie aufzulösenden Offenbarung entwickelt wird. Der Glaube hört im Wissen auf. Aber auch dort ist genau diese Zuversicht ein Glaube auf Zukunft hin, in sich selbst kein Wissen; auch dort ist das eine erst noch zu bewahrheitende Wahrheit. Lessings Apostrophe, man könnte sagen: sein Gebetswort in § 91: „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! “ hat ähnlich stiftenden Charakter wie Nathans: „Ich will! willst du nur, daß ich will! “ Man könnte einwenden, es handele sich hier zwar formal um eine Gebetswendung an die Vorsehung, aber das sei nur eine stilistische Figur, die sich daraus ergibt, daß die Zukunft eben noch offen steht. Dagegen verweise ich kontrastiv auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie. Auch Hegel philosophiert ja in einer Situation der noch offenen Geschichte. Aber vom Standpunkt eines im Kopf des Verfassers zu sich selbst gekommenen Weltgeists aus beansprucht er trotzdem ein Wissen vom Ziel der Geschichte, wo Lessing die Perspektive eines Geschichtsglaubens eröffnet. Die jüdische Verankerung Nathans und das Aufklärungsthema Theodizee Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ gibt auch Veranlassung, noch einmal die Frage aufzugreifen und zu vertiefen, warum Lessing gerade einen Juden zum Helden seines Religionsdramas, sozusagen zum Erzieher des Menschengeschlechts macht. Der eben zitierte religionsphilosophische Essay greift darauf zurück, daß Gott sich das jüdische Volk zum Erzieher der Völker auserwählt hat (§ 8). Nathan, ein Vertreter des Volks, das Gott auserwählte, seine erste Offenbarung zu empfangen, ist in Lessings Drama auserwählt, Gottes letzte heilsgeschichtliche Offenbarung glaubend anzuvisieren. Beide Male gilt: Der von Gott Erzogene erzieht (vgl. § 18). Aber er erzieht bei Lessing so, daß er den Vorwurf des Tempelherrn im Drama entkräftet: Die Juden hätten zuerst ein hochmütiges Sendungsbewußtsein ausgebildet, das dann auch in den anderen Religionen Wurzeln geschlagen habe. Durch Nathan wird dieser Anspruch kassiert: Er wird und ist der Auserwählte, indem er diesen Anspruch nicht geltend macht, indem er stattdessen vielmehr eine Gleichheit im Streben der Gläubigen der verschiedenen Religionen postuliert und vorlebt. Nathans Humanitätsreligion in der Ringparabel 141 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ 8 s. u.a. J.B. Metz: Theologie als Theodizee. In: W. Oelmüller [Hg.]: Theodizee - Gott vor Gericht? München 1990. S. 103-118. Zu meiner These s. G.K.: Theodizee als biblisch erzählte Geschichte. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche. 102. Jg. 2005. S. 115-142. Zu meinem Hiob-Verständnis s. G.K., Hans-Peter Mathys: Das Buch Hiob. Dichtung als Theologie. 2006. (= Biblisch-theologische Studien 81). hält nichts von einem auserwählten Volk. Aber sein Glaube reicht denn doch punktuell in die Tiefe jüdisch-christlicher Heilsgeschichtsdeutung, und das gerade gibt auch der Figur ihre Vielschichtigkeit und ihrem impliziten Judentum seine Ausstrahlung. Denn die jüdische Bibel ist ja in ihrem Auserwählungsdenken keineswegs plan. Sie ringt ja in immer neuen Anläufen um den heilsgeschichtlichen Grundgedanken des jüdischen geschichtlichen Selbstverständnisses, daß Auserwählung, Leiden und Stellvertretung im Kern zusammengehören. Und gerade hiervon spricht auch ein Etwas in Nathan, wenn er sich in seiner tiefsten Erschütterung auf Abraham und Hiob in ihrem personalen Gottesverhältnis und in ihrer Versuchung zurückbezieht. Abraham in der Versuchung zum Isaak-Opfer und Hiob sind Zentralgestalten jüdischen Selbstverständnisses als leidende Gerechte. Diese Identifikationen kommen sozusagen aus dem religiösen Rückenmark der Figur, aber auch aus dem religiösen Rückenmark Lessings, der Nathan so reden läßt. Der Hiob-Bezug Nathans ist aber auch der Verschränkungspunkt zwischen der Programmatik einer zu lebenden Humanitätsreligion und einer Theodizee-Handlung und darin wiederum der Punkt, wo die alttestamentlichjüdische Verankerung Nathans und die aktuelle Aufklärungsthematik wie Vorder- und Rückseite einer Münze zusammengehören. Abgesehen vom Psalm-Zitat des sterbenden Jesus am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? “ (Ps 22) ist Hiobs betende Anklage Gottes, die seine Frage nach dem Leid seines Lebens zur Frage nach dem Leid der Welt radikalisiert, die eindringlichste biblische Formulierung der Theodizee-Frage. Es ist zugleich die Frage, die im Jahrhundert der Aufklärung seit Leibniz’ „Theodizee“ von 1710 mit epochaler Dringlichkeit neu gestellt wird, zusätzlich nochmals angestoßen durch die europaweite Erschütterung bei der Erdbebenkatastrophe von Lissabon 1755. Bei Leibniz ist es noch metaphysische Vernunft, die Allmacht, Allwissen und All-Liebe Gottes auf den Prüfstand stellt. Im parodistischen, das Problem destruierenden „Candide“-Roman Voltaires von 1759 ebenso wie in Lessings dekonstruktivem emphatischem Drama bekommt pragmatische, praktische Vernunft das Wort. In der Art, wie sie spricht, zeigt sich bei Lessing ein Wissen aus jüdisch-christlichem Erbe, daß das Theodizee-Problem nur pragmatisch-heilsgeschichtlich, nicht aber philosophisch, gelöst werden kann. 8 Daß Lessings „Nathan“ die Verkündigung und Praktizierung einer pragmatischen Humanitätsreligion in eine Theodizee- Handlung einbettet, gibt dem Drama seine Reichweite und Tiefendimension. 142 Christentum und Literatur Das Testament des Johannes Ich habe Lessings „Nathan der Weise“ als Toleranzdrama gelesen, das auf eine Versöhnung der monotheistischen Weltreligionen hinzielt, aber auch als dramatisches Glaubensbekenntnis, das diese Toleranzidee erst grundiert und in dieser Weise ermöglicht. Daß Lessings weiser Jude Nathan bei allem Weltethos doch in seinem Glauben verborgene und zukunftsweisende jüdische Wurzeln aufweist, ist gezeigt worden. Daß der Theologensohn Lessing diese jüdischen Wurzeln durch das Medium christlicher Prägung wahrnimmt, liegt auf der Hand. Nathans Gott ist kein unbewegter Beweger, er ist ein personales Gegenüber, und der christliche Gott hat das mit ihm gemein. Nathans Liebesbotschaft geht mit ihrem Gebotscharakter ins Alte Testament zurück. Diese Liebesbotschaft wird aber doch erst in Christus mit letzter Entschiedenheit zum Kern der Verkündigung. Das fleischgewordene Wort des Johannes ist die fleischgewordene Liebe Gottes zu seinem Menschen. Lessing stellt sich in diese Konzentrationsbewegung, wenn er am Schluß seines ersten Briefes „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ den Wunsch äußert, „Möchte doch alle, welche das Evangelium Johannis trennt, das Testament Johannis wiedervereinigen.“ Damit verweist Lessing auf das gleichzeitige kryptische Gespräch „Das Testament Johannis“ (1777). Hier erinnert er die Anhänger des Neuen Testaments, in denen das Salz der Erde „ein wenig dumpfig geworden“, an das letzte Vermächtnis des uralten Apostels und Evangelisten, das nach legendärer christlicher Überlieferung nur noch aus einem Imperativ bestand: „Kinderchen, liebt euch! “ Ist „Nathan der Weise“ ein christliches Drama? An keiner Stelle aber enthält das gedichtete Glaubensbekenntnis des „Nathan“-Dramas Aussagen zur Erlösungslehre des Christentums, gar in der konfessionellen Fassung des Luthertums, woher Lessing ja kommt. Wenn ich meine individualisierenden Interpretationsergebnisse generalisiere, stellt sich in Lessings Drama ein monotheistischer Vorsehungsglaube jüdisch-christlicher Herkunft dar, der den Menschen mit einem Liebesgebot in Anspruch nimmt. Gerade weil dem so ist, ist die Herabstufung der Repräsentanten des Christentums in diesem Stück, die ich schon eingangs angesprochen habe, nicht einfach Ranküne. Islam und Judentum können sich durch Sultan Saladin und Nathan in ihrem Offenbarungsgehalt andeutungsweise aussprechen. Den Repräsentanten des Christentums gibt Lessing keine Gelegenheit, substantiell von spezifischen Offenbarungsgehalten des Christentums zu sprechen, und weil sie in diesem Punkt von der Dramenkonzeption her zur Stummheit verurteilt sind, kann sich ihre religiöse Haltung nur negativ äußern. Soweit sie positive menschliche Züge tragen, tragen sie diese un- 143 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ 9 Woran glaubt, wer nicht glaubt. Wien 1998. S. 92. abhängig davon, daß sie Christen sind, durch Gemeinsamkeiten mit den reifsten Vertretern des Judentums und des Islams. Bei alledem aber ist festzuhalten, daß Lessings Drama eine Welt-, Menschen- und Religionsdeutung gibt, die eine Deutung aus Glauben ist. „Nathan der Weise“ ist ein Meilenstein und Wendepunkt in der Wirkungsgeschichte des Christentums seit der Aufklärung. Ob das Stück in seinem dichterisch hervortretenden Glauben vom Christentum in Anspruch genommen werden kann, ist eine Frage, die den Blick noch einmal ausweitet auf die Geschichte des Protestantismus zur Zeit Lessings und seither. Daß es keine Christologie im Sinne des apostolischen Glaubensbekenntnisses enthält, ergibt wenig Unterschied gegenüber der Aufklärungstheologie und dem späteren Kulturprotestantismus, denen ja auch Inkarnationstheologie und Kreuzestheologie hinter dem Menschheitslehrer der Liebe Jesus Christus verschwunden sind. Da diese Aufklärungstheologie Lessings Polemik noch stärker auf sich gezogen hat als die Orthodoxie seiner Zeit, ist allerdings kaum anzunehmen, daß er sich gern auf dieser Seite eingeordnet gesehen hätte. Weil mir Kompetenz und Raum fehlen, auf die Gesamtproblematik einzugehen, ziehe ich mich wie Nathan vor Saladin auf eine fingierte Geschichte zurück, die mir ein starkes Beurteilungskriterium zu enthalten scheint, obwohl oder auch gerade weil sie von einem bekennenden Nichtchristen stammt. Der große Linguist und Autor Umberto Eco schreibt dem Erzbischof von Mailand, Carlo Maria Martini: „Versuchen Sie einmal, Carlo Maria Martini, […] wenigstens für einen Augenblick die Hypothese zu akzeptieren, daß es Gott nicht gebe. Daß der Mensch durch einen Irrtum des täppischen Zufalls auf der Erde erschienen sei, nicht nur seiner Sterblichkeit ausgeliefert, sondern auch dazu verurteilt, ein Bewußtsein zu haben, mithin als das unvollkommenste aller Wesen […] Dieser Mensch würde nun, um den Mut zu finden, auf den Tod zu warten, notgedrungen ein religiöses Wesen werden, er würde sich bemühen, Erzählungen zu ersinnen, die ihm eine Erklärung und ein Modell liefern könnten, ein exemplarisches Bild. Und unter den vielen, die er sich ausdenken könnte - manche strahlend, manche erschreckend, manche pathetisch tröstlich -, hätte er in einem bestimmten Moment, wenn er zur Erfüllung der Zeit gekommen ist, die religiöse, moralische und poetische Kraft, das Modell des Christus zu konzipieren, das Modell der universalen Liebe, der Vergebung für die Feinde und des zur Rettung für die anderen geopferten Lebens. Wenn ich ein Reisender aus einer fernen Galaxie wäre, und vor einer Spezies stünde, die sich dieses Modell zu geben gewußt hat, würde ich überwältigt ihre enorme theogone Energie bewundern und würde diese jämmerliche und niederträchtige Spezies, die so viele Greuel begangen hat, allein dadurch als erlöst betrachten, daß sie es geschafft hat, sich zu wünschen und zu glauben, dies sei Wahrheit.“ 9 144 Christentum und Literatur Von dieser nichtchristlichen Charakterisierung des Christentums her gesehen - die sich übrigens selbst der jüdisch-christlichen Denkform der Erfüllung der Zeit bedient -, ist „Nathan der Weise“ zwar Ausdruck eines Glaubens, damit Rückbindung, religio. Aber dieser Glaube ist nicht christlich. Natürlich sagt es nichts über den Rang von Lessings dichterischer Weltdeutung im „Nathan“, ob wir dieses Drama als christlich oder nichtchristlich bezeichnen. Es ist so oder so ein Bestand der Weltliteratur, und sein Ort in der epochalen Konstellation läßt sich mit hinreichender Genauigkeit und, wie ich hoffe, Intersubjektivität durch historische Interpretation herausarbeiten. Nachtrag Ich kann mir schwer verzeihen, daß ich die seit meinem ersten „Nathan“- Aufsatz (s. Anm 1) erschienene profunde Monographie von Karl-Josef Kuschel (Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam. Düsseldorf 1998) erst während der Drucklegung dieser Studie zur Kenntnis genommen habe. Wo ich nur einige Koordinaten der geistigen Zeitsitation andeute, erschließt Kuschel differenziert das zeitgenössische Umfeld, in dem Lessing sich bewegte, und zugleich weit ausgreifend die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, in die Lessing eingreift. Hier bleibe ich weit hinter ihm zurück. Wenn ich trotzdem meinem Essay ein Recht einräume, dann deshalb, weil meine Fragestellung sich im „Nathan“ zentriert, während Kuschel dieses Werk zwar als Hauptquelle, aber doch als Quelle neben anderen im Kontext einer übergreifenden Fragestellung verwendet. Diese Fragestellung richtet sich auf Lessings Beitrag zu einer Neubewertung des Islam im Gesamtzusammenhang der Religionsgeschichte seiner Zeit. Sie steht im Zuge einer „interkulturellen und interreligiösen Verständigungsarbeit im Rahmen der ‚Stiftung Weltethos‘“ (S. 350). Mit diesem Erkenntnisinteresse im Dienst einer Wirkungsabsicht ebnet Kuschel Lessings literarisches Kunstwerk „Nathan der Weise“ abermals - wie schon bis dahin in der Theologie häufig - zu einer „im Gewande der Literatur präsentierten Religionstheologie“ ein (S. 344), und er richtet wiederum - ähnlich wie Hirsch und andere Theologen - die Hauptaufmerksamkeit auf die Ringparabel, genauer gesagt, ihren religionsphilosophisch-ethischen Gehalt. Dagegen versuche ich, „Nathan“ primär als Drama ins Auge zu fassen und seine dramatische Gesamtstruktur theologisch zum Sprechen zu bringen mit dem Ziel, in seiner Spezifik als Kunstwerk den letzten theologischen Horizont nicht nur dieses Werks, sondern Lessings überhaupt auszuleuchten. Denn er war ja nicht nur ein begrifflich argumentierender Denker, sondern ein auch aus der Tiefe des Unbewußten gestaltender Dichter, dessen Dichtung noch reicher sein kann als sein Bewußtsein. Dieser Reichtum liegt für mich vor allem in einer nur im Drama so entfaltbaren Dialektik von Religionsphilosophie und gelebtem 145 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“ Glauben und dem Glaubenskonzept einer glaubend vorergriffenen, handelnd zu bewahrheitenden Wahrheit, die über die philosophische Unterscheidung zwischen Vernunftwahrheiten und historischen Wahrheiten hinausliegt und auch in seiner „Erziehung des Menschengeschlechts“ von „Nathan“ her spurenhaft erkannt werden kann. In der Zone der Weltdeutung durch dichterische Darstellung siedele ich auch meine Suche nach spezifisch christlichen, jüdischen und aufklärerischen Elementen und ihrer Konstellation bei Lessing an. Als „Liebhaber der Theologie“, als der mich Karl-Josef Kuschel mit Lessings Formulierung sehr wohlwollend gelten lässt (S. 346), suche ich in Lessings Drama den theologischen Horizont, als Literaturwissenschaftler beharre ich darauf, diesen theologischen Horizont am weitesten gespannt in der dramatischen Gesamtgestalt von Lessings größtem sprachlichen Kunstwerk zu finden. 1 Festvortrag zur Jahrestagung der Raabe-Gesellschaft am 7. September 1996 im Ratssaal der Stadt Holzminden. Erlösung Tod Eine Unterströmung des 19. Jahrhunderts in Raabes „Unruhige Gäste“ und Meyers „Die Versuchung des Pescara“ 1 Brangänes Vertauschung von Liebestrank und Todestrank in Wagners Tristan und Isolde beruht auf dem Irrtum, Liebe und Tod seien Oppositionen. Tatsächlich ist der Liebestrank ein Todestrank, und erst recht der Todestrank ist ein Liebestrank. Radikal betrachtet, ist das Elixier höchster Lebenssteigerung ein Gift, das die Liebenden der Qual des Taglebens, dem Wahn, dem Trug, der Verstrickung, dem Verrat an den anderen und durch die anderen ausliefert. Der Liebesgifttrank schickt Tristan und Isolde auf einen verhängnisvollen Umweg zur Erlösung. Sie liegt in der rauschhaften Entgrenzung durch den Tod, in dem sich die Entgrenzung durch die Liebe verewigt und aufs höchste steigert. Der Todestrank hätte den Augenblick des Todes und des Durchbruchs zur wechselseitigen Liebeserkenntnis und Liebeserfahrung für Tristan und Isolde in eins fallen lassen; sie wären ohne Schuld, ohne Trennungen, ohne List und ohne Leid in die unendliche Erfüllung gegangen, die zugleich ein unendliches Vergessen und eine unendliche Auflösung ist. Wie immer wieder bemerkt, trägt Wagner mit Tristan und Isolde, uraufgeführt 1859 im Münchner Hoftheater, eine Konzeption der Frühromantik über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus, dem synkretistischen Zeitalter entsprechend in einer Vermischung, mit anderen Weltanschauungselementen vor allem aus dem Buddhismus und der Philosophie Schopenhauers, aber auch Feuerbachs, die zur Unschärfe der Konturen und einer Verdünnung der inhaltlichen Bestimmungen führt. Partienweise scheint die Nähe zu den sechzig Jahre älteren Hymnen an die Nacht von Novalis (Erstdruck 1800) mit Händen zu greifen. Hier wie dort findet eine Umwertung der Werte statt. Das Tagleben, die Tagwelt im Zeichen der Sonne ist eine Sphäre des Leids; die Nacht öffnet den Raum des Todes, der in Wirklichkeit das eigentliche Leben ist, die Sphäre der Intensität, der Entgrenzung und Vereinigungen, des Rauschs. Sowohl bei Wagner wie bei Novalis fallen Liebe und Tod zusammen. 147 Erlösung Tod 2 Zu meiner Interpretation der „Hymnen an die Nacht“ vgl. Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen, Frankfurt am Main und Leipzig 2 1996, Bd. 1, S. 534-551. Allerdings ist bei Novalis Christus der Herr des Todesraums, der bei Wagner als Erfüllungsbereich gänzlich leer ist. Dieser Christus der Hymnen an die Nacht ist höchst vieldeutig in seinem Verhältnis zur christlichen Tradition: Der nächtliche Christus des Novalis, dem Dionysisches einfließt, impliziert zunächst einmal eine Umkehr der Symbolwertungen des Christentums, denn der traditionelle Christus ist das Licht in der Finsternis, die Gnadensonne, welche die Nacht der Sünde und des Todes besiegt. Der christliche Christus ist zugleich der Heilsträger, dessen Auferstehung als Sieg über den Tod vorgreift auf die Abschaffung des Todes in der endzeitlichen Schöpfungsvollendung. Damit fällt gemäß christlicher Eschatologie die Opposition von Leben und Tod dahin, und auf den ersten Blick ähnliches vollzieht sich bei Novalis. Die Opposition von Leben und Tod löst sich mit allen strukturierenden Oppositionen der Tagwelt auf. Im Grund ist in den Hymnen an die Nacht der Tod das Leben, und es wird kein Gegensatz zwischen ihnen mehr sein. Trotzdem ist der Unterschied dieses Christusreichs des Novalis zu dem der Kirche und der Theologie grundsätzlich, weil biblisch Tag und Nacht im Leuchten Gottes aufgehoben werden (vgl. Jes 60,19f. und Apk 21,23; 22,5) und der Tod im Leben; bei Novalis aber umgekehrt der Tag letztendlich in der Nacht und das Leben im Tod aufgeht. Die Vorzeichen für das Ende der Trennungen sind entgegengesetzt. 2 Wie kommen wir nun von dieser hier nur in Grobzeichnung gegebenen Position zu Autoren aus der Epochenströmung des sogenannten Realismus wie Wilhelm Raabe und Conrad Ferdinand Meyer? Bei aller durch die Forschung immer mehr herausgearbeiteten Brüchigkeit des gängigen Realismusbegriffs - stehen seine Autoren mit ihrer Konzentration auf Geschichte, Milieu, Psychologie nicht der spekulativen Dichtung der Frühromantik und den musikalischen Liebestodekstasen von Tristan und Isolde denkbar fern? Zunächst möchte ich klarstellen, daß es mir hier nicht um biographische Verbindungen oder Einflüsse im engeren Sinne geht. Die von mir hergestellte Konstellation Novalis-Wagner-Raabe-Meyer meint Gegebenheiten im Werk, die vor aller bewußten Bezugnahme und unabhängig von ihr in epochalen Herausforderungen der Kunst und der Künstler begründet sind. Und so gesehen, ist der Gegensatz geringer, als es scheinen mag. Auf den ersten Blick verbindet viele Autoren der zweiten, an der Oberfläche so optimistischen, fortschrittsfreudigen Jahrhunderthälfte bis hin zum Thomas Mann der Buddenbrooks eine pessimistische Unterströmung, in die viel Schopenhauer, später auch Nietzsche einströmt, die aber nicht einfach aus geistig-künstlerischen Einflüssen bestimmt werden kann. Vielmehr ist eine seismographische Empfindlichkeit der großen Schriftsteller und Künstler für die anwach- 148 Christentum und Literatur 3 Zu meiner Interpretation von „Pfisters Mühle“ vgl.: Der Totenfluß als Industriekloake. Über den Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Phantasie in „Pfisters Mühle“ von Wilhelm Raabe. Eine Abschiedsvorlesung. In: Gerhard Kaiser. Mutter Natur und die Dampfmaschine. Ein literarischer Mythos im Rückbezug auf Antike und Christentum. Freiburg i. Br. 1991, S. 81-107. 4 Gertrud Höhler: Unruhige Gäste. Das Bibelzitat in Wilhelm Raabes Roman, Bonn 1969 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 85). Vgl. auch Elisaberh Moltmann-Wendel: Sintflut und Arche. Biblische Motive bei Wilhelm Raabe. Wuppertal- Barmen 1967; Rainer Gruenter: Ein Schritt vom Wege. Geistliche Lokalsymbolik in Wilhelm Raabes „Unruhige Gäste“. in: Euphorion 60 (1966), S. 209-221. Neuerdings Heinrich Detering: Theodizee und Erzählverfahren. Narrative Experimente mit religiösen Modellen im Werk Wilhelm Raabes, Göttingen 1990 (= Palaestra, Bd. 289). Dort S. 92-140 über „Unruhige Gäste“ (über Höhler: S. 95-99). senden Spannungen der Epoche anzusetzen. Sie reichen von den sich potenzierenden Veränderungen der Umwelt durch Technik und Industrie über die wachsenden sozialen Konflikte und die politische Virulenz des Nationalismus bis zu den divergenten, überwiegend vom Christentum sich abstoßenden Entwicklungen in Wissenschaft und Philosophie. Auf dem Boden dieses Pessimismus findet sich sowohl bei Wilhelm Raabe wie bei Conrad Ferdinand Meyer und anderen eine teils offene, teils verdeckte quasi-religiöse Todesverklärung. Sie vollzieht sich oft unter Rückgriff auf christliche, auch christologische, mit antik Mythologischem sich gesellende und vermengende Elemente, die seit Novalis gänzlich säkularisiert sind. Diese biblisch-christlichen und antik-mythologischen Symbolstränge habe ich für Raabe bereits früher an dem 1884 erschienenen Roman Pfisters Mühle gezeigt und in ihrer Funktion für eine radikale Kritik des Romans an der bestehenden Gesellschaft und am naturwissenschaftlich-technisch-industriellen Komplex bestimmt. 3 Jetzt möchte ich mich auf Unruhige Gäste konzentrieren, und zwar auf die Frage, wie in diesem 1886, also nur zwei Jahre später veröffentlichten Roman säkularisierte biblisch-christliche Symbole und Strukturen in den Dienst einer untergründigen Neigung zum Tod als erlösendem Friedensbringer treten. Schon 1969 hat eine hervorragende Dissertation von Gertrud Höhler über Das Bibelzitat in Wilhelm Raabes Roman gezeigt, wie Unruhige Gäste aus Bibelbezügen geradezu gewebt ist. 4 Darüber hinaus enthält der Untertitel Ein Roman aus dem Säkulum einen Schlüsselbegriff christlicher Abgrenzung gegen die Weltlichkeit. Die junge Heldin Phöbe, durch Personenkommentar ausdrücklich auf die Gestalt der Glaubensbotin Phöbe aus dem Römerbrief (Röm 16,1f.) rückbezogen, ist die stille Trägerin von Glaube und Agape, abgewandt von der unruhigen Welt in einem einsamen rauhen Dorf im Hochharz, wo doch auch der von ihr betreute unverheiratete Bruder, der Pfarrer, in einem von Stolz zerfressenem asketischen Christentum lebend, ein unruhiger Gast ist. Aus dem Säkulum, der mondänen Gesellschaft des Modekurorts im Tal, bricht ein Studienfreund des Pfarrers, ein junger, reicher, 149 Erlösung Tod 5 Ich zitiere (im folgenden nur unter Angabe der Seitenzahl) nach Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke. Im Auftrage der Braunschweigischen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Bd. 16. Bearbeitet von Hans Oppermann, Göttingen, 2., durchgesehene Aufl. 1970. Hier S. 217. adliger Juraprofessor und Globetrotter, zu kurzem Besuch ein, eine faszinierende, sensible und kommunikative, aber innerlich orientierungslose Gestalt, die für einen Moment Herz und Gewissensruhe Phöbes verwirrt und auch sie in Unruhe bringt. Einem Einfall folgend, begleitet er Phöbe zum Außenseiter des Dorfs, einem Wilddieb und ehemaligen Zuchthäusler, den die Gemeinde mit seiner typhuskranken Frau in eine abgelegene Hütte verbannt hat und der nun, aus Zorn über die Verstoßung und Ächtung, seine Tote fern dem Dorffriedhof im Wald begraben will. Um den gewaltsamen Zugriff der Polizei abzuwenden, bitten Phöbe und der adlige Professor den Außenseiter um die Revision seines Trotzentschlusses. Doch erst das spontane Versprechen des adligen Herrn, die Tote solle auf seine Kosten von den Dörflern abgesondert einen Grabplatz erhalten, auf dem dereinst auch Phöbe und der Professor ruhen werden, führt den Wilddieb zum Einlenken und zur späteren Rückkehr in die Dorfgemeinschaft. Phöbe fügt sich der Eigenmächtigkeit ihres Begleiters Bielow, empfindet aber seinen Eingriff in ihr Leben und den Vorgriff auf ihrer beider Lebensende als tief fragwürdig. Der Herr von Bielow kehrt ins Tal in die Modegesellschaft zurück, versteht seinen „Schritt vorn Wege“ (der büchmannfähig gewordene Titel eines Erfolgslustspiels von Ernst Wichert aus dem Jahr 1863) bald selbst nicht mehr, wendet sich wieder der von ihm verehrten Schönheit Valerie zu, erkrankt aber nun seinerseits an Typhus und wird nach der Flucht aller Mitgäste und Freunde, auch Valeries, von Phöbe gepflegt. Jetzt ist er unter Quarantäne, wie vorher die Frau des Wilddiebs. Nach der Überwindung seiner Krise kehrt Phöbe in ihr Dorf zurück. Oberflächlich wiederhergestellt, heiratet der Professor Valerie und entflieht mit ihr in das warme Klima Süditaliens, geht aber kränkelnd seinem Tod entgegen. Wie der in Phöbes Dorf wartende Grabplatz der einzige von ihm erworbene Grundbesitz ist, ist eine Grabbeigabe seine einzige namhaft gemachte Erwerbung in Italien, dessen Sonne ihm nicht mehr helfen kann. Sein erstes und letztes Geschenk für Phöbe ist eine antik-christliche Bronzelampe mit einer Gebetsinschrift. Sie nimmt sie an, aber entzündet sie nicht. Ihre Gedanken sind bei den geisteskranken Kindern, deren Pflegerin in der „Idiotenanstalt“ sie einst war, 5 ehe sie die Haushaltsführung für ihren Bruder übernahm. In der Handlungsschicht eindeutig ist Phöbe mit ihrer stillen Gläubigkeit und Liebesfähigkeit die Leitgestalt des Romans, an der das Säkulum gemessen und zu leicht befunden wird. Wie die Phöbe des Römerbriefs hat sie „vielen Beistand getan“. Mehrfach nennt sie der wieder weggegangene Baron Bielow seine Retterin. Sein letzter Brief aus Palermo bezeichnet ihre Sphäre als sein Patmos: den Ort, wo Johannes die Offenbarung empfangen hat (S. 328). Und 150 Christentum und Literatur doch: als lutherische Nonne (S. 274) neben ihrem Bruder, dem lutherischen Mönch (S. 206), ist sie auch eine fragwürdige, ja paradoxe Erscheinung, eine Botin, die immer nach Hause strebt - im Gegensatz zur biblischen Phöbe, „die den Brief des Apostels Paulus von Korinth nach Rom trug“ (S. 190), also wie so viele biblische Gestalten ins Offene und Ungeschützte aufbrach. Phöbe kehrt zurück hinter Mauern (S. 321 und 326), in „ihren unnahbaren Burg- und Gottesfrieden“ (S. 332), während die Wanderschaft in die Weite der Welt an die Repräsentanten der Weltlichkeit, des Säkulums, übergegangen ist. Noch Phöbes Niedersitzen am Ende, um hinter ihren weißen Mauern, die der Winter bald auftürmen wird, fleißig an der englischen und arabischen Grammatik zu sein, ist in sich widersprüchlich: die biblische Phöbe ist ein Bild des unbedingten Aufbruchs - schon weil nichts über die Reisebedingungen gesagt wird; Raabes Phöbe übt den Aufbruch nur theoretisch, im stubenhockerischen Sprachstudium, für die ungeliebte bloße Eventualität einer Orientmission, von der ihr Bruder träumen mag, um sich über seine seelsorgerlichen Mißerfolge in seiner Gemeinde hier und jetzt hinwegzuheben. Das Säkulum ist nicht einfach die Gegenwelt von Phöbes Welt; es umbrandet ihre Glaubensidylle, und auch die Erzählperspektive übergreift sie von draußen her, auch der Erzähler gehört dem Säkulum an, wie sein Roman. Es ist ein Roman aus dem Säkulum im Doppelsinn: über das Säkulum, aus dem Säkulum stammend. Phöbe ist vom Erzähler mit einem Abstand gesehen, der sich nicht aus der Perspektive eines anderen, von dem ihren abweichenden, Welt aneignenden Christentums ergibt. Raabes psychologische Darstellung ist - zumindest an der Textoberfläche - gelassen relativierend, getragen von auktorialer Autorität. Fast gleichberechtigt in seiner verzeihenden Liebesfähigkeit steht neben Phöbe der verdächtige „Kommunist“ Spörenwagen (S. 337). Nicht der Glaube, sondern menschliche Haltungen sind bei Raabes textimmanenten Wertungen letztbegründend. Weisheit und Resignation gehören zusammen: „Spörigkeit“ ist laut dem Grimmschen Wörterbuch „Dürre“. Der weise Spörenwagen ist ein alter Mann, dem der Wilddieb in der Jugend die Liebste, die spätere Typhustote, weggenommen hat. Er hat mit der Lebensfülle und dem Lebensanspruch abgeschlossen. Dementsprechend offenbart sich dem tieferdringenden Blick bei Phöbe eine zweite, der Bibelsymbolik gegenläufige antike Symbolschicht. Nicht zu Unrecht klingt dem klassisch gebildeten Besucher aus dem Säkulum ihr Name zunächst „hold hellenisch“, ehe ihr Bruder den biblischen Beleg beibringt (S. 190). Phöbe, griechisch die Glänzende, ist auch die Schwester des Phöbus Apollo, des Sonnengottes, die jungfräuliche Wald-, Jagd- und Mondgöttin Artemis mit der Mondsichel, die den in Liebe entbrannten Verfolger Aktäon grausam tötet, schon in der Antike zuweilen mit der gespenstischen todbringenden nächtlichen Mondgottheit Hekate vermischt. Eine ganze Zeichengruppe stellt den Gegensatz zwischen Phöbe und dem Säkulum unter diese Opposition. Phöbus Apoll, der Lebenssonne, gehört die Welt draußen, die 151 Erlösung Tod warme bunte Sommerwelt, die südliche Welt Italiens zu. Bielows Geliebte und spätere Frau Valerie (zu lateinisch valere = kräftig, stark sein), die „Zeitlichkeit als Weib“ (S. 270), Frau Welt, steht im Zeichen der Sonne. Ihre Abwesenheit bedeutet Sonnenfinsternis (S. 278). Aber auch für das Säkulum in seiner Haltlosigkeit befindet sich die Sonne, einmal im Text ausdrücklich als „Phöbus Apollo“ apostrophiert (S. 253), nicht im Zenit, sondern im Niedergang. Bielow erlebt Wärme am intensivsten als Fieberglut der lebensverzehrenden Krankheit, und in seinem Fiebertraum erfährt er den Aufstieg mit Valerie zum Vesuv, dem „alten grimmigschönen Feuerberg“, in zwei einander ausschließenden Varianten. Nur in der einen steht er mit ihr auf dem Gipfel: „Festland, Meer und Inseln im Sonnenglanze unter ihnen ausgebreitet, wie ein ihnen beiden erbeigentümlich angehöriges Reich“ (S. 304) - leise klingt noch in diesem Erfüllungsbild die Versuchung Christi im Matthäusevangelium 4,1ff. an: „Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: ‚Dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest! ‘“ Die andere Variante der Fieberphantasie läßt Valerie leicht hinaufschreiten, „während er immer vergeblicher und mit immer ohnmächtigern Gliedern mit dem Wege und der Asche kämpfte. Stöhnend sank er zurück auf sein Kissen und lag leise wimmernd bewegungslos, bis ein ander bunt Fiebergewölk ihn einhüllte.“ (Ebd.) Als es von ihm gewichen und er mit Valerie nach Italien gegangen ist, fröstelt er im Süden. Ein Krankenbefund lautet: „Euer Gast aus dem Säkulum fängt bei sinkender Sonne ganz sachgemäß an, etwas unruhiger zu werden.“ (S. 303). Noch die Abendsonne, in deren Schein Valerie Phöbe auf dem Dorffriedhof mit ihrer Eifersucht quält, ist für Phöbe blendend und peinigend, „wie blutige Flammen im Auge“ (S. 275). Denn zu Phöbe gehört der Norden, der Sturm, die Kälte und Unwirtlichkeit, der Winter, der Schnee, der Schatten, die Nacht. Sie ist ein „kleines melancholisches (melas = schwarz) Frauenzimmer in Grau“ (S. 292). Ein „Nebelheim-Schatten“ liegt, nach Bielows Worten, über ihr (S. 331). Niflheim - Richard Wagner, der andere Todesverkündiger, grüßt herüber - ist in der nordischen Mythologie das Reich des Todes. Man erreicht das Pfarrhaus, das ohne jede Wohnlichkeit und dessen Garten wegen Phöbes Desinteresse vernachlässigt ist - sie hat nichts mit Frucht und Fruchtbarkeit zu tun - über den Friedhof. Er liegt „im Schatten der Dorfkirche“ (S. 198, 216 und 186). Phöbe ist in ihrer mondhaft glänzenden Reinheit auch tot und tödlich, keine Heilsbringerin für die Welt, sondern eine Weltflüchtige. Die beiden im Roman von ihr gepflegten Kranken, die Frau des Wilddiebs und Bielow, der in ihren Bann geraten ist, sterben. Die verbitterte alte Frau, die mit ihr den kranken Bielow gepflegt hat, findet durch Phöbe Frieden, aber es ist, wie so oft bei Raabe, auch bei ihr ein Frieden der Resignation. Im ersten Winter im Hochharzdorf ist Phöbe mit ihrem Bruder so tief eingeschneit, daß beide fast 152 Christentum und Literatur verhungerten, und auch später, als sie Bielow bewirtet, werden auf das Essen keine Gedanken verschwendet. Die ständig hörbare Unruhe der Uhr vom „Kirchturm jenseits der alten Gräber“ (S. 187) ist die Mahnung an das Ziel der Zeitlichkeit, das der Weltmann Bielow im scheinbar zufälligen Grabstellenkauf instinktiv gefunden hat: den Tod. „Una ex his“ steht auf alten Uhren. Diese Todessymbolik in Phöbes Umkreis - ihres Freundes Spörenwagen größte und letzte Liebestat im Roman ist das Zimmern des Sargs als Geschenk für die tote einstige Geliebte - wirkt umso eindringlicher im Kontrast zum biblischen Christus. Er ist das Brot des Lebens und der Reben tragende Weinstock. Lebendiges Wasser geht von ihm aus. Speisungswunder gehören zu seinem Weg. Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht - nach christlicher Auslegung von Jes 9, 2 Christus. Er ist das Licht der Welt, auch wenn die Finsternis es nicht begriffen hat. Phöbe hingegen entzündet das Licht in der Bronzelampe aus dem Grabe nicht. Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht kein Licht. In Phöbes Reich ist die dunkle Ruhe des Todes das Ziel aller Unruhe, so daß die tödliche Phöbe in letzter Instanz denn doch die Heilsgestalt des Romans ist. Denn der Tod ist das Heil. Für Bielow - das zeigt sich von hier aus - ist sie seine „liebe, stille, im Frieden sichere Retterin“ (S. 332 u.ö.), indem sie ihn in die Todesruhe rettet. Phöbes Beiwort „melancholisch“ wandert zu ihm (S. 331). Die Patmosoffenbarung, die ihm durch sie zuteil geworden ist, ist die Offenbarung des Todes. Phöbes hilflose Schützlinge, die Kinder im „Idiotenheim“ Hilalah sind - in einem Wortsinn des griechischen Wortes ‚Idiotes‘ - die unwissenden Armen in „Schmerzhausen“, die Menschen in der Welt, durch die kindlich weise Phöbe zum Todesreigen, zum Totentanz geordnet. Seine Ordnung, seine Harmonie muß abgedichtet werden gegen die Welt als Störfaktor, wie sie Phöbe einmal in Veit von Bielow und in seiner Braut Valerie, der Zeitlichkeit als Weib, bedrohlich geworden ist. „Daß mir keines den Reigen stört; sonst muß ich böse werden! “ Das sind die letzten Worte in Raabes Roman aus dem Säkulum. Die bereits erwähnte Gebetsinschrift auf der Bronzelampe, Bielows letztem Geschenk für Phöbe, lautet „Flaviolus Phoebes Domitillae implorat pacem aeternam“ - zu deutsch: ‚Der kleine Flavius der Phöbe Domitilla erbittet den ewigen Frieden.‘ Bielow übersetzt - beziehungsreich und wohl bewußt falsch: „Der Freund - der Bruder, der Anverlobte der Phöbe erfleht den ewigen Frieden“ (S. 334: vgl. den Kommentar S. 570). Immer wieder bringt Bielow sein Verhältnis zu Phöbe ins Changieren zwischen Geschwisterlichkeit, Freundschaft, Verlöbnis, Grabgemeinschaft. Die christlichen Zeichen Kreuz und Taube auf der Lampe entfalten in diesem Zusammenhang auch eine erotische Anspielung: Die Taube, Zeichen des Heiligen Geistes, ist zugleich der Vogel der Aphrodite. In der Übersetzung der Inschrift stiftet Bielow ein zusätzliches Verwirrspiel zwischen Bruderschaft und Sohnschaft; er unter- 153 Erlösung Tod schiebt sich in versteckter Weise Phöbe als Sohn, denn Flaviolus, der kleine Flavius, ist, wie der gute Lateiner Raabe, der diese Grabinschrift stilgenau erfunden hat, sehr wohl wußte, der kleine Sohn der Phöbe. Symbolisch deutet sich Bielow damit als ‚Kind der Welt‘, das sich Phoebe zur Adoption anträgt; damit sie ihn dem von ihr dirigierten Todesreigen einreiht. Aber Bielows Übersetzungsfreizügigkeit deutet auf ein noch tieferes Geheimnis, das sich als Geheimnis offenbaren will: Der Sohn der Mutter Erde sucht Frieden in ihrem Todesschoß. In der antiken Gräbersymbolik, wie sie Johann Jakob Bachofen veröffentlicht und gedeutet hat, sind Grab und weiblicher Schoß identisch, und das deutet ursprünglich auf den Kreislauf des Lebens. Doch hier, im Roman aus dem Säkulum, sind die Lebenskräfte gestört. Kalte Zeiten kommen herauf. Phöbe ist die jungfräuliche Todesmutter, eine Vexiergestalt der Muttergottes, der Himmelsjungfrau auf der Mondsichel, die Maria von Artemis-Diana geerbt hat (vgl. den Kommentar S. 552). Unruhige Gäste ist also ein von Todessymbolik durchzogener, in einer Gläubigen zentrierter Roman, aber, wie schon Gertrud Höhler festgestellt hat, ein Roman ohne Christus. Raabes Phöbe, die einsame Christin ohne Christus, ist als jungfräuliche Todesmutter durchsichtig auf den Tod als Erlöser, der in die Leerstelle Christi eingezogen ist. Und insofern ist dieser Roman denn doch der Roman einer Glaubensbotschaft, wenngleich keiner christlichen, vielmehr eines weltimmanent bleibenden Todesglaubens. Wie in den Hymnen an die Nacht ist auch in ihm die traditionelle christliche Lichtsymbolik umgekehrt. Die Sonne, statt den Heilsbringer Christus als Gnadensonne zu bezeichnen, ist dem Sonnengott Apoll zugeordnet und sendet dessen verderbenbringende Pfeile, fiebrige Lebenssehnsucht und Unruhe aus. Das Leben ist Verderben, der Tod Rettung, aber die dionysisch-ekstatische Dimension des Todes, wie sie sich in den Hymnen an die Nacht und sechzig Jahre weiter in Tristan und Isolde öffnet, ist in Raabes nochmals fünfundzwanzig Jahre späterem Roman in sich zusammengefallen. Die Verheißung des Todes ist nicht mehr eine rauschhafte und totale Entgrenzung, die Liebeserfüllung und Todeserfahrung identisch werden läßt. Sie ist geschrumpft auf das Versprechen unendlicher Ruhe. Von diesem Ergebnis aus ergibt sich für mich nun doch noch ein Rückblick auf Pfisters Mühle, der über meine 1991 veröffentlichte Deutung hinausgeht und eine eigenartige Kontrastbeziehung beider Romane aufdeckt: Auch Pfisters Mühle kehrt die christologische Sonnensymbolik um, auch Pfisters Mühle hat im Sammelpunkt seiner Symbol-Strukturen eine Leerstelle Christi, und auch in sie tritt der Tod ein. Sehen wir zu: Pfisters Mühle findet heute ein neues Interesse, weil der Roman erstmals in der deutschen Literatur, verflochten mit einer Liebesgeschichte, die hier unberücksichtigt bleiben kann, von einem Umweltprozeß berichtet. Eine Zuckerfabrik wird gerichtlich zum Schadensersatz verurteilt, weil ihre stinkenden Abwässer einen Wasser- 154 Christentum und Literatur 6 Zu diesem Gedicht vgl. Heinrich Detering: Ökologische Krise und ästhetische Innovation. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1992, S. 1-27, hier S. 13-24. lauf zur Industriekloake verkommen lassen. Die Fische werden vergiftet, eine alte Mühle wird durch Algenwachstum verschliert und die mit der Mühle verbundene beliebte Gartenwirtschaft geht an der Geruchsbelästigung zugrunde. In dieser Mühle und Gartenwirtschaft feiert am 24. Dezember eine kleine Gesellschaft von Leuten, die nicht zum Weihnachtsgottesdienst gegangen sind, einen seltsam unheiligen Abend. Gegen Mitternacht steht der erbarmungswürdig heruntergekommene und versoffene Dichter Lippoldes, der genau ein Jahr später volltrunken im Mühlenbach versinken und ertrinken wird, […] auf dem Weihnachtstische in Pfisters Mühle, das graue Haar zerwühlt, das schäbige Röcklein halb von den Schultern gestreift, und deklamierte mit finsterm Pathos: „Einst kommt die Stunde - denkt nicht, sie sei ferne -, Da fallen vom Himmel die goldenen Sterne, Da wird gefegt das alte Haus, Da wird gekehrt der Plunder aus. Der liebe, der alte, vertraute Plunder, Viel tausend Geschlechter Zeichen und Wunder: Was sie sahen im Wachen, was sie spannen im Traum, Die Mutter, das Kind, die Zeit und der Raum! Kein Spinnweb wird im Winkel vergessen, Was der Körper hielt, was der Geist besessen, Was das Herz gefühlt, was der Magen verdaut; Und Tod heißt der Bräutigam, Nichts heißt die Braut.“ (S. 85) 6 Statt den „Aufgang aus der Höhe“ (Lk 1, 78), den Weltheiland, die Sonne der Gerechtigkeit, die Gnadensonne Christus zu verkünden, zelebriert Lippoldes einen schwarzen Hymnus, dessen Anfang die Vorhersage vom Untergang Trojas in der Ilias („Kommen wird einst der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt“, 4, 165f., 6, 468f.) mit dem apokalyptischen Motiv vom Sternenfall (Apk 6, 13: „Und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde“) kombiniert. Hinunter geht es. Eine apokalyptische Hochzeit neuer Art wird gefeiert. Die Hochzeit von Tod und Nichts tritt an die Stelle der Hochzeit des Lammes (also des apokalyptischen Christus) mit dem Neuen Jerusalem (Apk 19, 7 und 21, 2), die in der jüdisch verwurzelten christlichen Apokalyptik die Vollendung des Gottesreichs in der Wiederkehr Christi anzeigt. Dagegen wird hier nicht der Neue Himmel und die Neue Erde gepredigt, nicht der Sieg des Lebens über den Tod und im Tod, sondern mit einem triumphalen Unterton der Weltuntergang. Dieses großartige Gedicht wird im Umfeld des Hauptträgers der Romanhandlung verkündet. Es ist der Pflegesohn des kranken, bejahrten Müllers, 155 Erlösung Tod mit dessen Hilfe dieser seinen Umweltprozeß gewinnt. Der junge Mann hat Chemie studiert und kann deshalb den Zusammenhang zwischen der Zuckerproduktion und der Wasserverseuchung wissenschaftlich nachweisen. Doch er benutzt anschließend die bei seinen Analysen neu gewonnenen Erkenntnisse, um nun selbst eine große Reinigungsfabrik zu eröffnen und mit ihr reich zu werden, deren Umweltschädlichkeit um ein vielfaches die der Zuckerfabrik übertrifft. Dieser Chemiker heißt August Adam Asche. Er ist ein anderer Augustus als Repräsentant einer neuen Art von Weltherrschaft, der Herrschaft des heraufkommenden wissenschaftlich-technisch-industriellen Komplexes. Und er ist zugleich ein dummer August, weil er, die unverbrauchte Natur zerstörend, dem Menschen, und das heißt auch sich selbst, auf lange Sicht das Wasser abgräbt. Vor allem aber ist er ein anderer Adam, erster Mensch einer neuen Welt der Verkehrtheiten, die sich symbolisch darin darstellt, daß so Bitteres und Leidbringendes aus der Produktion von etwas so Süßem wie Zucker fließt. Der biblische Adam ist ein Erdenmann, aus fruchtbarem Lehm gemacht. Asche jedoch meint biblisch den Erdenstaub unter dem Aspekt der Tödlichkeit, der Trauer, der Sünde und Buße. Das Vordringen der Industrie in den ländlichen Raum ermißt sich in Raabes Roman an der zunehmenden Verwendung von „Bockasche“ bei der Befestigung der Wege (S. 76, und Kommentar S. 540) - ein landläufiger Name für Industrieschlacke, in dem man im Zusammenhang dieses Werks die volkstümliche Weisheit von der Bocksnatur des Teufels anklingen hören kann. Dieser neue Adam lernt am Tag Adams und Evas, dem Weihnachtstag, seine zukünftige Frau kennen, mit der er eine ganze Schar neuer Aschenmänner erzeugen wird. Aber Weihnachten ist ja auch der Tag des neuen Adam Jesus Christus, des süßen Jesus in der Krippe, der kommt, um die Welt zu reinigen, zu erlösen und schöpferisch zu erneuern. August Adam Asche ist als ein neuer, aber sehr sündiger, vom Tod überschatteter Adam mit seiner Reinigungsfabrik (Asche ist auch ein alter Rohstoff der Seifengewinnung) auch Kontrafaktur Christi. Er wird den Müller von seinem Leiden an der Zuckerfabrik erlösen, indem er dessen Prozeß gewinnt. Und er wird die Welt ‚reinigen‘, indem er sie chemisch mit seiner neuen Reinigungsfabrik vergiftet. Wenn Christus die Lahmen gehen, die Blinden sehen, die Toten auferstehen läßt, dann kehrt er die durch die Sünde verkehrte Welt eschatologisch ins Heil um. Hier rennt die Welt immer tiefer in ihre Verkehrtheit hinein. Damit ist nun aber auch der zentrale Unterschied zu Unruhige Gäste benannt. Ist Unruhige Gäste der Roman eines innerweltlichen resignativen Glaubens ohne Christus, so ist Pfisters Mühle ein Gesellschaftsroman ohne Glaubenshorizont mit einer Christus-Kontrafaktur im Mittelpunkt. Setzt sich in Unruhige Gäste im Untergrund von säkularer Psychologie und Milieuzeichnung ein Ton der Todessehnsucht durch, so werden in Pfisters Mühle die in Erzählerkommentaren, Figurenreden, Handlungsführung implizierten Hoffnungsmomente durch eine schwarze Symbolik unterlaufen, die einen 156 Christentum und Literatur 7 Ich möchte unterstreichen, daß diese radikale Gesellschaftskritik in ihrer apokalyptischen und negativ christologischen Instrumentierung nicht etwa nur Ausdruck der Figurenperspektive des tragikomischen Pathetikers Lippoldes ist. Sie ist überhaupt nicht primär Ausdruck der bewußten Weitsicht einer oder mehrerer Figuren des Romans, auch nicht des Ich- Erzählers Eberhard. Sie gründet vielmehr in der insgesamt gedichteten Welt des Romans, in der die Figuren sich vorfinden, natürlich auch der ja selber gedichtete Ich-Erzähler. Er ist Bestandteil der Welt, von der er relativ zu sich erzählt. So kann er etwa Emmy ironisieren, ohne zu merken, daß seine Art, Emmy zu ironisieren, hinter seinem Rücken ihn selbst ironisiert. Sein Text enthält eine teils explizite, teils implizite Poetik, aber diese seine Poetik weiß nur ansatzweise von der seit Goethes Dichtung und in Goethes Dichtung entfalteten phänomenologischen Kritik am Dichter, der, indem er sich dichtend auf die Dichtung zurückzieht, die Welt sich selbst überläßt. Der Roman gibt zu erkennen, daß der Erzähler Eberhard die Heimat preisgibt, die er dichtend verklärt, und sich an ihrer Zerstörung als Aktionär beteiligt. Er tut es, indem er Emmy erzählend und schreibend in seine Erinnerung hineinzulocken versucht, statt ihrer Verlockung zur Liebe zu folgen. Weil er davor Angst hat, muß er sie mit lauter verkindlichenden und verharmlosenden Kosenamen belegen. Die Lynkeus-Episode des „Faust II“, die den Sänger die Schönheit der Welt preisen läßt, indessen Mephisto sie zugrunde richtet, stellt szenisch pointiert die Dichter-Problematik dar, die in Pfisters Mühle episch vielfach gebrochen und vermittelt im Weltverhältnis des Ich-Erzählers gegeben ist. Insgesamt ist die gedichtete Poetik des Romans reicher als die Poetik Eberhards, die doch selber schon so reich ist, daß sie noch die poetologischen Gegenpositionen Asches und des Architekten zur Geltung kommen lassen kann. - Die gesamthaft gedichtete Welt des Romans im hier angedeuteten Sinne scheint mir die letzte Integrationsinstanz des Texts zu sein und damit auch der letzte Bezugspunkt der Interpretation. Sie enthält in Pfisters Mühle den Figuren vorgegebene apokalyptische und christologische Zeichen, auf die ich zurückgehe: vorab in der Namenssymbolik August Adam Asches, ferner in zeichenhaften Daten (Weihnachten = Tag Adams und Evas), in symbolischen Verweisungen (apokalyptisch verkehrte Welt: das Süße vergiftet, die Reinigung verschmutzt), in Wortnebenbedeutungen (Bockasche) usw. Im Zusammenhang dieser gedichteten Welt haben die Figurenmeinungen und -äußerungen ihren relativen Ort und bauen sekundär und subsidiär das gesamte apokalyptisch-christologische Verweisungsnetz mit auf. Hierher erst gehört das Weltuntergangsgedicht des Lippoldes, aber hier gewinnt es auch eine eminente Bedeutung, weil es die Gesamtsymbolik des Romans am schärfsten begrifflich artikuliert und weil die Handlung die Untergangsvision der Figur durch deren Untergang beglaubigt. Die gedichtete Romanwelt insgesamt scheint mir auch gegenüber auktorialen Erzählerkommentaren im Text (die in der Ich-Erzählung naturgemäß fehlen), erst recht aber Autorkommentaren von außerhalb des Texts die Letztinstanz zu sein. Mögen auch die Autorkommentare die Programmatik und bewußte Weltdeutung des Autors als Zeitgenossen enthalten, so enthalten sie doch eines nicht, was der Text als ganzer in sich trägt: den vollen Reichtum auch der unbewußten Weltwahrnehmung des Dichters, die das Werk mehrschichtig und spannungsreicher und klüger als die Dichtermeinung macht. Die Dichtung sagt mehr, als was der Autor hat sagen wollen. Sie ist, bei aller Planung, eine Expedition ins Unbekannte. immer weiter sich ausbreitenden Todesschatten über die Welt wirft. Aber dieser Todesschatten verlängert sich nicht ins todessüchtig Religiöse, sondern bleibt radikal gesellschaftskritisch, und die Antichrist-Bildlichkeit, die negative Christologie, nimmt das Christentum lediglich instrumentell als Arsenal starker Bilder in Anspruch. 7 In gleicher Funktion wird die antike Mythologie beigezogen. Der durch die Zuckerfabrik vergiftete Mühlenbach wird mit bitterem Witz „Provinzialstyx“ genannt (S. 148). An der Schnittstelle der 157 Erlösung Tod 8 Vgl. Detering (wie Anm. 4) und Horst Denkler: Wilhelm Raabe. Legende - Leben - Literatur, Tübingen 1989, S. 133f. Ausschließungen - Christologie ohne Religion, Immanenzreligion als Todesglauben ohne Christologie - steht der Autor Raabe, ein von der Bibel begleiteter, ungemein bibelfester Freigeist, 8 den pessimistische Todesschauer überlaufen, in denen von ferne undeutlich Mystik, östliche Weisheitslehren und antike Stoa, Romantik- und Schopenhauerreminiszenzen nachbeben. Hingegen laufen in Conrad Ferdinand Meyers Novelle Die Versuchung des Pescara von 1887, ein Jahr nach Unruhige Gäste, alle Fäden zusammen, die wir bisher gezogen haben: Der Tod ist die Gottheit, die den einzelnen Menschen und die Geschichte zu sich, in sich erlösend heimholt, und Pescara ist sein Messias. Meyers Titelfigur, eine historische, von Meyer frei ausgeformte Gestalt der Renaissance, ist ein Adliger spanischer Herkunft und berühmtester Feldherr Kaiser Karls V. In diesem Amt zur Durchsetzung der Interessen des Reichs gegen die italienischen Partikularstaaten bestimmt, die eine antikaiserliche Liga anstreben, wird er Zielfigur eines Komplotts, das der moralisch fragwürdige Kanzler des Herzogtums Mailand, ein feuriger italienischer Patriot, anspinnt. Der Papst, der wie alle anderen Regierenden in Italien eigensüchtige Interessen verfolgt, bedient sich Pescaras Frau, der römischen Adligen und berühmten Renaissancedichterin Victoria Colonna, um Pescara ein Angebot zu unterbreiten. Er soll den Kaiser verlassen (den Eid will der Papst für ungültig erklären), die Führung des antikaiserlichen Heeres übernehmen und dafür die Königskrone von Neapel erhalten. Ehrgeizig und gleichfalls patriotisch begeistert von der Aussicht auf eine Einigung Italiens durch Pescara, der auf Grund der Verbindung mit ihr auch diesem Land verbunden ist, versucht Victoria, den Feldherrn für die Vorschläge des Papstes zu gewinnen. In der strahlend schönen Gestalt liegt ihm Victoria, die Siegesgöttin, und Italia zu Füßen. Das ist die Versuchung des Pescara, zum nationalen Messias Italiens zu werden. Im Novellentitel steckt zugleich ein Hinweis auf die Versuchung Christi zum Abfall vom Vater und zur Unterwerfung unter den Geist der Finsternis - eine biblische Erzählung, die bereits in Unruhige Gäste eine Rolle gespielt hat. Victorias Unbewußtes ist klüger als ihr bewußtes Ich. Es schiebt ihr, die einige Zeit nach dem entscheidenden Gespräch mit dem Papst zufällig die biblische Versuchungsgeschichte Mt 4, 1ff. aufgeschlagen hat und über der Lektüre in Halbschlaf versunken ist, einen Wachtraum unter: Sie sah den Dämon vor den Heiland treten, welcher das einfache Wort der Treue und des Gehorsams den Sophismen des Versuchers entgegenhielt. Als der Versucher heftiger drängte, deutete des Menschen Sohn auf die Stelle seiner künftigen Speerwunde […] Da wandelte sich das weiße Kleid in einen hellen Harnisch und die friedfertige Rechte bepanzerte sich. Nun war es 158 Christentum und Literatur 9 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 1ff. Bd. 13, Bern 1962. S. 190. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. Pescara, der die Hand über seine durchschimmernde Wunde legte […] Ärgerlich über das Spiel ihrer Sinne, tat sie sich Gewalt an und blickte auf. 9 Der typologische Verweis, der mehrfach durch die teils ironischen, teils pathetischen Reden der handelnden Figuren an anderen Textstellen unterstrichen wird, ist eindringlich: Wie sich Mt 4, 1ff. in den Angeboten des Teufels an Christus die alte jüdische Hoffnung auf ein universales messianisches Friedensreich verzerrt, das auch die Welt umfaßt und ordnet, so verzerrt sich im Angebot des Papstes noch einmal diese Vision ins rein Politische eines italienischen Einigungsbundes, hinter dem sich letztlich nur ein Machtspiel der italienischen Fürsten und Partikularstaaten verbirgt. Die Einheit Italiens unter einem Teilkönig und Parvenü, wie Pescara es in Italien bleiben würde, das kann für sie nur heißen: ein Fürstenbund mit einem Schwächeren als dem Kaiser an der Spitze. Nicht in der Berufung, der weltliche Heiland Italiens zu sein, wie Victoria wähnt, sondern im Widerstand Pescaras gegen den Verrat besteht die Christusparallele. In Victorias Traum greift schon der zweite typologische Christusbezug der Novelle ein: die durchschimmernde Wunde. Der tiefste Kern von Pescaras Standhaftigkeit, ja, seiner Unversuchbarkeit ist eine von ihm in ihrer Schwere und Unheilbarkeit verheimlichte, oberflächlich inzwischen geschlossene, letztendlich, wie er weiß und fühlt, tödliche Verwundung, die er in der Schlacht bei Pavia empfangen hat. Diese Verwundung durch einen lanzentragenden Schweizer Landsknecht heißt „die Seitenwunde“, und neben Victorias visionäre Sicht der Versuchungsgeschichte tritt eine Handlungsepisode, die den christologischen Bezug auch dieser Seitenwunde fast aufdringlich heraushebt: Pescara entdeckt in einem Kloster, das ausgerechnet „Heiligenwunden“ heißt, auf einer jüngst angefertigten Kreuzigungsdarstellung den Schweizer Landsknecht wieder, der ihn in der Schlacht mit der Lanze getroffen hat. Er war das Modell des Malers für den Söldner, der Christus die Seitenwunde beibringt. Der, gleich Christus, zu einem Messianismus der Herrschaft versuchte Pescara steht durch die Seitenwunde in Analogie zum Christus in der Passion. Wie in den Evangelien kommt er als der ganz andere Messias - verborgenoffenbar, herrlich in Leidensgestalt. Aber in dieser Verborgenheit ist er der wahre Heilsbringer Italiens: In sorgfältiger Motivation der Erzählung wird deutlich gemacht, daß die Hoffnungen der Patrioten realpolitisch illusionär, vor allem aber nicht von einem leidenschaftlichen sittlich-politischen Impuls des Volks getragen sind. Pescara formuliert sein Urteil über die Italiener seiner Zeit religiös: „sie heucheln Leben und sind tot in ihren Übertretungen 159 Erlösung Tod und Sünden.“ (Meyer, SW 13, S. 224) Der Wortführer der Intrige, der Kanzler Mailands, ist zwar ein mutiger Patriot und raffinierter Politiker, aber eine im Grunde skrupellose, buffoneske Gestalt. In seiner letzten Schlacht als Feldherr des Kaisers bringt Pescara Frieden für Italien und ein Gericht, in das Gnade verschlungen ist. „Ich werde gerecht und milde verfahren“, sagt er voraus (ebd.). Er stirbt als Sieger an tödlicher Erschöpfung, und nur dieser Tod entzieht ihn der Gegenintrige der spanisch-kaiserlichen Partei, die längst mißtrauisch geworden ist und ihn beseitigen will. In Pescaras triumphaltödlichem, Versöhnung und Frieden mit sich führenden Ende ist der Keim gelegt, den Conrad Ferdinand Meyer Jahrhunderte später als Zeitgenosse der nationalen Einigung Italiens hat aufgehen sehen - ein Vorgang, der ihn ebenso fasziniert hat wie die Einigung Deutschlands unter Bismarck. Nun begründet aber gerade die Überschneidung der Christusparallelen in Pescara einen entscheidenden Kontrast: Christi Versuchung begibt sich vor Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit, lange vor der Passion, wogegen Pescara die Versuchung erst als der in der Passion Stehende erfährt. „Mich […] darfst du nicht gemeint haben, da du von einem Heiland Italiens sprachest, obwohl ich freilich die Seitenwunde schon besäße“, scherzt Pescara bitter mit seiner Frau (ebd., S. 238), noch ehe ihr ein schwerer Anfall des Feldherrn die Augen über seinen wahren Zustand öffnet. Das heißt aber: die Versuchung des Pescara ist nur scheinbar. Der frühere Pescara ist machthungrig, undurchsichtig und wenig bedenklich in der Wahl seiner Mittel. Erst der über ihm liegende Todesschatten entrückt ihn in eine die Menschen bezwingende Überlegenheit, Größe, ja Monumentalität, in eine Unerschütterlichkeit und Unanfechtbarkeit, die selbst das Spielerisch-Tückische in ihm in ein abgründiges Rätsel des Menschen verwandelt. Das Rätsel des Menschen Pescara geht auf und wird überhöht im Rätsel des Todes. Pescara spricht immer wieder von der dunklen Gottheit, die ihm sein Ziel gesetzt hat. Zunehmend deutlicher wird er zur Inkarnation dieses seines göttlichen Herrn, des Todes. In Aufnahme der traditionsreichen Welttheatermetapher setzt er über die Szene, in welcher der Mailändische Kanzler ihn zu gewinnen versucht hat, die Überschrift: „Tod und Narr“ und die Gattungsbezeichnung „Tragödie“ (ebd., S. 215). Als Todesengel erscheint er bei seinem letzten Sturm auf Mailand und, nachdem er gestorben ist und auf dem Baldachin des Herzogs von Mailand liegt, als auf der Garbe eingeschlafener Schnitter. Es ist ein Schnitter, der heißt Tod. Das ist das Ende einer Kette von Schnitter- und Ernteanspielungen, die insgesamt auf die biblische Metapher der Ernte für das Endgericht hinweisen: „Die Ernte ist das Ende der Welt.“ (Mt 13, 39) Der ‚Erlöser‘ Pescara ist durch den Tod, seinen „dunkeln Beschützer“ (ebd., S. 252), erlöst, in dem die Begierden, die Entstellungen, die Kleinlichkeiten des Menschen sich lösen. Und von hier aus gesehen relativiert sich auch die politische Dimension der Novelle, ihr Vorweis auf nationale Einigung und Größe, eines der zentralen Themen des 19. Jahrhunderts. 160 Christentum und Literatur Deutet Pescaras messianisches Handeln vor auf geschichtliche Erfüllungen, so sind die geschichtlichen Erfüllungen ihrerseits infrage gestellt durch die Offenbarung des Todes in Pescara. Der Tod ist bei Meyer der Herrscher der Geschichte und der Geschichten. Der Tod, und der Vorschein des Todes in der Liebesentgrenzung, macht die dichterischen Figuren Meyers monumental. Seine Dichtung ist Monumentalisierung, heroischer Faltenwurf, errichtet ein Todesreich des Schönen, in dem am Ende denn doch wieder Psychologie und Fragwürdigkeit nisten: Ist der Tod das Rätsel, das alle Rätselhaftigkeiten Pescaras löst, so ist umgekehrt doch auch Pescaras Verheimlichung der tödlichen Seitenwunde ein von ihm eingesetztes Mittel zur Politik, und das macht den Tod auch zu einer letzten Maske in den Maskeraden des Menschen. Er gibt Pescara „ewigen Frieden“ (ebd., S. 254), gewiß, und doch zeigt er sich ihm auch für einen Augenblick des Aufbegehrens als ganz anderer, nämlich als „sein Mörder“ (ebd.). Der Tod ist eine facettenreiche, vielgesichtige Erscheinung. In die verwaiste Stelle des liebenden Gottes, wie sie sich in der eschatologischen Symbolik Raabes dargestellt hat, kehrt also auch bei Meyer der Tod ein, zu dessen Messias Pescara wird. Steht in Pfisters Mühle ein Antichrist auf, so bei Meyer ein Todesmessias. Gewiß ist diese Novelle nicht mehr, wie die Hymnen an die Nacht, religiöse Verkündigung. Ihre Glaubensmomente sind noch verhaltener als in Unruhige Gäste; sie bilden einen mitschwingenden Unterton der Todesfaszination im historischen Erzählen, wie denn überhaupt die Epoche des sogenannten Realismus nur noch diffus und untergründig von den Sehnsüchten und Ängsten zu sprechen vermag, die sich bei Novalis oder Wagner so dezidiert äußern. Dennoch gibt es eine eigentümliche Verbindung zwischen Novalis und Meyer: Novalis’ Verkündigung eines Allvermittlers Christus im Allvermittlungsraum des Todes vollzieht sich im Medium einer progressiven romantischen Universalpoesie, die sich wiederum selber als Allvermittlung versteht. Cum grano salis könnte man deshalb sagen, das Medium der Poesie ist bei Novalis auch schon die Botschaft. Auch in seiner gedichteten Poetologie nimmt Meyer demgegenüber eine Rückzugsposition ein. Die Kunst hat bei ihm mit dem Tod gemein, daß sie den Menschen und die Welt in eine letzte Steigerung zu überführen vermag, in der das Leben gleichzeitig intensiviert und abgetötet ist. Auch Meyers gedichtete Poetologie ist eine Rückzugsposition. Die Erlösung Tod kommt am Ende der metaphysischen Feste still daher - wie in seinem vielleicht größten und bekanntesten Gedicht Das Ende des Festes aus dem Jahr 1892, das nicht zufällig Kunst aus Kunst ist, der Platons Gastmahl und das themengleiche Gemälde Anselm Feuerbachs zugrunde liegen. Der Eintritt des Jünglings mit den schlanken Flötenbläserinnen läßt momenthaft das Lebensfest aufleuchten, aber dieses Bild geht sofort unter in der Pause zwischen den Strophen, der Leere und dem Schweigen: 161 Erlösung Tod 10 Ebd., Bd. 1. S. 191. Meine Interpretation in Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik (wie Anm. 2), Bd. 2. 5. 117-121. Da mit Sokrates die Freunde tranken Und die Häupter auf die Polster sanken, Kam ein Jüngling, kann ich mich entsinnen, Mit zwei schlanken Flötenbläserinnen. Aus den Kelchen schütten wir die Neigen, Die gesprächesmüden Lippen schweigen, Um die welken Kränze zieht ein Singen … Still! Des Todes Schlummerflöten klingen! 10 Bei Novalis und Wagner kommt die Erlösung Tod pompös und rauschhaft daher. Bei Meyer muß man es wissen, daß der Jüngling Alkibiades eine dionysische Figur ist und die Flöte das Instrument des entgrenzenden, darin todesnahen Rausches. Novalis und Wagner trumpfen metaphysisch auf. Das ausgehende 19. Jahrhundert senkt Todesschatten in Bilder detailgesättigter Wirklichkeit ein. Das Expositionsgespräch der „Versuchung des Pescara“ findet in einem Saal statt, dessen Deckenfresken ein Bacchanal und ein Speisungswunder Christi zu Pendants anordnen. Auf das Bacchanal geht die Erzählung nicht weiter ein. Das Speisungswunder ist beschrieben. Zwar ist auf dem Gemälde der „göttliche Wirt“ Christus „klein und kaum sichtbar“ dargestellt (ebd., S. 151), und alle Gespeisten scheinen ihn über der gesunden Sinnlichkeit ihres Lebenshungers vergessen zu haben. Er faßt sich in der vom Erzähler durch den wandernden Blick der Betrachter herausgehobenen frivolen Gruppe eines schäkernden Mädchens und eines sie umarmenden jungen Mannes zusammen. Die Frivolität ist dadurch erhöht, daß der Fisch, den er dem Mädchen gebraten zwischen die Zähne schiebt, ein geläufiges Sexualsymbol ist. Aber er ist ja zugleich auch ein uraltes Christussymbol. Der scheinbar ferne und kleine „göttliche Wirt“ ist in dieser Symbolik ganz nah, beherrschend, wie in Großaufnahme - er bringt sich selber dar als ‚göttliche Speise‘. Da aber Pescara in dieser Geschichte der Messias des Todes ist, erweist sich damit das Fresco als Vexierbild. Indem es ein Bacchanal des Lebens und der Lebenslust darstellt, stellt es vexierbildlich ein Bacchanal des Todes dar, und geheime Zeichen unterstreichen das: Das blendend blanke Gebiß des Mädchens, Ausweis seiner Vitalität, wird dem melancholischen Blick, wie ihn Walter Benjamin nachzuvollziehen gelehrt hat, lesbar als Verweis auf das, was vom Menschen zuletzt übrigbleibt: das klaffende Gebiß des Totenschädels. Die da zum Picknick im Freien versammelt sind, gleichen einer Schnitterbande - diese durchgehende, Pescara zugeordnete Todessymbolik setzt hier ein, und diese Schnitterbande ist paradoxerweise in der Wüste versammelt - nichts gibt es hier zu ernten als den Tod. Pescara, am Anfang der Novelle, beim Dialog des Herzogs und des Kanzlers, als Person noch abwesend, aber tat- 162 Christentum und Literatur sächlich von vornherein die Zentralfigur der Geschichte, gibt sich bei dieser Speisung in einer Art von pervertiertem eucharistischem Opfer dem oberflächlich genußsüchtigen Italien hin. Gegenbildlich zu Victoria Colonna, in der sich die chimärische heroische Idealität Italiens verkörpert, stellt es sich im Bild des enthemmt kokettierenden Mädchens in seiner banalen Tatsächlichkeit dar. Doch in der letzten Schicht der Sinnbildlichkeit verkappt sich im Lebenshunger dieser Figur ein abgründiger, seiner selbst unbewußter Todeshunger noch des strotzend Lebendigen. Italien, die Welt verlangt nach dem Todesmessias, der schon im Kommen ist. Und wen feiert das nicht beschriebene Bacchanal, die als Fresko gemalte Kontrastszene? Den Rauschgott Dionysos, der eine Ekstase so nah am Leben wie am Tod verleiht. 1 G. Benn: Doppelleben. In: Ders.: Ges. W. Hg. D. Wellershoff. Bd. 8. 1968. S. 2026, unter Bezug auf: Epilog und lyrisches Ich. In: a.a.O. S. 1877. 2 Untergrundbahn. In: a.a.O. Bd. 1. Gedichte. Wiesbaden 1960. S. 31. 3 Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer (E. Hansen 1970). In: Gesangbuch für die Evangelische Kirche im Rheinland, von Westfalen, die Lippische Landeskirche. Gütersloh 1996. Nr. 663. 4 J.W. Goethe: Werke. Hg. E. Trunz. Hamburger Ausgabe. 1948ff. u.ö. Bd. 1. S. 53. Christliche Lyrik heute? Die Gedichte Christian Lehnerts „Gott ist ein schlechtes Stilprinzip“ Dieses Credo des Pfarrersohns Gottfried Benn 1 hat den poetologischen Zeitgeist der Nachkriegszeit auf den Begriff gebracht. Unter seiner Nachwirkung hat noch die aktuelle Literaturkritik Christian Lehnert, den Empfänger mehrerer Literaturpreise, als Stilisten gepriesen und um die Gretchenfrage seiner Lyrik nach Gott verlegen herumgeredet. In unserer radikal weltlichen Gesellschaft macht sich ein Lyriker, der als Christ spricht, gar als Pfarrer in einer evangelischen Landgemeinde Sachsens lebt, eher verdächtig. Man erwartet alte Hüte, aufgeputzt mit ein bißchen Hip und ein bißchen Hop. Aber dieser Theologe, Religionswissenschaftler und Orientalist ist ein unerwarteter Fall: „ein armer Hirnhund, schwer mit Gott behangen“, noch einmal mit Benn gesprochen („Untergrundbahn“) 2 . Nicht weichgespülte Choräle über eine Gottesliebe, die „wie Gras und Ufer“ 3 ist, kommen über seine Lippen, sondern Redebrocken von Gott. Er spricht aus Sprachnot, weil es ihm notwendig ist, zu sprechen und weil es ihm Not bereitet, zu sprechen. Freilich ist auch das in der Geschichte der deutschsprachigen Lyrik seit dem jungen Goethe mit seinem Durchbruch zu einer lyrischen Ausdruckssprache bis hin zu Paul Celans Gedichten am Rande des Verstummens eine geläufige Position. „Ich zittre nur, ich stottre nur, / Ich kann es doch nicht fassen“, dichtet Goethe schon 1774. 4 „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“ Trotzdem ist die Sprachnot des christlichen Lyrikers Lehnert keine Anleihe bei einer Modernität, die nun auch schon 234 Jahre alt ist; vielmehr verhält sich die Sache umgekehrt; die Moderne hat Anleihen bei der christlich-jü- 164 Christentum und Literatur 5 Ch. Lehnert: Der Augen Aufgang. Gedichte. Frankfurt a.M. 2000 (ed. Suhrkamp 2101). dischen Tradition gemacht. Goethe bezieht sich im zitierten Vers aus seinem „Lied des physiognomischen Zeichners“ auf die Urgestalt der Geschichte Israels, Mose, der als Mann mit einem Sprachfehler von Gott zum Sprecher und Retter seines Volks berufen wurde (vgl. 2. Mos 4,10). In diese Tradition des inspirierten Propheten mit der schweren Zunge stellt der junge Goethe mit genialer Frechheit und profunder Bibelkenntnis sich als modernen Dichter, der im Ringen um Ausdruck bis zur Grenze der Sprachmöglichkeiten „innre Schöpferkraft“ und nicht einfach artistische Geläufigkeit entfalten möchte und damit den Weg ins gelobte Land einer neuen Kunst eröffnen will. Was er auf der künstlerischen Jagd nach dem Charakteristischen, Physiognomischen der Konturen „doch nicht fassen kann“, ist der unendliche Gestaltenreichtum der den Menschen umringenden Natur, deren Kind er ist. Sie hat sich bei Goethe hier als Letztinstanz des Schöpferischen an die Systemstelle Gottes geschoben, aber um angemessen von ihr zu sprechen, macht der Olympier Anleihen beim christlich-jüdischen Grundtext, der Bibel. Lehnert als Christ steht aus erster Hand auf solchem Boden. Er markiert ihn in einem der beiden Motti zu seinem Zyklus „Der Augen Aufgang“ aus dem gleichnamigen Suhrkamp-Gedichtbändchen - seinem zweiten - vom Jahr 2000. 5 Es ist das Pauluswort aus dem ersten Korintherbrief 13,12: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht“. Darin liegen, aus der Sprachproblematik zum Lebensgrund durchgreifend, Not und Hoffnung, zwischen denen der gespannte Bogen von Lehnerts lyrischem Sprechen entsteht. „Der gefesselte Sänger“ heißt Lehnerts erstes Suhrkamp-Bändchen von 1997, und das heißt nicht einfach: Obwohl gefesselt, singt er doch, sondern darüber hinaus ‚weil singend, gefesselt‘ und ‚weil gefesselt, singend‘. Die auch politischen Implikationen dieser Lebens- und Produktionssituation, die Lehnert unter den Bedingungen des DDR-Staats zur Wehrdienstverweigerung, zum Strafdienst als Bausoldat und nach der deutschen Wiedervereinigung zum Ausbruch an die atlantischen Grenzen, nach Israel und in den arabischen Kulturraum führten, mögen am Rande bleiben, obwohl sie in der eben genannten Sammlung eine deutliche Spur gezogen haben. Erst recht im paulinischen Basis-Wort dieser Lyriker-Existenz ist die Grundspannung vernehmlich. Jetzt sehen wir den Glanz der Welt Gottes nur im Spiegel dunkler Worte, und wir können nur in dunklen Worten spiegelverkehrt von ihm sprechen. Aber in unsere Blindheit fällt doch ein Abglanz der wahren Wirklichkeit, und nicht nur das: Der Augenschmerz, den der Glanz der wahren Wirklichkeit in unseren geblendet-blinden Augen erzeugt, bezeugt die Überschwenglichkeit und Unfaßbarkeit des Glanzes. Das titelgebende Gedicht der ersten Suhrkamp-Veröffentlichung „Der gefesselte 165 Christliche Lyrik heute? Die Gedichte Christian Lehnerts 6 Ders.: Der gefesselte Sänger. Gedichte. Frankfurt a.M. 1997. (ed. Suhrkamp 2028; vergriffen) 7 A.a.O. S. 81. 8 Ders.: Ich werde sehen, schweigen und hören. Gedichte. Frankfurt a.M. 2004 (ed. Suhrkamp 2369). 9 Vgl. a.a.O. S. 71-82. 10 Novalis: Es färbte sich die Wiese grün. In: Ders.: Werke. Hg. G. Schulz. München 1987. S. 79. Sänger“ 6 erzählt das arabische Märchen von einem Liebenden, der bis zum Tod in der Wüste die ferne Geliebte in Gedichten zum reinen, die Wirklichkeit übertreffenden Bild verklärt. Lehnerts Gedicht spreizt diese Verklärung zu dem Widerspruch auf, in dem der Sänger, wie der Mensch überhaupt, gefesselt bleibt: Nein, nicht Verklärung! Auf allen Vieren kriechend, sucht der liebende Dichter mit seinem Wort erst einmal unbedingte kreatürliche Nähe, und sei es um den Preis, einer tödlich-räuberischen Gottesanbeterin zu verfallen, die mit ihren „hypnotisierenden greifern“ 7 ihn zu ihrer Beute macht. Im letzten ist der Widerspruch keiner: das Vollkommene, die Fesseln unserer Wirklichkeit Sprengende, wäre - ist - beides zugleich: äußerste Nähe und äußerste Überschreitung. Die Gewißheit „Ich werde sehen, schweigen und hören“ - so der Titel des bisher letzten Suhrkamp-Bändchens von 2004 8 - vergrößert mit dem Bewußtsein der Dunkelheit die Sehnsucht, die Augen geöffnet zu bekommen, sei es noch so schmerzlich. Und auch das ist noch nicht alles: Die handgreifliche Wirklichkeit des Vollkommenen wird nicht Sprechen, sondern - Sehen und Hören wecken, auf die jetzt schon in „Gedichten aus einem Garten“ 9 Einübungen stattfinden, freilich an einer entfremdeten Welt. Die Erfüllung angesichts der letzten Wirklichkeit wäre stumm. Sprache dagegen entspringt einem Riß; sie setzt Zeichen für Wirklichkeit. Sie entsteht hier aus Sehnsucht, dem anderen Gesicht des Entbehrungsschmerzes. Sehen ist zugleich Qual des Augenöffnens, Qual des Augenöffnens zugleich Sehen. Wo Lehnert von naher Erfüllung als Aufgehen in einer alle Widersprüche in sich aufhebenden, sie bewahrenden und übersteigenden Vollkommenheit Gottes, dem Neuen Himmel und der Neuen Erde der Johannes-Apokalypse spricht, ist seine Sprache Zitat, entlehnte Sprache. Beim Bändchen „Der Augen Aufgang“ ist es die lyrische Sprache des Frühromantikers Novalis mit dem Motto aus dessen heilsgeschichtlichem Gedicht „Der Frühling“ 10 . Unter dem Vorzeichen des „Vielleicht“ spricht es vom Beginn eines neuen Reiches, in dem der Staub zu Gesträuch, der Baum zum Tier, das Tier zum Menschen wird. Es sind erlösende Metamorphosen. „Ich wußte nicht, wie mir geschah, / Und wie das wurde, was ich sah.“ 166 Christentum und Literatur 11 Ich werde sehen. S. 12. 12 A.a.O. S. 72. Negative Theologie Lehnerts eigene Gedichte verhalten sich wie das Umkehrbild zu diesem geglaubten eschatologischen Frühling. Sie graben sich, wie der gefesselte Sänger auf allen Vieren, vom Menschen zum Tier zum Gewächs zum Stein zurück, um im Dunkel die Blendung des Lichts zu suchen. Darin liegt auch eine Anknüpfung an eine sprachliche Form, die sich der Erfahrung verdankt, daß Gottes Größe alle sprachlichen und gedanklichen Möglichkeiten des Menschen übersteigt. Es ist die sogenannte Negative Theologie, die das Positive Gottes mit Hilfe von Negationen auszusagen versucht. Das Nichts verweist dann auf das All Gottes, die Leere auf die Fülle, die Finsternis auf das Licht. Bei Lehnert findet sich vieles aus dieser Überlieferung, die aus dem Neuplatonismus vor allem durch die Mystik in das Christentum gekommen ist und über dieses hinaus bis in die säkulare Literatur ausgestrahlt hat. Bei ihm ist diese Umschlägigkeit nicht einfach eine Methode oder Stilfigur; sie ist getränkt und gesättigt vom Schmerz des ‚Noch Nicht‘. Seine Gedichte sind derweise häufig Romantik im Winterschlaf, Hoffnung auf Hoffnung, aber oft auch Verzweiflung an Hoffnung. Das Zurücktasten kann Abgründe öffnen, wie es denn wohl auch zum Überwältigenden der jüdisch-christlichen Offenbarung gehört, daß sie so tief ins dunkle Schweigen Gottes hineinreicht - mit dem Bilderverbot des Dekalogs; mit Hiob, dem schwärenbedeckten Frommen auf dem Misthaufen der Sinnlosigkeitserfahrung, mit Christus am Kreuz in der Gottverlassenheitserfahrung. Lehnert findet ein großartiges Bild für diese Verfinsterung des Göttlichen. In dem Gedicht „Hagel über der Sierra […]“ aus „Ich werde sehen […]“ steht am Strand „zur Massebe verwittert ein Kruzifix“ 11 . Das Symbol des liebend sich opfernden Gottessohns regrediert unterm Peitschen des Hagels zur phallischen Stele einer männlichen altsemitischen Fruchtbarkeitsgottheit, die für die Macht und Willkür blinder Fortpflanzerei steht. Nur ex negativo ist die Gegenbewegung - von der Massebe zum Kruzifix - zu erschließen. „Sprache ohne Sprache“ - Ende als Anfang Wer auf das Absolute wartet, kann nur scheiternd Erfüllung finden. Bei Lehnert kann das Zurückwühlen umschlagen in Sog der Tiefe, die mit Sprachverlust droht: „Wer Ohren hat, der höre“ - das ist das biblische Eröffnungswort der Christusreden! Aber nach dieser Eröffnung wird im Gedicht „Lindenstamm“ (aus „Ich werde sehen […]“) statt Rede nur eines hörbar: „Fraßgeräusch“ 12 . „Seltsam, wie mir die Namen entfallen: Das einzig lesbare 167 Christliche Lyrik heute? Die Gedichte Christian Lehnerts 13 A.a.O. S. 90. 14 Mnemosyne, 2. Fassung. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. J. Schmidt. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1992-1994. (Deutscher Klassiker Verlag). Bd. 1. S. 1033. 15 Der gefesselte Sänger S. 13. 16 Ich werde sehen. S. 41. 17 A.a.O. 30f. 18 Ich werde sehen. S. 18. 19 R.M. Rilke: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. In: Werke. Hg. vom Rilke-Archiv. Bd. 2,1. Frankfurt a.M. 1982. S. 94. Zeichen bin ich“ 13 . Sich als einzig lesbares Zeichen zu wissen („ein Zeichen sind wir, deutungslos“, heißt es beim späten Hölderlin 14 ) liefert den Menschen, das zeichenlesende Wesen, der totalen Isolierung und Selbstfremdheit und zugleich dem Weltverlust aus. Ohne lesbare Zeichen ist dem Ich die Welt stumm. Selbst einzig lesbares Zeichen zu sein, zerstört den Selbstbezug, denn Zeichen können sich nicht selbst lesen. In diesem Kontext werden auch Erfahrungen aus der Zeit des politischen Drucks laut, etwa in dem ersten Gedicht des ersten Suhrkamp-Bändchens „Selbstgespräch“: „[…] denn/ da ist jener andere im fenster,/ ihm gegenüber, nachts,/ / in schmutzigen scheiben, […] / / ein fremder, ein feind […]“ 15 . Hintergrundsrauschen wird in lebensbestimmender Einsamkeit mit vorgeblich zwanghafter, vorgeblich leer laufender, tatsächlich ausdrucksmächtiger Sprachmotorik übertönt - „Nur nicht schweigen, nur nicht Futter werden, nur immer die Maschine laufen lassen“, heißt es in einem Gedicht „(Autor)“ 16 . Durch den Titel herausgehoben, ist es bekenntnishaft und zugleich als Rollengedicht in eine Reihe anderer Rollengedichte wie „(Soldat)“, „(Der Pfarrer)“ zurückgenommen. 17 Das Rollengedicht relativiert die Ich-Rede, aber die Klammer um den Titel relativiert wiederum das Rollenhafte der Rede. Das lyrische Ich fächert sich in Rollen auf, die Rollen setzen sich zu Facetten des Rätsels ‚Mensch‘ zusammen. Das Zurücktasten der mimetischen Sprache bis zu einer geräuschhaften „Sprache ohne Sprache“ 18 , die nach dem Umschlagpunkt von Gestalt und Gestaltlosigkeit tastet, macht Lehnerts Lyrik auf völlig eigenständige Weise aktuell, läßt sie unmissionarisch aus dem christlichen Getto herauswirken und in skeptisch gebildete Leserschaft ausgreifen. Für Rainer Maria Rilke an der Schwelle der deutschen Moderne sind die Berge, uralte Orte der Gottesoffenbarung, zu „Bergen des Herzens“ geworden, die ihm Orte der Ausgesetztheit sind. 19 Der Wissende in einem der großen Gedichte Rilkes erblickt, „ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“, von dort den „Gipfel reiner Verweigerung“. Die Grandiosität der Vorstellung hat ihre Verführungskraft über Generationen ausgeübt, aber sie ist verbraucht. Nimmt man sie weg, findet man sich gleicherweise mit „Steingrund unter den Händen“, aber auf der Endlosfläche heutiger Fragwürdigkeits-, Nichtigkeits- und Ziellosigkeitserfahrungen. 168 Christentum und Literatur 20 Ich werde sehen. S. 9-16. Dieser Zyklus und weitere Gedichte Lehnerts sind auch abgedruckt in der Sammlung der Edition Korrespondenzen: Finisterre. Wien 2002. 21 ich werde sehen. S. 9. Hier kann sich auch der Leser, der glaubt, daß er nichts glaubt, von Lehnert mit der Härte und Kantigkeit seiner lyrischen Sprache ein- und abholen lassen. Lehnert beginnt seinen Band „Ich werde sehen […]“ mit einem Gedicht „Finisterre“, das seinen Namen nach dem Cabo de Finisterre 20 trägt, dem südwestlichsten Punkt der spanischen Atlantikküste, einem Felsabfall ins Meer. Auch das ist eine äußerste Position, eine Art Nullpunkt in einer Urlandschaft, die einer der immer wieder auftauchenden Räume von Lehnerts Gedichten ist. Ungeborgenheit herrscht auch hier, aber nichts von reiner Verweigerung, nichts von Verharren, vielmehr das Ende als Anfang. „Notizen vom Ende des Jakobsweges“ vermerkt Lehnert zu seinem Gedicht; doch das Ende des berühmten Pilgerwegs, in dem die Pilgerfahrten des ganzen alten Europa zum Ziel kamen, ist für ihn Wegbeginn. Im ersten Gedicht 21 geraten archaische Ausgangsformen von Vegetation, „Kugelalgen, Fäden, Epithele“ in den Blick, gleich ob „auf den weißen Vakuolen/ des Quarz, auf Wrackteilen, rostigen Kettensegmenten, ob auf Panzern toter Krabben“. Während aber bei Rilke letztes „unwissendes Kraut“ hinterm Wissenden zurückbleibt, „vertäuen“ diese Vorpflanzen „den losen anorganischen Grund deiner Blicke mit dem Gedächtnis umgrenzter Zellen“. An der Grenze von Stein und Pflanze bereits zielen „umgrenzte Zellen“ als paläontologische Gedächtnis- und Geistspuren auf das Tier und darüber hinaus den Menschen. „Sie feiern den Ursprung des Atems inmitten der Armut / des Gerölls - […] Codezeichen des Futurs, wenn es in steinharten Poren/ nichts mehr zu hoffen gibt.“ Am Anfang ist Leben und in ihm angelegt bereits Gedächtnis. Wer sich vom Futur des Lebens, noch zäher als Hoffnung, mitnehmen läßt, begibt sich mit dem sprechenden Ich auf einen neuen, freilich von radikalen Abstürzen bedrohten Pilgerweg ins Weglose des Meers, jenseits dessen doch die neue Welt liegt. Aber ob und wie der Leser mitgeht, muß er entscheiden. Der Kraft der Bilder des Sehens im dunklen Wort wird er sich, auch wenn er nicht folgt, gleichwohl nicht entziehen können. Was wird auf diesem Pilgerpfad erblickt? Der Zyklus „Der Augen Aufgang“ aus dem gleichnamigen Gedichtband Lehnerts knüpft an bei historisch weit zurückreichenden Vorstellungen von einem universalen Verweisungszusammenhang zwischen Gott, Schöpfung und Menschengeschöpf. Gehen dem Menschen die Augen des Geistes auf, geht ihm im Sonnenaufgang Gott auf. Durch die Jahrhunderte haben christliche Morgenlieder davon gesungen. „Du höchstes Licht, ewiger Schein, / du Gott und treuer Herre mein, / von dir der Gnaden Glanz ausgeht/ und leuchtet schön so früh als spät.“ So verkündet Johannes Zwick, einer der Schweizer Reformatoren, gestorben 1542 an 169 Christliche Lyrik heute? Die Gedichte Christian Lehnerts 22 Evangelisches Gesangbuch (Anm. 3). Nr. 441. 23 A.a.O. S. 13. 24 P. Celan: Argumentum e silentio. In: Gedichte in zwei Bänden. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1978. S. 138. der Pest im Thurgau, 22 in einem Morgenlied. Da der Mensch aber gefallen ist, hat er alle Kreatur, ja, die Schöpfung mit sich gerissen und weiß, „daß die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.“ Diese vom Menschen zur Schöpfung ausgreifende Defizienz ist wie das Negativ einer sowohl antiken wie mittelalterlich jüdischen Konzeption der Analogie von Makrokosmos und Mikrokosmos Mensch, die ihm die Natur als seinesgleichen, damit als Sprache und Schrift, aber auch Gesicht lesbar macht. Die Renaissance war von diesem Gedanken fasziniert; die romantische Spekulation hat ihn wieder belebt, in die moderne Naturlyrik ist er eingewandert. Lehnert läßt Sprache und Schrift der Natur mannigfach in seiner Metaphorik aufleben: „Ihre Schrift aber bleibt ewig“, heißt es von den archaischen Lebensformen in „Finisterre“; die Konsonantenzeichen b-r-sch-t am Anfang der hebräischen Bibel hört das Ich eines Gedichts im Rauschen des Meers, „doch du wirst sie vergessen haben. Du hast die Gischt gehört, sonst nichts […]“ 23 Die Sprache der Natur kann bis zur Unkenntlichkeit verstört sein. Doch auch „die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“ So der Römerbrief 8, 21f., der dem bei Lehnert mottogebenden Korintherbrief direkt vorhergeht. „Ein Erinnerer läuft“ Genug der Allgemeinheiten. Lehnerts Gedichte, die als vorliegendes Gesamtkorpus die reine Verweigerung als Position in sich aufgehoben haben und deren Worte, mit einem Stichwort Paul Celans aus seinem Gedicht „Argumentum e Silentio“ 24 zu sprechen, „erschwiegen“ sind, lassen sich hinreichend nicht in Generalisierungen charakterisieren; sie verlangen zähes sich Einlassen auf die je Einmaligkeit, in der doch der Gesamtcharakter dieser Lyrik sich aspekthaft verwirklicht; so in diesem Gedicht aus „Der Augen Aufgang“ (S. 32): Ein Erinnerer läuft, gepanzert eine Kugel schiebend, über runde, krustige Felsen: niemand sonst hinterließ einen solchen Blutstreif über der Küste. Wie von selbst schlossen sich die Augen, denen sich die Sonne nicht zeigte, ohne sie mit Licht zu füllen, Quallen am roten Lidrand des Meeres, von ihr im Aufgang erschaffen. Du 170 Christentum und Literatur 25 Der Augen Aufgang. S. 32 wurdest angeschwemmt, mit ersten Lungensäcken, ans Trockene: kein Regenbogen, kein Nebel erhob sich vor dir, nur heißer Föhn, bis du im Dämmern aufrecht gingst, horchend riesigen Bränden nach, Explosionen und ihren Echos, die tagelang blieben, wie im Gehirn das Bild eines Käfers, der seinen Kot über den Himmel schob. 25 Auch hier vollzieht sich „der Augen Aufgang“ über Lehnerts amphibischer Urlandschaft, einer Küste mit „krustigen“ Felsen, „Quallen am roten Lidrand des Meeres, von ihr“, der Sonne, „im Aufgang erschaffen.“ Als schöpferisch ist die Sonne Erscheinung Gottes. Das Meer ist - Analogien überall - ein aufgeschlagenes Auge, aber am Lidrand, dem Küstenstreifen, von den angespülten roten Quallen wie entzündet. Schmerz, nicht leuchtende Schöpfungsfrühe, deutet sich im Gesehenen an, das zugleich auf das Organ des Sehens verweist. Zeigt sich die Sonne, füllt sie die Augen nicht nur, sie überfüllt sie mit Licht bis zur Entzündung, und so haben sie sich, geblendet, wie von selbst geschlossen, den Aufgang nach innen zurückgenommen. Das Gedicht läuft zu auf ein „Bild im Gehirn“, und dieses Bild verweist auf das am Anfang hervorgerufene Bild zurück. Trotzdem ist diese Rekonstruktion problematisch, weil sie verknüpfende Hilfsvorstellungen wie ‚Entzündung‘ einführt, Bildelemente frei kombiniert und argumentative Reihen neu bildet, etwa von Lidrand des Meeresauges zu Menschenauge, von dessen Lichtüberlastung und Schließung zu Rötung und damit Entzündung. Das dunkle Wort will aber nicht in Alltagsrationalität übersetzt, sondern als dunkles Wort verstanden werden. In besonderer Weise steht das stark sich einbrennende erste Bild im Beziehungsgefüge: „Ein Erinnerer läuft, gepanzert eine Kugel schiebend, über runde, krustige Felsen: niemand je hinterließ einen solchen Blutstreif über der Küste“. Der Schluß des Gedichts ist erläuternd. Er spricht vom „Bild eines Käfers, der seinen Kot über den Himmel schiebt“. Der Erinnerer bietet sich also dar als ein Pillendreher, ägyptisch ein Skarabäus, der Kot zur Kugel formt, wegrollt und im Boden als Nest und Nahrung für seine Nachkommen vergräbt. Dieser Käfer gehört nicht an die Felsenküste, sondern auf Erdboden, in dem sich graben läßt, ist also von vorn herein ein irritierender Gedichtbestand. „Der Erinnerer“ leitet sogar in die Irre, denn der Leser vermutet zunächst, daß es ein Mensch ist, der sich erinnert, nicht aber ein Tier, das an etwas erinnert: Der Skarabäus war im alten Ägypten heilig und repräsentierte den Sonnengott, weil die vom Käfer geschobene Kotkugel an die vom Gott aus der Unterwelt über den Horizont gestemmte und über den Himmel wandernde Sonne, das Vergraben der Kugel an ihr Verschwinden im Sonnen- 171 Christliche Lyrik heute? Die Gedichte Christian Lehnerts untergang und damit an den Tod erinnerte. Ihre tägliche Wiederkehr und das (zoologisch wohl nicht durchschaute) Hervorkommen der Käfer aus dem Boden war ein Sinnbild für Regeneration, Verjüngung und Wiedergeburt. Selbstverständlich ist die Versetzung des Skarabäus an diese Felsküste in Lehnerts Gedicht weder ein Irrtum, noch Willkür. Vielmehr gewinnt dadurch seine ohnehin mühsam anmutende Tätigkeit den im alten Ägypten nicht gegebenen Charakter eines Leidenswegs, der eine Blutspur hinterläßt. Erkenntnis ist Mühsal, Zurücktasten der Erinnerung und wieder Blickumkehr nach vorn. Da der „Erinnerer“ als ein gepanzerter, schwer schiebender Läufer auf krustigen Felsen vorgestellt wird, ist das sprachliche Geschiebe, die Überschiebung und Verschiebung der Bilder, Vollzug der Sache selbst, einer ungeheueren Mühsal und einer ungeheueren Beharrlichkeit, die sich in den überwiegend alternierenden siebenhebigen, zu Zweizeilern streng gefügten, aber immer wieder die Versenden und Satzenden übereinander schiebenden Langversen äußert. Und gewiß ist auch „Der Erinnerer“ in der falschen die richtige Spur: Im Käfer spricht das Gedicht denn doch auch und erst recht vom Menschen als Menschen, und kommt der erste Vers im letzten zum Ziel, so genau die Gedichtmitte zu diesem Angezielten, indem sie ihn als „Du“ anspringt. Du Mensch bist es, der angesichts des Erinnernden sich erinnert an die Tiefe der Geschichte, du gehörst mit dem schiebenden Geschiebe deiner Erinnerungen in diese geistige Urlandschaft. Es ist deine qualvolle Evolution, auf die sich jetzt die Rede richtet, in einen einzigen Satz bis zum Gedichtende zusammengeschoben: Anschwemmung aus dem Meer, Lungensäcke des Amphibiums, Trockenheit, kein Regenbogen nach der Sintflut, kein sich hebender Nebel als Emblem von Aufklärung, stattdessen heißes Föhngebläse, aufrechter Gang allenfalls im Dämmern, und schon stehen am Horizont riesige Brände und Explosionen, in deren Echosystem vom Urknall bis zur eschatologischen Revolution die menschengemachten Katastrophen und Feuerwände der Geschichte mitdröhnen und -knistern. Der Skarabäus der Ägypter schiebt nicht seinen Kot, sondern Kugeln aus dem Kot pflanzenfressender Säugetiere. Weil Lehnerts Skarabäus auch der Mensch ist, schiebt er seinen Kot, das ist: den Schmutz und das Elend seiner Geschichte, über den Himmel. „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst? “ Aber blindlings setzt er damit doch das Zeichen für Aufgang - Gottes, der Welt, der Augen, Aufstehen, Weitergehen, Auferstehung. Denn im Erinnerer taucht hinter dem Gattungswesen Mensch der eine herausragende Mensch auf. Nur er zieht nicht irgendeinen Blutstreif auf seinem Leidensweg, sondern einen einzigartigen - „niemand sonst hinterließ einen solchen Blutstreif“. Eine 172 Christentum und Literatur 26 Evangelisches Gesangbuch (Anm. 3). Nr. 111. so auffällige Formulierung muß in der sparsamen Wort-Ökonomie des Gedichts Gewicht haben und ernst genommen werden, und damit wird klar: Sie trifft strikt nur auf den Messias des Neuen Testaments und seine Passion zu, der nach christlichem Glauben einfür allemal in Durchkreuzung der Geschichte die Knechtsgestalt des Menschen angenommen hat und in Leid, Tod und Auferstehung dessen Dreck und Jammer vor sich her dem Neuen Himmel und der Neuen Erde der Apokalypse zuschiebt. Und im untergründigen Verweis auf die Passion sind zugleich die im Gedicht nicht ausgesprochenen symbolischen Gehalte des ägyptischen Skarabäus zum Mitschwingen gebracht und christlich umcodiert: „Frühmorgens, da die Sonn aufgeht,/ mein Heiland Christus aufersteht; / vertrieben ist der Sünden Nacht, / .Licht, Heil und Leben wiederbracht. / Halleluja.“ (Johann Heermann, 1630). 26 Nicht der vergebliche Schieber Sisyphus ist hier am Werk. Die Verknüpfung geht vom Erinnerer Skarabäus, der den Menschen an etwas erinnert, zum Menschen, der sich erinnert, und zuletzt zu dem Christus, der sich deiner, du Mensch, erinnert, indem er Mensch wird und damit dessen Schmutz zu seinem macht - bis zu dem Punkt, den der Isenheimer Altar bezeichnet, indem Grünewald einen Nachttopf unter das Bett des Christkinds stellt. Christus ist im Christentum die lebendige Antwort auf die Psalmfrage 8,5: „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst? “ Also doch: der Augen Aufgang, trotz allem. Und diese Wendung, die als dunkle zur Geltung kommen und verstehend im Nachhinein eingeholt werden muß, wird dadurch bekräftigt, daß zwar im letzten Vers der „Erinnerer“ als Käfer eindeutig identifiziert zu werden scheint, das Pronomen „niemand“ im ersten Vers aber dagegen spricht, denn es kann (seiner etymologischen Herkunft von ‚ni-man = kein Mensch‘ entsprechend) nur in Bezug auf den Menschen angewandt werden. „Niemand sonst“ kann kein Käfer sein; es kann nur da gesagt werden, wo im Käfer der Mensch zumindest mit gedacht ist. „Niemand sonst“ hat aber auch nur da einen Sinn, wo im Menschen nicht nur das Gattungswesen Mensch, sondern ein einmaliger Mensch bezeichnet ist. Nicht der Mensch schlechthin, sondern „niemand sonst“ unter den Menschen, ja in der Schöpfung, zieht eine solche Spur. Christliche Lyrik Lehnerts Gedichte sind aktuell und originär christliche Lyrik zunächst im Hinblick auf den Autor, der nicht einfach ein dichtender Pfarrer in jahrhundertelanger Tradition ist und von ihr getragen wird - diese Tradition ist im 19. Jahrhundert abgerissen oder ausgedünnt. Als moderner Kirchenlied- 173 Christliche Lyrik heute? Die Gedichte Christian Lehnerts 27 Ich werde sehen. S. 47. 28 A.a.O. S. 31. 29 A.a.O. S. 11. 30 A.a.O. S. 12. 31 A.a.O. S. 11. dichter, wenn es das überhaupt jenseits der Banalitätsgrenze gibt, ist Lehnert undenkbar. Einige von ihm selbst so genannte „Choralbearbeitungen“ sind Kontrafakturen zu bekanntesten Gemeindeliedern des Protestantismus zwischen Luther und Gerhard Tersteegen. Was ist bei Lehnert der gelassenen Zuversicht von Paul Gerhardts Abendlied „Nun ruhen alle Wälder“ entgegengestellt? „Hinweggerollt sind Meere, / Kulissen, schwarze Leere, / in der sich öffnet Gottes Mund.“ 27 Das klingt wie ein Widerruf. Aber die enorme Präsenz von zugrunde liegendem Choraltext samt Melodie bewirkt, daß sie in der Kontrafaktur als Gegenstimme hörbar bleiben und so die Stimmen einander wechselseitig, kontrapunktisch, ‚hervorrufen‘ - eine fast unglaubliche Weise, eine Glaubensaussage zu machen. Dieser Gott ist, jedoch als Abwesender, noch als Abwesender. Dieser Christ spricht als Vereinzelter in einer Sprache, deren Verweigerung sie spröde macht und die doch nur als lyrische möglich ist. Sie kann nur von einem Publikum aus einzelnen, in geduldiger Arbeit erschlossen und angeeignet werden. Vielleicht, daß diese einzelnen in der Aneignung Gemeinde werden, „unsichtbare Gemeinde“, wie die außenseiterischen Frommen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts ihre geistige Gemeinschaft - in Spannung und Bezug zur sichtbaren Gemeinde - nannten. Das Kürzest-Gedicht „(Der Pfarrer)“ aus der bereits zitierten Reihe von Rollengedichten beginnt mit dem Vers „Ich weiß nicht mehr, was wird“ und endet in der Wiederholung „Ich begegne niemandem./ Ich begegne niemandem.“ 28 Darin spricht Verzweiflung an diesem Auftrag so nackt, daß sie nur als Rollengedicht öffentlich werden kann. Und allein das Gedicht ist eine Redeform, die so radikal punktuell und punktuell radikal zu sein vermag, daß gleicherweise inselhaft nebeneinander der legitime gedichthafte Ausdruck des Glaubens und des Unglaubens stehen kann, ohne daß sie einander ausschlössen, vielmehr, indem sie einander in der Negation, als „Hohlform einer Hand“ 29 , einschließen. „Am Versende fiel Hagel, hackte die Humusinseln aus“, heißt es in dem Gedicht mit der Situationskennzeichnung „Hagel über der Sierra de la Capelada“ 30 in „Ich werde sehen […]“ - aber sie bleiben im Vers als ausgehackte, in der Negativform, stehen, „Fehlendes, das ein Gewölbe trägt“ 31 , wie es im vorhergehenden Gedicht in Bezug auf eine von zahllosen Pilgerhänden ausgeriebene Säule der Kathedrale von Santiago de Compostela heißt. Christian Lehnerts Gedichte sind nicht nur deshalb christlich, weil ihr Autor als Christ spricht; nicht nur deshalb modern, weil er Glaubensnot als Sprachnot zum Sprechen bringt; sie sind es in letzter Instanz in sich selbst, 174 Christentum und Literatur weil sie christliche Lyrik in der Textur sind. Was das Gedicht sagt, liegt nicht in einem Gedankengang, der sich auch anders mitteilen ließe. Es bleibt inhaltlich und thematisch unverständlich und unbegriffen, wenn es nicht von seiner Textur her ertastet und nachvollzogen wird. Eschatologisch spiegelverkehrt eröffnet sich ein Wortgewebe voll dunklem Glanz. Ein Gedicht des Leidens, des ‚Versprechens‘ und des ‚Versagens‘, das sich in sich verschließt und erschließt nur von der tiefsten Schicht seiner Bildsverknüpfungen her, ist als christliche Lyrik so legitim, wie Lyrik nur sein kann. Deshalb springt es an, aber es überredet nicht, niemanden zu nichts. 1 Text des noch ungedruckten Abschlußvortrags bei dem Kolloquium „Ins Tal der Schatten. Das Schreiben von Patrick Roth zwischen Hölderlin und Hollywood“, das vom 29.6 bis zum 1.7.2007 am Deutschen Literaturarchiv in Marbach stattfand. Vgl. die Dokumentation „Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. an Patrick Roth. Weimar, 22. Juni 2003“. Hg. G. Rüther. Dort vor allem die Laudatio von Ruprecht Wimmer und die Dankrede des Preisträgers. Ich verweise auch auf Patrick Roths Frankfurter Poetikvorlesung „Ins Tal der Schatten“. Frankfurt a.M. 2002, und seine Heidelberger Poetikvorlesung „Zur Stadt am Meer“, Frankfurt a.M. 2005. Beide Vorlesungen vertreten dezidiert eine Produktionsästhetik. Ihr Verfahren scheint mir der Zurücknahme der poetologischen Selbstreflexion des dichterischen Texts im Erzählakt zu entsprechen, die ich im folgenden an der ersten Erzählung aus „Starligt Terrace“ darlegen werde. Die Poetikvorlesungen entwickeln nämlich ihre Produktionsästhetik nicht in abstrakt-systematischer Argumentation, sondern indem sie poetische Produktion in actu demonstrieren. Dabei wird der Hörer bzw. Leser in die produktive Bewegung des Autors hineingezogen. Mein eigener hier verfolgter Ansatz ist allerdings werkästhetisch. Ich gehe vom dichterischen Text aus und frage primär nach seinem Weltentwurf und der Eigenart seines Weltentwerfens. Ich nehme deshalb Roths Seitenblicke zu „Starlite Terrace“, die sich in der Heidelberger Vorlesung finden, nicht auf. Ihr Ausgang von der Jungschen Tiefenpsychologie und ihrer alchimistischen Symbolsprache scheint mir vom Text her zwar möglich zu sein, aber vor allem in Roths produktionsästhetischer Betrachtungsweise des Erzählzyklus als „Gefäß meiner Individuation“ (41) zu gründen. Meine werkästhetische Sicht verhält sich dazu nicht alternativ, sondern komplementär. Das Erzählen ist die Handlung „Der Mann an Noahs Fenster“ in „Starlite Terrace“ von Patrick Roth Die poetologische Selbstreflexion und sogar Selbstinfragestellung des Erzählvorgangs ist lange aus der Mode; es wird weltweit wieder oder noch selbstverständlich und gegenstandsgesättigt erzählt. Auch die aktuelle deutschsprachige Literatur tut das, von Daniel Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“, der allenfalls leise ironisch die Weltvermessung durch die Literatur selber mitklingen läßt, wenn er von Antipoden der mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltvermessung spricht, bis zu „Crazy“, der Pubertätsprosa Benjamin Leberts, die aus dem Stand der poetologischen Unschuld heraus in kürzester Zeit zum gymnasialen Deutsch-Lesestoff hochgeschnellt ist. Auch Patrick Roth erzählt. Trotzdem gehört er nicht zu denen, die im deutschen Sprachraum das Alte geläufig aufnehmen. Neben den Bemühungen, ihn von seiner Thematik und Symbolik, speziell den biblisch-christlichen Mustern oder der Psychologie C.G. Jungs her zu erschließen, 1 als verstünde die literari- 176 Christentum und Literatur sche Form sich immer oder wieder von selbst, sollte deshalb die Erörterung seiner Darstellungsweise und -mittel treten, die seinen Themen und Symbolen erst ihren Stellenwert geben. Diese teilen sich zwar bei der Lektüre schnell mit, lassen sich aber nur kleinräumig dingfest machen. Hier soll es exemplarisch geschehen an der ersten Erzählung aus der Sammlung „Starlite Terrace“ von 2004: „Der Mann an Noahs Fenster“. Der bei Suhrkamp erschienene Band faßt vier Geschichten in chronologischer Abfolge zusammen, mit vier verschiedenen Hauptfiguren, aber durchgehendem Handlungsort, der mit ihrem Namen titelgebenden Wohnanlage in Los Angeles, und durchgehendem Personal von den zerfransten Rändern des Filmmilieus. Durchgehend ist auch der Ich-Erzähler, ein bißchen arriviert, aber seiner Umgebung eingebettet. Poetologie im Erzählakt Soweit klingt das konventionell, erinnert an viele Erzählungs- oder Novellensammlungen. Auch der Einsatz der ersten Geschichte mit dem Titel „Der Mann an Noahs Fenster“ ist unauffällig, ein klassischer Erzählungsbeginn: „Vor einiger Zeit, es regnete schon seit Tagen in Strömen, erzählte uns Rex […]“. Aber schon mit dieser rudimentären Exposition übergibt der Icherzähler an einen Binnenerzähler, einen älteren, ziemlich abgetakelten Mann namens Rex, läßt mit dem zweiten Absatz dessen indirekte in direkte Rede übergehen und unterbricht diese bereits nach einem Satz, indem er den Hörensagen-Modus aufspießt, in den Rex, von seinem Vater erzählend, hinübergeglitten ist: Sein Vater „soll“ bei Großaufnahmen Hände von Filmstars gedoubelt haben, speziell Gary Coopers Hände in „Zwölf Uhr mittags“. Gleich noch einmal von einem Kumpan namens Pete angegriffen, beruft sich Rex für diese „Legende“ (11) auf eine weitere Erzählung, eines Filmstatisten, aber auch deren Wahrheitsgehalt wird - viel später - vom Haupterzähler in Frage gestellt (46). Schließlich wächst sich der Zweifel des Haupterzählers umfassend aus - auf alle Geschichten: „Ich verstand, daß die Geschichte, die Rex mir von seinem Vater erzählt hatte, in Nichtigkeit zerlief. Wie alle Geschichten. […] Daß nichts zu retten wäre. Mit keiner Geschichte.“ (49) Das ist ja nun doch eine poetologische Äußerung. Aber nicht als Fazit der Geschichte, denn die geht weiter, und nicht von einem souveränen Erzähler, der frei über die erzählte Geschichte verfügt, sondern von einem Erschütterten und Hoffnungslosen (47), in das Erzählte Verstrickten. Offensichtlich ist ihm an dieser Stelle nicht klar, wie viel seine Geschichte und sein Verwerfungsurteil über Geschichten überhaupt von ihm preisgeben. Und noch ein weiteres drückt sich indirekt in dieser Rede ab: Der von ihm widerrufene Anspruch dieses Erzählers an erzählte Geschichten ist unerhört. Sie sollten rettend sein! Das klingt 177 Das Erzählen ist die Handlung 2 Wie sich klassische Literatur tiefer nur dem erschließt, der die antike Mythologie und die Bibel kennt, hat sich längst eine generationsspezifische Bildungsgrenze von dieser anderen Seite her aufgebaut. nach einem poetologischen Heilsversprechen. Eines ist jedenfalls schon deutlich - die poetologische Äußerung ist hier vorab ein Mittel der indirekten Charakterisierung des Haupterzählers. Das poetologische Nachdenken ist von der Höhe eines auktorialen Erzählerkommentars, wo es traditionellerweise stattfindet, tiefer gelegt, in den Erlebnisraum der am Geschehen beteiligten Figuren, zu denen auch und zuerst der übergreifende Ich-Erzähler gehört. Der Film als Medium des Erzählens Schon lange, etwa beim frühen Peter Handke, ist es geläufig, daß an die Stelle oder an die Seite der traditionellen Bild- und Symbolarsenale der Antike, speziell der antiken Mythologie, und der Bibel der Film mit seiner Geschichte, seinen klassischen Werken, Regisseuren und Schauspieler-Ikonen, und die moderne, vor allem vokale Musik vom klassischen Jazz über Pop und Rock bis zum Folk-Song und deren Stars getreten sind. 2 Im vorliegenden Text begründet sich das auch aus der Biographie Patrick Roths, der als deutscher Schriftsteller und Filmemacher in Los Angeles lebt und arbeitet. Die in „Starlite Terrace“ zusammengefaßten Erzählungen, zunächst der den Eingang bildende Text, benutzen die Filmwelt allerdings nicht nur als biographisch naheliegendes Rohmaterial. Sie sind weithin strukturell durch eine Wechselbeziehung und Verflechtung von Film und realer Umwelt der Figuren geprägt. Wie im Text sich kleinräumig Inneres und Äußeres ineinander spiegeln, Erzählung sich in Erzählung verwebt, Aussagen verschiedener Personen sich übereinander schieben, kommentieren, vermischen, aber auch in Frage stellen, so verhalten sich auch Lebensrealität und filmische Realität, Filmfiguren und Figuren der Wirklichkeit, gelebte und filmische Figurenkonstellationen zueinander. Am intensivsten geschieht das an Knotenpunkten der emotionalen Bewegung und Phantasieerregung. „Stell dir vor“, beginnt die Hauptfigur Rex die letzte ihrer dem Gesamterzählprozeß eingeflochtenen Erzählungen, „stell dir vor, ein paar Tage vor seinem Tod …“ „Du redest von deinem Vater? “ „Von Coop, Mann, von Cooper. Von Gary Cooper […]“. Die Unsicherheit des Ich-Erzählers, von wem die Rede sein wird, vom Filmschauspieler Gary Cooper oder vom Vater des Binnenerzählers Rex, entfaltet sich aus dem kleinen Erzählkern, daß Rex’ Vater die Hände Coopers in „Zwölf Uhr mittags“ gedoubelt haben soll. Von da an sind in Rex’ Erzählung sein Vater und Gary Cooper und schließlich der Marshal in „Zwölf Uhr mittags“ ‚Doppelgänger‘, von denen jeder jeweils auch den anderen ‚bedeutet‘. Und weil diese Austauschbarkeit die Grenze zwischen Film und Wirklich- 178 Christentum und Literatur keit ignoriert, fragt sich doch auch: Ist der Film, mit Schnitten, Sequenzen, Überblendungen, Totalen und Großaufnahmen, das Leben, oder das Leben der Film oder sind beide beides? An der ‚Dichte‘ und ‚Überzeugungskraft‘ der Vorgänge ist das jedenfalls nicht eindeutig zu ermessen, denn Rex schleudert Pete, seinem destruktiven Zuhörer, entgegen: „Ach du […], und wenn du der größte Pistolenkünstler westlich des Pecos gewesen wärst. Deine Hände, in Großaufnahme, hätten dem ständig widersprochen. Man hätte die flinkgeschmeidige Handhabung des Revolvers aus den Augen verloren und nur darüber gestaunt, wie putzig sich deine dicken, kleinen Stümpfe durcheinander bewegen.“ Hier wird die filmische Großaufnahme zum Inbegriff von Wirklichsein und die - hypothetische - Wirklichkeit zur albernen „Freak- Show“ (14). Der Film, landläufig das Illusionsmedium schlechthin, kann also in der Funktion, wie Roth ihn literarisch einsetzt, als wirklichere Wirklichkeit erscheinen, von höherer Erlebnisqualität als das banal Reale. Damit tritt etwas von der sinnlichen und emotionalen Faszination des Films, von seiner Fähigkeit, uns auf den Leib zu rücken, in die Epik ein. Der Filmklassiker „Zwölf Uhr mittags“ ist nicht nur der Cantus firmus dieser ganzen ersten Erzählung der Sammlung; er scheint - immer wieder zitiert, angespielt, kommentiert, sequenzenweise nacherzählt - der höchste Aggregatzustand des Wirklichen, das Verdichtungsmedium und die Sinngebungsinstanz innerhalb des Literarischen zu sein. Gary Cooper ist mehr Rex’ Vater als dessen wirklicher Vater, weil er ihm den so gut wie unbekannten Vater verkörpert - das Ziel einer lebenslangen Sehnsucht, den Grund einer lebenslangen Verlustangst. Der Vater ist, wie Rex erzählt, „ausgerissen“ (16), als er den sechsjährigen Rex zum ersten Schulbesuch begleitete, also an dem symbolischen Tag, als ‚Hänschen klein‘ anfangen sollte, in die weite Welt hineinzugehen und ein Mann zu werden. Das ist, früh im Text erzählt, das durch das ‚Ausreißen‘ des Vaters entstandene Loch in Rex’ Leben, wo der ‚Einfluß‘ des Films am stärksten ist. In diese Leerstelle hat Rex’ Phantasie Gary Cooper als Marshal in „Zwölf Uhr mittags“ hineingeholt, den Mann, der, wenn es darauf ankommt, sich stellt. Mit solcher Lebens-Verkörperungsfähigkeit eines Filmschauspielers als Rollenfigur und mit der suggestiven Kraft filmischer Handlungsabläufe ist nun aber der Film zugleich Kunst, artistisch hergestellte Wirklichkeit als komprimiertes, stilisiertes, erst in der Stilisierung geballtestes Leben. Dankt damit aber nicht die Literatur ab, indem sie, statt selbst authentisch eine künstliche Wirklichkeit zu erzeugen, die künstliche Wirklichkeit des Films als Fertigfabrikat zitiert? Nein, denn diese Frage entsteht ja in dieser Erzählung erst durch diese Erzählung! Schon bei der ersten Erwähnung wird der Film „Zwölf Uhr mittags“ in einen durch Erzählen entstehenden Sog hineingezogen. Nicht nur der übergreifende Ereigniszusammenhang, sondern auch die Relationierung der Sphären kommen durch epische Vermittlung zustande. 179 Das Erzählen ist die Handlung Und wieder läuft diese Bewegung praktisch, nicht in einer Erzählerreflexion auf das eigene Medium poetologisch expliziert, ja sie wird nicht einmal, wie die angebliche Nichtigkeit des Erzählens, im Text ausdrücklich. Die Zuordnung entsteht von den Figuren und Ereignissen her, angesichts der Verhaftung dieser erzählten und erzählenden Menschen an das Medium Film, das es ihnen in einer gefährlichen und verführerischen Weise ermöglicht, zu leben, zu überleben und - zu erzählen. Gary Cooper, sagten wir, kann als Marshal in „High Noon“ für Rex mehr Vater sein als dieser selbst. Dagegen ließe sich einwenden, daß Gary Cooper in der wichtigsten Binnenerzählung über ihn nicht diese Filmfigur, sondern der wirkliche Schauspieler Gary Cooper in den wirklichen Geschäftsstraßen von Los Angeles ist, wie ihn Rex gesehen zu haben behauptet: sechs Wochen vor seinem Krebstod in Los Angeles von Geschäft zu Geschäft gehend, ohne einzukaufen, aber auch ohne ausdrücklich Abschied von den ihm bekannten Geschäftsleuten zu nehmen, unter denen der erste mit dem sprechenden Namen Sol - die Sonne, von der Gary nun sich trennen muß -, bereits von der tödlichen Erkrankung Garys weiß und sein Wissen Rex beiseite zuflüstert. Coopers Rundgang, bei dem Rex ihm unbemerkt folgt, endet genau in dem Augenblick, in dem Rex versucht, ihn anzusprechen und von seinem verlorenen Vater zu erzählen, vor allem aber einen Händedruck mit ihm zu tauschen und damit diese Hand, die für Rex die Doppelgängerfunktion zwischen Gary und Rex’ Vater ‚manifestiert‘, in seiner eigenen Hand zu spüren (42). Einen Kreis der Hände will Rex schließen; er ist aber nicht zustande gekommen. Es ist die herzzerreißende Lebendigkeit des Alltäglichen in seiner Banalität, von der man Gary stummen Abschied nehmen sieht. Trotzdem - könnte das alles nicht genauso gut, mit Gary Cooper als Hauptfigur, eine Filmsequenz sein? Endet Coopers Rundgang, bei dem Rex ihm unbemerkt folgt, nicht selbstredend neben einem Kino, wo eine - selbstredend - schwarze Limousine auftaucht und ihn abholt? Gewiß, doch das liegt in erster Linie an Rex, der so sehr vom Film geprägt ist, daß er filmisch erlebt und sieht, wie umgekehrt seine Lebensleerstelle, der aus Rex’ Kinderleben ‚ausgerissene‘ Vater, ihn dahin gebracht hat, im Kino sein Leben zu suchen und zu finden. Und gewinnt dieser reale Gary Cooper nicht daraus Monumentalität, daß alle, die ihn wahrnehmen, ihn in der Aura seiner vielen Filmrollen und Filmlebensläufe sehen? Ist er nicht immer der Marshal? Die biographische Figur Gary Cooper mag das Produkt seiner Schauspielkunst und aller Kinobesucher, hier vor allem von Rex’ kinogeschwängerter Imagination sein. Aber in letzter Instanz, auf Erzählebene, ist diese von biographisch verankerter Vatersehnsucht bewegt. Darüber hinaus ist es der Außenerzähler, der, was da geschieht, in der Quintessenz anders faßt: daß nämlich die Kinokunstfigur Cooper im Vorgefühl seines tatsächlich bevorstehenden Todes zuletzt auch die Filmgeschichten zerfallen sieht: „Denn was waren sie schon diese Filme? Ich meine, was waren sie diesem Mann, als er am Bord- 180 Christentum und Literatur 3 Daß er das nicht kann, wird negativ bestätigt durch die prinzipielle Grenze von Literaturverfilmungen: So gewiß literarisches Erzählen den Film auch in der Spezifik seiner Mittel rezipieren kann, so gewiß muß der Film am umgekehrten Versuch scheitern, denn nicht alles, was gedacht und gesagt, und nicht jeder Modus, in dem erzählt werden kann, kann auch visualisiert werden. Das Visuelle läßt sich nicht relativieren, oder nur sehr plump, aber sogar noch das Unaussprechliche ist ein literarischer Topos. Alle qualitativen und perspektivischen Relationen zwischen Außen und Innen, Gegenwärtigem, Vergangenem und Zukünftigem, Imaginiertem und Vorhandenem, Möglichem und nur Denkbarem können sprachlich hervorgerufen werden. 4 Das ist kein Widerspruch gegen die Feststellung einer „Augenpoetik“, die Michaela Kopp- Marx für Patrick Roth getroffen hat (M. K.-M.: Zwischen Petrarca und Madonna. Der Roman der Postmoderne. München 2005. S. 59-67). Sie geht von der Rothschen Tendenz zur Unmittelbarkeit, zum Fühlen und Sehen aus und führt am Beispiel dahin, daß in „Meine Reise zu Chaplin“ „[…] Dichtung zum Film wird und der Leser den Text vor seinem inneren Auge zu sehen beginnt“ (67). Gerade weil das so ist, muß aber festgehalten werden, daß diese Anschaulichkeit eben durch „Text“ mit seinen spezifischen Mitteln hervorgerufen wird, bis hin zur quasi lyrischen Zeilenbrechung („Und alle Zeit/ steht still“), die hier auch ein spezifisch lyrisches, speziell Goethesches Moment herstellt - den erfüllten Augenblick. Auch der vom äußeren Auge wahrgenommene Zeilensprung im Schriftbild trägt zu diesem inneren Sehen bei. Und außerdem: die Gesamtkomposition des Texts schafft die bedeutungstragende Struktur, die auch die filmischen Partien übergreift und integriert. stein stand, von ein paar Leuten Abschied genommen hatte und auf den Wagen wartete? “ (47) Solche Fragen sind ermöglicht und angeboten durch die erzählerische Perspektivierung des Erzählgegenstandes, der wiederum eingebettet ist in weitere Erzählakte und Erzählzusammenhänge, die der Film selbst nicht hervorbringen könnte. 3 Ist es die literarische Erzählung, die den Wechselbezug mit der Wirklichkeit herstellt, um an ihrer Banalität den Schein aufgehen zu lassen, der Film sei wirklichste Wirklichkeit und dabei noch Sinngebungsinstanz, so kann in dieser Konfrontation umgekehrt auch dieser Schein wieder als illusionär durchsichtig gemacht werden. Die Erzählung ist die Schöpfung aller Dinge und setzt das Kino nur als Demiurgen ein. 4 Sie ist es sogar, die für diese Geschichte Roths zuerst die psychologischsozialkritische Motivation nahe legt, das Kino werde diesem Rex, diesem Produkt erbärmlicher Verhältnisse, zum Ersatzleben, das ihm einen Ersatzvater liefern muß, weil er keinen wirklichen Vater erlebt hat. Das Kino sei seine Ausweichwelt, seine Lebenslügenwelt, weil er zu kümmerlich ist, der Wahrheit ins Auge zu sehen und seine Lebensrealität in Angriff zu nehmen. Letzten Endes aber ist es gleichfalls das Medium des Erzählens, das diese Motivation wieder vorläufig macht und zersetzt. Und zwar zuerst durch eine vom alternden Rex dem Icherzähler erzählte Episode: Als elfjähriger Junge und Heimkind ist er mit dem Auto in einen Ort gebracht worden, den er für den Wohnort seiner Kindheit hält. Am Fenster eines mit Erwachsenen überfüllten Zimmers stehend, durch das eben - wie er dumpf spürt - vom Leichenbestatter und Präparator die Eingeweide seiner toten Mutter in zwei schwappenden Kübeln getragen worden sind, erblickt er draußen das Kino 181 Das Erzählen ist die Handlung 5 Die Zärtlichkeit der Vaterhand zur Mutter ist zugleich eine Antwort von Rex’ Phantasie auf Petes vorhergehende rüde Frage, ob die großen schönen Hände des Vaters, von denen er schwärmt, nicht immer die Mutter verdroschen hätten (14). seiner Kinderzeit, wo „alles begonnen“ hatte (30). Und nun wird im Fragespiel mit dem Haupterzähler, der das Erzählen in die Hand nimmt, klar: Dieses Kino heißt REX, und Rex hat seinen Namen von diesem Kino, in dem seine Eltern allabendlich vom laufenden Film eingelullt und doch wirklich verliebt und zärtlich zusammengesessen und über den Namen des Kindes, das sie erwarteten, geflüstert haben. Es ist dasselbe Kino, in dem der Junge später, als streunendes Kind, während die verlassene Mutter der Prostitution nachging, seine Zeit zugebracht hat: „Oft lagen wir auf der Bühne, weil alle Reihen besetzt waren, und starrten senkrecht die zerschlissene Leinwand hoch.“ (32) Selbstzeugung durch das Wort Und jetzt vollzieht sich im Erzählakt Entscheidendes. Der Haupterzähler versteht intuitiv, was in Rex vorgeht, und er erzählt es seinerseits: Der erzählende Rex ist „aufgeregt zufrieden“ (32), weil er sein „unbekanntes Elternpaar, das er, wie er selbst zugab, auf keinem Photo, auf keiner Straße mehr wiedererkannt hätte, jetzt vor sich sah […].“ Der Haupterzähler imaginiert erzählend in den erzählenden Rex hinein, was dieser in die Erinnerung an das Kino seiner Kindheit „hineinimaginiert“ haben mag (32). Der Haupterzähler vermutet, Rex’ Vater habe in diesem Kino Gary Cooper erstmals auf der Leinwand gesehen, dessen Hände er gedoubelt haben soll. Zur Imagination des Haupterzählers gehört es, daß Rex sich jetzt diese Hände vorstellt, wie sie im Kino seine schwangere Mutter anfassen (wobei sie durch ‚Handauflegen‘ den ungeborenen Rex auch schon mit Gary verbinden, dessen Hand er später nicht zu fassen bekommen wird. 5 ) Vor allem aber läßt der Haupterzähler nicht die in diese Situation hineinerfundenen Eltern, sondern Rex selbst im Phantasieblick zuerst auf die Mutter, dann auf beide zukünftige Eltern, das Umgekehrte erleben: „[…] während er noch ungeboren in ihrem Bauch saß, umfing sein Name längst beide und flüsterte ihnen ein, wie er zu nennen sei. Aus der Leinwand kam er, der Name […]“ (32f.) Doch der Name, der ihn erschafft und hervorruft, ist kein Produkt der Leinwand, vielmehr ‚kommt‘ er aktiv und ist eben ein begründendes Wort, ja, in einer magischen Weise ist dieses Wort Rex selber: „Es schien Rex, als habe er, gewissermaßen, sich selbst getauft. […] Er, der Einflüsterer, Lenker, REX, […] Lange bevor er das Licht der Welt sah. Als er’s noch war, Licht der Welt […] Dreimal die Woche: Raum, Licht und Stimme, gepriesen und preiswert, Ritus Rex.“(33) 182 Christentum und Literatur Nicht umsonst spielt diese Geschichte vom Ritus Rex in einem dezidiert jüdischen Milieu, in einer Snack-Bar namens „Noah’s“ mit Fotos jüdischen Lebens, Bildern aus Jerusalem und von Einstein und Ben Gurion an der Wand und einer „archengleichen“ (20) Mesusa am Türpfosten, der bei frommen Juden für ihre Wohnung vorgeschriebenen fingerlangen Kapsel mit darin aufbewahrtem biblischem Segenswort. Aber dieses Milieu ist christlich tingiert. Rex wird von Pete „gehässig“ (18, vgl.a. 12) mit dem Spottnamen „Rex Judaeorum“ belegt - die Inschrift am Kreuz des Messias und Gottessohns Jesus Christus. Indem der Name Rex vom „Einflüsterer“ übers „innere Ohr“ in Rex’ Vater eingeht, so wie nach alter malerischer Darstellung der Verkündigungsszene der zeugende Heilige Geist ins Ohr der Maria, werden noch die zweite und die dritte Person der christlichen Trinität, eben der Heilige Geist, in den „Ritus Rex“ hineingeschlungen. Hauptbildgeber für Rex’ Selbstschöpfung ist jedoch die alttestamentliche Schöpfungsgeschichte. Der als Schöpfer durch das Wort und Einflüsterer sich selbst erzeugende und taufende Rex - das macht Rex zur Substitution des Schöpfergottes, und das vereinnahmt auch REX JUDAEORUM ins Triumphale dieser Phantasie. Dazu trägt die weitere Christus-Anspielung bei, Jesu Selbstprädikation als „Licht der Welt“ (Joh 8,12. s.o.). Auch wenn Pete ihn mit seinem Spitznamen „Rex Judaeorum“ verhöhnt, meint er nicht den Schmerzensmann, sondern den von sich eingenommenen und sich bei den Frauen einschmeichelnden Rex als Pseudomessias. Diese Selbstvergötterungs-Imagination - „gepriesen und preiswert“ im Kino und als Kino, aber im erzählten Kino wohlgemerkt! - deutet gewiß nicht auf eine jüdisch-christliche Wendung der Geschichte. Es ist eine poetologische Indienstnahme des biblischen Vorstellungskomplexes insgesamt, abermals nicht durch explizite poetologische Reflexion, sondern in einer Art von Phantasie-Ausschweifung im Erzählakt des Ich-Erzählers. Die metaphorische Deutung des Poeten als menschlichen Schöpfers durch das Wort hat eine lange Tradition und taucht hier, offenbar-versteckt, in moderner Transformation wieder auf, eingerahmt von traditionellen sakralisierenden Attributen und Zuschreibungen. Der Ich-Erzähler ahnt bei Rex in dieser Episode eine Verwandlung, „als sei ihm […] etwas zugefallen, was nicht nur den Zauber der Kindheit im Kino beschwor, sondern ihm Kraft verlieh über seine Vergangenheit. Als habe er sich plötzlich, statt sich immer nur als Zufall zu sehen, - er sprach von sich als einer Abtreibung, die der Mutter nicht gelungen war - mit dieser Erkenntnis in die Mitte gerückt, jedenfalls näher zur Mitte hin.“ (31) Genau besehen, hat Rex’ „Erkenntnis“ (31) von der innigen Einheit seiner werdenden Eltern im Kino, von der die Elevation ausgeht, den gleichen Status wie die „Legende“, nach der Rex’ Vater die Hände von Gary Cooper gedoubelt haben „soll“. Seine Findung-Erfindung der Eltern im Kino ist ein Akt imaginativer Vergegenwärtigung, darin selber vornehmstes Beispiel für die 183 Das Erzählen ist die Handlung Selbsterzeugung des erzählenden Rex im Kino, die aus dem „unendlichen Außenseiter“ (32) die Potenz des schöpferischen Wortes hervorgehen läßt. Das ist mehr als die Kompensation eines armseligen Lebens. Rex, die mißlungene Abtreibung, findet in einem produktiven Akt die produktive Mitte sein Lebens, und dieses Leben aus der Mitte seiner inneren Bedürfnisse ist ihm sein wirkliches, ein reiches Leben. Von hier wird erst recht auffällig, wie sehr Rex’ Aussage, von seinen Eltern so gut wie nichts zu wissen und sich kaum an sie zu erinnern, der Fülle der von ihm erzählten Kindheitserinnerungen widerspricht. Das heißt verallgemeinert: Real ist, was als Äußeres auf Inneres antwortet oder veräußertes Inneres ist. Was wir bisher, vor allem in der Relation zum Film, provisorisch als Lebensrealität, praktische Wirklichkeit und ähnlich bezeichnet haben, ist ein Konstrukt von großer Erlebnisdichte, aber ungewissem faktischem Gehalt, selbst dieser durch die Kraft der Phantasie überformt, so daß die Opposition Realität - Scheinrealität, Film - Wirklichkeit für diesen Text - und durch diesen Text als Text! - revidiert und umfirmiert und bis zu einem gewissen Grad sogar außer Kraft gesetzt werden muß. Der randständige abgelebte Rex rückt nicht nur als symbolische Stellvertreterfigur der Poesie zur Mitte der Geschichte. Im Akt seines Erzählens sehen wir ihn aus belanglosen Brocken einen Lebenszusammenhang ‚stiften‘, an den erst Sinnfragen überhaupt gestellt werden können. An der Entstehung dieses Zusammenhanges sind Kino und biographisch gelebte ‚Realitäts‘-Fragmente gleichermaßen beteiligt, sogar Sinngebungsmomente aus den Filmreminiszenzen, aber die Verdoppelung und Überwölbung der Selbsterfindung Rex’ durch das Erzählen des Haupterzählers gegenzeichnet Rex’ Selbstproduktion und macht endgültig das Erzählen zur übergreifenden Handlung dieser Geschichte. Und das macht auch den kommunikativen Zusammenhang zwischen Erzählen und Hören, jenseits von Plot oder Intrige oder der geläufigen gesellschaftlichen und sozialen Vorgänge in der geläufigen Epik, zum grundlegenden sozialen Geschehen. Der leidenschaftliche Zuhörer erst weckt in Rex den begnadeten Erzähler. Sein Erzählen inszeniert und verifiziert den Topos vom Poeten als Schöpfer durch das Wort. Der Traum vom Bärenhemd Neben der Erzählung und dem erzählten Film ist die dritte konstituierende Schicht der Rothschen Geschichte der erzählte Traum. Schon bei Rex’ erster Erzählung wird der Haupterzähler „von der Erinnerung an einen Traum überrascht, den ich nachts zuvor gehabt hatte“ (16) und der nun eingeschoben erzählt wird. Diese Traumerinnerung, die sich in Etappen fortsetzt, durchzieht, wie die „High-Noon“-Anspielungen, die gesamte Erzählung und dringt emotional in anklingende Situationen der Tagwelt ein, so daß auch auf 184 Christentum und Literatur der Ebene des äußersten und letzten Erzählers von innen her ein Wirklichkeitsraum als Bedeutungsraum entsteht, nun erweitert um ein drittes Element - Traum. „Im Traum saß ich, wie jetzt, mit Rex am Fenster im Noah’s“, erzählt der Außenerzähler(16). „Ich fand es seltsam bedrohlich, daß die Wirklichkeit hier im Laden meinem Traum in Grundzügen ähnelte.“ (18) „Sollte ich Rex von meinem Traum erzählen? Ich wich dem eigentlichen Traumbild aus, aber nicht ganz. Es gelang mir einfach nicht.“ (21) Wie der Snackbar-Name „Noah’s“ an das Überlebensgefühl jüdischer Einwanderer und Emigranten in der Arche USA erinnert, erinnert er auch an Sintflut, Weltgericht und Weltuntergang. Vor dem Erzählen der Traumschrecken weicht der Erzähler auf jüdische Lebensbilder an der Wand aus, „die es in meinem Traum nicht gegeben hatte“, aber das Ausweichen spült erst recht eine Welle des Entsetzens hoch. Sie läßt den Ich-Erzähler, statt des Traums und doch verräterisch, seinem Mitgast Rex fast wider Willen von drei Schreckensbildern aus der Zeitung berichten, einer Bildsequenz wohl einer Überwachungskamera vom Absturz einer tanzenden jüdischen Hochzeitsgesellschaft durch den Saalboden in den Abgrund eines vierstöckigen Hotels in Jerusalem: „Die Menschen, die Sekunden vorher noch getanzt und gesungen hatten, waren kaum noch erkennbar, dunkel verzogene Splitter im Sog eines hellen, hinabwärts ansetzenden Wirbels.“ „[…] das letzte Bild: Ein riesiges staubquillendes Loch […].“ Der „Alptraum“ (alles 21) ist ein in Standbildern gefrorener Film; Wirbel und Sog, von denen der Erzähler spricht, weisen auf einen verdrängten Wirbelsturm der Vernichtung. In seinem Traum nämlich saß der Icherzähler mit Rex am Fenster des „Noah’s“, die Straße draußen im bleichen Mittagslicht, leergefegt wie in „Zwölf Uhr mittags“ (16), als ein wilder, graupurpurn wie düsteres Feuer aufflackernder, die Fensterfront wegreißender Wirbelsturm losbricht. Der Traumerzähler flieht hinter die Bilderwand des „Noah’s“, die im Traum plötzlich keine Wand mehr war, sondern ein dunkler fensterloser Raum, in dem er sich schutzsuchend zu Boden wirft. „Hier war ich, wie jetzt in der Erinnerung an ihn, nachts zuvor aus dem Traum erwacht. Berserker. Das Wort kam mir ein“ (17f). Es ist zunächst eine Wort-Metapher für den Sturm und seine Berserkergewalt, aber es führt darüber hinaus zwei spezielle Vorstellungen mit sich: Tiergeruch und Klang von Hufen (18). Auch der Tiergeruch gehört noch in das Umfeld von Berserker: Indem das Wort im Altnordischen „der Bärenhemdige“ heißt und wohl den in Bärenfell gehüllten, vielleicht den sich ekstatisch in einen Bären verwandelnden Krieger bezeichnet, ist es aber zugleich eine Deckadresse für ein viel tiefer liegendes Bedeutungsfeld, und zwar eines, das - darauf wird später zurückzukommen sein - zu Rex gehört. Erst in Rex’ später erzählter Kindheitserinnerung an die ausgeweidete Mutter liegt der Anknüpfungspunkt. Denn da fällt dem Kind, das Rex damals gewesen war, zu einem der Anwesenden, einem Sattler, etwas wieder ein: Dessen früher in der Werkstatt mit anwesender Großvater oder 185 Das Erzählen ist die Handlung Vater war ein Bürgerkriegsveteran, der eine Art Hemd aus Bärenfell trug (28). Er war - eine weitere Erzählung wie die Puppe in der Puppe - mit elf Jahren ein Waisenkind, also auch eine Identifikationsfigur für Rex. Als drummer boy war er mit den Konföderierten in den Krieg gezogen, wo er einmal in seiner Trommel Schutz vor dem Feind hatte suchen müssen. Das alles kommt dem Jungen wieder im Totenhaus der Mutter bei dem dort herrschenden seltsamen Geruch und der drückenden Stimmung (28), „denn in der Trommel würde es nach Tier gerochen haben“, und er stellt sich vor, er habe selber früher den Geruch aus der Trommelhaut herausgetrommelt und ein andermal in ihrem Versteck sich verborgen (28). Nach der Rückkehr von einer Deutschlandreise, während der Rex einen schrecklichen Tod gestorben ist, stellt sich dem Haupterzähler endlich der verdrängte Schluß seines Traums wieder ein, der mosaikartig signifikante Elemente der gesamten Erzählung in sich vereinigt. Der Ich-Erzähler als Träumer liegt, vorm Berserkersturm „in dunklen Raum verkrochen“ (48), wie der drummer-boy in der Trommel: „Wie Tiergeruch roch es. Bärenhemd. Und klang doch wie Klang von Hufen.“ (48) Hufklang, Berserkersturm, Bärenhemd, Kriegsveteran, Trommler - das sind Allusionen von Männlichkeit/ Väterlichkeit, aber zugleich von Weiblichkeit/ Mütterlichkeit: In der Kino-Selbsterzeugungsphantasie liegt Rex, „noch ungeboren in ihrem [der Mutter] Bauch“ (32). Dieselbe Geborgenheit bildet sich im Traum in der uterus-artig schutzgewährenden Trommel mit dem freigetrommelten Tiergeruch des Trommelfells ab (28), der im Geruch aus dem Totenzimmer der Mutter und aus den hindurchgetragenen schwappenden Eingeweidekübeln mit schwarzer nagellackfarbener Flüssigkeit wiederkehrt. Schon früher, als der kleine Rex unfreiwillig einen Türspaltblick auf die mit einem Mann beladene Prostituierten-Mutter gewonnen hatte, erzeugt schwarzer Nagellack auf dem Teppich eine Blut-Assoziation (22f.). Der Vatersog, dem Rex ausgesetzt ist, ist also auch ein Muttersog und letztlich der Sog aus der Zerstreutheit in eine Einheit. Die Vereinigung von Mann und Frau ist ein Urbild der Ganzheit. Der Überschreiter Doch nun kommt im Traum Hufklang näher; einer überschreitet den Liegenden. Er heißt der „Überschreiter“, und ein Pferd ist ihm zugeordnet (49). Der Träumer „hielt die Hand hinauf“ „Und griff an zerschlissenes Leinen“ (48) - Rex als Kind im Kino, über sich die zerschlissene Leinwand. Vielleicht wird von dort einer dieser Western-Helden als eine Präfiguration des Überschreiters assoziiert, vielleicht auch der Hufklang des davongaloppierenden Bad Boy (32). Vor allem aber ist ein Junge dafür wichtig, am Zaumzeug ein Pferd ziehend, sein Ellenbogen im rechten Winkel verwischt, auf einem der Photos 186 Christentum und Literatur 6 Daß der Ich-Erzähler an anderer Stelle die Bilder finden möchte, die Rex’ Hände enthielten (49), spricht dafür, daß diese Hände hier symbolisch als Kapsel von Rex’ Geschichte zu verstehen sind. jüdischen Markttreibens an der Wand des „Noah’s“, die der Ich-Erzähler oft gesehen, aber erst spät bewußt aufgenommen hat. Dieser Junge hat ein Pferd von einem Lastkarren abgeschirrt (19), also symbolisch freigesetzt, und geht mit ihm davon. Auch bei dieser Bildbetrachtung war es dem Ich-Erzähler, „[…] als wäre gleich Klang von Hufen zu hören.“ Über dem allen liegt im Traum ein neues Rex-Judaeorum-Bild: Der „Überschreiter“ [= Transzendierer] erinnert an den auferstandenen, transzendierenden Messias, Sieger über den Tod, der in ostkirchlich geläufiger Darstellung des Auferstandenen mit einem großartig ausgreifenden Schritt die Öffnung der Vorhölle überschreitet, wo Adam und die jüdischen Erzväter, die dort des Erlösers harren, aus den Fesseln des Todes abgeschirrt werden. Gegenüber dem Vorstellungskomplex ‚Rex als Selbstschöpfer im Kino‘ verdichten sich im Traum des Haupterzählers innerhalb der biblischen Bezüge eschatologische Anklänge, so daß im Hufklang auch die apokalyptischen Reiter gehört werden können: „Zeitenende, der König stirbt, der Abgrund tut sich auf“ (47), Untergang, schließlich Triumph über den Tod. Erstmals in diesem Traum steht im Überschreiter REX JUDAEORUM selbst im Doppellicht von Verlorenheit und Rettung. Er ist als triumphale Gestalt zugleich „ein Gefangener, der über mich schritt, in staubigen Sträflingskleidern voller Zeichen, wie Staub aus den Kapseln“(48) - Staub voller Zeichen aus den Urnen der Getöteten? Aus der Kapsel der Mesusa? Aus der Samenkapsel, dem Uterus der Erzählung, „die sichtbar das Unsichtbare verwahrt“ (30), einer Kapsel, wie sie der nachdenkende Rex in einer Erzählpause im Anlegen seiner Fingerkuppen an das Fensterglas kurz bildet? 6 Alles das klingt an, auch, mit den Sträflingskleidern des Gefangenen „voller Zeichen“, wie sie, farbigen Stoffteilen aufgeprägt, an den gestreiften Häftlingskleidern befestigt waren, Konzentrationslager und Holokaust, Reminiszenzen, die in diesem jüdischen Milieu naheliegen. Zuletzt aber wird der Überschreiter zum Reiter des Sturms, im Sturm-Pferd den apokalyptischen Schrecken bändigend. Er reitet durch das offene Fenster nach Osten, „wo es zu tagen begann“ (48), in Richtung der aufgehenden Sonne und des Morgenlichts der Ewigkeit. Dieses Geschehen ergreift den Ich-Erzähler, und vom weggeduckten, angstverzehrten Träumer „wich alle Angst“ (48), „Und als er mich traf, Staub voller Zeichen, da wich alle Angst von mir, umzukommen im Sturm.“ (48) Eschatologisch ist der Vernichtungssturm der Rettungssturm und verheißt aus der Krise Rettung, auch dem Icherzähler als letztinstanzlichem Repräsentanten der Dichtung in dieser Geschichte. Aber während sich in Rex’ Kino- Apotheose im Dichter als alter deus und Schöpfer ein geläufiges poetologisches Bild herauskristallisiert, ist das hier nicht der Fall. Der Dichter als 187 Das Erzählen ist die Handlung rettende Messiasfigur ist ungeläufig. Vor allem ist ja hier der Ich-Erzähler, der letzte Bezugspunkt der poetologischen Bezüge, der zu Rettende und nicht der Retter. Er ist nicht Rex Judaeorum. Der in Inversion angesprochene Heilsanspruch der Poesie wird, trotz der leisen poetologischen Allusionen im Buchstabenstaub des Überschreiters, nicht erreicht. Im Gegenteil. Den Ich- Erzähler, obwohl „wie im Traum, wie eben von ihm gestärkt“, überfällt trotzdem nach Abschluß der Traumerinnerung Ungewißheit, tiefer Zweifel: „Wer war der Gefangene, der mich überschritt, daß alle Angst, alle Verlassenheit mich verließ? Und wer war im übrigen Rex? “ „[…] wer war er mir, daß er mir im Traum aufgetaucht war? “ (48f.) „Was war er mir, daß er nochmals erschien […]“(49) „Nochmals“, das heißt in der letzten, jetzt stattgehabten Traumvergegenwärtigung. Da der Traum des Ich-Erzählers schon vor Beginn der gesamten Geschichte geträumt war und in ihr nur erinnert wird, das Traum-Ende sogar erst jetzt, ist mit dieser Reflexion auch jetzt erst das im Traum Erlebte endgültig eingeholt. Und es wird nun bearbeitet aus der Perspektive der Ereignisse, die inzwischen in der Alltagswelt stattgefunden haben. Der Tod des Rex und die Krise des Ich-Erzählers Diese Reflexionsgegenwart ist bestimmt durch die Erschütterung, daß Rex, der so schöpfergöttlich imaginiert hatte, im Traum nicht von der eschatologischen Hoffnung, sondern von der eschatologischen Vernichtung betroffen wird. Pete hat dem Ich-Erzähler von Rex’ Tod erzählt. Im prognostischen Traum wird er „zerrissen“ (47) vom Endzeitsturm des Jüngsten Tages (47). Keine Kette der Hände hat ihn gehalten, die er vergeblich hatte bilden wollen, denn ebenso wenig, wie der Handschlag zwischen ihm und Gary Cooper zustande gekommen ist, hat er beim letzten Abschied von dem nach Deutschland abreisenden Ich-Erzähler stattgefunden (42, 46). Damit steht auch dieser, nach Amerika zurückgekehrt, an dem „Abgrund“ (49), in den Rex inzwischen gestürzt ist, ja, fühlt sich in diesem Untergang „mitbegraben“ (44). In Verzweiflung ist Rex gestorben, an Krebs, wie Gary Cooper. Aber anders als Gary in der Abschiedserzählung hat er Wochen vorher schon - mit seiner Erzählung vom Abschied nehmenden Gary Cooper! - eine inhaltlich erkennbare, doch nicht erkannte Todesbotschaft hilfesuchend ausgesandt. Verlassen, hatte Rex im langen Sterben entsetzlich und unaufhörlich geschrieen: „THE KING IS DEAD.“ (44) Das hört sich an wie der radikale Widerruf des poetologischen Triumphs der Selbstschöpfung, den Rex als Symbolfigur der Poesie im Kino erfahren hatte. Auch Rex Judaeorum ist in der Selbstschöpfer-Phantasie im ungebrochenen Schöpferlicht aufgetaucht. Nicht nur, weil sie im billigsten Kino stattfindet, hieß Rex’ Apotheose „gepriesen und preiswert“ (33), sondern auch, weil sie, als pures, schattenloses 188 Christentum und Literatur Licht, zu viel ausblendet, zu billig ist. In Rex’ Zerreißen sind Passion und Auferstehung, wie sie im wahren König Christus zusammengehören, auseinander gerissen. Rex hat Verzweiflung und Todeserfahrung nicht, wie der eigentliche Rex Judaeorum Jesus Christus, in sich hineinnehmen und damit nicht seinem Selbstbild und Weltbild integrieren können. Freilich, dieser schreiend Verzweifelte ist auch der sterbend vom Ich-Erzähler allein gelassene Rex, der ja keineswegs seinerzeit sich selbstherrlich als Schöpfer-Poeten eingesetzt hatte, an dem vielmehr der Ich-Erzähler diese Züge hatte hervortreten lassen. Und so ist auch der Ich-Erzähler in diesen Tod verwickelt, er, der beide Seiten an seinem Freund, den Rex und den „unendlichen Außenseiter“ (32), sehen, aber nicht in eins sehen konnte; er, der ihn im Stich gelassen hat. Deshalb fällt nun auch der Ich-Erzähler, trotz der befreienden Gehalte des Traums, in Verzweiflung. Weder Rex noch der Ich-Erzähler bis hierher können Rex’ Tod als Krebskranker akzeptieren, so wie die Idealfigur Gary Cooper seinen Tod akzeptiert hat. Sowohl Rex wie der Icherzähler können vorerst den Zugriff des Todes nur als Auslöschung von Rex’ poetischer Selbsterzeugung erfassen, die doch Schöpfung, ein Gegenbild des Todes war. „THE KING IS DEAD“ ist tatsächlich Rex’ Widerruf. Und so kann auch der Ich-Erzähler an diesem Tiefpunkt sein Dauergespräch mit Rex, das die Bedingung dieses Durchbruchs zum Poeten war, nur negativ, als Krankheitssymptom, ja als Falle sehen: „Die tödliche Krankheit: unser Gespräch, das sich kreisend, einkreisend, in der Richtung auf mich zu bewegt hatte. Und hier, nur Momente zuvor, war ich erreicht.“ (49) „Mir war, als hätte ich Rex - in seiner Hilflosigkeit, seiner sinnlosen Flucht vor dem Tod, seiner Suche nach Händen - hier als mein Eigenstes erkannt. Das mir nicht gehörte. Vielmehr ich gehörte ihm, war ihm ausgeliefert, ohne es zu wissen. Denn ich lebte ihn ja, täglich, in seiner Flucht, seiner Einsamkeit, seiner verlogen-verlorenen Suche. Nein, umgekehrt. Er lebte mich. Er war mein dunkler Grund. ‚Rex Judaeorum‘. Lächerlich unverstanden, gänzlich unbewußt. Mein dunkler Gott, der mich dunkel gelebt hatte.“ (49). Der tote Rex wird nun dem identifikatorischen Traumgrübler der Außenerzählung zu seinem dunklen Gott, seinem Todesgott, seinem dunklen Grund. Von ihm ist er besessen und überschwemmt. Aber indem der Außenerzähler diese Verzweiflung annimmt und sich ihr stellt, indem er Rex als seinen dunklen Grund erkennt, tritt er ihm auch schon gegenüber und nimmt ihn zugleich als Teil seiner selbst an. Er befreit sich gerade damit vom Todesruf, der von Rex ausgeht, daß er ihn als seinen dunklen Bruder leben läßt. In der Krise, im Durchgang durch den Zusammenfall mit Rex gewinnt er Abstand und überschreitet selbst angstbefreit. Sein Traum hat schon im voraus in der Gestalt des Überschreiters die beiden Seiten des Rex Judaeorum, die Erniedrigung und die Erhöhung, zusammengesehen, die er in seinem Wachbewußtsein 189 Das Erzählen ist die Handlung nicht hatte Integrieren können, aber immerhin war es doch sein Traum gewesen, den er jetzt erzählend-deutend-erkennend erst wirklich aneignet. Im Ich-Erzähler erzählt Rex weiter Rex und der ins Triumphale verengte Rex Judaeorum in ihm sind untergegangen; aber der Ich-Erzähler geht weiter, vom Überschreiter mitgezogen, der im Traum auch Gefangener ist und darin die Triumphseite und die Passionsseite des Messias vereinigt. Er geht weiter, auch indem er zu einer Neudeutung des toten Rex fähig wird - als Vorläufer. Der dunkle Gott ist in ihm untergegangen: „Dem neuen [nämlich dem neuen Gott] Platz zu machen. So war es angekündigt. So, durch den Überschreiter, den gefangenen Befreier geschehen.“ (49f.) Schon die vom Ich-Erzähler vorgenommene Selbstidentifizierung mit Rex bestätigt nochmals, daß er nicht etwa abgetan werden kann als deklassierter und illusionistischer Wirklichkeitsflüchtling, denn dann würde diese Abwertung Rexens auch für den Ich-Erzähler und die gesamte Erzählung gelten. Die Ablösung des Ich-Erzählers von Rex und seine gleichzeitige innere Mitnahme durch Deutung als Vorläufer unterstreicht das. Noch weiter geht aber etwas anderes: Vollzieht und bewährt Rex’ Erzählen in Actu, was die ihm vom Ich-Erzähler zuphantasierte Selbstschöpfer-Imagination prätendiert, so wird auch die Neubestimmung des toten Rex und damit die Neubegründung einer Rückbeziehung auf ihn, die der äußere Ich-Erzähler in der letzten Phase seiner Traumreflexion vornimmt, praktisch. Sie stellt sich nämlich vor Augen in der Weise, wie der Ich-Erzähler auf der letzten Stufe seines Erzählens Rex’ Erzählen in seinem Erzählen bewahrt und am Leben erhält, dem Überleben zuführt. Seine Sprache und die in ihr lebendig bewahrte Sprache des Erzählers Rex geben einander wechselseitig Resonanz. Koinzidenzen Damit werden nun auch weitere Merkmale dieses Erzählens verständlich. Zunächst die fortschreitende Koinzidenz der Figuren. Aus dem sogartig wirkenden Zusammenfluß von Erzählsträngen, Realitäts- und Filmsequenzen, Traum und Tag-Wirklichkeit folgt ein Zusammenfließen der Personen in Roths Geschichte, die mit der Verflechtung von Rex’ Vater, Gary Cooper und dem Marshal in „Zwölf Uhr mittags“ einsetzt, zu Rex mit dessen Lebensabschied auf den Spuren Coopers übergreift und mit der Doppelgänger-Krise des Ich-Erzählers endet. Im Text wird dieses Übergreifen auf den Ich-Erzähler zuerst in der Erzählung deutlich, daß auch bei ihm als Kind Gary Cooper in „High Noon“ Stellvertreter des Vaters geworden ist. In „Zwölf Uhr mittags“ wird am Anfang ein Lied gesungen, über das sich der Ich-Erzähler und Rex einmal unterhalten hatten: „Do not forsake me, oh my darlin’“. Die Er- 190 Christentum und Literatur innerung führt den Ich-Erzähler darauf, daß das Lied, von seinem eigenen Vater gesungen, einst in ihm eine Angst aktiviert hatte, „die mir den Atem abschnürte“, seine Eltern könnten auseinandergehen (35). Auch der Haupterzähler als Kind war also geprägt von Furcht vor Vaterverlust, Mutterverlust, dem Verlust beider Eltern in ihrer Einheit als Urbild der Ganzheit. Eine Mangelerfahrung in ihm antwortet auf den Mangel in Rex’ Leben. Deshalb kann sein Erzählen durch Rex hindurch auch von ihm selbst und einem eigenen Lebensmangel flüstern. Solcher Koinzidenz der Figuren korrespondiert eine Koinzidenz der Bildvorstellungen, die bis zur osmotischen Durchlässigkeit der Psyche des Ich- Erzählers für psychische Inhalte seines anderen Ich Rex geht. Am eindringlichsten stellt sich das in dem großen Traum des Ich-Erzählers dar, wie schon in Bezug auf die Mann/ Frau/ Vater/ Mutter-Allusionen und in Bezug auf die Kino- Erinnerungen erörtert - etwa Rex’ Blickwinkel aus Rückenlage im Kino, die im großen Traum des Ich-Erzählers vom Überschreiter wiederkehrt. Manche dieser Resonanzen und Korrespondenzen werden vom zentralen Ich-Erzähler bewußt in als-ob-Vergleichen vermerkt. So heißt es von Rex: „Es war, als hätten sich ihm die Bilder, die mir durch den Kopf gingen, beim Blick aus dem Fenster mitgeteilt.“ (21). Derart bilden sich Echoreihen; ein inneres Bild klingt als Echo in einem anderen auf (18), wobei sich in der Synästhesie ‚Bild als Echo‘ auch sprachlich die Verschmelzung fortsetzt, oder es gibt Folgen hintereinander gestaffelter Durchblicke: „Es war, als blickte Rex durch das Fenster im Noah’s auf ein zweites, unsichtbares, dahinter, das draußen schon immer gewartet hatte und ihm nun […] geöffnet war.“ (30) Überhaupt ist der Blick durch Fenster und Türen, intensiviert durch deren Öffnung, ein prägnantes Bild für die dichteste Berührung einer Erlebnissphäre mit der anderen, (19) die sich bis zum Schock steigern kann. Jederzeit können die Phänomene ineinanderwirbeln, kann ein Sturm aufkommen, der Boden durchbrechen. Das Kind Rex erlebt ihn, wenn er durch das offene Fenster plötzlich das Kino seiner Kindheit sieht und ihm zumute ist, „als könne der Raum plötzlich nach hinten abkippen und ich durch die offene Tür in das Zimmer der Toten gerissen werden“ (30), oder wenn er - von Rex viele Jahre später mit eingefrorenen Emotionen geschildert - als Kind durch einen Türspalt seine Mutter, quasi optisch zerstückelt, im Coitus mit einem fremden Mann erblickt (23). Man könnte in diesem Erzählen manchmal die Grenze zum Beziehungswahn überschritten sehen; freilich, immer wieder ist das festzuhalten, als erzählstrategischem Verfahren, als artistischem Prinzip mithin. So kommt dem Ich-Erzähler im Blick auf die Photos an der Wand des „Noah’s“ der Einfall, „sie könnten Hinweise enthalten auf das, was die Wand verbarg, auf den dunklen Raum, der mir traumhaften Schutz gewährt hatte. […] Wenn ich die unbeachteten Bilder zu lesen verstünde, wäre die Wand in ein Fenster verwandelt, wäre Einsicht in eine Wirklichkeit, die sich hinterm gewobenen Leinen verbarg“ (19) „Aber wie wären die Bilder zu lesen? War es Unsinn, in 191 Das Erzählen ist die Handlung ihnen nach Spuren zu suchen, in ihrer Wirklichkeit etwas zu ahnen, das sie mit meiner verband? “ (20). Es scheint, als werde kurz nach dieser Überlegung sogar ausdrücklich Beziehungswahn praktiziert, wenn es heißt: „Etwas wartet unter dem Boden oder liegt hinter der Wand schon bereit, dachte ich, an die Wand im Noah’s erinnert, neben der ich noch immer stand. […] In Wirklichkeit - einer Wirklichkeit, die mir, kaum war sie bewußt, nicht weniger kurios erschien als mein Traum - in Wirklichkeit teilte Noah’s diese Wand ja mit Hooper’s Camera, dem Photoladen nebenan. Ausgerechnet mit einem Photoladen! […] Im übrigen, „Hooper“ … war das nicht derselbe Name wie „Cooper“? Du hauchst das C an, schon geht’s durch die Wand in den …“ (22) Der Satz wird nicht abgeschlossen. Alle diese Phänomene der Durchlässigkeit bis zum Durchbruch, des Zusammenflusses und des unendlichen Beziehungsspiels gehören zu diesem Erzählen des Erzählens. Sein letzter Grund liegt im Verhältnis von äußerem Ich-Erzähler und Rex als Binnen-Icherzähler, so wie umgekehrt dieses Erzählen auch wieder der Ausdruck dieses Verhältnisses ist. Wie bei Rex eine Art Selbstschöpfung im Erzählen vor sich geht, so auch beim Icherzähler - mit dem fundamentalen Unterschied allerdings, daß Rex’ Erzählen vor seinem Tod abbricht, damit scheinbar mit in den Abgrund gerissen und erst vom überlebenden und aus der Identifikation mit Rex herausgetretenen Ich-Erzähler ‚aufgehoben‘ wird. Der lebende Ich-Erzähler läßt den toten Rex nicht nur ergebnishaft, sondern in dessen eigenem Erzählen leben, indem er es in sein übergreifendes Erzählen einschließt. Dieses umgreifende Erzählen des Ich- Erzählers aber setzt den Durchgang durch seine Lebenskrise voraus und vollendet ihn zugleich als Prozeß, ihn in sich sammelnd, reflektierend und konstituierend. Wie Rex in seinem eingeschlossenen Erzählen auflebt, erzählt auch der Ich-Erzähler nicht etwas zuende Gelebtes. Es wird im Erzählen durch und als Erzählen weitergelebt, und so bleibt dieses Erzählen offen und in seiner Offenheit authentisch. Auch sein Erzählprozeß ist ein Lebensprozeß, der den Erzählprozeß-Lebensprozeß von Rex in sich trägt, wie seine Mutter, im Kino namens REX sitzend, im Bauch den Embryo Rex trägt. Solcher Art ist lebenbergender Samenstaub aus Zeichen, wie er aus den Kapseln des gefangenen Überschreiters geflossen ist. Die Geschichte bleibt offen Der Vollzug dieser Offenheit bleibt hier noch zu bedenken. Der Ich-Erzähler nimmt Rex mit, aber beide nehmen nicht die beiderseitige Identifikationsfigur Gary Cooper mit. Gary Cooper verabschiedet sich; in der Aneignung von „High Noon“ wird das Happy End weggeschnitten; der letzte der Text- Handlungs-Bezüge ist der Abschied des Marshals ins Ungewisse. Die einzige Großaufnahme von Gary Coopers Händen, die tatsächlich dem Ich-Erzähler 192 Christentum und Literatur 7 Nimmt man die von Roth in der Heidelberger Poetikvorlesung (S. 40) im Blick auf diese Erzählung angeführte Konnotation auf: ‚Osten, rechts, Bewußtsein, Westen, links, Unbewußtes‘ - dann werden am Ende noch einmal die Mächte des Unbewußten aufgerufen. Der letzte Schritt geht vom Überschreiter zur Mutter. vor Augen kommt, sind die Hände des Marshals nicht beim Schießen, sondern beim Schreiben seines Testaments. Er steht wie Rex ganz im Zeichen des Abschieds (45); aber der Ich-Erzähler erlebt einen Aufbruch. Auch wenn dabei nun die poetologischen Züge zurücktreten, dürfte doch gewiß sein, daß in der Knechts- und Siegergestalt des Überschreiters auch der Dichter in beiderlei Gestalt, als Außenseiter und als Schöpfer durch das Wort, untergründig gegenwärtig bleibt. Markant wird die Richtung zum Weiterleben in der Uminterpretation von Rex’ Tod. „Rex’ Tod erst, schien mir, bringt den Anderen zum Vorschein. Kündigt ihn an.“(49) Der in Rex’ Tod Angekündigte Andere ist nicht der dunkle Todesgott, wenngleich das Wort „der Andere“ auch eine Nachtseite hat. Seine Großschreibung verweist an den deus absconditus, den verborgenen Gott der christlichen Theologie und auf den unter dem Bilderverbot stehenden Gott des Judentums. Dieser Vorgriff wird wenig später mit den folgenden Sätzen eingeholt und differenziert: „Noch kaum etwas davon wußte ich in Worte zu fassen. Nur war ich, die Kraft des Traums noch im Nacken, zum ersten Mal ohne Angst. Und nur ein wenig Angst kam auf, als ich zu ahnen begann, daß auch das weichen würde. Auch diese Sicherheit verlassen werden müßte. Mich schon verließ. Ich schritt nach Westen aus, im flackernden Licht hin- und widerstreifender Scheinwerfer. Windwärts, zum Starlite Terrace zurück.“ Diese Sätze bestätigen die Angstbefreiung als wichtigstes emotionales Ergebnis des großen Traums zum wiederholten Mal. Aber sie lassen auch deutlich werden, daß die Anspielung auf den deus absconditus nicht sagt, damit sei alle Angst definitiv eingefangen in christlich-jüdischen Deutungsmustern, die im deus absonditus und der Zusammengehörigkeit von Tod und Auferstehung noch dem Verborgenen und Finsteren Raum geben. Rex’ Kinovision steht exklusiv in jüdisch-christlichen Bezügen. Für den Schluß der Erzählung des Ich-Erzählers gilt das nicht. Sein Traum im Zeichen des Überschreiters ließ die Angst schwinden. Doch nach der Umdeutung von Rex’ Tod wird zuletzt auch das für vorläufig erklärt - sowohl in der Form der Aussage wie inhaltlich. Was im Traum geschehen ist, läßt sich noch kaum in Worte fassen - diese abgeschwächte Form des poetologisch traditionellen Unsagbarkeitstopos tritt erstmals und nur hier auf. Die Angst beginnt schon zurückzukehren, die Sicherheit wird weichen. Der Ich-Erzähler reitet nicht davon wie der Überschreiter. Er geht zu Fuß, ausdrücklich in Gegenrichtung zu ihm, nicht in Richtung Sonnenaufgang, sondern in die durch Scheinwerferbahnen beunruhigte Nacht hinaus, einem instabilen Alltagszuhause, keiner metaphysischen Heimat zu. 7 Bei Novalis heißt es: „Wohin gehen wir? Immer nach Hause.“ Solche romantische Zuversicht liegt hier fern. 193 Das Erzählen ist die Handlung 8 Vgl. Ruprecht Wimmer: Laudatio S. 16f mit dem Verweis auf Roths Vertrautheit mit Robert von Ranke-Graves: The Greek Myths. Deutsch: Griechische Mythologie. 1960. Die Gesamtgeschichte erzählt der Ich-Erzähler zwar zuende, aber er gibt die Verantwortung dafür ab. Am Schluß steht, wie ein Nachruf auf Rex und die Kraft seines Erzählens, noch einmal eine vom Ich-Erzähler wiedererzählte Rex-Geschichte, in der die Rex-Sehnsüchte nachklingen und erfüllt werden - allerdings im schon anfangs instabil gemachten Rex-Status des Findens- Erfindens. Rex hatte dem Ich-Erzähler an dem Morgen, an dem sie sich das letzte Mal gesehen haben, etwas „wie ein letztes Wort“, ja, „die Antwort auf ein Leben“, doch ganz beiläufig mitgegeben: „Hier war etwas, unzerreißbar schien es. Noch im letzten Moment, noch im Sturz nach unten - wenn kein Überschreiter je käme (aber er kam! ) - wäre daran zu denken und darin Erfüllung genug.“(50). Auf den Überschreiter richtet sich auch hier noch, ja noch im denkbaren Sturz, eine Hoffnung, deren Unsicherheit sich jedoch in der Textklammer verrät, die zwischen ruhiger Gewißheit und Selbstüberredung changiert. Sicherer als alles Überschreiten ist die Erde unter uns. Die bekräftigende Gary-Cooper-Erinnerung dazu: Laut Rex wurde Gary als Kind einmal mitten in der Nach von seiner Mutter aus dem Schlaf gerissen und so „in letzter Minute“ (50) vor einer tödlichen Flut gerettet, die auf das Haus zukam und es zu überschwemmen begann. Als letztes läßt der Ich-Erzähler diese Gary-Episode durch eine Rex-Erinnerung erläutern. Als Fünf- oder Sechsjähriger habe Rex die Angewohnheit gehabt, im Bett die Bettdecke von unten hochzuheben, so daß sie wie ein Fallschirm auf ihn herabflog, „wie ein Himmel aus abgewetztem blauem Tuch, in das Sterne gewoben waren.“ (51) Und in dieses glückliche Spiel der Geborgenheit jäh hinein wird einmal das Kind durch die Bettdecke hindurch von außen mit Fingernägeln in den schutzlos weich hingestreckten Kinderbauch gekrallt. Das tiefste Erschrecken verwandelt sich in beiderseitiges Lachen, als der Junge, das Tuch vom Gesicht ziehend - noch einmal eine solche jähe Blickfeldveränderung -, in dem unbekannt gefährlichen Krallen- Unwesen die ihm freundlich zugewandte Mutter erkennt. Die Mutter - davon wissen die vorchristliche Antike, wie sie der große Schweizer Johann Jakob Bachofen erschlossen hat, und die Tiefenpsychologie, gleichfalls bedeutende Quellgründe für Patrick Roths Dichtung 8 - ist Schoß und Grab, gebärend und verschlingend. Das, was am tiefsten verstören kann, die Mutter, verzerrt im lebensbedrohlichen Krallenwesen, kann auch am tiefsten Lebensgeborgenheit spenden. Liegt größere Verheißung in der Linearität des Überschreitens oder in der Zyklik der Muttersphäre? Oder in der Durchdringung beider zu einer Ganzheit, die in der Einheit von Mann und Frau in Rex’ Kindersehnsucht sich andeutete, aber nicht in Worten zu fixieren ist? Auf der inhaltlichen Ebene des Erzählten bleibt das unentschieden. Immerhin: die Mutter rettet den Jungen vor der Flut, aber entkommen tut er mit beiden Eltern (50). Immerhin: 194 Christentum und Literatur 9 Vgl. a. zwei von vier Motti des Bandes, das erste von Origines, das zweite von Emerson: „Verstehe, daß du eine zweite Welt im Kleinen bist, und daß in dir die Sonne, der Mond und auch die Sterne sind. (Origines, Homiliae in Leviticum 5,2)“ „Die Befindlichkeit eines jeden Menschen ist eine verschlüsselte Antwort auf jene Fragen, denen er nachzuspüren vermag. Er lebt diese Antwort, bevor er sie als Wahrheit begreift. (R.W. Emerson, „Die Natur)“. Rex Kino-Selbsterzeugungsphantasie sieht die den Embryo tragende Mutter und den Vater in tiefer Zärtlichkeit vereinigt. Immerhin: im Bärenfell ist nicht nur der Krieger, sondern auch die Mutter gegenwärtig. Daß auch diese Wunscherfüllungs-Andeutung zart bleibt und regressive Momente in sich enthält, auch daß der Ich-Erzähler bis zum Schluß im angesagten Modus der tastenden Formulierungen verharrt und nicht aus größerem Abstand zu größerer begreifender Distinktion und Entschiedenheit vorstößt - das öffnet den Horizont der Geschichte auf etwas, das jedenfalls jetzt nicht zu erlangen ist und auf keinen Fall mit voreiligen inhaltlichen Deutungen zugeschüttet werden darf. Rettung im Erzählen Wiederholt ist in diesem Text von Wirklichkeit im Plural die Rede. Der erzählte Erzähler vereinigt alle Wirklichkeiten in seiner Sichtweise, die sich als Erzählweise formiert. In seinem Erzählen verwandelt der Erzähler alle Wirklichkeiten in die definitive Wirklichkeit dieser Epik: die Wirklichkeit des Erzählens. Es bildet die eigentliche Handlung dieses Geschichte, wobei der Haupterzähler sich zwar als Person artikuliert, aber am deutlichsten doch, indem er als Sprechvorgang ‚faßbar‘ wird. Daß das Erzählen die Handlung, aber nicht das Thema dieser Erzählung ist, führt dazu, daß sie die auktorialsoveräne poetologische Erzählerreflexion auf das Erzählen vermeidet, aber die poetologische Aufladung des Erzählen selbst, etwa in der Selbstschöpfungsphantasie im Kino, zuläßt. Daß das Erzählen und das Erzählen des Erzählens die Handlung und sogar die herrschende Darbietungsweise der Figuren ist, läßt eine erinnert-verinnerte, erzählend nach außen gestülpte Erlebniswelt entstehen. So kann Rex - in der Sicht des Haupterzählers - sich als Embryo im Bauch der Mutter (32) und gleichzeitig die Eltern in ihm sitzend imaginieren (33). Bereits früh in der Erzählung scheint dieses Verhältnis von Innen und Außen in einer verdeckt poetologischen Metapher auf: Der Ich-Erzähler schreibt dem Binnenerzähler Rex beim Blick durch das Fenster eine Wahrnehmungsperspektive zu, „Als führte das webende Wirrwarr der Regenfäden jeden, der sehen konnte, vom ersten zum zweiten, vom zweiten zum dritten Bild, von diesem aber zum letzten, das schon in uns bereit lag.“ (21f.) 9 Der vom übergreifenden Erzähler artikulierte Bewußtseinshorizont ist individuell, aber als höchster durch den Text artikulierter Bewußtseinsstand 195 Das Erzählen ist die Handlung 10 Ein gewisses Verallgemeinerungsmoment der Figur des Haupterzählers liegt schon darin, daß sie zwar als ‚Ich‘ greibar ist, aber keinen Namen führt. privilegiert zu Deutungen und Verallgemeinerungen, die von keinem anderen Figurenbewußtsein überschritten werden können. 10 Als erzählter Erzähler bleibt dieser privilegierte Erzähler jedoch zugleich relativ, zum Beispiel dergestalt, daß Aussagen wie die von der Rettungslosigkeit von Geschichten hinter seinem Rücken falsifiziert werden oder Impulse seines Unbewußten als Bestimmungsmomente seines Bewußtseins in seinem Erzählen sichtbar und wirksam sind, aber nicht von ihm wahrgenommen werden. In Verbindung damit, daß das Erzählen die eigentliche Handlung dieser Erzählung ist und der Ich-Erzähler demnach erzählend handelt und sich zugleich darin als Person konstituiert, erzeugt die Relativität des privilegierten Erzählerbewußtseins den spezifischen Sog der Erzählung. Man könnte auch sagen: es entsteht eine Art Tunnelschau - in der herrschenden Innensicht absolut, durch das Wissen, daß es eine Außensicht gibt, wenn auch nicht für den Im Tunnel, relativ. Indem nun der Haupterzähler zwar bis zum Text-Ende erzählt, aber zuletzt zwei nicht mehr seiner Deutungshoheit unterstehende Geschichten des gestorbenen Rex, zeigt sich die Öffnung im Tunnel. So kommt zuletzt ein definitiver Fensterblick zustande: der Blick aus Noahs Fenster. Wohin geht dieser letzte Blick aus Noahs Fenster? Draußen ist, unfaßbar, ganz Anderes. Die beiden Geschichten bekunden - positiv - eine unbestimmt noch über sich hinausgreifende Hoffnung des Erzählers Rex, aber sie sprechen - negativ - von einem Glück, das doch nicht weitreichend genug war, Rex vor der letzten Verzweiflung zu bewahren. Nebeneinander stehen also Erzählepisoden, die ein Schlußwort sprechen und als solches gleichzeitig wieder aufheben. Können Geschichten retten? Dieses am Ende unaufhebbare Fragezeichen ist das Zeichen eines Gelingens. Vorab eines formalen Gelingens einer Geschichte, die es fertig bringt, sich aus sich selbst ins Weite, nicht Fixierte und Fixierbare zu erschließen, ohne in Nichtigkeit zu zerlaufen (49). Darüber hinaus ist das Fragezeichen auch das Gelingen einer Aussage. Es gibt dem Gedanken Raum, daß das gemeinsame Warten schon Hochzeit ist, wie Rex im Blick auf das „High Noon“-Abschiedslied sagt (37). Es ist die einzige Stelle der Erzählung, wo Rex, der heimliche Dichter seines Lebens, ausdrücklich von Kunst, nämlich einem Liedtext und seiner Interpretation durch die Vortragsweise, spricht. In letzter Instanz stellt sich aber durch die Feststellung, daß das Erzählen die Handlung der Geschichte ist, die Frage nach dem Rettenden noch anders, oder besser gesagt, sie beantwortet sich, und zwar tatsächlich erst auf dieser Ebene. Hat sich doch gezeigt, daß der Haupterzähler den verzweifelt gestorbenen Binnenerzähler Rex bis in seinen Tod redend („The King is dead“) in den eigenen Aufbruch mitnimmt und leben läßt, indem er ihm das Wort läßt. Der sich erzählende Rex tritt, freigelassen vom Haupterzähler, am Ende sogar aus dessen Verfügung heraus. Er lebt, er ist 196 Christentum und Literatur 11 Roth hat die drei Erzählungen Riverside. Christusnovelle (1991), Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede (1993) und Corpus Christi (1996) unter dem Titel Resurrection. Die Christus-Trilogie 2003 zusammengefasst. s. meinen Band: Resurrection. Die Christus-Trilogie von Patrick Roth. Der Mörder wird der Erlöser sein. Tübingen und Basel 2008. Da corpus im Lateinischen nicht nur der Körper bzw. die Leiche heißt, sondern auch das Schriftwerk, ist auch der Titel der letzten Erzählung doppeldeutig: Indem der Text vom Corpus Christi handelt, ist er als Erzählung auch die Sache: Corpus Christi. gerettet, indem seine Geschichte, ja, sogar sein Erzählen, gerettet ist. Darin liegt die letzte Antwort: Wenn das Erzählen die Handlung ist, dann ist das Erzählen auch die Rettung, sogar des vermeintlich Verlorenen. Es ist die einzige Rettung, die gewiß ist. Heißt dieses Ergebnis: Es gibt in Patrick Roths Erzählen nur eine Rettung: die ästhetische? Das ist nur in Differenzierung richtig. Zwar bietet sich das Erzählen selbstverständlich auch bei Roth als ästhetisches Gebilde, nämlich als Text dar, der Akt kristallisiert zum Produkt, aber dieser Text vermittelt doch mit aller Kraft, daß das wirklichkeitskonstitutive Erzählen eine Handlung, und zwar ein sozialer Akt ist, der zu seinem Gelingen auf ein lebendiges Zusammenwirken von Hören und Reden, Fragen und Antworten angewiesen ist. Es klang schon an: Nur der schöpferische Zuhörer, der Haupterzähler, setzt Rex zu seiner poetischen Selbsterfindung frei. Alleingelassen, stürzt er ab. Daß ihn im Haupterzähler, der ahnungslos verreist ist, sein ideales Publikum und Gegenüber allein läßt, weil er Rex’ Erzählung von Gary Coopers Lebensabschied nicht als Botschaft verstanden hat, ist Rexens Tod. Daß sein Publikum zugleich der Haupterzähler ist, der, von Rex’ Tod bis in die Tiefe der eigenen Existenz erschüttert, nun erst seinen früheren Traum und dadurch auch sein Verhältnis zu Rex versteht und ihn als identisch/ nichtidentisch in sein Erzählen aufnimmt, läßt ihn auferstehen. Auferweckt wird Rex in der Rede des Haupterzählers, die ihn aus sich sprechen läßt, ihm sogar das letzte Wort gibt. Wäre hier der Ort für eine Blickweitung, vorab auf die Christustrilogie Patrick Roths 11 , ließe sich zeigen, daß im Prozessualen, nicht im Inhaltlichen, auch das Christliche und die Psychologie C.G. Jungs bei Roth ihren ästhetisch legitimen Ort gewinnen. Seine Dichtung ist keine Illustration des Christentums oder der Tiefenpsychologie. Christentum und Tiefenpsychologie sind ihm vielmehr Sprachen, mit deren Hilfe er sein unverwechselbar Eigenes zu sagen vermag - als Dichtung. Hier kann zuletzt wenigstens die implizite Zuversicht dieser Dichtung angedeutet werden, wie ich sie verstehe. Sie besteht darin, im literarischen Vorführen von Wirklichkeitsstiftung durch Erzählen eine dialektische Gegenbewegung zum ästhetischen Gefrieren der Kommunikation in der Schriftlichkeit des Texts zu entfesseln. Es ist eine Gegenbewegung, die schließlich im Akt der Lektüre und Relektüre des Werks auch das Verhältnis von Autor und Publikum ergreift. Jedenfalls kenne ich wenige Dichtungen, die es so sehr darauf anlegen, den Leser in eine Suchbewegung, eine Verstehenskrise und 197 Das Erzählen ist die Handlung damit in die Arbeit am Text als „Seelenrede“ - so der Untertitel von „Johnny Shines“ - hineinzuziehen. So sehr, wie es Roths großer Ich-Erzähler Diastasimos in „Riverside“ wiederum als verdeckt poetologisches Programm verrät: „Erst muß verwirrt sein, verworren sich im Altgelernten nicht mehr kennen, der etwas finden will.“ (68). Wer aber in Dichtung etwas findet, findet es in ihr als Dichtung, darin als Anfrage an sein eigenes Leben, nicht als dessen Erklärung und Richtschnur. Die muß jeder für sich selbst finden. Als ästhetisches Werk weist die Dichtung über sich hinaus, indem sie in sich hinein weist. 1 George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1991. Theologisierung der Kunst oder Ästhetisierung Gottes? Zu George Steiners polemischem Essay „Von realer Gegenwart“ Der Essay 1 ruft in seiner leidenschaftlichen Attacke gegen den literarischen Zeitgeist die Erinnerung an Johann Georg Hamanns Buchtitel „Kreuzzüge des Philologen“ von 1762 wach. Die Kreuzzüge des in Genf und Cambridge lehrenden Philologen Steiner gelten einem Zeitalter, das nach seiner Meinung die Erfahrung der Evidenz und Präsenz Gottes und damit auch der Evidenz und Präsenz des wahrhaft Wirklichen in der Kunst verloren hat. Das herrschende Kunstgerede gilt ihm als Folge liberaler Beliebigkeit der Meinungen. Als deren letzte Konsequenz erscheint der sprach- und literaturwissenschaftliche Dekonstruktivismus, der, von Denkern wie Jacques Derrida, Roland Barthes und Paul de Man getragen, nach einem Siegeszug durch die amerikanischen Eliteuniversitäten schließlich auch bei uns angekommen ist. Läßt der Pluralismus beliebige Ausdeutungen des Kunstwerks zu, so erklärt der Dekonstruktivismus das Kunstwerk, vorab das sprachliche, zu einem Gebilde, das Sinn, Bedeutung, Referenz auf Realität außerhalb seiner Sprachlichkeit nur zu dem Zweck konstruiert, um sie im Gegenzug zu destruieren. Literatur veranstaltet so in Akten der Dekonstruktion selbstbezügliche Sprach- und Meinungsspiele, die vom dekonstruktivistischen Sprachspiel der Kritik aufgedeckt und dabei mitvollzogen werden. Derart wird ein universales Gewebe der Intertextualität erzeugt, fortgesponnen und zugleich durchschaut, in dem Bedeutungen ihre Bedeutung verlieren und die Frage nach Sinn sinnlos wird. Sprache ist ein „Versprechen“, sie verspricht sich, indem sie definitiven Bezug auf etwas außer ihr verspricht, mag es nun Welt oder Subjekt heißen. Das Ich, das ich zu sein glaube, ist ein Schatten, den eine grammatische Form, die erste Person singularis, wirft. Die Aktualität und Sprengkraft von Steiners Essay liegt darin, daß er diese Herausforderung traditioneller, auf Sinn und Bedeutung des Textes gerichteter, Sinnlosigkeit und Sinnverlust nur als Grenzmöglichkeiten konstatierender 199 Theologisierung der Kunst oder Ästhetisierung Gottes? hermeneutischer Literaturwissenschaft frontal annimmt. Schon der Titel seines Essays behauptet, das Kunstwerk zeuge „von realer Gegenwart“ eines transzendenten, auch die Zeichen der Sprache durchdringenden und übersteigenden göttlichen Weltsinns, der lebens-, sprach- und kunstbegründend ist. In Dichtung bezeugt sich, daß unser Sprechen prinzipiell Inhalt, Sinn und Bedeutung hat. Diese These vertritt Steiner in einer Art von Zweifrontenkrieg, der sich überraschenderweise zunächst gegen die Hermeneutik, also die traditionelle Literaturwissenschaft selber richtet. Er beginnt mit einer Attacke gegen Literaturkritik und Literaturinterpretation, wie sie im Journalismus und im akademischen Seminarbetrieb geläufig sind, kurzum gegen das, was Hermann Hesse seinerzeit das „feuilletonistische Zeitalter“ genannt hat. Durchgehend werden die Absonderungen der Journale und Universitäten als sekundär und tertiär und damit entbehrlich abgetan: Ihre Substanzlosigkeit wird der Hermeneutik als Auslegungswissenschaft angelastet, da ihre Aussagen - nach Steiner - weder verifiziert noch falsifiziert werden könnten. Als Gegenposition entwirft Steiner die Utopie eines literarischen Gemeinwesens, das sich auf eine Art liturgischen Umgangs mit den Werken beschränkt: eine immer zu erneuernde Vergegenwärtigung der ästhetischen Heilstatsachen durch Aufführung und Auswendiglernen, gestützt auf eine streng philologische Sicherung der Überlieferungsträger. Zwiespältig ist diese Position deshalb, weil Steiner mit seiner Behauptung von der „Gleichgültigkeit“ der Textauslegungen selber in die Nähe des Dekonstruktivismus gerät. Überhaupt erklärt er auffällig schnell diese Denkrichtung für argumentativ unanfechtbar, obwohl sie Angriffsflächen genug bietet: Wenn die Dekonstruktivisten das Subjekt zum Epiphänomen der Sprache erklären, müssen sie sich fragen lassen, wieso und worin ihnen die Sprache selber zum Subjekt werden kann und wer denn eigentlich das Subjekt ihrer Sprachtheorie einschließlich der theoretischen Auflösung des Subjekts ist. Wenn Derridas Grammatologie nach Belieben zwischen Theorie und Strategie hin und her wechselt, muß der Kritiker diesen gleitenden Metamorphosen nicht atemlos hinterherhecheln. Wenn Derrida seine fließende Begrifflichkeit damit „erklärt“, daß sein grammatologisches Denken darauf angewiesen sei, die Sprache des von ihm bekämpften sogenannten Logozentrismus zu gebrauchen, weil es eine andere nicht gebe, dann ist zu erwägen, wieso eine Theorie/ Strategie, die so massiv von der Präformation des Denkens durch die Sprache ausgeht, ein Denken gegen die Sprache überhaupt denken und in Gang setzen kann. Wenn schließlich der Dekonstruktivismus mit der Dekonstruktion von Sinn, Bedeutung und Referenz auch seine eigene Bedeutung aufs Spiel setzt, besteht keinerlei Veranlassung, den infiniten Regreß als Schlupfloch einer uneinholbaren Flucht nach vorn anzuerkennen. Wer die Unmöglichkeit von Beweisen beweist, beweist nichts. 200 Christentum und Literatur Steiner hingegen entzieht sich einer voreilig von ihm anerkannten Beweisnot, indem er, statt einer Widerlegung der Behauptung, eine Gegenbehauptung aufstellt. Dabei reicht die Entgegensetzung in eine sprachphilosophische Dimension. Indem der Dekonstruktivismus Sinn und Bedeutung der Werke bestreitet, wendet er sich gegen die Tradition des europäischen Sprachdenkens, das vom gesprochenen Wort ausgeht und in ihm Seele und Klang, Sprecher und Sprache, Sein und Sinn, Sprechen und Hören aufs engste beieinander findet. Deshalb wird vom Dekonstruktivismus der „Logozentrismus“, also die Wortzentriertheit des Sprachdenkens, zugleich als „Phonozentrismus“ bezeichnet. Die „Grammatologie“ des Dekonstruktivismus denkt stattdessen Sprache primär als Schrift und Schrift als Spur der Zeichen, die einen gleitenden Sinn erst sekundär ergibt. Steiner, dem am Anfang das Wort war, fordert demgegenüber eine Glaubensentscheidung für Sinn und Bedeutung vorab im Feld der Sprache, die alle theoretischen Überlegungen beiseiteschiebt oder unter sich gefangennimmt. Nicht den Schriftgelehrten, sondern den Gläubigen ist das Himmelreich der sprachlichen Kunstwerke nahe herbeigekommen. Dieser religiöse Gestus in der phänomenalen Bestimmung der Dichtkunst als Sprachkunst wird so heftig ausgeprägt, daß rückwirkend auch der Dekonstruktivismus bei Steiner einen pseudo-theologischen Ort, als Gegenort, erhält. Im Gefolge der literarischen Moderne seit Mallarmé und Rimbaud, deren poetische Sprache sich von den Gegenständen abkoppelte, ist der Dekonstruktivismus „Null-Theologie“: Zeugnis für den Verlust Gottes und den daraus folgenden Entzug realer Gegenwart. Damit gewinnt Nietzsches ironische Verkoppelung Gottes mit der Grammatik in der „Götzen-Dämmerung“ („Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben“, Abschnitt „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“) für Steiner in Spiegelverkehrung Wahrheits- und Bekenntniswert. Er behauptet mit der Verteidigung von Sprachsinn und grammatisch-logischer Ordnung in ihrer höchsten Erscheinungsform, der Dichtung, Gott zu verteidigen, und beklagt den Einfall der Grammatologie in den Glanz des Logozentrismus als Heilsverlust. Die Entfaltung dieses Ansatzes führt den Kreuzzug des Philologen in bekanntes, aber bengalisch fremdartig beleuchtetes Gelände. Wer, wie Steiner, in verschämt verschwiegener Übereinstimmung mit der Hermeneutik davon ausgeht, daß unser Sprechen Inhalt hat, muß zwangsläufig vom Inhalt des Sprechens sprechen, und damit stellen sich tendenziell sämtliche hermeneutischen Verstehensmodelle wieder ein, allerdings ohne methodisch erörtert oder auch nur als hermeneutisch identifiziert zu werden. Soweit diese Modelle aktuell sind, setzen sie eine fruchtbare Unendlichkeit der Auslegung an, sind also nicht schon durch den Hinweis auf deren Unabschließbarkeit zu disqualifizieren, denn diese gilt für alle Geschichtsdeutungen. Innerhalb der Endlosigkeit des Auslegens haben Verifikation und Falsifikation sehr wohl ihren 201 Theologisierung der Kunst oder Ästhetisierung Gottes? relationalen und relativen Ort, und ganz selbstverständlich nimmt auch Steiner mit seinen Aussagen solche Verifizierbarkeit in Anspruch, auch wenn er sich auf der Höhe der Verkündigung über den Niederungen der Hermeneutik bewegt. Im übrigen zeigt die breit ausgeführte Rede von einer Begegnung des Rezipienten mit dem Werk, wie Steiner Problemfelder zudeckt, die in der geläufigen Hermeneutik voll entfaltet sind. Die Inanspruchnahme des Werks als Subjekt nach Analogie menschlicher Subjekte, wie sie bei der Vorstellung einer Begegnung zwischen Werk und Leser stattfindet, ist nichts anderes als eine Metapher, damit auf dem gleichen Niveau wie der entgegengesetzte dekonstruktivistische Versuch, durch die Behandlung der Sprache als Subjekt das menschliche Subjekt zu depotenzieren. Hinter Steiners metaphorischer Rede drohen - trotz episodischer Erwähnung - sowohl die komplexen Vorgänge der Werkvergegenwärtigung im Rezeptionsakt wie die Probleme der Vermittlung etwa über weite historische oder kulturelle Abstände hinweg zu verschwinden. Steiner muß entgegengehalten werden, daß noch vermeintliche Unmittelbarkeit zum Werk schon durch den Akt der Lektüre, die immer aus einer vorgegebenen Position heraus erfolgt, hoch vermittelt ist. Ähnlich reduktionistisch ist Steiners wuchtige, aber schlichte Erneuerung einer Schöpfungsästhetik und die Unterscheidung zwischen primärem und sekundärem Schreiben, deren Fragwürdigkeit Steiner zwar sieht, dann aber übergeht. Insgesamt ist erstaunlich, in welchem Maße Steiner Kunst als anthropologische Konstante behandelt. Er beachtet zwar Wandlungen, die sie auslöst, und wechselnde Rezeptionsweisen, denen sie unterliegt, vernachlässigt aber ihre eigene Historizität; denn indem er die Moderne als radikalen Umbruch auffaßt, zwingt er auch sie unter immer gültige Wesensbestimmungen - nur spiegelverkehrt. Am bedenklichsten allerdings erscheint mir Steiners Aufbietung religiöser Kategorien für die Bestimmung der Kunst. Sie gibt seinem Denken nicht nur eine theologische Struktur, sondern einen theologischen Inhalt, der weder einer ernsthaften Theologie noch einer ernsthaften Ästhetik genügt. Wohl ist anzuerkennen, daß Werke von Rang einen Bestand des Unaussprechlichen besitzen, der sich bis in die feinsten Nuancen der Form verästelt. Wer unwillig ist, sich davon betreffen zu lassen, sollte sich über Kunst nicht äußern. Dann aber ist zu fragen, welchen Anspruchs, welcher Reichweite und welcher Art die von Steiner verkündete theophane Herrlichkeit der Werke ist, die reale Gegenwart in ihnen aufscheinen läßt und geglaubt sein will. Das bleibt in einer Fülle von oft eindrucksvollen Umschreibungen vage und gewinnt Eindeutigkeit nur in einer Richtung. Steiners Vorstellung des göttlichen Logos meint eine die innerweltliche Erfahrung übersteigende, also transzendente Instanz, die sich in Sprache und Sprechen bezeugt. Nun ist ihm abermals zu konzedieren, daß ohne „Glauben“ an Sinn, Bedeutung, Referenz gar nicht gelebt werden könnte. Aber zwischen diesem „Glauben“ und dem 202 Christentum und Literatur religiösen Glauben an einen Schöpfergott, an dem Steiner seine gesamte Schöpfungsästhetik befestigt, liegt ein breites Spektrum praktizierbarer Verhaltensweisen zu einer nicht platterdings gegebenen Empirie - abgesehen von der bei Steiner und in der gesamten Dekonstruktivismusdebatte aus dem Blick geratenen Verankerungsmöglichkeit von Sprache und Erfahrung in einem transzendentalen, also der Erfahrung systematisch vorhergehenden Subjekt. Letzten Endes ist es ein hochproblematischer Gewaltstreich, die Präsenz „realer Gegenwart“ an die Präsenz oder auch nur Existenz transzendenter Garantiemächte so zu binden, wie Steiner es ohne jede Begründung tut. Man kann auf die Wirklichkeit des Wirklichen bauen, ohne sie transzendent zu verankern. Mit Steiners Kurzschluß zwischen Kunst, Glauben und Welt wird entweder die spannungsvoll auf ihren Ausgangspunkt rückbezogene Emanzipation der europäischen Kunst vom Christentum seit dem Mittelalter und ihre innerweltliche Sinnerfüllung der antiken Mythologie durchgestrichen zugunsten einer Retheologisierung der Kunst, oder - und dahin geht doch wohl die Reise - Gott wird ästhetisiert, auch „Gott“ ist eine Metapher, und Gottfried Kellers Pfarrer von Schwanau läßt grüßen, der im „Verlorenen Lachen“ zum Wohlgefallen seiner liberal-protestantischen, aus der Stadt angereisten bildungsbürgerlichen Zuhörer von der Kanzel herab über Dichtertexte predigt. Gewiß gibt es auch heute große religiöse Kunst; ebenso gewiß aber - und sehr viel mehr repräsentativ - gibt es Kunst, die vorab kein anderes Wunder und offenbares Geheimnis verkündet als das von der Unergründlichkeit des Menschen als Gattungswesen und Individuum, von der unableitbaren Spontaneität, Kreativität und Destruktivität menschlicher Welt- und Selbstbegegnung. Diese Zone in eine Transzendenz zu entrücken, in der jede weitere Nachfrage sich verlieren muß, und vor ihr einen Schutzschirm namens Gott aufzurichten, scheint mir eine Verengung der Kunst und eine Verflüchtigung der Religionen, unter denen zumindest das Christentum das Verhältnis von Präsenz und Absenz dialektisch zu denken vermag: Gott übergibt seine Welt ihrer eigenen Weltlichkeit und verschränkt in der Passion Offenbarung und Entzug bis zum äußersten. Hamanns Kreuzzüge des Philologen sprengten mit religiösen Energien rationalistische Verkrustungen der Aufklärungspoetik auf. George Steiners Kreuzzüge des Philologen sind ein verzweifelter - und verzweifelt elitärer - Versuch, die auch von mir als existentielle Kraft geliebte Kunst in ein Jenseits der Debatten zu entrücken, wo sie hieratisch erstarren muß. Ich glaube, daß dem Gerede und dem enervierenden Wechsel der intellektuellen und literarischen Moden kein apokalyptischer Fanfarenton beikommt. Statt dessen vertraue ich darauf, daß unter dieser Geräuschdecke die unendliche, beharrliche und intensive Arbeit der hermeneutischen Auslegungen weitergeht und ihre Chance behält - zugunsten der Werke, die im Neigungswinkel immer neuer historischer und individueller Erfahrungen immer neue Facetten und 203 Theologisierung der Kunst oder Ästhetisierung Gottes? Durchblicke darbieten; zugunsten der Leser, Hörer und Betrachter, deren „Er-lebnisse“ in den Tönen, Bildern und Sätzen der Werke Artikulation und Differenziertheit gewinnen. Wir leben - nicht zuletzt im Licht unserer Lektüren; wir lesen - nicht zuletzt mit Hilfe der Augen unserer Erfahrungen und unseres Geistes. Die Hermeneutik ist es, die diesen Prozeß argumentativ und selbstreflexiv ausleuchtet. George Steiner wird es als Bestätigung empfinden, daß sein Sturmlauf gegen den Literaturbetrieb diesen nicht zum Erliegen bringt, sondern in Turbulenzen versetzt. Unwiderstehlich ruft der Kommentar über die Vergeblichkeit der Kommentare neue Kommentare hervor. In welche Frontstellung Steiners Überlegungen dabei hineingeraten, zeigt das dunkelmännische Nachwort von Botha Strauß mit der Diffamierung der deutschen Nachkriegsintelligenz und ihrer „Thersites-Kultur“. Verglichen mit Strauß’ Frage, „ob des Empfangenden Begabung ausreicht, sich überwältigen zu lassen“, klingt Emil Staigers berühmte und in manchen Kreisen berüchtigte Maxime, die Interpretation solle „begreifen, was uns ergreift“, geradezu radikalaufklärerisch. Es ist merkwürdig, daß dieses Nachwort früher publiziert wurde als die deutsche Übersetzung von Steiners englisch geschriebenem Werk: Das Nachwort ist also ein „Vorwort“ zu Steiner - ein dekonstruktivistischer Effekt? Literatur Polarität von Mann und Frau Ein kulturelles Konzept und was aus ihm zu retten ist Generationen von Halbwüchsigen sind in der Schule mit Schillers Lied von der Glocke traktiert worden, einer klassischen Formulierung bürgerlicher Weltsicht, wo über die Rolle von Mann und Frau in Familie und Gesellschaft folgendes zu vernehmen ist: Der Mann muß hinaus Ins feindliche Leben, Muß wirken und streben […] Und drinnen waltet Die züchtige Hausfrau, Die Mutter der Kinder, Und herrschet weise Im häuslichen Kreise Auf den ersten Blick sind hier Lebensregeln der patriarchalischen Gesellschaft formuliert, die seit mehr als zweitausend Jahren in Alteuropa gültig waren. Sie gaben Mann und Frau verschiedene Tätigkeits- und Zuständigkeitsbereiche und setzten so selbstverständlich die Vormachtstellung des Mannes voraus, daß an dieser Stelle der Glocke lediglich das - untergeordnete - weibliche Herrschaftsreservat „im häuslichen Kreise“ erwähnt wird. Tatsächlich signalisiert nur die Opposition „hinaus“ - „drinnen“ und die Emphase, die auf ihr liegt, ein Neuverständnis der Familie und damit der Geschlechter seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts. Traditionell galt die Familie als kleinste soziale, rechtliche und ökonomische Einheit im gesellschaftlichen System; die Patria Potestas bildete die Macht des Souveräns und letztlich Gottes ab, der den Mann zum Herrn des Weibes eingesetzt hatte. Die Frau besaß die abgeleitete Schlüsselgewalt im Haushalt. Im übrigen waren familiärer und ökonomischer Raum prinzipiell und in der weit überwiegenden Zahl der Fälle faktisch ungetrennt, worauf schon der zu „Landesvater“ parallele Begriff „Hausvater“ - nicht nur Familienvater - hinweist. Wohnung und Arbeitsbereich des Handwerkers waren identisch, der Gutshof des Adligen, Haus und Feld des Bauern waren gleichermaßen Lebens-, Wirtschafts- und Arbeitssphäre. Kinder und Gesinde standen rechtlich nahe beieinander. Der Arbeitgeber des Gesellen, des Knechts oder der Magd war verantwortlich für die gesamte Lebensführung. „Herr Meister 208 Literatur und Frau Meisterin“, nicht umsonst im Handwerkerlied nebeneinander gestellt, waren zusammen Herrschaft. Die Bäuerin für Haushalt, Garten und bestimmte Arbeiten auf dem Feld und in der Viehhaltung verantwortlich, war dergestalt berufstätig und eine Wirtschaftskraft wie der Bauer. Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, in Rückkoppelung mit den Anfängen der modernen Gesellschaft, setzt in der meinungsbildenden Schicht eine Neudeutung der Familie, der Geschlechter und der Kindheit ein. Die Familie wird zum intimen Binnenraum, der aus der Gesellschaft ausgegrenzt ist: „Drinnen“ ist die Frau Hort der gesitteten Herzlichkeit, der Gattenliebe und der Mütterlichkeit. Sie fördert die kindlichen Kräfte des Gemüts, der Phantasie und der Kreativität und entfaltet so eine Schutzzone der Kindheit als einer Lebensphase eigenen Rechts. „Hinaus“ geht der Mann. Er stellt sich der Konkurrenz, den Anforderungen und Regeln des Erwerbslebens, des intellektuellen und moralischen Diskurses, der bürgerlichen Einrichtungen. Seine Stellung als Familienoberhaupt gründet nun darin, daß er die gegeneinander abgegrenzten Bereiche Familie und Gesellschaft wechselseitig vermittelt: Er repräsentiert in der Gesellschaft die Familie und in der Familie die Gesellschaft, deren Normen und Ansprüche er hier zur Geltung zu bringen und mit dem Geist der familiären wechselseitigen Zuneigung zu versöhnen hat. Das ist auch und vor allem sein Anteil an der Kindererziehung. Goethes berühmte, im Altersspruch formulierte Selbstcharakteristik entwirft in ihrem ersten Satz zugleich ein Modell dieses Geschlechterverhältnisses: Vom Vater hab’ ich die Statur Des Lebens ernstes Führen, Vom Mütterchen die Frohnatur Und Lust zu fabulieren. Steht die Mutter für Verständnis, Gefühl, die Kräfte der Imagination, das Eigenrecht des Kindes, so der Vater für Pflichterfüllung, Leistung, Erfolg, Reputation, intellektuellen Ausgriff, politische Positionierung, öffentliches Engagement. All das verändert die Machtstellung des Mannes, macht sie stärker, weil die Frau nun gesellschaftlich mediatisiert ist, aber auch gebrechlicher und widerspruchsvoll, weil sich in ihm die Wertvorstellungen zweier verschiedener Bereiche kreuzen und überlagern: der Familie, in der auch die Beziehung von Mann und Frau nicht mehr primär als Rechtsverhältnis, sondern als freies wechselseitiges Liebeseinverständnis aufgefaßt ist, und der Gesellschaft, die - siehe Schiller - „feindliches Leben“ ist, sofern in ihr Durchsetzung und zugleich Konformität mit Normen gefordert sind. Und so ist der Familienherrscher in seinen Spannungen und Gebrochenheiten zugleich darauf angewiesen, sich an der Ungebrochenheit und Ganzheitlichkeit der Frau und Mutter aufzurichten. Natürlich ist das eine idealtypische Skizze, die in vielem mehr ein Programm als eine Wirklichkeit beschreibt und auch das nur im Rahmen einer 209 Polarität von Mann und Frau tonangebenden bürgerlich geprägten Schicht. Aber die Macht des Programms darf nicht unterschätzt werden, weil sich daraus sehr reale, die einzelne Frau und den einzelnen Mann festlegende Konsequenzen ergeben. Das ist um so folgenreicher, als diese Programmatik nicht einfach ein Schema gegen ein anderes austauscht, sondern Ebenen wechselt: Das Geschlechterverhältnis war traditionell als Rollenverhältnis aufgefaßt, das zwar Wesensaussagen implizierte (etwa die spezielle Sündenexponiertheit der Frau gemäß der üblichen sexistischen Auslegung der Sündenfallmythe), aber nicht zum Ziel hatte. Genau das aber wurde seit der Goethezeit intendiert: Statt einer Rollen- und Funktionsbestimmung der Geschlechter, die sich aus einer auch die Familie übergreifenden Soziallehre ergab, eine anthropologische Wesensbestimmung der Geschlechter. Nach ihr verkörpern Mann und Frau polar entgegengesetzte und damit einander zugeordnete Weisen und Möglichkeiten des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses. Es entstehen mithin eine Philosophie und Symbolik der Geschlechterpolarität. Die seit der Goethezeit bis in unser Jahrhundert herrschende Geschlechterdeutung stellt Mann und Frau einander in einem Verhältnis gegenüber, das Natur und Kultur aufeinander projiziert, dergestalt, daß die Natur die Kultur präformiert, die Kultur die Natur definiert. So wird eine Art Kulturnatur des Menschen angesetzt, die ihm entspricht, die er aber auch herzustellen hat und von der er abirren kann. Auf dem gemeinsamen Boden dieser idealen Natur- Kultur stehen Mann und Frau zueinander wie Naturpol und Geistpol, Herz und Kopf, Emotionalität und Rationalität, Sitte und Gesetz, Ruhe und Kraft, Beharrung und Ausgriff, „Anmut“ und „Würde“ - die Kette der Oppositionen ließe sich lange fortsetzen. Daß diese Polaritätsphilosophie der Geschlechter innerhalb einer weiter männlich bestimmten Gesellschaft ausgebildet wurde, zeigt sich in der Einbindung der Polarität in die patriarchalische Hierarchie, einmal durch die bereits erwähnte, philosophisch und juristisch untermauerte gesellschaftliche Mediatisierung der Frau, zum anderen in der Art der Polarisierung der Geschlechter, die dem Mann als dem Geistpol auch die theoretische Formulierung und Begründung des Geschlechterverhältnisses zuschreibt. Nicht nur tatsächlich, sondern unter diesen Prämissen auch folgerichtig sind Männer die Programmatiker des Geschlechterverhältnisses, die Programmatiker der Familie, die Programmatiker der Kindheit, kurz, die Programmatiker der sein sollenden Kulturnatur. Das läßt der Geschlechtersymbolik und -philosophie männliche Bedürfnisse und Ängste einfließen und macht sie zum Instrument männlicher Herrschaft über die Frau. Als Ausdruck männlicher Bedürfnisse und Ängste erweist sie sich durch eine eigenartige Ambivalenz in der Bestimmung der Frau als Mitte der Naturinsel Familie in der Gesellschaft. Sie wird idealisiert, indem ihre angebliche naturhafte Harmonie mit sich und ihrer Welt dem angeblichen Extremismus des Mannes, ihre vermeintliche in sich ruhende Gefühlssicherheit der Instinktferne des zur Vereinseitigung neigenden männ- 210 Literatur lichen Denkens und Agierens gegenübergestellt wird. Dieses Bild der Frau macht sie zur Stillerin umfassender männlicher Glückswünsche nach Frieden und Befriedigung zugleich. Sie heilt oder lindert die Verletzungen, die ihm nicht nur das feindliche Leben, sondern auch seine Wanderschaft zwischen zwei Welten - Naturraum der Familie und Gesellschaft - zugefügt hat. In der Frau versöhnt ideale Natur den Geist. Aber auch dämonisiert wird die Frau - in Fortschreibung ihrer überkommenen, kirchlich gestützten Diffamierung als Triebwesen und Versucherin - auf Grund der vermeintlichen Stärke ihrer ungebrochenen Naturhaftigkeit, die zur vegetativen Natur geöffnet ist, und als Projektionsfläche für sinnliche Antriebe des Mannes, die sich seiner Selbstbestimmung als Geistrepräsentant nicht integrieren lassen. Ihre Bestimmung erfüllend, besänftigt die Frau den männlichen Dualismus zwischen aktiver Selbstbestimmung und Verhaftung an eine aggressive Sinnlichkeit, zwischen Pflicht und Neigung, „Sinnenglück und Seelenfrieden“ (Schiller: „Das Ideal und das Leben“). Verdunkelt zur Elementarnatur, gibt die Frau das Bild ab für das, was im Mann verdrängt werden muß, damit er Geist sein kann - das ganz andere wird ins Bild des anderen Geschlechts verschoben. Schreibt sich der Mann in der Geschlechterphilosophie die normativen Setzungen und kulturellen Veränderungsenergien zu, kann die Frau kompensativ zum Symbol der in chaotische Tiefe zurückziehenden Triebkräfte dienen, die diese Kultivierungsleistung ständig gefährden. Wo diese Geschlechterphilosophie dialektisch-synthetisch entfaltet wird - und dafür steht Schiller als einer ihrer wichtigsten Programmatiker -, wird ganz deutlich, daß Positivität und Negativität der Frau zwei Seiten der gleichen Medaille sind: Gelassen in sich, ist die Frau schon da, wo der Mann erst hinstrebt, denn sie stellt ihm das Ziel harmonischer Menschheit vor Augen. Aber erst indem der Mann in rücksichtsloser Aktivität durch die in der menschlichen Existenz angelegten Dissonanzen denkend und handelnd hindurchgeht, entfaltet er voll die menschlichen Möglichkeiten, kommt er bewußt und willentlich da an, wo die Frau unbewußt und unwillkürlich schon ist, und vollendet so die in ihr sich darstellende Harmonie zur harmonischen Menschheit. Das ist die Grundfigur der Schillerschen Kulturphilosophie und Anthropologie, und sie führt zu dem bemerkenswerten und seltsamen Ergebnis, daß das Verhältnis von Weg und Ziel der Geschichte, Mann und Frau und - Pflanze und Mensch im gleichen Grundschema beschrieben werden kann: Das Höchste Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren. Was sie willenlos ist, sei du es wollend - das ist’s! 211 Polarität von Mann und Frau Das weibliche Ideal Überall weichet das Weib dem Manne; nur in dem Höchsten Weicher dem weiblichsten Weib immer der männlichste Mann. Was das Höchste mir sei? Des Sieges ruhige Klarheit, Wie sie von deiner Stirn, holde Amanda, mir strahlt. […] Dünke der Mann sich frei! Du bist es; denn ewig notwendig Weißt du von keiner Wahl, keiner Notwendigkeit mehr. Was du auch gibst, stets gibst du dich ganz; du bist nur Eines, Auch dein zartester Laut ist dein harmonisches Selbst. Der Mann sucht noch und immer wieder zwischen Wahl und Notwendigkeit den Weg der Menschheit zum Ziel. Es ist nur in unendlicher Annäherung zu erreichen. In der naturkonformen Anfänglichkeit der Frau ist diese menschheitliche Vollendung „vorgespiegelt“. Wo aber diese „Vorbildlichkeit“ der Frau für eine menschheitliche Zielvorstellung verlorengeht, entartet die Natürlichkeit der Frau und zieht den Mann in den Sog einer geistverlassenen Vitalität. Sowohl die Idealisierung wie die Dämonisierung der Frau kommen darin überein, daß die Frau in ihrer Bestimmung zur häuslichen Harmonieträgerin stillgestellt und die dynamische Außenwendung in die gesellschaftliche Welt („le monde“) dem Mann zugeschrieben wird. Die Frau ist ebenso gefährlich, wo sie „widernatürlich“ zur gesellschaftlichen Wirksamkeit drängt, wie da, wo sie antikulturell den Mann in ein vitales Chaos zurückzieht. So kann sich der männliche Kampf gegen die Emanzipation der Frau affektiv im höchsten Grad aufladen, wie viele Zeugnisse belegen - von Schillers satirischem Gedicht Die berühmte Frau (1788) über die Karikaturenserie Les Bas-Bleus (1844) des politisch doch liberalen und progressiven Honoré Daumier bis zu Gottfried Kellers Gegenüberstellung der unambitionierten, liebenswürdigen Ehefrau und Mutter mit der bösartigen und abgrundhäßlichen literaturbeflissenen alten Jungfer in den Mißbrauchten Liebesbriefen (1874). Daumier kann sich nicht genug darin tun, die Lächerlichkeit kinderfütternder Hausmänner aufzuspießen, deren monströse Ehefrauen derweil Verlegergespräche führen oder fünfaktige Dramen konzipieren. Das ist wider die Weltordnung. Die Frau hat ihren Lebenssinn darin, in der Kultur die Natur zu sein, die der männliche Geist deutend umkreist, das unaussprechliche und zugleich empfindsam-empfänglich Worte aufsaugende Wesen, das den Mann zu unendlichen Reden inspiriert. So weit, so schlecht. Wäre das goethezeitlich begründete Konzept der Polarität von Frau und Mann so starr, schematisch und dabei schief, wie es nach dieser Idealkonstruktion scheinen könnte und wie ihm immer wieder polemisch nachgesagt wird, wäre es allenfalls noch von historischem Interesse. Doch so einfach ist es nicht. Vielmehr enthält es, zunächst besonders in seiner dichterischen Entfaltung als Geschlechtersymbolik, eine große Beweglichkeit und Gegenläufigkeit in sich, so daß unversehens aus 212 Literatur dieser männlichen Diskursfigur eine radikale Kritik des männlichen Weltverhältnisses herauszutreten vermag, das von der hier dargestellten Konzeption her aufgefaßt ist. Sie kann sogar im Untergrund von Äußerungen mitschwingen, die vordergründig die Dämonisierung der Frau als triebhaftes Naturwesen betreiben und ihr die anarchische Unterwanderung kultureller Wert- und Normensysteme zuschreiben. Nixen, Undinen und Melusinen treten oft in der Literatur als Symbole weiblicher Elementarnatur auf, die in die männlich codierte Gesellschaft hinaufdrängen, aber auch den Mann in die Tiefe verlocken und verführen können. Gottfried Kellers Gedicht Winternacht ist eine eigentümliche Variante dieses bei ihm nicht eben seltenen Motivs. In einer dunklen, kalten, gefrorenen Welt steht ein sprechendes männliches Ich auf der zu Eis erstarrten Oberfläche eines Sees, gegen die von unten, aus der lebendigen Flut, die nackten weißen Glieder einer fischschwänzigen Nixe andrängen, deren Gesicht im Dunkeln bleibt. Ich-Konstitution vollzieht sich hier auf Grund einer Grenzziehung gegen vitale, der Unerlösbarkeit überantwortete Lebenskräfte, die sich im Bild des anderen Geschlechts zusammenfassen. Das Gedicht ist die Artikulation eines schneidenden Schmerzes, der das Barbarische solcher Kultivierungsleistung anzeigt. Ein bewegungslos auf dem Eis verharrender Mann ist es, der so bewegt spricht; der in verzehrender Sehnsucht anschaut, was er der Gefangenschaft überläßt. Bis zur Karikatur des Mannes ist die Darstellung geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen im Sinne der Geschlechterpolarität bei einem Wechsellied der romantischen Sammlung Des Knaben Wunderhorn mit dem Titel Lied des Verfolgten im Turm zugeschliffen: Der Gefangne. Die Gedanken sind frei, Wer kann sie erraten; Sie rauschen vorbei Wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, Kein Jäger sie schießen; Es bleibet dabei, Die Gedanken sind frei. Das Mädchen. Im Sommer ist gut lustig sein Auf hohen wilden Heiden, Dort findet man grün Plätzelein, Mein herzverliebtes Schätzelein, Von dir mag ich nicht scheiden. 213 Polarität von Mann und Frau Der Gefangne. Und sperrt man mich ein Im finstern Kerker, Dies alles sind nur Vergebliche Werke; Denn meine Gedanken Zerreißen die Schranken Und Mauern entzwei, Die Gedanken sind frei. Das Mädchen. Im Sommer ist gut lustig sein Auf hohen wilden Bergen; Man ist da ewig ganz allein, Man hört da gar kein Kindergeschrei, Die Luft mag einem da werden. Der Gefangne. So sei es, wie es will, Und wenn es sich schicket, Nur alles in der Still; Und was mich erquicket, Mein Wunsch und Begehren Niemand kann’s mir wehren; Es bleibet dabei, Die Gedanken sind frei. Das Mädchen. Mein Schatz, du singst so fröhlich hier, Wie’s Vögelein in dem Grase: Ich steh so traurig bei Kerkertür, Wär ich doch tot, wär ich bei dir, Ach, muß ich denn immer klagen. Der Gefangne. Und weil du so klagst, Der Lieb ich entsage, Und ist es gewagt, So kann mich nicht plagen, So kann ich im Herzen Stets lachen, bald scherzen; Es bleibet dabei, Die Gedanken sind frei. 214 Literatur Politisch gelesen, wirkt das Gedicht wie eine Satire auf das große idealistischaufklärerische Thema der Gedankenfreiheit mit seiner klassischen Formulierung durch Marquis Posa vor König Philipp: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit! “ Der im Turmverlies die Freiheit der Gedanken verkündigende Gefangene ist ein heroisches Bild dafür, daß es eine Gedankenfreiheit gibt, die nicht erst von den Mächtigen gegeben werden muß, weil sie nicht durch sie genommen werden kann. Aber das heroische Bild ist auch ein groteskes Bild, weil die Gedankenfreiheit des Gefangenen im Turm sich als ebenso total wie abstrakt darbietet. Er denkt nichts anderes, als daß er alles denken kann, was er will, und das hat mit der Lebbarkeit von Freiheit nichts zu tun. Im Gegenteil: Er verdoppelt seinen Zustand der Gefangenschaft, indem er selbstbezüglich und selbstzerstörerisch im Gefängnis seines Gedankens von der Freiheit des Gedankens kreist. Erst der Redaktor Achim von Arnim hat das in verschiedenen Varianten anonym tradierte Volkslied von der Freiheit des Gedankens zum Wechsel zwischen den überlieferten Männerstrophen und Frauenstrophen gemacht, die er unter Rückgriff auf Volksliedmotive selbst gedichtet hat. Die Strophen der Frau stellen dem Gedankending der Gedankenfreiheit die kreatürliche Freiheit zum Atmen entgegen. Derart wird das Wechsellied zum Ausdruck der Geschlechtersymbolik, die auf eine vernichtende Bloßstellung des Mannes durch die Verhärtung und Verengung der männlichen Position hinausläuft, und Gustav Mahlers Vertonung in seinen Wunderhornliedern verstärkt das zum äußersten. Seine Musik gibt der Rede des Mannes ein Dröhnen, das dem deklaratorischen Charakter seiner Äußerung, dem Stampfenden des Metrums, dem streng Alternierenden des Reims, dem auftrumpfenden Refrain, der triumphalen Geste der in vier Strophen fünfmal wiederholten Behauptung „Die Gedanken sind frei“ genau entspricht. Aggressiv, in hartnäckiger Logik begründend, einräumend, folgernd, kommt auch der Gedankengang einher. Die Mädchenstimme ist dagegen von zehrender Verlockung und Süße, jambisch und in Reimfreiheit schweifend und umschlingend zugleich. Dem düsteren männlichen Vokabular von Gewalt und Gegengewalt stellt sich die aus dem Volkslied vertraute Formelrede der Frau von schöner Natur und naturhafter, realer Ungebundenheit entgegen. Daß beide noch mehr durch die Unterschiedlichkeit ihrer Denkweise als durch Mauern getrennt sind, daß beide nicht miteinander, sondern nur aneinander vorbeireden können, liegt ganz am Mann. Die Aufplusterung und Verschanzung des aufgesteilten männlichen Subjekts ist tatsächlich unfaßbar und nicht zu brechen. So müssen die Anrede „Mein herzverliebtes Schätzelein“ und die volksliedhafte Beteuerung „Von dir mag ich nicht scheiden“ an ihm abgleiten, und schließlich scheitert die Frau völlig an der sprechenden Bewältigung der verzweifelten Situation. Die Topoi geraten ihr durcheinander und sie verstummt, während die Worte des Mannes über nichts als Worte weitergehen. 215 Polarität von Mann und Frau Die Aggressivität seiner weltfremden, ja weltlosen Logik verdichtet sich zur Aggression gegen den nächsten Menschen, und darin liegt auch ein Zug von Selbstaggression und macht aus einer Karikatur eine Schmerzgestalt des Mannes. Etwas in ihm weiß, daß die Geliebte ihm nicht bloß sinnliche Freuden vor Augen hält, sondern die Wahrheit des Lebens, und daß das heroische Tableau isolierter und isolierender Selbstbehauptung nichtig ist gegen die Seligkeit, zu zweit in Liebe miteinander allein zu sein. Der gemeinsame Schmerz über seine Gefangenschaft wäre menschlicher als sein Entzug ins falsch Prinzipielle, das zugleich ein Wolkenkuckucksheim und ein Gefängnis ist. So mächtig ist der Entwurf eines polaren Geschlechterverhältnisses, daß er, obwohl doch zunächst ein Deutungsmuster im Sinne des Mannes, auch das Weltbild der Frauen prägt, die sich am männlich codierten kulturellen Diskurs beteiligen. Aber auch so beweglich ist das Polaritätskonzept der Geschlechter, daß es sogar zur dialektischen Aufhebung der männlichen Position in der weiblichen kommen kann. Als Beispiel dafür nenne ich ein Sonett von Marie Luise Kaschnitz, dessen Thematik dem Umkreis des Zweiten Weltkriegs angehört. Es ist wieder ein Wechselgesang von Mann und Frau, in dem die Konkretheit der Liebe gegen gedankliche Verallgemeinerung steht. Die Quartette lassen die Stimme des Mannes laut werden, die Terzette die Stimme der Frau, die hier das letzte Wort behält: Die Wirklichkeit Kannst du schlafen, Lächelnde, noch immer? Willst an meiner Brust der Zeit entfliehen? Siehst du nicht des Nachts im kalten Schimmer Meereswellen voll von Toten ziehen? Sahst du Feuer nicht vom Himmel regnen? Leugnest du den Schrei gequälter Brust? Muß dir tausendfach der Tod begegnen, Ehe du der Wirklichkeit bewußt? Laß mich ruhen, Liebster, laß mich bleiben. Selber muß ich mit den Wellen treiben. Selber muß ich brennen, kommt die Zeit. Heute nur mit jedem meiner Sinne Werd’ ich tiefer deines Wesens inne. Dieses ist die Wirklichkeit. Der Mann versucht in diesem Gedicht, die Frau aus der Ruhe der Liebessituation herauszureißen, indem er die äußeren und inneren Schrecken der Zeit, zusammengefaßt und mythisch überhöht in Bildern des Seekriegs und der Bombenangriffe, evoziert. Es ist wie ein Vorwurf, daß nichts fähig ist, die Geliebte, die an der Brust des Mannes geborgen ist, auf das hinzulenken, was 216 Literatur der Mann als eigentliche Wirklichkeit empfindet: die Entsetzlichkeit des Weltzustands draußen, der geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation. Die Antwort der Frau setzt gegen dieses Drohende und Vernichtende das Jetzt und Hier ihrer Liebe. Dabei äußert sich eine Erfahrung von Wirklichkeit, die der des Mannes nicht nur gegenübersteht - Wirklichkeit des emotionalen Binnenraums gegen die faktische Wirklichkeit der Welt draußen -, sondern den Wirklichkeitsbegriff des Mannes unterläuft und auflöst. Die Frau beschwört die aktuelle Gegenwart des Augenblicks herauf und läßt die abstrakte, lediglich denk- und allenfalls imaginierbare Gegenwart des historisch Gleichzeitigen verblassen. Im voll gelebten Moment ist ein Bleiben, dem das Treiben jenseits dieses Moments nichts anhaben kann. Dieser halkyonischen Stille übergibt die Frau sich und den Geliebten. Nicht die imaginativ vorweggenommenen Schrecken sind die Wirklichkeit der Liebenden jetzt, sondern die Liebe ist es, die eben an der Zeit ist, so wie es morgen der volle Schrecken sein wird. Doch noch ist ein Zirkel geschlossen, trägt die Stunde, trägt das Sonett, die gebildete, klassische Form. Es tönt so intensiv, weil das Wissen des bevorstehenden Untergangs mitschwingt: „Heute nur“. Die Liebende will nicht illusionär der Zeit entfliehen, wie die Frage des Liebenden unterstellt. Sie vermag, wie der Mann, in ihrer Vorstellungskraft die Toten zu sehen, aber jetzt sieht sie real ihn, jetzt wird sie zum äußersten seines Wesens inne - zusamt seinem Drängen, sich der geschichtlichen Zeit zu stellen, das ihn charakterisiert. Sie liebt ihn so umfassend auch als den, der sie aus der Liebe wegruft. „Dieses ist die Wirklichkeit“ der Zeit und die Wechselwendigkeit des Sonetts, die im Reim von „bleiben“ auf „treiben“ kulminiert. Im Gegensatz zum Lied des Verfolgten im Turm herrscht in diesem Gedicht wahre Dialogie. Statt Entbehrung steht Erfüllung, statt des sich versteifenden Gegensatzes eine argumentative Umarmung der männlichen Position durch die Frau. Aber beide Gedichte haben auch eine enge Gemeinsamkeit. Sowohl im Wechselgedicht des Mannes Arnim wie im Wechselgedicht der Frau Kaschnitz trennt nur ein Schritt männliche Weltbewältigungsstrategien vom Wirklichkeitsverlust. Die äußerste Konsequenz dieser Infragestellung und Aufhebung der männlichen Position im Polaritätsmodell der Geschlechter ist die definitive Sprengung des Polaritätsverhältnisses von Mann und Frau, das ja trotz aller impliziten Möglichkeiten zu kritischer Schärfung zunächst einmal eine positive, anthropologisch konstitutive Opposition der Geschlechter angesetzt hatte. In der Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer dagegen gibt die Geschlechterdifferenz das Bild für eine von Grund auf problematische und in dieser Problematik die Menschheitsgeschichte bestimmende Wirklichkeitskonstitution. Auch das zentrale Emblem dieser universalen Kulturkritik verdankt sich der Dichtung, nämlich Homers Odyssee: Odysseus läßt sich fesseln und die Ohren verschließen, um dem Gesang der ebenso hinreißenden wie mörderi- 217 Polarität von Mann und Frau schen Vogelfrauen, der Sirenen, widerstehen zu können - wieder, wie die Nixe, weibliche Tiermenschen, tödliche Bedrohungen männlicher Navigationskunst auf dem unberechenbaren Lebensmeer. Die ins Zeichen der tödlich-sinnlichen Vogelfrauen gebannten, abgespalteten Lebensanteile werden in dieser Sicht erst durch die Abspaltung so mörderisch. Odysseus kehrt heim zur ehrwürdigen Ehefrau ins ehrwürdige Ehebett, nachdem er, in Blut watend, die patriarchalische, normativ geordnete Welt wiederhergestellt hat. Nur - die Zauberinnen und die Sirenen, denen er sich entwunden hat, sind göttlichen Ursprungs. Bereits das Wunderhorn-Lied läßt keinen Zweifel daran, daß den Verstand zu verlieren menschlicher sein kann, als ihn so mörderisch zu behaupten. Schon Kellers Winternacht läßt den Verdacht anklingen, männliche Selbstkonstitution sei vielleicht auch menschliche Selbstverstümmelung. Und in Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht ist es letztendlich die Frau, die dem Mann Wirklichkeit erschließt. In der Dialektik der Aufklärung ist endgültig das gebrechliche Synthetisierungsunternehmen untergegangen, mit dem Schiller die Mann-Frau-Polarität durch die geschichtsphilosophische Konstruktion eines Ursprungs, der das Ziel präformiert, und eines Ziels, das den Ursprung in sich aufhebt, zu überwölben versucht hatte und das doch letztlich immer noch und erst recht den Mann privilegierte. Die Vorzeichen haben sich bei Horkheimer und Adorno umgekehrt, der Grundansatz ist zerstört. Der Schnitt ins Lebendige, der in Kellers Gedicht psychologisch Lebensgeschichte zur Leidensgeschichte macht, ist zum kulturphilosophischen Grundtatbestand geworden. Das Verdrängte, im Bild der Frau Dämonisierte, indiziert die Männersache Geschichte als Irrweg. Trotz des kritischen Potentials der Polaritätsvorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit kann kein Zweifel daran bestehen, daß wir Zeitgenossen ihrer Auflösung sind, und kein Zweifel auch, daß dieser Zerfall sein historisches Recht und eine gesellschaftliche Notwendigkeit hat. Alexander Mitscherlichs nun selbst bereits wieder historisch gewordenes Schlagwort von der vaterlosen Gesellschaft hat nur beleuchtet, was schon längst im Gang war: die Auflösung des von Müttern gehegten, von Vätern gesellschaftlich repräsentierten familiären Binnenraums, das Verblassen der traditionellen Leitbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit, den vehementen Anspruch der Frau auf Gleichbehandlung in allen Lebensbereichen, die zunächst eher seufzende, aber zunehmend selbstverständliche und einverständige Bereitschaft des Mannes, traditionell weibliche Funktionen in Familie und Kinderaufzucht mit zu übernehmen. Ist jahrtausendelang die geschlechtliche Differenz als gesellschaftliche Prädestination genommen worden, ist sie nun im Begriff, zur Quantité négligeable herunterdefiniert zu werden. Zwar ist ein extremer Feminismus dabei, mehr oder weniger bewußt auf Positionen der überkommenen Polaritätsvorstellung der Geschlechter zu rekurrieren, aber sie gewinnen keine neue Verbindlichkeit, wenn sie lediglich umgepolt werden und nun - umgekehrt zur patriarchalischen Hierarchie - 218 Literatur eine matriarchalische Hierarchie begründen sollen. Das geschieht dergestalt, daß nun weibliches Denken und Verhalten als das eigentlich menschliche genommen wird. Daneben etabliert sich ein postmodernes kulturelles Spielmodell, das die Opposition männlich-weiblich zwar aufnimmt, aber einschätzt wie Jetons eines Oppositionsspiels gleitender Differenzen, verbindlich nur im Feld der Spielregeln, austauschbar gegen andere in anderen Regelfeldern. Beide Tendenzen, die nur die Vorzeichen vertauschende Okkupation der Gleichung homo = Mann = Mensch durch den Feminismus und die spielerische Freisetzung und Entschärfung der Geschlechterdifferenz zum Würzmittel der Genußgesellschaft gleich anderen spannenden Differenzen auch, sind zu oberflächlich, als daß sie das geschlechterphilosophische Polaritätsmodell nicht nur ablösen, sondern auch positiv, in seiner kulturanthropologischen Gestaltungs- und Deutungsleistung, ersetzen könnten. Woher sollen uns neue Bilder von elementarer und zugleich historischer Mächtigkeit zukommen, welche die Ganzheit des Menschen in der Fülle seiner Möglichkeiten vor Augen bringen, die doch in Segmentierungen und Zerreißproben zu leben ist? Wie könnte es möglich werden, das ideologieverdächtige Konzept der Kulturnatur aufzulösen und dennoch der spätestens seit Adolf Portmann geläufigen Einsicht Rechnung zu tragen, daß die Biologie des Menschen menschliche Biologie ist, als solche zur Kultur offen und deren Antwort auf Natur herausfordernd? Daß es also auch für das Geschlechterverhältnis durchaus legitim ist, nach einer Konstellation von Natur- und Kulturvariablen zu fragen? Ich entsinne mich, in einem ethnologisch-psychoanalytischen Werk gelesen zu haben, afrikanische Stammesangehörige hätten auf Erkundigungen, warum ihre Maskenbünde für Männer reserviert seien, geantwortet: Die Frauen haben die Menstruation und die Geburt, wir haben die Masken. Masken und Maskengeheimnis erscheinen in dieser Antwort als artifizielle Surrogate weiblicher Produktivität, weiblicher Privilegierungen und Geheimnisse, die den Mann wohl in jeder Kultur nur als Zaungast dulden. Es scheint mir denkbar, in dieser Richtung nach Geschlechtercharakteren in einer nicht mehr männlich beherrschten Gesellschaft zu fragen. Wieweit ist durch die patriarchalischen Kulturen hindurch männliches Rollenverhalten immer kompensatorisch gewesen - bis zu dem Extrem, daß der Kraft zu gebären die Kraft zu töten entgegengesetzt wurde, nicht nur das Tier, sondern auch den Menschenbruder? Gewiß nicht zufällig spielt die Erzählung von Kain und Abel unter Brüdern und nicht unter Schwestern. Bis uns neue Antworten aufgehen, kann das Polaritätsmodell der Geschlechter, freilich als historisch relatives Muster verstanden, dazu helfen, das Bewußtsein der enormen Spannweite menschlicher Anlagen und Möglichkeiten wachzuhalten. Es kann besonders in Werken der Kunst, in denen es unverfestigt und tief differenziert auftritt, eilfertigen und eifrigen Verflachungen des Bildes vom Menschen entgegenwirken. Vielleicht kann sogar das bei Schiller bereits konstatierte klassisch-romantische Konzept, in Ur- 219 Polarität von Mann und Frau sprüngen Zielmomente zu suchen, für eine Übergangszeit noch einmal hilfreich sein. Ein solcher Ursprung unserer Kultur ist das Hohelied der jüdischen Bibel mit seinen Wechselgesängen der Liebe, das ich hier nach der revidierten Lutherübersetzung zitiere: Da der König sich herwandte, gab meine Narde ihren Geruch. Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen, das zwischen meinen Brüsten hängt. Mein Freund ist mir eine Traube von Zypernblumen in den Weingärten von En-Gedi. Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen. Siehe, mein Freund, du bist schön und lieblich. Unser Lager ist grün. Die Balken unsrer Häuser sind Zedern, unsere Täfelung Zypressen. Wenig findet sich im Hohenlied, was ein geschlechtsspezifisch männliches und weibliches Gesamtlebensverhältnis reflektierte und artikulierte, obwohl sich doch ein wechselseitig atemberaubend intensives, von Pikanterie wie Prüderie gleich weit entferntes Entzücken an der Geschlechtlichkeit des anderen ausspricht. Nichts aber auch tritt ins Wort von der seelischen Verschmelzung, die Liebeslyrik seit der Goethezeit durchzieht, vom Staunen: „Wie soll ich meine Seele halten, daß sie nicht an deine rührt? “ Dieses Erstaunen setzt die Geschlechterpolarisierung zu Welterfahrungspendants und seelischer Gegenbildlichkeit voraus. Keine Explikation der deutlich vorhandenen Wahrnehmung von Einzigkeit und Eigentümlichkeit des anderen findet statt. Dagegen äußern sich die körperliche Attraktion, die Lust und die Klage über deren Entbehrung vehement. Bei Mann und Frau herrschen die gleiche Aktivität und Direktheit im Drängen auf die totale Liebesvereinigung. Vom gesellschaftlichen Kodex männlich-weiblicher Annäherung, wie er sich aus unserer kulturellen Prägung der Geschlechterdifferenz ergibt, finden sich allenfalls Spuren. Überhaupt ist erstaunlich, daß die in der jüdischen Bibel durchaus präsente und starke patriarchalische Ordnung in diesen Liebesliedern so zurücktritt. Bis in die Redeweise herrscht Parallelismus: Siehe meine Freundin - Siehe mein Freund. Weithin werden die gleichen Metaphern und Metaphernfelder für sinnliche Reize von Mann und Frau verwendet. Auch der Mann kann nicht nur schön, sondern auch lieblich heißen. Mit stark sinnlicher Konnotation sind Duftpflanzen evoziert, die in der Zuwendung des anderen ihr Aroma entfalten. Der Mann ist im Blick der Frau wie Blume und Weintraube, die Frau im Blick des Mannes schönäugig wie die Taube. Unverhüllt redet die Frau von ihren Brüsten, vom Liebesbett: So weist diese Liebeslyrik eine selbstverständliche, nicht effektorientierte Direktheit im Ansprechen sexueller Gegebenheiten auf, die der Liebeslyrik in der Zeit der 220 Literatur Dominanz des geschlechterphilosophischen Polaritätsdenkens eher fremd war. Dennoch sind diese Lieder durch die Zeiten hindurch in einer eminenten Weise wirksam gewesen - und zwar nicht nur in einer allegorisierenden theologischen Auslegung, die hier beiseite bleiben kann, sondern auch als Vorbild und Provokation der Liebeslyrik europäischer Tradition, und sie können auch für uns Perspektiven öffnen. Allerdings wären wir arm, ginge der zur Sprache gekommene Wechselblick der Geschlechterliebe verloren, der in der Tiefe der Erfahrung des Gegenübers in der Liebe auch zur Tiefe der Selbsterfahrung kommt: Daß ich in dir nun erst mich kennen lerne. Mein Dichten, Trachten, Hoffen und Verlangen Allein nach dir und deinem Wesen drängt, Mein Wesen nur an deinem hängt. Wir wären auch arm, verlöre sich die Sprache für die Spiegelung der Welt in der liebenden Seele, wie sie sich in anderen Versen Goethes, beide Male aus den Briefen an Frau von Stein, äußert: Liebe lebt jetzt in tausend Gestalten, Gibt der Blume Farb’ und Duft, Jeden Morgen durchzieht sie die Luft, Tag und Nacht spielt sie auf Wiesen, in Hainen, Mir will sie oft zu herrlich erscheinen. Aber vielleicht lassen sich solche Wahrnehmungsmöglichkeiten überführen in eine Erfahrung und Deutung von Geschlechtlichkeit, die Mann und Frau nicht erst aufs äußerste polarisieren muß, ehe der Funke der Vereinigung zum Springen kommt. Jedenfalls wirken die Gedichte des Hohenlieds auch ohne Polarisierung und noch ohne Verinnerlichung einer Nivellierung des Menschenbildes zum Neutrum mit additiven Geschlechtsmerkmalen entgegen. Denn auch wenn hier noch die seelische Spiegelung sowohl des geliebten Menschen im Ich wie der Welt in der Liebe fehlt, bekunden diese Gedichte doch eine radikale Begegnung. Indem Zug um Zug, weit in die verschiedensten Bereiche von der Kriegsführung über den Weinbau bis zum Prunk der Edelsteine ausschweifend, körperliche Eigenschaften des Mannes oder der Frau mit Phänomenen der gegenständlichen Welt verglichen werden, entsteht ein Überschwang von Jubel und Lobpreis, der den Geliebten und die Geliebte zum Zentrum und Bild der Welt in ihrer Fülle und Weite macht; und auch diese in der Sache gegenüberstellende, dadurch objektivierende Metaphorik gießt zugleich über die ganze Welt den Glanz der Liebe, macht sie zu geliebter Welt. So entsteht auch hier - viele Jahrhunderte vor Ausbildung der nun bereits wieder vergehenden modernen Seelensprache der Liebe - der Ausdruck eines lebensbeherrschenden Ernstes, weil diese Gedichte, ohne doch Welterfahrungsweisen in eine weibliche und männliche Hemisphäre zu teilen, 221 Polarität von Mann und Frau die Geschlechtlichkeit tief als Lebensmacht und Lebensbestimmung bekräftigen und beglaubigen. Geschlechtliche Liebe gewinnt daraus eine letzte Verbindlichkeit, ohne daß dafür Kodifizierungen und explizite Treueschwüre berufen werden müßten. Denn diese Verbindlichkeit liegt im Hohenlied - zu einer Zeit strengster Kodifizierung gesellschaftlicher Verhältnisse also - im Wesen der Liebe selbst, das geradezu sinnspruchhaft allgemein ausgesprochen werden kann: „Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz und wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn.“ Es geht da ums Ganze, um den ganzen Menschen in seiner Spannweite, wenngleich sie nicht horizontal als Geschlechterpolarität ausformuliert ist, sondern vertikal: als Bogen vom Himmel Gottes, des Herrn, bis zur Hölle, die als Metapher hier der Ganzheit der Welt Gottes zugehört. Auch so kann Liebe als tiefstes Erfahrungsfeld erlebt werden, das dem Menschen in seiner Geschlechtlichkeit geöffnet ist. Über mehr als zweitausend Jahre hinweg erreicht uns dieser Anruf. Es ist eine Kraft von Dichtung, als seelengeschichtliches Zeugnis relativ und doch - eben als Anruf, der sich sein Publikum schafft - unmittelbar zu jeder Gegenwart zu sein und sie herauszufordern. Im Zeitsprung ist Anknüpfung möglich, die Neues und Eigenes hervorbringt - warum nicht auch heute? „Schwester, liebe Braut“ sagt das Hohelied lapidar; Goethe greift die Formulierung auf und macht sie zum Seelenlaut: „Ach, du warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester, oder meine Frau; / Kanntest jeden Zug in meinem Wesen“. Goethe, einer der wirkungsvollsten Repräsentanten der polaren Geschlechterphilosophie mit ihrer seelenhaften Ausfaltung, wie schon ein Blick auf das Verhältnis von Faust und Margarete belegt, hat 1775 das Hohelied als „die herrlichste Sammlung Liebeslieder, die Gott erschaffen hat“, bezeichnet und es übersetzt. Es bekräftigte ihn in der Möglichkeit und dem dichterischen Recht zu einer sinnlichen Durchglühung des Liebesgedichts, die bei ihm mit der seelischen Schwingung einhergeht. Derart kann Dichtung durch alle Kulturen zu allen Kulturen mit größter Kraft sprechen; frei nach Gottfried Keller: „Einer Geige gleicht sie, die geübet / Lang ein Meister zwischen Lust und Schmerz.“ Kannitverstan oder: Über den Vorteil, keine Fremdsprachen zu sprechen Zwei Münchner im Gespräch werden von einem Japaner gestört, der sich höflich auf Deutsch nach dem Weg zum Hofbräuhaus erkundigt. Statt der Antwort erhält er einen abweisenden Blick. Nun versucht er es nacheinander mit Englisch, Französisch und Italienisch, immer gleich erfolglos, ehe er irritiert weitergeht. Drauf einer der beiden Münchner: „Mei, kann der viele Sprachen! “ „Ja“, sagt der andere, „aber gnützt hat’s eam nixn.“ Die Fremdsprache, Sprache überhaupt, ist nur da hilfreich, wo einer zum Hören, Verstehen und Antworten bereit ist. Aber kann es förderlich sein, keine Fremdsprachen zu sprechen? Philologen sind es gewöhnt, nicht aus dem Leben, sondern aus der Literatur zu argumentieren. Ich berufe mich also für meine Behauptung auf fünf literarische Texte, die einen Stufenweg bilden: von der Förderung durch Fremdsprachenunkenntnis zu der Einsicht, daß alle Sprachen Fremdsprachen sind, sofern sie von der Fremdheit und Entfremdung des Menschen in der Welt sprechen. Conrad Ferdinand Meyers Gedicht Mit zwei Worten erzählt von einer Sarazenin, der Tochter eines Emirs, die einst einem englischen Sklaven ihres Vaters heimlich aus Liebe zur Freiheit verholfen hat und nun seiner Spur folgt, wobei ihr nur zwei Wörter zur Verfügung stehen: London als Name seiner Vaterstadt und Gilbert, der Vorname des Geliebten. Mit Hilfe dieser Wörter findet sie zunächst ein Schiff, das sie aus Palästina nach London mitnimmt, dann den Geliebten in der europäischen Großstadt. Das ist sehr unwahrscheinlich, fast wunderbar. Tatsächlich ist es die Vorgeschichte der Legende von Thomas Becket, die Meyer in seiner Novelle Der Heilige erzählt. Die Sarazenin ist die Mutter Beckets. Neben Zufall oder Fügung muß noch etwas anderes, Legendengemäßes bei ihrem Abenteuer mitgespielt haben: Glaube und Liebe - man ist versucht, die Trias aus Korinther 11,13 Glaube, Liebe, Hoffnung zu zitieren - haben ihr Werk getan und die junge Muselmanin zu einem exzentrischen Handeln in schlafwandlerischer Sicherheit veranlaßt. Die Tochter eines arabischen Stammesführers hat sich über religiöse, moralische, kulturelle und soziale Schranken hinweg mit einem ausländischen, andersgläubigen Sklaven vereinigt. Sie hat aus Treue zum Geliebten die Sphäre ihrer Herkunft verraten und verlassen. Sie hat als Frau eine Initiative ergriffen, die ihr in der patriarchalischen islamischen Gesellschaft noch weniger zusteht als in der Ständegesellschaft Alteuropas, und sich 223 Kannitverstan oder: Über den Vorteil, keine Fremdsprachen zu sprechen schutzlos in die Männerwelt der Reise, des Handels, der Seefahrt, des Abenteuers begeben. Die Wüstenbewohnerin hat sich einem ihr unheimlichen Element, dem Meer, anvertraut. Sie tritt in eine fremde, ja feindliche Kultur über. Und sie ist sprachlos, vordergründig ihre größte Behinderung, aber untergründig ihr einziger Vorteil. Wäre sie in der Lage, ihre Absichten und Wünsche - und sei es gebrochen - sprachlich zu äußern, wäre sie zwar immer noch eine ungewöhnliche Erscheinung, aber doch nicht so völlig außerhalb des Normalen wie diese Sprachunkundige, deren unerhörte Liebeskraft, deren exorbitanter Mut, deren erschütternde Hilfsbedürftigkeit und vertrauensvolle Weltfremdheit sich darin erweisen, daß sie das Aussichtslose, für ihre Unversehrtheit und sogar ihr Leben höchst Gefährliche wagt: mit nur zwei Wörtern ins ganz Andere aufzubrechen. Erst das macht sie zu einer Art von Wunderfigur, die wunderbare Hilfe herausfordert. Ihre Schutzlosigkeit umgibt sie wie ein Schutzmantel. Zwei Wörter sind ihre Schlüssel zu den Herzen von Menschen, mit denen sie nichts zu schaffen hat und die für sie nicht verantwortlich sind. Offensichtlich ist es ein Europäerschiff, das sie mitnimmt. Wäre sie unter Menschen ihrer eigenen Sprachgemeinschaft, fände sie mehr zu sagen als „London“. Mit diesem Wort muß sie nicht nur Neugierde, sondern auch Respekt, Achtung, Zuneigung erregt haben, die sie vor dem bewahren, was wehrlosen fremdartigen Schönheiten unter Matrosen in rauhen Zeiten beschieden gewesen sein dürfte. Sogar der Spott blasierter Großstädter weicht der Zuwendung und dem Erbarmen für eine junge Frau, die einen Mund nicht zum Essen, nicht zum flüssigen Reden, nein, nur zu einem zweiten Losungswort hat: Gilbert. Aber nun ist sie schon von einem Ruf begleitet, nicht nur vom Flair der Morgenländerin, der ihr Aufmerksamkeit sichert, und der Männername ist in Kurzschrift eine Erklärung ihres Verhaltens. Wer so bedingungslos sucht, sucht aus Liebe. Es geht unter tausend Gilberts in London um einen einzigen so geliebten, so von einer Sarazenin geliebten. Käme jemand und sagte: Ich liebe einen Mann, von dem ich nichts als den Vornamen weiß; es bliebe gewiß beim Spott. Ihre nicht erzählte, von ihr nicht erzählbare Geschichte ist es, die Kontext herausfordert. Sie lockt aus den Menschen die Erinnerung an eine Geschichte hervor, die eine Sensationsstory gewesen sein muß: das Abenteuer jenes Gilbert Becket, den eine Sarazenin aus der Sklaverei befreit hat. Und: „Sieh, da kommt er ihr entgegen, von des Volkes Mund genannt […]“. Nicht nur der äußerste Liebesmut, der sie in die sprachlose Suche nach dem Geliebten treibt, macht die namenlose Sarazenin zur Inkarnation der Liebe, so daß die Schlußsentenz des Gedichts („Liebe wandert mit zwei Worten gläubig über Meer und Land.“) ohne weiteres das Wort „Sarazenin“ durch das Wort „Liebe“ ersetzen kann. Nicht einmal nur, daß die Liebe ohnehin in dieser Welt wie ein Fremdling erscheint, so daß man die Sarazenin 224 Literatur in dieser Hinsicht als Pendant zu Schillers Mädchen aus der Fremde sehen könnte. Darüber hinaus hat der Charakter ihres minimalen Wortvorrats etwas mit der Liebe zu tun. Ihre zwei Wörter sind Namen, die tendenziell Einzelexemplare bezeichnen, im Unterschied zu Begriffen, die Sortenbezeichnungen sind. Für „London“ ist das ohne weiteres klar; für „Gilbert“ nicht, weil es in der Großstadt tausend Gilberts gibt; aber auch diese Vielzahl bildet keine Sorte, sondern meint eine Vielheit einzelner, unter denen der Richtige zu finden ist, der für die Sarazenin der einzige ist, so daß sie gar keinen anderen Gilbert zu denken vermag. Für sie ist er nur dieser; denn die Liebe ist ja, obwohl sie sich immer wieder ereignet, ein je einziges Zusammentreffen von zwei Menschen, die einander, solange die Liebe dauert, als einzige erblicken, so daß im Namen der oder des Geliebten eine individuelle Welt heraufgerufen ist. Derart sind Namen der angemessene Kernbestand der Liebessprache, und mit dem Namen läßt sich alles in der Liebe sagen, was gesagt werden muß. Dagegen billigt man ihr Begriffsarmut zu. Was werden die zwei im fernen Sarazenenland einander schon zu sagen gehabt haben außer jeweils den Namen des anderen, in dessen wechselnder Nuancierung und Intonation alles ausgedrückt werden konnte und mußte, was nach Ausdruck verlangte? Was werden sie einander in Zukunft sagen? Wird der eine die Sprache des anderen lernen? Das zu fragen ist unangemessen, denn der religiöse Anklang der Schlußsentenz sagt, daß sich der Himmel der Liebeserfüllung geöffnet hat, und da hört allemal die Sprache auf. Gilt doch schon für den Anfang des paradiesischen Zustands im Liebesgeflüster: Da wird Lispeln Geschwätz, wird Stottern liebliche Rede: Solch ein Hymnus verhallt ohne prosodisches Maß. So Goethe in der dreizehnten der Römischen Elegien. Die Liebe redet in Namen und legitimiert sich durch Verstummen, während die allzu geläufige Suada der Verliebtheit allemal Mißtrauen in die Absichten des Liebesrhetorikers verdient - man denke an Faust vor Gretchen, der sogar noch das Ringen um Worte instrumentalisiert und damit zur rhetorischen Figur macht. Vor allem aber ist die Sarazenin deshalb die Liebe selbst, weil sie die Predigt des Paulus von der Liebe im dreizehnten Kapitel des ersten Korintherbriefs spiegelverkehrt bestätigt: „Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“ Im griechischen Text steht „glossa“ = „die Zunge“, und das bedeutet auch die Sprache. Der Satz meint also: Und wenn ich alle Sprachen der Menschen und der Engel beherrschte und die Liebe nicht hätte, wäre mein Reden leer, Die Sarazenin braucht keine Sprache zu beherrschen, denn sie hat, vielmehr: sie ist die Liebe, und in der Liebe findet immer wieder ein Pfingstereignis statt, das zumindest punktuell die babylonische Sprachverwirrung überwindet. 225 Kannitverstan oder: Über den Vorteil, keine Fremdsprachen zu sprechen Meine zweite Geschichte ist ungleich bekannter, auch durch Interpretationen erschlossen, aber sie muß hier erörtert werden, weil sie sich wie ein Gegenstück zu Meyers Gedicht verhält. Es ist Johann Peter Hebels Erzählung Kannitverstan. Sind die beiden Schlüsselwörter der Sarazenin Eigennamen, so stellt sich dem wandernden deutschen Handwerksburschen der niederländische Satz „Kann nit verstan“ irrtümlicherweise als Eigenname dar, und die lapidare Überschrift vermittelt auch dem Leser diesen ersten Eindruck: eine befremdliche Lautfolge, am ehesten als Name zu deuten. Der wackere Fremde in Amsterdam ist keineswegs ein touristischer Müßiggänger. Vielmehr war es für den Handwerksgesellen in der Zunftzeit obligatorisch, auf die Walze zu gehen, um in der weiten Welt handwerkliche und menschliche Erfahrungen zu sammeln, ehe er, wenn er tüchtig war und Glück hatte, als Meister seßhaft werden konnte. Unser Geselle befindet sich also auf einer kleinbürgerlichen Bildungsreise, und tatsächlich erkennt der Erzähler ihm zu, daß er „auf dem seltsamsten Umweg […] in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis“ gekommen ist. Trotzdem ist seine Frage zunächst eine des Müßiggangs und der bloßen Neugierde. Wem das schönste Haus in der Stadt und das reichste Schiff im Hafen gehören und wer im vornehmsten Leichenzug zum Friedhof getragen wird, kann für den Reisenden kaum von tieferem Interesse sein; allenfalls ein oberflächliches Informationsbedürfnis will sich befriedigen, ein flaches Kontaktverlangen sucht einen eher beliebigen Anknüpfungspunkt. Der Geselle versteht aus Sprachunkenntnis die Antworten falsch, die ihm auf seine Fragen zuteil werden, nämlich so, daß er den ablehnenden Satz der Befragten „Ich kann nicht verstehen“ für den gesuchten Namen hält. Aber ein wenig mag auch das im tieferen Sinne belanglose Fragen das falsche Verstehen bewirken. Als es später ums Lebensnotwendige geht, um eine Herberge, weiß der Mann durchaus Leute zu finden, die seine Sprache, das Deutsche, verstehen und ihm verschaffen, was er braucht. Es ist eine hübsche Pointe, daß der sprachunkundige Wanderbursche eine Äußerung des Nichtverstehens, indem er sie zu verstehen glaubt, nicht versteht, und es führt noch einen Schritt weiter, daß der Herr Kannitverstan, den er als Herrn des Hauses und des Schiffes und als Opfer des Todes identifiziert zu haben meint, in Wahrheit er selber ist: mit seinen Wünschen und seinen Ängsten und in seiner Wirklichkeit. Er kann nicht verstehen; er, der sich wünscht, der reiche Mann zu sein und in der Perspektive des reichen Mannes den alles zunichte machenden Tod fürchtet. Der Wunschtraum wird zum memento mori. Wie so häufig hat der Mann, der die Welt wahrzunehmen meint, vorerst nichts als die Projektionen seiner selbst zu Gesichte bekommen. Nur: gerade das kann er nicht verstehen, oder besser: das gibt ihm die Geschichte nicht zu verstehen. Dabei läge es gar nicht fern, ihr eine andere Wendung zu geben: etwa auf das Anmaßliche, dem Schicksal und dem lieben Gott eine solche unwahrscheinliche Häufung von Zufällen zuzumuten: daß er 226 Literatur den Wandersmann dreimal die Spur des gleichen reichen Mannes kreuzen läßt, daß der extra seinethalben gerade heute zu Grabe getragen werden muß, daß ihm gleich dreimal die gleiche, in ihrer Kürze so ungemein prägnante, ihn treffende Antwort zuteil wird. In der Tat: der Herr Kannitverstan in der Gewichtigkeit und dem Eigenrecht seines Lebens bleibt unserem Mann, der dieses Produkt seiner Einbildungskraft ja für wirklich hält, völlig gleichgültig. Er bedeutet ihm nichts als einen Fingerzeig für sich und seinen Seelenfrieden. Und auch das könnte man egozentrisch finden: daß der gute Geselle einem an sich, objektiv, kontingenten Geschehen einen Sinn unterlegt, der es zur Predigt für ihn macht. Das ist Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen auf Handwerksburschenniveau. Aber alles das sagt Hebels Geschichte nicht, oder sie murmelt es allenfalls hinter dem Rücken des Autors und seines Selbstkommentars, und der hat biblischen Klang. Durch Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis - auch das erinnert an das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich’s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin.“ In Hebels Geschichte wird ein moralisch verkürztes Christentum vermittelt, eine Haltung des sich grundsätzlich Schickens, wie sie dem Handwerker gewiß in einer christlichen Erziehung eingeprägt worden ist. Seine Sinngebung des Weltlaufs ist also kein origineller Akt und legt darauf auch keinen Wert. Sie ist nichts als die Anwendung eines ihm eingefleischten, vertrauten Denkmusters auf einen neuen Sachverhalt. Aber auch diese Relativierung vermeidet Hebel. Er deckt die Moral des „Schick dich und bedenke das Ende! “ in dieser Geschichte mit seinem Autornamen. Diese Moral heißt im Fazit der Geschichte Wahrheit, und der Handwerker hat sie nicht nur auf dem Wege des Irrtums, sondern sogar durch den Irrtum erlangt. Hätte er Niederländisch verstanden, hätte er die für ihn bestimmte lebensnotwendige Wahrheit nicht gefunden. Und schließlich gibt es noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit zwischen Sinngebung des Sinnlosen und allgemeingültiger Wahrheit: Das Christentum verkündet eine Wahrheit, die man nicht primär erkennt, sondern erlebt, und in dieser Hinsicht mag der Wanderbursche nun doch ein Wahres - als sein Wahres - gefunden und nicht nur zur eigenen Seelentröstung erfunden haben. Die frommen Sprüche von Ergebung waren ihm nicht wahr, ehe ihm nicht deren Wahrheit auf seinen Reisen praktisch entgegengekommen ist, so daß er sie nun praktizierend bewahrt und bewährt. Die schönste meiner Geschichten über den Vorteil, keine Fremdsprachen zu sprechen, ist die dritte und kürzeste, gleichfalls aus Hebels Schatzkästlein, und ich setze sie ganz hierher: 227 Kannitverstan oder: Über den Vorteil, keine Fremdsprachen zu sprechen Mißverstand Im neunziger Krieg, als der Rhein auf jener Seite von französischen Schildwachen, auf dieser Seite von schwäbischen Kreissoldaten besetzt war, rief ein Franzos zum Zeitvertreib zu der deutschen Schildwache herüber: „Filu! Filu! “ Das heißt auf gut Deutsch: „Spitzbube“. Allein der ehrliche Schwabe dachte an nichts so Arges, sondern meinte, der Franzose frage: „Wieviel Uhr? “ und gab gutmütig zur Antwort: „Halber vieri.“ Es gibt genügend Beispiele von der entgegengesetzten Entwicklung solcher Situationen, bei denen feindliche Streitkräfte im Krieg einander auf Rufweite gegenüberstehen. Bei den Schimpftiraden der Homerischen Helden fängt es an, die das Kampfritual einleiten, indem sie die Wut der Giganten anstacheln. Hier geht’s um kleine Leute, aber doch auch um gefährlichste Provokation. Hätte der gute schwäbische Kreissoldat wenigstens das geläufige französische Schimpfwort verstanden, wer weiß, ob nicht Sekunden später die Kugeln gepfiffen hätten, von denen so manche trifft. Wieder wird nicht einfach nicht verstanden, sondern falsch; aber hier ist das falsche Verstehen in viel tieferem Sinne auch noch für uns richtig als in der Geschichte vom Herrn Kannitverstan, denn hier geht es nicht um ein Verstehen als Nutzanwendung für das eigene Seelenheil, sondern um ein Verstehen aus Bonhomie und allgemeiner Menschenliebe, das allen zugute kommt. Der Kreissoldat ist gutmütig, und deshalb unterstellt er auch dem Rufer Gutmütigkeit. Er ist so weise, daß er weiß, was an der Zeit ist - nicht Kampf, sondern ein bißchen Menschlichkeit. Mögen die beiden Wachsoldaten noch so verschieden sein und noch so gegensätzliche Ziele und Hoffnungen haben, stehen sie doch hüben wie drüben unter der gleichen Sonne und der gleichen Zeit und in der gleichen Situation. Sie schieben Wache, eine Tätigkeit, die Nichtstun und gespannteste Aufmerksamkeit zugleich in sich schließt, To whom the bell rings - wem die Stunde schlägt? Niemandem schlägt hier das letzte Stündlein, sondern allen nur eine von vielen halben Stunden: Halber vieri. Das Wachestehen läßt die Uhr schleichen, gibt jeder halben Stunde Bleigewicht. Da kann man schon mal nach einer Zeitangabe Verlangen tragen; und da kann man diesem Bedürfnis schon mal abhelfen, wenn man eine Uhr hat. Und im Hohnwort die Bitte zu hören, ist nie ganz falsch, weil noch in jedem Hohn ein irritierter Wunsch nach Anteilnahme versteckt ist. Wer so in der fremden Sprache die eigene hört, versteht zwar keine Fremdsprache, aber er versteht noch bei größter Geistesschlichtheit die Menschen in ihrem Verlangen nach Frieden und Liebe, das sie oft selbst mißverstehen, weil es so tief verschüttet ist. Es ist wohl kein Zufall. daß Hebels Kannitverstan die größere literarische Fernwirkung zeitigt. Ist doch Sprachpessimismus ein Kennzeichen der Moderne. In Wilhelm Raabes Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge macht der Erzähler den Einwortsatz, der bei Hebel sprachliches Nichtver- 228 Literatur stehen signalisiert, zur „uralten batavischen Redensart, mit welcher schon Civilis und Velleda allen unbequemen Erörterungen aus dem Wege gingen: „Kan niet verstaan! -“ Das Zeichens scheiternder Kommunikation wird zum Ausdruck der Kommunikationsverweigerung erklärt, das bereits dem batavischen Fürsten Civilis und der an seiner Seite stehenden Weissagerin Velleda in ihrem Kampf gegen die Römer und gegen die Uneinigkeit der von Civilis angeführten unzivilisierten Germanenstämme zur Verfügung stand. Darin liegt eine bittere Anspielung auf die parikularstaatliche Zersplitterung und lediglich übertünchte Barbarei der Deutschen zu Raabes Zeiten. Der Held des Romans, der lange Jahre als Sklave bei einem wilden nordafrikanischen Negerstamm gelitten hatte, kehrt, von einem vermeintlichen Holländer freigekauft, in die Heimat zurück - der Mann vom Mond - und findet sie befremdlicher als die wüste Fremde. Die abweisende Stummheit, die ihn zunächst als individuelle Haltung seines Befreiers verstört, erweist sich auf die Dauer als Charakteristikum heilloser deutscher Zustände, in denen verschiedene Weisen der Sprach- und Verständnislosigkeit die angemessenste Reaktionsweise sind. Das zeigen seine Bekanntschaften: Ein Sprachwissenschaftler, der sich im vergleichenden Studium exotischer Sprachen verliert, offenbart sich als Meister des Mißverstehens der ihm nächststehenden Menschen. Der Theoretiker des Kommunikationsmediums Sprache ist ein halber Analphabet der Kommunikation. Das sichert ihm seine Gemütlichkeit. Der bürgerliche Leutnant a.D. Kind, der in der von einer adligen Offizierskaste befehligten Armee über den untersten Offiziersrang nicht hinauskommt und gerade gut genug ist zum Kommandeur der Strafkompanie, versteht wie Hebbels Meister Anton die Welt nicht mehr. Nach jahrelangem stumm-verbissenem Sammeln von Belastungsmaterial gegen den adligen Verführer seiner Tochter, den Zerstörer seiner Familie und seiner Ehre, überführt er ihn öffentlich der Betrügerei, und trotzdem bleibt diesem Günstling des Hofes die Chance, nach England zu fliehen. Der nur zu einer Sprache des Hasses fähige Mann namens Kind wird zum Racheengel, der den Flüchtling schließlich stellt und zum ‚Gespräch‘ auf seine Weise zwingt: Am Tisch zusammensitzend, schießen beide Männer einander auf kürzeste Distanz gegenseitig tot. Wo nur Kugeln eine treffende Sprache sind, ist nicht gut Kind sein. Bei alledem sucht der Romanheld und ehemalige Sklave Hagenbucher den Weg zur gesellschaftlichen Reintegration in öffentlichen Vorlesungen über seine Erfahrungen in Afrika, aber die Parallelen zu den deutschen Verhältnissen sind so aufdringlich und bitter, daß die Fortsetzung der Vorlesungsreihe polizeilich verboten wird. Er wird öffentlich mundtot gemacht. Hagenbuchers größte rhetorische Leistung im kleinen Kreis - die Verherrlichung der stumm leidenden, hoffenden und harrenden alten Mutter Claudine als „Unsere liebe Frau von der Geduld“, deren Liebeskraft das Getrennte und die Getrennten wieder zusammenführt - wird vom Gang der Dinge im nach- 229 Kannitverstan oder: Über den Vorteil, keine Fremdsprachen zu sprechen hinein noch brutaler zum Schweigen gebracht. Die von Hagenbucher herbeigesehnte, von Claudine schließlich geleistete Zusammenführung ist eine Versammlung der Beteiligten zur finalen Katastrophe. Claudine sitzt nicht, wie die Claudine im Singspiel Goethes, in Villa Bella, sondern in der Katzenmühle, die durch industriellen Wassergroßverbrauch trocken gelegt worden ist. Die scheinbare Idylle blühenden vegetativen Lebens ist ein überblühtes Grab geworden, in dem am Ende zwei in Verzweiflung verstummte Frauen, Claudine und ihre Beinahe-Schwiegertochter Nikola, nur noch dem Tod entgegen leben: „Sie weinen nicht mehr, dort hinter den Blumen, dort unter dem morschen Dache. Sie sitzen still, und still ist es um sie her, sie verlangen nicht mehr.“ Auch die letzte Hoffnung - auf den Mythos der die Welt tragenden, bergenden und heilenden mütterlichen Kräfte, der sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Bild von Mutter Natur, der jüngsten mythischen Gottheit, zusammenfaßt - ist verloschen. Die Idylle als ihr bevorzugter Offenbarungsraum zerfällt. Der Nicht-Held Hagenbucher, der Hagestolz und gewesene Sklave, spricht das letzte Wort des Romans; dann flüchtet er sich in das alkoholdumpfe, bramarbasierende Spießertum gescheiterter Männer, die in Bumsdorf im Krähwinkel sitzen. Der weiseste von ihnen ist der Vetter Wassertreter, der als Burschenschaftler für Jahre in den Zuchthäusern der Reaktion, einer anderen Sklaverei, verschwunden war. Er hat als einziger der Gesellschaft noch den alten Goethe gesehen - aber nur von hinten. Auf Schritt und Tritt offen und verdeckt im Roman zitiert, ist Goethe der Inbegriff eines in der Sprachmächtigkeit sich ausbreitenden, humanen Lebens, das der Gegenwart abhanden gekommen ist. Wassertreter - welch sinnvoller Name! - baut und erhält als Wegebauinspektor die Wege, die zu gehen nicht besser als Wassertreten ist, weil sie nirgendwohin führen. In der schrecklichen Scheidung zwischen lebend toten Frauen und nur scheinbar lebendigen Männern endet der Roman, Kann nit verstan? Hagenbucher hat verstanden, aber Nichtverstehen wäre besser für ihn, denn: „Wenn ihr wüßtet, was ich weiß, so würdet ihr viel weinen und wenig lachen.“ So das ausgerechnet dem Propheten Mahomet - noch so einem Fremdling in unserer Kultur - zugesprochene Motto und zugleich der Hagebucher in den Mund gelegte Schlußsatz des Romans. Er hat ihn wohl als Sklave in Nordafrika gehört. In Raabes Roman von 1867 herrscht historische Konkretion. Er meint diese deutsche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, in der es besser ist, nicht zu verstehen, als zu verstehen, nicht zu sprechen als zu sprechen. Sarkastisch stellt er schon am Anfang des Romans fest: Bei Gott, es ist doch schön im Vaterlande. Kurru, kurru, kurru, masch biqwa Schilla qwa Bagarra! Letzteres Gegurgel bedeutete die Nationalhymne des Mondgebirges, deren Anfang in wortgetreuer Übersetzung lautet: 230 Literatur Was ist des Negers Vaterland? Ist’s Schillukland? Bagarraland? Ist’s wo der Niger brausend geht? Ist’s wo der Sand der Wüste weht? Oh nein! nein! nein! usw. Dieser Witz bleibt an Gräßlichkeit kaum hinter der Komik des Namens Kind für den Leutnant der Strafkompanie zurück, der in höllischer Weise ein unschuldiges, die Welt nicht begreifendes Kind ist. Ernst Moritz Arndts Lied „Des Deutschen Vaterland“, Stimme der nationalen bürgerlichen Kräfte, die von 1813 her kommen, wird von Hagenbucher ‚übersetzt‘ in das „Gegurgel“ einer Nichtsprache, die wiederum für den geneigten Leser übersetzt werden muß, damit er versteht, daß hier doch alles aufhört; sogar die Sprache. Der Sklave Hagenbucher hat die fremde Sprache der Neger gelernt, zu dem Ende, daß sie ihm zur Metapher unaussprechlicher Zustände im mutterlosen Vaterland, zur Metapher der Sinnlosigkeit des Sprechens und der Sprache wird. Dabei ist diese ‚Sprache‘ vom Autor erfunden - kein reales afrikanisches Idiom, das tatsächlich gelernt werden könnte, vielmehr Fremdsprachenimitat, Sprachparodie, fernes Echo der Menschensprache im Tierlaut, der selbst vom Menschen erfunden ist. Zersetzen der Sprache als Bedeutung und Sinn ist hier an die Stelle des Übersetzens getreten. Hundert Jahre später, in der Lyrik Paul Celans, klingt gleichfalls historische Konkretion an, wenn der deutschsprachige polyglotte Jude aus der Bukowina sich entscheidet, in der Sprache der Mutter zu dichten, die doch auch die Sprache der Mörder ist. Es ist eine Konstellation, in der jedes Wort sich selbst durchstreicht und als durchgestrichenes spricht. In der Tiefe aber entfaltet Celan eine Dialektik von Verstehen und Nichtverstehen, die Sprache überhaupt kennzeichnet. In Paul Celans Gedichten kann Sprache generell als Fremdsprache gedacht werden - unbeherrscht, unbeherrschbar, unfähig zu sagen, was zu sagen wäre. Eigene Sprache gibt es nur im Verstummen, im Abbrechen, als erschwiegenes Wort, als Argumentum e silentio, das auf das Schweigen zuhält. Das Gedicht „Kermorvan“ aus der Sammlung „Die Niemandsrose“ vollzieht eine Ent-fernung: es nimmt Ferne weg, indem es in die Ferne geht. Du Tausendgüldenkraut-Sternchen, du Erle, du Buche, du Farn: mit euch Nahen geh ich ins Ferne, Wir gehen dir, Heimat, ins Garn. Schwarz hängt die Kirschlorbeertraube beim bärtigen Palmenschaft. Ich liebe, ich hoffe, ich glaube, - die kleine Steindattel klafft. 231 Kannitverstan oder: Über den Vorteil, keine Fremdsprachen zu sprechen 1 Zum Problem des biographischen Bezugs siehe Otto Pöggeler: Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans. München 1986, S. 40f. Ein Spruch spricht - zu wem? Zu sich selber: Servir Dieu est régner, - ich kann ihn lesen, ich kann, es wird heller, fort aus Kannitverstan. In der vor Augen liegenden Vegetation der Fremde findet das Gedicht die ferne Heimat, aber dieses Finden der Heimat ist auch ein ihr ins Garn Gehen, ein in die Falle Gehen. Lorbeer und Palme sind Zeichen des Ruhms für den Helden und Dichter, der Schönheit und der Bewohnbarkeit der Welt. Das Klaffen der Steindattel, einer Muschelart, symbolisiert den weiblichen Schoß, damit die Fruchtbarkeit, die noch im Steinernen aufbricht. Liebe, Hoffnung, Glaube, abermals die Trias aus Korinther 11, sind Zuspruch. Ein anderes gläubiges Wort folgt: „Servir Dieu est régner.“ Und wenngleich der Spruch das Absurde tut, nämlich zu sich selbst sprechen, kann das Ich des Gedichts ihn lesen - gewiß eine mehr vermittelte Weise der Aneignung als das Hören, aber doch, bei wachsender Helligkeit, das Erkennen einer Spur „fort aus Kannitverstan“. Hier erscheint Kannitverstan als ein Zustand, ein Ort der Fremde, aus dem ein Verstehen sogar des fremdsprachigen Worts weg ins Vertraute, Eigene, in die Aneignung führt. Aber Celans Gedicht mit seinem gebrochenen Vertrauen in Heimat und Nähe, das Gedicht in der Gegenläufigkeit des Ent-fernens, das Nähe zur Ferne und Ferne zur Nähe macht, das Kannitverstan auf Kermorvan reimt, das aus Kannitverstan nach Kermorvan und aus Kermorvan nach Kannitverstan weist, macht den Gegensinn in Hebels Geschichte frei. Der Weg fort aus Kannitverstan ist auch ein Weg fort aus dem falsch Geläufigen, aus vorschnellem Verstehen, fort aus der Voreiligkeit, mit welcher der Handwerksbursche sich auf das Fremde einen Vers, einen Reim macht, fort aus der Sinngebung des Sinnlosen. Es ist aussagekräftig, daß das metrisch stabile Reimgedicht eine bei Celan fragwürdige Geläufigkeit des Sprechens erzeugt, einen Anschein harmonischer sprachlicher Bewegung, und daß dieser Schein des Geläufigen und Harmonischen in der letzten Strophe mit ihrem metrischen Stolpern und dem unreinen Reim von „kann“ auf „verstan“ untergeht. Das stimmende Reimwort bleibt das als Titel abgesetzte, als Name ebenso fremdartige wie nichtssagende „Kermorvan“, von dem auf Anhieb nicht einmal zu erkennen ist, welcher Sprache es angehört. „Kannitverstan“ ist ein als Name mißverstandener sprechender Satz. „Kermorvan“ ist - richtig als Name verstanden - stumm. 1 „Fort aus Kannitverstan“ bezeichnet die Richtung ins Offene, ins sprechende Schweigen, ins Aushalten des Sinnentzugs. Es ist die Übersetzung der fremden Sprache ins erschwiegene Wort, in sprechende Sprachlosigkeit. 232 Literatur Lieber Bernhard, das Thema Deiner Festschrift paßt sehr viel besser für Dich als für mich, denn ich bin nicht so sprachmächtig, daß ich mich zu Übersetzungsproblemen wissenschaftlich äußern könnte. Aber vielleicht gebe ich mit meiner Anmerkung den gelehrten Bemühungen der Freunde und Kollegen eine Folie. Jedenfalls hätte ich sie nicht geschrieben, wenn ich besser mit Fremdsprachen umgehen könnte. Ob das auch in diesem Fall ein Vorteil ist, mußt Du entscheiden. 1 Erweiterte, teilweise aber auch gekürzte (s. Anm. 8) Fassung des Festvortrags, gehalten auf der 78. Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar 2003. 4. Teil, 16. Buch (HA= Hamburger Ausgabe. Hg. Erich Trunz u.a. 1948ff.u.ö.) 10, 84f. Auch weitere Goethe-Zitate nach dieser Ausgabe. Da es sich hier um einen Thesenvortrag handelt, der eine übergreifende Struktur im Gesamtwerk Goethes verfolgt, unterlasse ich den expliziten Rückbezug auf die Forschung zu den dabei berührten Einzelthemen und Einzeltexten, denn er würde - speziell für Faust - ins Uferlose führen. Auch die Forschung allein zur Wandrerthematik und Idyllenthematik bei Goethe erwähne ich hier nicht, da es mir um eine der bei Goethe zentralen Polaritäten geht. Soweit ich sehe, ist seit meinem Sammelband Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, und dem korrespondierenden Band Von Arkadien nach Elysium. Schiller-Studien. Göttingen 1978, (in beiden Titeln Rückbezug auf die Forschung) diese Fragestellung nicht wieder grundsätzlich thematisiert worden. Wenn ich ausführlich eigene Arbeiten zu den behandelten Werken und Zusammenhängen zitiere, geschieht das zur genaueren Erläuterung oder Begründung meiner hier sehr gerafften Erörterungen. Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ Dichtung und Wahrheit enthält eine bekannte Episode zwischen dem damals 25-jährigen Dichter und seiner Mutter: Ein sehr harter Winter hatte den Main völlig mit Eis bedeckt und in einen festen Boden verwandelt. […] Grenzenlose Schrittschuhbahnen, glattgefrorne weite Stellen wimmelten von bewegter Versammlung. Ich fehlte nicht vom frühen Morgen an und war also, wie späterhin meine Mutter, dem Schauspiel zuzusehen, angefahren kam, als leicht gekleidet wirklich durchgefroren. Sie saß im Wagen in ihrem roten Sammetpelze, der, auf der Brust mit starken goldnen Schnüren und Quasten zusammengehalten, ganz stattlich aussah. „Geben Sie mir, liebe Mutter, Ihren Pelz! “ rief ich aus dem Stegreife […] „mich friert grimmig.“ Auch sie bedachte nichts weiter; im Augenblick hatte ich den Pelz an, der, purpurfarb bis an die Waden reichend, mit Zobel verbrämt und mit Gold geschmückt, zu der braunen Pelzmütze, die ich trug, gar nicht übel kleidete. So fuhr ich sorglos auf und ab […]“. 1 In der handschriftlichen Gedichtsammlung für Charlotte von Stein findet sich aus dem Winter des folgenden Jahres, 1775/ 76, Goethes Eis-Lebens-Lied, wohl eine Verdichtung dieser und anderer Jugenderfahrungen: 234 Literatur Sorglos über die Fläche weg, Wo vom kühnsten Wager die Bahn Dir nicht vorgegraben du siehst, Mache dir selber Bahn! Stille, Liebchen, mein Herz, Kracht’s gleich, bricht’s doch nicht! Bricht’s gleich, bricht’s nicht mit dir! In der Prosaschilderung und im Gedicht vom Eislauf spricht sich Goethe leichthin frei von der Sorge, die er sonst so oft als lebensuntergrabend schwer nimmt. Er ist im Offenen bei sich selbst. Schon im Gedichttitel ist der Schlittschuhlauf nun zum Gleichnis eines kraftvollen Lebenslaufs geworden, der sich im Ungebahnten seinen Weg schafft. Dabei wird in der Prosa-Episode das Lebenshochgefühl des Genies in seiner Pracht durch die mütterlich umhüllende Wärme verstärkt, die der Sohn mit dem Pelz ins Weite hinausnimmt, und im Gedicht entspricht dem als Wärmequelle die während des Hinausgleitens geführte innere Zwiesprache mit der Geliebten. In diesem Zwiegespräch entsteht ein Doppelspiel der Sprache, das dem Spiel der Liebe mit dem schwebenden Gleichgewicht zwischen Partnerbezug und Selbstbezug entspricht: „Stille, Liebchen, mein Herz“ kann als Aufforderung an das Liebchen gelesen werden, das Herz des sprechenden Liebhabers zu beruhigen („stille“ ist dann Imperativ des Verbs ‚stillen‘). Zugleich kann aber auch eine Überredung des als „mein Herz“ apostrophierten Liebchens gehört werden, ruhig zu sein („stille“ ist dann prädikatives Attribut, das Hilfsverb im Imperativ ‚sei‘ ist ausgefallen). Begründend für die Aufforderung ist die Aussage des redenden Eisläufers: „Kracht’s gleich, bricht’s doch nicht“. Das ist zum zweiten Mal doppelsinnig - nun gleichzeitig eine Behauptung über das Eis und über das Herz des Liebhabers. Und darauf ist noch einmal eine Pointe gesetzt: Die hyperbolische Zuversicht des grenzgängerischen Wagemuts, das Eis werde nicht brechen, ist auch - abermals eines im anderen - ein Treueversprechen des Eisläufers, nicht mit ihr, dem geliebten Herzen, brechen zu wollen - auch das eine Rückbindung im Ausgriff, ein Doppelverhältnis, das durch die Sicht- und Erlebnisweise des sprechenden, ins Weite strebenden Mannes etabliert wird. Doch nicht nur das Gedicht, auch die autobiographische Prosa aus der Rückschau zeigt dichterischen Blick. Erst vom Sohn Goethe getragen, heißt der an der Mutter nur rote Sammet „purpurfarb“; mit Zobel verbrämt, mit Gold geschmückt, wird der Luxusdamenmantel also zum Königsornat im Kontrast zur „braunen Pelzmütze“, wie man sie von Darstellungen des Naturapostels Rousseau kennt. Hier steht der junge Wilde als Majestät, in seiner Selbstinszenierung liebevoll-ironisch vom alten Dichter betrachtet, der die gewagte Vereinigung der Gegensätze nicht übel findet. Ich mache einen Sprung. Das Zweihundertfünfzigjahresjubiläum von Goethes Geburt zeigte eine mir fatale Grundtendenz, vor der biographischen 235 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ 2 Zur Problematisierung des Künstlers und der Kunst bei Goethe s. u.a. G.K.: Wandrer und Idylle. Die zyklische Ordnung der Römischen Elegien. In: Kaiser (1). S. 148-174. Ders.: Der Dichter und die Gesellschaft in Goethes „Torquato Tasso“. In: Kaiser (1). S. 175-208. „Ihr liebt, und schreibt Sonnette! Weh der Grille! “ Das Verhältnis von Leben und Dichtung als Thema von Goethes Sonettenzyklus 1807/ 1808. In: G.K.: Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther bis Paul Celan interpretiert. 4.A. Frankfurt a.M. 1991. S. 197-236. Person Goethe das Goethesche Werk zurücktreten zu lassen. Aber nur das Werk macht den Dichter, und nur das Werk rechtfertigt den Dichter. Es rechtfertigt sogar dessen Egoismus der Selbstbewahrung und der Lebensinstrumentalisierung, für die nicht zuletzt er selbst zu zahlen hat. Das ohne moralische Beckmesserei bei Thomas Mann oder James Joyce wahrzunehmen ist geläufig. Wie sehr hat auch Goethe darauf Anspruch, dessen Modernität nicht zum wenigsten darin besteht, daß er diese Problematik immer auf neue im Werk thematisiert hat. 2 Beiläufig und leichtfüßig erscheint das Thema im 100. der Venetianischen Epigramme, wo der Dichter sich mit dem mythischen König Midas vergleicht, dem aus der Erfüllung seines törichten Wunsches, alles, was er berührt, möge sich in Gold verwandeln, der Hungertod droht. Mir, im ähnlichen Fall, geht’s lust’ger; denn, was ich berühre, Wird mir unter der Hand gleich ein behendes Gedicht. Holde Musen, ich sträube mich nicht; nur daß ihr mein Liebchen, Drück’ ich es fest an die Brust, nicht mir zum Märchen verkehrt! Hinter dem Scherz steht der Ernst des ähnlichen Falles: die für den Dichter lebensbedrohliche Entfremdung der eigenen gelebten Lebenswirklichkeit zu Dichtung. Das Beispiel vom Schlittschuhlauf kann ansichtig machen, was gemeint ist: Zuweilen hinter dem Rücken seines eigenen Bewußtseins lebt und erlebt der Dichter symbolisch, d.h. dergestalt, daß sich ihm ab ovo seine Lebenssituationen mit Bedeutung, Reichweite und Repräsentanz aufladen. Potentiell immer schon unterwegs zum Werk, gewinnen sie an Leuchtkraft, sind aber in Gefahr, an Unmittelbarkeit zu verlieren. Indem sie zur Quintessenz gelebten Lebens werden, hören sie auf, gelebtes Leben zu sein, und schieben sich vor dessen diffuse Spontaneität. Im Bild des Epigramms gesprochen: das Liebchen wird zum Märchen, das Märchen zum Liebchen. Verwechslung droht. Die in Frankfurt erlebte Eislauf-Episode mit ihrem Wechselbezug von Entgrenzung und Bergung gewinnt so bereits in der autobiographischen Erzählung die Bedeutungsfülle und symbolische Topik der Dichtung. Keimhaft ist das Motiv der Wanderschaft in Korrespondenz zur in sich ruhenden Idylle angelegt (beide Male schon in der Polarität von Mann und Frau), das sich überreich und vielfältig in Goethes Werk entfaltet, und so spiele ich nun programmatisch das biographische Motiv „Goethe auf Reisen“, das den Titel der hier zu eröffnenden wissenschaftlichen Tagung abgibt, in Goethes literarisches Motiv von Wandrer und Idylle hinüber, wo es seine 236 Literatur 3 G.K.: Goethes Idylle „Der Wandrer“ - gelesen im Licht der Vergil-Tradition. In: Ders.: Mutter Natur und die Dampfmaschine. Ein literarischer Mythos im Rückbezug auf Antike und Christentum. Freiburg i.Br. 1991. S. 13-36. dichteste Gestalt annimmt. Hier mehr als irgendwo finden wir Goethe, der uns als Dichter angeht. Er ist nirgends so sehr und so bedeutungsvoll Wandrer und Reisender wie in den Wandrern und Reisenden seiner Dichtung. Geradezu modellhaft tritt bei Goethe erstmals die polare Zuordnung von Wandrer und Idylle in der Dialogidylle Der Wandrer von 1772 heraus. 3 Schon bei dem Gattungsbegründer Theokrit besteht ein Hauptreiz der Darstellung von Hirten und anderen kleinen Leuten in der Spannung zwischen den schlichten Gegenständen und der geschmacklich kennerhaften Wahrnehmungs- und Darstellungsweise für ein distanziertes gehobenes Publikum. Bei Vergil kann der Distanzblick zum Sehnsuchtsblick werden. Bei Goethe wird der Sehnsuchtsblick auf die Welt des Ursprünglichen einer gedichteten Person inkorporiert, die von außen in sie eintritt. Es ist die titelgebende Gestalt des Wandrers. Als handelnde, betrachtende und sprechende Person wird er einer Sphäre zugeführt, die unter seinem evokativen Blick ihren Charakter als Idylle offenbart. Damit entsteht als dichterische Binnenkonstellation der Idylle dieselbe Korrespondenz von Weite und Begrenzung, Ruhe und Bewegung, die uns in den Eislaufsituationen begegnet ist, nur daß dort die Blickrichtung in die Weite ging. Der Wandrer entdeckt das seinem Leben polare Glück der Begrenztheit und bringt es als Idylle auf den Begriff. Die Idylle hat kein Bewußtsein ihrer selbst; sie kommt erst im Wandrer zum Bewußtsein. Das Gespräch zwischen Wandrer und Frau in Goethes Dialogidylle markiert in beiläufiger Exposition die traditionellen Topoi der Idylle. Die Ulme ist das idyllische Gegenbild zur heroischen Eiche. Der Brunnen ist Lebensquell, die Hütte des Ackersmanns und der überhängende Fels sind Formen naturnaher und naturhafter Bergung für den Menschen, der als Hirt oder Bauer lebt. Der sandige Weg verbindet zu einer großen Welt draußen, aus der inselhaft der idyllische Raum ausgegrenzt ist. Der Wandrer kommt aus dieser nicht nur räumlichen Ferne, von der die Frau lediglich vage Kunde hat. Es ist die Sphäre der geschichtlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen, der kulturellen und sozialen Differenzierungen, des, mit Schiller zu sprechen, sentimentalischen Bewußtseins. Dieser Wandrer ist als Bildungsreisender unterwegs, der im wörtlichen Sinn ‚erfahren‘ möchte, was er geographisch, geschichtlich, sozial, künstlerisch schon weiß. So will er nach Cumae, dem Ort der römischen Sibylle und der Landung des Aeneas, des Anführers der aus ihrer Heimat in die Fremde geflohenen Trojaner und Stammvaters der Römer. Die Frau des Bauern mit dem saugenden Knaben an der Brust wohnt auf dem vom Vater ererbten heimatlichen Boden, geborgen in einem gesellschaftlichen Naturverband. Der Wandrer ist allein im Unvertrauten; vor sich die Einsamkeit eines Fußmarschs bis in die Nacht hinein zu seinem Ziel. Die Rede der 237 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ 4 Dazu G.K. zuletzt: Polarität von Mann und Frau. Ein kulturelles Konzept und was daraus zu retten ist. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 579. 1997. S. 496-509. (Wiederabdruck in diesem Band). Frau in der Begegnungssituation ist alltagsbezogen, gegenständlich, auf das Nächstliegende gerichtet; die Rede des Wandrers ist übergreifend, reflektierend, kenntnisreich. Er erlebt bewußt und mit geschultem Blick für landschaftliche und künstlerische Reize: „Wie herrlich alles blüht umher und grünt! “ Das ist der idyllenkonstitutive Blick - nicht des hier lebenden Bauern oder Hirten, sondern jemandes, der weiterwandern wird. Immer wird er dabei als Sehnsuchtsbild vor sich haben, was er, kaum betreten, eben schon wieder zu verlassen im Begriff ist. Die Frau meint ihn mit ihrer Rede, er redet weitgehend über sie hinweg, auch wenn er zu ihr spricht und gerade, wenn er sie und ihre kleine Welt interpretiert. Nahe kommen sie sich in symbolischen Handlungen: Sie holt ihm Trinkwasser, er hält das Kind, sie spendet das Element des Lebens, er einen Segen, das Element des Geistes, für ihr Kind. Wie in der Erstfassung von 1775 des berühmten Zürichsee-Lieds Auf dem See die Natur als Mutter gedeutet ist - „Ich saug an meiner Nabelschnur/ Nun Nahrung aus der Welt,/ Und herrlich rings ist die Natur,/ Die mich am Busen hält“ -, so steht hier die Frau als eine Naturmadonna am Anfang und am Ende der Idylle, die sich in ihr zusammenfaßt. Ihre Hütte ist in die Trümmer eines Tempels der Venus eingefügt, der Göttin der Liebe und gleichermaßen der Fruchtbarkeit. Der Mann hingegen beruft den Genius, seit der Antike Inbegriff der zeugenden Kräfte des Mannes. Auch in den beiden Eislaufszenen war ja die Frau als Mutter oder als Geliebte Repräsentantin der Geborgenheit, der Eisläufer Repräsentant der Entgrenzung. Mit Werken wie diesen gehört Goethe zu den Begründern einer heute verblassenden Philosophie der Geschlechterpolarität. 4 Sie bringt Mann und Frau in ein Verhältnis, das Natur und Kunst aufeinander projiziert, dergestalt, daß die Natur die Kultur präformiert, die Kultur die Natur definiert. Mann und Frau stehen in dieser symbolischen Wechselbeziehung zueinander wie Geist und Natur, Zeugung und Empfängnis, Kopf und Herz, Bewegung und Beharrung usw. Im Gegensatz zusammengehörig, machen sie das Ganze des Menschen aus. Noch sind zwei zentrale Momente der Dialogidylle unerörtert: Ihr Ort ist ja offensichtlich im höchsten Sinn geschichtlicher Boden, den die Frau bewußtlos bewohnt, dessen Geschichtlichkeit überwachsen, quasi in Natur zurückgesunken ist. Es ist der Blick des Wandrers, der auch Geschichte hervorruft und als Fundament der Idylle erkennt. Goethes geistiges Leben war umgeben von Geschichtsdeutungen: dem aufklärerischen Schema des Fortschritts oder - spiegelverkehrt bei Rousseau - der Depravation, der Herderschen Lehre der Entwicklung vom Ursprung zum Alter der Kultur, schließlich - von Hegel, Schelling und den Romantikern zu schweigen - der dreistufigen Geschichtsphilosophie Schillers, die einen Gang von der Harmonie des Ur- 238 Literatur 5 G.K.: Französische Revolution und deutsche Hexameter: Goethes „Hermann und Dorothea“ nach zweihundert Jahren. In: Ders.: Goethe - Nähe durch Abstand. Vorträge und Studien. Jena, Weimar. 2.A. 2001. S. 61-82. sprungs durch die Dialektik der Kulturbewegung zu höherer Harmonie am Geschichtsziel postulierte. Vor dem Hintergrund solcher Konzepte, aber auch gegensätzlich dazu, sieht Goethe Natur und geschichtliche Kultur nicht in einem irreversiblen linearen Verhältnis von Früher und Später, sondern im schon demonstrierten punktuellen Kreislaufmodell: Aus der Natur kommen mit dem Menschen Kultur und Geschichte als Entfaltungsformen hervor und treten ihr gegenüber; in die Natur können sie zurückgeholt werden zu einem Latenzzustand, aus dem sie sich abermals zu aktualisieren vermögen. Das aus der Geschichte heute Ausgegrenzte kann alter Geschichtsboden sein. Die Natur ist das Grab des künstlerischen Genius, der einst den antiken Tempel gebaut hat, der nun paradoxerweise glühend über dessen Trümmern webt und im Sohn der Naturmadonna, den der Wandrer zur Reinkarnation dieses Genius einsegnet, wieder zum Leben und Schaffen erwachen kann. Die Einweihung des Knaben erfolgt zum Künstler. In die Wechselwendigkeit gehört also auch die Kunst hinein. Die Anklage der fühllosen Natur, die vom Wandrer bezichtigt wird, im Werk des Künstlers „ihres Meisterstücks Meisterstück“ zu zertrümmern, wendet sich zum Lobpreis, weil sie ihn aus sich wiedergebären kann und weil ihres Meisterstücks Meisterstück, also die Kunst, mit dieser Formel als andere Natur, ja, als Natur in der Potenz erfaßt ist. In der Produktion des Produktiven ist die Natur göttlich, und Venus, deren Tempel hier in Trümmern liegt und die sich doch in der Mutter mit dem Kind lebendig bezeugt, ist ein Göttliches der Natur. Das also sind die Spielfelder der Thematik von Wandrer und Idylle bei Goethe: Natur - Kultur, Frau - Mann, Natur - Kunst, Natur - Geschichte. Was ich nun hier andeuten möchte, das ist - weg vom nur Biographischen des Wanderns und Reisens bei Goethe - die Logik einer enormen Motiventfaltung. Sie führt weit über die Gattung Idylle hinaus, die im Werk Goethes nur beiläufig vertreten ist. Die Konstellation Wandrer und Idylle dagegen durchzieht als ein Hauptstrang das Gesamtwerk, wobei sie mannigfache Metamorphosen erfährt bis hin zu Hermann und Dorothea, von Goethe im Briefwechsel mit Schiller immer wieder als Idylle bezeichnet, wo die Ackerbürgerkleinstadt, zur Idylle stilisiert, dem Ansturm der geschichtlichen Kräfte ausgesetzt wird - nicht nur im Elendszug der Flüchtlinge, nicht nur in der Geschichtsdeutung des Richters, der an die Mosesgestalt des Exodus erinnert, nicht nur in der Bewußtseinsweite des Flüchtlingsmädchens Dorothea, die den Geist der Aufbruchsbereitschaft und Wanderschaft in die Idylle hineinträgt, sondern schließlich sogar in Gestalt des revolutionären Zeitalters selber, wie er sich in der Abschiedsrede des toten Bräutigams artikuliert. 5 Dorothea wird (trotz des Mann und Frau als gleichgewichtiges Paar zusammenschließenden Titels) zur zentralen Gestalt des 239 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ 6 Zu meiner Faust-Konzeption s. G. K.: Ist der Mensch zu retten? Vision und Kritik der Moderne in Goethes „Faust II“. Freiburg i.Br. 1994. Michael Jaeger unterstellt mir neuerdings in seiner Habilitationsschrift „Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne“, Würzburg 2004, eine „Fundamentalanthropologie“, die von einem „überhistorischen Wesen“ des Menschen ausgeht (S. 616). Nichts liegt mir ferner. Solange ich Literaturwissenschaft betreibe, habe ich die entgegengesetzte Position vertreten, daß anthropologische Konstanten nur in je eigentümlichen historischen Ausprägungen auftreten. Der Mensch ist also unter allen Lebewesen in einzigartiger Weise ein historisches Wesen. Aber gäbe es keine anthropologischen Konstanten, gäbe es keine Geschichte des Menschen, es gäbe keine Menschenrechte, es gäbe keine Geschichte der Liebe, des Todes, der Freundschaft, es fehlte eine ganze moderne Forschungsrichtung, es gäbe nicht einmal die Frage, was in der Evolution der Arten den Menschen kennzeichnet. Aber natürlich gibt es historische Krisen, in denen der „Mensch überhaupt“ (616) - mit seiner ganzen Geschichte und Geschichtlichkeit - auf dem Spiel steht. Siehe das epochale Krisenbewusstsein nach 1945, wie es sich etwa in Max Frischs Farce „Die chinesische Mauer“ artikuliert. Noch seltsamer ist es, meine Be- Werkes, indem sie - was sonst in dieser Konstellation die Rolle des Mannes ist - im Eingedenken des toten Bräutigams geschichtliches Bewußtsein in die Idylle mitbringt. Weil sie aber Frau ist, Vertriebene, nicht Wandrerin, kann sie sich und dieses geschichtliche Bewußtsein gleichermaßen in die Begrenztheit der Idylle einpflanzen. Hermann, der kleinstädtische Ackerbürger, ist durch seinen symbolisch deutschen Namen, hinter dem - für die Zeitgenossen deutlich erkennbar - Hermann der Cherusker steht, der wackere, aber im Horizont etwas enge deutsche Ackerbürger; Dorothea aber ist mit ihrem griechischen Namen das Gottesgeschenk für ihn und in der Situation. Sie wird die symbolische Mitte, in der Antike (der Hexameter) und Moderne (Französische Revolution), heroisches Epos der Geschichte und in sich ruhender Idylle für den verewigten Augenblick eines Schlußtableaus im Bund des Liebespaars sich vereinigen, wobei der alles bedrohende Krieg im Hintergrund die Leuchtkraft dieses Bildes vertieft. In solchen Sprengungen der relativ statistischen Gattung Idylle und in solchen mannigfaltigen Transformationen erfährt der Gesamtkomplex Geschlechterphilosophie - Natur - Kultur - Kunst - Geschichte seine volle Durcharbeitung und polare Strukturierung. Da ich diese Struktur bei Goethe - und kontrastiv dazu auch bei Schiller - schon vor vielen Jahren dargelegt habe, aber mit meiner Fragestellung in der Forschung wenig beachtet worden bin, greife ich sie hier noch einmal auf. Weil mir aber an dieser Stelle die Zeit zur Entwicklung dieses großen und komplexen Gewebes fehlt, das zum Beispiel auch die gesamte Parkthematik vom Triumph der Empfindsamkeit über Tasso bis zu den Wahlverwandtschaften umfaßt, konzentriere ich mich im zweiten Teil meines Vortrags darauf, stellvertretend am „Hauptgeschäft“ Goethes, der Faustdichtung, die Ausformungsrichtungen des Motivs von Wandrer und Idylle zu skizzieren. Dabei widme ich mich der Ausformung der Geschlechterphilosophie etwas ausführlicher; knapper der Ausbildung des Verhältnisses von Natur und Geschichte, lediglich in einer Pointierung der Relation von Natur und Kunst. 6 240 Literatur zugnahme auf Goethes Symbolik der Geschlechter und sein Konzept einer damit verbundenen erlösenden innerweltlichen Liebe noch nach vielen Jahren Genderforschung mit spitzen Fingern vorzuweisen - schließlich habe nicht ich gedichtet „Wer immer strebend sich bemüht,/ Den können wir erlösen“ (Vers 11936f.) und „Das Ewig-Weibliche/ Zieht uns hinan.“ (12110f.) Das ist - jedenfalls, wenn man das Werk im Ganzen im Blick hat - zu interpretieren, und nicht zu skandalisieren. Im übrigen sind Jaegers Fragestellung und Ergebnis, was die Gesellschaftsanalyse betrifft, gar nicht so weit von meinen entfernt - siehe sein Untertitel „Goethes kritische Phänomenologie der Moderne“. Vielleicht ein Grund mehr, mich als Faustforscher beiseite zu räumen und sich so - artilleristisch gesprochen - sein Operationsfeld freizuschießen. 7 Zu diesem Verhältnis s. G.K.: Faust und Margarete. Hierarchie oder Polarität der Geschlechter? In: Kaiser (5). S. 127-145. Weiter G.K.: Verführung mit Herz. Der Monologist Faust im Dialog. In: Kaiser (5). S. 109-126. Zuerst zum Thema Geschlechterphilosophie. Die Polarität von männlichem Wandrer und weiblich repräsentierter Idylle ist bestimmend für das Verhältnis von Faust und Margarete. 7 Schon im Prolog im Himmel vergleicht Mephisto den Menschen mit einer „der langbeinigen Zikaden,/ Die immer fliegt und fliegend springt/ Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt; / Und läg’ er nur noch immer in dem Grase! / In jeden Quark begräbt er seine Nase“ (V 288ff). Dieses Zerrbild von springendem Fliegen und fliegendem Springen zwischen Luftraum und Quark ist eine Karikatur des Menschen überhaupt in seiner gattungshaften Exzentrik als Wandrer, herausgestellt oder besser herausgeworfen aus dem Beisichsein der Natur. In äußerster Zuspitzung aber erscheint dieses Menschenwesen in Faust, in seinem Drang ins Unbegrenzte, in seinen Grenzsprengungen: „Ihn treibt die Gärung in die Ferne“ (V 302). Er gibt die Parole aus: „Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit,/ Ins Rollen der Begebenheit! “ (V 1754f.). Und so wird denn der Wandrer Faust auf Weltfahrt von Mephistopheles bei Frau Marthe Schwerdtlein und Margarete als „braver Knab! ist viel gereist“ (V 3019) eingeführt. Wie erblickt der Wandrer Faust, kurz und schnell im Vorübergehen abgeblitzt, die Idyllenfigur Margarete? Zuerst in seiner Deutung der von ihm als anwesend imaginierten Abwesenden (2687ff.): Ihr Zimmer ist für Faust Kerker und idyllische „Hütte“, Heiligtum und Himmelreich, nämlich der Kokon ihrer von außen ungestörten, naturhaften Selbstentfaltung. Margarete heißt „Kind“, „Engel“, „Götterbild“ der „Natur“. Die erste Begegnung spielt sich im Garten ab, als umgrenzter, naturnah kultivierter Raum bei Goethe ein privilegierter Idyllenort, und das erste Gespräch zwischen Faust und Margarete erinnert an den Dialog zwischen Wandrer und Frau in der Dialogidylle von 1772 - sie naiv konkret, mit gegenständlichen Bewußtsein, die Rede vom vielgereisten, erfahrenen Mann aufnehmend, ihr Gefühl einem naiven Orakel anvertrauend; Faust interpretierend, sentenziös, egozentrisch, hyperbolisch, mit Leitbegriffen der Idyllenliteratur wie: Einfalt, Unschuld, höchste Gaben der liebevoll austeilenden Natur usw. ein Idealbild beschwörend. Der erste Kuß zwischen ihnen findet im „Gartenhäuschen“, der idyllischen Hütte also, statt. 241 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ Der Wandrer der frühen Dialogidylle berührt den Idyllenraum transitorisch. Die Kleinform der Idylle kann die immanenten Konfliktgehalte der Konstellation von Wandrer und Idylle in der Schwebe halten. Faust, der dramatische Expansionist, greift auf die Idyllenfigur zu und wird zum Zerstörer der Idylle Gretchens. Während der deutende Wandrer in der Dialogidylle die Spuren der Geschichte und großer vergangener Kunst wahrnimmt und in sein Bild der Idylle integriert, mit der wirklichen Frau ihm gegenüber aber nicht recht ins Gespräch kommt, überlagert Faust mit Gretchens Verklärung zum naturhaften Idyllentypus von vornherein ihre ständische Eingebundenheit in ein enges Kleinbürgermilieu, aber auch ihre persönliche Eigentümlichkeit, ihre Schutzlosigkeit als Halbwaise mit einer zurückgezogen lebenden kränkelnden Mutter, ihre Affizierbarkeit durch den Glanz des Goldes und der großen Welt, ihre halb ahnungslose Vertrautheit mit der Kupplerin. Fausts Stilisierung und Ideologisierung Gretchens ist nicht nur Ausdruck dafür, daß der Geist nie die Natur ganz erreichen, sondern sich immer nur ein Bildnis von ihr machen kann. Sie ist bei Faust auch ein taktisches Mittel des Betrugs und Selbstbetrugs, mit dessen Hilfe er Margarete für sich handhabbar macht. Er verdeckt auch vor sich die Skrupellosigkeit seines Besitzwillens, seine Instrumentalisierung Gretchens, wenn er nun - nach den monologischen Unternehmen der Makrokosmosmagie, Erdgeistbeschwörung und des Selbstmordanlaufs - in der rauschhaften Selbstentgrenzung der Liebesleidenschaft ihr Leben aufs Spiel setzt. Das erste Gespräch im Garten führt nicht in ein Liebesgeständnis Fausts, das ihn mit ihr zur Einheit zusammenfaßte, vielmehr in eine abstrakte, fast monomanische Beschwörung des verewigten Augenblicks der Leidenschaftsekstase: „Sich hinzugeben ganz und eine Wonne/ Zu fühlen, die ewig sein muß! / Ewig! - Ihr Ende würde Verzweiflung sein./ Nein, kein Ende, kein Ende! “ (3191ff). Es ist verräterisch, daß Faust bei der Vergegenwärtigung der tiefsten Vereinigung innerlich ganz weit weg ist von Gretchen - der Wandrer die Idylle nicht nur überfliegend, sondern schon imaginativ in die Luft jagend. So ist denn auch die Szene von Fausts intensivster Selbsteinbettung in die Natur, seine Einwühlung in Wald und Höhle, voller Zwiespältigkeit - Flucht in die Natur vor Gretchen, die ihm doch „Engel der Natur“ ist, und zugleich Umkehr hin zu ihr als Entscheidungsschritt zu ihrer wissentlichen Zerstörung, erstmalige bewußte Selbsteinbeziehung Fausts in die Konstellation von Wandrer und Idylle, aber in einer Zerrform, in der er sich als Wandrer vom Subjekt des Geistes umdeutet in eine getriebene Naturkraft selbst jenseits eigener Verantwortung. Bin ich der Flüchtling nicht? der Unbehauste? Der Unmensch ohne Zweck und Ruh’, Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste Begierig wütend nach dem Abgrund zu? 242 Literatur Und seitwärts sie, mit kindlich dumpfen Sinnen, Im Hüttchen, auf dem kleinen Alpenfeld, Und all ihr häusliches Beginnen Umfangen in der kleinen Welt. (3548ff.) Das ist die explizite und zugleich deformierende Evokation des Bildes von Wandrer und Idylle am Wendepunkt zu ihrer Vernichtung. Noch ehe der Wandrer Faust zu Gretchen ins Bett steigt, stiehlt er sich innerlich schon davon. Während Gretchens Lebensumwelt durch Fausts Einbruch ausgelöscht wird, ist sein Zugriff auf sie als Zerstörung auch eine tragische Herstellung. Soweit in Fausts Affizierung durch sie doch auch eine, freilich unentfaltete, Anlage zur Liebe als Einlassung auf das ganz andere verborgen ist, soweit also in ihm - mit Hilfe der Goetheschen Polarität formuliert - keimhaft doch der Wandrer die Idylle liebt, läßt dieser Liebeskeim in ihr Möglichkeiten der Idyllennatur hervortreten, die vorher verdeckt waren. Auch der Wandrer Faust kann die produktive Anschauung zustande bringen, die - wie sich an der frühen Dialogidylle gezeigt hat - Idylle durch Evokation produziert. Es bestätigt sich dadurch, daß Natur, als Kategorie menschlicher Erfahrung verstanden, bei Goethe weder ein ideal gesetzter Ausgangspunkt einer Entwicklung noch einfach vorhandene empirische Realität ist, sondern eine anschauliche und durch Anschauung hervorrufbare Idee wie etwa die Urpflanze. Scharf tritt diese Eigenart des Goetheschen Denkens in der Ballade Der Gott und die Bajadere heraus, wo die als Prostituierte verstandene Bajadere unter dem Blick des Gottes zu Natur erst wird: „Und des Mädchens frühe Künste/ Werden nach und nach Natur.“ - übrigens auch das eine der hervorragenden Varianten der Konstellation Wandrer und Idylle bei Goethe. So wird Gretchen reine Natur in der Begegnung mit dem sie als solche deutenden und doch zerstörenden Faust, sie wird reine Natur als zerbrechende Natur und in radikaler und radikal schuldhafter Absetzung aus ihrer gesellschaftlichen Sphäre. Ihr Spinnlied beim in sich kreisenden Rad ist der lyrische Augenblick der in sich kreisenden Liebe, die in ihrer Unbedingtheit Gott und Schoß sozusagen aufeinander reimen kann (Urfaust 1098f.)) und die schon im Begriff ist, zum Bewußtsein als zersplitterndem Bewußtsein zu kommen: „Mein armer Kopf/ Ist mir verrückt,/ Mein armer Sinn/ Ist mir zerstückt.“ (3382ff.) Gretchens Schuldigwerden an der kleinen Welt familiärer und demi-familiärer Bindungen, in denen sie gelebt hat, ist zugleich der Absprung aus der kulissenhaft in sich zusammenstürzenden Scheinidylle. So wird Gretchen zwar nicht zum Wandrer - keine der Naturrepräsentationsfiguren Goethes wird es. Gretchens letzte aus dem Wahnsinn auftauchende Entscheidung lautet gegen die Flucht auf die Straße, wohin Faust sie entführen will, für den Kerker, der sich unter ihrem Gebetsschrei zum Ort der Engel verwandelt - eine paradoxe Umsetzung von Fausts Prädikation ihrer Jungmädchenkammer zum Kerker und himmlischen Ort zugleich. 243 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ Margarete wird aber mehr und anderes als der Wandrer. Wo der Wandrer und Geistrepräsentant Faust am Widerspruch der Situation schmählich versagt, denkt Gretchen adäquat im Zerreißen ihres Bewußtseins das Zerreißen ihrer Welt - so wie Lessings Gräfin Orsina formuliert: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, hat keinen zu verlieren“ (IV,7): Faust Verführer, Mörder, Liebender, sie Mörderin, Verführte, Liebende, schuldig und gerechtfertigt durch das Beste in ihr. Ruiniert und hergestellt in einem durch Faust, geht Gretchen den Weg der unbedingten Liebe als Weg der unbedingten Buße - keine Schuldzuweisung an Faust -, aber ohne Reue, denn: „- alles, was mich dazu trieb,/ Gott! war so gut! ach war so lieb! “ (3585f.) Das ist der Weg, auf dem Margarete zuletzt als Peccatrix und Verklärte im Gefolge der Mater Gloriosa Faust bei seiner Himmelfahrt entgegenkommt. Nur scheinbar hat die Tragödie zwischen Faust und Margarete fortschreitend den Bezugsrahmen Wandrer und Idylle, erst recht die Gleichung Wandrer - Mann, Idylle - Frau, damit die Repräsentanz der Gretchentragödie für Goethes Philosophie der Geschlechter zurücktreten lassen. Immerhin kann schon jetzt diesem möglichen Einwand entgegengehalten werden, daß gerade an der Ausnahmefigur Faust Kernbestände der Goetheschen Anthropologie und Geschlechterauffassung in starkes Licht treten. Ehe aber diese Argumentation abgeschlossen und schlüssig gemacht werden kann, ist es notwendig, wie angekündigt, die Wandrer-Idylle-Konstellation dieses Dramas in den Bezugsfeldern Natur und Kunst sowie Natur und Geschichte wenigstens skizzenhaft darzustellen. Für das Bezugsfeld Natur und Kunst beschränke ich mich dabei auf die Markierung des konzeptionellen Orts im Gesamt der Faust-Dichtung und verweise für die Ausarbeitung auf eine spätere Abhandlung über den Helena-Akt von Faust II. Ich habe bereits in den früheren Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Lebenswirklichkeit bei Goethe die Nahtstelle und den Riß zwischen beiden angedeutet: Die Kunst steigert die Lebenswirklichkeit zur höchsten Verdichtung und klarsten Konturierung, aber um den Preis, daß das Lebendige in ihr erstarrt, zum Kristall wird. Faust, der die Bedingtheit des Menschen hinter sich lassen will, muß mit innerer Konsequenz auf die Kunst als Feld höchster Steigerung und reinster Erscheinung des Daseins stoßen, wo das Vollkommene zur Erscheinung gebracht und das Unvollendete am Vollendeten gemessen werden kann. Sofern die Kunst das Leben in seinen Urformen aufleuchten läßt, stellt sie auch Natur als Ursprung am reinsten dar und ist darin das Meisterstück ihres Meisterstücks, des Menschen. Sofern sich diese Möglichkeit in der Antike exemplarisch verwirklicht hat, ist die Renaissance der Antike eine Menschheitsaufgabe. Sofern der schöne Mensch in Harmonie mit sich selbst die ultimative Erscheinung des Kunstschönen ist, ist eine antike Frau als Kunstgestalt, die in die mythische Ursprungsschicht des menschheitlichen Bewußtseins zurückreicht und in ihr weiterlebt, das letzte aller männlichen Sehnsuchtsziele. 244 Literatur Sofern aber alle Naturgestalt aus dem Ungestalten hervorgegangen ist und die antiken Mythen des Weltursprungs immer wieder an diesen Umschlagpunkt von Chaos und Gestalt rühren, muß der Weg zu Antike, Schönheit, Natur und Kunst durch ein mythologisches Hexenland von Halbgestalten und Monstern führen. So sucht Faust als nordisch-moderner Wandrer im zweiten Dramenteil leidenschaftlich die mythologische Schönstgestalt Helena und schöpft als dichterischer Weltschöpfer den Ort ihrer kunsthaften Einbettung: Es ist Arkadien als geistige Landschaft, als Kunstidylle jenseits der Verworrenheiten und Ursache-Folge-Ketten der Geschichte. Sie sind hier symbolisch im trojanischen Krieg angespielt, der aus dem Raub der Helena hervorging, und verortet im Kriegerstaat Sparta, wohin der Spartanerkönig Menelaos seine entführte Gattin Helena als Kriegsbeute zurückschleppt. Aber der Versuch des Wandrers Faust, als anderer Paris sich Helena zu rauben und sich mit ihr in die Arkadien-Idylle einzubürgern, die er selbst dichtend hervorgerufen hat, muß fehlschlagen. Es geschieht, indem Faust, mit Helena in der Zeugung des Sohns Euphorion sich vereinigend, die Bedingung der Möglichkeit von Kunst ignoriert, zwar Leben, Natur, Vollendung darzustellen, aber nicht zu sein. Euphorion, mit der Idealschönen gezeugt, die Faust selbst hervorgerufen hat, ist eine Chimäre zwischen Imagination und Aktion. Faust, der das Unbedingte will, kann sich nicht in die einzige Bedingung fügen, unter der die Kunst grenzenlos ist und alles kann. Nach dem Absoluten strebend, mußte er in die Sphäre der Vollendung durch Darstellung eintreten und sie hervorrufen. Zum Absoluten strebend, muß er sie hinter sich lassen und den Boden der Weltgeschichte betreten. Sie ist das Feld der Entscheidungen. Sie ist der Gegensatz zur Kunstsphäre, denn wenn sich in der Kunst das Vollkommene auskristallisiert, dann verdichtet sich in der Geschichte die Trübe und Verschlingung von allem mit allem, die Voraussetzung des Lebens ist, zum Ringen um Macht und Herrschaft. Der vierte und fünfte Akt des zweiten Dramenteils zeigt den uralten Faust wieder als Figur der Handlungssphäre, die er bereits am Anfang von Faust II, am Kaiserhof erscheinend, betreten hat. Zeigt ihn der erste Dramenteil in der Verstrickung in die kleine Welt Gretchens, so erreicht er jetzt die große Welt, der gemeinhin die Bezeichnung ‚Geschichte‘ vorbehalten bleibt. Zum letzten Mal wird auf diesem Boden die Thematik von Wandrer und Idylle weitergeführt - zu ihrem Ende. Als Poet konnte Faust alter Deus, Schöpfer allein durch das Wort, sein; jedoch lediglich einer Kunstwelt. Die kontrastive Schöpfung einer neuen Erde durch ein gewaltiges Kolonisationsunternehmen in der Praxiswelt ist zum Fehlschlag verurteilt. Faust will vom Kaiser, dem er den Sieg im Bürgerkrieg gebracht hat, nicht mit Land, sondern mit Neuland belehnt werden, Neuland so radikal, daß es erst von ihm erzeugt werden soll, paradiesisch, weil nicht befleckt durch die düstere menschliche Geschichte, in die doch Faust sich selbst tief und schuldhaft verstrickt. Wieder geht es um einen Austritt aus der Geschichte mit ihren Vorgegebenheiten, aber nicht, wie 245 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ im Helena-Akt, um den Übertritt nach Arkadien, sondern in die Utopie einer menschengemachten perfekten Welt. Dabei opfert Faust die Gegenwart für einen Zukunftswahn - ein prophetischer Hohn auf alle Sozialutopien und diktatorischen Systeme der heraufkommenden Epoche, die vermeintliche zukünftige Freiheit mit gegenwärtiger Diktatur erkaufen wollten. „Ein Geist“, nämlich seiner, genügt Faust für „das größte Werk“. Alle Mitwirkenden sind ihm nur - manipuliert im Wortsinn - „Hände“ (11509f.). Arbeiter „Meng’ auf Menge“ befiehlt er „beizupressen“ (11555f.). Entfesselte Technik erscheint als blutige Magie. Die Menge soll „frönen“, um „die Erde mit sich selber zu versöhnen“ (11540f.) - ein abgründig ironischer Reim, der die Versöhnung der Erde mit sich selbst, ein letztes säkularisiert-religiöses Weltbeglückungsunternehmen, einem Diktator überantwortet. Worauf das hinausläuft, zeigt sich an der Idylle von Philemon und Baucis, eines sehr alten Paares, die in einer Hütte unter Linden - mit ihren herzförmigen Blättern der Baum der Liebe! - in den Dünen wohnen, daneben eine Kapelle „mit des Glöckchens Silberlaut“ und ein „Gärtchen“. Der Akt wird eröffnet mit dem Eintritt eines als „Wandrer“ bezeichneten Mannes in diese Idylle, der von den Alten einst aus einem Schiffbruch gerettet worden ist. Eine wohlbekannte Konstellation also. Die Idylle kommt in der Perspektive des Wandrers in den Blick, und in der Idyllenperspektive - das heißt von ihr her geortet und vorgreifend beurteilt -, erscheint nun wiederum Fausts Großprojekt. Das geschieht dergestalt, daß Philemon, der Mann, in seiner Schilderung das Faustische Unternehmen aufschönt, Baucis hingegen, als Frau in der Idylle tiefer den Naturkräften verbunden, die schreckenerregenden Züge heraushebt: „Menschenopfer mußten bluten,/ Nachts erscholl des Jammers Qual; / Meerab flossen Feuergluten,/ Morgens war es ein Kanal.“ (11127ff.) Die wichtigste Sehweise aber ist die des weitgereisten, weltkundigen Wandrers, der auf die Düne tritt, um angesichts des grenzenlosen Meers zu beten. Er verstummt radikal und endgültig über dem, was er da sieht; im symbolischen Sinn ist ihm jeglicher Appetit vergangen, so daß Baucis, die das Mahl aufgetragen hat, besorgt nachfragt: „Bleibst du stumm? Und keinen Bissen/ Bringst du zum verlechzten Mund? “ (11107) Diese Stummheit, und zwar derjenigen Figur, die bei Goethe als Deutungs-, ja Evokationsfigur par excellence dient, ist von anders nicht erreichbarer, äußerster Beredsamkeit, denn sie ist schrecklicher als alles, was man über das sagen kann, was Faust großsprecherisch seine „neuste Erde“ nennt (11566). Der selbst sehr alte Goethe hat die dichterische Großtat vollbracht, eines seiner zentralen Motive - Wandrer und Idylle - in Sprachlosigkeit aus seinem Werk verschwinden zu lassen. Erst als Mordopfer Mephistos wird der Wandrer noch einmal erwähnt, der ihn mit den beiden Alten zusammen bei der Zerstörung ihrer Idylle ausgelöscht hat. In der letzten Variation der Thematik sind Wandrer und Idylle nicht mehr polar angeordnet, sie sind gemeinsam untergegangen. Das hat einen tiefen Sinn, der sich vom ersten Wort des Akts her andeutet, 246 Literatur der Bühnenanweisung „Offene Gegend“. Als offene Gegend, am freien Meer gelegen, erscheint die Idylle, trotz der sonst traditionellen Charakteristika, von vorn herein verändert und geweitet. Entsprechend sind die Merkmale der Enge paradoxerweise an Fausts Neuwelt übergegangen, die im zweiten Bild des Akts den schärfsten Kontrast zur Philemon-und-Baucis-Sphäre abgibt. Dort eine Mahlgemeinschaft, hier der Menschheitsbeglücker als Egozentriker allein. Dort die Hütte der Idylle, hier der leer hallende Palast des Alleinherrschers. Das Meer, elementar lebendig und unendlich, in der Faustdichtung symbolisch aufgeladen durch die grandiose Liebes- und Lebensfeier der Klassischen Walpurgisnacht in der Ägäis am Ende des zweiten Akts von „Faust II“, ist ausgegrenzt, das neugewonnene Land reglementiert und sequestriert, von einem ausdrücklich geradgezogenen großen Schiffahrtskanal gequert, eine befremdliche Mischung von ökonomisch-technischer, gerasterter Großanlage und „Ziergarten“. Alle gewohnten positiven Konnotationen von Kolonisation sind schon beim ersten Blick auf Fausts ‚Schöpfung‘ zum Verschwinden gebracht vor dem Schrecken einer total durchrationalisierten Welt, in der selbst der Dichter - Lynkeus als Propagandist mit Sprachrohr - und das letzte bißchen Natur - als Zier und Ornament dressiert und funktionalisiert sind. Gegenläufig dazu besteht die geistige Weitung der Idylle in ihrer Verschmelzung mit der Geschichtssphäre. Schon anläßlich der frühen Dialogidylle habe ich darauf hingewiesen, daß die Idylle Geschichte überwachsen und in sich verpuppen kann. Im fünften Akt zeigt sich eine bisher nie gesehene Weltbedrohung - die Utopie der vom Menschen entworfenen und gemachten Welt, in der alles im Griff ist. Sie ist das neue Gegenüber der Idylle, in der nun gewachsene und gewordene Welt zusammenlaufen. Zwar sind im Lebensraum des alten Paars noch die traditionellen Idyllenzüge auszumachen, und wir haben es getan; aber ausschlaggebend ist eine neue, durch den Tod besiegelte Zusammengehörigkeit von Wandrer und Idylle, ausschlaggebend ist ferner die symbolische und zitathafte Ausstrahlung der Kleinwelt in das ganze große Feld europäischer Geschichte. Die geschichtliche und die idyllische Sphäre, vorher kontrastiv auf einander bezogen, verschmelzen dadurch zum Widerlager der utopischen Planwelt. Freilich verschmelzen sie auch zum Index eines Veraltens der Geschichtswelt, deren Erstarrungszüge der vierte Akt satirisch sichtbar gemacht hat. Fausts Projekt hat seinen Sitz in der Geschichte als hybride Reaktion auf eine Weltkrise, wo das in der Idylle anwesend gedachte Ursprüngliche keine Präsenz mehr ausstrahlt. In Philemon und Baucis ist die Idylle mit der Geschichte vereint alt geworden. Im Helena-Akt vollzieht sich die dichterische Schöpfung Arkadiens als Evokation der höchst sublimierten und potenzierten Kunstidylle aus literarischen Idyllenzitaten. Auch in der Charakterisierung der Philemon-Baucis- Sphäre werden zitathafte Momente bedeutungsträchtig, aber sie sind hier 247 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ dramatisch als Praxisbestand vorgeführt, Merkmale der modal gleichen Wirklichkeit, innerhalb derer auch Faust jetzt als der große Macher handelt. Da ist das Kirchlein und der aus dem Schiffbruch gerettete Wandrer, der zum Beten niederknien will und an die Missionsreisen des Apostels Paulus gemahnt. Aber zugleich erinnert der Reisende bei dem alten gastlichen Paar Philemon und Baucis an die Metamorphosen des Ovid, wo Zeus und Merkur das alte Paar dieses Namens besuchen und sie sich als die einzigen menschlichen Menschen erweisen. Antike und Christentum, die beiden großen Kultur- und Geschichtsreservoire Europas, sind in dieser Konstellation als real präsent anwesend und vereinigt dargestellt. Und Fausts Wüten gegen das verdammte Läuten des morschen Kirchleins und die braune Baute der Idylle zielt letztlich auf die vorgegebene und vorhandene Welt überhaupt, weil sie Welt der Überlieferungen und Bedingungen ist und ihm den „Hochbesitz“ (11156), den „Weltbesitz“ (11242), seines „Menschengeistes Meisterstück“ (11248), seine Neue Welt vergällt. Wie ein Pfahl steckt ihm die Geschichts- Idyllen-Sphäre im Fleisch als Erscheinungsform des „verfluchten Hier“ (11233), der Bindung des Menschen in Raum und Zeit, der er nicht entkommen kann. Diese Bindung Fausts reicht tief bis in sein Innerstes. Von dem Trümmerhaufen der gewachsenen Welt, in der noch die herrlichsten Linden verglüht sind, steigt der Rauch auf, aus dem sich die vier Weiber inkorporieren, deren mächtigstes, die Sorge, Faust durch ihren Anhauch zum blinden Visionär macht. Und noch die Utopie des Visionärs, sein Traum der vollkommenen Welt, ist nichts anderes als ein Zerrbild des Alten, der Idylle: „Grün das Gefilde, fruchtbar, Mensch und Herde/ Behaglich auf der neusten Erde.“ (11565f.) Auf den technischen Substruktionen, auf der Superplattform der Planwelt erhebt sich in Fausts Phantasie das angeblich Neue als das neue Alte einer Universalidylle. Faust kann die neuste, der Geschichte entgegenzusetzende Erde nicht nur nicht machen, er kann sie nicht einmal denken. Und wie denkt er sich selbst? Nicht mehr als Wandrer; nicht nur als Schöpfer, sondern, im Vorgriff auf das Letzte, Höchsterrungne seines Lebens, als Zweck und Ziel der damit pervertierten Universalidylle. Sie soll sein die Äonen durchragendes Monument sein: die Pseudo-Ewigkeit des zum Denkmal versteinerten Demiurgen. Fausts Tod und Katastrophe ist überwölbt von den christlichen Bildern eines nicht christlichen, vielmehr innerweltlichen Erlösungsglaubens. Der einst ins Grenzenlose strebende Wandrer Faust erscheint zuletzt als von Kräften der Liebe zur Mater Gloriosa Emporgetragener. An sie als „Jungfrau, Mutter, Königin,/ Göttin“ sind aus der Liebesfeier der Klassischen Walpurgisnacht Züge der Magna Mater übergegangen (12102f.). Vermittelnd zu ihr erscheint eine erlöste Büßerin, einst Gretchen genannt. Statt des toten Faust evozieren und interpretieren nun in Stufung zur Höhe Männer - Anachoreten, Pater Profundus, Pater Seraphicus, Doctor Marianus - die weiblich repräsen- 248 Literatur tierte Himmelssphäre. Ist das repetiert, erweitert und sublimiert die Konstellation der Dialogidylle Der Wandrer? Das ist nicht ganz abwegig, trifft aber nicht das neue Moment der Elevatio auf ein nur in unendlicher Annäherung erreichbares Ziel hin, das hier mit einem christlich vorgeprägten Begriff „Erlösung“ genannt wird. Dieser Schluß des Faustdramas signalisiert und symbolisiert nicht eine definitive Gegebenheit, sondern ein - letzte Reserven aktivierendes - Hoffnungsbild der Erlösung Fausts, des Wandrers, des repräsentativen Menschen. Also doch: der Mann - der Mensch? Nein, denn „das Ewig-Weibliche/ zieht uns hinan“ (12110f.) Unsere Überlegungen sind, wie in Aussicht gestellt, abschließend wieder bei der geschlechterphilosophischen Valenz der Thematik von Wandrer und Idylle, denn sie kann nun im Blick auf Fausts Karriere als deus artifex mundi und homo faber in ihrer Konsequenz überblickt werden. Als Wandrer und Deuter der in Gretchen inkorporierten Idylle, der zum Poeten Arkadiens mit Helena als inkorporierter Schönheit und Natur gesteigert wird, schließlich als Erzeuger einer depravierten utopischen Universalidylle verkörpert Faust in Goethes Geschlechterphilosophie den Pol des Männlichen in seinen extremen Möglichkeiten und Gefahren. Der umfassenden dieser Gefahren ist er zum Opfer gefallen: Er hat über dem Versuch, die Welt zum Material seines Ich zu machen, die Liebe und Hingabe als polare Ausprägung des menschlichen Weltverhältnisses vergessen. Sie stellt sich bei Goethe im Pol des Weiblichen dar. Konzediert, daß in dieser Geschlechterphilosophie viel Zeitgebundenes und deshalb uns - ausdrücklich auch dem Referenten - fremd Gewordenes steckt; aber es darf nicht verkürzend derart mißverstanden werden, daß Frauen lieben und Männer denken und machen. Vielmehr geht es bei Goethe in der Geschlechterphilosophie letztlich um eine Symbolik der Geschlechter. Im Ewig-Weiblichen, das uns hinanzieht, symbolisieren sich bei Goethe die Kräfte der Liebe und Hingabe, die auch der Mann hat und braucht; und im Ewig-Männlichen - erlauben sie mir diese Analogiebildung - symbolisieren sich bei Goethe auch die bildenden Kräfte, die der Frau eigen sind. Wie sehr, zeigt sich an der Gestalt Dorotheas in Hermann und Dorothea, die zwar - von heute gesehen, befremdlicherweise - zustimmend die Dienstbarkeit des Weibes in der Geschlechterbeziehung zitiert, tatsächlich aber das Schicksal der kleinen Lebensgemeinschaft, die sie sich neu gewinnt, beherzt in die Hand nimmt. So sind auch Geist und Natur in ihrem Verhältnis zu denken: Auch im Geist ist Hingabe und Empfängnis; auch in der Natur nach Goethes Vorstellung sind Bildungskräfte als formgebendes Geistiges und Verwirklichungsenergie. Und so steigt in der dichterischen Welt Goethes der Geist aus der Natur auf, in dem die Natur sich anblickt, im Gegenüber die Entsprechung und Ergänzung. Diese Formulierung scheint an das geschichtsphilosophische Grundmodell der Menschheitsentwicklung anzuklingen, das sich in der 249 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“ Schillerschen Fassung als Dreistufenweg aus einer Harmonie des Ursprungs durch die dissonante Entfaltung der menschlichen Vermögen in der Geschichte zu einer Wiederherstellung und Überwölbung der ursprünglichen naturhaften Harmonie im Endzustand höchst entfalteter Kultur darstellt. Goethes Entwurf ist jedoch nicht geschichtsphilosophisch linear und übergreifend teleologisch, wie sich bereits an der Idylle Der Wandrer an der Schichtung von Natur, Geschichte und Kunst gezeigt hat und wie gerade der Blick auf den 5. Akt von Faust II noch weiter verdeutlicht. Sein Konzept ist, statt auf eine geschichtsphilosophisch zielgerichtete Entwicklung der Menschheit, auf Entfaltungsmöglichkeiten und -grenzen des Menschen unter Menschen gerichtet. So kann Fausts Extremismus zwar konsequent und repräsentativ auf eine Möglichkeit der geschichtlichen Größtkatastrophe zusteuern, und diese Größtkatastrophe liegt auf der Linie eines Bedrohungsszenarios, das Goethe im prognostischen Blick auf die entstehende moderne Gesellschaft aufgeht. Und so steht denn doch die Geschichte als Ganze in dieser Krise zur Disposition. Die Sintflut ist herstellbar geworden. Aber Goethes Faust prognostiziert nicht mit Fausts Tod ein unaufhaltsam auf die Menschheit zukommendes katastrophisches Ende der Geschichte. Nur weil das Faustdrama keine teleologische geschichtsphilosophische Konzeption ist, sondern ein Drama der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Menschen in der Kontingenz der Geschichte, kann auf dem von Faust hergestellten Trümmerhaufen eine Erlösung Fausts gedacht und entworfen werden, die ihn repräsentativ für den Menschen überhaupt rettet. Im Menschen als Individuum - und in individuellen, nicht geschichtsphilosophisch auseinander ableitbaren geschichtlichen Situationen -, liegen für Goethe die Bedingtheiten und Offenheiten des Menschengeschlechts. Im Menschen als Individuum steht allerdings auch die Menschheit auf dem Spiel, und im Menschen als Individuum liegt schließlich ein menschheitliches Richtungsbewußtsein, eine Art von Heliotropismus, wie er die Pflanzenblüte auf die Sonne bezieht. Letzten Endes ist dieser Heliotropismus in Margarete tiefer als in Faust, aber er wird in ihr aktiviert durch Fausts Provokation. Deshalb kann sie ihm von daher entgegenkommen, wohin er irrend gestrebt hat, wovon er strebend abgeirrt ist. Derart gerät bei Goethe die Polarität von Wandrer und Idylle, Natur und Geist in ein Kreisen, in dem jede Position die andere übergreift. Es ist ein konzentrisches Gleichgewichtsmodell, das in der „Faust“- Tragödie in einer tragischen Exzentrik vorgeführt wird. Sie ist die auch heute noch und erst recht aktuelle, vom Dichter als Seismograph der Zeit aufgezeichnete historisch einzigartige Erscheinungsweise einer anthropologischen Grundproblematik. Die Krisenzeichen der Zeit sind für Goethe aber: Veralten des Überkommenen, Revolutionen, die Utopien und Diktatoren hervorbringen. Und das vor dem Horizont des heraufkommenden Maschinenzeitalters mit einer scheinbaren Omnipotenz des Menschen. Und dieser vorletzte Horizont ist noch einmal vor einen letzten Horizont des Goetheschen Glau- 250 Literatur bens gestellt an grundlegende, tragende und auch im Menschen tragfähige Liebeskräfte in der Welt. Faust, der Zerstörer des Gewachsenen, weist zuletzt vor auf die entfesselte Effizienz und Zweckrationalität, in der wir heute richtungslos schwimmen und die auf nichts so angewiesen ist wie auf den Weltbezug der Liebe, des liebenden Umgangs mit allem, worin wir gründen und was uns anvertraut ist. So ist schließlich auch Goethes Erlösungshoffnung über der Tragödie zwar von weit her entworfen und in nicht wenigem weit weg, aber im Kern hoch aktuell als appellativer Glaube an die innerweltlich gedachte Liebe, in der der Mensch nicht nur, sich loslassend, zeugt und empfängt, sondern auch empfangen wird. Sogar der Manipulator des Lebens und des Todes, der zwar vieles erkennen, aber sich nicht unter die Füße sehen kann. So zieht denn in der Symbolwelt und Symbolsprache Goethes das Ewig-Weibliche „uns hinan“ - ‚uns‘, mithin auch die Frauen. 1 S. den vorhergehenden Beitrag. 2 Goethes Werke. Hg. von Erich Trunz (HA). Bd. 3: Faust, S. 443. Nach dieser Ausgabe wird zitiert. Noch einmal Wandrer und Idylle Zur Helena-Handlung in Goethes „Faust II“ Wenn Goethe im Brief vom 1. Juli 1797 seinen Faust selbstironisch mit einer großen Schwammfamilie vergleicht, charakterisiert er einen Oberflächeneindruck, und dementsprechend läßt sich der Adressat Schiller in seiner Antwort gar nicht darauf ein. Im gleichen Brief spricht Goethe auch von „Schema und Übersicht“ zum „Faust“ und versichert noch einmal vier Tage später, er habe Schema und Übersicht „sehr umständlich durchgeführt“. Ohne mich mit der Forschung auseinanderzusetzen, ohne weiter auf Entstehungsgeschichte, Quellen und zeitgeschichtliche Bezüge, die in Fülle untersucht sind, einzugehen, konzentriere ich mich im folgenden auf den Versuch, am Text, wie er da ist, eine Organisiertheit der Darstellung in sich selbst herauszuarbeiten, die mir bei Goethe - von Planung und Konstruktion abgesehen - vorab das Ergebnis eines immanenten Verfahrens seiner dichterischen Imagination zu sein scheint. Ich begebe mich für meine Fragestellung in die Konstellation von Wandrer und Idylle, die ich seit vielen Jahren als einen Organisationskern von Goethes Werk einschätze. Er entfaltet sich in den verschiedensten Gattungs-, Themen- und Stoffbereichen und über die stilistischen Epocheneinschnitte in Goethes Werk hinweg. Seine Bedeutung für die Faust-Dichtung insgesamt habe ich vor kurzem skizziert 1 . Jetzt ziele ich in eine kleinere Dimension, nämlich in die Ermöglichungsschritte, Verlaufsbedingungen und Konsequenzen der Helena-Handlung, und greife dafür auf die schöne Bezeichnung zurück, die Goethe im Tagebuch verwendet hat: „Antezedenzien zu Helena“ 2 . Der Wandrer evoziert die Idylle Tragischer Höhepunkt des 3. Akts von Faust II ist die Liebesvereinigung von Faust und Helena, die im Gelingen schon zur Vergängnis bestimmt ist. Sie vollendet sich innerhalb der arkadischen Idylle, die Faust nach symbolischer Reise aus seiner deutschen Studierstube als nordischer Burgherr auf 252 Literatur griechisch-klassischem Boden proklamiert und damit aus dem Burggelände aufsteigen läßt: „Nicht feste Burg soll dich umschreiben! […] / Zur Laube wandeln sich die Thronen,/ Arkadisch frei sei unser Glück! “ (V. 9566ff.) Die zugehörige Bühnenanweisung zeigt eine Verwandlung durch dieses Wort an: „Der Schauplatz verwandelt sich durchaus. An eine Reihe von Felsenhöhlen lehnen sich geschloßne Lauben. Schattiger Hain bis an die rings umgebenden Felsensteile hinan.“ Die Proklamation erfolgt, während Faust neben Helena auf dem Thron der Herrschaft sitzt. Dieser Thron samt der Burg als artifizieller Großarchitektur entschwindet vor den neu hervorgerufenen Lauben, naturförmigen und doch vom Menschen gemachten Wohnstätten, die sich direkt an Felsenhöhlen als ebenso idyllentypische Naturbehausungen des Menschen anschließen. Faust verkörpert an dieser Stelle die ehrwürdige Metapher vom Poeten als alter Deus. Einzig hier gelingt ihm, was im 5. Akt grandios scheitert - die Schöpfung einer neuen Welt, in der Ausrufung Arkadiens sogar allein durch das Wort. Allerdings ist es eine Wortwelt, eine literarische Welt, die er da schöpft: die Idylle. Die arkadische Idylle hat eine bedeutende europäische Tradition, und Goethe, der daran seit seiner Jugend als Dichter Anteil hat, läßt Faust in der Verkündigung Arkadiens tief in ihren literarischen Formelschatz greifen. In einem entscheidenden Punkt allerdings geht Goethe über diese Tradition hinaus. Schon herkömmlich sind die naiven Menschen der Idylle aus dem Abstand derer gesehen, die nicht an ihr teilhaben. Bereits in seiner ersten großen, dialogisch verfaßten Idylle Der Wandrer, wohl von Anfang 1772, führt Goethe nun ein neues, hier ansetzendes Strukturelement ein. Es ist der schon durch den Titel in seiner Wichtigkeit hervorgehobene Wandrer, der von außen in die Idylle eintritt und sie durch ihre deutende Wahrnehmung als Idylle erst eigentlich konstituiert. Die Idylle hat kein Bewußtsein ihrer selbst. In ihm kommt sie zum Bewußtsein. Damit entsteht eine Polarität von Wandrer und Idylle, als weltweitem, geschichtstiefem gebildetem Bewußtsein und naiv konkretem Bewußtsein, die zur inneren Dynamisierung der Gattung führt und zur Sprengung der Gattungsgrenze; denn ist das sentimentalische Bewußtsein erst einmal zur gedichteten Person geworden, liegt es nahe, auch ihre Herkunfts- und Zielsphäre gedichtet der Idylle zu konfrontieren. Die idyllische Konstellation und Motivik wird mit innerer Konsequenz, was sie faktisch schon lange war: zum Bestand übergreifender literarischer Gattungen. So bereits im Urfaust, weiter und programmatisch ausgezogen in Faust I, wo Faust als menschheitliche Repräsentativfigur gerade durch seine Unruhe, seinen Bewegungs- und Expansionsdrang bestimmt wird. Aus der Enge der Studierstube mit Mephistos Hilfe zur Weltfahrt ausgebrochen, begegnet er Gretchen und interpretiert sie als „eingebornen Engel“ der „Natur“ (V. 2711f.; nicht umsonst klingt „unigenitus“ an) in einem idyllischen Lebenskreis, sich dagegen wenig später als „Unmensch ohne Zweck und Ruh’“ (V. 3349). 253 Noch einmal Wandrer und Idylle Der Wandrer Faust als poetischer Schöpfer: Idylle als Sphäre der Kunst Im zweiten Dramenteil weitet sich Fausts Wanderschaft zum äußersten - in die Tiefe der Geschichte, die Genese der Natur, die mythischen Gründe der Kunst, aus der nordischen Moderne in den klassischen Süden, in die leidenschaftliche Suche nach Helena. Die Begegnung mit ihr ist eine gesteigerte Wiederholung der Wandrer-Idylle-Situation der Gretchenhandlung; gesteigert vorab darin, daß der Wandrer Faust nun vom Interpreten zum poetischen Schöpfer der Idylle wird. Die evokative Kraft der Anschauung, die den Wandrern Goethes zueigen ist, schlägt in die poetische Produktion um, der wir als solcher beiwohnen. Indem der sentimentalische Betrachter nun poetischer Weltschöpfer wird, verwandelt sich Arkadien vom Ort in der Dichtung zum Ort der Dichtung selber. In spezifisch moderner Weise wird die Faust-Dichtung an dieser Stelle zur Dichtung über Dichtung und führt in die für Goethe so kennzeichnende Selbstthematisierung der Literatur. So wird hier nicht nur eine Idylle gedichtet; es wird gedichtet, daß Idyllik ab ovo Dichtung ist, Natur präsentiert aus und als Kunst. So ergibt sich die höchste Erscheinungsweise des dem Menschen Natürlichen. Das Idyllische ist zentrale Verwirklichungsweise der Kunst. Was da geschieht, ist modal gesehen etwas anderes als das im 3. Akt vorhergehende Auftauchen der Faustischen Burg auf antikem Boden aus einer Nebelwand, das Phorkyas durch Zauber bewirkt. Denn Phorkyas leitet dieses Geschehen geschichtlich ab und motiviert es geschichtlich, als Rettungsaktion für Helena vor dem Zugriff des rächend herannahenden Menelas, während Faust mit der Ausrufung Arkadiens, das er als Idealgebilde aus der klassischen Landschaft erscheinen läßt, den Austritt aus der Geschichte vollzieht. Phorkyas holt, zum Schaudern und Befremden des antiken Personals, mit der Burg den Norden als Fausts geschichtlich-kulturellen Grund nach Süden. Aber Faust läßt den importierten Norden, die Burg, im einheimischen Süden eintauchend verschwinden. Mephisto erläutert sozusagen kulturgeschichtlich eine dem antiken Personal exotisch erscheinende Burg; Faust beruft mit Arkadien einen vertrauten klassischen Raum der Dichtung aus klassischen Topoi dieses Dichtungslands, und er steigt, gerade weil dieser Raum Dichtung ist, gerade weil er einheimisch ist, wie selbstverständlich für alle empor - nach außen tretende innere Bilder. Faust tut das ohne Mitwirkung der Phorkyas, denn Dichtung hat zwar ein immanentes magisches Moment - davon wird noch die Rede sein -, aber da sie aus der Handlungswelt austritt, bedarf sie nicht der Magie als Kausalitätsdurchbrechung, sondern entfaltet sich aus schöpferischer Imagination und Evokation. Gerade in der scheinbaren Gleichartigkeit der so enggeführten Bühnenverwandlungen durch Phorkyas und Faust tritt die Verschiedenartigkeit des Bewirkten, die Verschiedenartigkeit von Handlungswelt und Dichtungswelt, umso schärfer heraus. Und dieses 254 Literatur Dichtungsland des 3. Akts ist herausgenommen aus der Gesamthandlung des Dramas, die selbstverständlich auch Dichtung ist und alle konstitutiven und stilistischen Merkmale Goethescher Dichtung aufweist, aber als gedichtete Realität und Handlungswelt. Idylle als Ideal-Natur So wird die Idylle des 3. Akts geweitet und potenziert zur Kunstsphäre. Sie wird, was Kunst in der deutschen Klassik immer auch und vordringlich ist, zum Idealentwurf des Menschen in der Welt, zum Ort und Träger eines konkret utopischen Moments. Fausts großartige Arkadienverse 9506ff. führen diese Universalisierung und Potenzierung vor: Die Idylle durchstößt nun Urtümlichkeit im Sinne eines idealisierten Reservats des Veraltenden und wird „erste Welt“ (V. 9565) als Zone ewiger, immer alter und immer neuer Jugendkraft, Ursprung der Gegenwart und der Vergegenwärtigung. „Arkadien in Spartas Nachbarschaft“ (V. 9569) wird zur Gegenwelt des Kriegerstaats als des Inbegriffs von Macht und Gewalt, die in der Geschichte herrschen. Arkadisches Glück hingegen entsteht, wie Faust vom verschwindenden Herrscherthron aus verkündet, indem sich die Thronen zur Laube wandeln, eine Möglichkeit der Selbstübereinstimmung des Menschen aufleuchtet, einer Kultur, die nicht eingefleischt wird, sondern im Menschen naturhaft und spontan gründet. Mit dieser Kultur als zweiter Natur sind Schmerz, Leid und sogar Tragik nicht aufgehoben, hat doch Goethe ausgerechnet in einer Betrachtung zu Wilhelm Tischbeins Idyllen (IX) das „Abscheiden“ (sowohl Abschied wie Tod umfassend) das „Grundmotiv aller tragischen Situationen“ genannt und damit naturhaft verankert; nur wird Tragik im Kunst-Arkadien an der höchsten Möglichkeit von Glück, auch das Schreckliche an der höchsten Möglichkeit von Schönheit gemessen. Damit ist Arkadien als Gegenwelt universal gesetzt und wird, im Gegensatz zur früheren inselhaft ausgegliederten randständigen Idylle auch Goethes, zur „Mitte“ (V 9509). „Denn wo Natur im reinen Kreise waltet, / Ergreifen alle Welten sich.“ (V 9560f.) Das ist der U-topos der Harmonie und des arkadisch freien Glücks, einer Vorstellung, ohne die, auch wenn sie jenseits der pragmatischen Verwirklichung bleibt, der Mensch nicht Mensch sein könnte. Idylle als Ideal-Antike Ist Arkadien in letzter Instanz und Potenz Naturerscheinung als Kunsterscheinung, dann erweist sich das antike Arkadien als konstitutives Element des Idyllischen. Die Antike stellt mit Arkadien nicht nur durch die Jahrhunderte 255 Noch einmal Wandrer und Idylle den idealen Raum der Idylle; sie ist die Kultur, in der am folgenreichsten das Naturhafte als schön und das Schöne als naturkonform aufgefaßt worden ist. Die deutsche Klassik hat die Antike am tiefsten nicht als Handlungsraum, sondern als Imaginationsraum erlebt und gedeutet, als produktiv - und mit sentimentalischem, übergreifendem Bewußtsein - hervorgerufene Anschauungswelt. Die von Goethe zur Zentralfigur erhobene Helena als Partnerin Fausts ist nicht nur eine stoffgeschichtliche oder vage kulturgeschichtliche Gegebenheit, sie ist bei Goethe vielmehr mit der Logik des Symbolischen höchste Repräsentation einer Antike, die Anschauungs-, Natur- und Schönheitswelt ist. Winckelmann ist für die Zeitgenossen und Nachfolger der Gründungsvater dieser Antike, und so ist es von innerer Folgerichtigkeit, daß Goethe in seinem Winckelmann-Aufsatz die berühmten Sätze formuliert, das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur sei der schöne Mensch, der, auf dem Gipfel der Natur stehend, in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat und so sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerks erhebt (Abschnitt: „Schönheit“). Schon die frühe Wandreridylle macht übrigens die Trümmer eines Tempels der Venus, in der sich Liebe und Fruchtbarkeit als höchste Naturkräfte in anthropomorpher Göttergestalt manifestieren, zum innersten Handlungsort der Idylle und nennt diesen Tempel, die Kunstform also, das Meisterstück des Meisterstücks der Natur, des Menschen mithin. Wie der Mensch als das Vollkommene aus der Natur aufsteigt, steigt die Kunst als Vollkommenes, als Schönheit, aus dem Menschen auf. Von hier aus begründet sich, warum die Klassische Walpurgisnacht als Vorbereitungsraum der Helena-Handlung auf arkadischem Boden in der Vergegenwärtigung der Ursprungszone des Gestalthaften ebenso auf die Kunstgestalt bis in die Abgründe der Mythologie hinein wie auf die Naturgestalt zielt. Es leuchtet ein, warum diese Ursprungszone klassisches Land, aber dabei klassisches Hexenland ist. So tief ist das gestalthafte Vorstellen der Antike zugedacht, daß noch das Chaotische als gespenstisch-hexenhafte Mißgestalt imaginiert werden muß. Aber auch: nur von hier, über diesen in der historischen Schichtung vorantiken, aber systematisch als simultan imaginierten chaotischen Grund der gestalthaften Antike, kann der nordisch-moderne, der Antike zunächst so ferne und doch so sentimentalisch zu ihr hindrängende Faust in diese Anschauungswelt hineinschlüpfen. Es versteht sich, daß dieser Weg ein anschauendes Denken und denkendes Anschauen fordert, ein Theoretisieren und Kommentieren des Erscheinenden. Es versteht sich auch, warum diese so überwältigende Anstrengung, die Ermöglichung des Unmöglichen, nur mit Hilfe äußerster ironischer und selbstironischer Brechungen zustande gebracht werden kann. Und es wird schließlich klar, warum, von der Welt der Gestaltwerdung, der Natur und der Kunst her gesehen, also aus der Perspektive Arkadiens, ein so skeptischer Blick auf die Handlungswelt der Geschichte fällt, soweit sie nicht der Gestaltwerdung dient. 256 Literatur Die Frau als Repräsentation der Natur, Idylle, Kunst Das 18. Jahrhundert hat in Europa die jüngste mythologische Göttin erfunden: Mutter Natur, die mit dem Verblassen der christlich jüdischen Gottvater- und Schöpfervorstellung einen Großteil der dort verankerten Kräfte auf sich zog. „Ich saug’ an meiner Nabelschnur / Nun Nahrung aus der Welt, / Und herrlich rings ist die Natur, / Die mich am Busen hält.“ So tritt sie uns in der Erstfassung von Goethes berühmtem Lied Auf dem See von 1775 entgegen. Folgerichtig wird sie bei Goethe zur Zentral- und Repräsentativfigur der Idylle und damit zur Korrespondenzfigur des Wandrers. In Der Wandrer begegnet sie ihm als eine Art Naturmadonna, mit dem saugenden Knaben an der Brust, die er als Sehnsuchtsbild mit sich auf seine weitere Wanderung nimmt. In der Kunst-Idylle der Römischen Elegien ist sie Faustina, die Geliebte aus dem naturhaften Volk. Auch Faust imaginiert in Gretchen, die für ihr Brüderchen sorgen muß, eine jungfräulich-mütterliche Geliebte. Als verlockende Geliebte steht sie in der Fluchtlinie Helenas, für die Antike die schönste aller Frauen, in Goethes Symbolhaushalt die ideale Naturmanifestation der Schönheit. Sie wird zur Mitte der arkadischen Idylle, die von Faust schöpferisch hervorgerufen wird, und erfährt als deren Repräsentation ihre Deutung durch den Wandrer Faust. Fausts Weg zu Helena Sowohl Faust wie Helena durchlaufen mit der Annäherung an die von Faust berufene Sphäre der Poesie eine Wandlung. Er, der Wandrer, schwächt, Helena entgegentretend, sein ruheloses Weiterdrängen ab und wendet sich mit der Erklärung „Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick“ (V. 9418) der erfüllten Gegenwart, dem in sich erfüllten Augenblick zu. Setzte Faust diesen Imperativ - statt in die Anschauungswelt - in die Handlungswelt, wäre das Drama zu Ende, denn er steht in kontradiktorischem Widerspruch zu Pakt und Wette. Fausts Erklärung des Daseins zur Pflicht enthält allerdings auch ein paradoxes Moment, denn der selbstverständlich gelassen Daseiende brauchte dafür keinen moralischen Imperativ. Helena, bis dahin ganz repräsentative Schöne noch in ihren Ängsten, zeigt erstmals im Beisein Fausts im 3. Akt, vor allem im Reimerfindungsspiel mit Faust, leise seelenhafte Züge, doch auch hier noch gehören die Stichwörter Herz, Sehnsucht, Traum Faust zu. In sich geschlossen und vollendet, mit der Doppelkraft des Naturals Kunstschönen reißt Helena den Wandrer Faust hin, sie, die ihm schon im Zauberspiegel der Hexenküche, am Übergang zwischen Gelehrtenexistenz und Welterfahrung, als „das schönste Bild von einem Weibe“ erschienen ist. „Ist’s möglich, ist das Weib so schön? “ (V. 2436f.) Mephisto antwortet 257 Noch einmal Wandrer und Idylle zynisch auf Fausts Begehren, an dem er „schier verrückt“ wird (V. 2456): „Du sollst das Muster aller Frauen./ Nun bald leibhaftig vor dir sehn / […] Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in jedem Weibe.“ (V. 2603f.) Dieser Zynismus enthält Wahrheit: Fausts Imagination wird in die individuelle Person Margarete etwas von chimärischer Sehnsucht nach „dem Weib“ schlechthin (V 2437), ja nach dem fetischhaften „schönsten Bild von einem Weibe“ (V 2436) hineintragen, und er wird noch später, wieder an der Grenze zur Verrücktheit, in Helenas absolute, darin gattungshafte Schönheit etwas von der lebensvollen Personhaftigkeit, wie er sie in Gretchen erlebt hat, projizieren und transitorisch hineinholen. Dieser Zusammenhang verbildlicht sich, wenn am Anfang des 4. Akts Helenas Schleier zur Wolke, diese zum Wolkensehnsuchtsbild der bereits Kontur verlierenden antikischen Schönheit - „Junonen ähnlich, Leda’n, Helenen“ (V. 10050) - und dieses schließlich zur Erscheinung des längst verlorenen Gretchen wird. „Des tiefsten Herzens frühste Schätze quellen auf: Aurorens Liebe“ (V. 10060f). Gretchen unter dem Bild der morgendlich aufgehenden Sonne ist hier Subjekt und Objekt der Liebe zugleich; sie quillt neugeboren aus dem von Helena unbefriedigten Seelenanteil Fausts hervor. Das Verlangen, im geliebten Menschen den einzigen zu finden, das nur im Innerlichen und als Innerlichkeit auftretende Individuelle, hat Helena nicht beantwortet, nicht beantworten können. Gang zu den Müttern und magische Beschwörung Helenas Erst der zweite Dramenteil nimmt die Spur Helenas wieder auf mit Fausts leichtfertigem Versprechen an die Hofgesellschaft, Paris und Helena, „das Musterbild der Männer so der Frauen“ (V. 6185), magisch zu beschwören. Der dafür notwendige Gang zu den Müttern, zur Matrix der Urbilder des Seienden, führt den Weltwandrer Faust in den mütterlichen Abgrund der Welt als den durch Pluralisierung - die Mütter - anonymisierten Schoß der Gestaltideen von Mutter Natur. In diesem Zusammenhang erfährt die Wechselbeziehung von Mann und Frau als Wandrer-Pol und Idyllen-Pol durch Mephisto eine massive sexuelle Konnotation. Er überreicht Faust einen Schlüssel, der ihn in den tiefsten Abgrund der Mütter führen soll. Leuchtend und blitzend, „wittert“ er einem glühenden Dreifuß am Ort der Mütter entgegen, der, berührt, sich dem Herrn des Schlüssels folgsam zeigt. Die Lebensformen können zur Welt kommen. So entsteht eine grandiose Symbolik vom Gang des Wandrers Phallos zur Idylle des Uterus. Damit ist das im Hintergrund der Wandrer-Idyllen-Konstellation eingenistete sexuelle ‚Ur-ei‘ der Geschlechtersymbolik Goethes angerührt, die ihn zu einem der wichtigsten Begründer der bürgerlichen Geschlechterphilosophie am Ausgang des 18. Jahrhunderts macht. Seine Geschlechtersymbolik bringt 258 Literatur Mann und Frau in eine Wechselbeziehung zueinander wie Geist und Natur, Zeugung und Empfängnis, Kopf und Herz, Bewegung und Beharrung usw. Der Mann als Repräsentant des wandernden, strebenden, ruhelosen Geistes ist unterwegs zu seinem kontrastiven Pendant, der Frau als Harmoniebild der Idylle, wo er Ruhe sucht, indem er sie als Natur deutet. Nicht zuletzt deshalb, weil die Motivik der Idylle seiner Geschlechtersymbolik einen so sinnfälligen Entfaltungsraum bietet, hat sie bei Goethe ein solches Gewicht. Und die Idylle ist es auch, die strukturell auf den Symbolcharakter dieser Natur-Geist-Frau- Mann-Polarität hinweist, indem sie im Wandrer das evokative, darin letztendlich symbolisierende Potential verkörpert, ohne das sie nicht zur Erscheinung kommen kann. In der höchsten Potenz geschieht das in der Arkadien-Idylle des 3. Akts von Faust II mit der Erscheinung von Natur als Kunst. Was aber hat nun Faust mit Paris und Helena von den Müttern heraufgeholt? Mephistopheles meint, ein von Faust selbstgeschaffenes „Fratzengeisterspiel“ (V. 6546), aber Faust weiß es besser: „Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben“ (V. 6430). Und er fährt fort: „Die einen faßt des Lebens holder Lauf, Die andern sucht der kühne Magier auf.“ (V. 6435f.) Im Überspringen einer schier unendlichen, auch philosophischen Diskussion und auch von Goethescher theoretischer, selbst deutungsbedürftiger Terminologie sage ich hier bewußt provisorisch: Allem Lebendigen liegen Urbilder, teleologische Entwürfe zugrunde - deshalb sind sie regsam -, die aber als Zugrundeliegendes nicht selbst lebendig sind. Indem des Lebens holder Lauf sie faßt, werden sie im Lebendigen lebensvoll, aber sie werden im Lebendigen auch diffundiert, verdunkelt, getrübt, ins Vereinzelte abschattiert. Das Lebendige ist eine Trübung, aber nur das Trübe kann lebendig sein. Die hingegen vom kühnen Magier beschworenen Urbilder treten in blendender Vollkommenheit auf, doch ohne Leben, als Bilder, Muster lediglich. Die Beschwörungsszene am Kaiserhof illustriert die Nichtüberspringbarkeit der Kluft zwischen diesen Bildern und der Handlungswirklichkeit am Gegensatz von Kaiserhof und Antike, Strahlkraft der Erscheinungen und Banalität der Kommentare des Publikums. Faust wagt blindlings eine hybride Grenzüberschreitung, mit der er die kategoriale Geschiedenheit zwischen den Urbildern und den Lebenserscheinungen negiert. Im Wahn „Hier faß’ ich Fuß! Hier sind es Wirklichkeiten“ (V. 6553) versucht er, durch den magischen Schlüssel das Bild Helenas zu berühren und sie an sich zu reißen. Zuerst wirkt „Raub der Helena“ wie der Titel des von den Musterbildern Paris und Helena dargebotenen Schauspiels, den Faust als magischer Herr der Bilder und Urbilder verleiht. Da aber der Raub der Helena in diesem Spiel noch gar nicht stattfindet, ist der Titel viel mehr die Bezeichnung dessen, was Faust gerade tun will. Der Versuch, Helena, das Urbild, ins Leben hineinzurauben, macht ihn zum neuen, anderen, potenzierten Paris. Paralysiert stürzt er auf den Boden der Tatsachen. 259 Noch einmal Wandrer und Idylle Homunculus. Fausts Traum von der Zeugung Helenas Wir begegnen Faust wieder, schlafend oder ohnmächtig in einer Nebenkammer des Laboratoriums hingestreckt, von der Phiole des soeben künstlich erzeugten Menschleins Homunculus beleuchtet. Schon dessen Erzeugung ist rätselhaft. Zwar mag im Hintergrund Mephistopheles seine Hand im Spiel gehabt haben, der Wagner bei der Menschenschöpfung magisch auf die Sprünge hilft wie später Faust beim chimärischen Neuweltschöpfungsprojekt, aber vordergründig ist der wissenschaftlich-experimentelle Hersteller dieses artifiziellen Menschen der trockne Schleicher Wagner, Fausts ehemaliger Famulus, dem man wohl von vornherein unterstellen kann, daß er die künstliche Zeugung nur deshalb so hoch preist, weil er zur natürlichen kaum fähig sein dürfte. Schon das stempelt Homunculus in gewisser Weise zum Mängelwesen, und in der Tat ist er im gläsernen Uterus der Phiole wie noch nicht ganz zur Welt gebracht und von einem ungestümen Wunsch beseelt, ganz in die Welt zu treten. Zugleich aber hat Homunculus als keimhafte Person doch den durch Faust von den Müttern heraufgeholten Urbildern etwas Wichtiges voraus: er ist Entelechie, nicht generisches Bild, sondern Manifestation individueller Bildungskraft, also potentielles Individuum. Und Homunculus ist als Lebendiges ohne die empirisch-materiellen Begrenzungen der Körperlichkeit ein Geistwesen mit fast universalem anschauendem Bewußtsein, dessen präexistentielle Liquidität es ihm ermöglicht, über der ganzen Welt zu schweben, die Träume des bewußtlosen Faust zu sehen, die Geschichte zu durchdringen, als einzige Figur der Faustumgebung von der Klassischen Walpurgisnacht geheimes Wissen zu haben, dorthin leiten und sich dort orientieren zu können, von seiner unvollkommenen Geburt Kenntnis zu besitzen und schließlich den Weg zur vollen Realisierung einzuschlagen. Beides, Vollkommenheit und Unvollkommenheit des Homunculus, gehören zusammen und stellen ihn in die Reihe der Goetheschen Geniusgestalten, die, mehr Geist als Körper, voller Inspiration, aber ohne volle Realisation, deshalb auch mit hermaphroditischen Zügen ausgestattet, eher Werdende, Bewegte als Seiende sind. Und sowohl nach der Seite des Mangels wie der Fülle hin ist Homunculus mit allen diesen Charakteristika eine der Spiegelungsgestalten Fausts, der, wie Homunculus auch, zunächst als Geistwesen in seiner Phiole, dem Kerker seines Studierzimmers, gefangen sitzt. Homunculus ist, gleich Faust, vom Realisationsverlangen erfüllt, das ihn auf Weltfahrt treibt. Unterwegs durch die weiten Zeiträume und verräumlichten Zeitschichten der Klassischen Walpurgisnacht, ist Homunculus in Übereinstimmung mit Faust ein Wandrer, der in geistigem Werde-Instinkt auch seinen Schoß, auch seine Idylle, zur Selbstverwirklichung sucht und findet: Galatees Muschelwagen in der Ägäis. Anschauend und deutend schwebt dieser Homunculus zunächst über der mythologischen Idylle, die sich in Fausts Traumwelt abspielt. Es ist die Zeu- 260 Literatur gung der Helena durch den als Schwan erscheinenden Zeus im Schoß der Leda, die in dichtem Hain und klarem Gewässer mit ihrem Gefolge nackter Frauen sich badend ergeht. Zeigt schon Fausts Paris-Helena-Beschwörung am Kaiserhof ein idyllisches Ambiente - beide im Schäferkostüm in einer Landschaft vor antiken Tempeln -, so ist auch der Schritt zurück zur göttlichen Zeugung Helenas ein Schritt in die Traumidylle. Sie indiziert als Traum Ferne und erste Möglichkeit der Annäherung zwischen Faust und Helena. Daß Faust in doppelter Weise in diesem Traum nicht vorkommt - weder als Handlungsgestalt, noch als Bewußtsein -, ist, gegensätzlich zu seinem Einbruchsversuch in die Urbildszene, Ausdruck eines Zurücktretens, einer Faust bisher fremden Gelassenheit und Selbstvergessenheit, die Seelischem Raum gibt und damit einer Bewegungsumkehr - es gilt nicht mehr ein Herausreißen Helenas durch Faust, es gilt eine Richtung auf sie zu. Und ist Faust bewußtlos, so ist doch Homunculus ein Wissender und Geistesverwandter. Als Stellvertreterfigur kann er für Fausts Selbstbewußtsein eintreten, während Faust in einer hoch erotisierten seelenhaften Stimmung befriedet und sehnsüchtig zugleich schwimmt. Helena, die antike Gestalt, ist ein Gehalt seiner Innerlichkeit geworden. Fausts Innerlichkeit umfließt sie wie das Leuchten der Phiole des Homunculus den Träumer. Homunculus - Faust Bleibt über Homunculus zu sagen, daß er als Spiegelungsfigur Fausts doch auch ein andrer als Faust ist, deshalb seine Wanderschaft letztlich doch kontrastiv-parallel zu der Fausts verläuft. Denn zwar ist auch Fausts Wanderschaft repräsentativ menschheitlich, aber er vollzieht sie als extremer einzelner, der die Folgen seines Lebens als einzeln-vereinzelter Egomane bis zu einem tief schuldbeladenen Tod zu tragen hat. Fausts Bewußtsein ist ein unglückliches, das des Homunculus präexistent-lichtes, im Wortsinn unbeschwertes, freies Bewußtsein. Fausts Durchbruch in die Realität liegt weit hinter ihm; der Durchbruch des Homunculus zur vollen Realität liegt vor ihm, und er entschwindet dem Blick im Moment dieses Durchbruchs, in dem seine Phiole am Muschelwagen der Galatee zerschellt, eine nun männlich codierte sexuelle Symbolik, die den präexistenten Hermaphroditismus als Ausgangspunkt des Homunculus hinter sich läßt. Dieser Durchbruch wird von ihm als orgiastische Steigerung und Entgrenzung erfahren, als Eingehen in einen Liebesschoß, über dem die Mondgöttinnen Diana-Luna-Hekate im Zenit stehen, die ihrerseits auf die erlösende Liebe der Mater Gloriosa für Faust am Ende des Dramas vorweisen. Aber Homunculus bedarf keiner Erlösung; weil er, obgleich Entelechie, noch nicht als Person gehandelt und gelebt hat. Deshalb steht für ihn der 261 Noch einmal Wandrer und Idylle göttliche Liebesgrund der Welt offen als unabgeschlossener Raum des Gestaltwerdens und der Gestaltenfolge des Lebens. Derweise gehört auch er zu den Antezedenzien des Auftritts der Helena, in die er, als noch nicht inkorporierte Entelechie zugleich Prinzip der Entelechie, so viel von diesem Prinzip hineinspiegelt, wie für ihr Auftreten als Faust faszinierende Kunst-Lebens- Gestalt im 3. Akt notwendig ist. Er weist ferner vor auf Helena und ihre Ausstrahlung in seiner Eigenschaft, anfängliche Gestalt der Werdelust und der Gestaltwerdungsenergie des Lebens zu sein, die sich in Helenas Schönheit vollendet. Und er ist als Stimme des wohl großartigsten erotisch-sexuellen Überschwangs, den die deutsche Literatur kennt, eine vorgreifende Huldigung an die weibliche Schönheit im Echoraum Aphrodite-Galatee-Helena. Dazu gehört als Grundierung, daß sich dem Homunculus in seinem todesmutigen lebensfreudigen Sprung ein Tor öffnet, von dem nicht ausgeschlossen ist, daß es das Tor des Todes ist. Erst in dieser Offenheit gibt es ein Stirb und Werde. Am untern Peneios Die nächste Annäherung Fausts an Helena ist sein Auftritt in der Klassischen Walpurgisnacht, dessen Imponierendes und Mächtiges gerade in seiner Wortarmut liegt. Er sagt nichts als: „den Boden berührend: Wo ist sie? “ (V 7056) Wer nichts als Helena im Sinn hat, kann mit „sie“ nur Helena meinen; hat zunächst nichts weiter zu sagen und zu fragen als diesen Lapidarsatz. Mit dieser Frage wandert er ruhelos durch den Gestaltendschungel der Hexennacht, bis er „Am untern Peneios“ ein Déjà-vu-Erlebnis hat. Der arkadische Traum, den Faust in seiner Ohnmacht träumte, scheint Wirklichkeit geworden. Ist er Wirklichkeit? Ja, denn das Innere ist nach außen getreten. Nein, denn das Äußere verharrt in einer merkwürdigen Unabgelöstheit von Faust, in einem träumerischen Weben. Eine leise ‚Verrücktheit‘ zeigt schon der Handlungsort: Die vom Mythos vorgegebene Szene der Zeugung Helenas spielt am Eurotas. Faust erlebt sie am untern Peneios. Der Flußgott möchte aus unterbrochenen Träumen in den Schlaf zurücksinken, die ihn umgebenden Nymphen laden Faust zur Ruhe, zum Schlaf ein. Faust nimmt Gestalten wahr, die sein Auge erst hervorgerufen hat (V 7271ff.). Die sich vorbereitende Zeugung der Helena, ihre Herkunft ab ovo, ist auch ein Erzeugnis von Fausts imaginativer Anschauung, in die er zugleich einsinkt, hingenommen wird. Dem entspricht die Lautmagie der Assonanzen und Alliterationen, die Variation von Leitwörtern wie flüstern, säuseln, träumen, rieseln, die nicht von ungefähr an die einlullende, alle Konturen auflösende Schlußzeile des Wiegenlieds von Clemens Brentano, des größten Wort- und Lautmagiers der deutschen Literatur, erinnern: „Summen, murmeln, flüstern, rieseln.“ 262 Literatur Noch ist das eine Vorstufe der Begegnung mit Helena im 3. Akt. Wie die Antike dort aus dem Elementaren der Klassischen Walpurgisnacht heraustritt, so hier aus einem seelischen Prozeß Fausts, und dieser seelische Prozeß, das Ananmetische, die schwingende Innerlichkeit sind Ausdruck eines Überschusses an Seelenkraft in Faust, der ihn von der Klassizität Helenas abhebt, aber auch ihn förmlich an Helena heransaugt. Und dabei steigert sich die untergründige Bewegtheit, die in der Wahrnehmung spürbar ist, bis zur Wahrnehmungsstörung, die gleichfalls von innen als Ereignis in die Szene geworfen scheint. Sie kommt Faust von außen entgegen als Annäherung des Zentauren Chiron, der Pädagoge der Argonauten, Gefährte des Herkules, Reittier der Helena war und als Arzt eine mythologische Berühmtheit ist. Scheinbar störend, ist er gleichwohl prädestiniert, die Suche Fausts nach Helena zu beschleunigen, indem er ihn auf seinem Rücken an den richtigen Ort trägt. Hat er doch dereinst auf seinem Rücken auch Helena getragen. Faust - Chiron Unterwegs kommt es zu einem Gespräch zwischen beiden, von Chiron locker ironisch, von Faust geradezu besessen geführt. Abermals treibt Faust seine Liebesraserei für Helena weiter, wobei in der Kennzeichnung Helenas als „einzigste Gestalt“ (V. 7439) noch einmal aufs knappste zusammengefaßt erscheint, was den Doppelcharakter von Fausts Liebe zu ihr ausmacht und was sich schon in der Zauberspiegelepisode der Hexenküche andeutete. Als „ewiges Wesen“, zeitloses Musterbild, ist sie einzigste, nämlich alles übertreffende und vollendende Gestalt; sie ist es für Faust aber auch als die unverwechselbar Eigentümliche, die gänzlich Unwiederholbare, die als „Diese“, wie Hegel sagen würde, auf „diesem Rücken“ Chirons gesessen und ihm ins Haar gefaßt hat. Als diesergestalt Einmalige ist sie in der Zeit, in der Zeitlichkeit, in der Vergänglichkeit des Lebendigen gebunden und muß ihr von Faust entrissen werden, wenn er ihr begegnen will. Dieses Doppelbild Fausts von ihr ist es, was für Chiron Fausts Begehren zur Krankheit macht, die geheilt werden kann und muß, denn es ist das Unantike, Moderne seiner Liebe. Natürlich steckt in jedem Verlangen zwischen Mann und Frau, das über die anonyme Sexualität hinausreicht, ein Keim von dieser Doppelwahrnehmung des begehrten Wesens, es ist schön und reizend in einzigartiger Weise, aber es gehört moderne Innerlichkeit, moderne Intimität, moderner Individualismus dazu, diese Momente als Widerspiel und Zusammenspiel derartig auf die Spitze zu treiben, wie Faust es tut. Erst in dieser Dialektik der Einzigkeit wird die Liebe so totalisiert und zugleich zum Ausdruck des Ganzen der Person, daß Faust sie mit seinem Leben geradezu identisch setzt und deshalb von ihr nicht, wie Chiron anbietet, geheilt sein will. 263 Noch einmal Wandrer und Idylle In diesem Gegensatz zwischen Chiron und Faust ist auch der andere gesetzt: Kurz vor dem Erscheinen Helenas bringt Chiron sie als mythologische Frau und dichterische Gestalt zur Sprache, und auch das tut er salopp, indem er mythologische und poetische Frau kurzerhand in eins setzt, kurzerhand für zeitlos erklärt und kurzerhand diese Zeitlosigkeit zur Lizenz der Dichter macht. Für Faust hingegen geht es nicht um eine poetische Unverbindlichkeit der Zeit. Es geht ihm um die Kraft der Liebe als Kraft der Zeitaufhebung, mit deren Hilfe er Helena als Musterbild und zugleich in der Zeit Verhaftete wirklich in seine Zeitlichkeit herüberholen will. Die Sage, Achill habe, von den Toten zurückgekehrt, mit Helena, gleichfalls dem Tod entkommen, auf der Insel Pherä zusammengelebt, für Chiron gewiß nur ein Beispiel der von ihm flott behaupteten Zeitentbindung des Poeten, wird im 3. Akt von Helena als tatsächliche Infragestellung ihres Ich erlebt, das ihr wegschwindet (V. 8881). Und Faust, gleichermaßen ernsthaft und zugleich herrisch, führt dieses Märchen zurück auf den Imperativ zeitdurchbrechender, schicksalsdurchbrechender Liebe. „So sei auch sie durch keine Zeit gebunden! […] Errungen Liebe gegen das Geschick! “ (V. 7434ff.) Und dieser die Verschiedenartigkeit der Seinsweisen von Poesie und Realität schroff ignorierende Faust ist es, der bei seinem nächsten Auftritt, im Helena-Akt, das Arkadien der Poesie ausruft! Faust als neuer Orpheus. Helena gerettet und verloren in seinem ‚Gesang‘ Diesen Faust, der tatsächlich „Unmögliches begehrt“ (V. 7488), liebt die mythologische Seherin Manto, der Chiron seinen vermeintlich Verrückten und Kranken zuführt. Und diesen Faust läßt sie den „dunklen Gang zu Persephoneien“ (V. 7490) finden, ins Totenreich also, damit Faust die geliebte Helena von den Toten heraufzuholen instand gesetzt wird. Sie nimmt, im Gegensatz zu Chiron, seine Sehnsucht nach Helena und ihrer Auferstehung ernst und existentiell. Doch zugleich macht sie Faust mit dieser Sendung zum neuen Orpheus, der es unternahm, seine geliebte Eurydike aus dem Totenreich wieder heraufzuholen. Dieser Orpheus ist die mythologische Urgestalt des Sänger-Poeten, dessen Gesang keineswegs poetisch-unverbindlich im Sinne des Chiron ist, sondern die Kraft und Verbindlichkeit besitzt, den Totengott zu rühren und singend das Paradies wirklich werden zu lassen. Euridikes Erweckung durch den Gesang des Orpheus scheitert allerdings im Gelingen, und indem Manto Faust zum anderen Orpheus macht, nimmt sie auch sein Scheitern im Gelingen voraus. Bei seinem Verschwinden aus der Klassischen Walpurgisnacht wird also Faust, derselbe, der die Wiedererweckung der Helena nicht als poetisches Spiel, sondern existentiellen Ernstfall betreibt, nichtsdestoweniger zum Sänger, damit zur Urgestalt des Poeten 264 Literatur eingesetzt, und als neuer Orpheus stimmt er im folgenden Helena-Akt den Gesang an, durch den das Arkadien der Kunst entsteht, wo er Helena gewinnt - und, wie Orpheus Eurydike - auch verliert. Tritt Helena 1000 Verse später als Bühnenfigur erstmals auf, ist sie, auch wenn Faust erst später erscheint, die von ihm aus dem Hades heraufgeholte. Sie ist es als antike Geschichtsfigur - von ihrem Ehemann König Menelas nach gewonnenem Trojanischen Krieg wie Beute mit gefangenen Trojanerinnen zusammen zurückgeführt, vor dem Eingang seines Königspalasts verharrend. Sie ist es aber auch als Figur der antiken, zugleich uralten und musterhaft zeitdurchragenden Tragödie, in einem dramatischen Prolog sich vorstellend, in jambischen Trimetern sprechend, dem klassischen griechischen Dramenvers, von einem Chor begleitet. Ihre ersten Worte „Bewundert viel und viel gescholten, Helena, vom Strande komm ich […]“ (V. 8488f.) sind eine Selbstdeutung als nicht nur durch die Zeitgenossen, sondern durch eine literarische Überlieferung kommentierte Figur. Als lebende historische Person und als dichterische Gestalt durch Faust heraufgebracht, ist sie aber außerdem Ausgeburt des Gestaltungsfests der Natur, wie es sich in der Szene „Felsbuchten des Ägäischen Meers“ vollzogen hat. Von drei Hintergründen schreibt sich ihre „allbezwingende Schöne“ (V. 8523), ihre „Schöngestalt“ (V. 8532) her. Schönheit ist ein Leitwort dieser gesamten Eingangspartie des 3. Akts. Als allbezwingende Schöne ist und war sie eine geschichtsmächtige Bewegerin, eine gewaltige Verwirrerin, die dem Betörten als Sonne im Süden aufgehen, sogar als „Göttin“ (V. 9237) erscheinen kann. Aber sie selbst tritt eher passiv und um Unbewegtheit bemüht auf. Als Beute, vielleicht sogar Opfer steht sie da. Und so ist es ihr auch unmöglich, als Wiedergekehrte in einen bergenden geschichtlichen Lebenszusammenhang zurückzuflüchten. Die abweisende Wand der ihr feindlichen Geschichte, gleichermaßen die Exposition als zum Tod bestimmte Tragödienfigur, erzwingen die Umkehr, will sie leben. Phorkyas, die gänzlich Kunstfremde, leitet diese Wendung ein, indem sie magisch Fausts nordischen Geschichtsraum als Schutz herbeizaubert. Faust, der sie als Lebendige durch lebendige Leidenschaft aus dem Hades geholt hat, überführt sie von da in Annäherungsschritten in das Arkadien der Kunst. Und der wichtigste Schritt dorthin ist das - nach allen vorhergehenden Verständigungsdissonanzen zwischen Helena und Phorkyas - harmonische Reimspiel zwischen Faust und Helena, das den Reim zur Metapher der Liebe, die Liebe aber auch zur Metapher des Reims macht. Die Liebe und das Poetische der Liebe von Faust und Helena sind da. Arkadien kann erscheinen. 265 Noch einmal Wandrer und Idylle Poiesis und Praxis Darstellung ihres Verhältnisses in der Kunst Mit diesem Erscheinen ist noch einmal die Frage nach dem Status der Kunstsphäre im Kontrast zur Realitätssphäre bei Goethe allgemein und speziell in der Arkadienschöpfung des Helena-Akts gestellt. Welche Einsichten ergeben sich dafür aus dem Gang durch die Antezedenzien Helenas? Der Ansatz der Antwort liegt in Fausts Aussage über die Urbilder: „Die einen faßt des Lebens holder Lauf, / Die andern sucht der kühne Magier auf.“ Etwas von Magie liegt im Wesen der Poesie, wie sie bei Goethe in der Helena-Handlung bestimmt ist, aber auch etwas von gelebtem Leben, wie es am Ende der Klassischen Walpurgisnacht gefeiert wird. Etwas von Magie, weil auch die Poesie die Urbilder mit einer Dringlichkeit beschwört, sie in einem Glanz aufleuchten läßt, die faszinieren. Es gibt den Schock des Schönen, wie er gerade im Eingang des 3. Akts mehrfach vorgeführt und angesprochen wird, es gibt den Schock der Kunst in ihrem Gegenüber zur Realität. Er kommt dadurch zustande, daß die Kunst in ihren Gestalten und Gestaltungen eine feiner organisierte, klarere, schärfer konturierte, universale Welt erzeugt. Etwas von gelebtem Leben hat die Poesie aber in der Intensität und Suggestivität der Vergegenwärtigung, in der Vollmacht, in der sie Erlebnisse und Erfahrungen zu Wort kommen läßt, in der Eindringlichkeit der Verschränkung individualisierender und generischer Züge. So kann die unerhörte Balance entstehen, daß das Imaginierte zugleich als das Wirkliche erscheint, daß die Urbilder nur in so leiser Trübung gebrochen werden, daß diese Trübung zugleich zum Modus eines vermittelten Erscheinens wird. Die imaginäre Stofflichkeit der Poesie und ihre Gestalthaftigkeit lassen eine Art Quintessenz und zugleich gegliederte und rhythmisierte Komplexität gelebten Lebens entstehen, wie sie uns die Empirie des Tatsächlichen versagt. Dieses Empirische ist so diffus wie opak, in vielem unfaßbar und zerrinnend, weil Unmittelbarkeit immer auch Blickverengung bedeutet. In der Kunst wird das gelebte Leben konzentriert und zugleich entmaterialisiert zum Destillat gelebten Lebens. So ist die Kunst das Unmögliche, sofern sie die Urbilder „des Lebens holdem Lauf“ ausliefert und zum Leben vermittelt, aber dabei doch den magischen Hauch ihrer Unmittelbarkeit bewahrt. Goethe hat die alte poetologische Metapher des Schleiers der Dichtung zum zentralen Symbol für das Vermögen der Dichtung gemacht, das Urbildliche in der diaphanen Realität ihrer Gestaltungen zur Erscheinung und in diesem Medium der Verhüllung gleichzeitig zum Leben zu bringen. In der Vernebelung der vexatorischen Erscheinung Helenas bei der Annäherung Fausts an den Zauberspiegel der Hexenküche tritt vorgreifend diese Spannung zwischen Urbildprägnanz und Lebenstrübe heraus. Zugleich ist hier Fausts Verlangen im Helena-Akt präformiert, den Realisationsanspruch seiner 266 Literatur Liebe unabdingbar präsent zu halten und auf dem Lebenscharakter des Schönen in Helena um jeden Preis, auch den des letztendlichen Verlusts, zu bestehen. Und gerade das macht Faust im 3. Akt fähig, das Arkadien der Kunst als leuchtende Natur, leuchtendes erfülltes Leben zu schöpfen, sich darin einzubürgern, sich hier mit Helena zu vereinigen, sie aus ihrer - im Wortsinn - Monumentalität zur Liebe und damit ins Leben zu führen. Das Siegel dieses von Faust als poetischem Schöpfer in ihr stark gemachten Lebensmoments der Kunst ist die Geburt des Sohns Euphorion aus der Verschmelzung von Faust und Helena. Doch zugleich wird an Euphorion die von Goethe immer wieder im Werk umkreiste Problematik der Kunst hervortreten, die untrennbar mit ihrer Leuchtkraft zusammenhängt. Was ihr die Durchsichtigkeit verleiht, was sie zur Quintessenz, zum Idealentwurf des Lebens macht, ist zugleich ihr Mangel. Ihre Diaphanie ist die Kehrseite einer gegenüber dem wirklich Wirklichen denn doch geringeren Lebensdichte, ihrer Nichtverstrickung in die Konsequenz, Unerbittlichkeit, aber auch fruchtbare Wirkungskette des real Gelebten. Die Quintessenz des Lebens ist eben doch nicht das Leben selber, sondern in Darstellung angeschautes Leben. Das äußerste an Sublimierung terminiert in Gerinnung, die äußerste Prägnanz in Kristallisation. Und so ist die Arkadien-Idylle als Kunst-Leben zwar gegenüber der Gattung Idylle entgrenzt, aber trotzdem relativ zur Praxis- und Erfahrungswirklichkeit. Tragische Spannung des Verhältnisses von Kunst und Praxis Tatsächlich führt die dichterische Schöpfung Arkadiens durch Faust zum tragischen Hervortreten dieser Doppelgesichtigkeit. Die Thematisierung der Poesie, das Erdichten der Dichtung im Helena-Akt, mündet in die Tragödie, und zwar nicht nur als Handlungsverlauf, insofern hier das Abscheiden als die von Goethe in Tischbeins Idyllen sogenannte schlechthin tragische Situation stattfindet. Darüber hinaus endet der 3. Akt als Tragödie der Kunst selber, insofern sie sich doch letztendlich vom gelebten Leben der Handlungssphäre abscheidet - durch Unterscheidung. Von der Handlungswirklichkeit her gesehen, erscheint die Kunstsphäre, wie der Idylle traditionell eigentümlich, von vornherein auch als Ausnahme- oder Fluchtraum vor der Gewaltsamkeit des Wirklichen, speziell als Fluchtraum vor den Umwälzungen und blutigen Mechanismen der Macht. Lynkeus, an dem die phänomenale Kritik der Kunst im 5. Akt gewichtig weitergeführt wird, legt im 3. Akt als kriegerischer Beutemacher überschwenglich „die Ernte mancher blut’gen Schlacht“ (V. 9316) Helena zu Füßen. Unter dem Blick der Schönheit soll sich Raub in Schmuck, Ware zu selig in sich selbst ruhender Schönheit verwandeln. Und während sich das Liebesspiel zwischen Faust und Helena als Reimspiel entfal- 267 Noch einmal Wandrer und Idylle tet, tobt die Gewalt, nähert sich die Gefahr den Selbst- und Weltvergessenen. Fausts Schöpfung Kunst-Arkadiens ist so auch „Flucht“ ins heiterste Geschick (V. 9571). Und nicht das allein: Das Schöne wird nicht nur funktionalisiert, um das Schreckliche vergessen zu machen, die blutige Beute in den ideellen Wert zu verklären: im Helena-Akt sind Krieg und Gewalt, denen sich Faust und Helena in ihr Kunst-Arkadien entziehen, letztendlich sogar Folgen der Folgen des Raubs der Helena, dessen unschuldig Schuldige und schuldig Unschuldige sie ist. Zur Tragödie der Kunst gehört so die tragische Schuld der Kunst, tragisch geradezu in schulmäßiger Exaktheit, weil unabwendbar in ihrem Vorhandensein und Sosein gesetzt. Faust, aus der praktischen Erfahrungswirklichkeit kommend, strebt mit höchster Sehnsucht in das Absolute, das nur die Kunst, zusammengefaßt in der Schönheit, zur Erscheinung bringen kann. Es ist in dieser Erscheinung aber auch scheinhaft und schwindet unter den Händen. Helena kann in Fausts Arkadien Schutz finden; aber sie kann und will nicht in die Realität übertreten, aus der Faust kommt. Sie kann es so wenig, wie eine Idyllenfigur bei Goethe zur Wandrerfigur werden kann. Nicht einmal der Gedanke daran steigt ihr auf. Trotzdem wird Helena wach. Während bei der inselhaft in sich ruhenden Idylle der Wandrer in seiner Evokation zwar die Idylle bewußt macht, aber nicht im Bewußtsein ihres Personals, das naiv bleibt, kommt Helena als höchste Natur- und zugleich Kunstgestalt durch Faust zum Leben und zum Bewußtsein. Wie in der Gretchen-Handlung des ersten Dramenteils durch die Wucht von Fausts Eingriff in ihre in sich brüchige Idylle Margarete zerbrechend ein zerbrochenes, aber konkret-umfassendes Bewußtsein gewinnt, so gewinnt Helena im 3. Akt Selbstbewußtsein und verliert ihr Dasein. Auch da ist Faust der bewegte Beweger. Es ist jedoch das Phänomen der Kunst an sich selbst, dessen konstitutive immanente Gespanntheit zwischen Schein und Erscheinung in Helena zuletzt tragisch aufbricht. Ist Faust bei Gretchen tragischer Zerstörer, so ist er hier in erster Linie Katalysator der Tragik. Helena ist schon in der Eingangspartie des 3. Akts bedroht von einem Vergehen und Erstarren im Idolischen, Todesstarren, das ein Grenzwert ihres Kunsthaften ist, und Fausts im Schöpferischen wirkende Leidenschaft verleiht ihr vorerst sogar eine gewisse Stabilität. Aber sie muß Faust wieder entrinnen, lediglich Symbole zurücklassend: das Kleid als Zeichen der in der arkadischen Existenz neu gewonnenen Leibhaftigkeit, den Schleier als Zeichen der Kunst. Das stille Widerspiel in Helena dynamisiert sich in ihrem Sohn Euphorion. Er ist eine weitere Geniusgestalt Goethes mit der zugehörigen Präexistenzproblematik, nun aber Genius der Kunst in der ‚Phiole‘ der Kunst. Der Kunstsphäre entsprossen, hat er nicht die Möglichkeit, wie Homunculus aus seiner Phiole in die Praxiswelt durchzubrechen. Als Sohn seines Vaters Faust auf diesem Boden trägt er auch dessen Expansionsmus und Aktivismus in sich. Sie sind sogar enthemmt, weil ihm das Bewußtsein von der mangelnden Dichte 268 Literatur seiner Existenz als Ausgeburt der Kunstsphäre, das Bewußtsein auch der brutalen Widerständigkeit des faktisch Vorhandenen fehlt. Deshalb ist sein Leiden am Kunst-Arkadien so groß, daß er es unbedingt verlassen und in die Handlungssphäre übertreten möchte. Aber weil bei dem Kind Kunst-Arkadiens die geniushaften Präexistenzmerkmale der Kunst kategorial konstitutiv sind, gerät noch sein Gegenentwurf einer heroischen Umkehrung der Idyllen- Natur zu Poesie, verdünnt sich noch die unbedingte Realisierungstendenz zur Realitätsphantasie im Gesang. Die Problematik von Kunst und Leben öffnet sich dergestalt in ihm zum tragisch zerstörerischen Widerspruch, und er stürzt als anderer Ikarus tödlich ab, wo Homunculus ins ‚Stirb und Werde‘ findet. Warum Faust Arkadien hervorrufen und wieder überschreiten kann und muß Euphorions Sehnsucht ist bodenlos; Fausts Sehnsucht jedoch ist lebensvoll und produktiv. Faust ist der Autor des Arkadiens, in dem Helena und Euphorion lediglich vorkommen können. Der nordische Wandrer mit dem sentimentalischen Bewußtsein hat diese Antike hervorgerufen und ist als ihr Provokateur reicher und weiter als sie, auch wenn er sie noch so verlangend verklärt. Er kann sich nicht im Süden zur Ruhe setzen, weil es sein Süden ist, in dem seine Unruhe vergeblich Ruhe sucht, weil diese Unruhe als schöpferisch auch eine Sprengkraft ist. Der Totalitäts- und Absolutheitssucher Faust muß mit innerer Notwendigkeit in die Kunstsphäre als Vollkommenheitsraum vorstoßen, aber er muß die in dieser Vollkommenheit doch relative Kunstsphäre letztendlich überschreiten. Am Ende löst sich Arkadien in Wolkenbildungen auf, während Faust wieder auf dem Fels der primären Realität Fuß faßt. In der Tiefe ist er schon bezogen auf Auroren, in der ihm Gretchen wiederaufgehen wird, vordeutend auf die Erlösungssonne, die ihn im Dramenschluß über das Chaos hinwegzutragen bestimmt ist, das er als Täter anzurichten sich anschickt. Mit dem Wiedereintritt in die Praxiswelt geschichtlichen und sozialen Handelns und Erfahrens rückt die zwar repräsentative, aber doch individuell extremierte und spezifizierte Faust-Problematik des entfesselten Strebens wieder nach vorn. Und so geht der Wandrer Faust in die Handlung des 4. und 5. Akts. Doch immer weiter bleibt die Konstellation von Wandrer und Idylle in Faust wirkungsmächtig, auch wenn sie nun nicht mehr das Verhältnis Kunst-Realität reflektiert, sondern das des geschichtlich Gewordenen und krisenhaft Gealterten zur Entgrenzungsgewalttat des demiurgischen Machers, der schließlich die Polarität von Wandrer und Idylle zerstörerisch überschreitet und sich selbst zum Telos seiner Neuwelt wird. Dieser Neuwelt willen wird nicht nur die Idylle von Philemon und Baucis, sondern auch die letzte, verstummende Wandrergestalt Goethes vernichtet. Das ist die Aus- 269 Noch einmal Wandrer und Idylle löschung einer zentralen Konstellation im Werk Goethes als letztes Wort des Dichters in dieser Sache. Die Kunst stellt die Praxiswelt dar, von der aus die Kunst kritisiert wird Doch mit der Herausarbeitung der Relativität und Problematik der Kunstsphäre bei Goethe kann es so noch nicht sein Bewenden haben. Die Kunst ist zwar, wie gezeigt, von der pragmatischen Wirklichkeit kategorial geschieden, aber sie ist es als in der Geschiedenheit doch mit ihr zusammengehörige Gegensphäre. Darin gründet eine wechselseitige Kritik dieser Sphären. Die Kunst macht in Leitbildern - sei es in negativen - anschaulich, was für eine menschliche Existenz des Menschen unverzichtbar ist; das Leben führt vor Augen, daß die Kunst Leben idealisierend auch stillstellt und daß kristallisiertes Leben als Vollendung in der Form auch tot ist. Kann die Kunst die Lebendigkeit des Lebens darstellen, jedoch nicht erreichen, so kann andererseits diese ganze tiefsinnige phänomenale Kritik der Kunst, überhaupt die Thematisierung des Kunst-Lebens-Verhältnisses, doch auch nur in künstlerischer Darstellung so gestalthaft und systematisch zugleich erfolgen, wie hier skizziert wurde. Vor allem kann die Kunst pragmatisch die Widersprüche darstellen, die sich der begrifflichen Explikation immer wieder ins vermeintlich Kontradiktorische entziehen. Tatsächlich ist die Kunstproblematik bei Goethe theoretisch nirgends so eindringlich, wechselwendig und ausgreifend formuliert wie in seinen Dichtungen, vorab in der Helena- und Lynkeus-Handlung des Faust II. Zwar müssen der 4. und 5. Akt der Tragödie wieder in die Handlungswirklichkeit zurückkehren. Doch demgegenüber ist die banale und zentrale, im Verlauf dieser Überlegungen schon angesprochene Feststellung nötig, daß ja auch die Handlungswirklichkeit der Dichtung eine auf dem Boden der Dichtung erzeugte ist. Mithin geschieht die Darstellung der Praxiswelt mit den gleichen Mitteln wie die darstellende Thematisierung der Kunstsphäre. Und so arbeitet die Gestaltung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Handlungswirklichkeit im 4. und 5. Akt des Faust unvermeidlich wiederum mit literarischen Topoi und Abbreviaturen, Symbolik, literarischen Traditionsreihen, intertextuellen Bezügen usw., zentral mit der noch einmal verwandelten Konstellation von Wandrer und Idylle. Ist das Arkadien der Kunstsphäre, also die Idylle, nur vom Boden der Handlungssphäre aus, also vom Wandrer, hervorrufbar, so ist doch diese Feststellung durch Darstellung nur auf dem Boden der Dichtung möglich. Die Dichtung vermag noch das Defizienzverhältnis der Kunst gegenüber dem Leben zu thematisieren, doch ihre phänomenale Kritik der Kunst kann sich nur in Relation zu Bildern der Realität entfalten, die wiederum die Kunst schafft. Die hier behauptete äußerst komplexe gestalthafte Deutung des Kunst-Lebens-Verhältnisses 270 Literatur 3 Mit der These, die Konstellation von Wandrer und Idylle sei das organisierende Zentrum der Helena-Handlung, konzediere ich von vornherein, daß manche Textpartien ihn näher stehen, andere ferner. Aber kein wichtiges Element ist zu diesem Zentrum beziehungslos. Bei meiner Fokussierung treten die Szene vor dem Palast des Menelas und die Gestalt Mephisto/ Phorkyas zurück. Überhaupt mag befremden, daß in meinem Faust-Verständnis Mephisto etwas von der Dominanz verliert, die ihn vor allem in Theater-Inszenierungen fast zur Hauptfigur des Dramas zu machen droht. Bei allem Gewicht im Ganzen des „Faust“ finde ich, daß Mephisto zwar entscheidend ist, um die Dynamik und damit auch Problematik der Wanderschaft bei Faust zu entfesseln, daß aber die Konstellation von Wandrer und Idylle, einmal in Gang gesetzt, eine eigenständige Entfaltungsenergie und -konsequenz besitzt. Sie bewirkt, daß Mephisto mehr resonanz- und kontrastgebend und ermöglichend als eigentlich motivierend erscheint. Generell versucht er Faust mit Fausts Versuchungen. - Für mein Faust-Konzept verweise ich auf die Studie: Ist der Mensch zu retten? Vision und Kritik der Moderne in Goethes Faust. Freiburg 1994. Die dort entwickelte Deutung des 5. Akts greift zurück auf meinen Band: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977. findet bei Goethe nur in der Dichtkunst statt, der die Interpretation als begriffliche Übersetzung der dargestellten Problematik hinterhertastet. Der Interpret verhält sich dabei zur Dichtung wie der Landvermesser zum neu entdeckten Kontinent 3 . Lazarus als Lyriker Über die Gedichte Heinrich Heines Die „Wunde Heine“ Nicht erst der Nationalsozialismus hat Heinrich Heine als Juden aus der deutschen Literaturgeschichte verstoßen. Nicht nur antisemitische Rasseideologen im Kaiserreich wie der Schriftsteller Adolf Bartels haben Heine diffamiert („Heinrich Heine, auch ein Denkmal“ 1906). Auch der jüdische österreichische Schriftsteller und Sprachkritiker Karl Kraus hat Heine 1911 in seiner Streitschrift „Heine und die Folgen“ mit ähnlich ätzendem Hohn übergossen, wie ihn Heine in seiner Polemik bereithielt. Heines Folgen: damit deutet Karl Kraus auf die breit dahinplätschernde Heinenachfolge bei Journalisten, Lyrikern und ihrem Publikum, die sich in leichtfüßigem Feuilletonismus und billigen Umkippspielen zwischen Sentimentalität und Desillusionierung ergingen; denn Heine war, trotz politischer und - seit dem Jahrhundertende sich häufender - rassistischer Anfeindungen, ein deutscher Modeautor bis über den ersten Weltkrieg hinaus. Nach dem zweiten Weltkrieg hat wiederum ein jüdischer Deutscher, Theodor W. Adorno, in einem Rundfunkvortrag anläßlich des 100. Todestages 1956 von der „Wunde Heine“ gesprochen und präzisiert: „Die Wunde […] ist Heines Lyrik.“ Er meint mit der Wunde nicht einfach Heines Judentum, sondern seine Reaktion darauf als Dichter, speziell als Lyriker. Als Heine in die Literatur eintrat, hatten sich erst vor wenigen Jahrzehnten in Deutschland die Gettos geöffnet, in denen die Juden, von ihrer Religion zusammengehalten, unter diskriminierendem Sonderrecht, ausgeschlossen von den meisten Berufen, beargwöhnt und verachtet, eine Sonderexistenz mit einer Sondersprache, dem Jiddischen, führten. Zwar gab es seit der Aufklärung Bestrebungen zur Emanzipation der Juden und einzelne, herausragende Gestalten, die Bewunderung fanden, weil sie Juden und zugleich Repräsentanten der deutschen Kultur waren - ich nenne Moses Mendelsson und seine literarische Spiegelungsfigur, Lessings Nathan den Weisen -, aber in ihrer Masse blieb die jüdische Bevölkerung abgesondert und im Sinne der Kultur und Hochsprache ihrer Umgebung ungebildet. Obwohl der 272 Literatur 1 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 2: Noten zur Literatur. Hg. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1974. S. 96,98. - Genaueres zur Beherrschung der deutschen Sprache durch Heines Mutter s. Walter Wadepuhl: Heinrich Heine. Sein Leben und sein Werk. Köln, Wien 1974. S. 15: Sie benutzte im Deutschen hebräische Buchstaben. Ihre Briefe wimmeln von Fehlern, die für das Judendeutsch typisch sind. arrivierten Schicht des Judentums angehörig, war etwa Heines von ihm geliebte Mutter „des Deutschen nicht ganz mächtig“ (Adorno). 1 Erst die Napoleonische Ära brachte die weitgehende gesetzliche Gleichstellung der Juden, und wenn es überhaupt in Deutschland eine Zeit gab, die das Gelingen der jüdischen Assimilation zur Hoffnung der Aufgeklärten machte, dann war es die Mitte des 19. Jahrhunderts. Beide Brüder Heines sind geadelt worden - der eine war Offizier und später reicher konservativer Zeitschriftenherausgeber in Wien, der andere Arzt bei Hofe in Sankt Petersburg. Aber ein derartiger Aufstieg verlangte eine Anpassung, bei der man die Herkunft zurückließ und trotzdem unter Vorbehalt und Vorurteil blieb - bestenfalls wurde man akzeptiert, obwohl man Jude, oder christlich getaufter Jude, war. Niemals wurde ein Jude ein Bürger wie andere. Auch Heinrich Heine hat Anpassungen erbracht. Er hat sich taufen lassen nicht in einer religiösen Entscheidung, sondern, wie er selbst gesagt hat, um damit die Eintrittskarte in die europäische Kultur zu lösen. Und er hat in der Verfolgung seines Lebensziels, ein deutscher Schriftsteller mit Heimatrecht in der deutschen Sprache zu werden, eine jongleurhafte Geläufigkeit in der Handhabung der sprachlichen und kulturellen Muster vorgeführt, die das Gegenteil von selbstverständlichem kulturellem und sprachlichem Zuhausesein ist. Das ist die Wunde Heine, von der Adorno spricht: die zu glatte Beherrschung der Standards lyrischer Sprache. Heine erlaubt sich nicht, was zumindest seit der Zeit Goethes in Deutschland zum Bild des Dichters, vor allem des Lyrikers, gehört: eine Sprache des Ausdrucks, die das geläufige Wort und die geläufige Erfahrung zwar aufnimmt, aber sie durchstößt und nach dem völlig Eigentümlichen tastet. Auf diese Weise entsteht eine dichterische Sprache, die noch das Ringen um die Sprache zum Ausdruck zu bringen vermag, wobei das Errungene auch das gänzlich einfache sein kann, das gerade wegen seiner Einfachheit bisher noch nicht literaturfähig war. Eigentümlich in diesem Sinne ist sowohl Goethes Vers: „Wie im Morgenrot / Du rings mich anglühst, Frühling, Geliebter! “ wie: „O Mädchen, Mädchen, wie lieb’ ich dich! “ Was aber der große Lyriker so an Ausdrucksmöglichkeiten erringt, das bedeutet für den Späteren einerseits eine Erweiterung der sprachlichen Möglichkeiten der Lyrik, andererseits eine Grenze, die er wiederum in Richtung auf das Eigene hinausschieben muß. Diese sich in der Moderne noch verstärkende Tendenz führt in letzter Konsequenz dazu, daß Paul Celan, wohl der bedeutendste deutsche Lyriker der Nachkriegsepoche, im Gedicht das „erschwiegene Wort“ sucht. 273 Lazarus als Lyriker 2 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. M. Windfuhr. Hamburg. 16 Bde. 1973-1997. Bd. 1,11. (Nach dieser Ausgabe wird zitiert.) Dagegen ist Heines „Widerstandslosigkeit gegenüber dem kurrenten Wort der nachahmende Übereifer des Ausgeschlossenen. Die assimilatorische Sprache ist die von mißlungener Identifikation.“ (Adorno S. 89). Heine schreibt in einer forcierten Dauerdemonstration seiner sprachlichen und kulturellen Kompetenz, die ihn dazu befähigt, die deutsche Literatur- und Bildungssprache meisterhaft in allen Gangarten vorzureiten, die ihn aber noch als literarischen Neuerer ans Vorhandene festbindet. Gerade das dürfte allerdings auch ein Grund seines literarischen Weltruhms sein, der den anderer deutscher Dichter von größerer sprachlicher Eigenart und emotionaler Schwingung übertrifft: Das Gängige und Eingängige seiner literarischen Motive und seiner lyrischen Sprache, seine Meisterschaft eher in der Kombinatorik der Elemente als in der Differenziertheit, Vielschichtigkeit und Originalität des Ausdrucks machen ihn leichter übersetzbar als andere Poeten. Seine Eingängigkeit erzeugt aber auch bei der Übersetzung die Gefahr, daß seine Anspielungen und ironischen Brechungen eingeebnet werden. Heines lyrischer Stil Heine in der assimilatorischen Perfektion seines lyrischen Sprechens hatte das Glück und das Unglück, wie seine dichtenden Zeitgenossen das Erbe einer durch den Sturm und Drang, die Klassik und die Romantik außerordentlich reich und differenziert entfalteten Sprache, Motivik und Bildlichkeit des Gedichts anzutreten. Es war eine Sprache, die gleichsam selbstläufig wurde und in der man einfach weiterdichten konnte. Das „Buch der Lieder“, das Heine dreißigjährig 1827 veröffentlichte, erreichte zu seinen Lebzeiten 13 große Auflagen. Die dritte Auflage von 1839 eröffnete er mit einer Vorrede, die in Versen begann. So exponiert, muß er sie als repräsentativ und qualitätvoll eingeschätzt haben: Das ist der alte Mährchenwald! Es duftet die Lindenblüthe! Der wunderbare Mondenglanz Bezaubert mein Gemüthe. Ich ging fürbas, und wie ich ging, Erklang es in der Höhe. Das ist die Nachtigall, sie singt Von Lieb’ und Liebeswehe. 2 274 Literatur 3 Joseph von Eichendorff: Werke in einem Band. Hg. W. Rasch. München (Hanser) o.J. S. 12. Diese Strophen könnte man, beim ersten Hinhören, für Eichendorff halten: Wald, Mondenglanz, Wanderschaft, Nachtigallengesang - das ist sein Repertoire. Hören wir ein Gedicht des späten Romantikers Eichendorffs von 1826, ein Jahr vor dem „Buch der Lieder“: Ich wandre durch die stille Nacht, Da schleicht der Mond so heimlich sacht Oft aus der dunklen Wolkenhülle, Und hin und her im Tal Erwacht die Nachtigall, Dann wieder alles grau und stille. O wunderbarer Nachtgesang: Von fern im Land der Ströme Gang, Leis Schauern in den dunklen Bäumen - Wirrst die Gedanken mir, Mein irres Singen hier Ist wie ein Rufen nur aus Träumen. 3 Heines Prologgedicht führt den Wandrer vor eine Sphinx, die ihn in Leidenschaft fast zerfleischt, während die Nachtigall dazu vom Rätsel der Liebe singt. Das ist redundant, logisch stimmig bis zur Banalität und überinstrumentiert bis zur Sentimentalität. Auch Eichendorff arbeitet als Lyriker oft mit Formeln, aber gerade in der Formelhaftigkeit kann Beunruhigung aufsteigen - „grau“ weckt Schauer, „Schauern“ verbindet „Bäume“ und „Träume“, Nachtigallengesang „wirrt“ die Gedanken, ruft im Binnenreim das „irre Singen“ dieses Liedes hervor, das den optischen und akustischen Eindrücken Imaginäres einfügt („von fern im Land der Ströme Gang“), träumerisch sich als Traumruf deutet. Das Singen ist geheimnisvolles Singen vom Geheimnis, wo Heines Erzählgedicht nur ein Rätsel der Sphinx löst. Ich verlasse die Zone der Trivialitäten, die bei Heine groß ist. Schon zeitgenössisch ist Heines lyrische Massenproduktion quasi standardisierter Gedichte ironisiert worden, etwa von dem Berliner Schriftsteller Wilhelm Neumann, einem Freund des Diplomaten und Schriftstellers Varnhagens von Ense, dessen zum Christentum übergetretene jüdische Ehefrau Rahel in Berlin einen bedeutenden Salon unterhielt. Auch Heine hat hier zeitweilig verkehrt. Den Gärtner nährt sein Spaten, Den Bettler sein lahmes Bein, Den Wechsler seine Dukaten, Mich meine Liebespein. 275 Lazarus als Lyriker 4 Zit. bei Fritz J. Raddatz: Heine Ein deutsches Märchen. Essay. Hamburg 1977. S. 30. Vgl. Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. 1837. 5 Heine: Werke Bd. 1. S. 15. 6 Heine: Werke Bd. 1. S. 22 Drum bin ich dir sehr verbunden, Mein Kind, für dein treulos Herz; Viel Gold hab’ ich gefunden Und Ruhm und Liebesschmerz. Nun sing’ ich bei nächtlicher Lampe Den Jammer, der mich traf; Er kommt bei Hofmann und Campe Heraus in Klein-Oktav. 4 Ich gehe weiter, obwohl ein Gutteil von Heines zeitgenössischem Ruhm darauf beruht, daß er genau die Erwartung und damit das Marktbedürfnis befriedigt, das sich am Eingängigen und an der Tradition orientierte. Heine selber verspottet in dem eben zitierten Prolog seine „klingelnde Gewohnheit des Reims und Silbenfalls“. 5 Dieser selbstironische Schlenker im Kommentar zu dem eben zitierten eigenen Prologgedicht findet sich außerordentlich häufig auch innerhalb von Heines Gedichten und ist quasi ihr Markenzeichen gleichfalls schon für die Zeitgenossen. Vollzogen wird eine Volte, mit der das Gedicht aus der bisher von ihm eingehaltenen Bahn der Tradition herauskippt, an die es damit aber in der Negation auch fixiert bleibt, so daß hier ebenfalls das dem Publikum gewohnte Terrain nicht verlassen wird. Kommt hinzu, daß die zeitgenössische Romantik, der Heine nachfolgt, selber ein Konzept der romantischen Ironie entwickelt hat, dem das Heines oberflächlich ähnelt. Dafür ein Beispiel aus dem „Buch der Lieder“. Im zweiten Gedicht der „Traumbilder“ erzählt das lyrische Ich einen schaurig-schönen Gespenstertraum voller Todesvordeutungen, Volkslied- und Romantikbezüge. Das ganze steigert sich bis zum Blick ins offene Grab. Doch: […] da ich in die Grube schaut’, Ein kalter Schauder mich durchgraut; Und in die dunkle Mitternacht Stürzt’ ich hinein - und bin erwacht. 6 Rückgreifend wird durch die desillusionistische Pointe die aufgebauschte Gespenstergeschichte, ein Modegenre der Zeit, zunichte gemacht. Auch die romantische Ironie macht desillusionistische Sprünge, aber mit anderer Intention. Sie will den schöpferischen Geist verherrlichen, der so mächtig ist, daß er alle inhaltlichen Setzungen, sogar die eigenen, alsbald wieder in den unbegrenzten schöpferischen Fluß auflöst. Auf diese Weise greift die Poetisierung unaufhörlich nach allen Seiten aus; es entsteht die sogenannte progres- 276 Literatur 7 Heine verwendet für das beschriebene Phänomen den Begriff „Humor“. Vgl. Wolfgang Preisendanz: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. 2. Aufl. München 1983. 8 Heine: Werke Bd. 1. S. 485 sive Universalpoesie. Der romantische Geist dementiert also seine Aussagen aus Kraftgefühl. Bei Heine richtet sich das Dementi gegen die Poetisierung, weil die Welt ganz anders ist. Die romantische Ironie läßt ins Bodenlose fallen; die Heinesche Ironie arrangiert den Sturz aus dem Sublimen auf den Boden der platten Realität. Sie stößt auf die Banalität der Gegebenheiten, die übermächtig sind, einfach weil sie der Fall sind. Solche Selbstdestruktion ist der Kern des Gedichts. Es führt seine Selbstzerlegung vor, aber man kann auch umgekehrt sagen: diese Selbstzerlegung ist der Höhepunkt und die Vollendung des ganzen, so wie ein Feuerwerk im Aufleuchten verlischt. 7 Heines lyrischer Stil in der Liebeslyrik Was hier wie eine Spielerei mit literarischen Versatzstücken erscheint, gewinnt größeres Gewicht, wenn es zur Artikulation eines Weltverhältnisses kommt. Das geschieht, sobald eine gewichtige lyrische Thematik, etwa die der Liebe, auftaucht. So in diesem Vierzeiler: Als sie mich umschlang mit zärtlichem Pressen, Da ist meine Seele gen Himmel geflogen! Ich ließ sie fliegen, und hab’ unterdessen Den Nektar von Ihren Lippen gesogen. 8 Die Liebesmetaphysik in Tradition des italienischen Frührenaissance-Lyrikers Francesco Petrarca vollzieht eine pseudoreligiöse Verklärung der Geliebten durch den sie anbetenden Mann, die gesamteuropäisch durch die Epochen hindurch eine tiefe Spur gezogen hat. Heine nimmt sie hier auf nur zu dem Zweck, sie alsbald auf einen Witz herabzustimmen. Wozu Liebeshimmel; Lustgewinn tut’s auch. Die Virtuosität dieser Miniatur liegt darin, daß auch die Sinnlichkeit mit dem Bild „Nektar von den Lippen saugen“ in der Formelsprache der hohen Minne daherkommt. Sie wird damit zur Maskerade gemacht. Umgekehrt bereitet sich der desillusionistische Sprung schon in der Umschlingung mit zärtlichem Pressen vor, die nicht ganz ins spiritualistische Schema passt. Noch weiter ausgreifend wird der Witz Heines, wenn er die romantische Sehnsucht nach dem Abgrund der totalisierten Liebe und zugleich die Gegensphäre - die bürgerliche Ehe - zum Ziel nimmt. Die Liebesmetaphysik stilisiert die Geliebte zum engelgleichen Seelenwesen; die totalisierte Liebe, wie sie 277 Lazarus als Lyriker 9 Szene „Gretchens Stube“. Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. E. Trunz. 1949ff. Bd. 3. S. 405. 10 Ebd. S. 403, Szene „Garten“. 11 Heine: Werke. Bd. 1. S. 125. Ich folge meiner Interpretation in: Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik (s. nach Bemerkung 1) Bd. 1. S. 233-235. erstmals Goethes Liebeslyrik des Sturm und Drang formuliert, hat ihr Umfassendes darin, daß alles Seelische der Liebe auch körperlich und alles Körperliche auch seelisch erlebt wird. Sie nimmt Leib und Seele, Himmlisches und Irdisches in eins, wie es sich signifikant in der Urfaustfassung von Gretchens Lied am Spinnrad in dem Vers „Mein Schoß, Gott! drängt/ Sich nach ihm hin! “ ausdrückt. 9 Schoß und Gott reimen hier gleichsam aufeinander. Die Liebesmetaphysik bewegt sich in spirituellen Sphären jenseits der Institution der Ehe; die ganzheitliche Liebe nimmt Himmel und Erde in eins, ist innerweltlich göttlich und darin der Idee nach ewig, weil total. „Nein. Kein Ende! kein Ende! Ihr Ende würde Verzweiflung sein“, 10 so behauptet Faust. Weil diese Liebe, solange sie währt, die zerstörerische Macht der Zeit und Gewohnheit ignoriert, kann sie die Ehe als Institution und rechtliche Regelung auf Lebenszeit und das eheliche Zusammenleben aus dem verewigten Augenblick der Liebe ausklammern. Wird die Diskrepanz zwischen Liebe und Ehe thematisiert, wird die Institution als Konvention abgewertet. Sie ist, in der Sprache der Romantik gesprochen, philiströs, das heißt eng bürgerlich. Heine geht den letzten Schritt: Er verspottet nicht nur die Philisterehe, sondern zugleich die Idee der totalen Liebe, indem er beide im Sonett ineinander umschlagen läßt: In stiller, wehmuthweicher Abendstunde Umklingen mich die längst verscholl’nen Lieder, Und Thränen fließen von der Wange nieder, Und Blut entquillt der alten Herzenswunde. Und wie in eines Zauberspiegels Grunde Seh’ ich das Bildniß meiner Liebsten wieder; Sie sitzt am Arbeitstisch’, im rothen Mieder, Und Stille herrscht in ihrer sel’gen Runde. Doch plötzlich springt sie auf vom Stuhl und schneidet Von ihrem Haupt die schönste aller Locken, Und gibt sie mir, - vor Freud’ bin ich erschrocken! Mephisto hat die Freude mir verleidet. Er spann ein festes Seil von jenen Haaren, Und schleift mich dran herum seit vielen Jahren. 11 Desillusionistisch ist hier schon die Verwendung des Sonetts als romantischer Modegattung des hohen Stils, auf die Heine oft zurückgreift. Es wird nicht 278 Literatur nur äußerlich in Strophik, Metrum und Reimschema, sondern auch in seinem inneren Aufbau streng erfüllt. Die beiden Quartette entfalten einen inneren Bogen von einer traurigen Gegenwart zu einer glücklichen Vergangenheit: „In stiller, wehmuthweicher Abendstunde“ (man beachte den reichen Vokalismus, den weichen Konsonantismus mit dem Doppelliquid und den beiden Alliterationen - still-Stunde; wehmutweich) wird eine schmerzliche Erinnerung lebendig. Tränen, ja sogar Blut der alten Herzenswunde einer verlorenen großen Liebe quellen. Heine überbietet hier eine bei Goethe zentrale Symbolik der Feuchte, die auf Regeneration der Lebenskräfte deutet, etwa in dem Gedicht: „Trocknet nicht, trocknet nicht,/ Tränen der ewigen Liebe“ („Wonne der Wehmut“). Wie in einem Zauberspiegel erscheint bei Heine eine Genreszene, die einer Verbiedermeierlichung von Gretchen am Spinnrad gleicht, nur daß ihr Faust in der Stille ihrer seligen Runde anwesend ist. Es ergibt sich ein Bild erfüllter Gegenwart. In sie taucht der sehnsüchtig sich Erinnernde zurück. Die Terzette vollziehen nun sonettgemäß eine Wendung. Gretchens Aufspringen vom Stuhl und ihr Liebespfandgeschenk lösen zunächst einen freudigen Schreck aus, von dem im letzten Terzett nur der Schrecken übriggeblieben ist. Mit dem Abschneiden und Schenken der Locke als traditionellem Zeichen der Liebesbindung kommt eine Überschneidung der Zeitebenen in Gang. Sie führt vom zauberhaft vergegenwärtigten Vergangenen in die Gegenwart des lange Zeit später sich erinnernden Mannes, der hier spricht. Als sein Unglück erweist sich im Nachhinein, daß mit dem Liebespfand das Glück zur Dauereinrichtung geworden ist, und die Pointe des Gedichts besteht darin, daß diese Verwandlung des Glücks schon wie der Wurm im Apfel des Glücksmoments gesessen hat. Mephisto, der Teufel, läßt Goethes Faust in der Szene ‚Hexenküche‘ im Zauberspiegel die schöne Helena erblicken, das antike Urbild aller sinnlich überwältigenden Frauenschönheit, und verspricht dem aufgeweckten Gelehrten, er werde bald Helena in jedem Weibe sehen. Bei Heine hat Mephisto im Zauberspiegel ein gut bürgerliches Gretchen als bezaubernde Helena hervorgerufen. Aber Heines Faust bekommt sie nicht, besser: er hat sie schon verloren, indem er sie bekommt; denn er ist in die Hexenküche der Ehe mit ihr geraten. Und damit hat sich die „schönste aller Locken“, die ihn einst entzückt hatten, in ein fest geflochtenes „Seil von jenen Haaren“ verwandelt, in dem er nun gefesselt hängt. Helena Gretchen ist unwiederbringlich in der alltäglichen Ehefrau verschwunden. Auch das kann eine Herzenswunde sein. Nach trivial-romantischem Vorstellungsmuster besteht das tiefe Leid der Liebe darin, daß die Liebste oder der Liebhaber die Treue brechen, sterben, verschwinden, allenfalls sich mit einem philisterhaften Bürgerwesen verheiraten, während der oder die Tieffühlende vor der Tür bleibt. Das ist etwa die Grundkonstellation des durch Schubert vertonten Liederzyklus „Die Winter- 279 Lazarus als Lyriker 12 Im dritten Buch seiner Schrift „Die Romantische Schule“ schreibt Heine von seiner Erfahrung, „daß es eine weit schmerzlichere Liebe giebt als die, welche den Besitz des geliebten Gegenstandes niemals erlangt, oder ihn durch den Tod verliert. In der That, schmerzlicher ist es, wenn der geliebte Gegenstand Tag und Nacht in unseren Armen liegt, aber durch beständigen Widerspruch und blödsinnige Caprizen uns Tag und Nacht verleidet […]“ Heine: Werke. Bd. 8. S. 233. 13 Friedrich Rückert: Werke. Hg. C.Beyer. Bd. 1ff. Leipzig 1900. Bd. 1. S. 280. Zur Interpretation vgl. Kaiser: Geschichte der Lyrik. (s. nach Bemerkung 1) Bd. 1. S. 170f. reise“ von Wilhelm Müller. Bei Heine hat der Liebhaber hereingedurft, und das war das viel schlimmere Los, denn das jetzige Unglück ist das Glück von einst im grauen Licht der Gewöhnlichkeit durch Gewöhnung. Die ewige, einzige, ganze Liebe erweist sich gerade dadurch als Illusion, daß ihr Rosenband als Haarzopf der Eheliebsten ewig hält. Es ist denkbar, daß sich der Liebesträumer bei seinem grausamen Erwachen in eben dem gemütlichen Wohnzimmer befindet, von dem er gerade geträumt hat, nur in anderer Beleuchtung. Seine Frau sitzt, auf jung zurechtgemacht, im Mieder als Muse neben ihm am Arbeitstisch bei der Handarbeit, „Und Stille herrscht in ihrer selg’en Runde“, weil sie sich nun nichts mehr zu sagen haben. Schon der Liebesabgrund war nur die bengalisch illuminierte Banalität. 12 Das ist nun in der Spannweite von Sehnsucht bis zur Satire ein bedeutendes Gedicht. Dabei ist es weit entfernt von sprachlichen Kühnheiten - nicht nur gemessen am jüngeren Zeitgenossen Baudelaire, dessen „Fleurs du Mal“, eine Inkunabel der Moderne, nur ein Jahr nach Heines Tod erschienen, sondern auch an deutschen Zeitgenossen wie Eduard Mörike oder sogar Friedrich Rückert, die neuartige lyrische Ausdrucksfelder erschließen. Man denke an Mörikes Gedichtanfang von 1825: „O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe! / Welch neue Welt bewegest du in mir? “ Ein Naturbild von zartesten Valeurs und kühnen Fügungen! Man denke an Rückerts folgende Strophen aus dem Zyklus der Amara-Sonette von 1817: Komm, schöne glatte kalte goldne Schlange, Auf die ich starker Schlangenwürger passe; Du hast mit buntem Spiel um meine Straße Dich zierlich schlängelnd hergewunden lange. Komm, schmeidige, daß ich mit eh’rnem Zwang Dich faß’ und halt’ und nicht so bald dich lasse; Wind’ du dich nur und krümm’ dich, giftig blasse, Mir ist vor deinem süßen Gift nicht bange. 13 Die Frau als Schlange ist ein konventionelles Motiv, und auch Heine hat 1823 ein Gedicht daraus gemacht: 280 Literatur 14 Heine: Werke Bd. 1. S. 461. Du sollst mich liebend umschließen, Geliebtes schönes Weib! Umschling’ mich mit Armen und Füßen Und mit dem geschmeidigen Leib. Gewaltig hat umfangen, Umwunden, umschlungen schon Die allerschönste der Schlangen Den glücklichsten Laokoon. 14 Bereits der Reim von „Laokoon“ auf „schon“, des schwergewichtigen und assoziationsreichen Bildungsworts auf das bloße sprachliche Füllsel, ebenso die metrische Verstolperung der letzten Verszeile nach dem glatten Rhythmus vorher sind Sprachspäße. Erst recht alle Anschauungsmomente sind der Pointe untergeordnet, daß das Weib die Schlange, der Mann Laokoon ist, sein angeblich superlativisches Glück seine Erdrosselung, und daß der Mann das weiß und damit herumwitzelt. Dieser Witz läßt aber auch die Situation und damit die Sprache verblassen zum Konventionellen: Geliebtes, schönes Weib, geschmeidiger Leib. Das ist nicht weit her. Dagegen Rückert, den erst Gustav Mahler, kein Germanist, wiederentdeckt hat: stählerne, vor Spannung vibrierende Sonett-Quartette, zweisilbige gereihte und dabei antithetische Attribute: Schöne glatte kalte goldne Schlange. Elementarereignisse sind beide Geschlechter, und Todfeinde: Schlange und Schlangenwürger, brutaler Geschlechterkampf mit ungewissem Ausgang. Schmeidige Schlange, ehr’ner Zwang - das ist das Gesetz dieses Kampfes - und des Sonetts. „Du hast mit buntem Spiel um meine Straße/ Dich zierlich schlängelnd hergewunden lange“ - hier windet sich die Schlange - und der Satz. Die Folge von Adjektiv, zwei Verbpartizipien als Attributen und einem Adverb macht die Wortklassen selber übergängig, bringt sie ins Schlängeln: zierlich schlängelnd hergewunden lange. Dazu stehen in hartem Gegensatz die gestanzt nebeneinander angeordneten attributiven Adjektive der ersten Zeile „schöne glatte kalte goldne“ und die im späteren Verlauf folgenden, durch Konsonantenausfällung abgehackten Wortformen, die das männliche Prinzip des Zwangs zum Ausdruck bringen: faß’ - halt’ - ehr’n - wind’ - krümm’. Die Geschlechtscharaktere sind Sprache geworden. Gewiß steht auch Rückert in Traditionen und Konventionen, ist auch seine Mann-Frau-Symbolik die seiner Zeit; aber sie ist extremiert und mit äußerster Intensität aufgeladen. Heine spielt formal in den Beständen. Überhaupt ist Heine kein Avantgardist. Daß er nicht nur den Widerspruch von Liebe und Ehe, sondern durchgehend auch von Sinnlichkeit und Seele aufreißt, ist eher konventionell. Der Liebhaber ist entweder Gimpel und Dummkopf, oder tragisch Leidender - geläufige Typen. Die Geliebte ist 281 Lazarus als Lyriker 15 Heine: Werke Bd. 1. S. 225. Seelenschönheit oder geistloser prangender Körper der Lust, man könnte in Anlehnung an Freud sagen: Hure oder Heilige, häufig allerdings im Umschlag beides zugleich: Verführerin, vampirisches Elementarwesen unter dem Schein der unnahbaren Keuschheit. Das sind die typischen männlichen Projektionen, Auffächerungsfiguren des männlichen Begehrens in der moralisch repressiven und zugleich die Libertinage an den Rändern sanktionierenden bürgerlichen Gesellschaft. Wo in ihrer lyrischen Formulierung bei Heine einmal emotionale Diffusionen, momenthafte Regungen, ausschwingende Stimmungen aufzukommen scheinen, entstehen alsbald wieder deutliche Umrisse, Handlungsverläufe, Stereotype: Das Meer erglänzte weit hinaus, Im letzten Abendscheine; Wir saßen am einsamen Fischerhaus, Wir saßen stumm und alleine. Der Nebel stieg, das Wasser schwoll, Die Möve flog hin und wieder; Aus deinen Augen, liebevoll, Fielen die Thränen nieder. Ich sah sie fallen auf deine Hand, Und bin auf’s Knie gesunken; Ich hab von deiner weißen Hand Die Thränen fortgetrunken. Seit jener Stunde verzehrt sich mein Leib, Die Seele stirbt vor Sehnen; - Mich hat das unglückseel’ge Weib Vergiftet mit ihren Thränen. 15 Das ist, vor allem in Schuberts Vertonung, ein wunderbarer atmosphärischer Natureingang, der - unausgesprochen wie selten bei Heine - eine symbolische Beziehung zwischen Mensch und Natur, Tränenglanz und Meeresglanz herstellt, und auch die zweite Strophenhälfe kann man noch gelten lassen, obwohl die Anapher „wir saßen“ schon ein etwas putziges Gewicht auf das Sitzen des Liebespaars beim Häuschen legt. Die folgenden Strophen fallen ab. „Der Nebel stieg, das Wasser schwoll“ ist eine unglückliche Reminiszenz an den Anfang von Goethes Fischer-Ballade. Mag sich bei Heine in der Schönen eine dämonische, tödlich verführerische Wasserfrau verbergen, hat hier doch das Elementarwesen mehr von der Salondame als die Salondame vom Elementarwesen angenommen. Während Goethes Verszeile „Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll“ als magischer Singsang mit seinen Wieder- 282 Literatur 16 Heine: Werke Bd. 1. S. 235 holungen das Element nach dem Mann förmlich ausgreifen läßt, entsteht bei Heine aus steigendem Nebel, schwellendem Wasser und dem banalen Hin- und Herfliegen der Möwe nicht mehr als eine Landschaftskulisse aus Naturrequisiten. Erst bei Storm („Meeresstrand“ - „Ans Haff nun fliegt die Möwe […]“) kommt das hier allenfalls keimhaft angelegte Atmosphärische zur suggestiven Entfaltung. Die Liebeshandlung ist theatralisch. Der Held sinkt routiniert aufs Knie vor der petrarkistisch angebeteten schönen weinenden Frau, die wie alle schönen Frauen bei Heine, zumindest die sensiblen, eine weiße Hand hat (das wirkt fort bis zu Hermann Löns). Das Trinken der Tränen, die aus ihren Augen fallen (reflexhaft zahlen sich bei Heine Schmerzen in Tränen aus) - nun ja, aber das hätte genügt. Stattdessen folgt noch eine Reflexionsstrophe, in der das erinnernde männliche Ich in die Distanz zurücktritt, aus der Anredesituation zur Frau in die Aussagesituation über sie. Diese Reflexion operiert mit abgeschliffenen, nichtssagenden Oppositionen: Aus liebevollen Augen fallen die Tränen des „unglückseel’gen Weibes“, aber trotzdem sind sie vergiftend, geht ein Liebeszauber von ihnen aus. Er vergiftet den Leib, der sich „verzehrt“ (was sonst? ) und die Seele, die „vor Sehnen stirbt“ (was sonst? ). Stumme Akteure, ein geschwätziges Gedicht. Aber es enthält als Stachel eine unbeantwortbare Frage: Ist es nicht ein Moment seines Stils, die Ironie herauszufordern, die es weckt? Ein kurzes Gedicht elf Nummern weiter aus dem gleichen Zyklus „Die Heimkehr“ läßt es vermuten, denn hier ist die Landschaftskulisse abgeräumt; des Liebeskniefalls ist in nackter Konventionalität gedacht, die Situation ist demonstrativ ausgenüchtert von der Liebestragödie zur Gesellschaftskomödie, hingetrimmt auf das Spiel zwischen Hyperbel und Understatement. Nur einmal noch möcht ich dich sehen, Und sinken vor dir auf’s Knie, und sterbend zu dir sprechen Madame, ich liebe Sie! 16 Manierismus Jedenfalls kann man in manchen dieser Gedichte die Erfüllung einer Stilintention erkennen, die noch genauerer Charakterisierung bedarf und nicht einfach mit Kritik abgetan werden kann. Heine inszeniert lyrische Balanceakte, die große Absturzgefahren bergen, aber auch ein sehr eigenartiges und aufregendes Gelingen möglich machen. Bestenfalls stellt sich nicht eine selbst- 283 Lazarus als Lyriker verständlich anmutende Kongruenz von Aussage und Ausdruck her, wie etwa bei den hier kontrastiv herangezogenen Gedichten Goethes, Rückerts oder Mörikes, sondern eine intendierte Diskrepanz - der tief Fühlende und stark Sprechende schaut sich über die Schulter, auch über die Schulter seiner Sprache, und indem er die klingenden Worte leise klingeln läßt, verspottet er seine Ergriffenheit von Lust und Schmerz, aber auch das unausweichlich Konventionelle der Sprache, das ihr noch da anhaften bleibt, wo sie sich an Ausdruckssingularitäten herantastet. So hört auch der tief Sprachberauschte, der sein schöpferisches Götterselbstgefühl genießt, die Stimme des „Man“ in seiner Rede und spürt insgeheim, daß Gefühle, die sich aussprechen lassen, nicht radikal die seinen sind, weil sie sonst unaussprechlich wären und es nicht nur floskelhaft zu sein vorgäben. Diese Spaltungen, sie erleidend, zugleich zu genießen und auch einem Publikum genießbar zu machen, ist literarisches Sprachspiel und Emotionalspiel zugleich, mit einem Wort: Manierismus. Seine innovative Hervorbringung ist nicht die eigentümliche Verlautbarung von Erfahrungen und Emotionen, sondern eine Konstruktion, die sich der Destruktion der konstruktiven Elemente bedient: Gefühle und Wörter werden zitathaft, quasi in Anführungsstrichen, eingesetzt, und das eben ist - als Stilverfahren und Haltung - ein konservativer Modernismus, weil er nicht in Neuland führt, sondern im Trümmerfeld der Traditionen stattfindet. Die ständig lauernde Gefahr des Scheiterns liegt nicht in der Verirrung im Weglosen, vielmehr in der Trivialität, die dreifach droht: als Vergessen der Voraussetzung der Inszenierung erstens der Wörter und zweitens der Sachverhalte. Das führt in die Sentimentalität. Das lyrische Subjekt fällt auf sein eigenes Arrangement hinein und läßt damit erst recht sein Publikum hereinfallen. Die dritte Spielart der Trivialität ist die Trivialisierung des manieristischen Effekts, der sich abnutzt, wenn er nicht mit ebensoviel Kunst versteckt wie entdeckt wird. Das Moment der Überraschung darf sich ebensowenig verbrauchen wie das der Unsicherheit, auf welcher Ebene des doppelbödigen Spiels man sich gerade befindet. Die Loreley Und so erreicht Heine lyrisch höchste Intensität und Komplexion da, wo er Ironie und Sentiment, Natur und Liebe, Künstlichkeit und Elementarisches nicht neben- oder gegeneinander setzt, sondern ineinanderschiebt. Es entsteht dann nicht das Ineinander von Seelenlagen, die sich dem Ausdruck entziehen, sondern die Verschichtung und Verschmelzung von Sprachebenen, so in seinem zu Recht berühmtesten Gedicht, von dem Theodor W. Adorno bitter gesagt hat, die Nationalsozialisten hätten Heine „beinahe zu Ehren gebracht, als sie unter die Loreley jenes berühmt gewordene ‚Dichter unbekannt‘ setz- 284 Literatur 17 Adorno. Gesammelte Schriften Bd. 2. S. 95 18 Heine: Werke Bd. 1. S. 207ff. ten, das die insgeheim schillernden Verse […] als Volkslied unerwartet sanktionierte.“ 17 Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Dass ich so traurig bin; Ein Mährchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel des Berges funkelt Im Abendsonnenschein. Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar, Ihr gold’nes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldenes Haar. Sie kämmt es mit goldenem Kamme, Und singt ein Lied dabei; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei. Den Schiffer im kleinen Schiffe Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh’. Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Lore-Ley gethan. 18 Die Loreley als mythische Figur ist eine Erfindung des Romantikers Clemens Brentano. Heine zitiert Rheinromantik und romantischen Volksliedton. Die Sprache dunkelt und funkelt golden. Der Gesang des Elementarweibs ist strömend und verschlingend wie der Fluß an dieser gefährlichen Enge. Das Wasser ist wie die Materialisierung ihres Gesangs und seiner männerverschlingenden Verführungsgewalt. Doch die Naturerscheinung ist zugleich Kunsterscheinung, Märchengestalt und als solche in den Text eingeführt. Ich bin ein Märchen, sagt dieses Märchen aus angeblich alten Zeiten. Ist es überhaupt eins und nicht vielmehr die Ausgeburt, die Inszenierung der Stimmung eines lyrischen Ich, das am Anfang und Ende betont „Ich“ sagt, wogegen der Märchenerzähler unpersönliche Stimme zu bleiben pflegt? 285 Lazarus als Lyriker In der Tat herrschen Projektionen, Spiegelungen überall: der stumme Schiffer im Kahn ist eine Verdoppelungsfigur des lyrischen Ich, die Trauer verdoppelt zum „wilden Weh“, der sehnsüchtige Sog seiner melodiösen Sprache gesteigert und vergegenständlicht zur Katastrophe. Die Verführerin ist die männlich phantasierte männermörderische Frau. Und ist ihre „gewaltige Melodei“ - abgesehen von ihrem Echoverhältnis zu Loreley - nicht dieses Gedicht mit seiner Verführungskraft selber, seiner Hauptfigur in den Mund gelegt? Doch nicht ganz. Denn was das lyrische Ich verlautbart, ist ja nicht nur die Binnenszene, das als Märchen eingekleidete Stimmungsbild mit der „schönsten Jungfrau“ in der Mitte, sondern auch eine davon wegtretende Schlußstrophe, die mit der ersten zusammen einen Rahmen bildet. Wäre das ganze ein altes Märchen, hätte es ein bekanntes Ende, und Vermutungen darüber wären nicht nötig. Wäre es nur ein Lied der Trauer und Sehnsucht, dann wollte es ausschwingen und brauchte keinen Kommentar. Aber das Bild einer Stimmung war zugleich und von vorn herein und gegenläufig dazu auch die Parabel einer blasierten Weltklugheit. Sie glaubt zu wissen, worauf es hinausläuft, wenn ihr Lebensschifflein navigierende Männer blind vor Leidenschaft werden. Kein altes Märchen, aber eine alte Geschichte, bekannt seit der Sirenengeschichte der Odyssee. Und traurig ist sie zumal für den, der, trotz aller Blasiertheit, immer wieder auch in dem gleichen Boot sitzt. Die Überinstrumentierung - hier ist sie nicht passiert in der Schule der Geläufigkeit; sie ist - statt des biederen Friedrich Silcher hätte das Gustav Mahler vertonen sollen - Index der Ambivalenz. Dieses sich hochromantisch gebärdende Lied über den banalen Lauf der Welt ist eines der raffiniertesten und schönsten Heines. Kein Volkslied. Aber: kein anderer Lyriker neben Heine kennt solche Raffinesse. Mit Recht hat Adorno diese Verse „schillernd“ genannt und eine verschollene Rheinoper Offenbachs als Kontext imaginiert. Heines Stil in der Naturlyrik Das Literarische der Naturszenerie in der „Loreley“, das Ineinander solcher Natur mit der Leidenschaftsthematik, lenkt den Blick darauf, daß das zweite geläufigste Thema der Lyrik seit Goethe, die Natur, bei Heine als Hauptthema selten ist und kaum zu bedeutenden Gedichten geführt hat. Meistens bleibt die Natur bei Heine Szenerie oder Allegorie und Metapher der Liebe. Der Zyklus „Die Nordsee“ scheint dem zu widersprechen. Nirgends wie hier gewinnt die Natur Eigenständigkeit, und zuweilen fühlt man sich tatsächlich an Storms lyrische Evokation der Strandlandschaft erinnert, wenngleich Heine eher im Großräumigen und Generalisierenden bleibt. Immerhin, es gibt Gedichteingänge wie diesen in Freien Rhythmen, die seit Klopstock erhabenen und heroischen Gegenständen vorbehalten sind: 286 Literatur 19 Heine: Werke Bd. 1. S. 379f. Sturm. Es wüthet der Sturm, Und er peitscht die Wellen, Und die Well’n, wuthschäumend und bäumend, Thürmen sich auf, und es wogen lebendig Die weißen Wasserberge, Und das Schifflein erklimmt sie, Hastig mühsam, Und plötzlich stürzt es hinab In schwarze, weitgähnende Fluthabgründe - O Meer! Mutter der Schönheit, der Schaumentstiegenen! Großmutter der Liebe! schone meiner! Schon flattert, leichenwitternd, Die weiße gespenstige Möve, Und wetzt an dem Mastbaum den Schnabel […] 19 Charakteristisch ist hier, daß der heroische Natureingang schon in der zweiten Strophe ins Mythologische umgebogen wird: Das Meer wird angerufen als Mutter der schaumgeborenen Aphrodite, und das ist ein Mythos, der für den modernen Europäer nur noch ein Bildungsgut ohne jeden mythischen Schauder ist, so daß der nächste Vers bereits ironisch werden kann: Das Meer ist Großmutter der Liebe - sofern nämlich Eros Aphrodites Sohn ist. In dem Maße also, in dem entfesselte Natur sich im Gedicht aufzubäumen anschickt, wird sie an die Kette gelegt und um ihre Eigenständigkeit gebracht. In jedem der Gedichte des Nordsee-Zyklus ist das Meer Naturerscheinung aus zweiter, nämlich literarischer Hand. Was es braust und tost, sind Geschichten, Sagen, Mythen, in einem Wort: es ist Bildungsgut. Das lyrische Ich hat nichts eiligeres zu tun, als ausdrücklich sicherzustellen, daß es sich in einer literarisch geprägten Welt bewegt. Fragwürdigkeit der Dichtung als ein Thema des Gedichts Das Spiel mit literarischen Prägungen hat - wie bereits klar geworden sein dürfte - fließende Übergänge zur Entlarvung literarischer Prägungen. Die innere Welt des Menschen ist literarisch vorformuliert, wird gemäß Kunst- Klischees erlebt und dabei vorgeführt. Wird das Kulissenhafte der literarischen Welt oder die Kulissenschieberei des Poeten thematisiert, führt es zur Selbstkritik der Dichtung und des Dichters in ihrem Lebensverhältnis. Auch damit schließ sich Heine einer Tradition an und führt sie zur letzten Konse- 287 Lazarus als Lyriker quenz, indem er sie ad absurdum führt. Die Fragwürdigkeit des Poeten und der Poesie ist in der deutschen Dichtung ein wichtiges Thema seit Goethe. Sein „Tasso“ ist die Tragödie des Dichters, der Erfahrung der Welt zum Dichten braucht, dessen dichterische Phantasie ihm aber im Maß seines Andrängens an sie die Welt verzerrt und ihn von den Menschen abschneidet. Was ihn produktiv macht, das macht ihn auch pathologisch. Goethes „Römische Elegien“, auch der Helena-Akt von „Faust II“ sind durchzogen von einer Kritik der Dichtung, weil sie das lebendige Leben zum dichterischen Bild verklärt, damit aber auch abtötet. Derartige Selbstcharakterisierung der Poesie und des Poeten, des Künstlers und der Kunst zieht sich bis in den Realismus Gottfried Kellers hinein. In seinen „Mißbrauchten Liebesbriefen“ karikiert er einen Poeten, der eine Trennung von seiner Frau wegen einer Geschäftsreise dazu benutzen will, daß beide einen zur Veröffentlichung bestimmten Liebesbriefwechsel führen. Die Verankerung der Briefe in der realen Lebenssituation soll ihnen poetische Authentizität verleihen, aber in Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt: Seine Briefe sind total verlogen, weil er mit seinem Projekt bereits die Lebenssituation selber literarisch manipuliert und inszeniert hat. Er meint, Herzblut aufs Papier zu bringen, aber sein Herzblut ist nur Tinte, denn er hat von vornherein literarisch und im Blick auf ein potentielles Publikum ‚erlebt‘. Er hat deshalb gar nicht Wirklichkeit erlebt, sondern literarische Muster. Goethe ist der Begründer der sogenannten Erlebnislyrik, die Erlebnis und Unmittelbarkeit im literarischen Produzieren zur Sprache und zum Ausdruck zu bringen sucht, so daß die literarische Form zur äußersten Verdichtung der Erlebnisaussage wird. Und schon bei Goethe selber werden Erlebnis und Unmittelbarkeit zweifelhaft gemacht. Wenn Faust im Helena-Akt von „Faust II“ die antike Helena den Reim als lyrisches Ausdrucksmittel verstehen und gebrauchen lehrt, indem er ihn aus der Unmittelbarkeit der Liebesituation zwischen ihnen beiden direkt hervorzurufen scheint, dann wird die Liebesunmittelbarkeit damit auch zum Instrument der Generierung von Reimen und derart höchst mittelbar und vermittelt. So setzt eine Fragwürdigkeit an, die sich bei Heine aufs äußerste verschärft: eben daß - wie schon ausgeführt - Wirklichkeit nur noch als Anlaß und Herausforderung von Poesie, literarisch überformt, in den Blick tritt; daß der Poet, statt von lebendiger Wirklichkeit, von künstlerischen Zitaten und Halbfertigfabrikaten umgeben ist. In Goethes Dichtung äußert sich zuweilen ein tiefer Schmerz über den Lebensverrat, der, bei aller Herrlichkeit, in der Kunst liegt; bei Gottfried Keller wird in den „Mißbrauchten Liebesbriefen“ solcher Schmerz zu schneidendem Hohn. Heine, am Ende dieser Entwicklung, spielt mit der Konstellation, ironisch bis zum Zynismus, oder - an anderer Stelle - er ignoriert sie demonstrativ bis zum Augenzwinkern, indem er unbeirrt an dem bereits hoch problematisierten Schema festhält, seine Gedichte seien unverstellt die Sprache seiner Seele. 288 Literatur 20 Heine. Werke Bd. 1. S. 444 21 Heine: Werke Bd. 1. S. 61. 22 Heine: Werke Bd. 1. S. 385-389. s. Kaiser: Geschichte der Lyrik. Bd. 1. S. 372-380. Daß aus großen Schmerzen kleine Lieder werden, aus den Gliedmaßen der Geliebten Kanzonen und Sonette, aus dem Hohenlied des Alten Testaments der Körper einer schönen Frau, ist ein amüsanter Gedanke. Daß seine Gedichte die Urne für die Asche seiner Gefühle sind, daß der Dichter die seinen blutigen Herzenswunden entsprossenen Blüten, zum Strauß verbunden, der Herrin reicht, sind Pathosformeln. 20 Desgleichen die Verse: Blutquell, rinn’ aus meinen Augen, Blutquell, brich aus meinem Leib, Daß ich mit dem heißen Blute Meine Schmerzen niederschreib’. 21 Daß aus des Dichters Büchern seine Gefühle herausflattern, ist schein-naiv, allenfalls einen Scherz wert. Das Umkippen des Elementaren ins Kunsthafte und Literarische, das vorhin schon als Charakteristikum des Nordsee-Zyklus angesprochen wurde, ist im Hinblick auf die Liebe, das menschliche Elementarereignis schlechthin, das Thema des Gedichts „Seegespenst“, 22 wohl des bedeutendsten des Zyklus. Der in Ich-Form sprechende Nordseetourist liegt träumend am Rand des Schiffs und schaut in den Abgrund des spiegelklaren Wassers. Tief am Meeresgrund erblickt er eine versunkene Stadt - das literarische Vineta-Motiv - und in ihr eine verlorene Liebe. Im Nordsee-Essay seiner Reisebilder zitiert Heine ein motivgleiches Vineta-Gedicht Wilhelm Müllers (des Dichters der „Winterreise“). Während aber bei Müller die Stadt in der Tiefe in Trümmern liegt, ist sie bei Heine wie ein frischlackiertes Genrebild „altertümlich niederländisch“, also, wie man damals sagte, aus der niederländischen Malerschule: Bedächtige Männer, schwarzbemäntelt, Mit weißen Halskrausen und Ehrenketten Und langen Degen und langen Gesichtern, Schreiten über den wimmelnden Marktplatz. […] Unferne, vor langen Häuser-Reih’n Wo spiegelblanke Fenster Und pyramidisch beschnittene Linden, Wandeln seidenrauschende Jungfern, Schlanke Leibchen, die Blumengesichter Sittsam umschlossen von schwarzen Mützchen Und hervorquellendem Goldhaar. […] 289 Lazarus als Lyriker 23 E.T.A. Hoffmann: Werke. Hg. G.Ellinger. 15 Teile. Berlin, Leipzig o.J. (Bong) Teil1. S. 184. Bejahrte Frauen, […] Gesangbuch und Rosenkranz in der Hand, Eilen, trippelnden Schritts, Nach dem großen Dome, Getrieben von Glockengeläute Und rauschendem Orgelton. In dieser Szenerie findet sich auch die verlorene Geliebte: […] ein altes, hochgegiebeltes Haus, Das melancholisch menschenleer ist, Nur daß am untern Fenster Ein Mädchen sitzt, Den Kopf auf den Arm gestützt, Wie ein armes, vergessenes Kind - Und ich kenne dich armes, vergessenes Kind! Ich kenne es auch: Die Szenerie gehört, wie das ironische Sonett mit dem Zauberspiegel-Motiv, in den Umkreis der Heineschen Faust-Pläne, die schließlich zu einem Tanzpoem geführt haben, das zu einer Revue von Stilzitaten wird. Auch hier wie im Tanzpoem ist das ohnehin schon kunsthafte Ambiente noch einmal durch literarische Zitate gesteigert: Domgang, Hochamt mit Orgel, Gretchen am Fenster, ihr bürgerlicher Lebenskreis, alles scheint ein bißchen ironisiert auf. In der Tiefe des Meeres, welche die Tiefe der eigenen Seele symbolisiert, findet der verliebte Literat nicht das elementare Leben, die elementare Leidenschaft, sondern Kunst- und Literaturreminiszenzen. Das Herzblut, das in pathetischer Bildlichkeit hinabtropft, ist auch hier, wie in Kellers Novelle, Tinte auf Papier. Und der Schluß unterstreicht es: Aber zur rechten Zeit noch Ergriff mich beim Fuß der Capitän, Und zog mich vom Schiffsrand, Und rief, ärgerlich lachend: Doktor, sind sie des Teufels? Das ist tatsächlich die zentrale Faust-Frage, und darüber hinaus noch einmal ein Zitat, und zwar aus E.T.A. Hoffmanns Märchen „Der goldene Topf“. Dort schaut der Held bei einer Bootsfahrt träumerisch aufs Wasser, erblickt das geliebte Schlänglein Serpentina „und machte dabei eine heftige Bewegung, als wolle er sich gleich aus der Gondel in die Flut stürzen. ‚Ist der Herr des Teufels? ‘ rief der Schiffer und erwischte ihn beim Rockschoß“. 23 Noch die 290 Literatur 24 Dieser Gesichtspunkt ist prägnant herausgearbeitet bei Fritz H. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Essay. Hamburg 1977. brutale Rückholung aus der Phantasie in die Realität ist also ein literarisches Zitat. Heine - Seismograph der Spannungen der Zeit Es ist wohl offensichtlich geworden, daß Heine die Lyriktradition bis zur Übergeläufigkeit aufnimmt, aber ironisch bricht und daß diese ironische Brechung zum Schema, zum Markenzeichen wird. Schlägt derart schon im innerliterarischen Bereich, in dem der sonst Heimat- und Bodenlose Heimatrecht zu gewinnen sucht, das Ja ins Nein und das Nein ins Ja um, so gilt das um so mehr für alle anderen Identifikationsfelder, die dem Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft zur Verfügung stehen. Heine ist ein antijüdischer Jude, ein antibürgerlicher Bürger, ein antideutscher Deutscher, ein antirevolutionärer Revolutionär. Sein menschlicher Habitus ist die demonstrativ und programmatisch vorgelebte, erlittene aber auch posierte Nichtzugehörigkeit, ein demonstrativ vorgeführtes Zwischen - den Fronten und zwischen den Zeiten. Damit treibt Heine ins Extrem, was in der Zeit und an der Zeit ist. Seine Lebenszeit ist gekennzeichnet durch enorme Umwälzungen. Es entstehen die Industriegesellschaft, die Verkehrsgesellschaft, der Kapitalismus, das Proletariat, der moderne Staat, die moderne Wissenschaft, die modernen Ideologien, der Marxismus, das moderne Parteienwesen. Der Nationalismus wird zum Breitenphänomen. Die Religion und die klassische Philosophie, in Deutschland auch die klassische und romantische Dichtung, verlieren an Boden, das Zeitalter der Einzelwissenschaften kommt herauf. Die Menschen werden metaphysisch und in den traditionellen Normen- und Lebenssystemen obdachlos, es sei denn, sie stecken den Kopf vor dem Neuen in den Sand. Revolutionen erschüttern das restaurative Staatensystem, das aus den napoleonischen Kriegen hervorgegangen ist. Heine, ein Jude in der Schwellenzeit zwischen Getto und Emanzipation, reagiert wie ein Seismograph auf die Spannungen und Brüche der Zeit, und er agiert seine Unbehaustheit und Umgetriebenheit aus, in seinem Leben und in seiner Dichtung. 24 Sein Judentum ist für Heine ein psychisches Problem, auf das er mit einem Doppelspiel von Auftrumpfen und Wegtauchen antwortet. Er war nicht frei vom jüdischen Selbsthaß, einem Phänomen, das nicht zufällig ein Jude, nämlich der 1933 ermordete Theodor Lessing auf den Begriff gebracht hat. („Der jüdische Selbsthaß“, 1930) In diesem Selbsthaß wird der jahrhundertealte Haß der anderen verinnert. Indem Heine, wie viele bürgerlich arrivierte Juden, zum Christentum übertrat, nahm er 291 Lazarus als Lyriker 25 Vgl. etwa „An Edom! “ Heine: Werke Bd. 1. S. 528. 26 Heine: Werke Bd. 11. S. 22ff. 27 An Moses Moser 14.10.1826. Heinrich Heine. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Hg. Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin und Paris 1970ff. Bd. 20. S. 267. 28 An Gustav Kolb 3.7.1841. Ebd. Bd. 21. S. 403. 29 Ebd. Bd. 23. S. 446. Vgl. Walter Hinck: Die Wunde Deutschland. Heinrich Heines Dichtung im Widerstreit von Nationalidee, Judentum und Antisemitismus. Frankfurt 1990. Das folgende Gedichtzitat Heine: Werke Bd. 2. S. 129f. dieselbe Religion an, die für viele Jahrhunderte blutiger Judenverfolgung verantwortlich war. Heine hat schneidende Gedichte über den Antisemitismus geschrieben, 25 aber er hat auch jüdische Konvertiten - wie er selbst einer war - und jüdische Orthodoxe verspottet. 26 Er muß sich zwar von August Graf von Platen als Jude literarisch anpöbeln lassen, aber er hat auch selber den Hamburger Makler Joseph Friedländer als einen „stinkigen Juden“ bezeichnet 27 und seinen Duellgegner Salomon Strauß, dessen Frau er in bösartiger literarischer Polemik des von Strauß sanktionierten Ehebruchs mit Ludwig Börne bezichtigt hatte, die „Blüthe des Frankfurter Gettos“ genannt. 28 Seine Briefe an den Bruder Gustav in Geldangelegenheiten strotzen von antisemitischen Ausfällen. Am 17.8.1855 heißt es: „Viel wird von der Judenclique gegen mich intrigiert.“ Und bei gleicher Gelegenheit: „Das ist so schmutzig, so plump ersonnen, so klebrig, so anstinkend wie die Phantasie einer Wanze! Hier erkenne ich meine Pappenheimer vom alten Bunde! [d.h. vom Alten Testament, also die Juden]“ 29 . Seine innere Unbehaustheit lebte Heine auch geographisch-politisch aus: 1826, als knapp Dreißigjähriger, errang er seine ersten großen schriftstellerischen Erfolge. 1831, nur fünf Jahre nach dem eigentlichen Beginn seiner Schriftstellerexistenz, ging er als Korrespondent der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ nach Paris und sah Deutschland bis zu seinem Tod 1856 nur zu zwei kurzen Besuchen wieder: ein freiwilliger Emigrant, wenn auch unter dem Druck der in Deutschland herrschenden literarischen Zensur. Ans Ende der „Neuen Gedichten“, die 1844 erschienen und sofort ein sensationeller Erfolg wurden, stellte Heine sein Gedicht „Nachtgedanken“, das die tiefe Spannung dieser Existenz zwischen den Ländern und Kulturen zu Wort bringt. Die berühmten Anfangsstrophen fassen das Bild der Mutter und das Bild Deutschlands in eins: Denk ich an Deutschland in der Nacht, Dann bin ich um den Schlaf gebracht, Ich kann nicht mehr die Augen schließen, Und meine heißen Tränen fließen. 292 Literatur 30 Grimmsches Wörterbuch. Artikel „Zerreißen“. Bd. 31.Sp741. Die Jahre kommen und vergehn! Seit ich die Mutter nicht gesehn Zwölf Jahre sind schon hingegangen; Es wächst mein Sehnen und Verlangen Die folgenden Strophen lassen vordergründig Deutschland und die Mutter auseinanderrücken: Nach Deutschland lechzt’ ich nicht so sehr, Wenn nicht die Mutter dorten wär’; aber untergründig treten die Mutter und das Land der Mutter im Zeichen des Todes und der Nacht abermals nur umso enger zusammen, werden zum Negativbild, das dem „französisch heit’ren Tageslicht“ weicht: Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen, Und lächelt fort die deutschen Sorgen. Doch auch dieser scheinbar eindeutige Schluss ist zweideutig: „Die alte Frau hat mich behext“, heißt es in der dritten Strophe - darüber kann die scheinbare Leichtfüßigkeit nicht hinwegtänzeln. In alledem verkörpert Heine den Zeittypus des Zerrissenen so sehr, daß Gustav Theodor Fechner 1835 gesagt hat: „Man nennt Heine den Zerrissenen ungefähr wie man Karl oder Goethe den Großen nennt.“ 30 Der Zerrissene ist so zeittypisch, daß Alexander von Ungern-Sternberg 1832 eine Novelle unter diesem Titel veröffentlichte und Johann Nestroy 1855 in einer Posse „Der Zerrissene“ diese inzwischen modisch und oberflächlich gewordenen Haltung lächerlich machte: das Satyrspiel zu einer Tragödie der Zeit. Heine ist der Zerrissene, der in alle Widersprüche der Zeit geworfen ist und sich zugleich masochistisch und literarisch wirkungsvoll in sie hineinwirft. Er bekennt in seinen Texten, indem er widerruft, und widerruft, indem er bekennt; er verhöhnt noch, wo er liebt, und er liebt noch, wo er verhöhnt. Seine Bejahungen reichen kaum weiter als zur Negation der Negation. Seine Negationen aber - ich wiederhole das - verhaften ihn in dem, wovon er sich abstößt. Seine Genialität und Zeitrepräsentanz, sein Konformismus im Nonkonformismus liegen darin, wie er seinem zeitgenössischen Publikum das Bewußtsein der Avanciertheit zu vermitteln versteht, ohne es doch definitiv zum Absprung vom Vertrauten, zum Sprung ins Neue zu zwingen. 293 Lazarus als Lyriker 31 Vgl. Heine: Werke Bd. 4. S. 86. 32 Heine: Werke Bd. 11. S. 37. 33 Heine: Werke Bd. 11. S. 183. Heines politische Gedichte Entschieden avanciert allerdings ist Heine in seiner politischen und gesellschaftskritischen Lyrik. Sie bildet einen Schwerpunkt seiner Dichtung, und Heine hat das auch theoretisch fundiert. Er hat als Publizist mit Goethes Tod das „Ende der Kunstperiode“, einen Epocheneinschnitt also, angesetzt und damit an der Zeitdeutung der Jungdeutschen mit ihrer Parole teilgenommen, es sei nun in Deutschland genug philosophiert und poetisiert, genug im Kopf gehandelt worden. Jetzt breche die Zeit der Praxis an. Dichtung und Philosophie sollen den universalen Sinngebungsanspruch fahrenlassen, den sie in der Goethezeit entwickelt haben. Die Dichter und Denker sollen sich ins Glied der politisch und gesellschaftlich emanzipatorischen Kräfte stellen. Aber Heine blieb auch hier vorbehaltvoll. Er hat sein stark zeitsatirisch und politisch gefärbtes Poem „Atta Troll“ als „letztes freyes Waldlied der Romantik“ gepriesen; 31 und er hat, trotz mancher ironischer Äußerungen, den alten Goethe aufs höchste geschätzt und verherrlicht, ohne sich von den praxisversessenen Zeitgeistdichtern und ihrem wütenden Gebell gegen den marmorkalten Fürstenknecht irremachen zu lassen. Heine hat gewußt, was verloren gehen würde, ginge die Differenziertheit des Denkens, Fühlens und Sprechens verloren, die durch die Klassik und Romantik gewonnen worden waren. Und er hat Angst gehabt vor einer egalitären Republik, „wo der widerwärtigste aller Tyrannen, der Pöbel, seine rohe Herrschaft ausübt.“ 32 Nichts so Heine-charakteristisch wie der Stoßseufzer: „Wir sind jetzt, Gott erbarm sich unser, alle gleich! Das ist die Consequenz jener demokratischen Prinzipien, die ich selber all mein Lebtag verfochten.“ 33 Deshalb besteht das eindeutig Vorwärtsweisende von Heines politischer Lyrik wiederum nicht in ihrer politischen Geradlinigkeit. Einzigartig und modern ist sie vielmehr durch ihre Dialektik, in die sich die Ambivalenzen seiner Position umsetzen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das Gedicht „Doktrin“, mit dem Heine 1844 seine „Zeitgedichte“ eröffnete: Schlage die Trommel und fürchte dich nicht, Und küsse die Marketenderinn! Das ist die ganze Wissenschaft, Das ist der Bücher tiefster Sinn. Trommle die Leute aus dem Schlaf, Trommle Reveilje mit Jugendkraft, Marschire trommelnd immer voran, Das ist die ganze Wissenschaft. 294 Literatur 34 Heine: Werke Bd. 2. S. 109. s. Kaiser: Geschichte der Lyrik. Bd. 2. S. 58-60. Das ist die Hegelsche Philosophie, Das ist der Bücher tiefster Sinn! Ich hab’ sie begriffen, weil ich gescheidt, Und weil ich ein guter Tambour bin. 34 Doktrinen sind im Sprachgebrauch der Zeit theoretische Begründungen und Anweisungen für Praxis, vor allem in der Politik. Als Doktrin stellt sich auch das Gedicht dar, wenn es seinen Appell „Trommle die Leute aus dem Schlaf“ als tiefsten Sinn der Bücher und der Wissenschaft, ja, sogar als die Hegelsche Philosophie ausgibt. Im Anspruch des appellierenden Tambours, diese Philosophie begriffen zu haben, wird etwas vom Hegelschen Pathos des Begriffs zum Mitschwingen gebracht, und in der Tat geht die Anstrengung der sogenannten Linkshegelianer dahin, die in der Hegelschen Philosophie steckenden Veränderungsenergien freizusetzen. Karl Marx hat kurz und bündig gefordert, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, und Heine selbst hat das revolutionäre Potential der deutschen idealistischen Philosophie und übrigens auch der Lutherischen Reformation herausgehoben. In dieser Richtung zieht das Gedicht die letzte Konsequenz: Es verkündet mit seinem Weckruf das Ende der Nacht, die radikale Aufklärung. „Wacht auf, Verdammte dieser Erde! “ „Völker, hört die Signale! “ - so wird es weiterklingen. Emanzipation, auch die des Fleisches, steht auf der Tagesordnung. Mit der Marketenderin treibt man keine Liebesphilosophie, keine Liebesmetaphysik, keine empfindsame Seelenliebe. Nur Mut! lautet auch hier die Parole. Sogar eine ironische Nuance des Titels ist in diesem Sinne deutbar. Aus Frankreich dringt seit Anfang des Jahrhunderts das Spottwort ‚doctrinaire‘ nach Deutschland, eine Bezeichnung für den Politiker, der nach wissenschaftlichen Lehrmeinungen verfährt und damit die Praxis zu verfehlen in Gefahr ist. Indem Heines Gedicht „Doktrin“ die totale und absolute Praxis verkündet, ist es die Doktrin, daß man keine Doktrinen braucht. Der Tiefsinn der Bücher ist es nach Meinung des Gedichts, sich selber für überflüssig zu erklären: Trommeln und Küssen „ist die ganze Wissenschaft“. Als „gescheit“ - nicht gelehrt - stuft sich der Sprecher des Gedichts ein, und sein ‚Begreifen‘ der Hegelschen Philosophie bewegt sich auf dem Niveau eines Trommlers. Es ist Trommlertiefsinn, daß Trommeln das beste Argument ist. Ist Heine ein Trommler? Heine hat an verschiedenen Stellen seines Werks Sympathien für französische Tambours bekundet, und seine Charakterisierung durch den späteren Erzfeind Börne als Tambour des Liberalismus mit vorbehaltvollem Wortgefunkel gelten lassen. Aber immer ist das witzig, und nie fehlt das ironische Schlaglicht auf die Selbstgefälligkeit und die mangelnde sprachliche und theoretische Reichweite des Tambours. Genau diesen Fall haben wir - äußerst 295 Lazarus als Lyriker 35 Georg Herwegh: Die Partei. In: Um Einheit und Freiheit. 1815-1848. Bearb. E. Volkmann. Leipzig 1936. (= Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe Politische Dichtung. Bd. 3. S. 166f.) zugespitzt - in diesem verspielten Rollengedicht vor uns. Hier spricht im progressiven Handlungsappell bauchrednerisch die eitle Anmaßung eines dummschlauen Kommißkopfs mit. Im revolutionären Weckruf rumort als Unterton reaktionärer Glaube an die blinde Gewalt. Indem das Gedicht letzte revolutionäre Konsequenzen zieht, stellt es sie in Frage. Selbst wenn der Erzähler der „Reisebilder“ sich in einer Art Nachruf auf sich selbst ein „braver Soldat im Befreiungskriege der Menschheit“ nennt, ist doch insgesamt das Militärwesen der Zeit nach Napoleon - mit Tambour, Marketenderin, Reveille-Signal - nicht gerade ein positiv besetzter Metaphernkomplex. Man denke an Georg Büchners Tambourmajor im „Woyzeck“, gewiß ein Mann der Praxis, aber keiner guten. Mit Hilfe der hirnlosen Jugendkraft der Armeen droht die Reaktion die Jugendkräfte der Geschichte zusammenzuknüppeln. Derart herrscht in „Doktrin“ eine tiefe Zweideutigkeit. Das Gedicht ist mehr und weniger als eine Versifikation von Heines Einsicht, es sei an der Zeit zu handeln, denn es spart aus, was dieser historischen Erkenntnis ihre Legitimation gibt: Heines Wissen von der Bedeutung der klassischen Periode, Heines Bestreben, ihre aufklärerischen Gehalte herüberzuretten, Heines Schmerz, daß die heraufkommende Zeit noch in ihren progressiven Kräften so große Gefahren des künstlerischen und intellektuellen Substanzverlusts in sich trägt. Das progressive Trommlergedicht ist resignativ scharfsichtig in der Fingierung einer falschen Alternative zwischen praxisloser Theorie und theorieloser Praxis; es ist tiefsinnig im Spott auf die tiefsinnigen Bücher, denn es verrät in der untergründigen Verspottung des Spötters sein Wissen: daß das Gedicht vom Trommeln, wie so mancher Freiheitsruf vor und nach ihm, durch jeden tatsächlich veranstalteten Trommelwirbel übertönt werden würde. Es ist ein zweideutiges Ende vom Lied, wenn Heine in die Maske des Trommlers schlüpft, der über Hegels Philosophie befindet. Heines Verhältnis zu der von ihm bejahten Praxis ist gebrochen, und so kann er - und nur er - in drei Strophen zu vier Zeilen die Dialektik voll erfassen, die das Gesamtfeld des deutschen politischen Zeitgedichts - und der Zeit - durchzieht. Seit dem Vormärz wird in Deutschland das politische Gedicht zur Waffe des Liberalismus gegen die restaurative deutsche Gesellschaft. Nicht ein Gedicht Heines, sondern Georg Herweghs, „Die Partei“ von 1842, formuliert am effekt- und folgenreichsten den Ruf zur Parteinahme des Dichters: Die Fürsten träumen, laßt die Dichter handeln! […] Brecht immer euer Saitenspiel entzwei Und führt ein Fähnlein ewiger Gedanken Zur starken stolzen Fahne der Partei! 35 296 Literatur 36 Vgl. Heine: Werke Bd. 2. S. 186 37 Vgl. Heine: Werke Bd. 2. S. 185. Heines Sache ist es demgegenüber, vor der Abstraktheit des Freiheitspathos zu warnen. Das tut er in einer fulminanten Streitschrift gegen Ludwig Börne und dessen Entwicklung zum Fanatismus und republikanischen Moralismus; das tut er in einer lyrischen Adresse an Georg Herwegh: Herwegh, du eiserne Lerche, Mit klirrendem Jubel steigst du empor Zum heiligen Sonnenlichte! Ward wirklich der Winter zu nichte? Steht wirklich Deutschland im Frühlingsflor? Herwegh, du eiserne Lerche, Weil du so himmelhoch dich schwingst, Hast du die Erde aus dem Gesichte Verloren - Nur in deinem Gedichte Blüht jener Lenz, den du besingst. 36 Eiserne Lerche, klirrender Jubel, eine großartige Aufwärtsbewegung des Rhythmus und der Sprechmelodie; ein großartiger Lobpreis, aber noch viel mehr eine großartige Erfindung hochherzigen Widersinns: eine eiserne Lerche kann nicht fliegen, sie ist allenfalls ein Blechspielzeug für Kinder. Klirren kann nicht jubeln und Jubel nicht klirren. Herweghs Aufschwung zur Praxis ist so theoretisch und unpraktisch wie möglich - davon weiß Heine ein Lied zu singen; Herweghs revolutionärer Frühling ist eine Kopfgeburt, denn die Verhältnisse, sie sind nicht so, jedenfalls nicht in Deutschland. Und so wendet sich Heine an einen politischen Dichter: Du singst, wie einst Tyrtäus sang Von Heldenmuth beseelet, Doch hast du schlecht dein Publikum Und deine Zeit gewählet. Beyfällig horchen sie dir zwar Und loben schier begeistert: Wie edel dein Gedankenflug Wie du die Form bemeistert. Sie pflegen auch beim Glase Wein Ein Vivat dir zu bringen, Und manchen Schlachtgesang von dir Laut brüllend nachzusingen. Der Knecht singt gern ein Freyheitslied Des Abends in der Schenke; Das fördert die Verdauungskraft, Und würzet die Getränke. 37 297 Lazarus als Lyriker Das ist Herbert Marcuses Theorie vom affirmativen Charakter der Kultur, die große Entdeckung der Studentenrevolution der ausgehenden 60er Jahre, avant la lettre: Noch das Freiheitslied kann die bestehenden Verhältnisse konservieren helfen, indem es Dampf abläßt. Das Weberlied Einmal hat Heine seine Dialektik so transformiert, daß daraus das bedeutendste deutsche agitatorische Gedicht des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Aus dem fernen Frankreich ist es eine der zahlreichen literarischen und publizistischen Antworten der linken deutschen Intelligenz auf den mit Waffengewalt niedergeschlagenen Hungeraufstand der schlesischen Weber vom Sommer 1844. Nicht umsonst hat Friedrich Engels im Londoner Exil noch 1844 in „The New Moral World“ eine englische Übersetzung der Weber veröffentlicht, nicht umsonst hat Friedrich Wilhelm IV. noch im Dezember 1844 die Verhaftung Heines angeordnet, sobald er die Grenze Preußens überschreiten würde. Heines Gedicht ist die gewaltigste Antwort auf das Weberelend: Die schlesischen Weber. Im düstern Auge keine Thräne, Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreyfachen Fluch - Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten In Winterskälte und Hungersnöthen; Wir haben vergebens gehofft und geharrt, Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt - Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem König, dem König der Reichen, Den unser Elend nicht konnte erweichen, Der den letzten Groschen von uns erpreßt, Und uns wie Hunde erschießen läßt - Wir weben, wir weben! Ein Fluch dem falschen Vaterlande, Wo nur gedeihen Schmach und Schande, Wo jede Blume früh geknickt, Und Fäulniß und Moder den Wurm erquickt - Wir weben, wir weben! 298 Literatur 38 Heine: Werke Bd. 2. S. 150. Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht, Wir weben emsig Tag und Nacht - Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreyfachen Fluch, Wir weben, wir weben! 38 Heine umreißt in einem Verspaar eine paradoxe Sprechsituation: An vielen einzelnen Webstühlen ein imaginäres Kollektiv, mit vor Hunger, Wut und Erniedrigung raubtierhaft gefletschten Zähnen, also stumm und sprachlos, im imaginären Sprechgesang. Es ist ein sitzender Aufstand derer, deren Aufruhr erstickt worden ist. Indem der Dichter ihnen Stimme und Rhetorik leiht, befreit er sie aus ihrer Sprachlosigkeit und betont sie zugleich noch. Nichts haben sie, nicht einmal Sprache. Stellvertretend muß ihnen Sprache gegeben werden. Das fünfstrophige Lied ist die Verlautbarung eines stummen, in ein riesiges Leichentuch hineingewebten Fluchs, und der Refrain „Wir weben, wir weben“ gibt ihm etwas schicksalhaft Unausweichliches, als käme er von Schicksalsfäden spinnenden Nornen oder Parzen, einem Heer von Schicksalsgottheiten. Ein Leichentuch ist zum Verhüllen einer Leiche bestimmt, die hier Altdeutschland heißt, aber nicht zwecks rückwärtsgewandter Verklärung einer einst lebensvollen alten Reichs- und Ständeherrlichkeit, wie sie die Romantik pflegte, sondern im Zurückschaudern davor, welches Leichengesicht dieses alte Deutschland in der Gegenwart angenommen und im Vorgehen gegen die Ärmsten der Armen im Namen und in Verteidigung der „Reichen“ gezeigt hat. Vom Gedicht veröffentlicht, werden die in das Leichentuch hineingewebten stummen Flüche zur emotionalen Gewalt. Damit verwandelt sich das Zudecken und Verhüllen in eine Kraftanstrengung, das Verfluchte verschwinden und vergehen zu lassen, indem es an den Pranger gestellt wird. Und das sind nun eben die entlarvten Mächte Altdeutschlands im desillusionistischen Licht des jüngst Geschehenen, die mit ihrer Ergebungspredigt äffenden Kirchen, der König, der die Weber „wie Hunde“ erschießen läßt, das falsch gewordene, seinerseits tötende Vaterland. „Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,/ Wir weben emsig Tag und Nacht -“ Was fliegt und kracht, das sind nach Erstickung des Aufstands die Bestandteile der zu äußerster Effizienz angetriebenen und dadurch an den Rand der Selbstzerstörung geratenden altmodischen Handwebstühle der schlesischen Weber. Ihre Arbeit ist Arbeit am Tod. Auf den ersten Blick scheint dieses Gedicht einer furchtbaren und furchtbar anklagenden Resignation die Topographie der Heineschen Lyrik zu sprengen, und doch bleibt es ein Heine-Gedicht. Heine ist auch als Radikaler ein Bürger. Er kann zwar den Bourgeois oder die Ausbeutung der Weber 299 Lazarus als Lyriker attackieren, aber - auch wenn Engels in London ihn abdruckt - den Kapitalismus als Struktur und System spart er aus. Nichts hier von Arbeitskampf zwischen Proletariern und Kapitalisten, nichts davon, daß die Weber, deren Handwebstühle hoffnungslos veralteten vor den neuen mechanischen Webstühlen in England, zu den ersten Opfern des heraufkommenden Maschinenwesens gehören, das schon den alten Goethe gequält und geängstigt hat. Vor allem: Ihre Gewalt haben diese Strophen wohl nicht zuletzt daraus, daß eine untergründige eigene Abwehr und Angst vor den dumpf bedrohlichen Massen in das Schreckbild eingegangen ist. Was ballt sich in diesen niedergepreßt Sitzenden mit ihren gefletschten Zähnen zusammen! Heines Abwehr spricht jedenfalls aus jeder Zeile der Denkschrift über Börne, die den Tabaksgestank, das Ungewaschene, Grölende und Distanzlose der deutschen republikanischen Handwerksburschen bei ihren konspirativen und agitatorischen Treffs in Paris schildert. Heine wich trotz revolutionärer Begeisterungsfähigkeit und Engagements für die unteren sozialen Schichten vor Blut, Gestank, Krach und Zerstörung zurück, denn er war Individualist, Epikuräer und migränegeplagt. Seine Vision soll die Mächte der Reaktion schrecken, Thron und Altar, aber der Bürger und Dichter erschrickt insgeheim mit. Er hat Berührungsangst vor der Realität der Weber, denen er seine Stimme leiht. Weltanschauungslyrik: Hellenismus und Nazarenertum Ihren umfassenden, weil geschichtsphilosophisch perspektivierten theoretischen Ausdruck hat Heines Zerrissenheit in seiner Kulturphilosophie gefunden, mit der er bei zeitgenössischen französischen Anregungen anknüpft. Ihr grundlegendes Gegensatzpaar von Spiritualismus und Sensualismus übergreift im Denken Heines die politischen Fronten: Der progressive Heine fühlt sich dem konservativen Goethe nahe in der Gemeinsamkeit des Sensualismus und des heidnischen Lebensgefühls, näher als dem moralisierenden Republikaner Börne und dessen Gesinnungsgenossen, die verfeinerter Genüsse unfähig waren. Das führt zum tiefsten Zerwürfnis. Die Opposition von Spiritualismus und Sensualismus überwölbt aber auch den Gegensatz zwischen Christentum und Judentum, denn der Spiritualismus hat seine bedeutendste geschichtliche Gestalt im jüdisch-christlichen Nazarenertum. Das fordert von Heine eine doppelte Volte. Ambivalent ist sein Verhältnis zum Judentum, von dem er emanzipatorisch wegstrebt und das ihm zugleich in seiner Geschichte, vor allem der spanischen Glanzzeit des Mittelalters, die Möglichkeit zur Rekonstruktion einer glanzvollen geistigen Herkunft anbietet, der er sich zögernd annähert. Ambivalent ist sein Verhältnis zum Christentum, das ihm in der Konversion ein Mittel der individuellen Emanzipation und gleichfalls ein dichterisches Bildfeld an die Hand gibt, zugleich aber der Wurzelgrund des Antisemitismus ist. Und über all diese 300 Literatur 39 Heine: Werke Bd. 3. S. 391ff. Widersprüche hinweg ergibt sich nun eine Einheit beider geistigen Mächte gegenüber der Antike, dem sensualistischen Heidentum und seinen Nachfolgeströmungen, die allesamt die Sinnlichkeit und Körperlichkeit des Menschen emanzipieren und nobilitieren. Dieser Gegensatz zwischen Hellenismus und Nazarenertum als Denk- und Lebensstilen quert alle noch so tiefen Fronten in Heines Leben und scheint mir der zentrale Widerspruch, den Heine in seinem Bewußtsein ausgetragen hat; nicht der zwischen Judentum und Christentum, obwohl dieser natürlich in seinem praktischen bürgerlichen Leben eine viel größere Rolle spielte. Von diesem Gegensatz handelt eines der letzten, kurz vor dem Tod geschriebenen großen Weltanschauungsgedichte Heines „Für die Mouche“, eine junge Deutsche, in die sich der Todkranke und Gelähmte verliebt hat. Das Gedicht ist zu lang, als daß ich es hier einläßlich interpretieren könnte, auch poetisch nicht ganz lohnend. Ich skizziere deshalb: 39 Wieder einmal, wie so oft, erzählt Heine ein Traumbild, aus dem am Ende ein abruptes Erwachen stattfindet, aber dieses ist erschütternd nah bei seiner Realität. „Es träumte mir von einer Sommernacht“. So der Anfang. Ein Trümmerfeld mit Renaissance-Ruinen tut sich auf, und die plastischen Relikte zeigen als Charakteristikum dieser Epoche ein Nebeneinander und Gegeneinander heidnischer Mythologie und biblischer Geschichten, und zwar gleichermaßen aus dem Alten und dem Neuen Testament. Solche Vermischung herrscht auch bei den Basreliefs eines völlig unversehrten, offenen Marmorsargs wohl aus der Übergangsepoche zwischen Antike und Christentum, in dem „ein toter Mann mit leidend sanften Mienen“ liegt: Hier sieht man des Olympos Herrlichkeit Mit seinen liederlichen Heidengöttern, Adam und Eva stehn dabey, sind beid Versehn mit keuschem Schurz von Feigenblättern. Die Beschreibung zieht sich über mehrere Strophen hinweg sehr ins einzelne, nicht ohne Saloppheiten wie die, der „geile“ Jupiter habe Danae als Regen von Dukaten verführt. Genauso lässig und ironisch, mit Seitenhieben auf gegenwärtige Zustände, werden die biblischen Stoffe behandelt, und offenbar ist es wichtig, auch da das allzu Menschliche und Sündige gut hervorzuheben: Daneben ist der Sinai zu sehn Am Berg steht Israel mit seinen Ochsen; Man schaut den Herrn als Kind im Tempel stehn, Und disputieren mit den Orthodoxen. 301 Lazarus als Lyriker So erstaunt die eher eindeutige und scharf antithetische Zusammenfassung: Die Gegensätze sind hier grell gepaart, Des Griechen Lustsinn und der Gottgedanke Judäas! Und in Arabeskenart Um beide schlingt der Epheu seine Ranke. Mit dieser Aufgipfelung nimmt das Traumgedicht eine überraschende Wendung: Der Träumer, der die Szenerie bisher von außen betrachtet hat, gewinnt plötzlich das Gefühl, „ich selber sey/ Der tote Mann im schönen Marmorgrabe.“ Und zu seinen Häupten erblickt er ebenso überraschend eine Passionsblume, die auf Christus und seine Passion - Kreuz, Kelch und Dornenkrone - verweist. Diese Blume der Erlösung beugt sich auf ihn nieder und küßt ihm die Hand, doch wiederum findet eine Verwandlung statt: Die Passionsblume, das Christussymbol, transformiert sich in die Geliebte Mousche, die mit ihm zu flüstern und zu kosen beginnt, wobei die Frau doch auch die Blume zu bleiben scheint, denn es heißt: „Die Marterblume und ihr Todter kosen! “ Aber wie dem auch sei, „Wollust“ und „Seligkeit“, die nun beginnen, sind die einer Todeserotik, nicht des Christentums. Schließlich wird diese Stimmung zerstört durch die zunehmende Heftigkeit des Streits der Spiritualisten und der Sensualisten, der auch die Frauenblume verschwinden läßt: Pan und Moses, Wahrheit und Schönheit, Barbaren und Hellenen heißt nun die Alternative. Die Auseinandersetzung „wird end’gen nimmermehr“ und ist deshalb eine „langweilige Controverse“. Sie wird überschrien durch den Esel des Propheten Bileam aus dem 4. Buch Mosis, Kapitel 22 folgende, von dem es schon im ersten Gedichtteil hieß, er sei im Relief „zum Sprechen gut getroffen“. In der Tat spricht er ja im Alten Testament, weil dieses Tier, im Gegensatz zu dem Propheten, der ihn reitet, den Engel Gottes erblickt. Diese Geschichte, die mit der Segnung des Volks Israel endet, ist in christlicher Auslegung seit alters eine Christus-Messias-Verheißung. Aber bei Heine spricht der Esel gerade nicht, er überschreit die Götter und Heiligen, und zwar mit seinem urwüchsigen IA statt mit gottgegebener Rede. Heine türmt pejorative Attribute auf diesen Schrei, nennt ihn „Gewiehr, rülpsend ekelhaften Mißlaut“ und läßt den darüber verzweifelnden Toten erwachen - mit einem Schrei. „Ich selbst zuletzt schrie auf - und ich erwachte.“ Nichts also von Gottesoffenbarung und Prophezeiung am Ende. Das Wunder findet nicht statt. Aber ist nicht der erwachende, zur Verzweiflung gebrachte Tote mit seinem Schrei in einem verzweifelten Witz selber dieser Esel, der laut Heine nichts erkennt, der im Kampf der Geistesmächte keine Entscheidung findet? Ist nicht der anwidernde geträumte Schrei des Esels der Eselsschrei des erwachenden Dichters selber? Ist nicht der Sarkophag mit dem Schlafend-Toten das Totenbett, auf dem der furchtbar ge- 302 Literatur lähmte Heine jahrelang sein Ende erwartet hat? Ist nicht die „langweil’ge Kontroverse“ in Wirklichkeit eine quälend-unaufhörliche für Heine? Die Unentschiedenheit dieses Gedichts zwischen Heidentum und jüdischchristlichem Geist, erotischer oder göttlicher Erlösung, Blasphemie und Schmerz, ja, seine Inkonsistenz und Brüchigkeit scheinen mir ein letzter Befund für Heines Weltanschauungslyrik zu sein. Auch hier also am Ende Zwiespalt und Heimatlosigkeit. Da wir uns auf die Lyrik Heines konzentrieren, kann ich die ausgedehnte Diskussion um Heines Nachwort zum „Romanzero“ von 1851 dahingestellt sein lassen. Nicht nur in diesem Nachwort, sondern auch in Briefen hat der leidende und todkranke Heine sich dem Gott seiner Väter wieder angenähert, und in einer großartigen symbolischen Szene faßt er seinen Abschied vom Heidentum als letzten Besuch bei der Venus von Milo im Louvre. Doch ist sie eine Liebe Frau, die ihm nicht helfen kann, weil sie ein Torso ist und keine Arme hat. Auch dieses Nachwort bleibt so oszillierend, daß ich meine, es verbietet seine Auswertung als planes Bekenntnis. Es ist noch das ein schmerzzerrissenes Spielen. Kein Zweifel kann bestehen an der großen Bedeutung jüdischer und christlicher Motive für Heines Werk - angefangen von zahlreichen blasphemischen Bezügen auf jüdische und christliche Glaubenslehren, auf Christus und den christlich-jüdischen Gott bis zur stofflichen und atmosphärischen Bezugnahme auf die farbige Welt des Alten Testaments und die Glanzzeit des mittelalterlichen Judentums in Spanien. Diese Bezugnahmen, besonders häufig in umfangreichen Erzählgedichten, Romanzen und Balladen, gehören, abgesehen von ihrer Bedeutung für die jüdische Problematik Heinens, auch in den größeren Zusammenhang der zeitgenössischen europäischen Orientmode und des Exotismus. Lazarus in der Matratzengruft Auch für sein Leiden, vor allem für die jahrelange Fesselung ans Bett, unter furchtbaren Qualen, mit einer offengehaltenen Wunde am Hals für das Eingeben von Morphium, schließlich abgemagert auf das Gewicht eines kleinen Kindes, findet Heine ein biblisches Bild, und zwar das neutestamentliche des Lazarus. Nach ihm ist eine Gedichtgruppe im zweiten, „Lamentationen“, also Klagegesänge, überschriebenen Teil des „Romanzero“ benannt, auf dessen halb bekenntnishafte, halb das Bekenntnis zurücknehmende Nachrede ich eben hingewiesen habe. Und auch dieser Titel hat eine biblische Aura: Lamentationes heißen die Lesungen der katholischen Kirche in der Karwoche aus dem Propheten Jeremia. Im Nachwort des „Romanzero“ prägt Heine das berühmt gewordene Bild von der Matratzengruft, das sich durch den Wechselbezug mit der Figur des Lazarus erläutert: Lazarus, der Freund Christi, liegt schon verwesend in der Gruft, als Christus ihn von den Toten 303 Lazarus als Lyriker 40 Heine: Werke Bd. 3. S. 198. Im Wechselbezug Lazarus-Matratzengruft sehe ich den Hinweis auf den Johanneischen Lazarus. (Joh11,43). Daneben bezieht sich Heine auf den armen Lazarus (Lk 20,16ff.). Heines johanneischer Lazarus wird nicht erweckt, sein lukanischer kommt nicht in Abrahams Schoß. Zu weiteren Lazarus-Allusionen aus Heines engerem biographischen und vor allem räumlichen Pariser Umfeld s. Joseph A. Kruse: Heinrich Heine - Der Lazarus. Zuerst 1991. Jetzt in: Ders.: Heine-Zeit. Stuttgart 1997. S. 273-287. erweckt. Der tote Lazarus entsteigt als Lebender der Gruft; der lebende Heine liegt wie ein Toter in der Gruft. Aber davon steht in Heines Lazarusgedichten nichts; ihr Gesamttitel ist verschwiegen wie das Grab, und die einzelnen Gedichte sind nicht gläubig. Dafür noch zwei erschütternde Beispiele: Laß die heil’gen Parabolen, Laß die frommen Hypothesen - Suche die verdammten Fragen Ohne Umschweif uns zu lösen. Warum schleppt sich blutend, elend, Unter Kreuzlast der Gerechte, Während glücklich als ein Sieger Trabt auf hohem Roß der Schlechte? Woran liegt die Schuld? Ist etwa Unser Herr nicht ganz allmächtig? Oder treibt er selbst den Unfug? Ach, das wäre niederträchtig. Also fragen wir beständig, Bis man uns mit einer Handvoll Erde endlich stopft die Mäuler - Aber ist das eine Antwort? 40 Dieses Gedicht, eine höhnische Wiederaufnahme der Theodizeefrage, die wie ein Skandal die Philosophie- und Theologiegeschichte durchzieht, ist nicht einmal im Versbau eine Antwort, denn während in allen Strophen die zweite und die vierte Verszeile aufeinander reimen, stehen sie in der letzten Strophe nur im Verhältnis der Assonanz: Handvoll - Antwort. Das ist ein Anklang und ein Mißklang zugleich. Das zweite Gedicht aus dem Lazarus-Umfeld: Wie langsam kriechet sie dahin, Die Zeit, die schauderhafte Schnecke! Ich aber, ganz bewegungslos Blieb ich hier auf demselben Flecke. In meine dunkle Zelle dringt Kein Sonnenstrahl, kein Hoffnungsschimmer; Ich weiß, nur mit der Kirchhofsgruft Vertausch ich dies fatale Zimmer. 304 Literatur 41 Heine: Werke Bd. 3. S. 199. 42 Heine: Werke Bd. 1. S. 259. („Nun ist es Zeit…“) 43 Heine: Werke Bd. 3. S. 185. Vielleicht bin ich gestorben längst; Es sind vielleicht nur Spukgestalten Die Phantasieen, die des Nachts Im Hirn den bunten Umzug halten. Es mögen wohl Gespenster seyn Altheidnisch göttlichen Gelichters; Sie wählen gern zum Tummelplatz Den Schädel eines toten Dichters. - Die schaurig süßen Orgia, Das nächtlich tolle Geistertreiben, Sucht des Poeten Leichenhand Manchmal am Morgen aufzuschreiben. 41 Beide Gedichte sprechen in biblischen Bildern, aber ohne Glaube, Liebe, Hoffnung: Der Gerechte unter der blutenden Kreuzlast, aber kein Erlöser; der lebendig Tote, aber keine Auferweckung. Auch Lazarus ist also eher ein lyrisches Bild für den an seiner Krankheit zum Tode leidenden Selbstverspotter als eine Bekenntnisfigur. Und nicht einmal Lazarus in der Matratzengruft, die letzte Leidensgestalt des Gelähmten und Todkranken, ist eindeutig und allein eine Schmerzens- oder Pathoserscheinung. So wie sich in diesem Lazarus in der Gruft alle Leidenszüge der Heineschen Lyrik zusammenfassen, klingt auch hier noch Selbstironie, eine gebrochene Empfindung an. In diesem Sinn kann man von Heine als lyrischem Lazarus und Lazarus der Lyrik sprechen. Das gilt schließlich noch derweise, daß Heine in dieser Selbststilisierung und Selbstinszenierung eine Wollust der Schmerzen genießt und auch das ironisiert. Hat doch schon der frühe Heine im „Buch der Lieder“ gedichtet: Ich hab’ mit dem Tod in der eigenen Brust Den sterbenden Fechter gespielet. 42 Ein Gedicht der letzten Jahre beginnt: Laß bluten deine Wunden, laß Die Thränen fließen unaufhaltsam - Geheime Wollust schwelgt im Schmerz Und Weinen ist ein süßer Balsam. 43 Diese das ganze lyrische Werk durchziehende, sich in Szene setzende Wollust der Schmerzen scheint mir der Index dafür zu sein, daß der bekennende 305 Lazarus als Lyriker Hellene Heine allezeit untergründig auch vom Spiritualismus im Sinne seiner Kulturphilosophie und Anthropologie angekränkelt war. Dem Sterbenden ist das altheidnisch-göttliche Gelichter des Hellenismus nur noch Gespenstertreiben; aber auch umgekehrt: Noch der Sterbende gibt sich, und sei es phantasmagorisch, den dionysischen Orgien seiner Sinne hin. Auch hier herrscht also keine wirkliche Eindeutigkeit. Heine war ein spiritualistischer Sensualist; ein sensualistischer Spiritualist. Wem aber der Gedanke allzu abwegig erscheint, Heine habe seine Zerrissenheit und selbst noch die Todeskrankheit poetisch instrumentiert und instrumentalisiert, der sei daran erinnert, daß die Verschlingung von Krankheit, Tod und Poesie, der Triumph der Krankheit hoch zu Roß über die zu Fuß latschende Gesundheit seit Novalis bis hin zu Thomas Manns „Doktor Faustus“ ein zumindest literarisches Kernthema ist, hinter dem bei Novalis das eigene Leben, bei Thomas Mann die historischbiographischen Bezugsfiguren Nietzsche und Hugo Wolf stehen. Noch der Schädel des toten Dichters Heine beherbergt den bunten Festzug der dichterischen Phantasie. Noch die „Leichenhand“ des toten Dichters macht Gedichte aus Schmerzen. Allerdings hat sich das Heine-typische Spiel in manchen der Matratzengruft-Gedichte ins Existentielle vertieft. Heine treibt nun mit dem blanken Entsetzen Scherz; er spielt literarisch mit dem letzten Einsatz: sich selbst. Wie immer greift er auch jetzt noch auf Bilder der Tradition zurück - eben Lazarus oder Christus -, aber sie werden nun als Bilder ernst genommen. Die Decouvrierung der Sprache hört auf in Wendungen wie: „die Zeit, die schauderhafte Schnecke“; „dies fatale Zimmer“; „des Poeten Leichenhand“. Hervorgerufen durch eine neue Art von lyrischem Realismus, der nicht in Detailgenauigkeiten, sondern in der schnörkellosen Direktheit bei der Evokation des Atmosphärischen des Krankenzimmers liegt, kriecht das Gräßliche der Situation dem Leser unter die Haut. Der Sprachhohn verstummt; um so schärfer tritt in der Klage der Selbsthohn heraus, oder besser: er wird für den Augenblick des gelingenden Gedichts mit der Klage identisch. Der Schmerzensmann ist die Spottfigur. Der Schmerzensmann und der Spötter sind eins. Eben deshalb kann keine Erlösung sein. Die Wunde Heine oder die Wunde Heines? Die Wunde Heine - so sagt Adorno. Ich möchte diese Metapher verschieben und von der Wunde Heines sprechen, womit ich den Anschluß an Heines beliebte lyrische Metapher von der Wunde des Herzens und zugleich an eine moderne literaturtheoretische Diskussion gewinne. Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg hat in seiner Frankfurter Poetikvorlesung „Literatur als Therapie? “ aus dem Jahr 1981 eine zeitweilig geläufige literaturpsychologische These bestritten. Sie besagt, die Autoren lösten ihre psychischen Tiefen- 306 Literatur 44 Heine: Werke Bd. 3. S. 100. 45 Heine: Säkularausgabe (s. Anm. 27) Bd. 20. S. 40. Joseph A. Kruse spricht treffend von Heines „Kunst der Agonie“. In: Ders.: Denk ich an Heine. Biographisch-literarische Facetten. Düsseldorf 1986. S. 152-156. konflikte mit Hilfe ihrer dichterischen Produktion, die für sie die Funktion einer heilenden Selbstanalyse gewinnen könne. Muschg setzt dagegen, daß der Dichter letztendlich psychische Heilung durch Analyse, auch durch künstlerische Selbstanalyse, gar nicht suche, denn die schmerzliche Konflikt- und Problemlage seines Lebens sei zugleich die Quelle seines Dichtens. Sein produktiver Impuls gehe also dahin, sein Leiden zu perpetuieren und literarisch fruchtbar zu machen. Das läßt sich auch auf gesellschaftlich-historische Leiden übertragen. So zitierte Günter Grass in einem Interview anläßlich seines 70. Geburtstags (Südwest 2, Kulturspiegel 16.10.97) sich selbst in einem drei Jahre vorher geführten Gespräch mit Salman Rushdie: Für den Schriftsteller sei der Verlust der Heimat etwas Wunderbares. Aus diesem Dauerschmerz ergebe sich eine produktive Obsession. Man könne so gut gerade über etwas schreiben, das weg ist. Ich wende das auf Heine an und behaupte, die Wunde seines Lebens ist der Mund seiner Lyrik. Und insofern ist der Schmerz seiner Wunde zugleich seines „Glückes Wunde“. Sein Gedicht „Der Ungläubige“ gebraucht diese Formulierung für die Aussicht auf eine Liebeserfüllung: O, heil’ger Thomas! Ich glaub’ es kaum! Ich zweifle bis zur Stunde, Wo ich den Finger legen kann In meines Glückes Wunde. 44 Im Klartext: Wie der Ungläubige Thomas, um glauben zu können, seinen Finger in die Seitenwunde Christi legen mußte, so wird Heine an der Geliebten zweifeln, bis er seinen phallischen ‚Finger‘ in die ihn beglückende Vagina- ‚Wunder‘ der Geliebten legen kann. Über diese blasphemische und in genialer Weise obszöne Anspielung hinaus möchte ich Heines Wortfügung von seines Glückes Wunde hier auf sein Dichtertum anwenden. Heine ist - in der Tiefe seiner produktiven Existenz - nicht nur das Opfer, sondern auch der Schauspieler und der Regisseur, ja der Narr und der Ausbeuter seiner Schmerzen. So hat schon der junge Heine in einem Brief an Heinrich Straube Anfang März 1821 das ungeheuere Wort gesprochen: „Ja, wenn die weitklaffende Todeswunde meines Herzens sprechen könnte, so spräche sie: ich lache.“ 45 307 Lazarus als Lyriker 46 Heine: Werke Bd. 3. S. 114. Die Wunde spricht parlando Ich möchte am Ende meines interpretatorisch-analytischen Versuchs ein persönliches Bekenntnis zu den minimalistischen Gedichten Heines ablegen, in denen seine Wunde parlando spricht. Es sind Gedichte, die all seine Zerrissenheit und seine Ambivalenzen enthalten, aber nicht voll ausagiert und -instrumentiert, sondern zurückgenommen in einen leisen, fast beiläufigen Sprechton. Abschließend zitiere ich dafür aus den „Lamentationen“, seinen Klageliedern, sein Gedicht auf sich selbst als Leiche auf dem Friedhof Montmartre, wo er ja tatsächlich begraben wurde, mit dem Titel „Gedächtnißfeier“: Keine Messe wird man singen, Keinen Kadosch wird man sagen, Nichts gesagt und nichts gesungen Wird an meinen Sterbetagen. Doch vielleicht an solchem Tage, Wenn das Wetter schön und milde, Geht spazieren auf Montmartre Mit Paulinen Frau Mathilde. Mit dem Kranz von Immortellen Kommt sie mir das Grab zu schmücken, Und sie seufzet: Pauvre homme! Feuchte Wehmuth in den Blicken. Leider wohn’ ich viel zu hoch. Und ich habe meiner Süßen Keinen Stuhl hier anzubieten; Ach! sie schwankt mit müden Füßen. Süßes, dickes Kind, du darfst Nicht zu Fuß nach Hause gehen; An dem Barrière-Gitter Siehst du die Fiaker stehen. 46 Heines Frau, die er Mathilde nannte, war, als er sie kennenlernte, Schuhverkäuferin, eine hinreißend schöne, leidenschaftliche junge Geliebte, die er nach jahrelangem krisenhaftem Zusammenleben heiratete. Sie sprach nicht deutsch, las kaum, was er schrieb, pflegte ihn unverdrossen und wurde dicklich. Keine Messe und kein jüdisches Totengebet. Noch der Tote, jüdisch geboren, evangelisch getauft, katholisch verheiratet, liegt quasi zwischen allen Stühlen. Nichts gesagt und nichts gesungen - von bürgerlicher Reputation, von Ruhm und Nachruhm, von Bewahrung des geistigen Bildes keine Rede. 308 Literatur Der Immortellenkranz stattdessen konventionelles Surrogat, kleine Münze der Unsterblichkeit für die kleinen Leute, die als Masse die Macht ergriffen haben, sogar auf dem Friedhof. Aber nicht die Beerdigung Heines ist das Hauptthema des Gedichts. War schon Heines langjähriges Krankenlager gleichsam eine öffentliche Angelegenheit, wurde das Begräbnis sehr wohl von der literarischen Welt zur Kenntnis genommen. Fingiert ist in dem so sehr zurückgenommenen Gedicht in erster Linie etwas Alltägliches, ein späterer Friedhofsbesuch. Nur Mathilde und ihre Freundin Pauline werden, falls das Wetter schön und milde sein wird, einen kleinen Großstadtausflug zum Friedhof Montmartre machen. Es klingt eher nach der Erfüllung ehelicher Pflichten als nach großer Leidenschaft des Schmerzes. Der Besuch ist beschwerlich, weil der Tote „viel zu hoch wohnt“ - vielleicht in seinem unsterblichen Hochmut, vielleicht im Himmel des Jenseits, von dem man nicht genau weiß, ob Heine an ihn glaubte. Mathilde macht Visite, ein Gast, dem man keinen Stuhl anbieten kann, weil weder der Hochmut noch der Himmel möbliert ist. Gleich geht sie wieder, und das Gittertor des Friedhofs wird die Barriere zwischen den Lebenden und den Toten sein. Keine Gemeinschaft über das Grab hinaus, wie die romantische Liebe sich das so vorstellt. Sie wohnen getrennt. Mathilde ist ganz von außen gesehen und ganz von oben herab: süßes dickes Kind, noch in der Ältlichkeit nicht erwachsen, auf müden Füßen schwankend. Nimm eine Taxe für die Heimfahrt! Der sprechende Tote umfängt sie - vielleicht nicht mit unendlicher Liebe, eher mit unendlicher Ironie, aber auch mit unendlicher Fürsorge. Mehr nicht? Weniger nicht. Dieses Bekenntnis zum Parlando Heines schließt ein Bekenntnis zum Gesamtphänomen Heine ein. Heines Werk, speziell seine Lyrik, ist von hellsichtiger Brüchigkeit und oszilliert häufig zwischen Oppositionen, die sich für uns nur noch historisch aneignen lassen. In historischer Sicht relativieren sich auch die Vorwürfe gegen Heines lyrische Sprachfertigkeit, die seit Karl Kraus ihre gnadenlose Schärfe aus einer verabsolutierten Ausdrucks- und Schöpfungsästhetik gewonnen haben. Sie kann niemals einem Manierismus gerecht werden, wie er sich bei Heine findet. Aus seinem Werk können uns sehr wohl auch heute noch Stromstöße treffen. Es spricht unüberhörbar und unvergeßlich - vor allem in seinen leisen Tönen. *Der Text geht zurück auf zwei Vorträge über Heinrich Heines Lyrik, die ich auf einer Tagung „Das himmlische Heimweh. Zum 200. Geburtstag Heinrich Heines“, veranstaltet von der Katholischen Akademie des Bistums Mainz „Erbacher Hof“ in Kooperation mit der Katholischen Akademie Hrabanus Maurus in Wiesbaden gehalten habe. Ich bemühe mich hier um eine skizzenhafte Gesamtcharakteristik der Lyrik Heines als Bestandteil der Geschichte der deutschen Lyrik, wie ich sie in meiner „Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart“ 3 Bde. Frankfurt a.M. 2.A. 1996 dargestellt habe. Dabei liegt der Nachdruck auf der literarischen Leistung Heines, wie sie auch in einigen großen kollektiven Veranstaltungen des Jubiläumsjahrs zur Würdigung gekommen ist (s. Joseph A. Kruse, Bernd Witte, Karin Füllner (Hg.): Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongress 1997 zum 200. Geburtstag. Stuttgart, Weimar 309 Lazarus als Lyriker 1999. Joseph H. Kruse (Hg.): „Ich Narr des Glücks“. Heinrich Heine 1797-1856. Bilder einer Ausstellung. Stuttgart, Weimar 1997). Im allgemeinen Interesse wurde die Frage nach Heines Bedeutung als Dichter jedoch überwogen durch die Frage nach Heines Aktualität als jüdischer Deutscher und politischer Radikaler. Vgl. dazu meine Glosse: Der Fall Heine oder der Dichter Heine? In. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Jg. 52. 1998. S. 171-174. Der vorliegende Essay verdankt seine Entstehung meiner Opposition gegen die Tendenz, Heine als deutsches Problem wahrzunehmen und als deutschen Dichter zu vergessen. - Es würde den Rahmen des Vernünftigen und Praktikablen sprengen, wollte eine Darstellung wie diese, die erstmals in Russisch und für russische Leser erschienen ist (St. Petersburg 2003), im einzelnen die überaus reichen Forschungsbezüge nachweisen. Nur einige exponierte Aussagen sind speziell belegt. Unentbehrlich war mir insgesamt G. Höhn: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 2.A. 1997. Die dritte A. ist im Erscheinen. 1 Ich nehme mit meiner Themenstellung Anregungen von W. Preisendanz auf. Er arbeitet die Spannung von Naturwissenschaft und Poesie als Konstante des Sinngedichts heraus (W. P., Kellers „Sinngedicht“, in: ders., Wege des Realismus, München 1977, S. 181-203). J. Rothenberg sieht das Sinngedicht als antidarwinistische Streitschrift, wobei er allerdings den „struggle for life“, statt als Movens der biologischen Evolution, als ethisches bzw. nichtethisches Prinzip auffaßt (J. R., Kellers „Sinngedicht“ als antidarwinistische Streitschrift, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 95, 1976, S. 255-290). - Eine Gesamtinterpretation des Sinngedichts, in deren Mittelpunkt das Geschlechterverhältnis steht, skizziere ich in meinem Essay: Geht dem Optiker ein Licht auf? , in: Gottfried Keller, Sinngedicht, Frankfurt/ M. 2000 (Insel-Taschenbuch), S. 303-334. Meine übergreifenden Gottfried Keller-Darstellungen sind: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt a.M. 1981 und - selbstkritisch - Gottfried Keller. Eine Einführung München und Zürich 1985 (= Artemis-Einführungen Bd. 19). Experimentieren oder Erzählen? Zwei Kulturen in Gottfried Kellers „Sinngedicht“ Die Welt, in die Herr Reinhart, der Held von Gottfried Kellers Novellenzyklus Das Sinngedicht, eines schönen Morgens auf Brautschau hineinreitet, wirkt biedermeierlich verklärt. 1 Die erzählte Landschaft ist offen und anmutig bewegt, Bauernland mit Wäldern untermischt. Dörfer, behäbige Gasthäuser am Weg, gepflegte Landsitze, von gärtnerischen Anlagen eingehegt, ein Fluß mit Zollhäuschen an der Brücke - das sind die Orte, an die wir mit dem Reiter gelangen. Die große Stadt liegt weit ab, keine Eisenbahn, kein Schornstein des heraufkommenden Industriezeitalters weit und breit. Von Politik oder sozialen Zuständen, bei Keller sonst häufig bedacht, keine Rede. Daß der Erzähler die erzählte Geschichte etwa 25 Jahre zurückdatiert, trägt zum Goldlicht bei, das um die Menschen und Dinge fließt. Das Unternehmen der Brautschau selber ist altmodisch genug: Liebe wird als Verehelichung geplant, die Partnerwahl inszeniert, Kriterien werden bestimmt. Und wie das hier geschieht, ist drollig. Nach jahrelanger Forschereinsamkeit in der Studierstube ein plötzlicher Entschluß und Aufbruch. Und weil nun der ungesellige Gelehrte Reinhart ohne jede Erfahrung im Umgang mit Frauen ist, benutzt er als Leitfaden und Regelgeber ein leicht frivoles Epigramm eines bereits 200 Jahre früher verstorbenen Barockpoeten, das eine Kavaliersweisheit über die Reaktion von Frauenzimmern beim Küssen verkündet. Es ist das Sinngedicht, das den Titel abgibt. Keller selbst hat dieses Handlungsarrangement offenherzig in einem Brief kommentiert: „niemand 311 Experimentieren oder Erzählen? 2 Keller am 27. Juli 1881 an Paul Heyse. 3 Ich nenne als Beispiel: Ursula Amrein, Augenkur und Brautschau. Zur diskursiven Logik der Geschlechterdifferenz in Gottfried Kellers „Sinngedicht“, Bern, Berlin 1994. Die Verf. ordnet die naturwissenschaftliche Thematik der Gender-Thematik unter. 4 Zahlen in Klammern sind Seitenangaben der Ausgabe: Gottfried Keller, Sämtliche Werke in sieben Bänden, hrsg. v. Th. Böning u. a., Bd. 6, hrsg. v. Dominik Müller, Frankfurt/ M. 1991. unternimmt dergleichen […] Im stillen nenne ich dergleichen die Reichsunmittelbarkeit der Poesie“. 2 Dümmlinge, die am Ende das Glück gewinnen, wie dieser Herr Reinhart, sind Märchenfiguren. Etwas Märchenhaftes weht uns aus dem Eingang an, Eichendorffs Taugenichts scheint näher als das Zeitalter des europäischen Naturalismus, in dem Kellers Novellenband 1881 veröffentlicht wurde. Die Rahmenerzählung, von der hier die Rede ist, führt eine Konstellation herbei, in der zwei junge Leute einen Liebeskrieg durch Erzählen von Liebesgeschichten führen. Das liegt in der Traditionslinie von Boccaccios Decamerone, aber während in dessen Novellen die Ehe vorwiegend als Anstachelung listiger und lüsterner Liebhaber und Liebhaberinnen zum Ehebruch erscheint, ist im Sinngedicht Liebe außerhalb der Ehe kaum der Rede wert. Der erste Kuß zwischen dem späteren Paar ist der Verlobungskuß, das erste Du zwischen Held und Heldin fällt beim Heiratsantrag. Die Frau hat abzuwarten; dem Mann fällt die Aktivität zu; die Dame ist schöngeistig und führt ihrem Onkel ein kultiviertes Haus. Der Herr ist vermögend, wird als Forscher berufstätig sein und, wenn überhaupt nötig, allein das Geld verdienen. Auf den ersten Blick ist das Goldschnittpoesie. Dabei enthält das Sinngedicht eine in Fachkreisen für ‚Gender-Studies‘ längst als höchst bedeutend und ergiebig erkannte poetische Diskussion des Geschlechterverhältnisses in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, 3 die ich allerdings hier nur soweit streifen möchte, wie es notwendig ist, um diese Dichtung von ihrem aktuellsten Punkt her zu erschließen. Und dieser Zugang liegt schon in der Überschrift des ersten Kapitels und dem ersten Satz der Erzählung, die alle vermeintliche Harmlosigkeit und Zeitferne des Sinngedichts Lügen strafen. Die Überschrift heißt nämlich: „Ein Naturforscher entdeckt ein Verfahren und reitet über Land, dasselbe zu prüfen“ (S. 97). 4 Der Held des Sinngedichts, ein Anfänger in Liebessachen, ist ein hoch qualifizierter Naturforscher. Die Kapitelüberschrift signalisiert die Diskrepanz des wissenschaftlichen Empirikers zur wirklichen Wirklichkeit. Mit dem ausgenüchterten Wortschatz der exakten Naturwissenschaften oder des Rechtswesens, beide verwandt durch ihre Formalisierung, wird das Überraschungsgelände der Liebe der Planung unterworfen. Herr Reinhart, um den es hier geht, ist kein Bankier, kein Fabrikherr, kein Anwendungswissenschaftler und Techniker, Typen, wie sie uns vielerorts im Zeitroman des 19. Jahrhunderts entgegentreten - etwa in Wilhelm Raabes Roman Pfisters 312 Literatur 5 Zu Pfisters Mühle s.: Der Totenfluß als Industriekloake. Über den Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Phantasie in „Pfisters Mühle“ von Wilhelm Raabe. Eine Abschiedsvorlesung, in: G. K., Mutter Natur und die Dampfmaschine. Ein literarischer Mythos im Rückbezug auf Antike und Christentum, Freiburg i.Br. 1991, S. 81-107. Mühle von 1884, drei Jahre nach dem Sinngedicht. 5 Und doch ist mit Reinhart ein Leittypus der Zeit zum fragwürdigen Helden gemacht, ja er ist als Naturforscher eine Begründungsfigur des Zeitalters. Denn seine und seinesgleichen Arbeit ermöglicht als Basis den wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Prozeß der zunächst noch jenseits des Sinngedicht-Horizonts heraufkommenden kapitalistischen Industriegesellschaft. In der Konstellation von Reinhart mit seiner geliebten Feindin überkreuzen sich Liebesmärchen und Geschlechterphilosophie, eine fast biedermeierliche Idyllik sublimer Beziehungsspiele mit der Spiegelschrift der Bilder des Unbewußten, und durch alles zieht sich eine Zentralfrage noch unserer Zeit - nach dem Weltverhältnis der Naturwissenschaften. Die vertrackte Meisterschaft des Sinngedichts, das Keller von der ersten Erwähnung 1857 bis zum Erscheinen 1887 dreißig Jahre lang begleitet hat, liegt nicht zuletzt darin, daß die scheinbar widerspruchsvollen Elemente durch ihre Spannung zueinander je verstärkt und miteinander zur Begegnung gebracht werden, so daß der vermeintlich so altmodische und jedem programmatischen Realismus oder gar Naturalismus der Zeit den Rücken kehrende Novellenzyklus wichtigste Realitäten der Epoche erfaßt und hin und her wendet. Schon der Eingangssatz der Erzählung zeigt virtuos und verblüffend das Zusammenspiel des Entgegengesetzten: „Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als die Naturwissenschaften eben wieder auf einem höchsten Gipfel standen, obgleich das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl noch nicht bekannt war, öffnete Herr Reinhart eines Tages seine Fensterläden und ließ den Morgenglanz, der hinter den Bergen hervorkam, in sein Arbeitsgemach, und mit dem Frühgolde wehte eine frische Sommermorgenluft daher und bewegte kräftig die schweren Vorhänge und die schattigen Haare des Mannes.“ Dem nüchternen Einsatz folgt eine ironische Anspielung auf ein Zeitgeistphänomen, dieser wiederum die Vermeldung einer Alltagshandlung des Helden, doch vorgetragen mit dem Pathos sinnlicher Vergegenwärtigung von Luft und Glanz und Gegenständlichkeit der Welt und aufgeladen mit Bedeutung. Die Datierung nach einer noch ausstehenden Sensation der wissenschaftlichen Welt, Darwins 1859 erfolgender Veröffentlichung über den Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, setzt leise parodistisch Darwins epochal prägende Theorie zum Markierungsdatum eines Zeitrechnungsschemas - analog zu: a. Chr., ante meridiem, ante lucem - und stellt es gleich wieder in Frage. Und zwar durch die ironische Übernahme der Selbsteinschätzung der Naturwissenschaftler, die sich als Forscher von einem solchen Gipfel zum anderen eilen sehen. Während der Text versuchsweise ein naturwissen- 313 Experimentieren oder Erzählen? schaftliches Zeitalter als gegeben ansetzt, werden zugleich dessen Fortschrittsglaube und das Epochenhochgefühl unterminiert, noch ehe es Zeit hat, sich ganz zu entfalten. Tatsächlich wurden die Darwinschen Thesen ja zunächst einerseits bestritten, andererseits vorschnell sozialdarwinistisch in den gesellschaftlich-kulturellen Bereich des Menschen übertragen. Der Erzähler läßt Zweifel spüren, gibt aber kein Urteil in der Sache ab, sondern entwirft eine Welt. Er deutet die Unsicherheit einer Weltsicht an, aber statt sie zu verfolgen, erzählt er eine Geschichte, die allerdings nun doch einen zwar nicht logischen, aber assoziativen Zusammenhang mit Darwins Zuchtwahl herstellt, und zwar einen kontrastiven. Denn es ist eine Geschichte, die nun ganz gewiß - mag es um die Theorie Darwins stehen, wie es will - nicht von natürlicher Zuchtwahl handelt, sondern von kultürlicher Liebeswahl. Das Erzählen verfügt in ihr souverän über einen Naturwissenschaftler auf Freiersfüßen, der gleichzeitig ein charmanter Dummkopf ist. Daß der Naturwissenschaftler und Experimentator als Spielfigur an den Fäden eines Erzählers hängt, der die Naturwissenschaften offensichtlich nicht als die Letztautorität nimmt, als die sie im 19. Jahrhundert auftraten, kündigt die Leiden des Helden auf der Handlungsebene an, wo der Experimentator selber auf das Glatteis des Erzählens geführt wird und einer menschlich überlegenen Geschichtenerzählerin als Gegnerin im Liebeskrieg in die Hände fällt. Diese Konfrontation zwischen einem Naturwissenschaftler, dessen literarische Bibliothek auf dem Dachboden verwahrlost, indessen er der Experimentierwut frönt, und einer Leserin und Sammlerin schöngeistiger Bücher ist so programmatisch angelegt und durchgeführt, daß sie wie eine Vorwegnahme der These vom Gegensatz der zwei Kulturen in der modernen Gesellschaft wirken könnte, die der britische Physiker und Schriftsteller Charles Percy Snow 1959 mit seiner Schrift The two cultures and the scientific revolution vorgetragen hat. Seine pointierte Behauptung einer zunehmenden Entfremdung und Sprachlosigkeit zwischen naturwissenschaftlich-mathematischer und geisteswissenschaftlich-sprachlicher Kultur hat seinerzeit eine weltweite Diskussion ausgelöst. Doch wo Snow Stummheit unter den Trägern dieser Kulturen konstatiert, läßt Keller fast 80 Jahre früher in einem poetischen Nachbiedermeiermilieu zwei Repräsentanten des Gegensatzes dialogisch zusammentreffen - erst im Streit, dann in der Liebe. Noch steht man nicht Rücken gegen Rücken zueinander, wie Snow das wahrnimmt; noch ist - im poetischen Weltbild Kellers - Verständigung möglich, allerdings mit einem blinden Fleck, wie sich zeigen wird, der sogar zum organisierenden Moment der epischen Darbietung wird. Freilich wird der Gegensatz der Kulturen nicht explizit zum Leitthema des Diskurses der Handlungsfiguren gemacht. Die Tiefen und Untiefen des Geschlechterverhältnisses treiben sie - und den Erzähler Keller - deutlicher um. Der Gegensatz der Kulturen spielt aber im Verhalten des jungen Paars eine 314 Literatur große Rolle und läuft untergründig ständig mit - Anlaß genug, diesen doppelten Boden des Liebeskriegs genauer in Augenschein zu nehmen. Zunächst scheint sich der Sieg im Streit der Repräsentantin sprachlich-verstehender Kultur und nicht dem Repräsentanten der naturwissenschaftlichen Kultur zuzuneigen. Aber langsam: Der Schluß des Novellenzyklus rückt die Auseinandersetzung in einer denkwürdigen Weise wieder ins Offene, und die Größe des Erzählers erweist sich derart, daß er sich nicht einen billigen Sieg der Erzählkultur auf dem eigenen Boden des Erzählens zuschreibt, sondern in eine große humoristische Nachdenklichkeit führt. Das Humoristische aber besteht darin, daß zu einander nicht vermittelbare Positionen in eine Bewegung aufeinander zu gebracht werden, in der sie einander zur Kenntnis nehmen, gleichzeitig relativieren und gelten lassen, praktisch versöhnen, aber unter Aufrechterhaltung des Gegensatzes. Das sind meine drei Thesen: 1.) Ein obligates Thema des Sinngedichts ist die Stellung und Reichweite des naturwissenschaftlichen Weltbildes. 2.) Es wird durchgeführt als Auseinandersetzung der ‚zwei Kulturen‘. 3.) Der Ausgang der Auseinandersetzung ist bei Keller offen - so offen wie für uns. Die Geschichte beginnt in einer behaglichen, aber weltfernen Studierstube, die zugleich die Utensilien eines modernen naturwissenschaftlichen Laboratoriums aufweist. Reinharts Studierstube ist eine Isolierstube, in welcher der Held seine Tage als wissenschaftlicher Mönch verbringt. Aber gerade bahnt sich etwas in ihm an, und so ist seine erste Handlung mitten im ersten Satz von hoher Symbolik. Er öffnet die Fensterläden und läßt den Morgenglanz und die frische Brise herein, die die „schattigen Haare“ Reinharts bewegt (S. 97) - eine wunderbare Formulierung, die auf eine innere Verschattung des Mannes verweist. Das Öffnen der Fensterläden für das hereindringende Licht ist ein geläufiges Sinnbild der Aufklärungsepoche, und tatsächlich hat sich ja die Aufklärung im Bund mit den Naturwissenschaften vollzogen. Demgegenüber bezeichnet Reinharts Handlung einen zunächst noch unbewußten Ausbruch aus der Isoliertheit seiner naturwissenschaftlichen Sphäre, einen ersten Schritt zur Aufklärung der Aufklärung und des Aufklärers, der sich selbst in Bezug auf Herz und Seele ein unbekanntes Wesen ist und in der Finsternis der Lebensferne lebt. Daß Reinhart als Betreiber optischer Experimente eingeführt wird, ist signifikant. Zunächst überrascht vielleicht, daß Keller, statt die mit der Darwinerwähnung eingeschlagene Richtung auf die Biologie fortzusetzen, nun die Optik ins Visier nimmt. Der Grund liegt in der poetischen Motivverknüpfung, nicht in der sachlichen Problementfaltung. Bietet sich Darwins natürliche Zuchtwahl als ironischer Übergang zur Brautwahl des Naturwissenschaftlers an, so die wissenschaftliche Optik als Folie seiner lebenspraktischen Kurzsichtigkeit. Schon die Allround-Ausstattung von Reinharts Studierzimmer spricht eher für eine naturwissenschaftliche Universalgelehrsamkeit als für eine Spezialisierung. Darin zeigt sich, daß die Erwähnung Darwins bei 315 Experimentieren oder Erzählen? 6 Für die Goethe- und Newton-Bezüge s. den Kommentar der genannten Ausgabe, S. 976ff. Keller kein spezifisches Interesse bezeichnet. Sein Name ist für ihn ein Kennwort des naturwissenschaftlichen Zeitalters, das auch der beiläufig Interessierte und nur ungefähr Informierte aufnehmen kann. Und so zeichnet sich mit den optischen Studien Reinharts alsbald eine andere Leitfigur aus den Naturwissenschaften ab, die der allgemeinen Bildung zur Verfügung stand. Es ist Isaac Newton. Steht Darwin als Biologe für eine auf exakter Beobachtung fußende ausgreifende Theoriebildung, die ihn zum meist gefeierten, aber auch mißverstandenen und verlachten Naturwissenschaftler des Jahrhunderts machte, so steht Newton mit seinen Forschungen zur Optik stellvertretend für den naturwissenschaftlichen Geist des Experiments. Im Lauf einer gelehrten Kontroverse, die sich als Streit um die Farbenlehre tief ins 19. Jahrhundert hineinzog, wurde die Optik zum Inbegriff für die naturwissenschaftliche Tendenz, zu quantifizieren und zu mathematisieren, Versuchsfelder zu isolieren und Versuchsanordnungen zu konstruieren. Reinharts Versuche mit dem manipulierten Licht verlangen den Ausschluß des Tageslichts. Daß seine Studierstube die eines modernen Doktor Faust genannt wird (S. 97), deutet abermals auf die Universalität seines naturwissenschaftlichen Weltdeutungsinteresses und - auf den von Keller geliebten Goethe als Schutzpatron des Sinngedichts, dessen Konfliktlösung - die Verlobung - schließlich unter dem Gesang eines Goetheliedes stattfindet. Daß bei der Beschreibung der Reinhartschen Experimente von der „Tortur“ des Lichts die Rede ist (S. 98), dürfte ein direktes Zitat sein, denn Goethe hat von der Tortur des Lichts bei Newton gesprochen. Die Opposition zwischen Abstraktion und Bezwingung der Natur durch Hebel und durch Schrauben einerseits, lebendige, sinnliche Anschauung der Welt im praktischen Erfahrungszusammenhang andererseits ist für Keller literarisch gegeben. Freilich unter Verengung des Goetheschen Ansatzes. Denn gerade Faust selber ist der Kritiker der Instrumente in der Naturerkenntnis, wie er denn bei Goethe kein noch so universeller Naturwissenschaftler ist, sondern ein Universalgelehrter, ein Typus, der im 19. Jahrhundert keine Rolle mehr spielt. Ja, Faust will noch höher hinaus, indem er von der Universalität theoretischer und der Unmittelbarkeit praktischer Lebensteilhabe in einem träumt. Dieser Traum, ohnehin eine zum Scheitern bestimmte Größenphantasie des Träumers Faust, ist im Zeitalter der modernen Naturwissenschaften definitiv ausgeträumt. Reinharts Problemrahmen ist anders als der Fausts, und er ist vor allem anders dimensioniert. 6 Und so manipuliert der Naturwissenschaftler Reinhart mit seinen apparativ arrangierten Experimenten ungerührt die Natur und noch den Tod, und wenn er schließlich - gleich Faust - seine Studierstube verläßt, so wird er 316 Literatur nicht Entgrenzungserfahrungen, Totalität und All-Liebe, ersehnen und daran scheitern, sondern eine Eheliebste im bürgerlichen Leben suchen und finden. In der Eröffnungsrede über Reinharts schattige Haare klingt vorerst an, daß sein abstrahierender wissenschaftlicher Umgang mit dem Leben und der Welt etwas Tötendes an sich hat - siehe die Formulierung von der Tortur des Lichts; er reißt sein Forschungsobjekt aus dem Zusammenhang heraus und richtet es dem Experiment zu. Zugleich werden Schmerz und Tod durch die Objektivierung in Experiment und Analyse neutralisiert. Menschen- und Tierschädel in Reinharts Studio sind so weiß und appetitlich präpariert, daß sie den Nippsachen eines Stutzers gleichen. Ein Frosch im Glas „harrte seines Stündleins“ (S. 97) - eine verharmlosende Umschreibung seiner Bestimmung, für die damals üblichen galvanischen Experimente sein Leben zu lassen. Lediglich an sich selbst gelingt dem Experimentator der Ausschluß des Beunruhigenden nicht. Mit einem leisen Schmerz revoltieren seine vom Experimentieren überanstrengten Augen, diese so höchst symbolischen Organe menschlicher Weltberührung, in denen sich Sinnlichkeit und Geistigkeit am tiefsten durchdringen. Reinhart schreckt auf, aber noch beim ersten Blinzeln seiner Lebensgeister zeigt sich die ganze Blindheit des Optikers, der so kühn in ein Abstraktionswissen von Natur vorgedrungen ist, gegenüber der lebendigen Natur, die sich in seinen Augen bemerkbar macht, seinem kunstvollsten Apparat, der peinlicherweise ein Organ ist. Er weiß nichts von dieser Natur, am wenigsten von seiner Natur, am allerwenigsten ‚naturgemäß‘ da, wo sie so heikel und undurchsichtig und lebensvoll ist wie im Bereich der Wechselattraktion der Geschlechter mit seinem Zusammenspiel von Sexualität und Erotik, Physis und Psyche, Trieb und Herz, Phantasie und Denken. Da aber die Beobachterinstanz Reinhart, konkret genommen, nun denn doch ein Mann ist, der sich lange Zeit zur wissenschaftlichen Askese bestimmt hatte, und da das Auge, wie nicht nur die Psychoanalytiker, sondern schon viel länger die Dichter wissen, ein Vitalitätssymbol ist, weist der leise Schmerz letztendlich genau in diese Richtung. Dementsprechend beschließt der lebensplanende Rationalist Reinhart, das Nützliche einer Augenkur mit dem Angenehmen einer Brautschau zu verbinden - Schönes tut ja den Augen gut. Da aber der naturforschende Fachmann von diesem Fachgebiet nichts versteht, verhält er sich interdisziplinär, indem er sich an das Buch eines anderen Fachmanns, nämlich für Liebesdinge, wendet. Als Spezialist dafür gilt seit alters der Poet, und so fischt Reinhart denn im verstaubten, der schöngeistigen Literatur gewidmeten Teil seiner Bibliothek den alten Friedrich von Logau aus dem 17. Jahrhundert und sein schon erwähntes Epigramm heraus, das da lautet: Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? Küß eine weiße Galathee: sie wird errötend lachen. (S. 100). 317 Experimentieren oder Erzählen? In einer Metaphorik, die im Barock jeder verstand, der gesellschaftlich dazugehören wollte, sagt diese Petitesse in Form einer Rätselfrage und -antwort: Jungfrauen (weiße Lilien) werden zu Frauen (rote Rosen), indem man sie küßt und sie das lachend akzeptieren, was sie erröten läßt. Der Fachmann im fremden Bereich mißversteht das prompt gemäß den Regeln seiner Zunft: nicht als weltmännischen Scherz, sondern als Verfahren zum Ermitteln der richtigen Frau mit dem Erkennungsmerkmal, daß sie beim Küssen errötend lacht. Er scheint sich das als eine Art Lackmusreaktion vorzustellen. Dem Experimentator kommen auch dann, wenn er nun endlich auf das Leben zwischen Menschen sich einzulassen vornimmt, nichts anderes als Experimente der Annäherung in den Sinn. Trotzdem hat Reinhart wenigstens eine entfernte Ahnung davon, daß er sich auf Neues einläßt; so wie umgekehrt der Leser spürt, in welchem Ausmaß der Held dieses Neue vom Gewohnten her einschätzt. Weit liegt das wenige an Menschen- und Lebensberührung zurück, das schon in seiner früheren Jugend so ephemer gewesen sein muß, daß es jetzt in seinem Resümee der Lage nur in blassen Allgemeinheiten auftaucht, als „muntere Bewegung“, in der er „gelacht und gezürnt, töricht und klug, froh und traurig gewesen“ (S. 99). Er war schon damals Zuschauer, wie er es als Naturforscher erst recht geworden ist, dessen Anschauungsmuster und Emotionen zusammengeschrumpft sind auf „Komödien“ chemischer Stoffe, Genuß am „Schauspiel“ der Reduktion und Verdrießlichkeit bei Rechnungsfehlern (S. 99). Die moralische, das heißt menschliche Welt scheint ihm die kausale Gesetzmäßigkeit der materiellen Sphäre nur ein bißchen weniger streng fortzusetzen, so daß ihre schmetterlingsartige Flatterhaftigkeit letzten Endes ungefährdet festgebunden bleibt an das solide Verhältnis von Ursache und Wirkung im Naturbereich. Und eben deshalb steht diesem denn auch die strengere Aufmerksamkeit zu. Reinharts Leidenschaft gehört der Abstraktion. Er liebt es, „den unendlichen Reichtum der Erscheinungen unaufhaltsam auf eine einfachste Einheit zurückzuführen […], wo es heißt, im Anfang war die Kraft, oder so was“ (S. 99). Kraft, das ist wieder ein Begriff im Beziehungsfeld zwischen Fausts Übersetzung des Johannesevangeliums („Im Anfang war die Kraft“, Vers 1233), klassischer Physik und Franz Büchners seinerzeit weithin bekanntem, ins Weltanschauliche zielenden Buch Kraft und Stoff (1855) mit seinem populären Materialismus. Immerhin, von da will Reinhart nun weg zu einem Ganzheitlichen, zur „menschlichen Gestalt, und zwar nicht in ihren zerlegbaren Bestandteilen, sondern als Ganzes“ (S. 99), aber bisher steht sie nur als sensuelles Etwas vor ihm. Auch die Vorstellung der Freiheit, zunächst noch versteckt in der naturwissenschaftlich-herablassenden Wahrnehmung als Flattern der heutzutage wenig aktuellen moralischen Dinge „wie ein entfärbter und heruntergekommener Schmetterling“ (S. 99), formuliert sich immer noch verdächtig aus: als „reizender Versuch der Freiheit“ (S. 100). Im Wort 318 Literatur „Versuch“ schwingen gleichermaßen Unverbindlichkeit und eine Reminiszenz ans experimentelle Verhalten mit. Daß man bei menschlicher Praxis in der Gestalt des Menschen der Person begegnet und daß gerade die Freiheit in eine Verbindlichkeit jenseits des Kausalitätsprinzips führt, wird Reinhart erfahren. Vorerst aber ist zu fragen, welches Experimentalergebnis der momentan so gefährlich zwischen den Kategorien „Versuch“ und „Freiheit“ schwankende Forscher eigentlich erzielen will, indem er das Logau-Epigramm nicht allegorisch, sondern psychologisch, das heißt als Reaktionsanalyse bestimmter Frauen im Unterschied zu anderen auffaßt. So verstanden, ist das Erröten beim Kuß doppelwertig - es kann Scham, aber auch Aufwallung des Bluts, also Leidenschaft, oder beides zugleich anzeigen. Das Lachen beim Erröten im Kuß indiziert jedenfalls eindeutig Bewußtseinskontrolle, und entsprechend konstatiert Reinhart einmal, als seine Experimentalphase schon vorbei ist: „das Tier lacht nicht! “ (S. 275), ohne sich dessen bewußt zu werden, daß das Tier auch nicht errötet. Errötend lacht im Kuß eine Frau, die in der Gefühlssituation Distanz und Witz bewahrt, nicht die hingerissene. Und zwar Distanz in doppeltem Sinne: als leicht irritierte Belustigung über ihre Schamreaktion, aber auch als leicht irritierte Belustigung über ihre leidenschaftliche Aufwallung. Auf alle Fälle zeigt Reinhart eine Neigung zum Komplizierten und Kontrollierten, und so steht ihm noch einiges bei seiner Versuchsreihe bevor. Es gehört zu den märchenhaften Zügen des Sinngedichts, daß der Stubengelehrte übergangslos eine staunenswerte Fähigkeit des Küssens fremder Frauen entwickelt. Ähnlich überraschend ist später die Fähigkeit des Mannes, der kommunikativ so lange brach gelegen hat, zum Erzählen, und Keller selbst läßt seinen Helden bemerken, die Erzählkunst sei ihm wie ein Dachziegel auf den Kopf gefallen (S. 203); dasselbe könnte man von seiner Kunst des Anbandelns sagen, aber das braucht uns hier nicht zu beschäftigen, da wir auf das Thema Naturwissenschaft und Lebenszusammenhang konzentriert sind. Und da ist kurz und schnell festzustellen: Die Experimente, so ebenhin durch Küssen irgendwelcher hübscher Frauen den beschriebenen Effekt zu erzielen, gehen kurz und schnell schief, denn mit dem Leben kann man nicht experimentieren. Lebenssituationen lassen sich nicht, wie Experimentalsituationen, von ihren Voraussetzungen und Folgen in der Realität isolieren, und so kann man nicht unter Experimentalbedingungen leben. Man kann nicht Menschen als fixe Größen in Experimente einführen, auch sich selbst nicht, und so entsteht im wirklichen Leben unversehens statt eines Experiments eine Geschichte, die Menschen erweisen sich unversehens als Subjekte, statt als Objekte, und nicht nur das, es gibt keine Sorte der beim Kuß errötend lachenden Frauen - was zu erwarten der sortenhafte Schäferinnenname des Epigramms „küß eine schöne Galathee“ verführt -, sondern nur Individuen in ihrer unwiederholbaren Eigentümlichkeit. 319 Experimentieren oder Erzählen? Damit befindet sich Reinhart unversehens auf fremdem Boden. Er verirrt sich symbolischerweise im Wald, denn er ist verwirrt, und der Reiter muß vom hohen Roß steigen. Seine Experimentalanweisung, die er vor Reisebeginn schön säuberlich auf einen Zettel geschrieben hat, überreicht er versehentlich und verwirrt einem weiblichen Wesen, an dem sie doch kaltsinnig auszuprobieren wäre. Er trifft auf eine junge Dame, die innerlich allein ist und der man sich nicht durch Kußexperimente, sondern nur durch Verstehen annähern kann. Das ist eine Erkenntnisweise, bei der man sich auf das Gegenüber einläßt und es in seiner Eigenständigkeit und Unwiederholbarkeit erfaßt. Vor allem: Verstehen ist ein kommunikatives und zugleich selbstreflexives Verhalten. Es verlangt Öffnung und Austausch, und das Nachdenken über das Gegenüber schließt einen Rückbezug auf uns selbst ein. Ich kann das Andere nur in dem Maße verstehend erfassen, wie ich das Eigene ins Spiel bringe, und noch das Fremdeste kann in seiner Fremdheit nur wahrgenommen werden, indem ich es auf mich beziehe. Zuletzt aber erfordert alles Verstehen einen Sprung über mich hinaus in das Unverfügbare, das der andere, zu Verstehende immer auch behält und wodurch er uns eben immer weiter anzieht und zu weiteren Verstehensanstrengungen anreizt. In der verstehenden Wissenschaft hat es hier sein Bewenden. In der Lebenspraxis kann das einander Verstehen in das miteinander Leben übergehen, das auf die stetige Wiederholung dieses Sprungs angewiesen bleibt. Immer geht es darum, im Fremden das Vertraute zu erblicken und im Vertrauten das Fremde, Unzugängliche, und immer geht es darum, im letzten das Geheimnis des Anderen stehen zu lassen. In dieser Disposition hat das Verstehen etwas mit der Liebe zu tun, und umgekehrt erst recht gibt es keine Liebe ohne Verstehen. Zu welchem Erfolg Reinharts Weg vom Experimentieren zum Verstehen im Sinngedicht führen wird, läßt sich vorgreifend im Erfassen der bei Keller meist sehr ausgeprägten Namenssymbolik ermitteln. Die junge Dame, bei der seine Experimentalreihe zum Stehen kommt, heißt Lucia, und ihr Kose- und Spitzname ist Lux, das Licht. Reinhart kommt aus dem Dunkel und dem Schatten des Laboratoriums ins Licht. Der naturforschende Lichtbrecher, dem im Laboratorium die Augen wehzutun beginnen, stößt im hellen Tageslicht auf eine Herzensbrecherin, deren Namenspatronin zudem eine Heilige und Schutzpatronin der Augen ist. Sie wird ihn heilen, indem sie ihm die Augen öffnet und ihn ins Ehebett hineinerzählt und auch ihn sich hineinerzählen läßt. Reinhart muß dabei lernen, daß ihn im Geschlechterspiel erstmals eine solche Frau wirklich anzieht, die eine Geschichte hat, ein Individuum ist, über sich und andere nachdenkt und darüber kommuniziert. Ihr zentraler Lebensbereich ist - kontrastiv zu Reinharts Laboratorium - eine Bibliothek, die auf Autobiographien von Augustinus bis zu Rousseau und Goethe spezialisiert ist, auf Literatur also, die davon spricht, wie der Mensch durch eine Lebens- 320 Literatur geschichte geprägt und auch durch Schmerzen gezeichnet wird, wie er ein Individuum wird, ein Charakter in einer Entwicklung. Lucie sammelt Bücher, in denen menschliche Eigentümlichkeit zum Ausdruck kommt und zum Problem wird. Und so erweckt sie auch in Reinhart die vorerst stumme Frage: „Was hast du erlebt? “ (S. 123), weil er zu ahnen beginnt, daß er ihr Wesen nur aus ihrer Geschichte erfassen kann. Auch sie lebt fern von Praxis; dennoch in einer Haltung, die der Reinharts entgegengesetzt ist. Er hat über seinen Abstraktionen das Leben als Erleben vergessen. Sie hat vom Leben so schmerzlich gelitten, daß sie sich aus ihm zurückgenommen hat, aber es trotzdem oder gerade deswegen als wichtigstes Thema ihres Denkens umkreist. Im Verstehen der Lebensgeschichte Fremder sucht sie, vielleicht unbewußt, den Zugang zu ihrer Geschichte, in der sie sich fremd geworden ist. Reinharts naturwissenschaftliches Erkennen ging von ihm weg; ihre Reflexion bedenkt sich im Denken des anderen mit. Geschichten hören und Geschichten erzählen ist unter diesen Voraussetzungen der Weg der beiden zueinander. Das Drauflosküssen ist vorbei, Reinhart muß sich zu einer höher sublimierten Kulturbeschäftigung menschlicher Münder, dem Erzählen von Geschichten, bequemen, will er zum Menschen als diesem Menschen finden. Er muß nun Argumente in der schwebenden Weise von Geschichten vortragen und entgegennehmen, die fast immer mehr und anderes sagen, als was sie sagen sollen, und die fast immer anders gedeutet werden können, als er will. En passant, quasi als Begleitstimme, arbeitet sich aus den Erzählbedingungen und dem Erzählprozeß von Liebesgeschichten eine kontrastive Charakteristik von Verstehen und Erkennen, Naturerkenntnis als Sacherkenntnis und Verständnis des Menschen als selbstreflexivem Existenzverständnis heraus. Lucie und Reinhart lernen praktisch, ohne Theorie, den Unterschied zwischen nomothetischem und idiographischem Wahrnehmen kennen. Das verläuft nicht glatt. Reinharts naturwissenschaftliches Standbein beginnt zu wanken, als zum einzigen Mal im Prozeß des Geschichtenerzählens der Oheim das Wort nimmt, mit dem Lucie in Hausgemeinschaft lebt. Reinhart, der zur planvoll-experimentellen Auswahl einer Dame für Ehezwecke aufgebrochen ist, erfährt nämlich durch diese Geschichte, daß sich seine eigene Existenz einem vielschichtig-problematischen ‚Experiment‘ seiner späteren Mutter verdankt, mithin einer Damenwahl im Sinn der Tanzstunde, deren Objekt sein späterer Vater war. Wo bleibt nun die Voraussetzungslosigkeit der naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung? Plötzlich hat der Experimentator eine Vorgeschichte am Hals, und was für eine! , die er gern wieder los wäre, läßt sie doch ihn selbst als Produkt eines Experimentes erscheinen. Vergeblich die Flucht zurück ins Laboratorium. Nun schmerzen ihn nicht mehr nur die Augen, jetzt schmerzt das Herz, und Reinhart muß noch lernen, daß „die Natur dieses Muskels“ (S. 350), dem er sich forschend zuwendet, nichts mit seinem Leiden zu tun haben kann. Denn sein schmerzen- 321 Experimentieren oder Erzählen? des Herz ist nicht das biologische Organ, das alle haben, sondern sein Herz. Der Wein, den ich analysiere, ist nicht der Wein, den ich schmecke. Ich kann hier nun nicht den Krieg in Form von Erzählungen verfolgen, der Reinhart und Lucie, indem sie einander immer heftiger befehden, untergründig immer näher zueinander führt. Am Ausgang der Geschichte küssen sie einander, und was auf den ersten Blick wie ein spätes Gelingen des Logauschen Epigramms in Reinharts Auffassung als Rezept aussieht, ist tatsächlich seine vollkommene Abservierung. Nicht der Mann küßt die Frau, sondern beide vereinigen sich gleichzeitig spontan im Kuß. Nicht ein Experiment wird durchgeführt, sondern eine Situation ist psychisch zur Reife gekommen. Das Experiment gelingt, als und weil es keines mehr ist. Zwar lacht Lucie errötend im Kuß, aber dabei spielt eine Situationskomik mit, die sozusagen die Versuchsanordnung sprengt. Und gleichzeitig kommen ihr die Tränen, eine weitere unwillkürliche körpersprachliche Reaktion, die nicht vorgesehen war, die aber am tiefsten in die Person hineinreicht, denn in diesem Augenblick löst sich in Lucie eine schwere und leidvolle Vorgeschichte, die sie geprägt hat und als aufgehobener Schmerz nun ihr Glück vertieft. In den vorhergehenden Erzählungen geben beide Liebende unwillentlich immer mehr von sich preis, während sie von anderen Paaren sprechen. Dabei entwickeln beide Liebes- und Ehevorstellungen, die sie praktisch gerade zu verlassen im Begriff sind. Reinhart überspitzt die patriarchalische Idee von der Herrschaft des Mannes in der Ehe zu dem Wunschbild, die Frau solle durch den Mann vom unbeherrschbaren und bedrohlichen Naturgeschöpf, das dem Elementaren mehr verbunden ist als der Mann, zur Bildung emporgehoben werden. Hinter dieser Sehnsucht aber versteckt sich - in der tiefsten Symbolschicht des Textes, die ich hier uneröffnet lasse - männliche Angst vor der Frau als übermächtiger Mutter und bedrohlichem Sexualwesen. Wenn Frauen schon Männer behexen, müssen diese Hexen unter Kontrolle gebracht werden. Wenn Frauen schon Männer zur Welt bringen, müssen sie wenigstens zu Geschöpfen des Mannes gemacht und damit in der Tiefe domestiziert werden. Lucie, die ihn zunehmend anzieht, ist aber ganz anders als Reinharts Phantombild von Frauen - eine kultivierte junge Frau mit einer in der Pubertät verletzten und verdrängten Sexualität, die sich gerade erst in dieser Liebe zu befreien beginnt. Sie bringt nicht nur Reinhart vom Küssen zum Erzählen, sie bringt auch sich durch Erzählen zum Küssen. Lucie spießt erzählend in ihren Geschichten Männer auf, die Frauen zu Objekten entfremden und verdinglichen wollen und dabei gar nicht merken, daß sie als vermeintliche Herren der Schöpfung in Wirklichkeit von den Frauen manipuliert werden, bis sie deren Willen für den eigenen halten. Tatsächlich aber betreibt Lucie keineswegs das, was sie den Frauen zuschreibt: Männerfang als Gegenstrategie zu vermeintlicher Damenwahl der Männer. Sie ändert nämlich im letzten Stück des Erzählstreits ihr durch Abwehr anziehendes Verhalten radikal, indem sie sich Reinhart im Erzählen 322 Literatur ihrer eigenen Geschichte völlig ausliefert. Und mit dieser Geschichte steigt die Naturwissenschaftsproblematik, die im Sinngedicht anfangs so stark hervortritt, gegen Ende heftig und in neuer, bedrängender Wendung wieder auf. Luciens Vater läßt die heranwachsende Tochter innerlich und äußerlich allein, indem er sich, nachdem seine Frau gestorben ist, seinen Liebhabereien und langen Reisen widmet. Das Mädchen, einziges Kind, bleibt in der Pubertät einer bigotten Haushälterin und einer Gouvernante überlassen, deren Hauptinteresse im Sammeln, Aufspießen und Präparieren seltener Kerbtiere besteht, die sie sachkundig und geschäftstüchtig an Sammler und Institute verkauft. Diese vom Vater gedankenlos herbeigeführte Konstellation ist die Voraussetzung von Luciens Jungmädchenelend. Ein Männerscherz, ein witzig gemeintes Eheversprechen eines älteren Vetters, läßt sie einem uferlosen, einsamen und völlig realitätsfernen Mädchentraum von Verlobung und Liebesglück verfallen und veranlaßt sie schließlich zur heimlichen Konversion, weil der Vetter auf ihre Nachfrage hin wiederum scherzhaft geäußert hatte, ehe er sie heiraten könne, müsse sie erst noch katholisch werden. Der Vetter selbst ist später ein zölibatärer geistlicher Würdenträger geworden. Lucie fühlt sich durch dieses noch halb kindliche Erlebnis gedemütigt und durch die heimliche und ganz unreligiöse Konversion in ihrem Wesen verwirrt. So lebt sie unter dem Schutz des Oheims als Ersatzvater zurückgezogen, aber auch in einem tief ernsten Selbstbildungs- und Selbstverantwortungsprozeß bis zur Begegnung mit Reinhart. Diese ist für sie um so mehr krisenhaft, als sie wieder mit einem offensichtlich verunglückten, als Projekt von vornherein taktlosen Männerscherz beginnt und einen Naturwissenschaftler vor sie hinstellt, der sie an die Verzerrungsform des Naturforschers erinnert, wie die Gouvernante und ihr Vater es waren. In der Gouvernante ist sie auf ein gefühlloses, tötendes Klassifikationsinteresse gegenüber dem Lebendigen gestoßen, das nur dem Profit diente. Im Vater aber herrschte unter dem Anschein von Toleranz und Liberalität eine herzlose anthropologisch-psychologische Neugier, die noch schlimmer war als seine Abwesenheiten. Sogar an seiner Ehefrau und seiner halbwüchsigen Tochter trieb er - so Kellers Formulierungen - „religionspsychologische Studien“ (S. 359) und „religiöse Experimente“ „wie die Naturforscher an Fröschen“ (S. 371). Indem Lucie das Wort von den Studien und Experimenten ihres Vaters gebraucht, wird klar, wie sehr sie sich bedroht fühlen muß, als in Reinhart, bei dem die Rahmenerzählung einen Frosch als Experimentalobjekt eigens erwähnt (S. 97), wiederum ein anmaßender wahrnehmungsgestörter Forscher auftritt, der Menschenexperimente macht. Und es wird deutlich, daß die erwachsene Lucie im Liebeskrieg der erzählten Geschichten nicht nur sich, sondern gelebtes Leben überhaupt verteidigt. Sie ‚siegt‘ auf die überlegenste Weise, nämlich durch ihre scheinbare Kapitulation, indem sie trotz oder sogar wegen ihrer verzweifelten Vatergeschichte stark genug ist, Reinhart, den Liebesexperimentator a.D., als 323 Experimentieren oder Erzählen? „Beichtvater“ (S. 375) einzusetzen und anzunehmen. Und Reinhart gewinnt als Liebhaber durch diesen letzten Anstoß so viel an väterlichen Eigenschaften, daß die Vater-Tochter-Katastrophe von einst in seinem überschwenglichen Verständnis, im Aufgehen seiner Augen für Luciens wahre seelische Gestalt aufgehoben werden kann. Das ist für Reinhart ein entscheidender Schritt, und auch für das Thema des Streits der zwei Kulturen. Als Experimentator hat er das Lebendige zwar im Laboratorium analysieren können, aber im Lebenszusammenhang nicht erkannt. Das hat er gelernt als Erzählender, Verstehender und Liebender. Und in diesem Lernprozeß ist er zum Partner in einer kathartischen sprachlichen, ‚psychotherapeutischen‘ Situation geworden, die weit abliegt von seinem früheren Weltverhältnis. Oder ist Luciens Appell durch Anvertrauen nicht doch die sublimste Form des Männerfangs und der Männerunterwerfung, von der sie immer wieder erzählt? Ich glaube nicht. Wenn sie sich in ihrer Beichte wehrlos macht und dadurch Reinhart endgültig gewinnt, herrscht darin nicht mehr die Dialektik der Macht. Sie schlägt um in die Dialektik der Liebe, die nimmt, indem sie gibt, und gibt, indem sie nimmt. Und das ist auch der Umschlag von der raffinierten Kratzbürstigkeit Luciens in eine höhere Naivität. Nochmals: Reinhart und Lucie küssen einander am Ende. Der Naturforscher Reinhart hat sich auf dem Boden der ‚anderen Kultur‘ eingefunden und Fuß gefaßt. Er hat die ‚Kulturtechnik‘ des Verstehens gelernt und emphatisch auf die geliebte Frau angewendet. Aber hat er sich voll auf den selbstreflexiven Zug des Verstehens eingelassen, wo die Geschichte ihm wirklich zu Leibe rückt? Vielleicht ist die Emphase gerade auch eine Weise, sich selbst nicht zu nahe zu kommen, die eigene Geschichte und Problematik zu überfliegen. Nichts spricht dafür, daß ihm der experimentierende Vater zur Spiegelungsfigur geworden wäre, indessen er im Verlauf der Rahmenhandlung zu dessen Gegenfigur, dem verstehenden ‚Vater‘, wird. Lucie schenkt sich ihm vorbehaltlos. Bleibt aber die Frage: wie weit schenkt sich eigentlich Reinhart, und erst diese letzte Nachfrage stößt in die tiefste Schicht der streithaften Begegnung der Kulturen in diesem Text vor. Erinnern wir uns, daß Reinharts stumme Frage an Lucie „Was hast du erlebt? “ sein erster Schritt aus der Experimentalgesinnung in die des Verstehens war (S. 123). Seltsamerweise ist das aber die Frage, die an Herrn Reinhart nicht gestellt wird, wohl weil er sie sich selbst nicht stellt. Der Oheim erzählt seine Geschichte, Lucie erzählt ihre Geschichte; Reinhart gewinnt - zu seiner großen Irritation - durch den Oheim eine Vorgeschichte, aber über seine Lebensgeschichte bleibt er stumm, und dem korrespondiert eine Eigenart der Namengebung. Die Heldin wird immer bei ihrem Vornamen Lucie genannt. Der Held tritt als „Herr Reinhart“ auf, und auch das hält man für einen Vornamen, und viel später erst wird klar, daß es sich bei ‚Reinhart‘ um seinen Nachnamen handelt. Sein Vorname gewinnt keinerlei Bedeutung. Das Fehlen des Vornamens beim Helden, während er bei Lucie solches Ge- 324 Literatur wicht erhält, beläßt ihn in Abstand von uns, läßt ihn mit dem Leser nicht intim werden, und das Fehlen seiner Geschichte läßt ihn sich nicht zur Individualität ausprägen. Der Mangel einer Geschichte ist es auch, der den selbstreflexiven Zug des Verstehens in ihm nicht voll zur Ausbildung kommen läßt, es fehlt ihm eine Tiefendimension, ein Resonanzboden. Weil Reinhart geschichtslos ist, ist ihm eine gewisse Gesichtslosigkeit eigen. Könnte das mit seinem Status als Naturforscher und Experimentator zusammenhängen? Experimente sind gesetzmäßige, kontrollierte Abläufe, aber keine Geschichten, haben wir festgestellt. Die klassischen Naturwissenschaften hatten kein Verhältnis zum Geschichtlichen und Individuellen, aber sie machten Geschichte. Goethe im 5. Akt von Faust II hat hellsichtig die klassische Szene von der brutalen Zerstörung des geschichtlich Gewachsenen zugunsten eines wissenschaftlich ermöglichten technischen Großprojekts geschrieben, das nicht weniger als eine neue, menschengemachte Erde bezweckt. Sie ist inzwischen millionenfach Wirklichkeit geworden. Daß Lucie eine Geschichte hat, die Leidensgeschichte ihrer Individuation, macht ihre Verletzlichkeit aus, aber auch ihre Stärke, und es ist ihr letzter Trumpf gegenüber Reinhart. Daß Reinhart keine Geschichte hat, macht ihn am Ende zur statuarischen Autorität, und zwar ausdrücklich zur naturwissenschaftlichen Autorität, aber in seiner Statuarik offenbart sich auch sein eigentümlicher Lebensmangel. Es bezeugt Kraft, sich auf eine Krise einzulassen, eine Jugendentwicklung durchlebt zu haben, Schwäche zuzulassen. Reinhart versteift sich wieder. Das bestätigt sich am Ausgang der Liebesgeschichte. Was geschieht schließlich zwischen den Liebenden? Bei dem Waldspaziergang des Paars, der in der Verlobung endet, stoßen sie auf eine schöne Schlange, die im Bach dahergeschwommen kommt, lebensbedrohlich umklammert von den Zangen eines Krebses. Und nun ist Reinharts Stunde gekommen. Der bisher so gründlich entzauberte Experte der Naturwissenschaften wird wieder eingesetzt. Er erkennt die Situation und weiß, was zu tun ist, denn: „es ist keine Giftschlange! “ (S. 376) Er befreit sie sachkundig und vorsichtig von der tödlichen Umklammerung und gibt Lucie die Schlange in die Hände. Luciens „sichtliche Erregung“ (S. 376) bei diesem „Rettungsabenteuer“ (S. 377); ihr „wogender Busen“ (S. 377); ihre Ausrufe: „wie froh bin ich, daß ich gelernt habe, die Kreatur in Händen zu halten! “ und: „von dieser schönen Schlange wünschte ich zu träumen“ (S. 377) - alles, was ihre Gefühlsentfaltung in der folgenden Kußszene vorbereitet und grundiert, zeigt an, daß elementare Kräfte in ihr in Bewegung kommen. Ihre Geschichte holt sie ein und sie holt ihre Geschichte ein, wie bereits festgestellt. Einst hatte sich Lucie mit dem sterbenden „Waldbruder“ (S. 362), dem von der Gouvernante getöteten Hirschkäfer, identifiziert; jetzt blickt sie dem „Waldgeheimnis“ Schlange in die nahen Augen (S. 376). Einst hatte sie mitsamt ihrer Gefühlskatastrophe als Pubertierende ihre Sexualität in sich verschlossen, jetzt 325 Experimentieren oder Erzählen? 7 Ebd., S. 974. „Kampf ums Dasein“ findet sich in den Züricher Novellen von 1878 (Werke, Bd. 5, S. 111) und in Martin Salander von 1886 (Werke, Bd. 6, S. 438), „Selektionstheorie“ (ebd., S. 472), „selektionstheoretischer Volksunterricht in sittlicher Beziehung“ (ebd., S. 666). kommt sie frei in dem wunderbaren Bild ihrer Lust, mit der sie die Schlange in Händen hält. Ihre Tränen sind Tränen einer Wiedergeburt: ‚Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder! ‘ Aber Reinhart? Er entzieht sich. Seine Aussagen sind von merkwürdiger Inkohärenz und Starrheit. Der Ton der großen Liebe des Mannes bleibt kompositionell dem berühmten Goethelied Mit einem gemalten Band überlassen; Reinhart findet ihn nicht. Sein eigentlicher Werbungssatz ist spröde, und der Übergang zum Du klingt eher protokollarisch als ergriffen. In der Schlangenszene redet viel mehr der Fachmann, der rettungsdienstlich zweckdienlich handelt, als der mitschwingende Liebhaber. Während Lucie erschüttert vom „Rettungsabenteuer“ und indirekt von Liebe und Leidenschaft spricht, sagt Reinhart seltsam hölzern: „es erfreut uns, in dem allgemeinen Vernichtungskriege das Einzelne für den Augenblick zu schützen, soweit unsere Macht und Laune reicht, während wir gierig mitessen“ (S. 377). Da wird nun plötzlich eine umfassende Naturdeutung präsentiert. Sie läßt zwar den Namen Darwin und dessen Begrifflichkeit beiseite - wahrscheinlich, weil, wie erinnerlich, die Handlung etwa fünfundzwanzig Jahre vor dessen Deszendenztheorie angesetzt ist und deshalb Reinhart auch nicht einen ihrer Leitbegriffe zitieren kann. Aber der „allgemeine Vernichtungskrieg“ läßt Darwins „Kampf ums Dasein“ deutlich anklingen, den Keller in den Züricher Novellen und im Martin Salander auch wörtlich beizieht, nicht ohne ihn der populären Mißdeutung zu unterwerfen, die aus einem Mechanismus der Biologie eine Kampfparole im sozialen Leben des Menschen macht. 7 Wie auch immer - Reinharts Blick bei dieser Wahrnehmung ist distanziert, seine Aussagen sind theoretisch, es fehlt der leiseste Unterton einer gefühlshaften Wahrnehmung des Geschehens. Vielmehr wird die Situation blitzhaft durchröntgt, in ihrer lebendigen Oberfläche, sozusagen ihrer atmenden Haut, durchdrungen und zur tödlichen Raubtierwelt skelettiert. Es wurde schon bemerkt, daß sich Reinharts insgeheim an Lucie gestellte Frage: „Was hast du erlebt? “ hinter dem Rücken seines Bewußtseins und deshalb vergeblich an ihn selbst richtet. Fast ist nun schon die Frage unangebracht: Was erlebst du in diesem Augenblick? Du vollendest die Liebessymbolik - aber bewußtlos, denn du redest dabei von Fressen und Gefressenwerden. Deine Reflexion weiß nicht, was deine Spontaneität gerade tut. Du bist der Glücksszene innerlich fern, die durch dein Handeln herbeigeführt wird. Du bist nicht im Augenblick, weil du noch und wieder nicht in deinem Zentrum bist. Auch die Erzählung bleibt am Ende im Hinblick auf Reinhart wortkarg. Wo ist der im Erzählen sprachmächtige, wo der zuletzt emphatisch verstehen- 326 Literatur de Reinhart geblieben? Er versteht nichts, wo das Leben nichts als von ihm umarmt sein will. Es ist, als sei seine Spontaneität im Loch der fehlenden Lebensgeschichte, in der Hohlform der Individualität versickert, indessen er unbewußt eine fast unmerkliche Rückzugsbewegung hinter seine wissenschaftliche Redeweise vollzieht. Der Schluß ist kein opulentes Jubeltableau, dafür ist allzu vieles offen, ist allzu viel offengelassen, ist allzu viel an Konfliktgehalten fallengelassen. Wie werden die Frau mit der Lebensnarbe und der Mann ohne Geschichte, die Frau mit den sprechenden Gefühlen und der Mann mit den Autoritätsreden auf die Dauer miteinander auskommen? Wird zwischen den beiden weitererzählt werden? Gewiß, Reinhart wird wohl nun wieder seinen Beruf als Naturforscher aufnehmen, aber ob und wie sich seine neue Einsichten auf die gemeinsame Lebensführung, auf die Berufseinbettung ins Lebensganze und auf die Relationierung des Berufs zur mitmenschlichen Praxis auswirken werden, ist offen. Bleibt als Lektürehilfe nur die Berufung auf das Schema Happy-End. Der blickverengte Naturforscher wird in Zukunft ein beglückter Naturforscher sein, dem die kultiviert liebende Gattin die Falten der Stirn und die Müdigkeit der Augen wegstreichelt. Lucie wird nicht zum Heimchen am Herd schrumpfen. Als Sohn eines Bankiers wird Reinhart den struggle for life nicht in seiner vollen Härte kennenlernen, den er theoretisch erfaßt. Reinhart ist die äußerlich stärkere Position des Ehemannes zugewachsen; Lucie hat sich als die menschlich reichere Gestalt ausgeprägt. Freilich ist es mißlich, über ein Happy-End hinauszufragen, doch dieses hier ist ungewöhnlich porös und abgehoben. Der Bogen zwischen Problematisierung und Verklärung, der schon im Eingang des Sinngedichts ausgemacht werden konnte, ist am Ende eher noch stärker gespannt. Darwin und Goethe sind enggeführt. Anfangs wird die Kritik der Naturwissenschaft mit Goethe abgestützt, am Ende - darauf konnten wir hier nicht eingehen - wird sein Gedicht zum Katalysator der Verlobungsszene. Darwin wird anfangs ironisch vom Erzähler evoziert, am Ende wird er ohne jede Ironie als ziemlich düstere Deutungsinstanz beigezogen, aber namenlos und nur in Figurenrede, nicht vom Erzähler. Die Opposition der zwei Kulturen ist nicht aufgehoben. Die zunächst heftig erschütterte Position der Naturwissenschaften hat sich zuletzt sogar wieder gefestigt. Reinhart ist nicht als Liebender, aber als Naturforscher stark gemacht, indem er in Vorwegnahme der laut Eingangssatz ja noch ausstehenden Selektionstheorie, ja geradezu als ihr Prophet, eine ihrer Kernthesen - avant la lettre und als Rede vom allgemeinen Vernichtungskrieg und Freßzusammenhang des Lebendigen mit archaischer Drastik formuliert - hervorruft. Allerdings steckt gerade in dieser Drastik auch eine leise Verschiebung des an sich ethisch neutralen biologischen Befunds vom struggle for life in Moralistik und älteste Lebensweisheit vom Menschen, die ähnlich schon einmal in einer der früheren Novellen, Die arme Baronin, anklingt: „Was 327 Experimentieren oder Erzählen? ist der Mensch, sagte er sich, was sind Mann und Frau! Mit glühenden Augen müssen sie nach Nahrung lechzen, gleich den Tieren der Wildnis! “ (S. 211). „Was ist der Mensch“ - das ist ein Anklang an Psalm 8,5, und im Buch Hiob 7, wo diese Frage fast wörtlich wiederkehrt, heißt es in Vers 1 nach Luther: „Muß nicht der Mensch immer im Streit sein auf Erden? “ Noch härter formuliert die Vulgata: „Militia est vita hominis.“ Gleichwohl: Das sind moralistische Aussagen über den Menschen, allenfalls im Vergleich mit dem Tier; demgegenüber ist Reinharts Dictum vom allgemeinen Vernichtungskrieg, schon als Kommentar zur Krebs-Schlangen-Episode, doch viel eher eine biologische Aussage, wenn auch von der Moralistik her eingefärbt und vorbereitet. Und gerade das macht sie besonders pessimistisch. Übersehe ich bei alledem aber nicht, daß die Bildersprache der übergreifenden Erzählung am Ende vor Beredsamkeit geradezu überbordet - zur Verherrlichung der Liebe? Die Natur selber scheint am Beginn des Verlobungsspaziergangs die Liebe zu predigen in Gestalt zweier Bäume, die sich wie Liebende ineinander verschlungen haben, und wenn die gerettete Schlange dem versöhnten Liebespaar ein Stück weit das Geleit gibt, ist das offensichtlich eine programmatische Umkehrung des Sündenfallmotivs. Der Mensch entfalteten Bewußtseins erscheint versöhnt mit der Natur und mit seiner Natur. Wenn sich den Liebenden ein in die Natur wie verwachsenes Häuschen als Liebesnest darstellt, ist das die alte idyllische Vision der Versöhnung von Natur und Kultur. Das ist richtig, aber doch nur halb. Je üppiger diese Szenerie aufgebaut wird, umso härter und ohne jede Vermittlung erklingt in ihr das Wort vom Fressen und Gefressenwerden. Und umgekehrt: Je härter das Wort vom Kampf ums Dasein, umso mehr Szenerie der Versöhnung muß als Gegengewicht aufgebaut werden. Und so ist die Szenerie allzu deutlich, vor allem ist sie allzu deutlich Literatur, die in Zitaten literarischer Traditionen vorgibt, Natur zu präsentieren. Die Liebesverschlingung der Bäume ist ein literarisches Motiv, und was nach Liebe aussieht, ist in Wirklichkeit Ergebnis einer Konkurrenzsituation zweier zu nah beieinander stehender Bäume um möglichst viel Licht, also, wenn man so will: Ergebnis des struggle for life. Das Paradies in sich glücklich ruhender Natur ist ein literarisches Motiv, die Idylle desgleichen. Gottfried Keller war viel zu hintersinnig, als daß ihm diese etwas bombastische Häufung von Harmoniesymbolen einfach hätte passieren können. Sie macht vielmehr das Arrangement durchsichtig. Der dichterischen Utopie wird eingezeichnet, daß sie eine Utopie ist. Literarische Natur kristallisiert sich aus um eine desillusionistische naturwissenschaftliche Theorie. Der Naturwissenschaftler ist nötig, um die Paradiesesszene zu ermöglichen, die er kommentierend dementiert. Er steht drin als Draußenstehender. Doch der Beschluß des Schlusses, fast ein Nachwort, scheint gegen mich zu sprechen. Gegen Reinharts Behauptung vom „allgemeinen Vernichtungskrieg“ 328 Literatur 8 Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, hrsg. v. W. Bolin u. F. Jodl, Bd. 2, Stuttgart 1904, S. 310. als Naturgesetz und Naturkonstante steht als letzter Satz der Erzählung seine eigene, spätere, offenbar aus der Sicherheit des erfahrenen Ehemannes ergehende, in aller Scherzhaftigkeit eschatologisch strukturierte Rede, die sein Leben „ante lucem“, vor Tagesanbruch, von dem lichtüberfluteten Leben nach dem Heilseinbruch der Liebe unterscheidet. Denn selbstverständlich ist hier in der Tageszeitenzyklik ein Jüngster Tag angesprochen. Noch dazu parodiert die Zeitangabe des Schlußsatzes ‚ante lucem‘ die selbst schon parodistische Zeitangabe des Eingangssatzes: ‚vor Bekanntwerden der natürlichen Zuchtwahl‘, also ‚ante Darwin‘. Das sind starke Reden, herausgetriebene Gegensätze. Was gilt? Beides: das naturgesetzliche ‚So ist und bleibt es‘ versus das heilsgeschichtliche ‚alles ist neu geworden‘. Dem Schwanken des ersten Satzes im Sinngedicht zwischen Ironie und Pathos entspricht das Vibrieren des letzten. Und so muß auch, wo die Wissenschaft doziert, die Natur predigen. Macht der Held Autoritätsaussagen, die Erzählung macht sie bei alledem nicht. Das Erzählen nutzt nicht den Vorteil des Heimspiels gegen das Experimentieren aus, die Poesie maßt sich keine unzeitgemäßen Triumphe über die Naturforschung an. An Stelle einer umfassenden Integrationsinstanz steht bei Keller der Humor als Umschlägigkeit. Er läßt das Widerstreitende nebeneinander bestehen, labil und liquide, in Vermittlung des Unvermittelbaren. Während der Liebessituation bleibt Reinhart hölzern; im Rückblick darf er wieder überschwenglich werden mit seinem Wortspiel, das Lucie zum Licht seines Lebens einsetzt. Aber der Überschwang wird im Wortspiel ‚verspielt‘, spielerisch gebrochen. Es ist ein geistreiches Resümee, eine Zusammenfassung, die nicht im erfüllten Augenblick der Hingabe stattfinden könnte. Es ist ein Wortspiel jenseits des Liebesspiels. So witzig muß Reinhart sein, damit so viel Pathos geäußert werden kann. So viel Pathos ist erzählerisch gestaut, daß es witzig entladen werden muß. Und bei allem: Der frühere Reinhart war passionierter Zuschauer, als Forscher schlußfolgernder Beobachter. Im neuen Reinhart taucht viel davon wieder auf. Noch einmal bleibt zu betonen, daß in all den genannten Brechungen keine Zerrüttung des Kellerschen Texts vorliegt. Er ist ein Balanceakt, in dem noch der Zusammenfall des Auseinanderstrebenden eingesetzt und beherrscht wird; ein Schriftstück, in dem noch die Bruchlinien zur Schrift werden. Das macht die Modernität dieses Werks im Zeichen Goethes und Darwins aus. Ludwig Feuerbach, der von Gottfried Keller verehrte Philosoph, hat die Feststellung getroffen: „Das Wirkliche ist im Denken nicht in ganzen Zahlen, sondern nur in Brüchen darstellbar.“ 8 Dieses Dictum scheint mir ein Schlüssel zum poetischen Realismus, auch dem Kellers, auch dem Sinngedicht mit seinem Krieg der Kulturen und der Liebe. Und mit seinem Appell an uns, den es, wie alles in höchster Spannung Offengelassene, enthält. 329 Experimentieren oder Erzählen? 9 Preisendanz (Anm. 1), S. 150. Richten wir abschließend unseren Blick auf den literarischen Horizont, in dem das Sinngedicht steht und den ich bisher nur einmal kurz gestreift habe. Als Kellers Sinngedicht 1881 herauskam, war Emile Zolas Familienchronik Les Rougon-Macquart (1871-93) schon seit zehn Jahren im Erscheinen, und zehn Jahre nach dem Sinngedicht, 1891, veröffentlichte Arno Holz im literarisch immer etwas verspäteten Deutschland seine Programmschrift Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze. Zola macht den Vererbungsdeterminismus und damit eine bahnbrechende These der Naturwissenschaft seiner Zeit zur organisierenden Struktur seines literarischen Mammutwerks, dessen einzelne Teile die repräsentativen Milieus des sozialen Lebens auf Grund sorgfältiger Recherchen und Sozialstudien mit naturwissenschaftlicher Exaktheit darzustellen unternahm. Es ging ihm um einen naturwissenschaftlich-experimentellen Roman, die Vereinigung von Natur- und Sittengeschichte. Arno Holz formulierte die berühmten Definitionen: „Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein“ und „Kunst ist Natur minus x“. Hier ist die Kunst als Defizienzphänomen gegenüber der naturwissenschaftlich-empirisch verstandenen Natur bestimmt. Ich zitiere Wolfgang Preisendanz, um diesem Bahnbrecher einer Fragestellung meine Reverenz zu erweisen: „1887 möchte Wilhelm Bölsche ‚die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie‘ darlegen; im 6. Kapitel ‚Darwin und die Poesie‘ mahnt er, es sei an der Zeit, daß sich die Poesie über die eigentlichen Gesetze des Menschlichen und ihre Beziehungen zu den Darwinschen Gedanken endlich klar werde. Er fordert, die darwinistischen Linien in der Geschichte zu entwickeln; er meint, das ganze soziale Leben verlange vom Dichter eine Beleuchtung vom Darwinschen Gesichtspunkt aus. Vor allem Darwins Lehre von der Zuchtwahl und vom Daseinskampf seien solche allgemeinen Gesetze, in deren Licht die Dichtung auch die kleinsten Tatsachen des menschlichen Lebens rücken müsse […] Wenig später, im ‚Kunstwart‘ 1887/ 88, weist Bölsche unter dem Titel ‚Charles Darwin und die moderne Ästhetik‘ auf den stetig wachsenden Erfolg einer Entwicklung hin, ‚in welcher die Ästhetik von der rein beobachtenden und experimentierenden Methode der Naturwissenschaft beherrscht wird.‘ Als Förderer dieser Entwicklung gewännen Namen Glanz, deren Zusammenhang mit der Ästhetik augenblicklich noch gar nicht allgemein erkannt werde. ‚Ein solcher Name ist in erster Linie der von Charles Darwin […]‘. Und so wie Bölsche, so verweist Wolfgang Kirchbach ausdrücklich auf Darwin, wenn er 1888 die Frage ‚Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten? ‘ mit der Forderung beantwortet, es komme nur darauf an, das Verlangen nach einem poetischen Weltbild mit der mechanistischen Weltanschauung zu versöhnen und die Poesie der wahren, das heißt der mechanistisch aufgefaßten Wirklichkeit zu entdecken.“ 9 330 Literatur 10 Zum Zusammenhang verweise ich auf meine grundsätzlichen Überlegungen: G.K., Wozu noch Literatur? Über Dichtung und Leben, München 1996 (Beck’sche Reihe). Vor einem solchen Horizont wirkt Keller leicht altmodisch, zumal seine Kenntnisse des naturwissenschaftlichen Denkens, speziell Darwins, nach Hörensagen klingen. Das ist mit der Ernsthaftigkeit der Studien der Naturalisten, die sich an den Naturwissenschaften orientieren, nicht zu vergleichen. Aber es wird nach dem Vorhergegangenen nicht verwundern, wenn ich dieses Altmodische, die erzählerisch eröffnete Opposition Darwin versus Goethe, den Streit der Kulturen, als verkappte Modernität auffasse. Die Natur der Naturwissenschaft der Zeit wird von Keller nicht kopiert, sondern zur Diskussion gestellt, und diese Diskussion erreicht bei Keller ihre Tiefe nicht durch Informiertheit in dieser Sache, in der es jedes Mittagsblatt mit ihm aufnehmen könnte, sondern durch intuitives erzählerisches Erfassen der Kulturtechniken Experimentieren und Verstehen in ihrer Opposition. Lessing, dieser so sehr intellektuelle Dichter, hat im 34. Stück der Hamburgischen Dramaturgie gesagt, dem Genie sei es vergönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß. In diesem Sinne: Keller hat vieles vom Wissen seiner Zeit, speziell vom naturwissenschaftlichen Wissen, nicht zur Kenntnis genommen, ist viel weniger naturwissenschaftlich gebildet als die Programmatiker des Naturalismus. Aber in Keller war ein Etwas, welches weiß, eine seismographische Empfindung für das, was die Zeit erschüttert. Im Sinngedicht wird der Streit der Kulturen episch, nicht logisch durchgearbeitet. Ergiebige Erzählerreflexionen zum Thema sucht man vergebens. Doch in der Dialektik der Figurenbewegung, im erzählenden Deuten, in diesem gestalt- und ereignishaften Denken liegt eine spezifische Leistung der Sprache und vor allem der Literatur. Kellers Novellenzyklus scheint sich dadurch vorzutasten auf ein universales integratives Kulturkonzept hin, das die Einbettung der Naturwissenschaften, soweit sie sich in definierten Feldern exakter Erkenntnis bewegen, in ein offenes Kontinuum sprachlichen Verstehens und Deutens der Welt zum Inhalt und Ziel hat. Der Konflikt zwischen den Kulturen bleibt im Sinngedicht in letzter Instanz ungelöst, aber daß er derart offengehalten werden kann, vollzieht sich und ermöglicht sich auf dem Boden der Literatur. Jede wissenschaftliche und intellektuelle Debatte endet in Dissens oder Konsens. Dichtung endet darin, daß wir alle in einem Boot sitzen. Deshalb kann der Rest nicht Schweigen sein. Aus diesem Befund ergäbe sich eine kulturelle Leitfunktion der Literatur, deren darstellende, in Bildern, Figuren - und Brüchen, Abstürzen, Diskontinuitäten, Widersprüchen sprechende Deutung von Mensch und Welt die differenzierteste und reichste Weise des Weltbegreifens ist, die der Mensch entwickelt hat. 10 Und noch in die Thematik, was Dichtung leistet, stößt das Sinngedicht vor, indem es vom Erzählen erzählt. Freilich läßt es keine Literaten auftreten, aber es läßt Reinhart und Lucie literarisch erzählen, nämlich auf dem gleichen 331 Experimentieren oder Erzählen? 11 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. v. E. Trunz, Bd. 6, 3. Aufl., Hamburg 1958, S. 621. 12 Unter dem (allerdings nicht auf diesen Begriff gebrachten) Gesichtspunkt der zwei Kulturen, die sich in Faber und Hanna darstellen, habe ich den Roman bereits 1958/ 59 in den Schweizer Monatsheften (S. 841-857) interpretiert. Diese Interpretation ist mehrfach wiederabgedruckt, u.a. in: Max Frisch, hrsg. v. W. Schmitz, Frankfurt/ M. 1987 (suhrkamp tb.), S. 200-213. Niveau wie den übergeordneten Erzähler. Und das Sinngedicht zeigt die Funktion und Leistung des Erzählens, die man dahin zusammenfassen könnte, daß es das Happy-End, sei es gebrechlich und fraglich, nicht nur im Liebeskrieg, sondern auch im Konflikt der Kulturen ermöglicht. Das Experiment und das Leben - diese vergleichbare Konstellation geht etwa in Goethes Wahlverwandtschaften von 1809 tödlich aus, und auch zu diesem Werk Goethes gibt es Querverbindungen genug. Auch in den Wahlverwandtschaften steht das naturwissenschaftliche Experiment am Anfang, das sich fortsetzt in die Lebenspraxis der beteiligten Personen und unversehens zum Menschenexperiment wird. Schon der Titel Goethes sagt, daß es hier auf eine Vermengung der Sphären hinausläuft. „Wahlverwandtschaft“ ist zur Goethezeit ein terminus technicus der Chemie, der seinerseits schon eine Metapher aus dem menschlichen Bereich und ein Paradox ist, denn Verwandtschaft ist gegeben, Wahl frei. Der Romantitel ist demnach die metaphorische Anwendung eines naturwissenschaftlichen Begriffs auf die menschliche Sphäre, aus der er als Metapher in die Naturwissenschaft entnommen worden ist, und schon Goethes Selbstanzeige im Morgenblatt für die gebildeten Stände vom 4. September 1809 weist auf diese Seltsamkeit des Titels hin. Er macht, laut Goethe, darauf aufmerksam, daß „auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber, leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen“. 11 Die Verschleppung der Naturnotwendigkeit in das Reich der Freiheit bedeutet die Katastrophe. Reinhart reflektiert ähnlich, ehe er zum Kußexperiment aufbricht, aber sein Weg geht weg vom Experiment, in die Freiheit der Liebe. Er geht über die Brücke des Erzählens. Sie vermag vor der tragischen Wendung zu bewahren, die auch eine Liebesgeschichte unserer Tage über den Streit der Kulturen nimmt. Ich meine den Roman Homo Faber (1957) eines anderen Schweizers, Max Frischs. Er erzählt von einer unglücklichen Begegnung zwischen der Künstlerin Hanna und einem Ingenieur, der sein Leben auf der Grundlage von Konstruktion und Berechenbarkeit führen will. Zwischen ihnen entsteht verderbliches Schweigen, wo Reinhart und Lucie in streithaften Sprachspielen des Erzählens zueinander und in die Welt des anderen finden. 12 Das Erzählen erweist sich im Sinngedicht als ein Zwischenreich, in dem zwar die Regeln des menschlichen Zusammenlebens herrschen, aber doch in einem aus Praxis ausgegrenzten Raum, der dem des Experiments ähnelt. Zwar verwenden Reinhart und Lucie das Erzählen als Waffe in einem 332 Literatur wirklichen Liebesstreit, und schließlich führt das Erzählen ja auch zu praktischen Konsequenzen. Jedoch nicht so, daß irgendwann einmal der Charakter des fiktionalen Stellvertreterkriegs vergessen, die Erzählhandlung mit dem pragmatischen Geschehen vermengt würde. Im Gegenteil. Auf einem Spielfeld, wenngleich zuweilen mit harten Bandagen, werden Konfliktaustragung, Fehlverhalten, Verstehen, Lieben ausprobiert, vom Praxisdruck befreit. Und damit ist das Erzählen nicht nur das Gegenteil des Experimentierens, es ist auch eine Art des Experimentierens. Die Literatur ist das einzige Feld, auf dem Menschenexperimente möglich, legitim und fruchtbar sind, in dem derart zerreißende Spannungen abgebaut und tragfähige Kompromisse entworfen werden können - in Handlungen und Haltungen. Vielleicht auch für den Streit der zwei Kulturen. Soziale Welten im Wassertropfen Fontanes realistisches Erzählen Der Roman „Irrungen, Wirrungen“ beginnt gleichsam mit dem Finger auf dem Stadtplan von Alt-Berlin: An dem Schnittpunkt von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem ‚Zoologischen‘, befand sich in der Mitte der siebziger Jahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei, deren kleines, dreifenstriges, in einem Vorgärtchen um etwa hundert Schritte zurückgelegenes Wohnhaus, trotz aller Kleinheit und Zurückgezogenheit, von der vorübergehenden Straße her sehr wohl erkannt werden konnte. Was aber sonst noch zu dem Gesamtgewese der Gärtnerei gehörte, ja, die recht eigentliche Hauptsache derselben ausmachte, war durch eben dies kleine Wohnhaus wie durch eine Kulisse versteckt, und nur ein rot- und grüngestrichenes Holztürmchen mit einem halb weggebrochenen Zifferblatt unter der Turmspitze (von Uhr selbst keine Rede) ließ vermuten, daß hinter dieser Kulisse noch etwas anderes verborgen sein müsse, welche Vermutung denn auch in einer von Zeit zu Zeit aufsteigenden, das Türmchen umschwärmenden Taubenschar und mehr noch in einem gelegentlichen Hundegeblaff ihre Bestätigung fand. Wo dieser Hund eigentlich steckte, das entzog sich freilich der Wahrnehmung. Das ist, was in den Literaturgeschichten Fontanes realistisches Erzählen heißt. Zur exakten Raumangabe tritt die ebenso exakte Zeitangabe: Mitte der siebziger Jahre, kurz nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/ 71, der die preußische Residenzstadt zur Hauptstadt des neugegründeten deutschen Reiches gemacht hatte. Eine Flut von Kriegsreparationen, ein enormes Bevölkerungswachstum und eine entsprechende Bautätigkeit setzten ein. Die Stadt veränderte ihr Gesicht - ein ähnlicher Umbruch wie heute. „Noch“ aber gibt es idyllische Inseln in Stadtbereichen, die schnell großstädtische Zentren werden - so diese Gärtnerei mit Obstbäumen am Kudamm. Von der Uhr im Türmchen hinterm Haus ist nur ein Stück leeres Zifferblatt übriggeblieben. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Und die Tauben, traditionell Vögel der Liebesgöttin Aphrodite, deuten auf den Handlungsort einer Liebesgeschichte. Aber sie spielt hinter den Kulissen, man weiß nicht recht, wo der Hund begraben liegt - und man weiß es doch schon, denn das Milieu, das da so sorgfältig erzählerisch aufgebaut wird, gibt deutliche Hinweise auf das Versteckte. Die Merkmale der Idylle, einer in die Antike zurückreichenden 334 Literatur Gattung, sind parodistisch zitiert. Inselhaft ausgegrenztes, naturhaftes Leben in Distanz zur großen Welt, naturhafte Figuren - Schäfer und Schäferin, Gärtner und Gärtnerin: Das literarische Modell ist in dieser leisen Schäbigkeit nur deformiert zu erwarten. Das halb weggebrochene Zifferblatt „(von Uhr keine Rede)“ ist mehr noch ein Zeichen der Verlotterung als ein Glückssymbol, und sogar die sonst äußerst gepflegte, schön rhythmisierte Sprache biegt mit dieser Parenthese leicht ins Schnodderige aus. Das hier ist eine Idylle als Auslaufmodell, auf Abbruch. Es geht um eine Offiziersliebelei auf Zeit mit einer jungen Frau aus den unteren Ständen, ein Verhältnis auf der Schattenseite der Gesellschaft, konventioneller Bestandteil des Junggesellenlebens junger Männer aus gutem, womöglich adligem Hause, ehe sie planmäßig in die gesellschaftlich und finanziell gewinnbringende Partie einmündeten. Was hinter den Kulissen des Gesellschaftstheaters spielt, wird durch den Erzähleingang noch einmal hinter die Kulissen des Kleinleutemilieus verlegt, denn auch hier herrscht der Schein, gilt es, kleinbürgerliche Reputation zu wahren. Dergleichen darzustellen, ist realistische literarische Gesellschaftskritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Aber einfach liegen bei Fontane die Dinge nie. Mit großer Kunst stellt seine Geschichte im Rahmen der gesellschaftlichen Regel die Ausnahme, im Üblichen das Unübliche dar und gewinnt so doppelt: Der Grenzfall läßt um so schärfer die Spielregeln des kleinen Grenzverkehrs zwischen den Ständen hervortreten, und die individuelle Ausprägung des Ständetypischen gibt den Figuren Reiz und Interesse. Nicht nur ist die weibliche Hauptgestalt mit dem Dienstmädchenvornamen Lene und dem häßlichen Familiennamen Nimptsch insgeheim auf Grund ihrer Liebenswürdigkeit, Klarsicht und menschlichen Feinheit eine Königin der Geschichte, wie einst jene berühmte Schönheit, die Helena hieß. Das bliebe noch im Rahmen der Erzählkonvention, die die schönen gefallenen Mädchen zu verklären pflegt; man könnte sogar eine gewisse Schwäche dieses Romans darin sehen, daß Fontane seine Heldin mit ihrer Willenskraft und Wahrheitsliebe allzu sehr idealisiert. Doch auch der junge Offizier, der mit ihr angebändelt hat, ist mit großer Sympathie dargestellt. Er ist wahrnehmungsfähig und aufgeschlossen, hat mehr Sinn für einfache Menschlichkeit als für den leeren Gesellschaftsbetrieb seiner Kaste, fällt in Liebe zu Lene, täuscht ihr und sich nichts vor. Aber er ist zu schwach und konfliktscheu, zu ablenkbar und anpassungsfähig, um mit den Konventionen seines Standes zu brechen. Daß nicht nur Lene, sondern auch er mit dem Herzen dabei ist, erzeugt den schneidenden Schmerz nach dem kurzen leuchtenden Glück. Am Ende heiratet er, wie er soll, die reiche Erbin, die oberflächliche Salonschönheit, aber es kostet das halbe Leben. Das Glücksbild des jungen vornehmen, aber bisher kinderlosen Paars am Frühstückstisch, mit dem die Geschichte drei Jahre später schließt, ist doppelbödig und traurig. Die Fenster der herrschaftlichen Wohnung stehen offen, um Licht und Luft einzulassen, die Schwalben im zwitschernden Flug sind 335 Soziale Welten im Wassertropfen Sinnbild des Frühlings, des Lichts und des häuslichen Glücks, aber wieder ist etwas hinter den Kulissen, eine Lüge, die alles Lügen straft. Eine Hochzeitsanzeige, welche die ahnungslose junge Dame gerade in der Zeitung liest, meldet, nur dem Gatten kenntlich, die Eheschließung zwischen Lene, der verlassenen Liebe, und einem Fabrikmeister Gideon Franke; auch das - auf der Seite der Frau - ein konventionelles, alles versteckendes Ende einer konventionellen Affäre: Die bürgerliche Ehe mit einem meist nicht mehr jungen, durch seine Stellung als Hahnrei allemal lächerlichen, aber gut beleumundeten Kleinbürger verdeckt den Schandfleck der vorehelichen Beziehungen der jungen Frau aus niederem Stand. Gideon Franke - das klingt der feinen Dame komisch: fromm und altväterlich. Aber der Premierleutnant Botho von Rienäcker verteilt mit einem verdeckend-offenbarenden Kommentar die Gewichte anders: „Was hast du nur gegen Gideon, Käthe? Gideon ist besser als Botho.“ Botho ist ein Modename aus der Ritterdichtung des 19. Jahrhunderts, und auch dieses pseudoromantische Pseudomittelalter ist unter der Hand schon durch den Erzähleingang entlarvt; denn das taubenumflatterte Türmchen im Hintergrund gehört, wie sich gleich erweist, einem Zwitterding von Remise, Lotterhaus und Scheinarchitektur zu, spöttisch „Schloß“ genannt, das „bis hoch hinauf mit gotischen Fenstern bemalt“ ist. Das Attrappenschloß denunziert den Attrappenritter. Gideon jedoch ist ein Richter und Befreier Israels aus dem Alten Testament. Mit ihrem Gideon hat Lene das bessere Teil erwählt, auch wenn der Schmelz des Lebens ihr mit dem schönen, eleganten Botho abhandengekommen ist. Das freilich sagt der Roman nicht geradezu. Denn auch der Text selber ist verhüllend und vieldeutig, wie die stillen und auf den ersten Blick eher banalen Gegebenheiten, von denen er spricht. Symbolische Andeutungen finden sich auch und erst recht bei Goethe, dem Vorbild des deutschsprachigen Romans im 19. Jahrhundert. Doch bei Fontane nisten sie versteckt in einer atmosphärischen Detailschilderung, die man auch einfach als Protokoll sozialer Befindlichkeiten oder Stadtbeschreibung lesen könnte. Einseitig die Bedeutungsmomente hervorzuheben, tut ihrer dichten, fast selbstgenügsamen Gegenständlichkeit unrecht, die denn doch auch wieder insgesamt etwas bedeutet: In Fontanes besten Romanen sind die Figuren keine Täter mit ausgreifenden planvollen Handlungen; sie sind umstellt von ihren Milieus und in ihnen oft auch Einsame; changierende Gestalten mit zu wenig Entfaltungsraum. Der Mensch als Produkt der Verhältnisse, das ist tatsächlich ein modernes Menschenbild, wie es literarisch seit der Epoche des Realismus verbreitet ist. Aber auch das ist bei Fontane mehrschichtig, denn es gibt bei ihm in aller Milieuverhaftung Freiheitsräume. Der wichtigste ist uns allerdings wenig vertraut. Es ist der Freiheitsraum der Konversation, und seine Figuren beherrschen sie in einem uns befremdlichen Maße, denn sie ist eine Kunst des 336 Literatur Indirekten, die zu unserem: mit der Tür ins Haus! nicht paßt; wohlgemerkt eine partnerschaftliche Kunst. Solange sich die Figuren monologisierenden Betrachtungen hingeben, sind sie eher flach; Prägnanz gewinnt ihr Denken erst im sprachlichen Miteinander, und so ist die Konversation bei Fontane zugleich auch ein Stück funktionierender Gesellschaft. Was allerdings Fontane in seinen Romanen an Gesprächen vorführt, war schon zu seinen Zeiten mehr literarisches Ideal als historische Wirklichkeit: So viele Causeure, wie bei ihm zusammentreffen, hat das Wilhelminische Deutschland gewiß nicht besessen. Fast keine Figur, die nicht pointieren könnte wie der alte Fontane selbst. Gleichviel - bei Fontane ist das Gespräch der Figuren, mitteilend und verhüllend, persönlich und formell, ironisch und auch wieder geradezu, scharf charakterisierend und auch wieder offen lassend, mehr kommentierend als entscheidend, das wichtigste literarische Medium der Menschlichkeit. „Ach, Luise, laß, … das ist ein zu weites Feld“ - wenigstens dieses platte, vage und auch wieder tiefsinnige Bonmot des alten Briest hat sich zu uns als Redensart herübergerettet, und auch die Irrungen, Wirrungen hier erfüllen und eröffnen ein weites Feld: Vor dem abschließenden, wie ein Ritt über den Bodensee hingehenden Gespräch des jungen adligen Paars steht die kurze Schilderung von Lenes Trauung mit ihrem Gideon Franke, dessen Beruf den Zeitenumbruch andeutet: nicht mehr Handwerksmeister, aber Meister in der Fabrik, im Neuen zu Hause und dabei noch ein Mann der alten Zeit, geprägt von Handwerkerethos und protestantischem Sektierertum, „ein hagerer Herr mit hohem Hut und spitzen Vatermördern“. Stichelnde Zuschauerinnen der Trauung aus der umstehenden Menge, „meist Arbeiterfrauen“, also eine weitere soziale Stufe niedriger, machen sich über ihn lustig: „Fuffzig jute hat er doch woll auf’n Puckel un sah eigentlich aus, als ob er seine silberne gleich mitfeiern wollte.“ Das ist scharf gesehen und scharfzüngig gesagt, und wie Gideon bei seinem einzigen Zusammentreffen mit Botho zuletzt seiner konventikelhaften Beredsamkeit freien Lauf läßt, ist nicht ohne komische Befremdlichkeit. Aber Gideon, der Held, ist auch richtig: wie er zu Lene steht, ihr Luft zum Atmen schafft und ihr mit seiner Amerikaerfahrung und seiner Intelligenz ein Partner wird. Und daß er sie mit den überspitzen und übersteiften Kragenenden, die ihn bei der Hochzeit anlaßgemäß, aber ungewohnt schmücken, „gleich dod machen kann, wenn’s wieder munkelt“, trifft gleichfalls als milieutypisch gut formulierte moralische Häme der Proletarierfrauen. Und eine Seite weiter: „Gideon ist besser als Botho“ - auch das stimmt, aber indem Botho es sagt, stimmt die Selbstabwertung Bothos auch wieder nicht, und indem diese Wahrheit Bothos über Botho eine fortdauernde Lebenslüge Bothos kaschiert, hat es mit der Selbstherabsetzung auch wieder seine Richtigkeit - Irrungen, Wirrungen, Labyrinthik und Tiefgang des Banalen. Fontane mit seinem untrüglichen Stilgefühl fand einen genialen Titel: Er öffnet 337 Soziale Welten im Wassertropfen Finsteres und Abgründiges und versteckt es in einem Reim, der aus dem Poesiealbum stammen könnte. Weiß Helene, was stimmt? Sie erhält das Wort nicht noch einmal. Sie wird Gideon ehren, vielleicht lieben, denn sie hat Sinn für menschliche Qualität, es wird nicht wieder munkeln, der Held mit den uneleganten Vatermördern wird kein Mördervater seiner jungen Frau werden müssen. Aber sie wird sich nach Botho sehnen als dem Traum vom großen Glück, der umso tiefer in ihr lebt, je mehr es verloren ist. Stendhal, Balzac, Dickens, Flaubert, Tolstoi entwerfen größere epische Welten, breitere Gesellschaftsbilder, furiose Figuren, spannende Handlungen; Zola, im Romanwerk zeitlich besonders nahe, pflegt ein strikt determinierendes Erzählen, das seine Figuren auf Symptomatik und Funktionalität in panoramisch exakt erfaßten Gesellschaftsformationen festlegt. So imposant ist Fontanes Erzählen nicht; es ist kleinräumig, mikrologisch verschachtelnd und wieder behäbig, atmosphärisch schwebend, polyperspektivisch einkreisend und doch dahinstellend. Aber: Gideon Franke, Fabrikmeister; die von der Gründerzeit zur Disposition gestellte Idylle; die Lüge des eleganten Heims und des elegischen Gatten - das sind soziale Welten im Wassertropfen. Sie wahrzunehmen, erfordert und belohnt geduldige Leser. 1 Bei einigen Gemeinsamkeiten unterscheidet sich dieser Vortrag, der am 12. November 1998 an der Humboldt-Universität in Berlin gehalten wurde, in der Fragestellung von Christine Emigs schönem Aufsatz: „Wagner in verjüngten Proportionen […].“ Thomas Manns Novelle „Wälsungenblut“ als epische Wagner-Transkription, in: Thomas Mann Jahrbuch 7, 1994, 169-185. Emig geht feinstrukturellen Beziehungen im Aufbau der Werke nach. Ich untersuche vorab inhaltliche Bezüge und frage nach dem kritischen Impuls der Novelle Thomas Manns. Bei Emig Angaben zur älteren Literatur. Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ Erzählen als kritische Interpretation Immer wieder hat Thomas Mann als Erzähler und Essayist Richard Wagner umkreist. Unter den dichterischen Reflexen Wagners bei Mann heben sich die Novellen Tristan (1902) und Wälsungenblut (zurückgezogene Erstauflage 1906) durch die direkte Anspielung schon im Titel heraus. Im Zitat Wagnerscher Werke errichten sie eigene fiktionale Sphären; sie sind aber auch erzählerische Deutungen Wagners. Schmal, scharf und ironisch senken sie sich wie Sonden in zwei seiner weitgespannten Gesamtkunstwerke. Selbst bei einem so hoch bewußten Autor wie Thomas Mann zeigt sich dabei, daß seine deutende Energie als Erzähler noch tiefer dringt als seine theoretische Reflexion und prekäre Momente herausleuchtet, die in seiner essayistischen Erörterung von Wagners Werk untergründig bleiben. 1 Das Prinzip Inzest Bereits der Novellentitel Wälsungenblut lenkt die Aufmerksamkeit auf einen entscheidenden, oft bemerkten Eingriff des Rings des Nibelungen in die Stoffwelt der germanischen Götter- und Heldensagen. Die Tetralogie verknüpft die Figuren durch inzestuöse Konfigurationen auf mehreren Ebenen: Gottvater Wotan erzeugt mit der göttlichen Erdmutter Erda die Walküre Brünnhilde, die in einem tief erotischen Verhältnis zu ihm steht. Sie wirken wie Tochtergeliebte und väterlicher Liebhaber. Symbolisch zerschmettert Siegfried, der pubertierende Held, sehnsüchtig und unaufhaltsam zu Brünnhildes Lager vordringend, Wotans Speer, der ihm dabei im Wege ist. Siegfried hat seinerseits die Zwillingsgeschwister Siegmund und Sieglinde zu Eltern, die Wälse, eine Maskierungsfigur Wotans, mit einer Menschenfrau gezeugt hat. 339 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ 2 Siegfried III, 3. Richard Wagner: Die Musikdramen. Vollständige Ausgabe. München: dtv 1978, S. 731. (Seitenzahlen zu Richard Wagner-Zitaten auch im folgenden nach dieser Ausgabe.) 3 Walküre II, 2. S. 613. Die ihm von seinem Großvater Wotan durch die Flammeneinschließung Brünnhildens doppelsinnig vorbehaltene und vorenthaltene Geliebte ist also Siegfrieds Tante. Mehr noch: Wenn Brünnhilde als Walküre der Liebe zu Siegmund verfällt, der mit Sieglinde auf der Flucht ist und dem sie doch auf Befehl Wotans den Tod verkünden soll, gerät Siegmund für einen Augenblick in ein erotisches Dreiecksverhältnis zu seiner Schwester und Halbschwester. Wotans Zorn auf die Tochter Brünnhilde ist noch viel mehr Eifersucht auf seinen Sohn Siegmund wegen ihrer Liebe zu ihm als Entrüstung über ihre Befehlsverweigerung, und diese Eifersucht pflanzt sich auf den noch ungeborenen Enkel Siegfried fort. Vermag Brünnhilde Siegmund nicht zu retten, bewahrt sie doch Sieglinde vor Wotans Verfolgung, damit diese das von Siegmund empfangene Kind austragen kann, ehe sie stirbt. Wenn Siegfried, der als Waise aufgewachsen ist, Brünnhilde später liebend erweckt, hört er von ihr: „Dich Zarten nährt ich/ noch eh du gezeugt/ “. 2 So gewinnt die Tante, die sich mit Siegfried vereinigen wird, für ihn Züge der Mutter. Symbolische Linien des Vaterinzests - mit Wotan - und des Mutterinzests - mit Siegfried - laufen in Brünnhilde zusammen. Alle exogenen Zweierbeziehungen im Ring bilden eine düstere Folie zu solch vielschichtiger Nähe: Wotans Ehefrau Fricka übt auf ihn keine Anziehung aus und ist die Widersacherin seiner Pläne. Die Zeugung Brünnhildes mit der Erdmutter Erda ist sozusagen ein Nebenprodukt von Wotans Durst nach Zukunftswissen. Er veranlaßt Wotan, sich „in den Schoß der Welt“ „hinabzuschwingen“ und die Urgöttin durch Liebeszauber gefügig zu machen. 3 Siegfrieds spätere Ehefrau Gutrune erlangt ihre Macht über ihn nur durch einen Zaubertrank, der ihn Brünnhilde, die wahre Geliebte, vergessen läßt. Die Ehe zwischen Gunther und Brünnhilde ruht auf doppeltem Betrug, und die Ehe zwischen Sieglinde und Hunding ist ein institutionalisiertes Gewaltverhältnis. Auf der Gegenseite des Lichtalben Wotan, vor allem bei dem Räuber und Weltmacht-Usurpator Alberich und seiner Schwarzalben- Nibelungensippe, deutet sich auch motivlich eine Gegenbildlichkeit zur Wotansippe an, die das Inzestmotiv durch eine Art Umkehrung noch einmal unterstreicht: Liebt man dort inzestuös seinesgleichen, so widerstreitet man hier seinesgleichen. Alberich unterjocht seinen Bruder Mime; Hagen spielt mit seinem hilflosen Halbbruder Gunther ein Doppelspiel; der Riese Fafner erschlägt seinen Bruder Fasold im Kampf um den Ring der Weltherrschaft. So gewinnt der Dualismus von Macht und Liebe, der durch die Tetralogie als Weltkampf der Prinzipien hindurchgeht, ein eigenartiges Vorzeichen: Was als freie Liebe erscheint, tritt im Ring nur innerhalb der Wotansippe auf. Diese 340 Literatur 4 Friedrich Dieckmann: Rosalie oder das Liebesverbot. Wagners Schwester in seinen Werken, in: Merkur, Jg. 48, H. 539, 1994, S. 124-139. grundsätzliche inzestuöse Einfärbung erotisch-sexueller Hingabe ist ebenso ein Exklusivitätsmerkmal wie die Zuspitzung aller Durchsetzungstendenzen im Kampf von Brüdern gegeneinander. Wagner selber hat in seiner Abhandlung Oper und Drama von 1851, also aus der Zeit der Ring-Dichtung, im Blick auf die Ödipus-Tragödie des Sophokles die Inzestschranke als kulturell-gesellschaftliche Konvention charakterisiert. Ihre Übertretung erscheint nicht als Regression, sondern - positiv gewertet - als anarchistische Norm-Sprengung durch freie Geister. Hinter dieser These verbirgt sich Wagners seelengeschichtliche Grundgegebenheit. Es ist eine tiefe, kaum zu bewältigende Leidenschaft für seine ältere Schwester Rosalia. Ihr künstlerischer Ausdruck sind inzestuöse Konfliktsituationen, die, wie Friedrich Dieckmann gezeigt hat, 4 Wagners gesamtes früheres Werk organisieren. In Walküre, dem dramaturgischen Knotenstück der Ring-Tetralogie, kommt dieser Druck zur gewaltigen Entladung, wenn Siegmund und Sieglinde enthemmt und triumphal miteinander verschmelzen. Die Szene hat Wunscherfüllungscharakter und entspricht darin Wagners theoretischem Konzept. Trotzdem entrinnt auch Wagner der elementaren Prägekraft des Inzestverbots nicht. Nicht nur nistet in der sexuellen Revolte der Untergang der Wotansippe; der furiose Glanz der Götterdämmerung kann auch nicht gänzlich die Regressions-Problematik in der inzestuösen Exklusivität zum Verschwinden bringen. Sie bildet den letzten Horizont des Geschehens, und Thomas Manns Wälsungenblut, zentriert auf die theatralische Inzestszene in Walküre und ihren schwächlichen Nachvollzug in der Realität, visiert ihn an. Die Aarenholds und die Wälsungen In Thomas Manns Novelle entstammt das miteinander verschlungene Zwillingspaar Siegmund und Sieglind einer jüdischen Geldfamilie und trägt körperliche Merkmale dieser Herkunft, welche die germanisch-wagnerianische Namengebung der beiden lächerlich machen. So besteht eine harsche Diskrepanz zwischen Urbild - Wagners Wälsungenzwillingen - und Abbild, aber doch auf der Grundlage gravierender Ähnlichkeiten der Sphären. Die Anklänge beginnen mit dem hochgestochenen und zugleich unstimmigen, Residenz und Schloß imitierenden Wohn- und Lebensstil der Aarenholds in Wälsungenblut. Ist nicht auch Walhall in Rheingold eine Prunk- und Protzresidenz, noch dazu mit zwielichtiger Finanzierung? Verbirgt sich nicht auch hinter der steingewordenen mythischen Machtgebärde die Unsicherheit des Hausherrn? Wagners Walhall weist in leiser Komik Züge des bürgerlichen Heims auf - halb „my home is my castle“, halb von der Hausfrau arrangier- 341 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ 5 Thomas Mann: Gesammelte Werke. 13 Bde. 2.A. Frankfurt 1974. Bd. VIII, 385. (Nach dieser Ausgabe wird zitiert.) ter goldner Käfig für den nur allzugern ausschweifenden Hausherrn. Fragwürdig wie die Götterherrlichkeit sind die Aarenholds. Die Zwillinge sind aggressiv aus Abwehr und Schwäche. Die jüdischen Verehrer des Antisemiten Wagner leben, wie schon dieses witzige Merkmal ihrer kulturellen Ortsbestimmung zeigt, in einem Grundwiderspruch. Sie sind assimiliatorisch übereifrig in ihrer gesellschaftlichen Selbstinszenierung und bei allem Erfolg doch tief unsicher. Der Haus- und Sippenvater, einst in seiner Selbsteinschätzung „Wurm“ und „Laus“, 5 fühlt sich in seiner neureichen Herrlichkeit wie ein verwunschener Prinz - eine grandiose Fehlleistung des geschwätzig konversierenden Hausherrn, denn im Märchen vom Froschkönig tritt der verwunschene Prinz ja als Kröte auf! Ein einziges Mal - vom Titelwort abgesehen - kommt das Wort „Blut“ in diesem Text vor: Seine Kinder verachten den Alten „für seine Herkunft, für das Blut, das in ihm floß und das sie von ihm empfangen“ (VIII, 384). In ihrer Exklusivität sind sie doch Exkludierte, so distanzbewußt sie ihren Zirkel schlagen, so narzißtisch süchtig besonders die Zwillinge sich bespiegeln, so blasiert und desillusionistisch sie nach dem Inzest zur Tagesordnung überzugehen versuchen. Die antisemitisch anmutenden Schlaglichter in der Schilderung des Aarenholdschen Familienmilieus entspringen einer Erzählweise, die zwischen Außenperspektive und vom Selbsthaß eingefärbter Figurenperspektive der Zwillinge changiert. Sie sind es, die ihr jüdisches Blut als schlechtes Blut empfinden. Dabei läßt die aristokratisch-ästhetische Lebensstildiktatur der Zwillinge nichts gelten außer ihnen selbst. Doch sie wissen nur zu genau, daß immer etwas Unentrinnbares sie elementar in Frage stellt. Die Wertungen der anderen sind, auch unausgesprochen, immer anwesend, weil von den Aarenholds verinnerlicht. Die bei ihnen geltenden Distinktionen - Kavallerieoffizier zu sein, einen Angehörigen des Adels zu heiraten, das Interieur eines Schlosses zumindest kulissenhaft zu rekapitulieren - entsprechen aristokratischem comme il faut, nach dem sich die jüdischen Aufsteiger richten, wobei sie als Imitierende ihrem eigenen Anspruch nach eigentlich echter sein müßten als die Echten. Von ihrem ursprünglich eigenen Wesen ist ihnen nur unbeherrschbare, in ihrer künstlichen Welt negativ besetzte, entfremdete Körperlichkeit geblieben: dunkler Haarwuchs, Physiognomie, feuchte Hände, Sieglinds „Blick, der […] begrifflos redete wie der eines Tieres“ (VIII, 386), wo sie in Faszination und Ekel sich gehen läßt. Die Aarenholdzwillinge sind wie die Wälsungen Ausgestoßene als Auserwählte, und letztlich dem Ausdruck dieser Paradoxie dient der Rückgriff Thomas Manns auf das jüdische Milieu. Das Judentum in einer fremden Umwelt und in seiner Spannung zwischen Assimilation und Selbstbewahrung ist die gesellschaftliche Illustration und das historische Exempel der Ver- 342 Literatur 6 Walküre I, 3. S. 599. 7 Walküre I, 3. S. 603. 8 Walküre I, 3. S. 600. schränkung solcher Widersprüche. Weil sie ihrer nicht sicher sind, suchen die Zwillinge im Geschwister sich selber, ist die Welt ihnen unheimlich, sind sie bei Thomas Mann wie bei Wagner auf der Flucht. Kein Zufall, daß der Inzest ein Lieblingsmotiv gerade der Décadence mit ihrem Weltgefühl der Lebensfremde ist. Wagner, trotz anarchistischer Eskapaden, gehört ihr an, und der junge Thomas Mann steht ihr nicht fern. „Fremdes nur sah ich von je, / […] / Doch dich kannt ich/ […] / als mein Auge dich sah,/ warst du mein Eigen“, so singt Wagners Sieglinde. 6 Siegmunds Selbstbeschwörung: „[…] so blühe denn Wälsungen-Blut! “ 7 macht die Einsamen zu Einzigen und schiebt die Welt ins Nichts. Hier und dort ist Inzest ein Fall in den Spiegel - der andere bin spiegelbildlich ich: „Im Bach erblickt ich/ mein eigen Bild - / […] / wie einst dem Teich es enttaucht,/ bietest mein Bild mir nun du! “ 8 So Sieglinde bei Wagner, die auch noch das Echo als akustischen Spiegel beschwört. Thomas Manns Siegmund zelebriert seine Toilette stundenlang vor einem großen Empirespiegel seines Boudoirs, und vor dem Ineinanderfall mit seiner Schwester bespiegelt er sich sogar in drei Spiegeln gleichzeitig. Er muß sein Profil suchen. Denn der totale Selbstgewinn im Identischen ist nicht nur Nichtigung der Welt, sondern auch totaler Selbstverlust; das Spiegelbild ist auch Inbegriff des entfremdeten Ich. Was die Rettung aus der Lebensfremde scheint, ist Selbstbetrug. Wenn Thomas Manns Zwillinge Siegmund und Sieglind im Nachvollzug der Walküre sich auf dem Eisbärenfell vereinigen, sind sie dem Duft ihrer selbst verfallen, der doch nur ein den Makel überdeckendes Parfum ist: „Sie atmeten diesen Duft mit einer wollüstigen und fahrlässigen Hingabe, pflegten sich damit wie egoistische Kranke, berauschten sich wie Hoffnungslose, verloren sich in Liebkosungen, die übergriffen und ein hastiges Getümmel wurden und zuletzt nur ein Schluchzen waren -“ (VIII, 410). Parfümierende Überdeckung wahrhaft anrüchiger Konstellationen und Situationen - wohnt nicht auch Wagners Musikdrama ein solches Spurenelement inne? Es fällt nur auf den ersten Blick schwer, im triumphalistischen Auftreten der Götter des Wagnerschen Rings die fin-de-siècle Schwäche der Aarenholds wiederzuerkennen, im erkrankten Sonnengeflecht des Hausherrn, das ihn wegen der von dort ausstrahlenden Magenschwäche zur luxuriösen Diät zwingt, den Verweis auf den Lichtjubel der Licht-Asen und den Sonnyboy Siegfried anklingen zu hören. Schlagen nicht auch Wotans Kraftgebärden in schwere Melancholien um, seine Weltmachtphantasien einer Vereinigung von Kraft, Liebe und Freiheit in das heroisch illuminierte Dekadenzbewußtsein der Götterdämmerung? Mehr und mehr wird er müde, auch seiner selbst müde wie die Aarenholdzwillinge in der fremden Welt. Ist er, der die ganze 343 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ 9 Siegfried III, 3. S. 728f. 10 Siegfried III, 3. S. 731. Herrschaft will, denn ganz? Der mythologisch vorgebildete Mißstand der Einäugigkeit, auf den Tausch von Herrschaftswissen gegen Leben zurückgehend, legt einen weiteren Schnitt durch diese Welt, außer dem zwischen Liebe und Macht, und das Zerbrechen des Speers ist lediglich die Konsequenz des Tauschs: Fortschreitende Einsicht läßt Kraft vergehen. Alles ist Rückzugsgefecht. Lebensfremde und Spiegelwelt Der Inzest sagt es als Hintergrund von allem, was geschieht. Für Wotan und Fricka in Walküre ist die Frage der Ehe wichtiger als die des Inzest. Wotan versucht eher beiläufig, den Inzest zwischen den Geschwistern etwa im Sinne der oben zitierten Wagnerschen Abhandlung zu rechtfertigen, indem er ihn dem Neuen zuschlägt, ohne das die Welt in Regeln, Bindungen und Wiederholungen erstarren müsse. Er versucht also eine Verklärung und Funktionalisierung des Inzest im Dienst seines scheinbar universalistisch-progressiven Weltentwurfs. Gesetzessprengend soll die Erlösersippe erzeugt werden: die vermeintlich freien Menschen, die, von Gottvater Wotans Willen abgelöst, auf das hin handeln, was dieser, gebunden durch Gesetz und Verträge, nur heimlich wollen darf: den Ring der Weltherrschaft zurückzugewinnen, ein neues Weltreich der freien Liebe heraufzuholen, sei es schließlich im eschatologischen Untergang der alten Götter selber. Doch gerade diese Täter, mögen sie noch so hell und stark in den Wonnemond jubeln wie Siegmund und Sieglinde, sind Zukunftslose, die ihre Todesnähe überjubeln. So auch Siegfried und Brünnhilde. Bezieht sich Wälsungenblut primär auf die Geschwisterverschmelzung in Walküre zurück, so sekundär auf die inzestuöse Färbung der Liebesekstase von Siegfried, dem Kindhelden, und Brünnhilde, der Mutterrepräsentantin, vor. Der Dümmling hat Fafner erschlagen und den Ring gewonnen; er hat als der furchtlose Held, für den Wotan Brünnhilde vorbehalten hat, die Waberlohe durchschritten, doch wie den Dümmling des Märchens ergreift ihn „feurige Angst“ angesichts der Frau und der Geschlechterliebe, die ein rückhaltloses sich Verströmen an das ganz andere meint. „Mutter! Mutter“ ist sein wiederholter Angstruf - die Rückwendung zur nächstverwandten und ersten Frau, die dem männlichen Kind begegnet. Weil die entwaffnete schlafende Schlachtmaid ihn an die Mutter denken läßt, ist sie „Heiliges Weib“, 9 versteht Siegfried Brünnhildes Aussagen allzuschnell als Selbstvorstellung der ihm unbekannten, weil in frühester Kindheit verlorenen Mutter: „So starb nicht meine Mutter? / Schlief die minnige nur? “ 10 Mit der Opposition von heiligem Weib und minniger Mutter 344 Literatur 11 Siegfried III, 3. S. 731. 12 Siegfried III, 3. S. 735. 13 Siegfried III, 3. S. 735 14 Siegfried III, 3. S. 738. 15 Siegfried III, 3. S. 737. 16 Siegfried III, 3. S. 737. 17 Siegfried III, 3. S. 737. ist das Spannungsfeld der inzestuösen Begegnung von Pseudo-Mutter und Sohn abgesteckt, dem Brünnhilde alsbald wiederum den narzißtischen Selbstbezug einschreibt: „Du wonniges Kind! / Deine Mutter kehrt dir nicht wieder./ Du selbst bin ich, / wenn du mich Selige liebst.“ 11 Wenig später versucht Brünnhilde, nun selber von Furcht vor der Liebe als Drohung des Selbstverlusts ergriffen, Siegfried vor dem Vollzug der Vereinigung zurückzuschrecken, indem auch sie das narzißstische Spiegelgleichnis heraufbeschwört: „[…] Sahst du dein Bild/ im klaren Bach? / Hat es dich Frohen erfreut? / […] So berühre mich nicht,/ trübe mich nicht! “ 12 Die Geliebte soll, unberührt, Spiegel bleiben; das wäre die Beseitigung der Sexualangst durch Vermeidung der Liebeshingabe, die idealiter den Menschen unbedingt aus sich heraus ins Entgegengesetzte gehen läßt. Daß auch die reife Brünnhilde schließlich die Angst überspringen und sich dem unerfahrenen Jüngling hingeben kann, ist die Folge der Konstellation, die von vornherein das Fremde entschärft und besänftigt. Denn im quasi Mutter-Kind-Inzest, der sich nun zwischen Neffe und Tante vollzieht, stellt sich der Spiegel der Selbstbegegnung erst eigentlich her, den sie zunächst als Alternative der „wütenden Nähe“ 13 geschlechtlicher Vereinigung ihm vorhält. Statt in der Unergründlichkeit des Liebespartners die Unergründlichkeit der Welt erfahrbar zu machen und freizugeben, läßt der inzestuöse Spiegelblick die Welt im Ich aufbrennen, allerdings darin auch das Ich sich verlieren; denn wenn das Fremde Ich ist, ist auch das Ich das Fremde und damit sich entschwunden. Wohl mündet der 3. Akt von Siegfried in eine Art Himmelfahrt der Lust, wohl mündet die letzte Annäherung der Liebenden in einen weltsprengenden Exzeß, der alle Hemmungen wegreißt, aber als Sturz in ein All, das das Nichts ist. So erfährt Brünnhilde den Sprung in die Liebe als enthusiastischen, bejahten Schritt zum Selbstverlust in der Vernichtung ihres vertrauten Weltbezugs: „Nacht der Vernichtung,/ neble herein! “ 14 Sie hört auf, Brünnhilde, die Walküre zu sein, die sie trotz der Bestrafung durch Wotan in ihrem flammenbehüteten Schlummer geblieben ist, indem sie voll und ganz Mutter-Geliebte wird. „Lachend muß ich dich lieben,/ lachend will ich erblinden“, 15 weil Siegfried für sie noch in der Leidenschaft der Vereinigung „kindischer Held“ und „herrlicher Knabe“ bleibt, 16 und er selbst bestätigt: „das Fürchten, mich dünkt,/ ich Dummer vergaß es nun ganz.“ 17 Tatsächlich biegt die Handlung hier aus dem Schema des Dümmlingsmärchens aus, denn im Märchen wird der Dümmling durch die Initiation in die exogene Liebe, die ihn das Fürchten 345 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ 18 Siegfried III,1. S. 721. 19 Götterdämmerung Anhang 13. S. 897. lehrt, zum wissenden Mann; Siegfried aber lernt nichts, als was ein männliches Kind immer schon kann: Es liebt die Mutter ewig und vergißt sie doch, sobald das Abenteuer lockt. Indem Siegfried in Brünnhilde - als Mutter und Spiegel - ankommt, ist sie ihm schon verloren, die Welt nicht gewonnen. Siegfried wird mannbar, aber kein Mann. Fahrlässig ahnungslos schenkt er Brünnhilde den Nibelungen-Ring der Weltherrschaft als Liebespfand, gedankenlos geht er mit der Tarnkappe um, reiner Tor, törichter Held, gedankenloser Betrüger in einem. Als Musikdramendichter bringt Wagner auch ans Licht, wie problematisch seine ursprüngliche Vision von Siegfried als exemplarischem Menschen, dem Inbegriff des Unwillkürlichen ist. Er ist infantil. Es gibt bei ihm keinen großen Reflexionsmonolog, keinen argumentierenden Streitdialog. Noch die weltbewegende Entscheidung, den Nibelungenring den Rheintöchtern zurückzugeben oder nicht, mißrät ihm zur bloßen Mutprobe. Seine Weltfahrt, die Ehe mit Gutrune, das Vergessen Brünnhildes, der Tarnkappenbetrug, die Neigung zur sexuellen Freibeuterei, wie sie sich im Verhalten zu den Rheintöchtern zeigt, sind korrektive Impulse, die aus der inzestuösen Innenwendung herausdrängen, aber sie bleiben dumpf und lassen ihn in den Untergang stolpern, für den der Fluch Alberichs auf den Ringträger nur ein theatralisches Vehikel ist. Und Brünnhilde, sehend geworden durch diese Katastrophe, gibt in einem ganz anderen Sinn, als Wotan vermeinte, am Ende den Ring der Macht an die Rheintöchter zurück: durch ihre eigene Todesvereinigung mit dem toten Siegfried auf dem Scheiterhaufen, der von den Fluten des Rheins überstiegen wird. Wotan hoffte, in der Götterdämmerung einem freien menschlichen Geschlecht den Platz zu räumen - „[…] dem ewig jungen/ weicht in Wonne der Gott“ 18 -, aber tatsächlich versinken seine Hoffnungsträger in einem flammenden und flutenden Tod. Brünnhildes Anrede an die Zurückbleibenden: „Ihr, blühenden Lebens/ bleibend Geschlecht“ 19 wird nicht komponiert. Übrig ist eine bedeutungs- und gesichtslose Masse, quasi das Insektenheer nach dem Atomtod. Wenn Brünnhilde zunächst die Rückgabe des Rings an die Rheintöchter verweigert, stellt sie die Liebe höher als Götter und Welt; wenn sie ihn zuletzt zurückgibt, geht es ihr nicht mehr um Rettungen von irgend etwas, sondern um Vereinigung im Verschwinden: der Toten im Feuer, des Rings im Wasser der Reinigung und des Vergessens. Verklärte Katastrophe Trotzdem ist unverkennbar, daß dieses Ende, so tödlich es ist, bei Wagner eine Aura heroischer Vollendung umgibt. Indem sie mit Hilfe der affirmativen Kraft der Musik als non plus Ultra erstrahlt, bleiben Tetralogie und Novelle 346 Literatur 20 Walküre II, 2. S. 611. 21 Walküre III, 3. S. 651. bei aller Bezugnahme und Nähe auch weit geschieden. In Thomas Manns Novelle ist der Inzest hoffnungsloser Halbernst und macht die Aussichtslosigkeit einer trivialen Familienkonstellation deutlich. Doch wenn bei Wagner die Götterdämmerung mit der Todesvereinigung des exemplarischen Paars einbricht, brennt eine mythische Welt auf in ihrem Untergang. Die inzestuöse Konfiguration hat ein Konglomerat dramatischer Konflikte und ideeller Antinomien überformt, die ihre Dignität aus vielen Jahrhunderten europäischer Tradition gewinnen. Die Opposition von Liebe und Macht, Wissen und Kraft, die Herabstimmung von Herrschaftswissen zu Verlaufswissen sind schon angesprochen. Daß der göttliche Weltregent Wotan mit einer Menschenfrau den Sohn zeugt, der, spontan, ja sogar unter dem Zorn des Vaters doch des Vaters Willen erfüllend, zum Erlöser der Welt vom Fluch der Sünde werden soll, variiert die Grundfigur des christlichen Glaubens und eröffnet tief im 19. Jahrhundert noch einmal das Spiel der Theodizee in christlicher Version. Warum läßt Gott das Übel in der Welt zu und bedarf des Sohns, um vom Bösen zu erlösen? Noch allgemeiner öffnet sich die Opposition von Freiheit und Determination als „Götternot“. 20 Indem Wotan, der Gott, Kinder zeugt, die tun sollen, was er nur wollen kann, verfällt er der Paradoxie: Freiheit kann nicht aus Determination hervorgehen. So erweist sich das Neue als unmöglich, weil immer schon von Folgen des Alten überholt. Derart windet sich Wotan als mächtigster und zugleich unfreiester Gott in den Fallstricken unechter Alternativen und einander widerstreitender Gefühle zwischen Loslassen und Bewahren der Macht, freier Liebe und erotischem Besitzanspruch. Das markanteste Beispiel für diesen Widerstreit der Impulse ist Wotans Urteilsspruch über die in Ungnade gefallene Brünnhilde. „Wer meines Speeres/ Spitze fürchtet,/ durchschreite das Feuer nie! “ 21 Fluch und Verheißung verschränken sich in Wotans Bann über ihr von der Waberlohe eingeschlossenes Felsenlager: Brünnhilde wird darin scheinbar allen abgesprochen, in Wirklichkeit Siegfried zugesprochen, der furchtlos Wotans Machtspeer zerbricht, an dem Siegmund scheitern mußte. Wotan verkündet mit dem Machtspruch seine Ohnmacht, die den Speer als Vorzeichen seiner Abdankung wird splittern lassen. Und doch liegt in dem Wort auch die Todesdrohung für den, der dem Vater die Tochter wegnehmen wird, eine Drohung dessen, der die Tochter, weil er sie selbst nicht besitzen wird, jedem im tiefsten Grund seines Herzens mißgönnt. Der feuerumhüllte Brünnhildenfelsen ist der Altar der jungfräulichen Tochter, die es zum Zorn des Göttervaters gewagt hat, sich in den Halbbruder Siegmund zu verlieben. Daraufhin soll zur Strafe erst ihre Jungfräulichkeit an jeden Beliebigen weggeworfen, dann Siegfried, Siegmunds Sohn und Wotans Enkel, gegönnt und 347 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ insgeheim doch am liebsten verewigt werden, nachdem der Vater Wotan ihr die Gottheit weggeküßt hat - eine paradoxe Geste liebender Bestrafung und bestrafender Liebe, vereinigender Trennung und trennender Vereinigung. Die Waberlohe als - der tiefsten Intention nach - Medium letztlich lebensfeindlicher Bewahrung der schlafenden Jungfrau vor jeder Lebensberührung ist die vorletzte Konsequenz der inzestuösen Verschlingungen vor der letzten: der Götterdämmerung. Noch mehr als sein Enkel Siegfried erweist sich in derartigen Verstrickungen sein Göttergroßvater Wotan - trotz der in Wagners Text größten Reflexionshöhe dieser Figur - als Dummkopf von tragischer Grandeur, der sich immer tiefer in den Spielregeln seines eigenen Weltspiels verheddert. Denn schließlich ist ja weder Siegmund noch Siegfried, sondern die bestraft-sakralisierte Brünnhilde der einzige freie Mensch, auf den Wotan hofft und den er nach der für ihn so schmerzlichen freien Tat nicht erkennt: der bewußt und aus eigenem Entschluß gegen Wotans Willen doch seinen Willen tut - freilich zu einem dann unvorhergesehenen Ende. Die Frau als Erlöserin - das ist nicht neu; hier aber wirkt sie als Auflöserin des gordischen Knotens der Welt. Nach allen Verknäuelungen bleibt nur die Götterdämmerung als Weltbrand, für den die Waberlohe die Generalprobe war - das Feuerwerk des Superzeichens Inzest, des Symbols der Symbole: Ring der totalitären Exklusionen von Seiten des Lichtalben Wotan, der überall nur seinesgleichen will, indessen der Ring der Kausalitäten ihn erstickt und der Machtring des Schwarzalben Alberich verlorengeht. Das Lichtreich ist ein Spiegelkabinett. Das andere ist nicht das Andere, das man sich vertraut machen kann; es ist schwarz: der Feind draußen. So beginnt Wotans Bühnenleben in Rheingold mit einem Festungsbau und endet Wagners Tetralogie mit einer Implosion. Bei Wagner findet die Illuminierung dieser Konstellation statt, aber sie besitzt trotzdem eine finstere Schlüssigkeit und Evidenz. Und auch die Verklärung liegt nicht, wie nach Wagners theoretischer Äußerung zu erwarten wäre, auf der Sinngebungslinie des Inzest als anarchistischer Freiheitstat. Von allen oft erörterten ideellen und historischen Motivationen Wagners einmal abgesehen, ermöglicht sich diese Verklärung daraus, daß der narzißtische Rückfall in die Quelle, die inzestuöse Heimkehr in den Ursprung als Ziel ideale Bilder der narzißtisch-inzestuösen Regression hergeben. Sie werden von Wagner grandios inszeniert und instrumentalisiert. Diese Bilder gründen darin, daß jedes Leben, auch das voll und ganz gelebte und an die Andersheit der Welt verausgabte Leben, einen Überschuß unerfüllter Sehnsucht nach absoluter Harmonie und Stillung enthält, wie sie als Identität von Liebe und Tod imaginiert werden kann. So sind wir empfänglich für solche Verklärung, die im Untergang wohnt. In Tristan erweist sich alles Leben als Leben zum Tode und damit zur unendlichen Erfüllung im endlichen Vergehen, aber was nur als Umweg dahin erscheint, all diese Liebesverirrungen, das sind in Wirklichkeit die Ermöglichungsschritte dieser Erfahrung. Im Ring des Nibelungen ist die Götter- und 348 Literatur 22 Walküre III, I. S. 637f. 23 Götterdämmerung Anhang 13. S. 898. 24 Zitiert nach Hans Rudolf Vaget: Thomas-Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München: Winkler 1984, S. 156. Zur Frage des Antisemitismus der Novelle s. Nachum Schoffman: Manns „Wälsungenblut“ and Wagners „Walküre“. In: The Music Review, Jg. 55, H. 4, 1994, S. 293-310. Dort weitere Literatur. Heldendämmerung absolut, die Welt am Ende. Wenn Brünnhilde in Walküre Sieglinde verkündet, den „hehrsten Helden der Welt“ von Siegmund empfangen zu haben, antwortet diese in höchster Inbrunst: „O hehrstes Wunder“. 22 Daß diese Melodie den krönenden Abschluß der Götterdämmerung bildet, feiert nicht die Liebe als Leben, sondern die Liebe als Tod: Der hehrste Held, die Frucht des Inzest, wird verklärt als Toter, nicht als verheißener Retter. „[…] selig in Lust und Leid/ läßt - die Liebe nur sein. -“, Brünnhildes Schlußsentenz, entfällt. 23 Sie ist nicht nur sprachlich eine Trivialität. Sie wäre eine vor dem Abgrund aufgestellte Operettenkulisse. Destruktion der Tragik in Wälsungenblut Ganz anders Wälsungenblut. Hier wird die tödliche Großartigkeit und großartige Tödlichkeit der Ringkonzeption destruiert, indem sie insgesamt auf den Boden einer banalen Wirklichkeit und eines parlando-Erzählens herabgeholt wird. Die Tragödie führt gattungsgemäß in die Katastrophe. Die Erzählung kennt solche Notwendigkeit nicht und kann sagen, daß das Endspiel doch das Endspiel nicht ist. Nach dem Inzest wird weitergewurschtelt, wenn auch auf noch tiefer zerrütteter Basis als vorher - ein epischer, kein dramatischer Schluß, ein Beitrag zur Depotenzierung des tragischen Furor. Die Ehe Sieglinds mit dem ahnungslosen Verlobten wird trotz allem geschlossen werden. Der ursprünglich vorgesehene, nachträglich von Thomas Mann entschärft Schlußsatz schreibt eine tragikomische Konstellation fest: „nun […], was wir mit ihm sein? Beganeft [betrogen] haben wir ihn, den Goy.“ 24 Das Exklusivpaar schließt nach dem Inzest definitiv den nichtzugehörigen Dritten aus, in dem es definitiv sich mit dem Dritten abfindet. Und es nagelt sich definitiv darauf fest, daß das, was ihre Exklusivität begründet, in ihrem eigenen Bewußtsein ihr Makel ist. Sie zitieren jiddische Ganovensprache und fallen dabei auf das zurück, was sie wesentlich zu sein meinen und was sie verabscheuen. Aber sind sie es wesentlich? Wirklich wesentlich ist, daß sie das Jiddische nur zitieren. Wesen und Zitat sind bei ihnen wechselwendig eins. In diesem Schluß der Novelle liegt interpretatorischer und analytischer Impetus. Wagnersche Todesverherrlichungen sagen nichts anderes, als daß die Tödlichkeit der inzestuösen Implosion kein Argument gegen sie ist. Thomas Manns Novelle nimmt die Partei des Lebens, auch wenn es nur so weiter treibt, auch wenn sich seine Möglichkeiten weniger im Inhalt als in der 349 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ 25 Renate Böschenstein: „Der Erwählte“ - Thomas Manns postmoderner Ödipus? in: Colloquium Helveticum, Jg. 26, Frankfurt/ Main u.a.: Lang 1997, S. 71-101. Daneben verdanke ich dem Gespräch mit der Verfasserin wichtige Hinweise. Gelassenheit des Erzählens manifestieren. Die Novelle denunziert den Kurzschlußcharakter von Räuschen, die, kühl betrachtet, als Progression in die Regression erscheinen. Der Schluß von Wälsungenblut relativiert und kritisiert derart den tödlichen Totalitarismus von Wagners Ring des Nibelungen, ohne dem Werk zu nahe zu treten, denn Parodie setzt Liebe voraus, und das künstlerische Werk läßt - im Gegensatz zur diskursiven argumentativen Kritik - das künstlerische Werk neben sich bestehen. Beide bestehen ja für sich selbst. Parodie setzt auch Nähe voraus. Wie bei Wagner ist bei Thomas Mann die inzestuöse Neigung ein Motiv der eigenen Biographie, das sich im Mannschen Werk auslebt und seine Resonanzbeziehung zum Werk Wagners mitbegründet. Es ist doch wohl mehr als ein Scherz, daß Thomas Mann in einem Brief an Bruno Walter vom 26.3.1948 über seine Beziehung zur Tochter Erika in analogisierender Anspielung auf Wotan und Brünnhilde spricht. Schwingungen des Geschwisterinzests kommen vor im Verhältnis Thomas Manns zu seiner Schwester Julia wie im Verhältnis Heinrich Manns zu seiner Schwester Carla wie im Verhältnis Klaus Manns zu seiner Schwester Erika. Dem korrespondieren narzißtische Züge der Persönlichkeit und künstlerische Produktivität. Mag die übersteigerte Selbsteinschätzung der Aarenholdzwillinge inadäquat sein, gibt es bei Thomas Mann doch mehrfach - und seit der späteren Beschäftigung mit Freud und Karl Kerényis mythologischen Studien verstärkt und bewußt - das Motiv des Geschwisterinzests als Auszeichnung und Elitemerkmal. Am deutlichsten ist es literarisch ausgeprägt in der Herkunftsgeschichte des „Erwählten“ aus einem Geschwisterinzest, der in der zweiten Generation durch einen Mutterinzest überboten wird. Gerade vom Erwählten her wird aber auch in der Übereinstimmung mit Wagner der Unterschied deutlich, der erst zur parodistischen Distanznahme und kritischen Durchleuchtung befähigt: Bei Thomas Mann fehlt das revolutionäre Pathos der Konventionssprengung im Inzest, das sich in Wagners Ödipus-Deutung geltend macht und erst aus der Tiefe der Ring-Tetralogie heraus pessimistisch gebrochen wird; bei Mann ist die Exklusivität inzestuöser Paare immer zugleich und von vornherein hochproblematisch und ein Dekadenzsignal. Die Erwähltheit des Erwählten gründet in elemementaren Verfehlungen, letztendlich in narzißtischer Selbstbefangenheit, für die als tiefste Sünde tiefste Buße zu leisten ist, die doch die Sünde nicht löscht, sondern dialektisch aufhebt: „Kein Platz war für mich unter den Menschen. Weist mir Gottes unergründliche Gnade den Platz über ihnen allen, so will ich ihn einnehmen […]“ (VII, 229), sagt der Erwählte Gregorius als Papst. Der wird zum Heiligen Vater über allen anderen Menschen, der in seiner Selbstbezogenheit mit ihnen nicht leben konnte. 25 350 Literatur 26 Hans Wysling: „Königliche Hoheit“, in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze 1963-1995, hg. von Thomas Sprecher und Cornelia Bernini, Frankfurt/ Main: Klostermann 1996 (= Thomas Mann-Studien. Bd. XIII. Hg. Thomas Mann-Archiv. S. 219-230, hier S. 223.) Vgl. auch grundsätzlich: Ders.: Narzißmus und illusionäre Existenzform. Zu den „Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull“. 2. Aufl. Frankfurt/ Main: Klostermann 1995 (= ebd. V). Die Negativladung des Inzest tritt in Wälsungenblut früh massiv heraus, vermutlich wieder hervorgelockt durch biographische Gegebenheiten. Wie häufig zeigt sich auch bei Thomas Mann, daß die eigene psychische Problemlage der narzißtischen Persönlichkeit in der biographischen Umwelt Korrespondenzen geradezu hervorlockt. Obwohl Thomas Mann das öffentlich bestritten hat (XI, 557ff.), sind zuletzt noch einmal durch Hans Wysling die offensichtlichen Querverweise und affektiven Bezüge der Novelle auf die jüdische Großbürgerfamilie Pringsheim energisch hervorgehoben worden, aus der Thomas Manns Ehefrau Katja stammt. Wie mir scheint, zu recht. Erstens sind Thomas Manns Äußerungen entschieden taktischer Natur; zweitens kann den Beteiligten selbst durchaus unterstellt werden, daß sie nicht allzu genau wissen wollten, in welche dubiosen Schichten ihre psychischen Tiefenströmungen hinabreichten. Selbst wenn es in erster Linie die als skandalös antisemitisch empfundenen Züge der Novelle gewesen sein mögen, die den Schwiegervater Pringsheim die Einstampfung des schon für 1906 gesetzten Texts verlangen ließen - erst 1921 erschien ein Privatdruck -, drängen sich doch die Ähnlichkeiten der familiäre Konstellation auf, die dem Antisemitismusvorwurf erst seine Pikanterie verliehen. Die Aarenhold-Zwillinge Siegmund und Sieglind erinnern an die Zwillinge Katia und Klaus Pringsheim. Angesichts ihrer spielerischen Vertrautheit miteinander empfand Thomas Mann eine ähnliche Unbeholfenheit, wie er sie dem Verlobten Sieglinds in der Novelle zudenkt. In einem Brief an Heinrich Mann vom 27.2.1904 vergleicht er sich in Beziehung auf Katia mit einem Märchentölpel: „Klumpe Dumpe fiel die Treppe herunter und erhielt dennoch eine Prinzessin zur Frau.“ Der ausgeschlossene Dritte in der Geschwisterkonstellation, der ausgeschlossene Narziß des narzißstischen Paars zu sein - das gibt Thomas Mann die sehnsüchtige und zugleich kalte Wut und die wütende Sehnsucht, deren Widerspiel Wälsungenblut untergründig bestimmt. Von hier erklären sich die satirischen Übersteigerungen in der Zeichnung der Aarenholds, die sie zum Zerrbild der Pringsheims machen. Von hier scheint mir auch die Schärfe der gestalterischen Kritik am narzißtisch-inzestuösen Weltspiel des Rings des Nibelungen ermöglicht. Hans Wysling spricht von der „kaum verhüllte[n] Rache eines jungen Ehemannes, der in das enge geschwisterliche Verhältnis seiner Frau mit ihrem Zwillingsbruder nicht recht einzudringen vermochte.“ 26 Indem er das Zwillingspaar der Novelle in einen halb lächerlichen, halb durchtriebenen Inzest fallen läßt und so literarisch stellvertretend in den tragikomischen Skandal - statt in die Welttragödie - 351 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ schickt, trennt der Ehemann als Autor Katia Pringsheim von ihrem realen Zwilling ab. Die literarische Fiktion wird zum Skalpell. Der Mythos und seine Destruktion Doch es muß noch von der Psychologie in die Zeitgeistanalyse ausgegriffen werden, um die Wagner-kritische Valenz von Thomas Manns Wälsungenblut voll auszuschöpfen. Thomas Mann hat Wagners Eigenart, Gesellschaftskritik ohne Gesellschaftsdarstellung zu betreiben, essayistisch und dichterisch kommentiert. Der Essay Leiden und Größe Richard Wagners stellt die Aussparung der Gesellschaft fest, die sich im mythologischen Konstrukt von Wagners Ring vollzieht. Es erzeugt einen Raum, der die totalitaristische Todesverklärung ermöglicht, weil in ihm die relativierenden Realitätsbezüge in einem konkretisierten menschlichen Handlungsraum entfallen. Das mythologische Konstrukt erlaubt es zugleich, die Signatur des 19. Jahrhunderts mit seinen ausgreifenden, exponentialen Umwälzungsprozessen, die Selbstläufigkeit des Katastrophischen, die ein so wichtiger Faktor der Vorgeschichte des 20. Jahrhunderts ist, in monumentalen, trotz gewaltiger Taten und Leiden determinierten Figuren zu personalisieren. Während die doch vielerorts im Ring fast prophetisch heraufscheinende Geschichte des 19. Jahrhunderts die Entscheidungsträger immer mehr zu Exponenten gesellschaftlich-politischer Gegebenheiten macht und die großen Umwälzungen zunehmend anonymisiert, während soziale Massenhaftigkeit immer größere Bedeutung gewinnt, stilisiert Wagner sein Weltspiel zu exklusiven Dialogen vereinzelter Gestalten, unendlichen Wechselgesängen, in denen Gruppenpartien zurücktreten, Chorpartien fast ganz fehlen. Das klassische Mittel der Oper, Massen auf der Bühne präsent werden zu lassen, der Opernchor, ist im Ring kaum angewendet; charakteristisch, daß Alberichs Arbeiterheer stumm bleibt und nur im rhythmischen Hammerschlag der Arbeit musikalisch laut wird. Wagners mythische Figuren stehen zudem auf einer Naturbühne, die noch einmal mit letzter Anstrengung den Schein der symbolischen Verweisung von Kultur und Natur aufeinander herstellt, der in Deutschland nach Klassik und Romantik vergangen ist. Die Götter- und Weltdämmerung ermißt sich an der fortschreitenden Zerstörung eines urzeitlich gegebenen Zustands bei sich seiender ganzheitlicher Natur. Wälsungenblut dagegen schreibt, wie gezeigt, die Gesellschaft in ihrer historischen Spezifik der dramatischen Konzeption ein. Die Novelle widerruft so zugleich den direkten Rückbezug auf die Natur, der sich bei Wagner in großartigen Entsprechungssymbolen zwischen dem Untergang der Götterwelt und der Naturwelt darstellt. Wotan ist es, der die im Urquell mit dem Leben selber identische, in sich schwingende Lebensweisheit mit dem Opfer seines Auges erkauft und zum Herrschaftswissen 352 Literatur entfremdet, der mit dem Schnitzen des Herrschaftsspeers aus einem Ast der Weltesche diese zum Verdorren bringt und schließlich den Scheiterhaufen des Weltbrands aus dem Holz der gefällten Weltesche schichten läßt. Dieser Verschleiß der Natur wird nicht einfach rückgängig gemacht im letztendlichen Heimfall des Nibelungengoldes an die Rheintöchter, denen es durch Alberich entwendet worden ist. Denn Feuer und Wasser sind nicht schlechthin Natur; sie sind Zeichen triumphierender Gestaltlosigkeit am Ende eines irreversiblen Prozesses. Loge, janusköpfig Naturkraft des Feuers und Gott zugleich, mutiert, von Wotan in Dienst genommen, zum Motor der Geschichte, die sich zwischen Gut und Böse spannt, und schließlich zu deren Liquidator im Weltbrand der Götterdämmerung. Er ist die Natur selber im Sündenfall. In Wälsungenblut kommt Natur von vornherein nicht mehr eigenständig vor, sondern nur als Metapher und Reflex der Perversion der Gesellschaft. Das zeigt sich in der jargonhaften Redeweise vom schlechten Blut der Aarenholds und der Parodierung der Sonnensymbolik im Motiv vom kranken Sonnengeflecht des Familienoberhaupts; das zeigt sich in Sieglinds absurder Pointe: „Nachmittags im Smoking? […] Das tun doch sonst nur die Tiere.“(VIII, 387) Intensiviert wird diese Perversion in der Schilderung des Theaterbesuchs der Zwillinge. Penetrant wird dabei der Widerspruch zwischen der Künstlichkeit der Darstellung und der Naturmächtigkeit des Dargestellten herausgehoben - sei es, daß der in der Theaterszene tobende Sturm noch den Theatervorhang auseinanderzuwehen scheint, sei es, daß beim Aufspringen der Tür unter der nächtlichen Gewalt der Frühlingsoffenbarung der Glanz der Vollmondnacht als eine Flut von weißem elektrischen Licht sich auf die Bühne ergießt, sei es, daß dem halb verschmachteten Helden neben der blonden Perücke ein brotfarbender Bart, der Heldin ein mit Fell behangenes Musselinkleid zugeordnet wird. Wichtiger als diese in jeder Opernparodie wohlfeil zu habenden Knalleffekte ist der grundsätzliche Befund, daß allein schon die Vergegenwärtigung der Ring-Handlung als Bühnenereignis Natur und Mythos im Gesellschaftlichen aufhebt. Erzählt wird nicht der Mythos, sondern was aus dem Mythos auf dem Theater des 19. Jahrhunderts in letzter Konsequenz wird: das Gesamtkunstwerk. In Wälsungenblut stehen also nicht einfach absolute Kunstssphäre - die schöpferisch hervorgerufene mythische Welt der Urbilder - und sekundärer, trivial lebenhafter gesellschaftlicher Nachvollzug gegeneinander; vielmehr wird das Kunstwerk selbst von vornherein durch die Uneigentlichkeit und Gebrochenheit der theatralischen Realisation destruiert. Der Riß zwischen Urbild und Abbild zieht sich durch den Akt der Evokation selber; der imitative Nachvollzug der szenischen Situation durch die jüdischen Zwillinge ist in der von Thomas Mann eröffneten Perspektive ein Abklatsch des Abklatschs. Das Bärenfell als Urweltsymbol, auf dem Siegmund und Sieglinde bei Wagner ihr Liebeslager finden, wird konterkariert durch das Bärenfell als exotisches 353 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ und zugleich in dieser Bedeutung konventionelles Akzessoir in Siegmunds Herrenzimmer, auf dem er sich mit seiner Schwester verschlingt. Der schicksalsschwere Inzest, den die Zwillinge nur als halb läppisches und „hastiges Getümmel“ nachvollziehen (VIII, 410), war schon vorher nur Theaterspiel, und doch werden beide in diesem Nachvollzug hinabgezogen „in ein tiefes Reich, wohin sie noch nie gelangt“ (VIII, 410). Selbst im schwachen Abglanz der Werk-Idee behält sie eine Spur ihrer zwingenden Kraft für die inhaltlosen, aber sensiblen Nachempfinder. Erzählen versus Gesamtkunstwerk In Leiden und Größe Richard Wagners hat Thomas Mann dargelegt, Wagners Programm des Gesamtkunstwerks speise sich auch aus einem Bodensatz von Dilettantismus. Er habe Wagner dazu geführt, keiner der spezifischen Wirkungsmöglichkeiten der verschiedenen Künste voll zu trauen, vielmehr auf einen synergetischen Effekt übergreifender Dynamik zu setzen, der, wie oft bemerkt, Züge des Kinos, also einer Überwältigungskunst, annehmen kann. Was Wagner der traditionellen Oper vorwirft - die mangelnde wechselseitige Integration von Musik, Text und Bild - kann auch idealiter verstanden werden als Ausbildung eines relativ offenen Systems der Wechselbezüge, das der Musik Raum und Anlässe zur Entfaltung eines musikalischen Kosmos mit wieder häufig relativ eigenständigen, in sich geschlossenen Elementen - vor allem Rezitativ und Arie - gibt. Niemand wird auf den Gedanken kommen, eine Don-Giovanni-Inszenierung, sei sie noch so mitreißend und packend, ziele auf die dynamisch fließende, integrale, alle Sinne gleichmäßig in Anspruch nehmende, sich total und absolut setzende Suggestion eines Gesamtereignisses ab. Das Ganze ist Musik, die vorgegebene bildliche und sprachliche Elemente in Dienst nimmt. Was im Suggestionsraum des Wagnerschen Gesamtkunstwerks tödlich zu werden droht, das Wackeln der Kulisse, die Dicklichkeit des Heldentenors, die Albernheit einer Textpassage, die kulissenhafte Künstlichkeit des Natürlichen, das kann in der Inszenierung einer Mozart-Oper, wenn auch unter Bedauern, hingehen. Denn die traditionelle Oper rechnet bei der Bühnenrealisation mit der Bewußtheit aller: das ist Spiel. Hier sitzt ein Publikum, hier sitzen Musiker, hier agieren und singen Sänger. Das Wagnersche Gesamtkunstwerk hingegen ist auch im Ungenügen integral - eins reißt tendenziell alles mit hinunter. Es ist - und mit vollem Nachdruck stößt Wälsungenblut darauf zu - schon in sich selbst, als theatralische Gattung, totalitär, exklusiv und absolutistisch, ohne doch je diesen Anspruch voll durchsetzen zu können. Denn selbst wenn die Überwältigungsstrategien exzedieren und die Lautstärke zum Terroristischen anschwillt - das Publikum ist unaufmerksam, wo es will; die Zwillinge, statt unter der verzehrenden Liebesglut des Geschwisterinzests auf 354 Literatur der Bühne zu schmelzen, verzehren Maraschinobohnen und geben sich, statt der Einfühlung in Siegmund und Sieglinde, der blasierten Kritik an den Sängern dieser Rollen hin. Wagners Tetralogie möchte auch als Kunstwerk der Exklusiv- und Inklusiv-Ring sein, von dem das Werk handelt. Absolutistisch ist schon der musikalische Anfang, der versucht, die Geburt der Musik aus dem Es-Dur- Akkord vorzuführen. Absolutistisch ist der Versuch, den Konflikt und die Handlung ab ovo in das Bühnengeschehen einzufangen, das Werk zur Vorgeschichte der Vorgeschichte der Vorgeschichte zurückzutreiben, wobei doch Entscheidendes draußenbleibt: eine Urschuld Wotans im Oppositionsfeld von Macht und Liebe, die alles vermeintlich Freie zum Determinierten macht. Der allumfassende ästhetische Anspruch des Gesamtkunstwerks ist so prekär wie die inhaltliche Ring-Konzeption, denn er konzediert keine Freiheit, keinen Abstand, nichts außer sich, will einen Absolutraum, in den aufgesaugt wird, wer sich annähert. Was und wer sich nicht einschließen läßt, zählt nicht. Und in dieser Machtgebärde, die Kinosuggestion (avant la lettre) und Weihespiel kurzzuschließen unternimmt, liegt Größe und auch eine Spur von Lächerlichkeit, die bei Thomas Mann im Erzählvorgang herausgelockt wird: „[…] er streckte trunken die Arme nach ihr, seiner Braut, sie sank ihm ans Herz, der Vorhang rauschte zusammen, die Musik drehte sich in einem tosenden, brausenden, schäumenden Wirbel reißender Leidenschaft, drehte sich, drehte sich und stand mit gewaltigem Schlage still! Lebhafter Beifall. Das Licht ging auf. Tausend Leute erhoben sich, reckten sich unvermerkt und applaudierten, den Körper schon zum Ausgange, den Kopf noch zur Bühne gewandt, den Sängern, die dort nebeneinander vorm Vorhang erschienen, wie Masken vor einer Jahrmarktsbude. Auch Hunding kam heraus und lächelte artig, trotz allem, was geschehen.“ (VIII, 402f.) Nicht nur läßt hier das Kontinuum des Erzählens die Realität des Theaters und die Werk-„Realität“ definitiv auseinanderklaffen. Es kulminiert damit zugleich die subtile Komik, daß Pomp und Sog des Gesamtkunstwerks ausgerechnet einem epischen Erzählen ausgeliefert werden, das locker und urban den Bann auflöst und die Dreieinigkeit von Musik, Wort und Bild einebnet in den gemächlichen Fluß der Worte und Sätze, die sagen, was wie klingt und wie es gemacht wird und wie ein Publikum auf das gesellschaftliche Ereignis mythischer Epiphanien im Theater reagiert. Im distanziert ironischen Redefluß tritt exemplarisch an einer Schlüsselszene zutage, wie die inzestuöse Todeserotik zu Boden sinkt, wenn der verklärende musikalische Aufwind, die Beflügelung des Musikdramas durch Synergie-Effekte, entfällt. 355 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“ 27 s. Anmerkung 25. Zweierlei Narzißmus - zweierlei Kunst Friedrich Dieckmann hat aus der inzestuösen Spannung Wagners auch den Sublimationscharakter seiner Kunst, ihre Erlösungsfunktion für ihn selbst abgeleitet. Sie ist Sublimation des Exzesses, aber auch durch und in Sublimation ermöglichter Exzeß. Auch Wagner ist - durch die Kunst - auserwählt als Ausgestoßener. Auch seine Kunst ist die narzißtische Größenphantasie eines verstrickten Gottes, Lichtreich und saugender Abgrund gleich dem alles verschlingenden Strudel des Maelstroms in Edgar Allan Poes Erzählung. Die künstlerische Sublimation des Narzißtischen bei Thomas Mann ist anders als bei Wagner und in ihrer Andersheit zur gestalterischen Kritik des Wagnerschen Rauschkunstwerks prädestiniert. Wie der Geschwisterinzest und der ihm vorausliegende Narzißmus bei Thomas Mann noch als Erwählungszeichen faszinierende Sünde bleibt, so stehen auch die narzißtischen Impulse, die wohl jeder künstlerischen Produktivität in der Moderne und speziell der Thomas Manns innewohnen, im Zwielicht. Renate Böschenstein hat soeben in einer fulminanten Studie gezeigt, 27 daß Der Erwählte Thomas Manns homosexuelle Anlage zur Sprache bringt, indem er diese von ihm selbst als schwerste Anstößigkeit erlebte psychische Tendenz auf dem Boden des Narzißmus zur Anstößigkeit des Inzest verschiebt, der ihm als psychisches Muster zwar auch eingeschrieben ist, aber biographisch weniger tief. Diese aus dem Unbewußten aufsteigende Tarnmaßnahme, vollzogen in einer geradezu postmodernen Manieriertheit und Selbstreferentialiät des Erzählens, macht es möglich, extrem verspielt das für Thomas Mann extrem Ernsthafte zur Sprache zu bringen - zu einer Sprache allerdings, die sich bei Thomas Mann grundsätzlich, hier aber, bei der autobiographischen Brisanz des Themas, am allerstrengsten, Unmittelbarkeit versagt. Nach Böschenstein herrschen bei Thomas Mann parallele Verbote auf den Ebenen des Lebens und des Schreibens: Unmittelbarkeit der Sprache ist so wenig erlaubt wie Unmittelbarkeit im Ausleben des verdrängten sexuellen Impulses. Wo Wagner sich narzißtisch in Kunst entfesselt, bändigt Thomas Mann seinen Narzißmus sogar in der Kunst, indem er nur indirekt, gebrochen, manieristisch, kollagehaft, zitathaft das äußerste ausspricht - auch im Wagnerzitat, wie gerade Wälsungenblut ansichtig macht. Dieser Selbstzähmung des Narzißmus durch Zitat und „Verstellung“ gesellt sich bei Thomas Mann der ironisch-pädagogische Kommentar zu. Schweift der Narzißmus aus, steht er auch schon unter der Frage: Was wird denn nun hier wieder angestellt? Der Narzißmus, seine Phantasmen und Katastrophen, wird derart sozial eingebunden. Die Rückbettung der mythischen Konstellation in ein gesellschaftliches Milieu, die epische Brechung der 356 Literatur 28 Nike Wagner: Vom Inzest im „Ring“, in: Wagner Theater. Frankfurt/ Main, Leipzig 1998 S. 89-107, unterscheidet im Ring zwischen progressivem und regressivem Inzest in einer gechichtsphilosophischen Dialektik. Zu diesem Ergebnis muß man den Text weit in Richtung auf Theorien und Programme überschreiten. Deshalb folge ich ihr nicht. Rausch-Energien in Wälsungenblut hat eine erzieherische Komponente. Der narzißtische Sprengstoff, bei Wagner dramatisch und musikalisch zur Explosion gebracht, wird bei Thomas Mann in einem Erzählen entschärft, in dem gewiß der Erzähler als Narziß vor den Spiegel tritt, aber auch vermittelnd und kommentierend mit einem Publikum kommuniziert. Die humanistische Durchleuchtung des im eigenen Ich tief erfahrenen Abgrunds des Humanen - das ist Thomas Manns literarischer Impuls. Es ist ein großer pädagogischer Traum, der den ins Unbedingte ausschweifenden Traum der künstlerischen Imagination und Realisation unter Bedingungen stellt und beschneidet. Was jedenfalls in Wälsungenblut gelingt, ist deutlich. Thomas Mann, selbst tief empfänglich für Todessog und Rausch, die im Ring des Nibelungen entfesselt werden, zieht sich als Erzähler am Zopf seines eigenen Erzählens aus dieser Verschlingung heraus. Wie den Ring des Mythos bricht er auch den Ring des Gesamtkunstwerks auf, indem er es durch sein skeptisches, zum Leser offenes Erzählen fragmentiert und mediatisiert. 28 1 Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007. 2 Claude David: Stefan George. Sein dichterisches Werk. München 1967. „mein eigentum und mir unendlich fern“ Zum Dichter Stefan George Thomas Karlauf hat das literarische Publikum mit einer bewundernswerten Biographie Stefan Georges beschenkt. 1 Sie ist vorbildlich ebenso in der Erschließung eines vielschichtigen und breit gestreuten biographischen Materials wie in der historischen und literarhistorischen Einbettung der Werke Georges wie in der gelegentlichen Hervorhebung von Werkzitaten und den Bewertungen von Fall zu Fall. Karlauf überzeugt in der Ausgewogenheit, Kraft und Eleganz der Darstellung und in der Plastik, Vielstrahligkeit und Tiefenschärfe, die der Gestalt Georges im historischem Erzählen des Biographen zukommen. Und diese Gestalt, von Karlauf ohne Verklärung und ohne Häme, in einer souveränen, anteilnehmenden Sachlichkeit dargestellt, gewinnt eine Präsenz und Provokation, die atemberaubend sind. Karlauf hat das Kunststück fertiggebracht, George sine ira et studio und gerade dadurch so vor uns hinzustellen, daß es unmöglich ist, diese Biographie mit diesem ‚Helden‘ sine ira et studio zu lesen. Was als Faktengerüst und Zeitzusammenhang im großen und ganzen bekannt und auch emotional abgeheftet war, rückt durch die enorme Intensität und Dichte der Darstellung in beklemmende Nähe. Karlauf selbst nennt als sein Ziel, „ein biographisches Fundament zu schaffen, das den Zugang zur Person künftig erleichtert und vielleicht auch zur weiteren Beschäftigung mit dem Werk anregt.“ (775) Diese Angabe ist - was die Person Georges anlangt - ein klassisches understatement. Das „Vielleicht“ in Bezug auf das Werk unter Verweis auf die doch nicht mehr taufrische Darstellung Claude Davids von 1967 2 läßt mich stocken. George war Dichter, eine große literarische Figur. Gerade Karlaufs eminente Biographie mit ihrer lediglich biographischen Werkauswertung sollte den Anstoß geben, sich intensiv neu mit der Dichtung Georges auseinanderzusetzen, und zwar nicht nur im kleinen Kreis der Spezialisten, auf den das Interesse an George als Dichter seit langem zusammengeschmolzen ist, sondern in Wendung an das große Publikum, das durch die biographische Darstellung erreicht und erschlossen worden ist. 358 Literatur 3 Zit. Karlauf 775. 4 Rundfunkvortrag 23.4.1967 im Deutschlandfunk, gedruckt in: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur IV. Hg. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1974. S. 45-62. Dort S. 52-62. 5 Frankfurter Anthologie. FAZ 5. April 2003 Das klassische Schema „Werk und Leben“, auf das Karlauf sich bezieht, genügt hierfür nicht. Denn es geht - ganz im Sinne der herrischen, nur vordergründig harmlosen Äußerung Georges, in seinen Gedichten stehe „ja gar nichts anderes drin, als Dinge, die waren“ 3 - von einer Entsprechung zwischen Werk und Leben aus, bei der das Leben das Werk sozusagen beglaubigt. Bei der bodenlosen Existenz Georges, der sich über einem Abgrund inszenierte, ist vielmehr weithin mit dem Gegenteil zu rechnen, daß nämlich das Werk auch und gerade sagt, was nicht war. Es stellt damit sowohl das Leben Georges als auch sich selbst in Frage und zeigt eben darin Rang und Aktualität. Und auf dieser Spur, die von der Forschung durchaus gelegt worden ist - ich erinnere nur an Theodor W. Adornos Rundfunk-Essay „George“ von 1967, der eigentlich „Der andere George“ heißen sollte 4 - will ich hier ein paar Schritte gehen. Es ist eine Art Antwort auf Karlauf, ein Versuch, die Energie, die von seinem biographischen Ansatz ausgeht, in Interpretationsenergie umzusetzen. Indem ich eine eigene ältere Skizze wiederaufgreife, 5 gehe ich zunächst kommentarlos von einem Gedicht Georges aus: SEELIED Wenn an der kimm in sachtem fall Eintaucht der feurig rote ball: Dann halt ich auf der düne rast Ob sich mir zeigt ein lieber gast. Zu dieser stund ists öd daheim, Die blume welkt im salzigen feim. Im letzten haus beim fremden weib Tritt nie wer unter zum verbleib. Mit gliedern blank mit augen klar Kommt nun ein kind mit goldnem haar. Es tanzt und singt auf seiner bahn Und schwindet hinterm grossen kahn. Ich schau ihm vor, ich schau ihm nach Wenn es auch niemals mit mir sprach Und ich ihm nie ein wort gewusst: Sein kurzer anblick bringt mir lust. Mein herd ist gut, mein dach ist dicht, Doch eine freude wohnt dort nicht. Die netze hab ich all geflickt Und küch und kammer sind beschickt. 359 „mein eigentum und mir unendlich fern“ 6 Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung. (Georg Bondi). Bd.IX: Das Neue Reich. S. 130-132. Nach dieser Ausgabe ist zitiert. So sitz ich, wart ich auf dem strand, Die schläfe pocht in meiner hand: Was hat mein ganzer tag gefrommt Wenn heut das blonde Kind nicht kommt. 6 Das Selbstgespräch einer Frau am Meer bei Sonnenuntergang. So ausgesondert ist sie im Dorf, daß sie sich mit den Augen der anderen als das „fremde Weib“ sieht. Das Gedicht vergegenwärtigt die Redeweise einer Einsamen. Die Häufigkeit einsilbiger Wörter macht die Sprache einsilbig. Die strenge Folge von Hebungen und Senkungen ergibt Unausweichlichkeit des Ablaufs, und der häufige Parallelismus innerhalb des Verses („Ich schau ihm vor, ich schau ihm nach“) wirkt beschwörend. Der durchgehend stumpfe Paarreim läßt den Klang herb werden. Die Wörter sind in ihrer Mehrzahl geläufig, auch die Metaphern (roter Ball). Die Beiwörter typisieren (Augen klar, goldnes Haar); ein niederdeutscher Anklang wie Kimm für die Horizontlinie zwischen Meer und Himmel gibt Lokalkolorit; altertümliche Wendungen wie „frommen“ für „nütze sein“ und „Feim“ für „Schaum“ (überlebend nur im Partizip ‚abgefeimt‘) erzeugen balladeske Patina. Mit alledem sind Prägnanz und Anschaulichkeit erreicht. Der „sachte fall“ der ins Meer eintauchenden Sonne etwa ist eine paradoxe Fügung, in der sich die Doppelerfahrung von Langsamkeit des Untergehens und Plötzlichkeit des Verschwindens der Sonne aufs genaueste zusammenschließt. Die im Salzschaum brackigen Wassers absterbende vereinzelte Blume - in nichts könnte sich die Melancholie, die schleichende Öde bei nahender Dämmerung, das Welken dieser Frau in stumm-abweisenden Gegebenheiten stärker ausdrücken als in diesem Bild. Der hilflos-halbherzige, schon fehlgeschlagene Versuch, mit etwas Lebendigem, Schmückendem dem Raum Wohnlichkeit einzuhauchen, verstärkt den Trübsinn, statt ihn zu mildern. Noch der solide materielle Status der Frau - „Mein herd ist gut, mein dach ist dicht“ - intensiviert ihre Einsamkeit - sie hat nichts, nicht einmal etwas zu tun. Daß die Netze geflickt, Küche und Kammer mit Vorräten beschickt sind, klingt nach Stillstand, weniger nach reibungslosen Abläufen des Haushalts und der Fischerei - das wäre in dieser altertümlichen Welt Männersache, und von einem Mann ist nicht die Rede. Die Situation ist wie erstarrt. Keine Aufgabe, keine Sorge, für nichts und niemanden. Aber die Frau hat eine Liebe: ein Kind, das offenbar regelmäßig um diese Stunde strahlend, singend an ihr vorbeitanzt. Sie hat auch eine Angst, die ihre Schläfe in der aufstützenden Hand pochen läßt - wird es heute wiederkommen? Und sie hat einen erwarteten Schmerz in der ausstehenden, Freude noch überflammenden „Lust“: Sie wird wie immer in ihrer Erregung kein Wort für 360 Literatur 7 „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“ lautet ein bezeichnender früher Buchtitel (1928) des genialen Germanisten Max Kommerell, der in diesem Buch an der Schaffung einer geistigen Ahnenreihe für George arbeitete. „Was er sich vornahm, klang wie Sphärenmusik aus dem Georgeschen Olymp: die Geschichte der deutschen Literatur im Zeitalter Goethes so zu erzählen, als handele es sich um die Geschichte einer männerbündischen Verschwörung.“ So Thomas Karlauf in seiner Biographie (s.Anm. 1). S. 573. das Kind „wissen“. Die Wendung „Ein Wort wissen“ klingt nach einem Zauberwort. Weil sie nur nach innen vom Kind, aber nicht nach außen zum Kind zu sprechen vermag, wird es der Stummen stumm bleiben und ihr „schwinden“. Sie wird den flüchtigen „lieben Gast“ - vielleicht nur eine Erscheinung aus dem Widerschein der feurigen Sonne auf dem Strand: goldner Sand, goldenes Haar, blondes Kind bei sonstigem Grau in Grau - nicht bannen und halten, nicht bezaubern können. Sie blickt vor auf ein durch ‚Versagung‘ geschärftes Glück. Würde das Kind leibhaftig bei ihr eintreten, wenn die Frau ihm „ein Wort gewußt“ hätte? Sie wird es nie erfahren, und wir werden es nie erfahren. Wir sind in die Ungewißheit und Unendlichkeit der Sehnsucht hineingenommen. Das Gedicht ist wie ein magisches Umkreisen der Leerstelle: eines ausbleibenden Worts zwischen Frau und Kind. Wohl wenige heutige Leser würden dieses „Seelied“ auf Anhieb als Werk Stefan Georges erkennen, dessen Umriß sich dem Lesepublikum zum Gerücht von einem Ästhetizisten und dann Dichter-Führer aufgeweicht hat. 7 Die Frau am Meer ist eine Rollengestalt für die Melancholie eines im Entstehungsjahr 1919 bereits von Spuren der Resignation gezeichneten Propheten, der sich gleich Dante zum - später verbannten - Richter über seine Zeit berufen fühlte. Seit dem ersten Weltkrieg sah er sie im eschatologischen Licht. Wer ist das Kind, dessen inneres Leuchten und dessen Lieblichkeit so innig erwartet wird? Es gehört zur schlichten Kraft dieses Gedichts, daß es zunächst einmal eben ein Kind oder die Sehnsuchtsvision eines Kindes ist, ebenso, wie die Vergegenwärtigungsmacht Georges die einsame Frau dieser Verse wirklich Frau sein läßt. Die Vielschichtigkeit gelungener Rollengedichte liegt darin, daß das sprechende dichterische Ich sonst verschlossene Möglichkeiten in sich aufschließt, indem es sich einer erfundenen Figur nachdrücklich einverwandelt. Georges Schwermut kann so eindringlich sprechen, indem er sie nachdrücklich ihre sein läßt. Genau in dieser Weise ist das entgleitende Kind auch etwas von ihm und seiner symbolischen Welt. Sein Tanzen und Singen machen es zu einer musischen Gestalt. Die singenden und tanzenden Musen bilden das Gefolge des Musengottes Apoll. Aber mit dem Kind muß es noch weiteres auf sich haben, denn die Musen waren junge Frauen. Halbkindliche Geniusgestalten gibt es bei Goethe von Mignon bis zum Homunculus mit einem androgynen Verfließen der Gestalt. Bei Georges halbkindlichen Geniusgestalten findet sich die Tendenz, diesen Zug ins Homoerotische zu verschieben und zu verstärken. In einem Parkgedicht 361 „mein eigentum und mir unendlich fern“ 8 IV, S. 40. 9 Zur Symbolik des Schwans s. Gisela Warnke: Der Schwan, Vogel Apollons. Aspekte eines Emblems/ Symbols/ Motivs in der Literatur. In: Literatur für Leser 1. 1985. S. 42-61. Auch in der französischen Lyrik der Moderne, für die sich George ja früh interessierte, findet sich der Schwan der Poesie. Bei Charles Baudelaire wird der erniedrigte Schwan zum Sinnbild der Erniedrigung des Dichters in der banalen modernen Welt. Siehe das Victor Hugo gewidmete Gedicht „Le Cygne“ in „Les Fleurs du mal“. 1857. Vgl. a. das von George übersetzte motivverwandte Baudelaire-Gedicht „L’ Albatros“ aus den „Fleurs du mal“, das in Georges „Der Herr der Insel“ in „Die Bücher der Hirten und Preisgedichte“ von 1895, also zwei Jahre vor dem „Jahr der Seele“ anklingt. 10 Blätter für die Kunst. 3. Folge 1896 In: Einleitung und Merksprüche. Bearb. Von Georg Peter Landmann. Düsseldorf 1964. S. 15. des „Jahrs der Seele“ (1897) wird das „schöne Bildnis dessen“ gefeiert, dem der Schwan seinen Hals „in die Kinderhand die feine“ schmiegt. 8 Der in den Schoß der Königstochter Leda sich hineinhalsende Schwan in der Darstellung Correggios dürfte sich im imaginären Museum Georges wie jedes Bildungsbürgers vorgefunden haben. Im Gedicht findet sich eine nahezu pädophile Variante des Motivs, das einen untergründigen Bezug zum Dichter darin enthält, daß der Schwan, dessen Gestalt Zeus angenommen hat, von alters her der Vogel der Poesie, darin auch der Vogel Apollons ist. 9 Das hier interpretierte „Seelied“ ist von George dem Abschnitt „Das Lied“ der späten Sammlung „Das neue Reich“ von 1928 zugeordnet. Damit findet sich gleich zweimal das Georgesche Stichwort einer poetischen Sphäre, die im ganzen bei ihm zurücksteht, aber doch immer wieder mächtig nach vorn drängt. „Das Lied“ bezeichnet bei George den Gefühlston der Volksliedtradition. Sie wird durch die Sesenheimer Gedichte Goethes, durch Johann Gottfried Herders Programmschriften, dann durch die Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ und die romantische Erfindung des Volksgeists zum Resonanzraum und zur ideal verklärten Ursprungszone des Hauptstrangs der deutschen Lyrik. Der Begriff „Volkslied“ meint dabei lange nicht in erster Linie, daß es sich um gesungene Lyrik handelt; vielmehr geht es um Seelensprache mit stärker assoziativer als argumentativer Verknüpfung und Freiheiten im metrischen Fluß. Hier formiert sich die mächtige Tendenz einer radikalen Ausdruckshaltung, Weltbegegnung und Unmittelbarkeit des Ich, die in der deutschen Lyrik mit mannigfachen Transformationen über Hofmannsthal und Rilke bis zu Ingeborg Bachmann und - in emphatischer Schwundstufe - Paul Celan vorherrscht. George hat 1896 in den „Blättern für die Kunst“ eine bekannte Erklärung gegen diese Dominanz abgegeben, 10 die gerade damals an den Rändern zur Zupfgeigenhanselei und Wandervogelei und vielerlei Gedudel zu verflachen drohte, und seine eigenen Gedichte in seiner frühen europäisch orientierten l’art pour l’art-Haltung demonstrativ dagegen abgesetzt. Er ging im Lauf seiner Lyrikproduktion über von der Schöpfung ästhetischer Gegenwelten zur Stiftung dichterischer Heilswelten und zur Netzwerkknüpfung einer Männer- 362 Literatur 11 s. E. Morwitz: Kommentar zu den Werken Stefan Georges. München-Düsseldorf 1960. S. 476. Zum Gesamtkomplex von Georges Dichtung des Volkstons s. Wolfgang Braungart: ‚Schlußlied‘. Georges Ballade ‚Das Lied‘. In: W.B. (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘. Tübingen 2001. S. 87-101. - Zur Schattengestalt des Knechts gehört seine soziale Inferiorität, die soziale Ortsbestimmung, die im Herderisch/ romantischen Volksbegriff noch nicht entfaltet war. Noch schärfer tritt sie etwa im Sonett „Abschied“ von Rudolf Borchardt heraus, dessen giftige Feindschaft gegen George wohl gerade aus einer gewissen Nähe zu ihm entsprang. Bei George bleibt allerdings das Pejorative der Borchardtschen Exklusion von Lebensunmittelbarkeit im Hintergrund, das sich offen und provozierend bei den französischen Modernen findet, etwa in dem berühmten Satz des Mallarmé-Freundes Villiers de l’Isle-Adam: „Das Leben überlassen wir den Dienstboten.“ (zit. nach Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Zürich 1955. S. 256.) Es ist diese Schicht des ausgeschlossenen Lebens, der Herzenssprache, die George im Knecht einen Spalt weit aufschließt. Elite mit inhaltlich verblasenen, aber intensiven und verpflichtenden Vorstellungen eines inneren Reichs, eines geheimen Deutschland. Bindemittel und Markenzeichen war ein esoterisch-egozentrischer Meister-Jünger-Kult, dessen harter Kern - Georges Homosexualität - für ihn ohne steile Stilisierung zum pädagogischen Eros nicht zu leben war. Doch wie sehr hinter dieser Prunkfassade, in der stolzen Betonung der (positiv gemeinten) „Mache“ und artistischen Fügung des Gedichts, bei George ein untergründiges Bedürfnis nach direktem Selbst- und Welt-Ausdruck zurückgestaut wurde, davon sprechen seine immer neuen Annäherungen an die seit der Goethezeit erschlossene dichterische Sphäre des Ursprünglichen und des Sagen- und Märchenhaften. So enthält die 9. Folge der „Blätter für die Kunst“ von 1910 eine poetologische Ballade unter dem Programmtitel „Das Lied“, in der George eine romantisch-volksgeisthafte Ursprungsidee des Liedes verkündet. Er läßt nämlich einem einsamen, als irr geltenden Knecht und Viehhirten die Lieder entquellen, die, nur von Kindern gesungen und tradiert, die Unvergänglichkeit der wahren Kunst erlangen. Der einsame Knecht - das ist die Umkehrgestalt des exklusiven Dichterpriesters. Georges Irres, Schweifendes, Abgründiges - personifiziert, darin zensiert/ unzensiert in einem stellt es sich in dieser Knechtsgestalt dar. 11 Die Kinder - das evoziert den Genius der unmittelbaren und ursprünglichen Weltbegegnung und Selbstverströmung und einer dichterischen Form, die nicht aufgeprägt oder gebaut oder komponiert, sondern Ausdruck des lebendig bewegten Inneren ist. Das ist Georges Tiefenpoetik, die auch und erst recht das Irreguläre aufspüren und zulassen möchte, die aber überformt und unterdrückt wird von der Prunk-, Herrschafts- und Gerichtspoetik des Meisters. In diese Tiefe reicht das „Seelied“. Ähnlich tritt schon in der Gedicht- Sammlung „Der siebente Ring“ von 1907 in einem titellosen Gedicht eines Abschnitts „Lieder“ ein Kind auf, die Geniusgestalt der versagten Weltfülle und Unmittelbarkeit: „seewind noch im haar“, „vom salzigen sprühn / Entflammt“, erfüllt von der „bestandne[n] furcht und lust der fahrt“ auf 363 „mein eigentum und mir unendlich fern“ 12 Bd. VI/ VII: Der siebente Ring. S. 164. einem bewegten Meer, das dem am Ufer sitzenden Ich im Panzer seiner Selbststilisierung unzugänglich ist. Noch heißt dieses Kind hier „mein kind“, noch hat es keine Züge des Phantoms, noch ist es erreichbar, aber: Mein arm umschliesst Was unbewegt von mir zu andrer welt Erblüht und wuchs - Mein eigentum und mir unendlich fern. 12 Das ist der freiwerdende Schmerz. In den „Sängen eines fahrenden Spielmanns“ aus den „Büchern der Hirten- und Preisgedichte“ von 1895 ist schon viel früher ein Genius-„Kind“ mit androgynen Zügen besungen, aber da spielt der Spielmann noch mit seinem Abschieds- und Trennungsleid, er inszeniert die Distanz: Sieh, mein kind, ich gehe. Denn du darfst nicht kennen Nicht einmal durch nennen Menschen müh und wehe. Indem hier in preziös schlicht gereimten und metrisierten Versen ein Berufssänger im Kostüm des mittelalterlichen Spielmanns das Wort führt und das Kind anspricht, gibt er es als seine Muse zu erkennen, das ihn zur Rede inspiriert, und indem er vor dem Kind alles das ausspricht, was er ihm angeblich doch nicht sagen will, erhält seine Leidrede eine geistreiche, leicht an die Verspieltheiten der Anakreontitk anklingende Pointe. Er geht, aber er hat die Situation in der Hand. Er ist es, der zwischen sich und dem Genius-Halbkind in seiner Unberührtheit und - mit Hofmannsthal zu sprechen - ‚Präexistenz‘ die Grenze zieht. Davon kann bei dem Genius-Kind vom Meer die Rede nicht sein. Die Trennung von dieser Sphäre ist nun verhängt. Der Exklusivmeister erscheint am Strand als sein eigner dunkler Bruder - als Außenseiter. Doch auch da bleibt der Ausbruch unter Kontrolle. Wenn George in den ersten beiden Versen der zuletzt zitierten Spielmannslieder von 1895 programmatisch dichtet: „Worte trügen, worte fliehen./ Nur das lied ergreift die seele“, und wenn er dann in der ganzen Folge nur Gedichte ohne Melodie bringt, kann man das noch auf der Linie des Herderschen Wortgebrauchs sehen. Entscheidend aber ist, daß George auch keine Lieder im Gattungssinn der Lyrik, also mit dem Gepräge der Spontaneität wie etwa Goethes „Heidenröslein“ oder „Kleine Blumen, kleine Blätter“ gedichtet hat. Noch das Schwingende ist bei ihm gezirkelt, zuweilen bestrickend schön gezirkelt. Auch „Das Lied“ vom liederdichtenden Knecht ist kein Lied; es ist eine Ballade zum Thema Lied, eine Erzählung vom Ursprung des Lieds. Desgleichen ist das 364 Literatur 13 Vgl. Ernst Osterkamp: „Ihr wisst nicht wer ich bin.“ Stefan Georges poetische Rollenspiele. München 2002. „Seelied“ kein Lied, sondern ein erzählendes, Abstand bewahrendes Gedicht. Und nicht nur die Frau des „Seelieds“ darf das Losungs- und Lösungswort nicht finden; sondern auch das Kind offenbart es nicht. Es singt und tanzt, aber was es singt, bleibt ungesagt. Sein Lied spricht sich nicht aus. Und so entgleitet die Erscheinung. Noch etwas ganz anderes, über George Hinausgreifendes allerdings könnte auf diesem Annäherungsweg an seine Lied-Sphäre und ihre in Relation zu seiner repräsentativen Lyrik subversiven Momente erkennbar geworden sein: Auch der lyrische ‚Naturlaut‘ seit dem jungen Goethe ist eine poetisch ermöglichte kulturelle Hervorbringung, eben literarisch hervorgerufene Unmittelbarkeit. In ihrer Bändigung des Unmittelbaren leuchten Georges hier erörterten Gedichte, wie Schlaglichter von der Seite her, dieses literarische Moment heraus, das bereits dem Naturlaut Goethescher Provenienz innewohnt. Georges „Seelied“ muß den seiner Zeit fremd werdenden Kulturpriester als fremde Frau vor die Fischerhütte setzen, ehe das tiefste Leid ausströmen darf. Wie dialektisch lyrische Gefühlsäußerungen verlaufen, zeigt sich darin, daß gerade das Arrangement von meersalzatmender Ursprünglichkeit den Leidensdruck umso spürbarer macht. Daß Georges letzter Gedichtband „Das neue Reich“ im gleichen Abschnitt „Das Lied“ neben dem „Lied“ vom irren Knecht und dem hier besprochenen „Seelied“ sein wohl berühmtestes poetologisches Gedicht „Das Wort“ enthält, erhärtet das Ergebnis, daß Georges Lyrik und Poetik ein Doppelgesicht ebenso zeigt wie verbirgt, eines im Schatten und eines im Licht. Denn schon im Titel bilden „Das Wort“ und „Das Lied“ eine Opposition, bei der in der Schwebe bleibt, ob die Einordnung des „Worts“ in die Gruppe „Das Lied“ das Wort dem Lied unterordnet, ja, es geradezu unterminiert, oder ob vielmehr „Das Wort“ den gesamten Liedkomplex Georges von innen heraus dementiert und zu annihilieren sucht: 13 Wunder von ferne oder traum Bracht ich an meines landes saum Und harrte, bis die graue norn Den namen fand in ihrem born - Drauf konnt ich’s greifen dicht und stark Nun blüht und glänzt es durch die mark … Einst langt ich an nach guter fahrt Mit einem kleinod reich und zart Sie suchte lang und gab mir kund: ‚So schläft hier nichts auf tiefem grund‘ 365 „mein eigentum und mir unendlich fern“ 14 Bd. IX, S. 134. Worauf es meiner hand entrann Und nie mein land den schatz gewann … So lernt ich traurig den verzicht: Kein ding sei wo das wort gebricht. 14 Martin Heideggers prominente Deutung sieht in diesem Spruchgedicht das Wesen des Dichterischen überhaupt ausgesprochen; neuere Interpreten nehmen es für moderne Poetiken in Anspruch, die das Gedicht nicht mehr als Ausdruck eines Inneren, sondern als Kunstwerk aus Worten bestimmen. Auf der Oberfläche der Aussage haben sie darin Recht. Im Gegensatz zu den bisher hier angesprochenen George-Gedichten ist der Dichter nicht mehr sehnsüchtig ausgestreckt und doch getrennt von der Sphäre eines Genius, der die Weite und Fülle hat und ist, sondern er selbst ist es, der auf weite Fahrt in See gestochen ist und auf dem Meer des Lebens Schätze eingesammelt hat, die er heimbringt. Und nun tritt ihm, dem Weltfahrer, in seinem Land herrscherlich ein weibliches Wesen entgegen, das ganz anderer Art ist als die androgynen Geniusgestalten. Es ist die graue Norne, die aus dem tiefen Grund ihres Borns die Worte herausschöpft, die dort vorhanden sind. Vom Wort her wird das sprachlos-reiche Sein gerichtet, das der Dichter gefunden hat, und der Nichtigkeit ausgeliefert, wenn es sich als ‚unsäglich‘ erweist. Vom Wort her wächst Leben und Dasein zu: Der gefundene „Name“ erst läßt das vom Dichter auf seiner Weltfahrt Gefundene blühen und glänzen, dicht und stark werden. Bei alledem aber wird eine strikte Ausschließung über die Ausbeute des Dichters von seiner Weltfahrt verhängt, die an die Vertreibung aus dem Paradies erinnert: „Kein ding sei, wo das wort gebricht.“ Und nicht der Dichter hat die Vollmacht, solchen Richtspruch zu sprechen. Es ist die Norne, die Schicksalsgottheit, die aus ihrem Brunnen die Worte herausschöpft, die dort vorhanden sind. Das Nichtvorhandensein eines Wortes scheint eine letztinstanzliche objektive Gegebenheit. Hier gründet Heideggers Interpretation: „Die Sprache spricht“, der Dichter ist ihr Sprachrohr. Hier gründet mit ihrer Auslegung des Gedichts die moderne Signifikantenpoetik, die das Signifikat, das Bezeichnete, dem Signifikanten, dem Zeichen unterordnet und das Ich depotenziert. Doch merkwürdigerweise muß der Poet diese Poetik erst lernen; es ist nicht ursprünglich seine und seine ursprüngliche. Ursprünglich ähnelt seine Position der des Genius, der die Unmittelbarkeit, Frische und Fülle der Welterfahrung verkörpert. „Wunder von ferne oder traum“ bringt er von seiner Meerfahrt mit, und wenn durch die Norne dafür die Worte gefunden werden müssen, scheint sie eine Transformation der traditionellen Muse zu sein, die den Dichter inspiriert. Aber nicht von ungefähr ist sie grau, aus der Dreizahl 366 Literatur 15 Ich lasse diese Problematik hier dahingestellt und verweise auf meine einläßlicheren Interpretationen in: G.K.: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. 3 Bde. 2.A. Frankfurt a.M. 1996. Bd. 2. S. 242-249, und G.K.: „Dichten selbst ist schon Verrat“. Gibt es Kritik an Dichter und Dichtung im Werk Georges? In: George-Jahrbuch Bd. 5. 2004/ 5. S. 1-21. Zur Auseinandersetzung Heideggers mit diesem Gedicht („Das Wort“ in: M. H.: Unterwegs zur Sprache. Gesamtausgabe Bd. 12. S. 205-225). s. Thomas Böning: Alterität und Identität in literarischen Texten von Rousseau & Goethe bis Celan & Handke. 2001. S. 172ff. Meine eigene Interpretation hängt allerdings nicht, wie Böning meint, an einer falschen Etymologie von „Kleinod“. der germanisch-mythologischen Nornen zur Einzahl vereinsamt, eine düstere Göttin, eine Lehrerin des Verzichts. Sie inspiriert nicht, sie zensiert. Als nämlich der Dichter einst nach guter Fahrt einen Fund heimführte, der einerseits aus dem Stoff der Träume und Wunder war, andererseits in seiner reichen Zartheit von vornherein mit Händen zu greifen, ein Kleinod, wie der Gedichttext mit einem altertümlichen, feierlichen, assoziationsreichen Wort, einer Wortpreziose, sagt, da läßt der Spruch der Norne diesen Schatz seiner Hand entrinnen, weil kein Wort dafür in ihrem Born der sich selbst sprechenden Sprache oder ihrem Signifikantentresor vorhanden ist. 15 Aber ein Kleinod ist kostbarer Besitz, Schmuck und Symbol des Eigentümers, ein Schatz für das Land, das es gewinnt! Wer darauf verzichtet, verzichtet auf Unwiederbringliches, Eigentümliches, Einzigartiges, vielleicht sogar auf sein Eigentümliches. Traurig lernt der Dichter den nicht nur einmaligen, sondern grundsätzlichen Verzicht, der der Eckstein seiner Poetik wird: Ungewiß, ob und mit welchen Abstrichen danach noch ‚Erfahrung‘ - und Selbsterfahrung - sein kann. Merkwürdig ist bei alledem, daß der Status der Rede „Kein ding sei, wo das wort gebricht“ unbestimmbar bleibt: Er schwebt zwischen wörtlich wiedergegebenem Imperativ der Norne („sei“ ist dann Befehlsform) oder in indirekter Rede wiedergegebene Aussage eines Sachverhalts, möglicherweise aber auch der dem Dichter innerlich gewordenen Lehre vom Verzicht (dann wäre „sei“ Konjunktiv). In dieser grammatischen Unbestimmtheit schlägt wohl die Irritation, das innere Vibrieren in Georges Poetik durch. Hat der Dichter nicht, indem er diese Poetik gelernt hat, einen Schatz verloren, den der mit dieser Gabe Begabte nicht hätte verlieren dürfen? Ist somit „Das Wort“ nicht ein Vexierbild des „Seelieds“? Ist die unstillbare Sehnsucht der einsamen Frau, an der das Genius-Kind vorbeitanzt, nicht in anderer Gestalt die unstillbare Trauer des Dichters, dem sein Kleinod, sein Schatz entglitten ist? George, der unbedingte Machthaber eines sogenannten Staates, dessen spinnennetzartig ausgebreiteter Geheimdienst ihm entflammbare Jünglinge zuführt, der Herrscher, dessen leisestem Wink vorauseilender Gehorsam antwortet, ist auch der beiseite Stehende, der die Unverfügbarkeit des Besten erfährt. Sein Charisma ist nicht, daß er ein Führer, sondern daß er ein großer Dichter mit einer gewaltsam verdrängten Grundtrauer ist, die doch 367 „mein eigentum und mir unendlich fern“ 16 Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel. Bd. V, 80 („Gartenfrühlinge“ aus dem Zyklus „Lieder von Traum und Tod“.) nicht konsequent zum Schweigen gebracht wurde, nicht konsequent zum Schweigen gebracht werden konnte. Die vielmehr sogar im Verschweigen oft sprach, meist indirekt: Fällt, wie festgestellt, von der rollenhaften Domestizierung der Sphäre der Unmittelbarkeit her ein Seitenlicht auf das Kunstmoment der Unmittelbarkeitslyrik der Goethetradition überhaupt, so zeigt sich an George zuletzt auch umgekehrt, wie gerade die Gewalt dieses Rückstaus eine Verdichtung erzielen kann, eine spruchhafte Komprimierung der strömenden Sprache, eine kraftvolle metrische Bändigung und Zähmung des Rhythmus, eine Ausmagerung der Wortfülle zur magischen Formelhaftigkeit. Und gerade so, im Nichtströmen, kann auch das emotionale Moment des Gedichts eine neue Qualität und Eindringlichkeit gewinnen. Sogar und gerade die Artistik vermag in Ausdruck umzuschlagen, in den Ausdruck nämlich einer höchsten Selbstbeherrschung unter emotionalem Andrang. Es kann trotz und in der immer schon geleisteten Verallgemeinerung der indirekte Ausdruck eines bis zum letzten komprimierten Individuellen sein, den so die Goethetradition der freier ausströmenden Unmittelbarkeit noch nicht gekannt hat. Nicht von ungefähr war es ein anderer Bahnbrecher der Moderne, auch er ein lyrischer Artist unter emotionalem Überdruck, Nietzsche, der gereralisierend, aber doch von seiner eigenen Lyrik her die Formel „In Ketten Tanzen“ geprägt hat. Diese Kunst reicht bei George vom leichten Reigen bis zum schwersten Schreittanz: Nah in den gärten duften die mandeln Dort sah ich augen voll glut und traum Ich will die gärten wieder durchwandeln Hände baden im blumigen flaum. 16 So die Leichtigkeit; und so die Schwere: Ihr tratet zu dem herde Wo alle glut verstarb, Licht war nur an der erde Vom monde leichenfarb Ihr tauchtet in die aschen Die bleichen finger ein Mit suchen, tasten, haschen - Wird es noch einmal schein! 368 Literatur 17 Das Jahr der Seele. Bd. IV. 118 (Aus dem Zyklus „Traurige Tänze“). Seht was mit trostgebärde Der mond euch rät: Tretet weg vom herde, Es ist worden spät. 17 Die unerbittliche Unterwerfung des Rhythmus unter das jambische Metrum treibt durch zwei Strophen hindurch das Definitive des Abbruchs heraus, der in der dritten Strophe inhaltlich und formal - in metrischen Irregularitäten - laut wird. Ein Tanz der Trauer. Auch solche Spannungen sind es, die Lyrik groß machen. Derart kann gerade im Zugedeckten und dabei Unverfügbaren Georges eine Energie erkannt werden, die noch seine ‚Mache‘, wo sie stark ist, durchglüht. Noch einmal: George war kein Monolith. Was das Monolithische der biographischen Person und ihr Verhältnis zur Zeit anlangt: Es hätte bei Karlauf noch stärker bedacht sein können, was es über eine Zeit und ihre innere Desorientierung sagt, daß der große Analytiker und Pathetiker Max Weber den Typus der charismatischen Herrschaft ausgerechnet an der fragwürdigen Gestalt eines genialen literarischen Selbstdesigners gewann, der sich im Heraufbeschwören von Götterdämmerungen gefiel. Vor allem aber war Georges Werk nicht monolithisch. Die Schmerzlichkeit großer Poesie, der Riß in seiner Dichtung und ihrer immanenten Poetik, das Bodenlose unter einer scheinbar so dicht gefügten Oberfläche, sollten nicht nur dem Kreis der Eingeschworenen und Kenner zugänglich sein. Es kann auch nicht die Hauptaufgabe von biographisch-historischer, psychologischer und literaturwissenschaftlicher Forschung und Darstellung sein, George in Datenmassen und Zeitbezüge einzuschließen, die ihn wie eine gepanzerte Riesenechse erscheinen lassen. Die progressive Auflösung des partiell großartigen dichterischen Werks im Befremdlichen und Bizarren der Biographie würde zwar ein gegenwärtig überaus verbreitetes Publikumsinteresses am Biographischen und Zeitgeschichtlichen stillen, aber gegenüber Georges Dichtung die Ausschließungsgeste seines Exklusivitäts- und Elitewahns nur noch einmal wiederholen und verstärken. Eines ist es, George als geistes- und literaturgeschichtlich signifikante und mit ihrer Ausstrahlung bis zum Hitler-Attentäter Graf Stauffenberg äußerst folgenreiche Figur zu erschließen - das hat Thomas Karlauf maßgeblich geleistet; ein anderes, diese Erschließung der Strahlkraft zumindest von Teilen des dichterischen Werks angedeihen zu lassen. Das dichterisch Große im Werk Georges ist vor seinem seinerzeit erstaunlich überzeugenden und werbewirksamen Größenwahn zu retten, und dazu sollten nun, wie Karlauf selbst andeutet, Biographie, Psychologie und Literaturwissenschaft hilfreich werden. George als Typus charismatischer Herrschaft geht uns 369 „mein eigentum und mir unendlich fern“ 18 In der Sendung: Stimmen zu Stefan George. Zum hundertsten Geburtstag. Ausgestrahlt im WDR 3, 29. Juni 1968. Wiederabdruck in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Mai 2007. S. 414-420. Dort S. 419. 19 GA VI/ VII, S. 208. Sogar typographisch ist ‚Gründer‘ durch Großschreibung hervorgehoben. nichts mehr an, denn das war nur eine gewiß ungemein folgenreiche Charaktermaske, die uns menschlich so abstoßen kann wie sie als Zeitgeistphänomen fasziniert. Hierzu hat Helmut Heißenbüttel schon 1968 gesagt, was mir auch nach Karlauf noch richtig zu sein scheint: „Er hatte meiner Ansicht nach den bösen Blick und, was schlimmer ist, die böse Berührung.“ 18 Stefan George hat nicht den deutschen Geist vertreten. Er hat es sich angemaßt. Und Klaus Schenk Graf von Stauffenbergs Attentat auf Hitler war größer in seiner Zukunftsbedeutung als in seiner Rückwärtsverhaftung an George, den „Gründer“ einer „neuen ewe“, eines Neuen Testaments also, der auf sich einen „Jahrhundertspruch“ zu dichten wagte: Zehntausend sterben ohne klang: der Gründer Nur gibt den namen .. für zehntausend münder Hält einer nur das maass. 19 Nicht dieser ‚maßgebliche‘, tatsächlich maßlose George, aber der Dichter George mit dem Riß in seiner Selbstmonumentalisierung geht uns an, weil diesem Riß unvergängliche Gedichte entsprungen sind. Das „Seelied“ geht uns an im ursprünglichen Wortsinn. Es kann jeden erreichen, denn keiner hat ganz das gelebt, was in ihm war; an jedem ist das unzugängliche Eigene einmal wie ein fremdes schönes Kind vorbeigegangen: „mein eigentum und mir unendlich fern.“ 1 Günter Eich: Ges. Werke. Rev. Ausg. 4 Bde. Hg. A. Vieregg. Frankfurt a.M. 1991. Bd. 1. S. 35f. (nach dieser Ausgabe, abgekürzt W, wird im folgenden zitiert.) Günter Eich: „Inventur“ Poetologie am Nullpunkt Inventur Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug im Beutel aus Leinen. Konservenbüchse: Mein Teller, mein Becher, ich hab in das Weißblech den Namen geritzt. Geritzt hier mit diesem kostbaren Nagel, den vor begehrlichen Augen ich berge. Im Brotbeutel sind ein paar wollene Socken und einiges, was ich niemand verrate, so dient es als Kissen nachts meinem Kopf. Die Pappe hier liegt zwischen mir und der Erde. Die Bleistiftmine lieb ich am meisten: Tags schreibt sie mir Verse, die nachts ich erdacht. Dies ist mein Notizbuch, dies meine Zeltbahn, dies ist mein Handtuch, dies ist mein Zwirn. 1 371 Günter Eich: „Inventur“ 2 s. die Herausgeberin der Gesammelten Werke von 1973, Susanne Müller-Hanpft, in ihrer Diss.: Lyrik und Rezeption. Das Beispiel Günter Eich. München 1972, S. 31. 3 zit. nach Heinrich Georg Briner: Naturmystik, Biologischer Pessimismus, Ketzertum. Günter Eichs Werk im Spannungsfeld der Theodizee. Bonn 1978. S. 43. 4 W 4, S. 661 Inventur meint als Begriff aus dem Handelsrecht die Bilanzierung von Vermögen und Schulden, laufend oder zu einem Stichtag. Eine laufende Inventur ist in Hölderlins Elegie „Brot und Wein“ gemeint, wenn es in der Schilderung eines Abends heißt: „Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt/ Wohlzufrieden zu Haus“. Vom antiken Versmaß abgesehen, verwendet Hölderlin einen gehobenen poetischen Wortschatz für eine Alltagssituation der Geruhsamkeit und des Friedens. Wenn sie in Bewegung gerät, öffnet sich der grandiose Horizont einer geschichtstheologischen Vision. Günter Eichs Gedicht „Inventur“ meint dagegen die Bilanz zu einem Stichtag, der sogenannten Stunde Null des Kriegsendes, das er als Soldat erlebt hat. Es geht zurück auf die amerikanische Kriegsgefangenschaft vom April bis zum Sommer 1945 in einem Lager bei Sinzig am Rhein, und die ältere Forschung hat ohne weiteres angenommen, es sei auch während dieser Zeit entstanden. 2 Sicher ist das aber nicht. In einem Brief Eichs vom März 1946 aus seinem dörflichen Domizil bei Landshut in Niederbayern heißt es: „[…] Die Verse fließen ungehemmt aus Erinnerung und Blick durch das Fenster. Manchmal muß ich schon die Augen schließen, daß mir nichts Neues dazuwächst […].“ 3 Die tabellarische Biographie der Gesammelten Werke Eichs, in revidierter Fassung 1991 herausgegeben von Axel Vieregg, formuliert vorsichtig: „1945/ 46 Lyrik der Kriegsgefangenschaft entsteht.“ 4 Entscheidend sind der Entstehungsort und -zeitpunkt nicht. Denn generell sind Erlebnisgedichte mit ihrer Spur von Unmittelbarkeit keineswegs Erlebnisprotokolle aus der Situation heraus; vielmehr sind sie das Ergebnis einer dichterischen Artikulation, die biographisch erlebten Impressionen und Emotionen nachtastet. Wieder aufsteigend, steuern sie das Schreiben, strukturieren sich aber auch in ihm und kommen zu einer Art von Selbstdurchleuchtung und Selbstwahrnehmung. Dabei entsteht eine Unmittelbarkeit höherer Ordnung, in der statt Gegenwart Vergegenwärtigung herrscht. Das Äußere wird zum Zeichen des Inneren, das Innere zum Ausdruck, das Zerstreute wird verdichtet und das Faktum zur Mitteilung. Die Organisation des Erlebnisses in einer Sprache des Gedichts, die gleichberechtigt semantische und außersemantische Mittel wie Reim, Metrum, Rhythmus, Verszeile, Klanglichkeit ins Spiel bringt, stellt eine Fülle von Bezügen im Innern des Gedichts und nach außen zu anderen Texten und zum Leser her, die erst den Reichtum des Gedichts und des Erlebnisses als Gedicht erzielen. Ein Gedicht, das einen prägnanten Moments der Gefangenschaft verdichtet, kann also durchaus nach der Gefangenschaft entstanden und dabei völlig authentisch sein. 372 Literatur 5 Zu Eichs Rolle im NS-Staat gibt es mehrere Veröffentlichungen von Axel Vieregg: Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933-1945. Eggingen 1993. (Edition Isele). Ders.: Unsere Sünden sind Maulwürfe. Die Günter-Eich-Debatte. Atlanta 1996. ‚Der eigenen Fehlbarkeit begegnet‘? Günter Eichs Verstrickung ins ‚Dritte Reich‘. In: G. Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn 1997. S. 173-194. Jedenfalls ist Eichs „Inventur“ erstmals veröffentlicht in einer von Hans Werner Richter 1947 in Stuttgart herausgegebenen Sammlung: „Deine Söhne Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener.“ In diesem Titel äußert sich ein Pathos, das seltsam durch viele künstlerische Erzeugnisse der frühen Nachkriegsjahre in Deutschland hinweht, literarisch am eindrucksvollsten wohl in den neoexpressionistischen Texten von Wolfgang Borchert, am breitesten wirksam in den ersten Filmproduktionen des Nachkriegs mit ihrem Moralismus, ihrer Schwarz-Weiß-Symbolik (undenkbar etwa „Die Mörder sind unter uns“ als Farbfilm), ihren Schwenks über die Mondlandschaften zerstörter deutscher Städte. Die Stunde Null war eben keine. Das Pathos des Leidens, der Menschlichkeit, des weichgezeichneten Neuanfangs war die Buß- und Umkehrgestalt des heroischen Durchhalte-Pathos der NS-Propaganda. Wenn man den Deutschen nachsagt, sie seien vorne Hiob und hinten Attila, dann war nun Hiob vorn. Hans Werner Richters Sammlung legt die jammervolle Hinterlassenschaft eines verbrecherischen Kriegs, die Elendsarmeen deutscher Kriegsgefangener, dem heraufkommenden Europa als seine Söhne ans Herz. Nichts von Hölderlins grenzgängerischem Pathos, nichts vom Jammerpathos der geschichtlichen Katastrophe findet sich in Eichs „Inventur“, das als Gedicht aus der deutschen militärischen, politischen und moralischen Katastrophe ähnliche Berühmtheit erlangt hat wie Paul Celans „Todesfuge“. Die Stillage von „Inventur“ ist umso erstaunlicher, als die anderen Gefangenschaftsgedichte Eichs durchaus Pathos, Melancholie, Ironie, literarische Parodie, Klage, Anklage enthalten. Und nicht nur das. Günter Eich hat als Schriftsteller im NS-Rundfunk eine Nische gefüllt mit systemangepaßten Preisungen des einfachen Lebens, der Natur, ewiger Werte in traditionell schöner Sprache. 5 Auch davon keine Spur mehr in diesem Gedicht. Alles das ist wie weggebeizt. Nach dem versteckten Selbstwiderspruch zwischen Anpassung und Widerwillen, quälender mit fortschreitendem Kriegsgeschehen, ist Eich zum Kriegsende am nackten Grund angekommen. In keinem anderen Gedicht so sehr wie in „Inventur“. Keines erreicht einen Lakonismus wie dieses. Nicht nur trotzdem, sondern deshalb kann man es repräsentativ nehmen; denn repräsentativ ist nicht unbedingt der Durchschnitt - der ist typisch -, sondern zuweilen auch das Extrem. Denn erst von der äußersten Konsequenz her tritt manchmal hervor, was in einem Sachverhalt steckt. 373 Günter Eich: „Inventur“ Demgemäß treffe ich hier eine methodische Entscheidung: Ich interpretiere dieses Gedicht, in dem sich wie in einem Brennglas historische und biographische Linien bündeln, in seiner Einzigartigkeit und nehme sein Profil nicht auf ein Kontinuum von Eichs Werk zurück. Es hat seinen Rang in seiner Diskontinuität. Schon der Buchhaltertitel provoziert und ist ein genialer Griff. Statt Exaltation ist Bilanzierung angesagt. Als ‚Haben‘ werden schäbige Restbestände statuiert; von ‚Soll‘ keine Rede. Wenn das ein Gedicht, vollends ein poetologisches Gedicht heißen soll, dann ist es wohl eines der seltsamsten, am meisten minimalistischen und radikalen der deutschen Literatur. In ihm spricht einer, der völlig auf sich selbst zurückgeworfen ist oder besser: der sich völlig auf sich selbst als letzte Bastion zurückgezogen hat, denn geworfen mag er zwar sein, aber ungebrochen. Ein Du kommt in diesem Gedicht nicht vor, wohl aber sagt das sprechende Ich immer wieder: „ich“ und „mein“, zieht demonstrativ seine Grenze gegen ein Draußen, das unbestimmt und leer und entpersonalisiert bleibt, so weit ist es abgeschoben. An der Widrigkeit dieses Draußen aber kann kein Zweifel bestehen, denn sie ist ablesbar an der Anstrengung, sich zu konzentrieren und sich nicht beirren zu lassen. „Niemand“ ist das einzige Personalpronomen außer dem der ersten Person, das in dem Gedicht vorkommt. Der sich hier äußert, läßt keine feindliche, aber auch keine freundliche Menschenwelt an sich heran. Keine Begegnenden erscheinen; nicht einmal Körper; nur einmal partes pro toto: „begehrliche Augen“ - nicht auf einen Menschen, sondern auf eine Sache gerichtet. Überhaupt leistet sich das Ich des Gedichts, entgegen jahrtausendealter Tradition lyrischer Gefühlsverlautbarungen, die das Geheimste des Herzens aussprechen, keine Herzensergießungen, weder Angst, noch Zorn, noch Haß, Schmerz oder Freude. Wenige Gegenstände, alle leicht am Körper zu tragen, materiell unter Normalbedingungen Plunder, jetzt überlebensnotwendig, markieren Reichweite und Verfügung des Ich. Es sind ein paar Utensilien des persönlichen Gebrauchs, wie sie dem ortlos Schweifenden - und dem Gefangenen - zugehören. Kostbar für ihn auch deshalb, weil stets von Verlust bedroht. Aber von Gefangenschaft ist ebensowenig die Rede wie von Wanderschaft. Nichts von Lageratmosphäre und Lagerelend, in diesen Jahren dankbare Anlässe literarischer Beschreibung. Sie drücken sich nur negativ im Text durch, als sein Widerlager. Allein das zusammengefaßte, geballte Selbst, die Selbstbewahrung, der Stolz äußern sich. Doch so dezidiert dieses Ich sich artikuliert, so sehr verbirgt es sich. Nur einmal steht „ich“ in den Versen in Spitzenstellung - wo es von seinem Namen spricht. Der Name ist Markierung der Identität der Person, aber er sagt inhaltlich nichts über die Person. Genau in der Mitte redet das Gedicht denn doch vom Geheimnis, aber anders als im Gedicht üblich. Es wird nicht inhaltlich zur Sprache gebracht, es wird nicht als - wie Goethes Formel lautet - offenbares Geheimnis ausgesprochen, es wird als bewahrtes und zu bewahrendes Geheimnis benannt, unsichtbar und doch geradezu triumphal als nicht zu entwendender, innerster Kern des 374 Literatur 6 W 1, S. 422. 7 Wilhelm Müller: Ungeduld (V. 1) und Der Lindenbaum (V. 5f). In: W. M.: Die Winterreise und andere Gedichte. Hg. H.-R. Schwab. Frankfurt a.M., Leipzig 1994. S. 21 u. 46f. 8 W 1, S. 81. 9 Johann Wolfgang von Goethe: Faust II (V. 4681f.). Besitzes hochgehalten und im Benennen verschwiegen - „einiges, was ich niemand verrate“. Wie die Spitze eines Eisbergs ist dieses Wort, das immer noch nicht direkt von einer schlechten Wirklichkeit spricht, sondern sie lediglich aus dem Verhalten des Ich erschließbar macht: Ein Hinüberschwingen zur Umwelt und zum Du wäre nicht Mitteilung, Hingabe, Offenbarung; es wäre Selbstverrat. Was nicht verraten werden soll, wird noch einmal zusätzlich sprachlich versteckt - in opaker Gegenständlichkeit. Wenn es in Goethes Zürichsee- Gedicht von 1775 heißt: „Und im See bespiegelt/ Sich die reifende Frucht“, dann ist die reifende und sich bespiegelnde Frucht ganz Frucht, aber durchsichtig auf das Ich in seiner Fähigkeit, zu reflektieren und zu reifen. Brotbeutel jedoch bedeutet nichts als Brotbeutel, wollene Socken nichts als wollene Socken. Nicht werden die Dinge transparent auf das Ich, sondern das Ich wird hinter die Dinge zurückgenommen. Statt im Herzen ist im Beutel, was nicht verraten wird. Das Geheimnis ist auch nicht im Kopf, „es“ dient vielmehr dem Kopf als Kissen. „Was ich niemand verrate“ hat sich gleichsam in den Brotbeutel verwandelt. Eine frühere Lesart hatte noch „er“ an Stelle des „es“ 6 und bezog sich mit dem männlichen Personalpronomen noch grammatisch korrekt auf den Gegenstand Brotbeutel unter dem Kopf. Erst die Verdinglichung des Bewußtseinsbestands, der nicht verraten wird, zum Kopfkissen ist der letzte Schritt, ihn zu verbergen. Der Name wird als Besitzvermerk in das Weißblech der Konservenbüchse eingeritzt, die als Teller und Becher zugleich dienen muß, nicht wird in der Ritzung das fühlende Herz ausgeschrieben. Von wegen: „Ich schnitt es gern in alle Rinden ein“; „ich schnitt in seine Rinde/ So manches liebe Wort“. 7 Baumrinde gibt es hier so wenig wie Bäume. Welches Elend das bei Eich bedeutet, sagt das Gedicht „Ende des Sommers“ aus den „Botschaften des Regens“ von 1955: „Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume! / Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben! “ 8 . Der einzige Naturgegenstand neben lauter Zivilisationsresten, der lakonisch in einem Wort benannt wird, ist „Erde“; aber nicht, um sich ihrer als Natur und Lebensraum zu versichern (etwa: „Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig/ Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen“ 9 ), vielmehr als etwas, gegen dessen Unwirtlichkeit - Feuchte, Kälte - man sich notdürftig abdichtet: „Die Pappe hier liegt/ zwischen mir und der Erde.“ Ausgeschlossen in diesem Gedicht, im Unterschied zu anderen Eichs auch aus dieser Zeit, die Natur sogar als Sehnsuchtsziel. Nichts also von einem der großen Resonanzräume der Lyrik, und vor allem nichts von Liebe unter Menschen, dem 375 Günter Eich: „Inventur“ 10 Jürger Zenke: Poetische Ordnung als Ort des Poeten. Günter Eichs Inventur. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 6: Gegenwart. Hg. Walter Hinck. Stuttgart 1982. S. 72-82. vornehmsten und häufigsten Thema von Gedichten. Bloße Begehrlichkeit greift aus, nach nichts als dem „kostbaren Nagel“; am meisten noch wird die Bleistiftmine „geliebt“. Die letzten verbliebenen noblen Worte werden an Zeug geheftet. Inventur - da könnte man an große lyrische Lebenssummen denken wie Bertolt Brechts Anrede „An die Nachgeborenen“, aber auch an viel Früheres, besonders prägnant und grandios etwa Paul Flemings berühmte „Grabinschrift so er ihm selbst gemacht“ mit dem Anfang: „Ich war an Kunst und Gut und Stande groß und reich“ von 1640. In Eichs Gedicht findet sich keine Rechenschaft, keine monologische Selbstklärung, kein Abstandnehmen, um Überblick zu gewinnen. Der verengte Wahrnehmungshorizont wird geradezu demonstrativ, wie eine Verdoppelung der körperlichen Gefangenschaft, vorgeführt. Ebensowenig eine kritische Sichtung der Verstrickungen in Diktatur und Gewaltherrschaft, mit deren Erörterung sich Eich auch später immer schwer getan hat. Es gibt in „Inventur“ nichts von Gerichtstag halten über das eigene Ich, wie Ibsen das Dichten nennt. Vor uns liegt nichts als ein im wahrsten Sinn des Wortes sachliches Inventar des Nächstliegenden. Auf den ersten Blick sieht so kein Gedicht aus. Vielmehr wirkt der Text zunächst wie ein Gegengedicht, wie ein Protest gegen Gedichte. Keine Hand, eine geschlossene Faust. Eher keine Mitteilung, eine Mitteilungsverweigerung. Auch die Sprache ist arm. Simples Zeigen und Benennen von Sachen im Draufzeigen, wie bei Geistesschwachen. „Das ist…“ Weitgehend Parataxe. Erst recht keine poetischen Schmuckformen. Vierzeilige Strophen, das Geläufigste, aber was für welche! Vierzeilig ist die häufigste deutsche Strophenform, die sogenannte Volksliedstrophe, aber Volksliedstrophen schwingen, diese Strophen sind abweisend, mit fast jedem Zeilenende in Sprachlosigkeit absinkend, aus der ein neuer Anlauf nötig ist. Man kann zwar ein zweihebiges metrisches Schema in die Verse hineinlesen, und man hat sie einer minutiösen metrischen Analyse unterworfen 10 , aber dieses Schema und der im Text herrschende Rhythmus klaffen so weit auseinander, daß es mir näherzuliegen scheint, ruhige, fast ruppige prosanahe Kurzzeilen zu vernehmen, das Versende jeweils ein Stocken. Alle vergleichbaren reimlosen Gedichte Eichs aus dieser und der vorhergehenden Zeit sind jedenfalls viel deutlicher metrisiert. Wie sich kein Metrum durchsetzt, fehlt auch der durchgehende Reim; es fehlen Klangspiele und prägnante Metaphern. Die Kostbarkeit des Nagels besteht allein in seiner Eigenschaft, Nagel zu sein, mit dem man ritzen kann. Was könnte allein das Wort Brot bedeuten, aber nein, statt „Brot“ kommt nur „Brotbeutel“ vor, banaler Teil der militärischen Ausrüstung. 376 Literatur Und dennoch: es gibt keinen geschriebenen Text, der nicht Mitteilung wäre, vollends keinen als Gedicht in einer Anthologie veröffentlichten. Noch seine Einigelung ist ein Wink für andere, spricht als mitgeteilte Einsamkeit, mitgeteilte Verweigerung zu anderen Einsamkeiten, anderen Verweigerungen. Winzige Hinweise - das Demonstrativpronomen „dies“, das deiktische insistierende „hier“ - appellieren: Sieh her, wie einsam ich bin, wie sehr ich mich verweigere! Beachte, wie strikt und kunstvoll ich Symbolik und Metaphorik, Reim und Metrum zurückdränge und ausnüchtere. Das ist ein Gedicht, das kein Gedicht ist, lies es! Angesprochen ist kein Mitgefangener, denn es wäre sinnlos, ihm Mütze, Mantel usw., die doch offensichtlich daliegen und dessen eigenem Bestand gleichen, vorzuweisen. Angesprochen ist ein imaginäres Gegenüber, aber nicht als imaginärer Gesprächspartner, vollends nicht jetzt und hier. Das durchbräche die unsichtbare Wand, die Pappwand, die das sprechende Ich nicht nur zwischen sich und die Erde legt, sondern um sich aufgerichtet hat. Angesprochen ist irgend jemand, der das später irgendwo liest, also ein Publikum, und die Deixis ist poetische Evokation. Schriftlichkeit, bei Gedichten, die wörtliche Rede vorgeben, lediglich ein beliebiges Fixativ, ist beim Inventar wesentlich. Die Zeilen sind optisch markant durch ihre gleiche Länge, erzielt durch die nur geringe Schwankung der Silbenzahl in der Zeile. Wo von Sprachlichem die Rede ist, ist es schriftlich gedacht. Der Name ist mit einem Nagel in Weißblech „geritzt“, zweimal fällt das Wort. Es ist, als sei mit der Schriftlichkeit zugleich der Uranfang, die Stunde Null des Schreibens berufen - das mühsame und geheimnisvolle Einkratzen von Zeichen in harte Untergründe wie bei Zeichenmagie. Der Name, der hier als Eigentumsvermerk eingefurcht wird, ist ja ursprünglich etwas Magisches („Rumpelstilzchen“ ! ), häufig auch der Nagel, das aggressive Schreibzeug - man erinnere sich der sogenannten Nagelfetische afrikanischer Kulturen, Figuren, denen Wünsche oder Flüche förmlich eingehämmert werden. Das nächste mögliche Utensil der Schriftlichkeit ist die Pappe, die zwischen mir und der Erde liegt. Auch das lädt zur Assoziation ein: Pappe, zwischen den Ritzzeichner und die Erde gelegt - zeigt sich hier eine Ahnung von Schriftlichkeit als Distanzmedium, zwischen Ich und Welt eingeschoben? In einem nächsten Steigerungsschritt wird die am meisten von allen Gegenständen geliebte Bleistiftmine genannt, weniger Werkzeug als - fast - Partnerin, Verbündete, Freundin und Mitwisserin, dazugehörig das Notizbuch. Die einzigen Wörter der Emotionalsphäre gelten also doch nicht einfach irgendwelchem Zeug, sondern - der Lebensmitte. „Tags schreibt sie mir Verse,/ die nachts ich erdacht.“ Nicht mit der Bleistiftmine schreibt der Verseschreiber, sondern sie schreibt ihm seine Verse. Für ihn, aber auch an ihn als Adressaten - mit einem Hauch von Erotik und Autoerotik ist das formuliert, und in der Tat hat Autorschaft ja etwas Selbstreferenzielles und Selbstverliebtes, tatsächlich ist ein Autor ein Mann, der an andere schreibt, indem er an sich selbst 377 Günter Eich: „Inventur“ 11 W 1, S. 172. schreibt, der sein erster und liebster Leser ist. Dieser Schreiber erträgt seine Einsamkeit, weil er sie mit der Verdinglichungsgestalt seiner Anima, seiner Bleistiftmine teilt. „Verse“ - so stark ist das Wort in dieser Umgebung, daß es wirkt, als habe es auch den einzigen, wenn auch metrisch verstolperten Reim des Gedichts hervorgerufen: „Notizbuch - Handtuch“, und nachträglich fällt auf, daß schon mit der Formulierung vom Nagel, „den vor begehrlichen Augen ich berge“, die poetischen Mittel der Subjektnachstellung und der Alliteration ins Spiel gekommen sind. Die stark abgeschliffene Vorstellung von Dichtung als Wortmagie hat sich in dieser Steigerungsreihe vom Schreiben noch einmal selbst wie anfänglich hervorgebracht, ohne auf den Begriff gebracht zu sein. Vom Nagel wandert das geläufige Attribut der Eindringlichkeit zur Bleistiftmine hinüber. Mit dem Satz „Dies ist mein Notizbuch“, dem Anfang der letzten Strophe, erreicht das Gedicht nun auch ausdrücklich reflexiv sich selbst als diesen Text und gewinnt damit eines der zentralen Merkmale moderner Lyrik. Indem das Notizbuch vorgewiesen wird, prätendiert es, dieses Notizbuch zu sein, in dem wir jetzt lesen. „Dies ist“ meint jetzt einen Gegenstand des Gedichts und zugleich das Gedicht selber. Doch als wäre das zu weit gegangen, ziehen sich die folgenden Verse mit dem Benennen von Zeltbahn, Handtuch und Zwirn wieder in die Mimikri des Anfangs zurück, der sich gibt, als sei in dieser Welt noch nie von Gedichten die Rede gewesen. Das gehört zum Verweigerungsgestus in diesem Gedicht, das in seiner Geschlossenheit so hart ist wie ein Stein. Aber Entscheidendes hat sich doch gegenüber dem Anfang verändert, etwas, wodurch das Gedicht zum poetologischen Gedicht geworden ist. Generell formulieren poetologische Gedichte nach Gottsched keine explizite Poetik mehr. Erst recht ist Günter Eich an diesem Existenzpunkt nicht der Mann, poetologische Konzepte im Gedicht auszufalten. Noch 1965 hat er in einem Gedicht „Kunsttheorien“, dem 1966 die Fortsetzung „und Wirklichkeit“ folgte, Expertengerede verhöhnt: „Versmaße halten nicht vor.“ „Mehrsprachig, Podiumsgespräche/ Lyrik,/ ihrem Wesen nach faschistoid, / Prozesse im Flattersatz“. „Lieber, laß uns die Einsätze/ erhöhen, sicher sind/ Kugel und Strick […]“. 11 Es kann in Gedichten wie „Inventur“, ausgesandt vom Rand der Existenz her, nur grundsätzlich um Lebensrecht und Lebensnotwendigkeit von Gedichten gehen, aber dieses Nur ist auch ein äußerstes, was zum Thema gesagt werden kann. Am letzten Rand der Existenz berichten diese Strophen lediglich von einer einzigen Tätigkeit. Sie ist gänzlich unpraktisch und dennoch wichtiger als jede Praxis. Es ist Poiesis, das Machen von Gedichten. Ein stummer Verseschreiber ist der Mann, der widersteht. Das Ich hat sich als Gedichtschreiber zu erkennen gegeben. Von seinem Verseschreiben schrei- 378 Literatur 12 W 4, S. 611. 13 W 4, S. 612. Zur Frage der Naturmystik bei Eich s. Egbert Krispyn: Günter Eichs Lyrik bis 1964. In: Über Günter Eich. H.S. Müller-Hanpft. Frankfurt a.M. 1970. S. 69-89. Ders.: Günter Eich. New York 1971. bend, spielt er uns diese Verse über das Schreiben zu, und zwar wiederum gänzlich unprogrammatisch, verstohlen und verhohlen fast, noch mehr ein Kassiber als eine Flaschenpost. Zum poetologischen Bezug der Bleistiftmine gehört, daß sie Tag und Nacht in Beziehung setzt: „Tags schreibt sie mir Verse, / die nachts ich erdacht“. Das ist vordergründig die einfache Feststellung, daß der Gefangene nur bei Tageslicht schreiben kann, weil es im Lager keine künstliche Beleuchtung gibt. Dahinter liegt die Aussage, daß Dichten und Schreiben dieses Leben erfüllen und ausmachen. Es sind seine wesentlichen Bestimmungen. Zuletzt liegt in diesen einzigen traditionell schön, nämlich daktylisch bewegten und dadurch geordneten Versen des Gedichts, die nachts erdacht und tags geschrieben werden, vielleicht ein leiser Verweis auf die Scheidung von Tag und Nacht als erstem Tagewerk der Schöpfungsgeschichte, die auch eine Ordnungsgeschichte ist. Ohne daß man auf Grund allein dieses Gedichts entscheiden könnte, wie viel an Eich geläufigen sprachmystischen Vorstellungen in dem archaisch wirkenden Benennen und Vorweisen seiner Strophen mitschwingt, ohne auch Eichs eigene Äußerung in seiner „Rede vor Kriegsblinden“ von 1953 überzubewerten, „daß alles Geschriebene sich der Theologie nähert“ 12 , möchte ich doch wenigstens andeuten, daß der Schöpfungscharakter des Worts ein Eich naheliegender Gedanke war: „Jedes Wort bewahrt einen Abglanz des magischen Zustandes, wo es mit dem gemeinten Gegenstand eins ist, wo es mit der Schöpfung identisch ist.“ 13 Inventur, sagten wir, ist Bilanzierung, darin ein Ansatz zur Ordnung. Es ist nicht viel und sehr viel, in einer Stunde, in der jeder den Boden unter den Füßen zu verlieren drohte, primitivste Orientierung festzuhalten und zu setzen: Dies ist meine Mütze, dies mein Mantel, hier mein Rasierzeug. Das sind erste Schritte, aus dem Chaos eine neue Welt aufzubauen, schreibend zusammenzuheften, zusammenzunähen - „Zwirn“ ist das letzte Wort des Gedichts. Mütze, Rasierzeug, eingeritzter Name, das sind Außenmarkierungen einer Person, eines unverwechselbaren Individuums, einer Innerlichkeit auch, die sich im Widerstand gegen den Sog der Auflösung bekundet. Vom Ende her läßt sich im Ordnungschaffen der Inventur auch schon das Dichten hören, von dem später die Rede ist. Umgekehrt ist im Erdenken und Schreiben der Verse am Ende, in der unscheinbaren und nur ungewiß assoziierbaren Anspielung auf die Schöpfungsgeschichte und damit auf die traditionsreiche Vorstellung vom Poeten als alter deus, einem anderen Schöpfer durch das Wort, auch das Moment der Weltordnung durch Dichtung in den Zusammenhang von Schöpfung und Wort eingeschrieben. 379 Günter Eich: „Inventur“ 14 W 4, S. 627. Notabene steckt im Ordnungschaffen der Eichschen „Inventur“ auch mehr, als obenhin sichtbar, an Vorbedingung und sogar Anlauf für die heute so häufig von der Generation des Kriegsendes eingeklagte geschichtliche und politische Selbstbesinnung und Schuldeinsicht, die wenig und nur von wenigen artikuliert wurde. Der erste Schritt des Aufwachens, sich und sein Zeug Zusammenraffens, sich Sammelns führt nicht notwendig zum zweiten, dem Rundumblick: Wo stehe ich? Was habe ich getan? Was soll ich tun? Aber ohne den ersten Schritt kann der zweite nicht unternommen werden. Erst recht nicht der dritte - wohin sollen wir gehen. Eich hat zu ihm allenfalls angesetzt; zu sehr hatte er sich wohl schon durch sein Taktieren in der NS- Zeit selbstzweiflerisch unterwandert, als daß er nicht ein einzelgängerhafter Unterwanderer und Infragesteller hätte bleiben müssen. Dies ist ein poetologisches Gedicht, haben wir statuiert, und als solches an ein Publikum adressiert, aber an ein Publikum von Versprengten und Vereinzelten, das Kassiber zu finden gewitzt genug ist. Weit weg ist das Mitmenschlichkeitspathos der frühklassischen „Zueignung“ Goethes, wo die Muse den Dichter aus der Misanthropie wegscheucht, wo der Dichter rhetorisch fragt: „Warum sucht’ ich den Weg so sehnsuchtsvoll,/ Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll? “ Hier ist kein Weg gefunden, erst recht nicht ein gemeinsam gangbarer. Hier wird ein Weg gesucht - ins Gedicht, nicht als Elfenbeinturm, aber als Maulwurfsbau. Mit Recht ist die Anspielung auf Eichs Sammlung kurzer beziehungsreich-widerspenstiger Prosatexte unter dem Titel „Maulwürfe“ (1968) in Forschung und Publizistik zum Gemeinplatz bei der Charakterisierung von Eichs Dichtung geworden. Damit ist an die komplexe Frage gerührt, wie weit Eich nach 1945 ins Politische gegangen ist. Für die politische Dimension seines Engagements als Schriftsteller wird häufig seine wichtigste programmatischen Äußerung, die Büchnerpreis-Rede von 1959, ins Feld geführt. Aber Eich bekennt sich hier nur zu einer Bundesgenossenschaft der einzelgängerischen Nein-Sager: „Sie gehören alle der Ritterschaft von der traurigen Gestalt an, sind ohnmächtig und Gegner der Macht aus Instinkt. Und doch, meine ich, ist der Menschheit Würde in ihre Hand gegeben. Indem sie rebellieren und leiden, verwirklichen sie unsere Möglichkeiten.“ 14 Das ist resignativ, subversiv und aggressiv in einem, mit dem Schillerzitat auch ein wenig hilflos pathetisch. Eichs Vorstellung von Macht ist abstrakt, auch wenn sie für ihn spezielle und aktuelle Züge annehmen kann, und sie ist abstrakt negativ, historisch und politisch wenig reflektiert. Der vorhergehende Teil der Rede fördert zutage, was Eich unter den Möglichkeiten zur Selbstbehauptung der instinkthaften Gegner der Macht versteht. Sie liegen, ganz vom Literaten her gedacht, allein in der Sprache, und auch der Sprachbegriff ist an dieser Stelle weitgehend abstrakt 380 Literatur 15 W 4, S. 618. 16 W 4, S. 624. 17 W 4, S. 625. und undifferenziert. Eich fordert: „Behaupten nicht mit Inhalten. Inhalte gibt es überall, sondern behaupten mit Sprache.“ 15 Er trumpft auf: „Es sind nicht die Inhalte, es ist die Sprache, die gegen die Macht wirkt.“ 16 Er argumentiert: „Ein Inhalt, der zur Sprache käme, ließe sich nicht mehr ohne Aufsehen beiseiteräumen, er wäre ein Felsklotz. Die Macht braucht einen handlicheren Aggregatzustand, Inhalte, die transportabel und im Bedarf austauschbar sind“. 17 Erst im letzten Zitat wird erkennbar, daß Eich Sprache, auch und gerade literarische Sprache, doch nicht ohne Inhalt denkt, denn er sieht die Pseudo- Sprache der Macht auf die Transportierbarkeit ihrer Inhalte angewiesen, wogegen der wirklich, nämlich literarisch, zur Sprache gebrachte Inhalt resistent gegen Manipulation wäre. Der dichterisch artikulierte Inhalt hätte einen anderen Aggregatzustand als der von der Macht artikulierte. Das heißt aber wenig anderes als das Vielgesagte: Die Dichtung sagt die Dinge wesentlich. An diesem Punkt - den Aussagen zum Verhältnis von Sprache und Inhalt -, bleiben Eichs Aussagen letzten Endes vage und inkonsistent, so sehr er auch dichterisch das Feld des wesentlich Sagbaren erweitert hat, so sehr sich auch das bei ihm Wesentliche von der Tradition abhebt. Seine Berufung auf die Sprache ist eine Abgrenzung gegen die ihm unheimliche Macht, keine Auseinandersetzung mit ihr. Man könnte auch scharf sagen: Er redet an der „Macht“ vorbei. Jedenfalls wird beim Rückblick von der Büchnerpreis-Rede auf „Inventur“ doppelt deutlich, daß Eich mit keinem Wort andeutet, was in den nachts gedichteten und tags aufgeschriebenen Versen steht. Nicht was, sondern daß gedichtet wird, ist der Punkt des Widerstands. Und doch ist das Gedicht Ausdruck einer Art von Katharsis, denn in dieser Nüchternheit vollzieht sich innerpoetisch die Ausnüchterung falscher Gefühle und Ideale, aus denen gelebt worden ist und mit deren Hilfe eine Generation verraten worden ist. Falscher politischer Gefühle und Ideale. Falscher, nämlich propagandistisch mißbrauchter poetischer Gefühle und Ideale von Hölderlin bis Rilke. Und die Genauigkeit und Nüchternheit der Sprache zielt letztendlich indirekt doch auch auf Genauigkeit und Nüchternheit des Lebens als Individuum. Günter Eich hat in einem anderen, 1946 erstveröffentlichten Gedicht „Latrine“ der ausnüchternden Kraft der poetischen Sprache ihre andere Kraft zur Seite gestellt, eine Vision menschenwürdigen Lebens und Leidens - noch in der Reduktion des Menschen auf animalisches Überleben - festzuhalten. In der Lagerlatrine hockend, über stinkendem Graben geschieht dem Ich dies: 381 Günter Eich: „Inventur“ 18 W 1, 37. Auch wenn Eich „Latrine“ zunächst unter die gemeinsame Überschrift „Truppenübungsplatz“ mit dem Gedicht W 1, 22 gestellt hat, das später allein diesen Titel trägt, halte ich es für unwahrscheinlich, daß beide Gedichte schon 1940 während der Grundausbildung des Rekruten Eich in La Courtine, einem kleinen Ort zwischen Limoges und Clermont- Ferrand, entstanden sind, wie der Herausgeber Vieregg erwägt. Das Gedicht W 1, 22 spielt gewiß in La Courtine, also in Frankreich. Zur dichterischen Topographie von „Latrine“ aber scheint mir zu gehören, daß die Sehnsucht in das ferne Frankreich geht. Dafür spricht sowohl das Hölderlin-Zitat wie auch die Anspielung auf „Maria Stuart“. Irr mir im Ohre schallen Verse von Hölderlin. In schneeiger Reinheit spiegeln Wolken sich im Urin. „Geh nun aber und grüße Die schöne Garonne -„ Unter den schwankenden Füßen Schwimmen die Wolken davon. 18 „Eilende Wolken! Segler der Lüfte! “ grüßt bei Schiller die Gefangene Maria Stuart, zur Begegnung mit Königin Elisabeth in einen Park gebracht, die am Himmel nach Süden wandernden Wolken als Inbegriff der Freiheit und Weite und gibt ihnen ihre Grüße an ihr fernes Heimatland Frankreich mit (Verse 2096ff.). Sie lebt unter Todesdrohung in einer feindlichen Welt. Das Ich von Eichs Gedicht sieht Wolken unter den Füßen, und sie signalisieren noch Krasseres: verkehrte Welt. Und auch das ist noch nicht das äußerste: Himmelsphänomene, Sterne, Sonne, Wolken im Wasser gespiegelt sind Symbole für die Einheit und Ganzheit der Welt, so häufig bei Goethe. Aber hier wird Reinheit in den Schmutz geworfen, in das, was alle Kulturen als Inbegriff der Unreinheit tabuisieren: Exkremente, untermischt mit Papier und dem Blut der Ruhr, die in den Lagern grassierte. Ich habe in einem Seminar, das ich vor vielen Jahren mit thailändischen Germanistikprofessoren abhielt, einen wahren Kulturschock mit diesem Gedicht ausgelöst. Es war für Angehörige einer alten Kultur, die damals noch keine solche Routine im Tabubruch entwickelt hatte wie wir inzwischen, zunächst fast unmöglich, sich weiter auf das Gedicht einzulassen. Und doch: funkelnde Schmeißfliegen, die einen umschwirren - wer hat noch nicht an ihnen irritiert blitzhaft die Schönheit des Ekelerregenden erlebt, ein Reiz, der bei Baudelaire, dem Gründervater der modernen Lyrik, als eine der Blumen des Bösen ins Gedicht eingewandert ist. Eichs Gedicht geht noch einmal weiter: Irr schallen dem Ich des Gedichts, das sich von versteinertem Kot qualvoll entleert, Hölderlinverse im Ohr, in deutscher Rezeptionstradition seit der Generation Norbert von Hellingraths Inbegriff des erhabenen lyrischen Stils, visionärer metaphysischer Dichtung. Das Andenken des Gefangenen gilt der späten Hymne „Andenken“, Zeugnis der Heimwan- 382 Literatur 19 Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen. 2.A. Frankfurt a.M. 1996. 3 Bde. Bd. 2. S. 691-695. 20 Vielleicht meint Eich das mit seiner Unterscheidung, die er 1970 im Gespräch mit Schülern der Droste-Hülshoff-Schule in Berlin-Zehlendorf getroffen hat: Gedichte interpretieren könne man etwa bis zu Conrad Ferdinand Meyer. Seine Gedichte müsse und dürfe man meditieren. (W 4,521ff.) - Peter Horst Neumann stellt bei Eichs „Inventur“ ähnliche hermeneutische Erwägungen zur Plausibilität an wie ich, und zwar anläßlich des letzten Worts von „Inventur“ „Zwirn“. Auch Neumann sieht dieses Gedicht selbstreferenziell, und diese derung des sich verwirrenden Hölderlin aus Bordeaux, der Sehnsuchtswelt des Südens, der Hymne also, die mit der inzwischen viel parodierten Sentenz endet: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ Irrsinn in einer irren Welt? Aber ist nicht die eigentliche Sensation des Gedichts, daß die Reinheit der Wolken, der elegische Glanz des Gedichts durch nichts gebrochen, durch alles evoziert werden kann? Ist das Gedicht nicht der Beweis für Hölderlins Satz? Sinngemäß habe ich in meiner Lyrikgeschichte dazu ausgeführt: „[…] In der Latrine ereignet sich die poetische Neukonstitution der Welt, das Aufleuchten der Utopie menschlichen Lebens noch im Schmerz, folgenlos, aber unvergeßlich dem inneren Auge eingebrannt. Keine andere schneeige Reinheit ist so schneeig, so rein, so wirklich unwirklich wie diese in der spiegelnden flüssigen Ausscheidung am Grund der Grube. In der Desillusionierung herrscht hier ein Pathos, das sich eben der Geste der Desillusionierung verdankt. Die weiße Wolke ist nicht irgendwo und irgendwann, sie ist hier und jetzt: das Gedicht, dieses Gedicht - ein tiefes Leuchten, das am Dreck aufscheint. Hölderlins Gedicht verkündet das ferngerückte Göttliche. Eichs Gedicht verkündet das Gedicht, das - bei vollem Blick in den Abgrund - nur auf sich gestellte Hoffnung trägt, ja, ist. Es ist darin von einer im Entstehungsaugenblick in Deutschland beispiellosen Modernität.“ 19 Der Abstand zwischen „Latrine“ und „Inventur“ und ihren verschiedenen Weisen von Avantgardismus ist weit. Im imaginativen Ausbruch ist in „Latrine“ auch ein Ausbruch der Sprache angelegt, der sich kontrastiv zur Zurückgenommenheit von „Inventur“ verhält. Offen wird der literarische Bezug auf Hölderlins „Andenken“ ausgespielt, ja, er wird zum Thema. „Inventur“ - mit „Latrine“ verbunden durch den Rückzug hinters explizit und normativ Moralische und Politische auf nackte Überlebensreserven - verlangt doch einen anderen Modus der Interpretation. Ich spreche hier oft in Vermutungen und von Möglichkeiten, und dem methodischen Anspruch auf Exaktheit und Dezidiertheit der Aussagen mag das zuwider sein; aber es ist im Gegenstand begründet, einem Gedicht, das Versteck spielt mit Andeutungen und Zurücknahmen. Die Bedeutungshöfe, die durch wechselseitige Bestrahlung und Beschattung der Wörter entstehen, eröffnen und verschließen sich im Zugriff. Ich behaupte deshalb, daß das ‚vielleicht‘ hier zum legitimen Beschreibungsmodus des Gedichts werden kann und daß manche Fragen der Interpretation nicht entschieden werden können. 20 383 Günter Eich: „Inventur“ Übereinstimmung scheint mir wichtiger als die Differenz. Sie besteht darin, daß Neumann meint, der Bezug des Gedichts auf sich selbst laufe bis zum Wort „Zwirn“, wobei er mit einleuchtenden Belegen eine Nebenbedeutung von Zwirn = ‚Gewesenes erzählen‘, ‚Gedankenarbeit tun‘ (laut Grimmschem Wörterbuch) ansetzt. Noch weiter geht Heidi Müller (Inventur und Invention. Das Wort als Seziernadel, Krücke und Schwinge in zwei Gedichten von Günter Eich und Paul Celan. In: Studia Germanica Gandensia. 4. 1985. S. 40-52), die die gesamte letzte Strophe als Gedicht im Gedicht auffaßt. Für mich ist der poetologische Selbstbezug des Gedichts in „Notizbuch“ am stärksten, wobei mich die Erwägungen leiten, 1.) daß das wiederabtauchende Zurückmünden des Gedichts in den Anfang dem Kassiberhaften des Texts besser entspricht, 2.) daß ‚Zwirn‘ in der von Neumann geltend gemachten Nebenbedeutung einen humoristischen Beiklang ins Spiel bringt, den ich in diesem Gedicht nicht finde. Ich kann das Ich des Gedichts nicht, wie Neumann, als anarchistischen Narren sehen. s. Peter Horst Neumann: Die Rettung der Poesie im Unsinn: der Anarchist Günter Eich. Stuttgart 1981. S. 60-67. 21 In: Die Aktions-Lyrik. Hg. F. Pfemfert. Bd. 2. Jüngste tschechische Lyrik. Berlin 1916. (Neudruck Nendeln 1973). S. 113. Übersetzt durch J.V. Löwenbach. Ich arbeite auch sehr häufig mit Negativcharakterisierungen: Es gibt hier das nicht und das nicht und jenes nicht. Es ist nicht so und nicht so, sondern so. Das erinnert an das satirische Predigtschema zum Text von den zwei Jüngern, die nach Emmaus gingen: Es war nicht einer und es waren nicht drei, sondern zwei. Sie fuhren nicht, sie ritten nicht, sie gingen usw. Aber auch das ist in der Sache begründet. Einmal in der Sache der Hermeneutik überhaupt. Es ist ein sinnvolles Erkenntnisverfahren, sich der Eigenart eines Texts oder Textmoments dadurch anzunähern, daß man ihm Alternativen als Folie unterlegt und ihn fortlaufend kontrastiv-parallel vergleicht. Zum anderen ist das Verfahren der Negativcharakterisierungen im speziellen Fall gerechtfertig. So kunstvoll Kunstlosigkeit herzustellen, so prägnant Redundanzen zu vermeiden, wie es in „Inventur“ geschieht, spricht nicht nur Einfühlung und Mitgefühl, sondern auch Kennerschaft an, die goutiert, mit wie viel Aussortierung dieser Minimalismus erzeugt, mit wie viel Aussonderung dieser Lakonismus gewonnen ist. So wie schwarze Buchstaben eine weiße Leere um sich brauchen, damit sie hervortreten, so arbeitet dieses Gedicht mit Negativanspielungen, mit Evokationen durch Leerstellen. Etwa: so dezidiert kein Liebes- und Naturgedicht zu schreiben, ruft als Folie eine große Tradition von Natur- und Liebeslyrik hervor. Ein Gedicht, das mit dem Anschein spielt, gar kein Gedicht zu sein, ist in der Verleugnung von Artistik sehr artistisch. Es ist auch darin artistisch, daß es wahrscheinlich eine literarische Vorlage hat, also Literatur nicht nur aus Leben, sondern auch aus Literatur ist. Diese Vorlage ist ein Gedicht des tschechischen Dichters Richard Weiner mit dem Titel „Jean Baptiste Chardin“: 21 384 Literatur 22 Zit. nach Müller-Hanpft: a.a.O. S. 36, die den Fund Ralph-Rainer Wuthenow verdankt. 23 So auch Neumann a.a.O. S. 63, der beide Texte ausführlich vergleicht. Dies ist mein Tisch, Dies ist mein Hausschuh, Dies ist mein Glas, Dies ist mein Kännchen. Dies ist meine Etagère, Dies ist meine Pfeife, Dose für Zucker, Großvaters Erbstück. […] Gut ist’s zu Hause, Sehr gut zu Hause. Dies meine Ecke, Dies meine Hausschuh. Glattes Email Glanzüberquillt. Dies ist mein Weib. Dies ist mein Bild. 22 Auch Weiners Gedicht ist ein aussparendes Gedicht über Kunst, denn der Mann, der in diesen und den folgenden Versen aus der liebevollen Benennung der Gegenstände und Umstände seines Lebens die Szenerie eines scheinbar spießerhaft beschränkten Existenz aufbaut, ist ja einer der großen französischen Maler des 18. Jahrhunderts, vor allem von Interieurs und Stilleben. Auch hier herrscht Mimikri: das sprechende Ich des Gedichts ist ein Künstler. Der Künstler versteckt sich im Spießer, der Spießer im Künstler. Das formale Schema von Eichs Gedichtanfang ist bei Weiner vorgegeben. Doch das mindert Eichs schöpferische Leistung nicht, denn sie liegt in der Kontrafaktur: 23 Weiners Chardin grenzt sich in Gegenstände und Umstände eines äußersten Behagens ein, in einer raffinierten Sensibilität, die sich im sublimen Lebensgenuß ebenso äußert wie in seiner künstlerischen Produktion. Hier steht eine ihrer selbst sichere Künstlerfigur des Fin de siècle gegen ein dichtendes Ich, das, aus einem Weltuntergang auftauchend, sich des Strandguts seiner letzten Bestände versichern muß. Von solcher Selbstbehauptung, auch von einer immanenten Wendung des Gedichts gibt es bei Weiner nichts. Es scheint mir, daß sich Weiners Gedicht in seiner Bedeutung für Eich grundsätzlich von den bisher für „Inventur“ geltend gemachten literarischen Querbezügen abhebt, und zwar dadurch, daß die Bezugnahme auf Weiner eher Werkstattcharakter hat. Weiners Verse sind wohl ein Anstoß zur formalen Kristallisation der gesättigten Lösung von Eindrücken, Gefühlen und Erfahrungen, die in „Inventur“ zum Gedicht werden. Eich selber hat ent- 385 Günter Eich: „Inventur“ 24 Der Verweis findet sich bereits bei Kurt Bräutigam, der „Inventur“ merkwürdigerweise als moderne deutsche Ballade sieht. K.B.: Moderne deutsche Balladen (Erzählgedichte). Versuche zu ihrer Deutung. Frankfurt a.M. u.a. 1970. S. 68-71. - Außerhalb der eigentlichen schieden bestritten, dieses Gedicht bei Abfassung von „Inventur“ gekannt zu haben. Das kann Selbsttäuschung oder Verschleierung des Produktionsprozesses in seiner Tatsächlichkeit und seinem Anspruch auf Diskretion sein. Es ist auch nicht völlig auszuschließen, daß diese lapidare Äußerungsweise zweimal unabhängig voneinander gefunden worden ist. Schließlich ist das Aussageschema elementar einfach. Aber man sollte auch diese Frage nicht überbewerten, denn hinter ihr steht ein sentimentales, außerliterarisches Interesse. Es mindert den Eindruck des Urtümlichen einer Gedichtproduktion auf der tabula rasa des Gefangenencamps, wenn man sich Eich im Literaturlabor, selbst wenn er es nur im Kopf trüge, mit Vorlagen hantierend vorstellt. Doch wie die Unmittelbarkeit des Erlebnisgedichts ist auch die Urtümlichkeit einer Produktionssituation sekundär. Sie hat ihre Wahrheit darin, daß sie aus dem Text aufsteigt, oder sie hat literarisch keine Wahrheit, selbst wenn sie biographisch belegt wäre. Jedenfalls gehört Weiners Gedicht nicht dem Arsenal an, das man frei nach Malraux das imaginäre Museum der Literatur nennen könnte, einen kulturell prägenden, ubiquitär abrufbaren Allgemeinbesitz an literarischen Reminiszenzen, mit denen „Inventur“ geheim offenbar umgeht, wogegen der wahrscheinliche Rückbezug auf Weiner, obwohl gesamthaft, nur dem gelehrten Spürsinn etwas sagt und vom Autor ausgeblendet ist. Im Fall Weiner geht es um mögliche Anregungen, in allen anderen punktuell anklingenden Resonanzen um Anspielungen. „Inventur“ als Gedichtganzes scheint mir nun einen weiteren Bezugspunkt in der Tradition zu besitzen, der dem Assoziationscharakter der bisher im einzelnen von mir geltend gemachten Allusionen entspricht, doch sie allesamt überwölbt und in sich einsammelt. Wie „Inventur“ gegenüber dem momenthaften Sprengungscharakter von „Latrine“ verschlossen bleibt, ist auch dieser Bezugspunkt verschwiegen und verschlossen, im Hinhalten entzogen, dem Autor vielleicht nicht einmal ganz bewußt. Man weiß vieles, was man im Moment nicht weiß. Der Bezug des Gedichts ist ein untergründiges Zitat: „Omnia mea mecum porto“ - Alles, was ich besitze, trage ich bei mir. Das ist ein Wort aus der antiken stoischen Überlieferung, von Cicero als Sentenz des um 570 vor Christus aus seinem Vaterland fliehenden griechischen Philosophen Bias überliefert, bei Seneca, Plutarch und anderen in Varianten tradiert, von Matthias Claudius für das Motto seines „Wandsbecker Bothen“ verwendet. Das Wort hat einen Doppelsinn: Nichts ist mir geblieben, als was ich am Leibe trage. Aber auch: was wirklich zu mir gehört, das trage ich mit mir; das mitzunehmen, wird mir immer möglich sein. Und nochmals: Was ich mit mir trage, daran ist nichts Ballast oder belanglos, darin präge ich mich aus. In diese Reihe stellt sich Eichs Gedicht. 24 386 Literatur Interpretation gibt es in meinem Beitrag einige Ähnlichkeiten in Formulierungen und illustrativen Anknüpfungen mit einem mir erst nachträglich bekannt gewordenen Aufsatz von Klaus Gerth: Inventur - das „lyrische Paradepferd des ‚Kahlschlags‘“? In: Praxis Deutsch 22. 1995. S. 52-57. 25 In einer Diskussion hat man die angebliche Landläufigkeit der Verse „Tags schreibt sie mir Verse, / die nachts ich erdacht“ ins Feld geführt, um das Schreiben, von dem in diesem Gedicht die Rede ist, zur bloßen an sich selbst belanglosen Überlebenstechnik herabzustufen, aber tatsächlich sind gerade diese beiden Verse besonders kunstvoll - zugegebenermaßen besonders kunstvoll versteckt kunstvoll - in der Herstellung der Formulierungsvieldeutigkeiten, die eine Beinaheverlebendigung der Mine, damit Erotik anklingen lassen, im gleichen Moment aber auch schon ins autoreotische Moment von Autorschaft transformieren. Die Mine schreibt ihm, dem Ich des Gedichts, beinahe als ein Gegenüber. Sie schreibt nicht für ihn, aber ein wenig an ihn, doch eben nur ein wenig; denn sie schreibt ja seine Gedanken. Den Geliebten in seinen Gedanken und Stimmungen ‚lesen‘ zu können, ist ein Topos der Liebeslyrik für die innere Nähe der Geliebten: „Konntest mich mit einem Blicke lesen“ (Goethe an Frau von Stein: „Warum gabst du uns die tiefen Blicke“). Allerdings von solchem Lesen des anderen ist nun genau wieder nicht die Rede. Die Mine liest nicht ausdrücklich den Autor, vielmehr liest er sich selbst, indem er liest, was sie tags aus seinen Nachtgedanken aufschreibt. Ein bißchen schreibt der Autor auch durch die Mine an sich selbst. - Von allem diesem abgesehen sind die inkriminierten Verse die in der rhythmischen Bleifüßigkeit des Gesamtgedichts einzig schön schwingenden; und diese Gegenläufigkeit hebt sowohl das eine wie das andere Moment des Gedichts hervor. Generell muß die Einzelzeile von ihrem Ort im Gewebe des Gesamttexts her eingeschätzt werden. Mögen Gedichte danach verlangen, als gesprochenes Wort Klangereignisse zu werden, sind sie doch erst als geschriebene Texte - als textura - voll in ihrer Leistung erfaßbar, Klang- und Sinnereignis ineinander und auseinander zu erzeugen. Es bedarf dazu des inneren Hörens und des Vor- und Zurück-, Kreuz- und Querlesens. Inventur ist ein Wort des Handelsrechts, aber es gehört nicht den kaufmännischen Buchhaltern allein, sondern auch den literarischen ‚Buchhaltern‘, die sich an die Texte und Bücher halten, die den Sachen als Wörtern auf den Grund gehen, die qualifizieren und nicht quantifizieren. „Inventur“ ist eine neulateinische Ableitung von invenire, hineinkommen, auf etwas kommen. Es ist dasselbe Wort, das in Inventio = Erfindung, Ermittlung, Erfindungsvermögen, einem Terminus der Rhetorik und Poetik übrigens, steckt. Zu einer Inventur muß man die Kraft und Fähigkeit haben; bei einer Inventur kommt man auf etwas. Sie zieht eine Summe, einen Schlußstrich, macht einen Endpunkt, der auch ein Anfangspunkt sein kann. In der Geschichte und in der gelebten individuellen Biographie gibt es keine Stunde Null, weil die Kette der historischen und biographischen Vorgaben und Folgen, das Fortwirken der Vergangenheit in der Zukunft nicht gebrochen werden kann. Aber im literarischen Text, vollends in der Kurzform des Gedichts, das gattungshaft die Tendenz zum Punktuellen hat, sei es, daß es etwas auf den Punkt bringt, sei es, daß es das Jetzt und Hier zur Entfaltung bringt, kann sie vorkommen. „Inventur“ ist das einzige mir bekannte deutsche Gedicht, das einen Punkt Null herstellt. Ein poetologisches Gedicht. Mehr als ein poetologisches Gedicht. 25 * Alle Frisch-Zitate nach der Erstausgabe Frankfurt a.M. 1979. Endspiel im Tessin Max Frischs unentdeckte Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ * 1979 veröffentlichte Max Frisch seine Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“, ein Nebenwerk des Spätwerks scheinbar, ohne langanhaltende Publikumsresonanz. Prominente Kritiker haben es pflichtgetreu und eher lustlos unter den für den späten Frisch gängigen Stichwörtern ‚Autobiographisches‘ und ‚Alterstrübsinn‘ abgeheftet. Ich, der ich mich hier zu Wort melde, wurde alt, ehe mir diese Geschichte eines alten Mannes, von einem in Bitternis alternden Mann geschrieben, nahe ging. Denn auch der Interpret hat kein anderes Wahrnehmungsorgan als die Augen seiner Erfahrungsmöglichkeiten. Doch indem mich Frischs gnadenloses Bild des individuellen Altersverfalls bedrängte, ging mir auf, daß in diesem Horrorkabinett eine Gattungseigentümlichkeit des Menschen dingfest wird. Frischs Erzählung wartet auf ihre Entdeckung als Endspiel über ein klassisches Thema im Welt- und Selbstverständnis des Menschen. Wahrzunehmen ist ein Komplex, der in der Denktradition als Oppositionspaar formuliert worden ist: Wie verhalten sich zueinander Sein und Bewußtsein, Sein und Dasein, Natur und Geist, Geschichte als Geschehen und als Deutung von Geschehen usw. In der Tat kommt Frischs Erzählung ganz unspektakulär daher, als die Geschichte eines verwitweten und einsamen Dreiundsiebzigjährigen, der in seinem Ferienhaus in einem abgelegenen Tessiner Bergtal eine der in unseren Breiten nicht seltenen Wetteranomalien - langanhaltende Gewitter, Wolkenbrüche und Regenfälle mit den gewohnten Folgen im Gebirge wie Straßenverschüttungen, Hangrutschungen, Überschwemmungen, Stromunterbrechungen - als Katastrophe wahrnimmt und erlebt. „Que tempo“, sagen die Leute im Dorf (S. 33); aber der Alte notiert sich aus dem Lexikon die Worterklärung für „Eschatologie“ (S. 139). Ihm öffnen sich erdgeschichtliche, ja endzeitliche Dimensionen. In der Abgeschlossenheit fällt er rapide auf sich zurück, läßt zaghafte Zuwendungen abgleiten, will Telefonverbindungen nicht einmal mehr mit der Tochter, verschließt Haus und Fensterläden, wirft Porzellan zum Fenster hinaus zum Zeichen, daß er von besorgten Nachbarn nichts wissen will, sperrt die Katze aus. „Herr Geiser will keinen Besuch“ (S. 121), auch von 388 Literatur seinen Erinnerungen nicht. Seine verstorbene Frau Elsbeth ist ihm nah, aber nicht emotional. Der Abgeschnittene schneidet sich ab. In seiner Isolation kämpft er einen heroischen und letztendlich scheiternden Kampf gegen seine Verwirrung, die im alltäglichen Einerlei der Verrichtungen noch schneller fortschreitet als in der nervösen Selbstvergewisserung seiner Wissens- und Gedächtnisreserven. „Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses“ (S. 13) „Ohne Gedächtnis kein Wissen.“ (S. 14) Am Ende stehen die Selbstdiagnose eines leichten Schlaganfalls, von ihm selbst als befremdlich registrierte Verhaltensanomalien wie das Braten der Hauskatze Kitty im Kamin, die ungewohnt wache Wahrnehmung der Tochter in ihrer Bemühung um ihn und mit den Spuren ihrer verheimlichter Tränen der Bestürzung. Sie ist nun doch endlich, mit Wiederöffnung der Straße, im Auto aus der Stadt zu ihm vorgedrungen. Man könnte diesen Text als inneren Monolog oder erlebte Rede des epischen Helden auffassen, würde der Mann nicht in dritter Person als Herr Geiser eingeführt und in Distanz zum Leser gehalten. Das Entscheidende am Text ist, was aus ihm spricht, nicht was Herr Geiser sagt. Was er den Blicken entziehen will, wird entblößt, was er verheimlichen will - einen abgebrochenen Fluchtversuch aus der Unwettergegend -, wird ans Licht gezogen, sein innerer Zustand nach außen gekehrt. Da Herr Geiser sich Gefühlsäußerungen fast gänzlich versagt, in seinen Sachlichkeiten aber indirekt sehr wohl sein Gemütszustand als hoch komplex und erregt aufscheint, kommt etwas so Spannungsvolles wie eine Innenperspektive in Außenperspektive, ein Ausnahmezustand in der Aggregatform der Unterkühlung zu Wort. Die Aufbauschung der Wettermisere zur Katastrophe mit fast apokalyptischem Horizont und Geisers Angst vor Gedächtnisverlust sind von ihm noch nicht durchschaute Einkleidungsformen seines altersbedingten Bangens vor dem Tod, das vom bedrohlichen Wetter aktiviert ist. Es nistet in ihm, an der Oberfläche verdeckt durch seinen habituellen Mut, seine naturwissenschaftliche, für die meisten wichtigen Figuren Frischs so kennzeichnende Nüchternheit, schließlich durch einen der Angst gegenläufig verschwisterten Lebensüberdruß des Alters. Er kann sich einen Selbstmord vorstellen, um die eigenen Schritte nicht mehr hören zu müssen. Herrn Geiser erscheint im Nachhinein ein eigener Brief an die Tochter lächerlich, denn „da stehen Sätze wie von Robert Scott in seinem letzten Biwak“ (S. 29). Seine einzige Lektüre in der Abgeschiedenheit, die Gefühlsladung enthält, beschäftigt sich mit dem stummen einsamen Tod des Polarforschers im Eis; offensichtlich ein Identifikationsthema, aber Herr Geiser wiegelt ab. Er weiß nicht, warum er den Hut aufhat; aber etwas in ihm ahnt: Ich bin im Aufbruch, wie die Juden, die vor dem Exodus zur weiten Reise gerüstet ihr Mahl nehmen. Herr Geiser stellt immer wieder fest, daß die Kochplatte glüht, ohne darauf zu reagieren; das zeigt seine Zerstreutheit, aber auch, daß etwas Destruktives in ihm sitzt und zündelt und die Glut beobachtet. 389 Endspiel im Tessin Aus den einander widerstreitenden, verdeckten Impulsen mit dem Näherrücken des Lebensendes speist sich Herrn Geisers Überreaktion, die darin besteht, der Drohkulisse der Menschheitskatastrophe als Antwort nicht nur die höchste Konzentration seines Alltagsbewußtseins entgegenzustellen, sondern darüber hinaus die höchste ihm mögliche Konzentration des Menschheitsbewußtseins einschließlich seiner Reflexion dieses Bewußtseins, die fraglich macht, warum es überhaupt Wissen gibt. „Manchmal fragt sich Herr Geiser, was er denn eigentlich wissen will, was er sich vom Wissen überhaupt verspricht.“ (S. 117) „Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann, fragt sich Herr Geiser“ (S. 17). Er repetiert mit diesem Verhalten als Individuum Menschheitsgeschichte, denn der Tod ist wohl die erste Erfahrung, auf die der Mensch mit Weltdeutungen antwortet: Bestattung der Toten, Opferhandlungen, Totem und Tabu, Fruchtbarkeitsbeschwörung, Weltentstehungs- und -untergangsmythen. Schon in Frischs dramatischer Farce „Die chinesische Mauer“ von 1947 wird die apokalyptisch dimensionierte Katastrophe der Atombombe von Hiroshima unter der Metapher „Die Sintflut ist herstellbar“ gefaßt. Jetzt wartet Herr Geiser im Dauerregen auf die Sintflut, an die er nicht glaubt (S. 26). Indem ihm die Todesdrohung näherrückt, wiederholt Herr Geiser auch eine andere Grunderfahrung des Menschen: Der Mensch tritt als Geist der Natur gegenüber, in ihm macht die bewußstlose Natur den Sprung zum Bewußtsein, mit dem nun der Mensch deutend auf die Natur und sich selbst, das Subjekt auf das Objekt zugeht. Die Natur hat kein Gedächtnis. „Die Natur braucht keine Namen.“ „Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht.“ (S. 139) Die Natur kennt keine Katastrophen, die Natur hat keine Geschichte. Daß Herr Geiser vor allem naturgeschichtlich interessiert ist, spitzt das Problem zu: Nicht allein die Menschengeschichte, auch die Naturgeschichte ist eine Erfindung des Menschen. Der Mensch hätte keine Geschichte, es gäbe keine Geschichte der Erde und des Kosmos, hätte der Mensch kein geschichtliches Bewußtsein. „Der Mensch erscheint im Holozän“ - der Buchtitel trägt von hier aus seine geheime Umkehr in sich: das Holozän erscheint im Menschen. Der Mensch erscheint in der Geschichte in dem Maße, wie im Menschen die Geschichte erscheint. Schließlich realisiert Herr Geiser in seinem einsamen Bewußtseins- Menschheits-Abenteuer angesichts der Todeserfahrung noch den entscheidenden Menschheitskulturschritt zur Schrift als dem bedeutendsten Mittel der Bewußtseinserweiterung und -objektivierung sowie der Wissensspeicherung, die schon sehr früh, etwa in Form von Königslisten oder Überschwemmungsaufzeichnungen, mit der Zeit- und Geschichtswahrnehmung verknüpft ist. Er tapeziert seinen Wohnraum mit Notizzetteln, auf denen er sein eigenes Wissen von der Welt niederlegt, dann aber auch mit Textausschnitten. Er findet sie in den Büchern, die er mag und die ihn umgeben - etwa einem zwölfbändi- 390 Literatur ger Brockhaus, landes- und naturkundlichen Führern, naturwissenschaftlichen Sachbüchern und dergleichen -, und schneidet sie mit der Schere aus. So erweitert er sein Bewußtsein zum Menschheitsbewußtsein, seine Wohnstube zum Speicher des Menschengeists. Aber auch zu dessen Gruft, denn dieser Speicher ist so abgeschieden wie er. Frisch verlängert mit Herrn Geiser die stattliche Liste der Sonderlinge in der deutschsprachigen Literatur um ein kapitales Exemplar. Denn was Herr Geiser da so heroisch unternimmt, hat zugleich den Anhauch von radikaler Vergeblichkeit, Groteske und Lebensdisproportioniertheit des Einzelgängers, und der Text spießt diese Disproportion auf, ohne sie als solche zu benennen, etwa: „Herr Geiser sucht das Klebeband. - Verwüstungen hinten im Tal… Das Klebeband ist gefunden.“ (S. 122) Nicht nur ist doch klar, daß, käme die Sintflut, auch sein Häuschen zusamt ihm unterginge - es ist keine Arche, und nicht ohne Sorge richtet sich seine Aufmerksamkeit auf Risse, Erdspalten, Hangrutschungen. Herrn Geisers Bewußtseinserweiterungs- und Reflexionsanstrengungen werden auch unterlaufen und überholt durch die rapide Zerrüttung seines Bewußtseins. Während er sein Zettelarchiv erweitert, weiß er nicht, warum die Elektroplatte glüht; während er überlegt, warum die Elektroplatte glüht, vergißt er, warum er in den Keller gegangen ist. Er kommt nach einem Sturz zu sich und weiß nicht, ob er vom Stuhl oder die Treppe hinab gefallen ist. Der an die Wand gepinnte Lexikonartikel zur Erdgeschichte stellt fest: „Im Pleistozän erscheint nach bisheriger Auffassung der Mensch (Altsteinzeit); die erdgeschichtliche Gegenwart spielt sich im Holozän ab“ (S. 28); in Herrn Geisers Kopf kommt’s durcheinander: „Der Mensch erscheint im Holozän.“ (S. 103). Die Ordnungsversuche führen ins Chaotische, die Zettel in die Verzettelung. Die Ausweitung von Herrn Geisers Bewußtseins zum Menschheitsbewußtsein ist so zugleich die Schrumpfung des Menschheitsbewußtseins zum zufälligen Bewußtsein eines alten Mannes und seiner mageren Ressourcen, in dessen Kopf Alltagsallerei, Katastrophe und imaginäres Museum der Wissensinhalte kunterbunt durcheinanderpurzeln und der seine Endzeit mit der Menschheits- oder Weltendzeit verdeckt und verwechselt. Es sagt schon alles, daß der erste Blick auf den Alten fällt, wie er bei Nacht und Regen drinnen am Tisch hockt und zum wiederholten Mal vergeblich versucht, eine Pagode aus Knäckebrotscheiben zu türmen - nicht einfach ein Kartenhaus aus Karten, nein eine Pagode aus Knäckebrot, einen Tempel, einen Reliquienschrein, eine sinnbildliche Darstellung und Zusammenfassung der Weltordnung, eine zeitdurchragende Vergegenwärtigung des Buddha, und zugleich eine Art Knusperhäuschen. In diesem Wirrwarr und Zerfall der Dimensionen kommen auch objektive und subjektive Deformationsmerkmale durcheinander, stellt sich gerade und erst recht mit wachsender Chaotik eine übergreifende Sinnbildlichkeit her, ohne daß er es selbst bemerkt. Das augenscheinlich Zufällige der Wissens- 391 Endspiel im Tessin bestände und -speicher des Herrn Geiser, die naturwissenschaftliche Schwerpunktbildung, das Lexikon als Hauptquelle, die Zerstückelung der Zusammenhänge, das Formulieren von Sinn- und Bedeutungsfragen nur als deren Infragestellung - all diese Eigentümlichkeiten sagen auch etwas teils über einen menschheitlichen, teils über einen epochalen Geisteszustand. Grundsätzlich, sozusagen als existentielle Gegebenheit, schwimmt menschliches Bewußtsein und Selbstbewußtsein wie ein Ölfleck auf einem Meer der Vorgegebenheiten, ist also seinen Gegenständen disproportioniert. Epochal eigentümlich ist die Schrumpfungstendenz von Sinnzu Bedeutungszu Zweckfragen bis hin zur Bewußtseinsverkürzung auf die Datenberge des Experimentalismus; eigentümlich auch die Präferenz für das Quantifizierbare, die Blickverlagerung vom individuell Menschlichen, wie es sich etwa in den von Geisers verstorbener Frau bevorzugten Romanen niederschlägt, hin zum Gattungshaften. Es ist ein weitgehendes Absehen vom individuellen Menschen, das bei Geiser zugleich ein Wegsehen aus mangelnder Zuneigung ist. Aber es ist auch sein Blick für die Blindheit, die in der Voraussetzung liegt, „als sei das Gelände dafür gesichert, die Erde ein für allemal Erde, die Höhe des Meeresspiegels geregelt ein für allemal.“ ( S. 16) Daß Herr Geiser von seinem einsamen Ich leichter zur Menschheit als abstraktem Gattungssubjekt als zu konkreten Nebenmenschen mit ihren Emotionen und Eigentümlichkeiten überspringt, daß er - über dem Untergrund von Angst - von Stumpfsinn und Langeweile bedroht ist, daß er in immer mehr Hinsichten findet, alles habe keinen Zweck, von Sinn und Bedeutung ganz zu schweigen, daß er sich eher der sinnlosen Klassifikation des kaum Klassifizierbaren wie der verschiedenen Nuancen des Donners widmet als seinen letzten Lebensfragen, die ihn doch untergründig umtreiben, ist nicht nur ein Zeichen des Altersabbaus, sondern auch der Teilhabe an einer epochalen Verfassung. Das wird dadurch verstärkt, daß auf der Ebene des Erzählens zentrale Merkmale von Herrn Geisers Geisteszustand transformiert zu erzählerischen Elementen und Formen manifest werden. Offensichtlich ist der Reduktionismus aufs Faktische und sinnlich Wahrnehmbare, das Parataktische von Herrn Geisers Bewußtsein zugleich ein charakteristisches Merkmal von Frischs Altersstil, der hier noch die Schrumpfformen der Sinn- und Bedeutungsreflexion an Herrn Geiser delegiert und sich nicht viel mit Erzählerkommentaren abgibt. Die Weltsicht des Erzählers drückt sich, wie Herrn Geisers Seelenzustand, indirekt in den Sachverhalten und den Darstellungsmitteln durch. Es ist ein genialer Einfall, Geisers Bewußtseins- und Wissensverzettelung, auch die brockenhafte Entfremdung der Wissensbestände, bis ins Textbild durchschlagen zu lassen. Das geschieht mit der Durchlöcherung der fortlaufenden, Zusammenhang suggerierenden Druckzeilen durch Faksimiles der von Herrn Geiser ausgeschnittenen Zettel in ihrem zufälligen und nichts bedeutenden Drucksatz, mal Fraktur, mal Antiqua, mal groß, mal 392 Literatur klein. Und jedes Zitat wird auch noch am Buchende in Fußnoten wissenschaftsförmig nachgewiesen: wie Insekten aufgespießte Exaktheiten im Dienst des Fiktionalen, ja, was Herrn Geiser anlangt, einer Chimäre. Offensichtlich hat hier auch der Erzähler kein Interesse am Romanhaften und an romangemäßen Gefühlsverwicklungen. Die Isolierung von Herrn Geiser dient zur monologischen Konzentration allen Geschehens in einer Bewußtseinsthematik, die eine hoch artistische minimalistische Erzählung mit maximalistischer Aufladung, Weltdichtung im Duodezformat erzielt. Herrn Geiser fällt die Fragwürdigkeit seines Collageverfahrens auf, mit dem er, indem er Wissen versammelt, zugleich das gesammelte Wissen zerstört, weil er dessen Gliederung und Systematik, ja, sogar das lexikalische Alphabetisierungschema vernichtet. Schließlich wird ihm das Elementare klar: daß nämlich das Aufkleben der Buchausschnitte deren Rückseiten unlesbar macht. Das Kenntlichmachen des einen macht das andere unkenntlich. Man könnte fortfahren: das Ausschneiden macht die Schnittstellen deutlich und bedeutend. Keines dieser Dokumente ist eindeutig, nur die Tatsache ihrer Uneindeutigkeit, Einseitigkeit, Zusammenhanglosigkeit ist es. Das führt in das bedeutungsvoll Aussparende und Nichtssagende des Schlusses der Erzählung: Geisers Verschwinden in der Bewußtlosigkeit eines Schlaganfalls und/ oder seines Todes wird im Text zur Leerstelle nicht nur der Bedeutungen, sondern der Personalität, des Gefühls, ja sogar der speziellen Umstände des Geschehens. Herr Geiser registriert bei sich Schlaganfallsymptome; dann sagt ein Lexikonartikel in nackter naturwissenschaftlicher Abstraktion vom konkret Menschlichen, was ein Schlaganfall ist, dann ist Herr Geiser, dem alles entfallen ist, wohl im Schlaganfall, auch Frischs Geschichte entfallen. Er wird nicht mehr erwähnt. Damit ist die Frage nach der Dissoziation der Koordinaten- und Bedeutungssysteme auf die Darstellungsebene dieser Erzählung gehoben. Die Sonne ist nun zurückgekehrt und scheint wieder über einem Bergtal, aus dem Herr Geiser weg ist, einer lackierten Idylle, die keine und alle Fragen offen läßt - nur daß im letzten Satz ein Käuzchenschrei, der alte Todesruf, genannt wird und über dem Ganzen ein vexierbildhafter, rätselhafter Titel steht: „Der Mensch erscheint im Holozän“. Aber nein, er erscheint laut Brockhaus im Pleistozän! Aber in Herrn Geiser erscheint er im Holozän (S. 103). Und überhaupt: „Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen.“ (S. 139) Der Mensch erscheint in der Geschichte, die Geschichte im Menschen. In diesem Menschen? Erscheint und verschwindet er, der doch ihr Quell- und Kristallisationspunkt war, in dieser Geschichte? Verschwindet die Geschichte aus diesem Tal, von dem es nun heißt, hier sei es wie im Mittelalter (S. 142) oder wie in der Steinzeit (S. 143), also geschichtslos? Jedenfalls ist es kein Zufall, daß Herr Geiser in Lebensumständen und Verhaltensweisen unverkennbare Ähnlichkeiten mit seinem Autor und dessen Schreiben aufweist, angefangen beim langjährigen Wohnen im Tessiner Bergtal. Wenn Herr Geiser feststellt, daß er einem Lurch ähnelt, ist die phy- 393 Endspiel im Tessin siognomische Selbstkarikatur Frischs unverkennbar. Herr Geiser ist Herr Frisch und doch auch nicht Herr Frisch, vielmehr Herr Frisch von innen, von außen durch Herrn Frisch wahrgenommen. Also Herrn Frischs Ende, von Herrn Frisch erzählt? Nein, denn Max Frisch widmet diese Geschichte eines erzwungen-freiwilligen Rückzugs aus allen Beziehungen, die den Fluchtpunkt Tod hat, an Marianne - ohne allen Biographismus gesagt: einen lebendigen eigentümlichen und nahen Menschen. Die Erzählung bringt das Schweigen von Herrn Geiser zur Sprache, und doch ist diese Sprache wiederum keine Rede, sondern ein stummer und prekärer Kommunikationsakt aus der Einsamkeit des schriftlichen Erzählens in die multiple Einsamkeit von Lesern, die nicht lebendig gegenwärtige Zuhörer sind. Leser zudem, denen sich in jedem Textschnitt, jedem Ausschnitt, jedem ‚einseitig‘ lesbar Gemachten, die Aufforderung zu minutiöser Analyse und Rekonstruktion und die Unauflösbarkeit eines Rätsels mitteilt. Und so faßt sich die Geschichte zuletzt in zwei übergreifenden, ineinander verschränkten Rätseln zusammen, pragmatisch: dem verschwiegenen Tod; textuell: dem rätselhaften, verschweigenden Titel, der so verschwiegen ist wie Herr Geiser. „Der Mensch erscheint im Holozän“. Derart ist und ist nicht Frischs Erzählung von Herrn Geiser und dem Erscheinen des Holozäns in ihm das Werk, das Herr Geiser mit der Tapezierung seines Lebensraums durch Notizzettel nicht zustandebringen konnte. Sie ist als Kommunikation in einem Medium der Distanz, dem Schreiben eben, Mitteilung und Mitteilungsverweigerung in einem. Sie ist ein Antiroman, sofern der Roman die Gattung menschlicher Verwicklungen ist, die Geschichte eines Solipsisten, die in der erzählerischen Vergegenwärtigung seines ihm eigentümlichen Bewußtseins doch auch eine menschliche, also wiederum romanhafte Geschichte ist, die eine unvergeßliche Charakterfigur vor uns hinstellt. Die Geschichte ist in der Darbietung des Zerstückten ein Ganzes als Collage und aus Fragmentierungen, sie ist das artistisch arrangierte Gemenge von Alltag und Menschheitsperspektive, in das Herr Geiser, ohnmächtig rudernd, geworfen ist. Sie ist in der literarischen Repetition von Reflexionsaussparung, Sinnausfall, Bedeutungsausfall beim Helden doch bedeutend in jedem Sinn. Sie ist als Erzählung von Herrn Geiser und seiner Eschatologie die erzählerische Reflexion der Oppositionen von Sein und Bewußtsein, Natur und Geist, Geschichte als Vorgang und Sinngebung, die Herr Geiser nicht zustandebringt, sie ist die Ausbreitung eines Kernproblems des menschlichen Bewußtseins in Schwundstufe. Doch damit die Erzählung das konsequent werden kann, muß Herr Geiser in dem Nichts an Handlung dieser Erzählung doch noch eine Handlung ausführen, einen Weg gehen, der biblisch Metanoia, also Umkehr heißen könnte - immerhin zitiert Herr Geiser ja auch die Bibel -; erzähltechnisch aber Wendepunkt genannt wird. Wir sind bei Herrn Geisers Flucht und Kehre, in der er schließlich, und sei es hinter dem Rücken seines Bewußtseins, 394 Literatur zwar nicht einen Sinn, eine Bedeutung, einen Zweck der Geschichte findet - aber doch mit seiner Lebensgeschichte nicht nur an das Ende, sondern an ein Ziel, sein Ziel, kommt. Was geschieht? Hoch konzentriert bereitet der zunehmend doch zerstreute Herr Geiser mitten in der Ausweglosigkeit seines Zustands und der Zerfahrenheit seiner Bewußtseinsverfassung einen Ausbruchsversuch aus seinem Ferienhaus vor. Er wühlt nach einem Ausgang ins Offene, in die Weite, die Stadt und ihre belebte Anonymität, die Welt. Mit erstaunlicher Kraft, Umsicht, Willensanstrengung, Weg-Orientierung bei ungünstigstem Wetter unternimmt er einen für den alten Mann, der er ist, schwierigen und gefährlichen Marsch über den talschließenden Paß ins Maggiatal, sogar der Abstieg ist schon erfolgreich eingeleitet, die Reisemöglichkeit mit der Bahn nach Basel in die Stadtwohnung ist greifbar nahe - da kehrt er um, zunächst eher instinkthaft, dann mit entschiedenem bewußtem Entschluß, und schlägt den nun schon viel weiteren und im aufkommenden Dunkel unberechenbaren Rückweg, abermals über den Paß hinweg, in sein Ferienhaus ein, das er schließlich völlig entkräftet erreicht - wohl der auslösende Anstoß zum ersten leichten Schlaganfall, indiziert durch eine Augenlidlähmung am nächsten Morgen und einen Druck über der Schläfe nach erschöpftem Tiefschlaf. Erst hat Herr Geiser, schwankend zwar, das Herannahen seines Lebensendes als Herannahen des Weltendes empfunden. Das war die erste tiefgreifende Verwechslung. Dann hat er, ständig mit Hut auf dem Kopf, sein eigenes ihm unverständliches Aufbruchsignal in einen Ausbruchsversuch ins Leben umgesetzt, statt seine verborgene Unruhe als Aufbruchsignal für eine viel größere Reise, in den Tod, zu verstehen. Das war die zweite tiefgreifende Verwechslung. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Und diese Stunde der Wahrheit ist auch die Stunde, in der er eine Geschichte, nämlich als Ende seiner Geschichte, gewinnt. Fast alle Figuren Frischs haben Probleme mit ihrer Biographie, mit ihrer Geschichte. Die Erzählung von Herrn Geiser treibt das auf die Spitze und dem Ende zu: Da seine Lebensgeschichte als Ganze nicht in seiner Erinnerung und seinem Gedächtnis, nicht in seiner Generalbilanz auftaucht, drängt sich dem Leser die Einsicht auf: sie ist unterm Strich nichtig. Er hatte eine Frau, wahrscheinlich auch einen Beruf, obwohl man nur Vages davon erfährt, aber keine Geschichte. Doch jetzt findet er sich eine Geschichte, indem er sich seinen Tod findet. „Was soll Herr Geiser in Basel“, heißt es wiederholt (S. 105, 109). Seine Umkehr ist die Umkehr in den Tod. Daß seine Kraft und Zusammenfassung bis zur Rückkehr an den Ausgangspunkt reicht und nicht etwa im Moment der Umkehr vergeht, zeigt - auch die Kehre ist ein Willensakt, ein Handeln, kein Zusammenbruch. Im Kontext dieses Unternehmens verschränkt sich Herrn Geiser sein letztes grenzgängerisches Bergabenteuer mit einem fünfzig Jahre zurückliegenden am Matterhorn. Wie er damals, als junger Mann in Gemeinschaft 395 Endspiel im Tessin mit dem geliebten älteren Bruder, mit äußerster Anstrengung um das Überleben gekämpft hat, das ihm schließlich „durch Zufall“, das Zufallen des rettenden Seils nämlich, geschenkt wird, so entscheidet er sich nun in einer äußersten einsamen inneren Anstrengung für den Weg in den Tod, auf dem ihm wiederum der Bruder vorangegangen ist. Am Matterhorn hat er offenbar nur sein Überleben, nicht sein Leben gefunden. Jetzt verwandelt der alte Mann die Beliebigkeit seines Lebens, für die ihm Basel draußen im Flachland steht, in eine Notwendigkeit, die nicht mehr auf ein quid pro quo von Weltuntergang und Ich-Untergang hinausläuft, sondern auf das Herstellen und Erfahren eben von symbolischer Bedeutung - je für ihn, ein Erfahren und Herstellen auch dann, wenn es in der letzten Verdunkelung des Bewußtseins untergeht. Der letzte Schritt ist nicht ein Erkennen, sondern ein Tun. Dieses Handeln ist ein Weggehen, keine Heimkehr. Herr Geiser ist und bleibt überall in der Fremde, in der Lebensfremde. Was soll Herr Geiser in Basel, fragt der Bürger von Basel. Und auch im Tessiner Tal ist er nach langen Jahren fremd geblieben - dafür stehen die Fremdsprachenpartikel im Text, das Italienisch der Einheimischen, in dem sie von ihm sprechen und das er nicht perfekt beherrscht. So wie das Matterhornabenteuer der letzten Wanderung Profil gibt, so ist in Herrn Geisers Erinnerung immer wieder Island heraufgerufen, das er auf einer Reise kennengelernt hat, als Gegenbild zum Tessiner Tal mit seinem Gemenge von Kultur- und Elementarlandschaft. Island ist „Welt wie vor der Erschaffung des Menschen“ (S. 70), und darin liegt für Herrn Geiser etwas wie Verklärung und Sehnsucht - hinter den Menschen zurück, dessen Bewußtsein die Komplikation ist. So wie er seine Geschichte mit dem Tod gewinnt, so gewinnt der Lebensfremde auch seinen Ort mit dem Tod, als Tod, den Ort jenseits des Bewußtseins. Im abgeschnittenen Hochtal ist es für ihn richtig zu sterben, aber nicht, weil es damit zur Heimat würde. Der Talschluß steht symbolisch für seinen Lebensschluß. All sein Ausschneiden, sein Abschneiden, war die Herausarbeitung dieses letzten ‚Lebensabschnitts‘. Unter all seinen Versuchen, bei Bewußtsein zu bleiben, wächst eine letzte Sehnsucht nach Bewußtlosigkeit heran. Der Schlaganfall, das Ergebnis seiner abgebrochenen und umgewendeten Ausbruchsunternehmung, ist schon der kleine Tod. Seine Bewußtlosigkeit ist nicht nur die Konsequenz, sondern auch der Sinngewinn seiner zwecklosen Flucht. Dem langsamen Aufgang von individuell zu erlebender Symbolik im Bewußtseinsprozeß Herrn Geisers wohnt der Leser bei. Wenn Herrn Geiser eingangs die Pagode aus Knäckebrot, der Menschheitsbau als Knusperhäuschen, zerfällt, sagt das etwas über ihn, aber er bemerkt es nicht. Geisers fast monomanische Bewußtseinskonzentration bei seiner naturgeschichtlichen Exzerpiertätigkeit auf die Saurier, die es doch in seiner Tessiner Umgebung, wie ihm klar ist, nie gegeben hat, läßt ihn eine symbolische Spur ahnen. Er ist fasziniert von den urweltlichen, in einer Erdkatastrophe untergegangenen Sauriern, er ist verschreckt vom Feuersalamander, der sich ausweglos in der 396 Literatur Badewanne verfangen hat, dann aber auf dem Teppich zu liegen scheint, trotzdem aber noch immer in der Badewanne ist, von wo er ihn in die Glut des Kamins geworfen zu haben glaubt. Er wird ihm schon fast schon als Identifikationsfigur erkenntlich. Zuletzt sieht er sich lurchähnlich, weil er selbst eine archaische Amphibie, ein Dinosaurier ist in seinem qualvollen und vergeblichen und von der Zeit überholten Bemühen, das menschheitliche Bewußtsein, und sei es nur in den Reduktionsformen von Collage, Gedächtnis und Wissen, in sich festzuhalten und an seinen Wohnungswänden zu dokumentieren. Er wird erst recht ein Dinosaurier in seinem letzten, seinen Bewußtseinshorizont übersteigenden Herstellen von Sinn und Bedeutung für ihn selbst in einem bedeutenden Handeln. In einem Zeitklima der Beliebigkeit und der Wurstigkeit klammert er sich störrisch anachronistisch an ein positivistisches Bewußtsein, aber ehe ihm das ganz vergeht, macht er schließlich durch sein Handeln seinen Tod und damit sein Leben symbolisch. Seine Geschichte hat keinen objektiven Sinn. Er gibt ihr einen Sinn, der sein Denken hinter sich läßt - oder besser, dem sein Denken tastend hinterherstolpert, bis es zusammenbricht. Er denkt Geschichte als Registratur, aber er lebt Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, Tod als seinen Tod, selbst wenn er ihm nicht mehr bewußt beiwohnt. Im abgeschnittenen Hochtal ist es für ihn, diesen Saurier mit der letzten Sehnsucht hinter das Bewußtsein zurück, richtig zu sterben. Sein Bewußtsein will hintergründig weg vom Bewußtsein, das ist der Sinn seines Sterbens für ihn. Frischs Erzählhaltung, die Innenperspektive als Außenperspektive, ermöglicht die Entfaltung von geschichteten Symbolstrukturen: durch Herrn Geisers Bewußtsein hindurch und doch an ihm vorbei etwa in der Knäckebrot-Pagode; in Herrn Geisers Bewußtsein dunkel aufgehend bei der Dinosaurier-Lurch-Identifikation; in Herrn Geisers Handeln erzeugt bei der Kehre von der Geschichte in seine Geschichte, vom Weltende in sein Ende. Symbolik weist immer auf die klassische Symbolik zurück, wie Goethe sie in der deutschen Literatur normativ formuliert hat. Es ist das Symbol, wo ein Ganzes im Einzelnen, ein Allgemeines im Konkreten aufleuchtet, und in der Tat ist Symbolik eine klassische Möglichkeit der Dichtung, deren Argumente nicht in begrifflicher Abstraktion, sondern konkret in Handlungen, Bildern, Konstellationen, Figuren auftreten. Dennoch ist Frischs Symbolik hier in allen Schichten von der klassischen entfernt, deren Ganzes und Allgemeines eine - sei es sehr vermittelte - Entsprechung in einem Ganzen und Allgemeinen eines denkbaren Weltsinns besaß. Wenn aber Frischs Erzählung in Herrn Geisers Knäckebrot-Pagode symbolisch das Weltordnungsstreben des Alten aufscheinen läßt, dann ist im bedeutenden Bild selbst nicht nur Herrn Geisers Scheitern vergegenwärtigt - der Bau stürzt immer wieder zusammen; sondern schon das Bild selbst - Knäckebrot für Pagode, Knusperhäuschen für Weltsinn - trägt den Sprengstoff der Dissoziation und Disproportion, damit die Unmöglichkeit der Möglichkeit von Allgemeinsinn eines Ganzen in sich. 397 Endspiel im Tessin Wenn dann Herr Geiser seine Lurchähnlichkeit erfaßt, entdeckt er eine Bedeutung eines Gegenstandes nur für sich, und man könnte Frisch damit unterwegs sehen zu einer Weise des Antipoden und Dioskuren Friedrich Dürrenmatt, Sinn als Sinnentwurf je für mich hervorzubringen. Wenn Dürrenmatt in der „Ehe des Herrn Mississippi“ seinen Grafen Übelohe in eine paradoxe Apotheose hebt - Don Quijote an die Windmühlenflügel geheftet wie Christus ans Kreuz - dann wird damit die Resistenz subjektiver Sinnentwürfe - hier des Sinnentwurfs der Liebe - zur objektiv höchsten Möglichkeit in der Farce unserer Weltzustände erklärt. So pathetisch ist Frisch nun auch nicht. Herr Geiser findet keinen subjektiven Weltsinnentwurf. Er findet - wie gesagt - seinen Tod, und er findet ihn, indem er mit seinem ganzen Rest an Lebenskraft auf ihn zugeht. Und weil sein Sinn nun zwar da, aber als Tod stumm ist, ist er offenbar und rätselhaft wie der Titel seiner Geschichte. Der Mensch mag im Pleistozän erscheinen. Der Mensch, der querköpfige Herr Geiser nämlich, erscheint im Holozän. Mr. Anthropus als - wie Hegel gesagt hätte - ein Dieser. 1 In: Karl Marx, Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur. Hg. M. Kliem. Berlin 1967f. Bd. 1. S 158f. Politische Ideologie und literarische Qualität Friedrich Engels, als Mitbegründer des Marxismus einer der folgenreichsten politischen Ideologen des 19.und 20. Jahrhunderts, hat 1888 im Entwurf eines Briefes an die sozialistische englische Schriftstellerin Margaret Harkness als „einen der großartigsten Züge des alten Balzac“ hervorgehoben, daß „seine Satire niemals schärfer, seine Ironie niemals bitterer [ist], als wenn er gerade die Männer und Frauen in Bewegung setzt, mit denen er zutiefst sympathisiert - die Adligen. Und die einzigen Menschen, von denen er immer mit unverhohlener Bewunderung spricht, sind seine schärfsten politischen Gegner, die republikanischen Helden […].“ 1 Die Möglichkeit des Gegensatzes zwischen der Ideologie des Autors und der poetischen Darstellung gründet darin, daß das bedeutende dichterische Werk aus der Fülle nicht nur der bewußten, sondern auch der unbewußten Erfahrungen, Wahrnehmungen und Phantasien des Autors hervorgeht. Sie können bis zu einem gewissen Grad der Abstraktion, Harmonisierung und Zensur entgehen, die sein gedankliches Weltbild und seine Überzeugungen als Zeitgenosse und Teilhaber eines gesellschaftlichen, kulturellen und ethischen Systems prägen. Die Weltdeutung unseres Bewußtseins sucht Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit, Kohärenz, Verallgemeinerung; sie sucht Bundesgenossenschaft und Anschluß; sie bringt ihre Ergebnisse auf den Begriff. Die Weltdarstellung der Dichtung ist zwar sprachlich und damit gleichfalls begrifflich; sie enthält gewiß eine Weltdeutung; aber deren Kraft und Eindringlichkeit fließt daraus, daß auf Grund des Reichtums der dichterischen Sprache mit ihren spezifischen Schwingungen, Modulationen und Assoziationen viele und komplexe Details in diese Deutung einfließen, daß sie sinnliche Konkretion und Dichte und höchste Differenziertheit der Vorstellungen erreicht, daß sie sich den Widersprüchen und Diffusionen öffnet, von denen unsere Existenz durchzogen ist. Die Weltdeutung der Dichtung ist deshalb tendenziell nonkonformistisch und darin subversiv, sogar gegenüber dem Autorbewußtsein. 399 Politische Ideologie und literarische Qualität Diese Fülle erzielt die Dichtung, indem sie imaginativ und fiktiv Gemütsbewegungen, Konflikte, Situationen, Begebenheiten, Prozesse, individuelle Menschen hervorruft. „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ So lautet das Motto von Conrad Ferdinand Meyers Verserzählung „Huttens letzte Tage“. Aber der Ulrich von Hutten, der das sagt, ist ja nicht in erster Linie die historische Figur, die er war, sondern der gedichtete Held einer Verserzählung mit historischem Stoff. Allerdings hat diese Dichtung ihr (freilich nicht ganz erreichtes) Ziel darin, nicht ein ausgeklügeltes und hoch abstraktes, sondern ein reiches, lebensvolles und darin vielschichtiges Weltbild und Zeitbild mit einem charakterlich vielschichtigen und spannungsvollen Helden zu entwerfen. Das Werk soll, aus dem Ganzen der dichterischen Existenz geschöpft, seine Leser intellektuell und zugleich auch in ihrer Phantasie und Emotionalität ansprechen. Es will so reich wie das Leben und zugleich ‚bedeutend‘ sein. Nicht grundsätzlich müssen aus dem Ineinander von Bewußtsein, fiktionaler Phantasie und emotionell-sensueller Weltwahrnehmung bei der Entstehung des literarischen Werks Divergenzen zum Bewußtsein des Schriftstellers entstehen. Wenn die Deutungsprogrammatik des Autors, seine Neigung zum ideologischen oder pädagogischen ‚fabula docet‘ gering ist - wie etwa in vielen Romanen Fontanes - kann sich die implizite, gleichsam subkutane Weltdeutung durch die spezifisch literarischen Elemente wie Handlung, Figurenkonstellation, situations- und personenrelative direkte Rede, Symbolverknüpfung usw. uneingeschränkt entfalten und dabei eine hohe Eindringlichkeit und Evidenz erreichen. Auch wenn sich „Der Stechlin“ nicht auf eine ideologische Formel bringen läßt, auch wenn im Gespräch fast jede Figurenäußerung der Relativierung durch andere Figurenäußerungen unterliegt, ist doch allein die Ausgangsgegebenheit, daß die profilierteste, nuancenreichste, bis zum Widerspruch komplexe Mittelpunktsfigur ein alter, resignierter, aus dem politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben zurückgezogener Mann aus der bisherigen sozialen Führungsschicht ist, der am Ende eher an Lebensmüdigkeit als an einer bestimmten Krankheit stirbt, eine sehr eindeutige Aussage über den historischen Weltzustand. Nicht die geringste Schwäche in Günter Grass’ dickleibiger Fontane- Adaption liegt darin, daß eine Redensart, in der sich bei Fontane die Fragwürdigkeit einer Romanfigur zusammenfaßt, zum Leitspruch einer relativistischen literarischen Geschichtsdeutung wird, wie sie sich so in Fontanes Werken nicht findet. Grass’ Romantitel „Ein weites Feld“ kennzeichnet eine postmoderne Gleich-Gültigkeit, die jede historische Spezifik, an der Fontanes Werke so reich ist, abschleift oder zur eher beliebigen Nuance der immerwährenden Gegebenheiten entschärft. Der sonst politisch engagierte und profilierte Autor formuliert Indifferenz als Ideologie der Ideologiefreiheit und nimmt damit seinem Erzählen den Drive, so daß es breiig dahindümpelt. 400 Literatur Fehlt beim Romancier Fontane weithin der Widerspruch zwischen Programmatik und eigenlebendiger Fülle des Texts, weil er die explizite Tendenz scheut, so erzwingt umgekehrt jede Programmatik, die sich nach vorn drängt, Strategien, um das literarische Eigenleben der fingierten Wirklichkeit zu zähmen. Das einfachste Verfahren liegt in der bewußten oder unbewußten Ausgrenzung von sperrigen Problemfeldern aus der Darstellung. Wenn im „Fidelio“-Libretto der Kerkermeister als gutmütiger Biedermann dargestellt wird und Beethovens Musik diesen Eindruck vielfach verstärkt, ist die Korruption des Bürgers durch Macht und Druck des Systems aus einer Handlung ausgeblendet, die genau daraufhin ein Gefälle hat; der Gouverneur Pizarro wird, aus den politischen Relationen herausgelöst, zum isolierbaren moralischen Finsterling, Leonore zur engelhaften Lichtgestalt, das Freiheitspathos läßt alle gesellschaftlichen Dimensionen hinter sich und wird ebenso ekstatisch wie abstrakt. Wie hier der Einspruch dargestellter Realität gegen das ideologische Programm umgangen wird, das zeigt die Gefährlichkeit literarischer Annäherung an brisante politische Themen unter den Bedingungen der staatlichen Zensur. Selbst politischen Kritik kann unter solchen Gegebenheiten leicht einen anpasserischen Zug annehmen. Wie aber nun, wenn einerseits die Ideologie prägnant formuliert, andererseits der literarische Stoff ungebremst entfaltet wird? 1650, ein Jahr nach der Hinrichtung König Karls I. in der Englischen Revolution, veröffentlichte der schlesische Dichter und Jurist Andreas Gryphius ein 1646 geschriebenes Drama, das seine Stellungnahme zu der damals zeitbewegenden staatsrechtlichen Frage nach dem Widerstandsrecht bis zum Tyrannenmord schon im Titel trägt: „Leo Armenius oder Fürsten- Mord“. Sieben Jahre später folgte bei Gryphius die Dramatisierung der englischen Ereignisse um die Hinrichtung Karls I. unter dem Titel „Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus“. Hier wird der König zum Märtyrer und Nachfolger Christi, der Prozeß zur Passion stilisiert, und das gesamte Drama dient dieser Tendenz. Es entsteht eine imposante, aber freilich auch einschichtige Einheitlichkeit. Der byzantinische Kaiser des 9. Jahrhunderts Leo Armenius hingegen, der Held des früheren Dramas, widerstrebt schon als historische Figur solcher Verklärung. Er ist selbst vielfach mit Blut besudelt, ein Gewaltherrscher. Tatsächlich verschiebt sich die dramatische Verurteilung des Fürstenmords zur Darstellung einer Aktualisierung des Weihnachtswunders, die in der Finsternis einer politischen Verschwörung aufflammt und vergeht: Wenn die Kaisermörder ausgerechnet im Schutz der Weihnachtsmesse anläßlich der Menschwerdung Gottes in Christus den unbewaffneten und ahnungslosen Kaiser anfallen und verwunden, dann töten, fließt aus dem umstürzenden Kelch der konsekrierte Meßwein mit dem Blut des Kaisers zusammen, der in der Todesnot den Christus anruft, auf dessen Kreuz er sterbend niederfällt: 401 Politische Ideologie und literarische Qualität 2 Sämtliche Werke. Stuttgart 1978. Tagebücher I. Der erste Weltkrieg. In Stahlgewittern. S. 234. Gottes Inkarnation wird so hier und heute gegenwärtig; er wird zum Blutsbruder des sündigen Menschen, auch wenn keiner der umstehenden Verstörten und Verblendeten es in dieser Verhüllung begreift. Es geschieht, was der Zeit- und Glaubensgenosse des selbst tief christlichen Gryphius, der lutherische Kirchenlieddichter Paul Gerhardt, in der zweiten Strophe seines Weihnachtslieds „Fröhlich soll mein Herze springen“ in die Worte faßt: „Gottes Kind, / das verbindt / sich mit unserm Blute.“ Die implizite Sinngebung der dramatischen Handlung läßt die legitimistisch-absolutistische Ideologie des Autors weit hinter sich. Ein Schritt weiter, und das Auseinanderdriften von Ideologie und literarischer Welterfassung schlägt um in ein Spannungsverhältnis, in dem beide Momente nicht nur einander widersprechen, sondern letztendlich auch einander steigern können. 1920, zwei Jahre nach dem Ende des ersten Weltkriegs, veröffentlichte der 25jährige ehemalige Frontoffizier und Träger des Pour le Mérite Ernst Jünger das literarische Tagebuch „In Stahlgewittern“, in dem sich eine ganze Kriegsgeneration ausgesprochen, stilisiert und gerechtfertigt fand. Schon in der pathetischen Titelmetapher sind mit genialem Wirkungsgespür untereinander widersprüchliche Elemente - moderner Materialkrieg, naturhaft unausweichliches Elementarereignis und stählernes kriegerisches Durchhalte-Ethos - zusammengezwungen. Das Buch vertritt eine steil sententiöse, dabei inhaltlich verblasene Ideologie des Kriegs als eines Schicksalskampfs der Völker und ein elitäres Leitbild des Kriegers. Es verschmilzt in seiner Wahrnehmungsperspektive die Präzision des Tötungstechnikers, die Lässigkeit des Sportsmanns und eine Instinktsicherheit, die ihre Kulmination im Blutrausch des Nahkampfs erreicht. Dabei kann in den Gegenständen des Erzählens von Kriegsverherrlichung nicht die Rede sein; das Gräßliche ist mit äußerster Eindringlichkeit und Kraft der sensuellen Vergegenwärtigung dargestellt; etwa so: - die Granate war mitten zwischen uns geschlagen. Halb betäubt richtete ich mich auf. Aus dem großen Trichter strahlten in Brand geschossene Maschinengewehrgurte ein grelles rosa Licht. Es beleuchtete den schwelenden Qualm des Einschlages, in dem sich ein Haufen schwarzer Körper wälzte, und die Schatten der nach allen Seiten auseinanderstiebenden Überlebenden. Gleichzeitig ertönte ein vielfaches, grauenhaftes Weh- und Hilfegeschrei. Die wälzende Bewegung der dunklen Masse in der Tiefe des rauchenden und glühenden Kessels riß wie ein höllisches Traumbild für eine Sekunde den äußersten Abgrund des Schreckens auf. 2 Halb ohnmächtig, ist das erlebende Subjekt der Flut greller Wahrnehmungen schutz- und zunächst fassungslos ausgeliefert; aber das erzählende Subjekt, das sich in diese Erregung zurückversetzt, erreicht den Abstand des epischen 402 Literatur Präteritums. Aus der Erschütterung sich erhebendes situatives Registrieren des Truppenführers und artistisches Stilisieren des Erzählers greifen nun ineinander. Die Schreckenseindrücke ordnen sich zu einer entsetzlich lebendigen Blüte des Todes. Der Granattrichter erscheint wie der Trichter einer fleischfressenden, von Schreien der Opfer überwölbten, von grell Rosa über Glut zu Schwarz changierenden Blume des Bösen. Ihr Fürchterliches steigert ihre perverse Schönheit und umgekehrt. Baudelaires Fleurs du mal, hier sind sie, mutiert, erblüht auf dem Schlachtfeld. Auf den ersten Blick widersprechen die sensible Impression und der Stahlblick des Kriegstechnikers und -Ideologen einander; es scheint auch zum Widerspruch zwischen Ideologie und Poesie zu kommen; aber in der Tiefe gehören sie zusammen. Die Kälte der hier erzielten ästhetischen Ordnung entspricht der Kälte des Kämpfers, der eisern durchhält, geschehe, was da wolle. Und je gegenwärtiger durch Darstellung das Grauen, umso heroischer, der es durchsteht - und darstellt. Eine tatsächliche Herauslösung der Poesie aus dem ideologischen Schema findet sich hingegen in der Erzählung „Der erste Lehrer“ des kirgisischen Erzählers Dschingis Aitmatow, die 1989 in der sowjetischen Tauwetterperiode unter Gorbatschow veröffentlicht worden ist. Aitmatow verdankt seine Beliebtheit im deutschen Sprachraum wohl auch der Exotik seines heimatlichen Milieus. In seinem anschaulichen Erzählen entfaltet er den Reiz einer ursprünglichen einfachen Gesellschaft mit urwüchsig empfindenden schlichten Menschen. Die Erzählung „Der erste Lehrer“ hat einen fast märchenhaften Zug. Der Gegensatz zwischen seßhaften armen Bauern und reichen nomadisierenden Viehbesitzern ist holzschnitthaft. Der Held ist ein dem Bürgerkrieg zwischen Weißen und Roten entronnener junger fremder Rotarmist, der, selber kaum des Lesens und Schreibens kundig, von pädagogischem Pathos und Eros durchdrungen ist. Gegen alle Widerstände errichtet er im Auftrag der kommunistischen Partei unter den analphabetischen Bauern eine Schule und motiviert seine Schülerinnen und Schüler, indem er ihnen die Vision der wie das himmlische Jerusalem fern strahlenden Stadt, einer Metropole der Bildung und Kultur, vor Augen stellt. Die Lieblingsschülerin, eine Waise von großer Klugheit und Sensibilität, liebt in ihm, dem geradlinigen, erfahrenen und zugleich zarten Mann, die Humanität, deren Bote er ist; er liebt in ihr die Möglichkeit des neuen Menschen, der in der eben angebrochenen Zeit erst entstehen soll, und gerade deshalb wagt er, der durch alle Schrecken gegangen und viel älter als sie ist, nicht, seine Liebe zu gestehen und zu leben. In diese Konstellation bricht ein brutaler reicher Nomade, ein Repräsentant der alten patriarchalischen Herrschaftsordnung, als Freier ein, der sich das junge Mädchen von ihren Vormündern als Nebenfrau geben läßt und die Widerstrebende mit Gewalt davonführt. Der Lehrer befreit die zwangsverheiratete, vergewaltigte und 403 Politische Ideologie und literarische Qualität 3 Der erste Lehrer. München 1990. S. 76f. gedemütigte junge Frau im Namen der sozialistischen Staatsordnung aus den Händen des Patriarchen und Besitzers und bringt sie zur Ausbildung in die Stadt. Nie kommen die beiden Liebenden als Paar zusammen. Die Geschichte ist zu schmerzlich schön, um wahr zu sein. Aitmatow zieht sich auf einen Leninismus zurück, der in dem jungen Soldaten und der fernen Stadt hemmungslos verklärt wird. Alle Schrecken der Modernisierung und Kollektivierung auf dem Land, alle Bestialitäten der Kulakenverfolgung werden in den Goldgrund aufgesogen, vor dem das junge Nicht-Paar, einige Statisten und der Bösewicht von Viehbesitzer agieren. Die Wucht der Gesellschaftskritik, deren Aitmatow sonst fähig ist, wenn er die Sowjetkritik zur Zivilisationskritik verschiebt, ist hier verschwunden, und es läßt sich nicht verhehlen, daß die Liebenswürdigkeit der Geschichte durch ideologische Verlogenheit erkauft ist. Trotzdem enthält diese Erzählung eine unvergeßliche Episode von fast mythischer Kraft, die alle ideologischen Verkleisterungen durchschlägt. Die Ich-Erzählerin, einst jene Schülerin, erinnert sich: An einem klaren Flüßchen machten wir halt. Düischen der Lehrer sagte: ‚Steig ab, Altynai, wasch dich! ‘ Er holte ein Stück Seife aus der Tasche. ‚Nimm, spar nicht mit Seife. Wenn du willst, geh ich ein Stück abseits und laß das Pferd grasen. Du zieh dich aus und bade im Fluß. Vergiß alles, was war, und denk niemehr daran zurück. Wasch dich rein, Altynai, dann wird dir leichter sein. Gut? ‘ Ich nickte. Und als Düischen fort war, entkleidete ich mich und stieg vorsichtig ins Wasser. […] ‚Trag allen Schmutz dieser Tage mit dir fort. Mach mich so klar und rein, wie du selbst bist, Wasser! ‘ flüsterte ich und lachte wieder, ohne zu wissen, warum. 3 Das ist eine Art weltlicher Taufe, ein urtümliches Reinigungszeremoniell; eine Wiedergeburt. Sie gibt der Heldin Kraft zu ihrem zukünftigen Leben und kann doch nicht ungeschehen machen, was geschehen ist und ihre Liebesfähigkeit, den tiefsten Personkern, verletzt hat. Daß hier symbolisch-propagandistisch die Geburt des sozialistischen Menschen vorgeführt wird, kann man vergessen. Der volle Triumph der dichterischen Gestaltungskraft über die Ideologie des Autors als Privatmann und Zeitgenosse findet sich da, wo die dichterische Wahrheit sich nicht eininselt oder seitwärts ausbricht, sondern die Ideologie schlichtweg übersteigt und zunichte macht. Bertolt Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“, 1941 in Zürich uraufgeführt, nach dem Krieg einer der größten Theatererfolge des „Berliner Ensembles“, bietet - wie andere Stücke Brechts auch - den Menschen auf der Bühne als Produkt der Verhältnisse dar. Hier ist es der Europa verheerende 30jährige Krieg, der sich als eherne Letzt- 404 Literatur gegebenheit darstellt. Mutter Courage, die Heldin, singt das Lied von der großen Kapitulation, in der jeder Mensch vor den herrschenden Verhältnissen in die Knie geht. Ihre Torheit liegt darin, daß sie am Krieg und mit dem Krieg, der alle kleinen Leute zu Verlierern macht, ihre schlauen Geschäftchen betreiben will, so wie alle Figuren den Krieg nicht bekämpfen, sondern sich mit ihm arrangieren. Alle - bis auf eine, Courages Tochter Kattrin, eine durch Mißhandlung stumm gewordene, meist wie ein Vieh behandelte junge Kreatur, die gegen Schluß des Stückes heimlich mit einer Trommel auf ein Bauernhaus klettert, um die schlafenden Einwohner der lutherischen Stadt Halle vor einem Überfall der katholischen Kaiserlichen zu retten, deren Troß sie mit ihrer Mutter, der Marketenderin, angehört. Sie ruiniert damit nicht nur die Siegeschancen, sondern auch die Chancen ihrer Mutter, mit der zu erwartenden fetten Beute Geschäfte zu machen. Marxistisch beurteilt, ist diese Tat politisch sinn- und folgenlos, anarchistisch und individualistisch. Überhaupt kann man streiten, ob Brechts Dramen mit ihren Versuchsanordnungen, die den Bühnenfiguren nur Reaktionen auf die Verhältnisse, aber keine Änderung der Verhältnisse gestatten, marxistisch ist und damit dem System entspricht, zu dessen Vorzeigedichter er sich nach dem Krieg machen ließ. Aber das ist hier nicht entscheidend, sondern vielmehr, daß Brechts Drama, das seine Personen allesamt gemäß unausweichlichen Bedingungen handeln läßt, im Trommelwirbel der stummen Kattrin eine unbedingte Tat auf die Bühne bringt. Sie will nichts als retten, um jeden Preis, und läßt sich sehenden Auges durch die Soldateska, die Sieg und Beute zu verlieren fürchtet, vom Dach herunterschießen. Das ist eine Handlungsweise, die überhaupt nicht in das Programm von Brechts begrifflich formulierter Dramaturgie paßt. Es ist das Gegenteil der großen Kapitulation, von der die Courage singt. Brechts gesamtes dichterisches Werk ist von einer scharfen antichristlichen Polemik durchzogen; so auch „Mutter Courage“. Schon der historische Hintergrund des Religionskriegs, der ausgerechnet zwischen Parteiungen der christlichen Liebesreligion ausbricht und im Verlauf immer deutlicher ein ökonomisch unterfütterter Machtkrieg unter schäbigem religiösen Deckmantel wird, enthält antichristlichen Sprengstoff. So pointiert noch die Triumph- und Todesszene der Kattrin den Gegensatz zwischen ihrem praktischen Handeln aus Nächstenliebe und dem passiven und feigen Beten der sie umgebenden fromm protestantischen Bauern. Und dennoch ist das nicht der letzte Horizont des Stücks. Denn die Paradoxie dieses Todes ist strukturell christologisch: Christus ist - in einer durch die Sünde verkehrten Welt - der König am Kreuz des Verbrechers. Die Verrücktheit der unter Drangabe des eigenen Lebens Leben rettenden Kattrin ist die wahre Menschlichkeit und darin Normalität, doch in einer verrückten Welt. Kattrin durchlebt die Passion, erniedrigt und verachtet 405 Politische Ideologie und literarische Qualität von den Menschen. Sie erlebt, indem sie ihr Leben für viele gibt, mitten im Winter ihren geistlichen Frühling. Offenbar saßen die skeptische Erfahrung der Gebundenheit des Menschen durch die Umstände, die listige und hungrige Suche nach dem kleinen Glück, die anarchistisch-individualistische Revolte, doch auch die christlich grundierte Hoffnung auf spontane Menschlichkeit so tief in Brecht und offenbar war seine Gestaltungskraft so tief in dieser Erfahrungs- und Gefühlsschicht begründet, daß dagegen die marxistische Dogmatik, aber auch das bei Brecht damit konkurrierende behavioristische Reiz-Reflex-Schema keine letzte Chance hatten, jedenfalls hier nicht. Das ist nun, quer durch die Zeiten, ein kleiner Fächer von Relationsmöglichkeiten zwischen Ideologie und Poesie. Jeder Fall ist so eigentümlich wie die Werke es sind. Alle zusammen und viele weitere bezeugen Dichtung als das komplizierteste, reichste, freilich auch widerspruchsreichste Erkenntnismedium des Menschen. Was sonst immer getrennt ist - Sein und Bedeuten - tritt hier dergestalt zusammen, daß Zeichen, die der Autor aus seiner Existenz hervorbringt, im Appell an unsere Imagination Sachverhalte und ihre Bedeutungen aus unserer Existenz hervorrufen. Was sonst auseinandertritt - Konkretion und Abstraktion, Denken, Fühlen und Phantasieren, tritt hier zusammen in einer widerspruchsvollen Einheit, die bedeutender ist als bloßes Wahrnehmen und sperriger als bloßes Deuten. So führen die Werke sogar ihren Widerspruch mit sich und helfen uns, den Lesern, durch diese ihre Eigenart, nicht nur Rädchen, sondern auch Sand im Getriebe zu sein. Das große dichterische Werk - es ist kein ausgeklügelt Buch; denn es präsentiert uns den Menschen in seinem, in unserem Widerspruch. Geistesgeschichte 1 Siehe dazu den Bildband: Karl August Hanke, Gerhard Kaiser: Bilder im Krieg - Menschen im Krieg. (Bilder: Karl August Hanke. Vorwort: Gerhard Kaiser) Sankt Gallen, Freiburg i.Br. 1994. Das gesamte umfangreiche Bildmaterial befindet sich im Besitz des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart. Aquarelle im Krieg Der Soldat Karl August Hanke zeichnet und aquarelliert in Rußland 1941-1946 Zur politischen Bedeutung des Privaten im NS-Staat Fünfzig Jahre nach Stalingrad ziehen immer wieder in Erinnerungssendungen Bilder des Rußlandfeldzugs über die Bildschirme. Sie überwältigen als Verschmelzung von Mythos, Pathos, Dokumentation und Agitation. Die Älteren sehen wieder, was ihnen schon lange eingebrannt ist: Granateinschläge, mahlende Panzerketten, fallende Bomben, stürmende und stürzende Menschen. Noch die Leichenhaufen schwanken in den Kameraschwenks. Andere Bilder, und doch des gleichen Krieges, zeigt mir ein Freund, ein alter Mann. Er nimmt sie aus einer lange nicht berührten Mappe heraus. Sie überwältigen nicht; sie sind von langsamer Eindringlichkeit, sie sickern in das Bewußtsein ein. 1 4. Oktober 1941 ist das aquarellierte Porträt eines russischen Bauern datiert. Der Rußlandfeldzug rollte seit drei Monaten und zwölf Tagen. Ungeheuerliches war geschehen. Der Überfall mitten aus dem Friedens-, ja Bündniszustand heraus. Die Zerschlagung der sowjetischen Armeen in gewaltigen Kesselschlachten mit Hunderttausenden von Toten, Verwundeten und Gefangenen. Der Durchstoß der deutschen Truppen bis vor Moskau. Die Überwalzung einer ahnungslosen, meist bäuerlichen Zivilbevölkerung. Eine brutale Kriegsverwaltung war im Entstehen, die zur Organisation von Massendeportationen russischer und ukrainischer Arbeitssklaven für die deutsche Kriegswirtschaft und zur Ausrottung der Juden ansetzte. Die Rekrutierung von mehr oder weniger freiwilligen Hilfstruppen hatte begonnen, die teils antikommunistisch, teils - soweit es sich um Ukrainer und Angehörige von Minderheiten handelte - nationalistisch, teils religiös, teils opportunistisch motiviert waren. Wenig später fror die deutsche Offensive im russischen Winter ein. 410 Geistesgeschichte All das sind Rahmenbedingungen für die Entstehung dieser Aquarelle und Zeichnungen. Der Krieg hatte einen deutschen Kunststudenten aus seinem Studium herausgerissen und zum Teil der rasenden und zugleich präzisen Kriegsmaschine gemacht. Fast obsessiv zeichnend und aquarellierend hält er sich aufrecht, in einer Art von Schwebezustand, der ihm das Schrecklichste von der Seele hält. Nichts vom Toben der Gewalt ist in seine Bilder eingegangen, nicht sehr viel von ihren Spuren. Ein deutscher Soldat, der, auf den Knien und mit einer Hand am Boden abgestützt, einen Namen in ein unter ihm liegendes Holzkreuz schnitzt, während die Kolonnen an ihm vorbeiziehen. Ein paar Soldatengräber. Das Tohuwabohu eines Trümmerfeldes nach einem Stuka-Angriff. Am tiefsten ergreifend eine Unscheinbarkeit: eine kleine Skizze, die schattenhaft eine Gehöftgruppe, ein bißchen Baumgeäst am Horizont zeigt. Vorn ein schwarzer Stumpf. Fast im Bildzentrum aus dem Schnee ragend, scharf abgehoben, leichte Schlagschatten werfend, Stäbe eines eisernen Gitterbetts. Hier ist gelebt, geliebt, geschlafen, geboren, gestorben worden. Hier stand ein Haus. In solche Zonen reicht keine Dynamik der Frontberichterstattung, keine heroische Gestik. Alles sind stille Bilder. Einige Natur- und Architekturmotive. Eine blühende Wiesenlandschaft von unendlicher Weite, darin ein Unterstand der kämpfenden Truppe. Immer wieder Menschen in Ruhe, vor allem Porträts. Das mag mit der Entstehungssituation der Zeichnungen und Aquarelle zusammenhängen. Wer nicht offizieller Kriegsberichterstatter war, sondern zur kämpfenden Truppe gehörte, hatte im Kampf zu kämpfen. Nur in der Pause war ein Rückzug auf Pinsel, Stift, Papier möglich. Trotzdem hat hier nicht eine unverbindliche Freizeitbeschäftigung stattgefunden. In der gelassenen Konzentration dieser Bilder zeigen sich Gestaltungskraft und eine habituelle, im Personkern verankerte Sehweise. Sie ist von - sei es unbewußter - Entschiedenheit. Gegen den Exzeß und die Exaltation steht Sammlung, gegen die Zerstörung das Beharren, gegen das Töten das Dasein, gegen das Massenhafte der einzelne, gegen Feindbilder, ideologische Verblendung, Begeisterung und Fanatismus der ruhige Blick, Goethe hätte gesagt: die reine Anschauung der Phänomene, der menschlichen Gestalt, des menschlichen Gesichts. Das Bild nimmt mit Selbstverständlichkeit in Anspruch, das zu sein, was es wesentlich ist: Ausschnitt. Es ist präzise noch in dem, was es ausschließt. Es ist von einer der Erscheinungswelt hingegebenen Genauigkeit in dem, was es einschließt. Es enthält keine im engeren Sinne politische Stellungnahme, aber politisch relevante Implikationen. Es zieht sich aus dem historischen Geschehen ins Zuständliche zurück, aber es ist so tief getränkt von dem, was ringsum vorgeht, daß Geschichte untergründig aus ihm spricht, daß es untergründig über Geschichte spricht. Der russische Bauer, den das eingangs genannte Aquarell darstellt, ist weder Beutestück noch Exote. Er steht in Gelassenheit Modell für den deutschen Aquarellisten, in dieser Haltung um keine Nuance verschieden von 411 Aquarelle im Krieg 412 Geistesgeschichte einem deutschen Soldaten, der zwei Jahre später im Bild erscheint. Darin spiegelt sich: sie sind mit einem Blick erfaßt, der keinen Unterschied von Freund und Feind macht. Selbst wenn das Gehirn verblendet wäre, das Auge ist es nicht. Es kennt keinen Unterschied zwischen Herren- und Sklavenrasse. Die Porträtierten sind dem Porträtisten gleichgeordnet und gleichberechtigt. Sie sehen den Blick, der sie ansieht. Das ist etwas anderes als ein Wechselblick. Einander gegenüber, sind sie jeder für sich, haben einen monologischen Raum um sich. Während der eine arbeitet, läßt der andere in seinen Raum eine emotionale Gestimmtheit einfließen. Hoffnungslosigkeit, Melancholie liegt über dem Deutschen mit seinen großen verschreckten Augen; Wachheit, Skepsis und Schmerz über dem Russen. Beide halten ihr Gesicht hin, bieten konzentriert sich dar, der Deutsche mit verschlossenem, schweigsamem Mund, stumm; der Russe mit leicht geöffneten Lippen, einem sprechenden Zug, der mehr verrät als die zusammengekniffenen Augen, obwohl zwischen Maler und Modell eine Sprachbarriere steht. Jede Spur der kriegerischen Umgebung, überhaupt des Milieus, ist getilgt. Nichts, was über den Augenblick der Begegnung hinausginge. Nicht einmal die Kleidung ist signifikant. Keine Uniform, keine malerischen Lumpen. 413 Aquarelle im Krieg 414 Geistesgeschichte Die meisten Modelle beglaubigen ihr Bild mit ihrer Unterschrift, die sich der Signatur des Künstlers an die Seite stellt. Das unterstreicht noch einmal den Begegnungscharakter der Situation. Es ist wie eine Gegenbewegung zu der Tendenz, die aller Kunst innewohnt, den dargestellten Menschen zum Objekt zu versachlichen. Nichts weist in den Bildern nach draußen, aber vieles nach drinnen. Sie sind gesammelte Augenblicke. Die Gesichter haben Leid und Tod gesehen. Sie sind verläßlich und verletzlich. Die Ereignisse und Situationen, die draußen bleiben, sind in einer Grundtrauer anwesend. So wenig wie Herren und Sklaven nimmt der Blick des Künstlers Sieger und Besiegte wahr. Vielleicht hat er an den Endsieg geglaubt, aber seine Bilder kennen nur Verlierer. So nimmt es auch nicht wunder, daß die wenigen Aquarelle deutscher Soldaten, die aus der Kriegsgefangenenzeit des Künstlers erhalten sind, keinen grundsätzlichen atmosphärischen Wandel anzeigen, aber eine Verdichtung. Der Ausdruck der Hoffnungslosigkeit ist noch stärker geworden, der Leidenszug in den Gesichtern tiefer. Hunger und Lebensangst haben ihre Spuren gezogen. Vielleicht ist es ein Zufall, aber nur einer von vier Porträtierten nimmt noch ein Gegenüber in den Blick; sie sehen nicht nach draußen, ins Freie. Der Dumpfheit der Stimmung entspricht eine Dumpfheit der Farben. Die Transparenz des Aquarells ist durch Deckweiß gelöscht. Ausgelieferte waren schon die vermeintlichen Sieger. Die Gefangenschaft am Ende ist nur die Zuspitzung einer Lage, die von vornherein den einzelnen zum Gefangenen einer unentrinnbaren Situation gemacht hat. Nur einer unter den Lagerinsassen ist „entkommen“, entrückt in Todesnähe, ein Neunzehnjähriger unter der Pelzmütze mit einem reinen, unberührten Gesicht und geisterhaft aus der Weite kommendem, ins Weite gehendem Blick. Neben den Aquarellen stehen die Zeichnungen. Man sieht einen älteren bärtigen Herrn aus der Etappenstadt, mit Hut, im Freien an einem angedeuteten Tisch sitzend, den Mantel so über den Stuhl gebreitet, daß dieser verdeckt wird. Die Figur vermittelt den Eindruck trümmerhaft konservierter Bürgerlichkeit bis in die soignierte Haltung der schmalgliedrigen Hände und die elegante, leicht nach außen gewinkelte Stellung der Füße. Der Blick ist verhangen, die Haltung selbstbewußt und doch die eines Mannes, der aus allen Zusammenhängen gerissen ist. So angestrengt die Haltung zu bewahren, enthält eine leise, kaum bemerkbare Komik. Im Gegensatz zu den Porträts mit ihrer Begrenzung auf das Gesicht signalisiert hier und auf anderen Zeichnungen leerer Raum um die Figuren einen Verlust an Einbindung, eine Verlorenheit, Vereinzelung, Deplazierung, die den Menschen schutzlos und zugleich unnahbar erscheinen läßt. Der da sitzt, sitzt zeitlos, weil er aus seiner Zeit herausgefallen ist, und darin ist er - wörtlich - absolut. Fast mehr noch gilt das von dem russischen Gefangenen, der - schmal, in Hemd und Hosen, die Arme aus den Ärmeln lang herausragend, barfüßig, die Feldmütze waagrecht auf dem Kopf - streng frontal ins Bild gesetzt ist. Er 415 Aquarelle im Krieg 416 Geistesgeschichte wirkt zerbrechlich und monumental. Deutsche Wochenschauen liebten es, sowjetische Kriegsgefangene als slawische, mongolische und jüdische Untermenschen wie wilde Tiere im Zoo vorzuführen. Dieser hier ist als Mensch bei sich, obwohl ausgeliefert; er ist aufmerksam und distanziert. Er beobachtet den Beobachter, straff und entspannt und auf alles gefaßt. Er steht still, aber es ist das Gegenteil der fremdbestimmten militärischen Pose: Stillgestanden! Paradoxerweise vermittelt dieses Bild unter allen den größten Eindruck von Freiheit. Einer steht in der Situation über der Situation. Und ein anderer: der erste russische Kriegsgefangene, der dem Zeichner vor Augen kam. Er sitzt schwer auf einem Holzbock, der gleichsam in der Luft hängt, weil die zweite Stütze nicht mitgezeichnet ist. Dem entspricht der Eindruck der Einbeinigkeit dieser Gestalt. Als Umriß ist der Mann massig, in der Situation destabilisiert bis in den zusammengerutschten, überdimensional ins Bild ragenden Militärstiefel. Er ist unter dem gewaltsamen Andrang der Eindrücke auf sich zurückgefallen, versunken in der Schnitzelei an einem Hölzchen, das in seiner Zierlichkeit der großen Gestalt nicht entspricht. Er entzieht sich dem Blick, dem er preisgegeben ist. Das Gesicht ist von vorn oben gesehen und dadurch verkürzt, verschoben. Der Mensch als displaced Person. In diesem russischen Gefangenen ist die Situation der deutschen Gefangenen unbewußt vorweggenommen. Und noch eine andere Korrespondenz stellt sich dem Betrachter hinter dem Rücken des Zeichners von damals ein: In den Zeichnungen erscheint ein Freund, Angehöriger der eigenen Geschützmannschaft, sitzend, mit einem großen, deutlich und wichtig hingehaltenen, kunstvoll durch Schnitzereien verzierten Stock, einem archaischen Männlichkeitssymbol. In seltsamem Widerspruch zum Imponiergestus blickt mich ein zarter, seine Furchtsamkeit disziplinierender Halberwachsener an. Auch das ein Verunsicherter, der einen Stecken braucht. Die letzte Steigerung der zeichnerischen Möglichkeiten des Künstlers zeigt sich im Bild eines barhäuptigen jungen Mannes. Er sitzt leicht erhöht am Boden, mit den Händen ein Knie umfassend, in ein labiles Gleichgewicht zurückgelehnt, den Kopf schräg geneigt. Der dunkle Haarschopf steht gegen helle Stirn und Wangenknochen. Der Mund ist geschlossen, leicht aufgeworfen. Statt der Augen sind nur dunkle Höhlungen sichtbar. Er könnte etwas aus Abstand betrachten; er könnte aber auch vor sich hin träumen, ganz anwesend oder ganz abwesend sein. Er ist nicht in sich verkrochen; er ist in sich versammelt. Der weiche Stift des Zeichners erzeugt durch Lavierung und Schraffur malerische Wirkungen. Auch dieses Bild ist, wie fast jedes, ruhevoll und im Grunde schmerzlich. Die Kleidung fließt am Körper, ist so ins Allgemeine zurückgenommen, daß nicht mehr erkennbar wird, ob das ein Russe oder ein Deutscher ist. Er ist seiner eigenen Schwerkraft hingegeben, geborgen im Leeren. Wie viele dieser Menschen, deren Darstellungen sich ungeordnet, fast unachtsam geschichtet in der Mappe finden, mögen gefallen, verhungert, 417 Aquarelle im Krieg 418 Geistesgeschichte 419 Aquarelle im Krieg 420 Geistesgeschichte 421 Aquarelle im Krieg verschleppt, erfroren, ermordet, verstümmelt, gequält, erniedrigt sein. Auf manchen Bildern steht ein alter Vermerk noch aus der Kriegszeit: gefallen, zuweilen mit Ort und Datum. Wie viele der Sowjetbürger, die, vom deutschen Vormarsch überrollt, sich so unvoreingenommen dem aquarellierenden und zeichnenden „Feind“ stellten, werden, falls sie dem Zugriff der Besatzer entgangen sind, später unter dem Vorwurf der Kollaboration im Archipel Gulag verschwunden sein. Es war Schuld genug, als Sowjetmensch unter den Deutschen überlebt zu haben. War für den Augenblick des Bildes Ruhe gefunden, galt das nicht auf die Dauer. Die Systeme waren unerbittlich, die Diktaturen unentrinnbar. Die Stille der Bilder ist vom Blick, vom Stift, vom Pinsel, vom Farbkasten erzeugt; sie ist inselhaft - die Ruhe im Auge des Zyklons. Sie haben nichts bewirkt, sie waren, als sie mir vor Augen kamen, nie ausgestellt, jahrelang hat sie keiner angesehen. Man könnte versucht sein, sie als Ausdruck einer Flucht in die Innerlichkeit abzutun, wäre da nicht das Moment historischer Spezifik, die jedem Kunstwerk als Kunstwerk eigentümliche, seine Authentizität begründende Verankerung im Hier und Jetzt, in der Konkretheit der Existenz des Künstlers, der sich seiner Zeitgenossenschaft nicht entziehen kann, weil sie in jeder Pore seinen Lebens wohnt. Noch wenn er aus der Zeit flieht, flieht er aus seiner Zeit; der Fluchtweg weist auf seinen Ausgangspunkt zurück, der geschichtliche Boden klebt an den Füßen. Je genauer der Hinblick, je intensiver die Gegenstandswahrnehmung, um so sicherer ist die Erfassung der historischen Spur auch im Unscheinbaren. Noch ein Widerhaken gräbt sich dem Ungeduldigen ein, der solche Bilder abtun will. Sogar dem Sich-Absetzen kann ein Standhalten innewohnen, eine Konzentration auf letzte Reserven. Auch diese menschliche Möglichkeit wird im Kunstwerk am deutlichsten und gibt ihm seine besondere Widerständigkeit. Blitzt so selten, nur als Grenzerfahrung, im Gegenstand der Bilder, den dargestellten Menschen, ein Moment der Freiheit auf, ist doch ihr Zustandekommen selber, als eine Handlung des Künstlers, ein Akt der Freiheit. Er tritt aus dem Automatismus der militärischen Abläufe heraus, er nimmt sich die Freiheit des Sehens in der eigenen Perspektive. Mögen die Menschen, die wir auf den Bildern erblicken, noch so tief verloren sein; der Blick, die Hand, die da gewirkt haben, finden und halten fest, formen Bausteine einer eigenen Welt. Am 26. August 1941 aquarelliert der Künstler, auf einer Bodenerhebung sitzend, bei Leningrad zwei Bauernhütten in düsterem Licht vor einer Gruppe von drei Bäumen: zwei Birken, ein totes Baumgerippe. Die Entstehungssituation, wie sie mir erzählt ist: Der Aquarellist ignoriert einen Stunde um Stunde im Vordergrund mahlenden militärischen Aufmarsch von Panzern, Artillerie, motorisierter Infanterie, Pionieren, Nachschub- und Sanitätseinheiten. Alles deutet auf eine bevorstehende große Offensive. Man könnte sagen: Der da sein Aquarell malt, hat einfach weggesehen, nistete nicht in der Atmosphäre des Bildes das Unheil, durchkreuzte nicht, wie ein Schriftzeichen 422 Geistesgeschichte des Todes, der schwarze Baum die Birken. Hier ist: weggesehen und doch gesehen, im freien Entschluß. Gewiß hat es im Feld der Handlungen Größeres, Mutigeres, sittlich radikal Entschiedenes gegeben. Aber das Kunstwerk ist eine Handlung anderer Art, die für ihr Zustandekommen voraussetzt, was in der Lebenspraxis allenfalls entschuldigt werden kann: Zurücknahme aus der Verschlingung des Tuns und Leidens. Solange sich der Pinsel oder der Stift auf dem Papier bewegen, besteht im exakten Wortsinn die „Ausnahmesituation“. Der Widerstand gegen den Tyrannen hat erschütternde Zeichen in der deutschen Geschichte gesetzt, gerade in seinem Scheitern. Hier spricht nur ein Zeuge, kein Täter, und er spricht leise; er sieht selektiv, aber intensiv. Es geht eine Macht und ein Zeugnis von diesen Bildern aus. Sie sind keine Aktionen des Widerstands. Sie sind ein stummer Widerspruch gegen den Terror des Zeitgeists. Es ist keine politische Aussage in ihnen festzumachen, außer: der Blick, die Hand entziehen sich der Politisierung. Sie widerstreben sogar der Generalisierung. Diese Bilder sind der unabsehbare und unwiderlegbare Einzelfall, auch wenn ähnlich anderswo an der Front gemalt und gezeichnet worden sein mag. Sie sind unableitbar diese, so wie unableitbar Diese in den Bildern erfaßt werden: einzelne, die allesamt für die so vielen Erfahrungen widersprechende Würde des Menschen als Indivi- 423 Aquarelle im Krieg duum einstehen. Mit der Vergrößerung des historischen Abstands wächst die Notwendigkeit, angesichts der zu Panoramen, Strukturen, Typologien, Pauschalierungen zusammenschießenden Linien des Geschehens des Einzelfalls eingedenk zu bleiben, der niemals ganz im Generellen aufgeht. Das Kunstwerk steht für diese Inkommensurabilität ein. Es bestreitet nicht das Recht auf Generalisierung, ohne die gar nicht gelebt werden könnte, und es unterliegt ihr, kunsthistorisch betrachtet, sogar selbst legitimerweise, aber es bildet in sich einen Gegenpol gegen diese Tendenz, es ist ein Punkt der Resistenz, den als solchen die Geschichtsschreibung zu bedenken hat. Bei alledem kann auch eine verallgemeinernde Betrachtung aus Bildern wie diesen Gewinn ziehen, selbst wenn sie dabei lediglich als Dokumente und nicht in ihrer Eigenschaft als Kunstwerke wahrgenommen werden. Auch als bloße Beispiele der zeitsymptomatischen Flucht ins Private, in die Vereinzelung, in die Innerlichkeit haben sie den Anspruch, ernst genommen zu werden. Auch in dieser Hinsicht provozieren sie eine Perspektivenversetzung. Es ist eine geläufige, fast banale Einsicht, daß Eskapismus aus dem historischpolitischen Feld seinerseits eine politische Dimension hat. Der Rückzug ins Private überläßt den politischen Betätigungsraum denen, gegen die eben dieser Eskapismus sich absetzt. Aber richtig ist auch etwas anderes, für dessen Darlegung etwas ausgeholt werden muß. Es ist quälend, daß sich der weit überwiegende Teil des deutschen Volks zu Handlangern und Vollstreckungsgehilfen des Nationalsozialismus machen ließ, und sei es unter innerem Vorbehalt. Es ist quälend, daß viele zu Organisatoren, Aufsehern und Exekutoren bürokratisierter Exzesse des Völkermords und der Kriegsverbrechen wurden, deren Verantwortung sich meist in der verwaltungstechnischen Zerstückelung des Gräßlichen in farblose und scheinnormale Einzelvorgänge verlor. Es ist beschämend, wie massenhaft weggesehen wurde, wo der Hinblick zur moralischen Kraft hätte werden können; wie wenig Phantasie aufgeboten wurde, um zu imaginieren, was im Verborgenen geschah. Trotzdem ist es nicht nichts, daß die private Fühllosigkeit und erst recht die private Ruchlosigkeit eher selten waren. Es ist nicht nichts, daß der „Feind“ auch so gesehen und erfahren werden konnte wie auf den vorliegenden Bildern. Es sind von den Deutschen immer wieder Dörfer verbrannt, Geiseln exekutiert, ganze Bevölkerungen einer gnadenlosen Vernichtungsmaschine ausgeliefert worden. Aber es ist weniger zu spontanen Exzessen, relativ selten zu Vergewaltigungen gekommen. Im intimen Raum der Person, ihrer Wahrnehmungs- und Erlebnisweise, hielten häufig die moralischen Dämme, die in der politischen Öffentlichkeit oder im Mechanismus der militärischen Apparatur gebrochen sind. Was das heißt, ist heute kontrastiv am ehemaligen Jugoslawien zu besichtigen, wo gerade von Angesicht zu Angesicht unvorstellbare Kräfte des Hasses, der Rache, der Quälerei aufgebrochen sind. Damit ist keine Aufrechnung dessen gemeint, was unvergleichlich in seiner spezifischen Schrecklichkeit ist. Es gibt keine binäre Opposition Vergewalti- 424 Geistesgeschichte gungslager / Menschenvergasungsfabrik. Es ist auch nicht meine Absicht, die längst widerlegte Legende von der Integrität der Armee oder die verjährte Auseinandersetzung über innere und äußere Emigration wiederzubeleben. Jeder Emigrant, der freiwillig oder unfreiwillig Deutschland verließ, brachte eine Stärkung der moralischen und politischen Kräfte, die letzten Endes allein in der Lage waren, die NS-Diktatur zu beseitigen - von außen. lm übrigen meint das Schlagwort der inneren Emigration schon eine gleichzeitige oder nachträgliche Ideologisierung des Rückzugs aus dem politischen Raum, hinter die ich noch zurückgreifen möchte. Es geht mir um eine Art politisch bewußtloser, unreflektierter Innerlichkeit und privater Moralität, die zu überdauern vermochte, ohne daß es überhaupt als Haltung oder gar Leistung empfunden wurde. Diese Innerlichkeit, der wenigstens ausschnitthaft unverstellte Blick, der Rückzug auf sich selbst müssen auch als Überwinterungs- und Verpuppungsweisen ethischer Kräfte verstanden werden, woraus im Nahbereich, von Mensch zu Mensch, jederzeit Ausstrahlungen stattgefunden haben. Es ist schlicht Unsinn, daß an der Front oder zu Hause nichts als der nackte Egoismus und Überlebenstrieb zu finden gewesen wären. Immer wieder zeigte sich auch eine selbstverständliche, spontane Mitmenschlichkeit und Solidarität. Und woher wäre denn die - trotz allem - demokratische Neuformierung Deutschlands in den historisch begünstigten westlichen Zonen gekommen, wenn nicht aus späten Transformationen stiller moralischer Reserven, die beim kollektiven Amoklauf der NS-Zeit im Kokon des Privaten überdauert hatten? Es gibt auch einen positiven Aspekt des Rückzugs in die Innerlichkeit. Widerstand - das ging über die Kraft und Klarsicht der weit überwiegenden Mehrheit hinaus. Die Schwerkraft eingeschliffener sozialer und moralischer Normen war in den meisten nach dem Sturz der Gewaltherrschaft aktivierbar, in sehr vielen in politische Überzeugungen umsetzbar. Und doch möchte ich diese historische Nutzanwendung hinter mir lassen oder, genauer gesagt, den Blick am Ende auf eine Basisschicht richten, die aller Geschichte zugrunde liegt. Gewiß ist die Zeit der Geschichtsphilosophien vorbei, die, meist in utopischen Entwürfen einer Vollendung der Geschichte, ein Menschenbild in sich trugen, an dem die geschichtliche Einzelerscheinung gemessen, in das die geschichtliche Einzelerscheinung eingebettet wurde. Trotzdem bleibt, daß geschichtliche Prozesse gar nicht gedacht werden könnten, würden nicht Bestände mitgedacht, an denen sich der historische Wandel vollzieht und ermißt. Geschichtsschreibung ohne implizite Anthropologie scheint mir mithin unmöglich, auch wenn das anthropologisch Allgemeine nur in der historischen Besonderheit auftritt und erfaßt werden kann. Die vor mir ausgebreiteten Zeichnungen und Aquarelle sprechen von der die Geschichte durchziehenden Unergründlichkeit und Unberechenbarkeit des Menschen und des Menschlichen im Guten und Bösen, vom Miteinander des Unvereinbaren in der besonderen Weise, in der es die Zeitgenossen der Hitler- 425 Aquarelle im Krieg herrschaft gelebt und erlebt haben. Der religiöse Schriftsteller Jörg Zink schildert in seiner Autobiographie am eigenen Beispiel die innere Spaltung junger Menschen in Hitlers Armeen, die für einen Sieg kämpften, den etwas in ihnen nicht wollte, und die beim sogenannten Feindflug fast mystische Existenzerfahrungen machten, aus denen sie, tödlich treffend oder getroffen, keine praktischen Konsequenzen zogen. Ein guter Bekannter hat mir einmal erzählt, daß er als junger Leutnant im Rußlandkrieg in einer Talsenke, die vom Gegner eingesehen war und unter direktem Beschuß lag, mit seinem Kübelwagen von einer Artilleriegranate getroffen wurde und unter Toten schwerverletzt liegenblieb. Der unangenehmste, skrupelloseste, brutalste Kumpan seines Zuges hat ihn unter äußerster Lebensgefahr aus dem Feuer herausgeholt, und beide waren einander hinterher genauso zuwider wie zuvor. Das ist der Mensch in seiner Undurchdringlichkeit. Hier soll und darf nicht verklärt werden. Aber auch der Riß, der Widerspruch im Herzen, der moralische Restbestand, das Aufflackern der Menschlichkeit, die Spontanreaktion, die Aufmerksamkeit des Auges und des Herzens sollen nicht vergessen sein. Solange es Menschen gibt, wird es Verbrechen geben, die das Tier nicht kennt; solange es Menschen gibt, wird es aber auch menschliche Gesichter, Menschliches in Gesichtern geben. Der ruhige Blick in der Mitte des Zyklons kann in der Treue zum Phänomen Humanes sammeln und bewahren. Sein Zeugnis gilt, auch wenn kein Gericht es entgegennimmt. Es ist ein rettender Blick, wenngleich er Vernichtung und Gewalttat nicht aufhalten kann. Er trägt etwas von der geringen dem Menschen verliehenen messianischen Kraft in sich, von der Walter Benjamin in seinen nachgelassenen „Thesen über die Geschichte“ gesprochen hat. Sie will nicht nur, nicht einmal in erster Linie, das große Ganze retten, auf das sich die klassischen Geschichtsphilosophien versteifen. Sie will, daß kein Aufleuchten des einzelnen in seiner Würde verlorengeht. In Dantons Tod von Georg Büchner wird gesagt, das leiseste Zucken des Schmerzes mache einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten. Aber umgekehrt sagt die messianische Verheißung, die der theologisch imprägnierte antifaschistische Jude Benjamin hochhielt, daß alle Tränen getrocknet werden sollen, die je geflossen sind. Auch die in den Augen der Männer, die uns hier im Bild begegnen. Mag die religiöse Verbürgung dieser Hoffnung nur noch in Minderheiten lebendig sein, mag Benjamins Beharren auf dem Messianischen im Menschen in seiner tödlichen Flucht vor den Deutschen, denen er doch zugehörte, dahingeschwunden sein. Es bleibt das innerweltlich begründbare rettende Vermögen des Künstlers. An ihm hatte der Soldat Anteil, dessen Bilder hier zitiert sind. Die diffuse moralische Potenz gewinnt durch ihn Gestalt, Präsenz und Strahlkraft. Seine Aquarelle, seine Zeichnungen sind Kristalle der Innerlichkeit in der Raserei der Gewalt. Wie die Kultur einbrach Giftgas und Wissenschaftsethos im Ersten Weltkrieg „Hier ist unsere Stellung“ steht mit Bleistiftpfeil bei dem Örtchen Poelcappelle, ein paar Kilometer von Langemarck entfernt, auf der belgischen Landkarte, die mein am 23. April 1915 als Soldat vermißter 22jähriger Onkel Wilhelm mit seinem letzten zärtlichen Brief vom 17. April an seine Mutter nach Hause geschickt hat. Mittlerer von drei kriegsfreiwilligen Brüdern, war er in meiner Kindheit eine Art allpräsenter Familienheiliger des bei uns gepflegten religiösen Patriotismus, als Vermißter der Bewohner eines Geisterreiches zwischen Lebenden und Toten, aus dem jederzeit noch eine Botschaft eintreffen konnte. Wartete doch auch unter dem Bett meiner 1937 gestorbenen Großmutter das letzte ungeöffnete Feldpostpäckchen auf ihn, das mit dem widerspruchsvollen Doppelvermerk „Fürs Vaterland gefallen“ und „Adressat vermißt“ von der flandrischen Front zurückgekommen war. Wilhelms bleistiftgeschriebener Brief endet mit den Sätzen: „wir sind hier wirklich arg ‚beschäftigt‘ […] Doch darüber später, wenn Taten sprechen können. Meine gute Mutti, Dein Wilm sehnt sich ja förmlich nach Taten. Gott wird mit uns sein und ›der Wind günstig‹.“ Augenscheinlich hat niemand die Andeutung verstanden, die mir 85 Jahre später beim Sichten der gehüteten Kriegsbriefe der Brüder blitzhaft aufging: Die pointierte Hoffnung auf günstigen Wind gab den Schlüssel zu früheren brieflichen Andeutungen einer geheimnisvollen Tätigkeit offenbar innerhalb eines Spezialkommandos: Der später Vermißte war mit großer Wahrscheinlichkeit Angehöriger der Truppe gewesen, die den ersten großen, von Deutschland unternommenen Giftgasangriff des Ersten Weltkriegs gegen französische und britische Truppen technisch vorbereitet und schließlich durchgeführt hat. Das waren die Taten, auf die er von Tag zu Tag hoffte, und ihnen ist er zum Opfer gefallen. Während später die Kriegführung mit Gasgranaten überwog, wurden die Angriffe zunächst durch das Abblasen des Atemgifts Chlorgas aus Gasflaschen unternommen. Dafür mußte der Wind günstig stehen, nämlich auf den Feind zu, und deshalb nannte Wilhelm Gott und die günstige Windrichtung in einem Atemzug, so wie einst die Engländer, die den Untergang der spanischen Armada auf das Sturmesblasen Gottes zurückführten. Nur ein Eingeweihter oder ein Rückblickender konnte den versteckten Hinweis auf einen 427 Wie die Kultur einbrach 1 Dieter Martinetz, Der Gaskrieg 1914/ 18. Entwicklung, Herstellung und Einsatz chemischer Kampfstoffe. Das Zusammenwirken von militärischer Führung, Wissenschaft und Industrie. Bonn 1996. Die folgende Darstellung trägt nicht neue wissenschaftliche Ergebnisse, sondern den Versuch einer aktuellen Perspektivierung vor. In Faktenangaben und Zitaten stützt sie sich zumeist auf Martinetz. bevorstehenden Kampfgaseinsatz verstehen. Der von Wilhelm auf der Landkarte markierte Ort seiner Stationierung war eine der beiden Gasabblasstellen beim deutschen Angriff vom 22. April. 1 Obwohl die Haager Konferenzen vom 29. Juli 1899 und 1. Oktober 1907 Gift als Waffe weitgehend verboten und damit offensichtlich als mögliches Kampfmittel in Rechnung gestellt hatten - etwa Trinkwasser- und Lebensmittelvergiftung und vergiftete Waffen -, gab es bei Kriegsbeginn im August 1914 in den militärischen Führungen noch keine konkreten Planungen einer Kriegführung mit Giftgas, und erst recht die Bevölkerungen waren ahnungslos. Vereinzelt hatte man mit Gas präparierte Munition erprobt, aber ohne großen Nachdruck und Erfolg. Doch schon ein dreiviertel Jahr nach Kriegsbeginn, bei der ersten großangelegten Anwendung durch die Deutschen an der flandrischen Front, erzeugte die gewaltige Menge von 150 Tonnen Chlor eine Gaswolke in einer Breite von 6 Kilometern und einer Tiefe von 600 bis 900 Metern, die sich auf den Feind zuwälzte. Eine imposante organisatorische, wissenschaftlich-experimentelle und technische Leistung stand dahinter - zu einem fürchterlichen Zweck -, die allein mit Hilfe der im Chemiebereich weltweit führenden deutschen Industrie zustande gebracht werden konnte. Ein Grund für frühe deutsche Schritte zur Entwicklung von Kampfgas war eine schnell absehbar werdende, später behobene Munitionskrise durch Salpetermangel - er mußte aus Übersee eingeführt werden. Sie führte auf Veranlassung des AEG-Chefs Walther Rathenau schon kurz nach Kriegsausbruch zur Bündelung der Versorgungsanstrengungen für die kriegswichtigen Rohstoffe, zur Planung der Kriegswirtschaft und zur Entwicklung eines chemietechnischen Verfahrens der Salpetergewinnung für Schießpulver und Sprengstoff. Außerdem suchte man auf der offensiven deutschen Seite nach einer flächendeckenden Angriffswaffe, die den natürlichen Vorteil des Verteidigers brechen sollte, indem sie in dessen Abwehrstellungen eindrang. Geschichte kann symbolisch sein. Am 10. November 1914 hatten Regimenter schlecht ausgebildeter deutscher Kriegsfreiwilliger beim äußerst verlustreichen Sturmangriff auf Langemarck das Deutschlandlied angestimmt - der militärische Unsinn war alsbald zur nationalen Legende verklärt worden, die erst in der Katastrophe von 1945 untergegangen ist. Ein halbes Jahr später wehte erstmals das deutsche Chemieprodukt statt der Nationalhymne siegbringend über das gleiche Schlachtfeld. Wie dilettantisch militärische Geheimhaltung damals noch betrieben wurde, zeigen Wilhelms Feldpostsendungen, und bei einer so großen Aktion 428 Geistesgeschichte 2 Joseph Borkin, Die unheilige Allianz der IG Farben. Eine lnteressengemeinschaft im Dritten Reich. Frankfurt a.M. 1990. mit so vielen Beteiligten mußte etwas von den deutschen Vorbereitungen durchsickern. Tatsächlich gab es Hinweise aus der ersten Linie der Front, durch gefangengenommene deutsche Soldaten und den französischen Geheimdienst, aber dringende Warnungen durch den zuständigen französischen Feldkommandeur bekamen vom Großen Hauptquartier die schroffe Antwort: „Diese ganze Gasgeschichte kann nicht ernst genommen werden.“ Nur wenige Zeit danach meldete ein keuchender und hustender französischer Major am 22. April 1915 durch das Feldtelefon direkt von der Front: „Ich werde heftig angegriffen. Jetzt breiten sich ungeheure gelbliche Rauchwolken, die von den deutschen Gräben herkommen, über meine ganze Front aus. Die Schützen fangen an, die Gräben zu verlassen und zurückzugehen; viele fallen erstickt nieder.“ Dem nach vorn eilenden Brigadegeneral kamen „flüchtende Soldaten entgegen, die ihre Waffen weggeworfen hatten und mit weit geöffneten Uniformröcken wie Irrsinnige nach hinten eilten. Sie schrieen laut nach Wasser, spuckten Blut. Einige wälzten sich am Boden und rangen vergeblich nach Luft.“ „Die Wirkung des Gasangriffs von Ypern war wahrhaft verheerend. Noch vor dem Abend lagen 15 000 Männer auf dem Schlachtfeld, ein Drittel davon tot […]. Nichts stand mehr zwischen den Deutschen und den ungeschützten französischen Kanalhäfen direkt gegenüber von England.“ 2 Da sie selbst von ihrem Erfolg überrumpelt waren, wurden zwar die Einrichtungen zum Gasabblasen in das eroberte Gelände vorverlegt, aber der Durchbruch wurde nicht ausgenutzt, und Gegenangriffe an den folgenden Tagen stabilisierten die Lage. Einem solchen ist der junge Lehrer Wilhelm Kaiser, von dem als einziges Relikt seine durch Bajonettstich zerbohrte Brieftasche gefunden wurde, wohl zum Opfer gefallen. Von nun an waren die Leute von der Gastruppe gesuchte Spezialisten. Mit äußerster Beschleunigung wurde bei allen kriegführenden Parteien die Gaswaffe ausgebaut und ins Artilleristische umgesetzt. Schon vor dem Krieg hatte sich der Chemiker Fritz Haber Gedanken über die gewinnbringende Verwendung der Massen von Chlor gemacht, die in der Chemieproduktion anfielen. Jetzt war sie gefunden: als Waffe für den Gaskrieg! Er wurde vervollkommnet durch die Entwicklung immer bösartigerer Gifte. Es war ein zynischer Triumph der Wissenschaft, umso zynischer darin, daß man den Schutz der eigenen Truppen beim ersten Gaseinsatz sträflich vernachlässigt hatte. Mit chemie-getränkten Mullbinden wurden sie in den Angriff geschickt. Erst nach etwa einem halben Jahr waren Schutzmasken produziert, und es kam auch auf diesem Feld zum waffentechnisch wohlbekannten Wettlauf zwischen immer raffinierteren Angriffswaffen und Verteidigungswaffen. Als Antwort auf die Gasmaske entstand so ein Gift als „Maskenbrecher“. 429 Wie die Kultur einbrach Bei Kriegsende 1918 bestand auf deutscher Seite etwa ein Viertel aller verschossenen Granatmunition aus Gasgranaten. Die Zahl der Gasgeschädigten und Gastoten kann nur annäherungsweise ermittelt werden. Erstens sind die Angaben tendenziös. Die Verteidiger des Gaskriegs hatten Interesse an möglichst hohen Zahlen von Kampfunfähigen und möglichst niedrigen Zahlen von Toten, um die „Humanität“ der Gaswaffe nachzuweisen. Zweitens konnten bei Kampfverletzungen und Tötungen ja verschiedene Ursachen zusammenkommen. Drittens wurden die zahlreichen, oft tödlichen Spätfolgen wenig erfaßt. Insgesamt geht Dieter Martinetz bei 10 Millionen Kriegstoten und 25 Millionen Verwundeten davon aus, daß mehr als eine Million Menschen im Ersten Weltkrieg durch chemische Kampfstoffe zu Schaden kam und 70 000 bis 90 000 davon getötet wurden. Die Kampfwirkung des Giftgases war jedenfalls enorm, besonders auch die psychische durch Panikerregung. Im Zweiten Weltkrieg war jeder Soldat mit Gasmaske ausgerüstet. Ein Inbegriff der Vorsorge unserer nationalsozialistischen Führung wurde die für alle Volksgenossen vorgesehene Volksgasmaske, die man neben dem Volksempfänger als Mittel zur Universalisierung der NS-Propaganda nicht vergessen sollte. Doch die Effektivität der neuen Waffe war so fürchterlich geworden, daß die Zauberlehrlinge Angst vor ihrer immer weitergehenden Entfesselung bekamen, und so verboten die Sieger von 1918 zunächst den Deutschen die Gaswaffe. Später bequemten sie sich im Genfer Gaskriegsprotokoll von 1925 zur Ächtung des Gaskriegs überhaupt, der aber keiner so recht traute und die trotzdem im Zweiten Weltkrieg hielt. Das war allerdings kein Hindernis, Forschung und Produktion auf dem Gebiet der C-Waffen, verbunden mit der Erfindung und Perfektion biologischer Waffen, in den Giftküchen der Militärs weiterzutreiben, offiziell bis zum Welt-Verbot durch das Pariser Abkommen von 1993, inoffiziell wohl bis heute. Das Verbot war auch kein Hindernis dort, wo ein Gegenschlag nicht zu befürchten war, weiterhin im kleineren Maßstab Gaskrieg zu führen; so die Spanier von 1922-27 gegen die marokkanischen Rifkabylen, die Italiener bei der Eroberung des christlichen Kaiserreichs Äthiopien 1935-36 und der irakische Diktator Saddam Hussein, damals noch mit westlichen Waffen beliefert, im Krieg gegen den Iran und im Feldzug gegen seine eigene kurdische Zivilbevölkerung. Neben der Entwicklung von Giftgas als Waffe lief im Ersten Weltkrieg im gleichen deutschen Braintrust die Arbeit zu seinem Einsatz als effektives Desinfektions- und Schädlingsbekämpfungsmittel, mit dem die Amerikaner schon vor dem Krieg Erfahrung gesammelt hatten. Jetzt ging es um die kriegswichtige Sicherung der Nahrungsmittelvorräte, etwa Getreide und Mehl, im blockierten und mehr und mehr hungernden Deutschland. Auch waren Läuse, Flöhe oder Ratten als Plage und Krankheitsüberträger im soldatischen Milieu Gegenstand systematischer und passionierter Ausrottung. Noch in seinem letzten Brief schreibt Wilhelm Kaiser, der vermutliche Gassoldat, vom Kampf 430 Geistesgeschichte 3 Dietrich Stoltzenberg, Fritz Haber. Chemiker, Nobelpreisträger, Deutscher, Jude. Weinheim 1994. Vgl. auch Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868-1934. Eine Biographie. München 1998. gegen die Läuse. Und auf diesem Feld wurde nun die Begasung durch Blausäure höchst nützlich - und folgenreich. Denn aus ihr entstand das berüchtigte Zyklon B, zunächst ein Insektizid, später das Gift von Auschwitz. Die tödliche Chemikalie war das Produkt der Firma Degesch (Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung), die von der IG Farbenindustrie beherrscht wurde, einem 1925 erfolgten Zusammenschluß der Farbenfabrik Bayer, der Badischen Anilin- und Sodafabrik und anderer Chemiefirmen, die in enger Kooperation bereits im Ersten Weltkrieg die Hauptproduzenten der deutschen Kampfgase gewesen waren. Und mit der Umwidmung des Zyklon B von Tierauf Menschenbeseitigung war das Hauptanwendungsgebiet von Giftgas zur Vertilgung schädlicher Menschenmassen überhaupt erst gefunden, und es war kriegsrechtlich irrelevant: die fabrikmäßige Vernichtung von Millionen „rassisch minderwertiger“ Volksfeinde, der europäischen Juden. Sie fand statt in den Tötungslagern Hitlers, des einfachen Gefreiten aus dem Ersten Weltkrieg, der als Meldegänger selbst eine schwere Gasvergiftung erlitten hatte. Soviel verstand Hitler, der „größte Feldherr aller Zeiten“, von Kriegführung, daß er einen Giftgaskrieg gegen hochgerüstete Gegner vermied, und soweit hatte er Erfahrungen als gasvergifteter Frontsoldat, daß er Soldaten den qualvollen Gifttod nicht zumutete. Aber Juden schon, zumal von ihnen kein Gasgegenangriff kommen konnte. Vergleicht schon Goethes Mephistopheles drastisch die Liebe mit der Wirkung von Rattengift, so scheint umgekehrt bei der Giftgasproduktion die Anwendung gegen Menschen die wissenschaftliche Phantasie für die Schädlingsbekämpfung beflügelt zu haben und diese wiederum die Anwendungsphantasie des „erfolgreichsten Massenmörders der modernen Geschichte“, des SS-Obersturmbannführers Rudolf Höß, der Zyklon B in Auschwitz einführte. Die Führungsfigur der bahnbrechenden deutschen Gaskriegs- und Schädlingsbekämpfungsmaschinerie, der Erfinder des effektiven Gaskriegs, das Bindeglied wissenschaftlicher, industrieller und militärischer Anstrengungen und Abläufe, der unermüdliche Weitermacher - etwa als Förderer des spanischen Kampfgaseinsatzes in Marokko - war der Gründer und Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin, der schon genannte Professor Dr. Fritz Haber, ein humanistisch gebildeter Idealist, deutscher Patriot und - so bösartig kann Geschichte sein - Jude. 3 Die Vergasung der Juden zu erleben, ist ihm erspart geblieben und lag gewiß außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Trotzdem gehört er an zentraler Stelle in die Vorgeschichte der Judenvergasung, der auch Verwandte von ihm zum Opfer gefallen sind. Die erste deutsche Zentralstelle der Gasan- 431 Wie die Kultur einbrach wendung im Krieg nannte man kurz „Büro Haber“. Auf seine Initiative ging auch die Gründung der Degesch zurück, die das Zyklon B entwickelte. Bis zur Inkaufnahme einer eigenen Gasvergiftung hat er in die Erforschung und Erprobung der neuen Kampfstoffe persönlich eingegriffen. Der getaufte Jude wollte ein besonders guter Deutscher sein. Die Gaswaffe galt Haber als Zeugnis deutscher Wissenschaft und des weltweit führenden deutschen Erfindungsgeists, und erbittert hat er sich bei Kriegsende gegen die alliierten Verbote für Deutschland gewehrt. Er wertete Gas als eine unumgängliche Zukunftswaffe kommender verwissenschaftlichter Kriege, und er hat immer wieder die Entsetzlichkeit des Gaskriegs heruntergespielt, wie sie durch die medizinische Praxis der Front und deren Dokumentation und durch Forschung belegt ist. Sogar der spätere Oberstarzt und Verfasser eines Leitfadens der Pathologie und Therapie der Kampfstofferkrankungen (1932) Otto Muntsch erklärte: „Man hat seit dem Weltkrieg manches Wort über die Humanität des Gaskriegs gehört: Wer jemals einen Gaskranken in dem beschriebenen Stadium des Höhepunktes des Lungenödems gesehen hat, der muß, wenn er noch einen Funken von Menschlichkeit besitzt, verstummen.“ Von Auschwitz her gesehen atemberaubend sind öffentliche Äußerungen Habers, daß man nicht angenehmer als durch Einatmen von Blausäure sterben könne. Sein Argument, der Masseneinsatz von chemischen Kampfstoffen diene dazu, Kriege zu verkürzen und damit die Zahl der Toten zu verringern, hat noch 1945 den Vereinigten Staaten zur Rechtfertigung der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gedient. Über Habers Aktivitäten bei der Organisation und Institutionalisierung des Gaseinsatzes gegen Schädlinge schreibt rückblickend der Entomologe Albrecht Hase, selbst an diesen Forschungen beteiligt, den heute unendlich makaber klingenden Satz: „Wenn sich das Blausäureverfahren von 1917 an überraschend schnell in Deutschland eingebürgert hat, gebührt der Dank in erster Linie Haber und seinen Mitarbeitern.“ Bei alledem war Fritz Haber ein wissenschaftlicher Wohltäter der Menschheit, nicht nur durch den Ausbau der Schädlingsbekämpfung. 1918 wurde ihm, freilich gegen heftigen Widerstand von Seiten der Alliierten, der Nobelpreis für Chemie verliehen, die Krönung eines Forscherlebens. Die von Haber schon vor dem Krieg erfundene Ammoniaksynthese führte in der industriellen Auswertung durch Carl Bosch zur Massenproduktion von Stickstoff, der die Epoche der künstlichen Düngung heraufführte. Die Ammoniaksynthese erschloß allerdings auch die Produktion von Salpeter als Rohstoff des Schießpulvers und ermöglichte damit zugleich die Lösung der deutschen Munitionskrise. Derselbe Mann konnte also auf Grund seiner Leistung wogende Weizenfelder zur Stillung des Hungers in der Welt vor sich sehen und die - Mondlandschaften ähnelnden - Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, Ergebnis des 432 Geistesgeschichte Abnutzungs- und Grabenkriegs und der Erfindung des sogenannten Trommelfeuers, bei dem man den Gegner durch tagelangen, aufs höchste massierten, Unmengen von Sprenggranaten verbrauchenden Artilleriebeschuß auszulöschen versuchte. Derselbe Mann war es auch, der die Gaskriegführung und die effektive chemische Schädlingsbekämpfung durchsetzte, deren Bündelung die Spur zum Völkermord an den Juden und zur heutigen ebenso diffusen wie allgegenwärtigen Terrorismusfurcht vor ABC-Schlägen gegen die westliche Industriegesellschaft ergibt. Die Antikriegskunst der zwanziger Jahre hat in Otto Dix’ Christus mit der Gasmaske eine Ikone der Verzweiflung an der Menschheit hervorgebracht. Gab es, als sich der Abgrund öffnete, keine Stimmen gegen den Gaskrieg? Erstaunlich schnell wurden in einigen Kreisen bestehende Bedenken, mit der Anwendung von Chlorgas gegen die Haager Landkriegsordnung zu verstoßen, durch Völkerrechtler zerstreut. Tatsächlich konnte Haber 1923 darauf hinweisen, daß die Akten des Auswärtigen Amtes nicht eine Note enthalten, in der ein feindlicher Staat gegen die Gaswaffen als Völkerrechtsverletzung protestiert hätte - sie saßen schließlich alle im gleichen Boot. Militärtechnische Einwände gab es mehrfach, weil man bei dem anfangs benutzten Blasverfahren vom Wind abhängig war. So argumentiert Kronprinz Rupprecht von Bayern, Kommandeur der 6. Armee, in seinem Kriegstagebuch, „daß mir das neue Kampfmittel des Gases nicht nur unsympathisch erschiene, sondern auch verfehlt [weil] der Feind zum gleichen Mittel greifen würde“. Andere hohe Offiziere fanden die Anwendung von Giftgasen unmilitärisch, aber: „Der Erfolg bei Ypern [wurde] hauptsächlich durch Giftgase erzielt. Eigentlich ein ganz scheußliches Mittel […] Hier haben wir noch nicht derartige Stänkereien, würden uns aber nicht davor genieren. Der Krieg kann eben nicht menschlich sein und ist es hier bei uns auch nicht.“ So Oberst Albrecht von Thaer am 28. April, knapp eine Woche nach dem ersten deutschen Gasangriff. In seinen Erinnerungen bekennt Berthold von Deimling, der Kommandeur des Frontabschnitts, in dem erstmals Gas eingesetzt wurde: „Ich muß gestehen, daß die Aufgabe, die Feinde vergiften zu sollen wie Ratten, mir innerlich gegen den Strich ging, wie es wohl jedem anständig fühlenden Soldaten so gehen wird. Aber durch das Giftgas konnte vielleicht Ypern zu Fall gebracht werden, konnte ein feldzugentscheidender Sieg errungen werden. Vor solch hohem Ziel mußten alle inneren Bedenken schweigen.“ Sieg ist besser als Anstand. Noch armseliger argumentiert das Kriegstagebuch der 9. Armee: „Es ist nicht zu leugnen, daß dem ritterlichen Sinn unseres Heeres die Anwendung dieses Kampfmittels zunächst nicht sehr sympathisch ist. Tatsächlich stellt aber dies Verfahren die logische Fortentwicklung der bisher in allen Armeen geübten Praxis dar […] Angesichts des Umstandes, daß unsere Gegner unter Verzicht auf jeden Rassenstolz ein buntes Völkergemisch gegen uns ins Feld 433 Wie die Kultur einbrach führen, ist die Anwendung dieses Mittels voll gerechtfertigt. Wir erreichen auf diese Weise unseren kriegerischen Zweck und sparen an kostbarem Blute.“ Gespenstisch, daß schon im Zusammenhang der Gaskriegsrechtfertigung ein rassistisches Argument auftaucht, trivialisierter Gobineau als Argumentationshilfe, neben viel trivialisiertem Darwin und Nietzsche in diesem Krieg voller ausschweifender Emotionen und phantastischer Kriegsziele, aber ohne wirklichen Grund. Praktisch wird ja bis heute bei Kriegseinsätzen des Westens zwischen wertvollem und weniger wertvollem Blut unterschieden. Soweit die Militärs mit ihrem zerbröselnden Ehrenkodex der Ritterlichkeit. Dem allergrößten Teil der deutschen Naturwissenschaftler wurde die militärische Indienstnahme der Forschung zur Selbstverständlichkeit. Die meisten Wissenschaftler sahen im Krieg auch eine Form des internationalen Wettbewerbs, in dem die Deutschen von Sieg zu Sieg schritten. In einer wahrscheinlich unter Habers Mitwirkung entstandenen Stellungnahme zum drohenden Verbot chemischer Waffen für Deutschland durch die Siegermächte heißt es: „Der Fortschritt der technischen Kultur besteht darin, daß die geistige Überlegenheit, gestützt auf die Hilfsmittel der Naturwissenschaft, die Entscheidung bringt. Ein Verbot der chemischen Kampfmittel würde diesem Grundsatz technischer Kulturentwicklung widersprechen.“ Soweit konnte die Perversion gehen: Die technische Kulturentwicklung fordert den Gaskrieg. Immerhin gab es starken und schließlich erfolgreichen Widerstand aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, gegen die Pläne Habers und anderer, in Friedenszeiten die Gasforschung in ein neuzugründendes Institut für kriegstechnische Wissenschaften einzubringen. So äußerte im März 1917 der Heidelberger Internist Ludolf Krehl in einem Brief an den Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, den weltberühmten Theologen Adolf von Harnack: „Wenn dieser furchtbare und, wie gerade sehr gute Offiziere glauben, nicht wertvolle Teil der Kriegführung von unserer Gesellschaft gepflegt wird, so müssen wir ihn jedenfalls gleichzeitig verkehren in Forschung über die Biologie der Gaswirkung und Atmung. Denn zum Töten sind wir wohl nicht da.“ Konsequent widersprachen und entzogen sich nur pazifistische Naturwissenschaftler wie der Mediziner und Biologe Georg Friedrich Nicolai, der in einer umfangreichen, 1916 im Druck beschlagnahmten, 1917 in der Schweiz veröffentlichten Monographie „Die Biologie des Krieges. Betrachtungen eines deutschen Naturforschers“ den Krieg als evolutionäre Sackgasse charakterisierte und den Gaskrieg scharf verurteilte. Unter dem Druck der Verfolgungen wich er 1918 nach Dänemark aus und rechtfertigte sich in einer Flugschrift: „Ich […] verließ den Staat, dem ich trotz alles Unrechtes, das er mir angetan, immer dankbar bleiben werde, denn durch seine Vermittlung und unter seinem Schutz habe ich das empfangen, was mich zum Menschen gemacht 434 Geistesgeschichte 4 Eine Neuauflage der Biologie des Krieges ist 1985 im Verlag der Darmstädter Blätter erschienen. hat: Die Kultur der Welt, gesehen mit den weltweiten Augen eines Deutschen.“ Noch 1920 versuchte seine Universität Berlin, ihm wegen Desertion die Venia legendi entziehen zu lassen. 4 Der Gesinnungsgenosse Albert Einstein, seit 1914 Direktor des Kaiser- Wilhelm-Instituts für Physik in Berlin, also ein enger Kollege Habers, schrieb am 3. April 1917 in einem Brief: „Nur ganz selbständige Charaktere können sich dem Druck der herrschenden Meinungen entziehen. In der Akademie scheint kein solcher zu sein.“ Welch ein Urteil über die deutsche Wissenschaft, deren glanzvollste Repräsentationen die Akademien der Wissenschaft waren! Immerhin - der weltberühmte Einstein blieb im Deutschen Kaiserreich im Amt, und Nicolai wurde durch Wilhelm II. als Idealist vor dem Schlimmsten bewahrt. Der Pazifist Romain Rolland, der es wissen mußte, meinte: In Frankreich hätte man ihn nicht verhaftet, sondern längst erschossen. Zu den wenigen Naturwissenschaftlern, die sich dem Krieg und besonders dem Gaskrieg öffentlich und auch in internationalen Zeitschriften entgegenstellten, gehörte der deutsche Chemiker Hermann Staudinger, der von seinem Lehrstuhl an der ETH Zürich aus auch eine Denkschrift an das deutsche Hauptquartier richtete und am 19. Oktober 1919 brieflich gegenüber Fritz Haber erklärte, daß „gerade wir Chemiker in Zukunft die Verpflichtung haben, auf die Gefahren der modernen Technik aufmerksam zu machen, […] da ein nochmaliger Krieg in seinen Verheerungen unausdenkbar wäre.“ Haber antwortete umgehend mit dem Vorwurf: „Sie sind […] Deutschland in der Zeit seiner größten Not und Hilflosigkeit in den Rücken gefallen.“ Erst 1969 sagte der Physiker und Nobelpreisträger (1954) Max Born in seinen Erinnerungen „Der Luxus des Gewissens“ das entscheidende Wort über den Gaskrieg: „Viele meiner Kollegen haben dabei mitgewirkt, auch Männer von hohen ethischen Überzeugungen. Genau wie Haber galt ihnen die Verteidigung des Vaterlandes als erstes Gebot. Ich fühlte schon damals einen Gewissenskonflikt. Es handelte sich nicht darum, ob Gasgranaten unmenschlicher seien als Sprenggranaten, sondern darum, ob Gift, das seit undenklichen Zeiten als Mittel des feigen Mordes galt, als Kriegswaffe zulässig sei, weil ohne eine Grenze des Erlaubten bald alles erlaubt sein würde. Aber erst viel später, nach Hiroshima, habe ich angefangen, mir klare Begriffe darüber zu machen.“ Haber ging mit seinen menschheitlichen und seinen patriotischen Idealen additiv und situativ um. Bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten blieb er als Kriegsheld zunächst verschont, wurde aber von den Nationalsozialisten gezwungen, alle jüdischen Mitarbeiter seines Instituts zu entlassen. „Die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Institute in Dahlem war der Auftakt zu 435 Wie die Kultur einbrach einer Judenanschwemmung in die physikalische Wissenschaft“, höhnte die nazistische „Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft“. In der Tat ist es im Vorblick auf die Vergasung der Juden erschreckend, wie zentral jüdische Mitarbeiter Habers bei der Giftgasentwicklung beteiligt waren. Zu ihnen gehört Otto Sackur, der schon 1914 bei Laborversuchen für den Gaskrieg den Tod fand. Und die Kreise ziehen sich weiter. Otto Ambros, als Führungsfigur der Auschwitz-Industrieanlagen im IG-Farben-Prozeß wegen Versklavung und Massenmord verurteilt, war Schüler und Schützling Richard Willstätters - Nobelpreisträger für Physik (1915), enger Freund Habers und bekennender Jude - und stand noch nach Willstätters Vertreibung aus Deutschland in Kontakt mit seinem Doktorvater. Derselbe Mann schrieb 1941 an ein Mitglied der IG-Farben-Geschäftsführung: „Unsere Freundschaft mit der SS erweist sich als gewinnbringend.“ Als Haber seine jüdischen Mitarbeiter nicht mehr schützen konnte, trat er von der Leitung seines Instituts zurück, ging ins englische Exil und starb bereits 1934 in Basel, innerlich gebrochen, unterwegs nach Palästina, wohin ihn Chaim Weizmann eingeladen hatte. Dorthin haben seine Erben 1936 auch seine nachgelassene Bibliothek gegeben. In Habers Abschiedsbrief an seine Mitarbeiter heißt es, er sei zweiundzwanzig Jahre bemüht gewesen, „im Frieden der Menschheit und im Kriege dem Vaterland zu dienen“. Noch 1952, sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, hat der Nobelpreisträger (1914) Max von Laue, nunmehriger Direktor, diesen Satz in seiner „Eröffnungsrede zur Enthüllung der Haber-Gedenktafel im Kaiser-Wilhelm- Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie“ als Vermächtnis zustimmend zitiert. Von der Ambivalenz dieses Wissenschaftlerlebens, das, laut Max von Laue, „Brot aus Luft gewann“, aber auch den Tod durch die Luft brachte, kein Wort. Das Wort „Gas“ kommt in der Rede nicht vor. Heute heißt die von ihm aufgebaute Forschungsstätte „Fritz-Haber-Institut“, und am Daniel Sieff Research Institute in Rehovot, Israel, gibt es eine „Fritz- Haber-Bibliothek“. Bis über den Tod hinaus steht so diese Gestalt paradigmatisch für das Janusgesicht der Wissenschaft und ihre Unfähigkeit, sich selbst aus sich heraus Maß und letztes Ziel zu setzen. Habers Fotografie zeigt ihn als wach und freundlich blickenden, selbstbewußten, gebildeten bürgerlichen Wissenschaftler, einen Typus der damaligen Gelehrtenwelt. Er war ein unbeugsamer, integrer, tapferer Mann. Das ändert nichts an der abgrundtiefen Fragwürdigkeit und Verderblichkeit der Formel, in der er sein Ethos zusammenfaßte - im Frieden die Menschheit, im Krieg das Vaterland. Sie sagt pathetisch, was der Kommandeur im Frontabschnitt des Gasangriffs mit dem Zusammenknicken der Ritterlichkeit vor dem hohen kriegerischen Zweck banal sagt: Right or wrong, my country. Ein Ethos, das im Krieg das Vaterland an die Stelle der Menschheit rückt, das also bedingungsweise seine Unbedingtheit aufgibt, ist letztendlich bodenlos. Daß rings um Haber und rundum in Europa die gleiche moralische Selbstblendung 436 Geistesgeschichte 5 Jürgen und Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf „An die Kulturwelt! “. Stuttgart 1996. durch Ausblendung stattfand, war die kulturelle Katastrophe des Ersten Weltkriegs, die sich, lange im 19. Jahrhundert vorbereitet, nun gleichsam unter der Hand abspielte. Der berüchtigte Aufruf herausragender deutscher Wissenschaftler und Künstler - auch Haber hatte ihn 1914 unterschrieben - „An die Kulturwelt“, der unter Verzicht auf alle Prinzipien wissenschaftlicher Überprüfung, aber unter Inanspruchnahme wissenschaftlicher Autorität nicht nur die tatsächliche, hauptsächlich von England ausgehende Greuelpropaganda der Feindmächte bestritt, sondern auch ungeprüft alle Behauptungen der deutschen Diplomatie und Kriegführung übernahm, etwa zum deutschen Bruch der Neutralität Belgiens, liegt auf der gleichen Linie, gerade weil die Masse der Unterzeichner eher Liberale und Fortschrittler, Kritiker des Wilhelminismus waren. Autor des Entwurfs war wiederum ein patriotischer Jude, der weltläufige Schriftsteller und klassische Übersetzer Molières, Ludwig Fulda, der auch durch die Nazis zugrunde gerichtet werden sollte. 5 Der deutsche Idealismus in der Nachfolge Kants mit seinem menschheitlichen moralischen Imperativ war, als der Erste Weltkrieg kam, längst zum Konglomerat von Kernsätzen und sentimentalem Schwulst verkommen. Das institutionalisierte Christentum ließ in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche die Hohenzollern auf byzantinischem Mosaikgoldgrund theokratisch prangen und tröstete die Hinterbliebenen der Kriegstoten mit Andachtsbildern, die den fürs Vaterland gefallenen Soldaten unter Berufung auf den Johannesbrief in die Nachfolge Christi stellten. Die Arbeiterbewegung vergaß in der Kriegsbegeisterung ihren Internationalismus und den Klassenkampf, und als sie sich darauf zurückzubesinnen begann, schrumpfte die russische Oktoberrevolution die große Menschheitstheorie des Marxismus zum Henkersbeil einer Diktatur ein, die nicht die des Proletariats war. Wilhelm II. hatte recht, als er 1914 keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kennen wollte. Daß die meisten Deutschen nur Deutsche zu sein bereit waren, nichts darüber hinaus, war die Katastrophe. Der 11. September 2001 war, nach Hiroshima, abermals ein Datum symbolisch verdichteter Geschichte. Und immer wird dann Geschichte zum Echoraum: Der 22. April 1915 steigt wie Banquos Geist in Shakespeares „Macbeth“ herauf: Wiederum weht ein Letztwert in pseudoreligiöser Aura über Ground Zero, wiederum schwarze Wolken, wiederum Männer in Schutzmasken und Angst in allen Richtungen, wiederum ein Triumph mit Mitteln der Industriegesellschaft, der sich mörderisch gegen sie selbst kehrt. Das World Trade Center - hier ist unsere Stellung. Hier ist auch der Feind. 437 Wie die Kultur einbrach Die inneren Zerstörungen im Ersten Weltkrieg, so der Absturz der Wissenschaften in eine moralische Orientierungslosigkeit, die sogar die Humanität des Gaskriegs anzupreisen vermochte, waren fast noch verheerender als die äußeren der Materialschlachten, in denen sich die Selbstzerstörungskraft der Industriegesellschaft erstmals voll austobte. Das Verheerendste war, wie unbemerkt und unbedacht, wie - trotz des Widerstands einzelner - fast selbstverständlich, ja, sogar unter dem Triumphgeschrei naturwissenschaftlichen Fortschritts Kohorten ehrenwerter Männer die westliche Welt jene Grenze des Erlaubten überschreiten ließen, jenseits deren, wie Max Born sagt, alles erlaubt ist, angefangen mit der Weltreinigung durch Giftgas, das Feinde und Schädlinge aller Art vertilgt. Wie tief diese Verwüstungen auch in die pazifistische Linke der Nachkriegszeit hineingriffen, demonstriert erschreckend ein am 26. Juli 1927 in der Weltbühne veröffentlichtes Feuilleton „Dänische Felder“ von Kurt Tucholsky, das im Blick auf die friedliche dänische Sommerlandschaft die Kriegsbereitschaft großer Teile des nationalistischen und revanchistischen deutschen Bürgertums mit den Worten verflucht: „Möge das Gas in die Spielstuben eurer Kinder schleichen. Mögen sie langsam umsinken, die Püppchen. Ich wünsche der Frau des Kirchenrats und des Chefredakteurs und der Mutter des Bildhauers und der Schwester des Bankiers, daß sie einen bittern qualvollen Tod finden, alle zusammen. Weil sie es so wollen, ohne es zu wollen. Weil sie faul sind. Weil sie nicht hören und nicht sehen und nicht fühlen.“ Diese Sätze sind auch als pazifistische Flüche nicht zu retten. Wer mit soviel Haß, Hohn und sadistischer Phantasie auf einen zum Popanz verzerrten Feind und sogar dessen Kinder losgeht, ist von dem Geist unterwandert, den er bekämpft. Was notierte der große Tagebuchschreiber Fritz Rietzler, diplomatischer Mitarbeiter des damaligen deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, sechs Tage nach dem ersten deutschen Gasangriff am 28. April 1915, im französischen Charleville, nicht fern der flandrischen Front? „Der Zusammenbruch des Völkerrechts - die Chlordämpfe nie wieder aus der Kriegführung zu verbannen. Aus der Richtung kommen die größten Umwälzungen der ganzen Aspekte von Welt und Mensch.“ Vertreibung des Geistes? Nur die Geisteswissenschaften können nach dem Menschen fragen, der naturwissenschaftliche Fragen stellt „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ heißt eines der frühen Dramen Max Frischs. In diesem Titel sind extreme Gegensätze verschränkt: Der literarische Mythos des erotischen Verführers kreuzt die Sphäre der Abstraktion, wo der Mensch auf der Suche nach letzten Ordnungen der Welt alles Menschliche hinter sich läßt. Don Juan, der Frauenheld im Labyrinth der Gefühle ist es, dessen angeblich wahre Liebe der Geometrie als Inbegriff exakter Wissenschaft gilt. Und noch in seinen erotischen Irrfahrten ist der sexuelle Abenteurer vom Wissensdurst getrieben: weniger von Neugier auf die Frauen als von Neugier auf das Geheimnis der menschlichen Gefühle, ja der Weltwahrnehmung. Haben sie eine geheime Geometrie? Sind sie vermeßbar? Goethes „Faust“ und seine „Wahlverwandtschaften“, Gottfried Kellers „Sinngedicht“ und Max Frischs „Homo faber“ oder eben Frischs Don-Juan- Komödie - um nur ein paar Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur zu nennen - können die Rolle der exakten Wissenschaften im emotionalen Leben und Zusammenleben des Menschen dichterisch durchleuchten. Das Umgekehrte ist unmöglich: Weder die Mathematik noch die Physik noch die Chemie noch die Genetik, nicht einmal die Medizin können den Menschen als individuelles, historisches und sprachliches Wesen in den Blick bekommen. Don Juan existiert für die Geometrie und in der Geometrie nicht, obwohl er sie doch betreibt, obwohl die Geometrie doch von Individuen unter historischen und gesellschaftlichen Bedingungen ausgebildet worden ist. Don Juan kann sich über die Geometrie äußern, aber die Geometrie nicht über Don Juan. Dem entspricht das Verhältnis zwischen der Mathematik und den Naturwissenschaften einerseits, der Philosophie und allen Wissenschaften, die heute als Geistes-, Gesellschafts- oder Kulturwissenschaften firmieren, andererseits. Der Mensch als individuelles und historisches Wesen und seine von ihm erzeugte geistige Welt ist Thema der Geisteswissenschaften. Und in diesem Rahmen können sie sich auch mit den vom Menschen als konkreter Person abstrahierenden, exakten Wissenschaften befassen. Die Geistes-, Wirtschafts- oder Sozialgeschichte kann die Voraussetzungen für die Entfaltung der exakten Wissenschaften und ihre Rückwirkung in Gesellschaft und 439 Vertreibung des Geistes? politische Geschichte untersuchen; die Geisteswissenschaften können die Geschichte des exakten Denkens und der Abstraktion schreiben; sie können nach der Bedeutung etwa von Einsteins Spinoza-Rezeption für Entstehung und Gestalt der Relativitätstheorie und der Goethekenntnisse Niels Bohrs für die Ausbildung des Kopenhagener Modells der Atomphysik fragen. Die Philosophie kann bedenken, was Denken überhaupt sei. In dem Maße aber, in dem die Geisteswissenschaften versuchen würden, selbst exakte Wissenschaften zu werden, verlören sie ihren Gegenstand: den individuellen und historischen Menschen. Denn die Naturgesetze erfassen nicht das Einmalige und die Verknüpfungen des Einmaligen, sondern das sich Wiederholende und Reproduzierbare. Und so ist sich der individuelle und historische Mensch uneinholbar vorgegeben, bliebe sich vorgegeben, auch wenn er bereits klonbar wäre, nicht zuletzt deshalb, weil auch der geklonte Mensch eine individuelle Geschichte mit einzigartigen Umständen hätte, die ihn eigentümlich machten. Der konkrete Mensch in seinem So- und nicht Anders-Sein ist die Urtatsache des Menschen, der er sich in den Geisteswissenschaften nicht konstruktiv und verallgemeinernd, sondern reflexiv und individualisierend, tastend gleichsam, annähert. Die physiologische Hirnforschung kann feststellen, daß, wie und wo gedacht wird; niemals, was ich eben denke. Eine chemische Geschmacksanalyse kann exakt einen Wein bestimmen, aber nicht sagen, was ich schmecke, wenn ich ihn jetzt trinke. In der zweiten seiner sechs grundlegenden „Meditationes de prima Philosophia“ beschreibt René Descartes zunächst sensibel den Hauch von Honiggeschmack, von Blumenduft, die taktilen Qualitäten einer Wachsscheibe, läßt diese dann am Feuer schmelzen, so daß alle vorher beobachteten Qualitäten verschwinden, behauptet aber am Ende zuversichtlich, trotz des Verlustes aller vorher festgestellten Qualitäten bleibe das Wachs Wachs. Im Sinn der exakten Naturwissenschaften stimmt das gewiß, aber nicht im Erlebnissinn, der auch im praktischen Leben des Naturwissenschaftlers herrscht. Dieser Graben zwischen gegenüberstehendem und messendem Analytiker und erlebendem Ich ist unüberspringbar, denn die Reduktion aufs Allgemeine und Quantifizbare ist nicht nur die Eigenart, sondern die Voraussetzung naturwissenschaftlicher Forschung. Die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, ebenso die Philosophie, können diesen Sprung denken und deuten, die exakten Wissenschaften können es nicht. Ein Physiker könnte in seiner Eigenschaft als Physiker nicht sagen, was lebensweltliche Erfahrung ist, obwohl er in ihr lebt. Er könnte in seiner Eigenschaft als Physiker nicht thematisieren, inwiefern er sich instrumentalisiert, indem er sich zur Beobachtungsinstanz neutralisiert. Dementsprechend gibt es zwar eine mathematische Logik, welche die Gesetzte der Logik zu mathematisieren versucht; doch es kann keine mathematische Begründung der Logik geben, weil die Gesetze der Logik der Mathematik vorgegeben sind. Ohne Logik gäbe es keine Mathematik, denn sie baut logisch auf Axiomen auf. Sie ist auf Empirie anwendbar 440 Geistesgeschichte - sonst gäbe es keine modernen Naturwissenschaften -, aber nicht aus ihr ableitbar. Alle diese Feststellungen sind banal, aber von großer Tragweite. Zunächst ergibt sich aus ihnen, daß Wissenschaftstheorie, und innerhalb ihrer das Unternehmen, Natur- und Geisteswissenschaften in ihrer Eigenart zu bestimmen, Sache der Geisteswissenschaften und der Philosophie sind. Natürlich kann ein großer Naturwissenschaftler ein ebenso großer Wissenschaftstheoretiker sein, aber er ist es dann nicht in seiner Eigenschaft als Naturwissenschaftler, sondern im Übertritt in die Philosophie und/ oder die Geisteswissenschaften. Als Naturwissenschaftler kann er für die Geisteswissenschaften nur Negativcharakteristiken entwickeln, vorab, daß sie nicht exakt sind. In der Tat sind die klassischen wissenschaftstheoretischen Versuche, Natur- und Geisteswissenschaften gegeneinander abzugrenzen, aus dem Bereich der Geisteswissenschaften gekommen. Da sie dem fortschreitenden 19. Jahrhundert, mithin der Siegesepoche der exakten Naturwissenschaften angehören, sind sie deutlich defensiver Natur, und aus dieser Defensive sind sie bis heute im öffentlichen Bewußtsein und auch in ihrem Selbstbewußtsein nicht herausgekommen. Die Abgrenzungen verdanken sich dem Bestreben, den Geisteswissenschaften eine Bastion zu sichern, die vom Fortschritt der Naturwissenschaften nicht überrannt werden kann. Seit dieser Unterscheidung werden die Zentralbegriffe der Wissenschaftsbereiche antithetisch gesetzt. Der Philosoph Wilhelm Windelband stellt in seiner Schrift „Geschichte und Naturwissenschaft“ (1904) nomothetische und idiographische Wissenschaften gegenüber: nomothetisch die Naturwissenschaften, die Gesetze aufstellen; idiographisch die Geschichtswissenschaften, die einmalige Sachverhalte und Ereignisse beschreiben. Wilhelm Dilthey, mit seiner „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883) maßgeblich für die Terminologisierung des Wortes, setzt die Grundbegriffe „erklären“ und „verstehen“ für das Verfahren der Natur- und Geisteswissenschaften: „erklären“ ein auf Naturgesetze zurückführendes, „verstehen“ ein individualisierendes, auf das Eigentümliche zielendes Vorgehen. Die Rationalität der Naturwissenschaften richtet sich auf die Natur als faktisch gegebenes Gegenüber, auch auf den Menschen, soweit er als Natur gegeben ist. Diese Natur ist ihr Objekt. Im „Geist“ der „Geisteswissenschaften“ schwingt ein säkularisiertes religiöses Pathos mit. „[…] der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser“, heißt es im zweiten Vers der biblischen Schöpfungsgeschichte. Der Geist ist das schöpferische Lebensprinzip, das in allen seinen Manifestationen auf seinen Ursprung zurückverweist. Um dieser Struktur der Selbstreflexivität willen ist der Begriff unverzichtbar, auch wenn sein Pathos etwas fremd in der aktuellen Wissenschaftslandschaft wirkt. Konkurrierende Bezeichnungen wie das sich heute mehr und mehr durchsetzende, auf den Neukantianer Heinrich Rickert zurückgehende, stromlinienförmig zeitgeistkonforme „Kulturwissenschaften“ enthalten jedenfalls keinen Hinweis auf den selbstreflexiven Cha- 441 Vertreibung des Geistes? rakter des geisteswissenschaftlichen Denkens. Es entsteht der falsche Eindruck, Kultur sei das Pendant zu Natur, wogegen doch die Natur der Naturwissenschaften erst durch Kultur hervorgebracht worden ist. Ohne die kulturell entstandenen Naturwissenschaften gäbe es deren Natur nicht, denn sie ist ein Konstrukt. Ohne Selbstdeutung des Menschen in Abhebung von der außermenschlichen Umwelt hätten wir keinen Begriff und keine Vorstellung von Natur. Die Selbstreflexivität des geisteswissenschaftlichen Denkens besteht darin, daß der Geist der Geisteswissenschaften Subjekt und - in den geschichtlichen und kulturellen Manifestationen des Menschen - sein Objekt zugleich ist. Seine Richtung auf Sinn und Bedeutung überlagert und durchdringt die Ursache-Wirkungs-Frage der Naturwissenschaften. Die Frage: Was und wer bin ich, der ich mich in dieser Welt vorfinde, wendet die Kategorie des Sinns gleichzeitig auf den Fragenden und die Welt an. Das Erkenntnissubjekt der Geisteswissenschaften kann der Welt nur soweit auf den Grund kommen, wie es sich dabei auf den Grund geht, und diese den Gegenstandsbezug begleitende Fragerichtung kann nicht gelöscht werden. Sie ist dem Menschen mit seinem Menschsein gegeben und reicht vom dumpfen Grübeln bis in die Auffächerungen und Spezialisierungen der Geisteswissenschaften. Der Geist, der geschichtlich-individuelle Phänomene zu erfassen versucht, seien es solche kollektiver Art wie Staat oder Gesellschaft, sei es der einzelne Mensch als dieser und kein anderer, seien es Gebilde des individuellen Geistes wie Kunstwerke, hat es also immer auch mit sich selbst zu tun, sein Verstehen ist immer auch ein Stück Selbstverständnis und Selbstauslegung des Verstehenden und Deutenden. Selbst für die Philosophie, die sich als Denken des Objektiven, zum Beispiel der Bedingungen der Möglichkeit des Denkens, bestimmt, trifft das zu - Kants Erkenntnistheorie ist Kants Erkenntnistheorie. Wie sehr die Geisteswissenschaften defensiv konzipiert sind, zeigt sich u.a. daran, daß eine Reihe von Wissenschaften, die traditionellerweise als Geisteswissenschaften aufgefaßt werden, in sich eine Spaltung erfahren haben, mittels deren sich eine exakt-analytische und positivistische, das heißt an angeblich positiven Tatsachen orientierte Richtung von der verstehend-individualisierenden Richtung abzustoßen versucht - ich nenne nur die Psychologie und die Soziologie, die in den sechziger Jahren einen erbitterten Positivismusstreit geführt haben. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hat das Entgegensetzungsmodell weithin Geltung behalten. So hat der britische Romancier und Physiker Charles Percy Snow 1959 in seiner Schrift „The two cultures and the scientific revolution“ die These aufgestellt, die moderne Menschheit sei in zwei Kulturen gespaltet, eine naturwissenschaftlich-mathematische und eine geisteswissenschaftlich-sprachliche, die sich miteinander nicht nur nicht verständigen können, sondern zueinander gleichsam Rücken an Rücken stehen; eine These, die mit ihrem Gefahrenszenario und appellativem Impuls 442 Geistesgeschichte seinerzeit eine weltweite leidenschaftliche Diskussion ausgelöst hat. Heute ist man darüber längst zur Tagesordnung übergegangen. Die Geisteswissenschaften sitzen wie Christian Morgensterns König Fahrenheit im Winkel und essen still ihr Mus. Trotz alles Zutreffenden ist das Zweiteilungsmodell der Wissenschaften nur vordergründig überzeugend und verdeckt die Verhältnisse in der Tiefe. Natur- und Geisteswissenschaften erforschen nicht zwei einander gegenüberliegende Hälften der Welt. Erst recht sind es nicht die Geisteswissenschaften, die ein Reservat bewohnen. Wie an Hand des Max-Frisch-Beispiels schon angedeutet, erforschen vielmehr die exakten Naturwissenschaften einen aus dem ganzen Umfang der menschlichen Erfahrungswelt ausgegliederten, durch Abstraktion und Isolierung präparierten Teilbereich, der von einer präparierten Beobachterinstanz wahrgenommen und analysiert wird. Präpariert ist sie insofern, als der Naturwissenschaftler, am deutlichsten im Feld der Experimentalwissenschaften, von allen individuellen und lebensweltlichen Voraussetzungen abstrahiert, um sich zur Instanz zu neutralisieren. Es ist gleichgültig, ob er als dieser und kein anderer, als Katholik oder Materialist, als Mann oder Frau, als Asiat oder Europäer, als Verzweifelter oder Glücklicher das Mikroskop benutzt, und die berühmte Heisenbergsche Unschärferelation ändert daran nichts, denn sie erfaßt zwar den Beobachter als Moment des beobachteten Vorgangs, aber nicht in seiner Individualität, sondern in seinem bloßen Vorhandensein. Gleichermaßen wie der Beobachter ist das Beobachtete präpariert, als Beobachtungs- oder Experimentalanordnung aus dem freien Fluß der Wirklichkeit und der Praxis künstlich herausgehoben, auf Wiederholbarkeit, Eindeutigkeit und Quantifizierbarkeit des Ergebnisses hin stilisiert. Im Bereich naturwissenschaftlicher Theorien- und Hypothesenbildung spielen zwar außernaturwissenschaftliche Voraussetzungen mit - man denke etwa an die erbitterten weltanschaulichen Auseinandersetzungen um Darwins Deszendenztheorie auch in der Wissenschaft selbst - ; doch der klassische Weg der Verifizierung naturwissenschaftlicher Theorien, das Experiment, stellt auch hier letztendlich Allgemeingültigkeit her. Mit naturwissenschaftlichen Theorien der Weltenstehung aber taucht im Rahmen der Naturwissenschaften selbst ein sprengendes Moment auf, denn mit dieser Problemstellung gerät auch die außermenschliche Natur, und nicht nur der Mensch, unter Kategorien der Geschichte. Nicht nur ist die Entstehung des Kosmos einzigartig, sie ist auch ein kontingentes Ereignis, zumal laut Big-Bang-Theorie auch die Naturgesetze, Raum und Zeit erst mit ihr entstanden sind. Diese Einsicht schärft zugleich den Blick auf die nicht klassisch-kausalen Weichenstellungen der Naturgeschichte, die sie unwiederholbar machen. Es könnte den Menschen auch nicht geben. Und noch weiter führt die in den Naturwissenschaften vordringende Chaostheorie, die etwa in der Meteorologie nichtlinerare Vorgänge statuiert, die jeweils in sich kausal, in ihrem Zusammenwirken aber 443 Vertreibung des Geistes? nicht kausal ableitbar sind. Danach sind Geltungszonen der klassischen Naturgesetze nur Inseln im Chaosmeer des nicht kausal ableitbaren Geschehens. Und nicht nur hinter diese Vorgegebenheiten gibt es kein Zurück; vorab das menschliche Bewußtsein als Selbstbewußtsein kann nicht naturwissenschaftlich erklärt werden. Der Versuch, das Bewußtsein evolutionär aus Empirie abzuleiten, ist ebenso zirkulär, wie der Versuch, eine evolutionäre Ethik zu begründen - das zweite, weil das daraus resultierende Konzept der Ethik Evolution als sinnvoll voraussetzt, also von einer Wertsetzung ausgeht; das erste, weil Empirie immer schon von unserem Bewußtsein strukturierte und mit seiner Hilfe generierte Empirie ist. Das hebt auch die Theorie vom psychophysischen Parallelismus des physiologischen und kognitiven Geschehens im Gehirn aus den Angeln, weil es unvergleichlich ist, ob das Denken sich auf Strukturen des Bewußtseins oder auf durch Bewußtsein strukturierte Sachverhalte richtet. Alle diese Erwägungen gewinnen an Stoßkraft durch die Erweiterung der Bewußtseinsproblematik auf die Sprachproblematik. Wie die exakten Wissenschaften durch Exklusion unbeherrschbarer Randbedingungen Zonen ihrer Zuständigkeit im flutenden Ganzen menschlicher Welterfahrung erzeugen, dem sie doch aufruhen, ruhen sie auch mit ihrer auf der Meßbarkeit von Größen und damit Mathematik basierenden Zeichensprache in der umfassenden Sprachlichkeit der menschlichen Welt. Die exakten Wissenschaften hängen ab von der nicht exakten Sprache menschlicher Verständigung, der Entwicklung der Fähigkeit, auch Abwesendes und nicht sinnlich Wahrnehmbares zu vergegenwärtigen und mitzuteilen, Zeichen für Sachen zu setzen und Sachen als Zeichen und das heißt Bedeutungen zu verstehen. Kein Computer könnte physikalische Ereignisse wie Tonfolgen oder dunkle Linien auf helleren Flächen als Sprache oder Schrift erkennen, hätten sprachlich verfaßte Menschen nicht Spracherkennungsprogramme für ihn entwickelt und ihm eingegeben. Im Erwägen, was Naturwissenschaften können und nicht können, war natürlich ständig auch von den Geisteswissenschaften die Rede: Ihre wissenschaftliche Sphäre ist nicht exklusiv, wie die der Naturwissenschaften, sondern inklusiv. Ihre Sprachlichkeit ist nicht qualitativ von der universalen Sprachlichkeit des menschlichen Lebens abgehoben, sondern quantitativ: durch Differenzierung und teilweise durch Terminologisierung, die aber immer etwas Fließendes behält. Das Denken der Geisteswissenschaften kann und will alles thematisieren, so wie der Mensch in seiner Lebenspraxis prinzipiell alles thematisiert. Ihre Grenzenlosigkeit zur erfragten Welt und zum Fragenden hin ist ihre Stärke und ihre Schwäche. Kausalität und Statistik sind innerhalb der Naturwissenschaften unstrittig; von den Naturwissenschaften formulierte Naturgesetze sind unstrittig. Der genetische Code ist wahrscheinlich unstrittig. Doch solche unstrittigen Ergebnisse der Naturwissenschaften und ihre methodisch unstrittigen, exponential ausgreifenden Fragestellungen 444 Geistesgeschichte schwimmen wie Ölflecken auf einem Meer des Strittigen herum, das kaum abnimmt. Die Gegebenheiten seiner Menschlichkeit und seines individuellen Soseins, den Geschichtsverlauf mit seinen Imponderabilien, den Sinn des Lebens, die Bedeutung kultureller Phänomene kann der Mensch nicht beherrschen; seine Grundorientierungen nicht ausargumentieren. Und nicht nur das. Da er ein geschichtliches Wesen ist, wird seine geisteswissenschaftliche wie seine lebenspraktische Perspektive immer wandern. Nach Auschwitz kann man eine Geschichte der Gaskriegsführung im ersten Weltkrieg nicht mehr so schreiben, wie man sie vorher hätte schreiben können. Nach dem Mißbrauch Hölderlins durch die Nationalsozialisten wird man seine Texte nie wieder so lesen können wie vorher. Eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird bei gleichem Kenntnisstand und gleicher Intensität der Selbstkontrolle verschieden aussehen, ob sie ein Kriegsteilnehmer oder ein Nachgeborener, ein Deutscher, ein Russe oder ein Japaner schreibt. Wenn nun aber die Geisteswissenschaften so unexakt sind, ist dann ihre gegenwärtig rasant fortschreitende Marginalisierung nicht berechtigt? Nein, denn sie sind nur so bodenlos wie der Mensch und seine Welt selber, nicht mehr und nicht weniger, und möglichst viel vom Menschen im konkreten Lebenszusammenhang in Erfahrung zu bringen, ist schon deshalb wichtig, weil der unexakte Mensch es ja ist, der auch die exakten Naturwissenschaften hervorgebracht hat und ständig weiter entfaltet - nicht zuletzt in Richtung seiner so oft diffusen Utopien, Ideale, Träume von Glück und Vollkommenheit, also mit starken irrationalen Antrieben. Viele Dinge, die man nicht exakt wissen kann, sind für das Verständnis des Menschen und seiner Welt wichtiger als eine Menge exakt wißbarer, und auch die Dimensionen des exakt Wißbaren werden schrumpfen, wenn der Fragehorizont darüber hinaus gekappt wird. Der Genetiker, der den genetischen Code des Menschen entschlüsselt und globale Forschungsprogramme entwirft, aber in seiner Vorstellung vom Menschen und seiner Zukunft kaum über Science-Fiction und Hochglanzprospekte von Wellness und Warenwelt hinausgekommen ist, wäre eine Schreckensvision. Diese Entwicklungsrichtung hat vor kurzem Wolfgang Frühwald, Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung, als „Experimentalismus“ und progressive „Enttheoretisierung“ der Naturwissenschaften charakterisiert. Er schreibt: „Als ‚Forschung‘ gilt zunehmend nur noch die experimentelle Erweiterung der Erfahrung und mit ihr die internationale Programmforschung.“ Sie droht unbezwingliche Datengebirge, pfad- und theorielose Irrgärten der Information zu erzeugen und, statt weitreichender Theorien, lediglich weitreichende Verwertungsinteressen hervorzurufen. „Die Abwertung der Geisteswissenschaften ist Teil eines weltweiten Prozesses, in dem Experiment und Programm nahezu unumschränkt herrschen.“ Diese Entwicklung ist nicht allein dadurch aufzuhalten, daß appellativ den Forschern die Verantwortung für die Ergebnisse ihrer Forschungen und deren Einbindung in den Rahmen der Lebenspraxis ans Herz gelegt wird, und 445 Vertreibung des Geistes? ebensowenig allein durch Ethikkommissionen - so wichtig sie sind -, in denen Fachleute für Ethik Fachleuten für Genetik oder Transplantationschirurgie Handreichungen zu naturwissenschaftlichen oder ärztlichen Entscheidungen geben. Denn in solchen Kommissionen können nur abgelöste, handhabbar gemachte Ergebnisse weitergereicht, nicht aber Horizonte, Formen und Prozesse korrektiven kulturellen Denkens erschlossen werden. Philosophie und Geisteswissenschaften sollten heute ihr Lebensrecht und ihre gesellschaftliche Notwendigkeit nicht demütig als Hilfswissenschaften oder gar Feigenblatt der Naturwissenschaften oder als Spielwiesen und Freizeitparks proklamieren, sondern mit ihrem höchstem Anspruch: als gleichberechtigt-komplementäre wissenschaftliche Denkweisen, die nicht zuletzt den ebenso großartigen wie triumphalen Naturwissenschaften den Konstrukt- und Abstraktionscharakter ihrer von Lebenswirklichkeit umspülten wissenschaftlichen Empirie gegenwärtig zu halten haben. Auch die Geisteswissenschaften haben, trotz ihrer Bodenlosigkeit, ihre eigentümliche Professionalität ins Feld zu führen. Auch sie haben, trotz ihrer Nichtexaktheit, ihre eigentümliche Verifizierungsweise: in dem ihre Forschungen ständig begleitenden Bedenken ihrer nicht übersteigbaren Perspektivik, Relativität und Voraussetzungshaftigkeit; in der argumentativen Plausibilisierung ihrer Thesen; in der dialogischen Integration, die gerade die Verschiedenartigkeit der Ausgangspunkte als Komplexitätsgewinn der Ergebnisse fruchtbar machen kann. Ein Musterbeispiel einer wechselseitigen Erhellung der Geistes- und Naturwissenschaften gibt der 1992 veröffentlichte, von 1932 bis 58 reichende Briefwechsel zwischen einem der genialsten, kritischsten und erkenntnistheoretisch wachsten Physiker des 20. Jahrhunderts, Wolfgang Pauli, und dem Psychologen C.G. Jung, die in Zusammenarbeit eine universale Synchronizitätshypothese entwickelt haben. In Analogie zu Bohrs Einsicht, daß zur vollständigen Erfassung der atomaren Erscheinungen zwei verschiedene Beobachtungsweisen, sozusagen mit dem ‚Wellen-Auge‘ und mit dem ‚Teilchen-Auge‘, notwendig sind, werden die kausalitätsorientierte Betrachtungsweise der Naturwissenschaften und die sinnorientierte Betrachtungsweise der Geisteswissenschaften als komplementär bestimmt: die gleiche eine Welt beschreibend, darin einander ergänzend, aber nicht zugleich anwendbar und aneinander anschlußfähig, weil in den Kategorien einander ausschließend. Freilich ist das nur eine Denkmöglichkeit, kein beweisbarer Sachverhalt, aber gerade auch in der Erschließung und Demonstration von Komplexitäts- und Relativitätsmodellen könnten die Geisteswissenschaften, sofern sie sich nicht im ebenso selbstgefälligen wie ängstlichen Spezialistentum einigeln, eine anregende und herausfordernde Wirkung auf die zur Linearität des Denkens neigenden Naturwissenschaften gewinnen. Und gibt es nicht überhaupt eine Offenheit der Fragestellungen und -richtungen, die weit entfernt ist von Beliebigkeit, sondern exakt der Offenheit der menschlichen Existenz 446 Geistesgeschichte entspricht, die immer mitgedacht werden muß, wo vom Menschen die Rede ist? Wie ich meine Überlegungen an einem literarischen Text, Frischs „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“, begonnen habe, möchte ich sie auch hier wieder anknüpfen, nicht, weil ich die Geisteswissenschaften hinter dem breiten Rücken der Kunst taktisch verstecken will, sondern weil die Literaturwissenschaft, mein eigenes Fach innerhalb der Geisteswissenschaften, an den Bildern der Kunst etwas zu artikulieren vermag, was ohne sie ein implizites Zeigen bliebe. Don Juan hat beim ersten Erblicken Donna Annas das Wunder der Liebe erfahren, und weil Wunder nicht institutionalisierbar sind, flieht er am Vorabend der vereinbarten Hochzeit in den dunkelnden Park, wo er, fasziniert von einer Namenlosen, die Liebesvereinigung erlebt. Es war, wie die Hochzeitszeremonie an den Tag bringt, Donna Anna. Frischs Don Juan verweigert daraufhin die Ehe mit ihr. Die Namenlose der Nacht ist ihm auf immer entschwunden. Sie hat ihm die Frau des nächsten Tages, heiße sie auch Donna Anna, gleichgültig und beliebig gemacht. Was da auf der Bühne stattfindet, zeigt eine Wahrheit des Menschen. Aber das gleiche Ereignismuster könnte auch das Gegenteil sagen, hat es in der romantischen Dichtung gesagt: Der Bräutigam flieht vor der verabredeten bürgerlichen Formalisierung der Liebe in der Ehe. Er erlebt mit einer Unbekannten das Wunder der Liebe. Danach stellt sich heraus, daß die Unbekannte die vorgesehene Ehefrau ist. Sein Gefühl hat dahin gefunden, wo die Verabredung schon war. Das Wunder der Liebe ist das Wunder der Ehe: daß ihm die Ehefrau und die unbekannte Geliebte identisch werden. Auch das ist eine Wahrheit des Menschen, wenn vielleicht auch eine heute kaum populäre. Beiläufig sind wir auf die Dichtung als eine spezifische Weise menschlicher Selbstdeutung und Weltdeutung gestoßen. Sie vollzieht sich nicht argumentativ, sondern im gegenständlichen Vorführen von Lebenssituationen, die auf ihre Voraussetzungen und Folgen durchgespielt und durchleuchtet werden. Mit dem naturwissenschaftlichen Experiment haben diese Lebensspiele der Literatur gemein, daß sie in einer eigenen, gegen die gelebte Lebenswirklichkeit abgegrenzten Sphäre vor sich gehen. Es ist die Sphäre der Fiktion. Mit dem geistesgeschichtlichen Universalismus haben die Lebensspiele der Dichtung gemein, daß sie den ganzen Menschen im quantitativen und qualitativen Sinn zur Diskussion stellen. Im Fall von Frischs Don Juan etwa das Verhältnis von Exaktheit des konstruktiven Denkens und Diffusion des gelebten Lebens. Diese Diffusion hat zum Kern nicht die Banalität des Anythin goes, sondern: so ist der Mensch. Das Ganze begegnet ihm nur in immer neuen Widersprüchen. Darin liegt seine Offenheit und unaufhebbare Exponiertheit, der er nicht entfliehen kann - auch nicht, wie Frischs Don Juan versucht, ins Exakte, Definitive und Perfektionistische einer ausgegrenzten Wissenschaftssphäre. Die Geisteswissenschaften auf der Spur des labyrinthisch mäandrierenden 447 Vertreibung des Geistes? 1 Ein Zeitungsartikel kann natürlich die Thematik weder umfassend noch differenziert darstellen. Wichtige und aktuelle Denkansätze sind hier ausgespart, so u.a. die Wissenschaftstheorien von Thomas Kuhn und Paul K. Feyerabend und die konstruktivistische Erkenntnistheorie, die beide die hier vorgeführte Scheidung von Geistes- und Naturwissenschaften zu unterlaufen meinen. Kuhn sieht die Wissenschaftsgeschichte insgesamt strukturiert von sog. Paradigmenwechseln, die durch epochale Wechsel des Bezugsrahmens tradierte wissenschaftliche, auch naturwissenschaftliche Probleme und Ergebnisse fallenlassen und durch neue Fragestellungen ersetzen. Feyerabend sieht noch allgemeiner in allen Wissenschaften ein Zusammenspiel rationaler und irrationaler Elemente. In beiden Argumentationsrichtungen liegt die Tendenz, die Rationalität der Naturwissenschaften zu relativieren, wodurch auch die von mir herausgestellte Scheidung relativiert würde. Die konstruktivistische Erkenntnistheorie sieht wissenschaftliche Erkenntnisse wie alle kognitiven Akte als Konstrukte und nicht als Gegenstandserkenntnis, und zwar sowohl in den Geisteswie in den Naturwissenschaften. Schließlich gibt es eine ausgearbeitete Kritik des sog. Hermeneutischen Zirkels als einer grundlegenden Annahme der Geisteswissenschaften, z.B. durch Wolfgang Stegmüller. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang auch Kurt Hübner (Kritik der wissenschaftlichen Vernunft. Freiburg/ München 1978, und ders.: Grundlagen einer Theorie der Geschichtswissenschaften. In: Roland Simon-Schaefer, Walther Ch. Zimmerli [Hg.]: Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften. Hamburg 1975. S. 101-131) mit seiner Betonung der historischen Voraussetzungshaftigkeit der Naturwissenschaften, die ihn ihre prinzipielle Scheidung von den Geisteswissenschaften ablehnen lässt. Alle diese Denkrichtungen scheinen mir daran zu kranken, daß sie den hier thematischen Gegensatz zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften nicht auflösen. Sie überspielen, daß die Naturwissenschaften ihren Sachbereich aus dem geschichtlichen, sozialen und kulturellen Fluß ausgliedern, hingegen die Geisteswissenschaften den Gesamtraum von Geschichte, Gesellschaft und Kultur erfassen, der sie und den einzelnen Geisteswissenschaftler umfaßt und durchdringt. Demzufolge sind die geisteswissenschaftlichen Fragestellungen weder exakt isolierbar, noch können und wollen sie den Rückbezug, die Reflexion, auf den Forschenden in seiner individuellen Gegebenheit und Perspektivik ausschließen. Die Geisteswissenschaften übergreifen derart die Naturwissenschaften. Die daraus sich ergebenden Eigentümlichkeiten können nicht von der Allgemeinheit einer Erkenntnistheorie oder Wissenschaftstheorie her erfaßt werden - so wenig, überspitzt gesagt, wie die Einsicht in die gleichartige Funktionsweise des Gehirns beim Naturwissenschaftler und beim Geisteswissenschaftler ein Argument gegen die Scheidung von Natur- und Geisteswissenschaften abgäbe. kulturellen Gedächtnisses der Menschheit und der labyrinthischen Psyche des Menschen helfen, diese Offenheit als Chance präsent zu halten. Sie sind ein Stachel gegen die Tendenz des menschlichen Denkens zur Ausschließung alles dessen, was sich nicht beherrschen läßt. Diese Tendenz ist so chimärisch wie bedrohlich für den einzelnen und für die Gesellschaft. Denn wir können die Welt nicht definitiv in den Griff nehmen. Wir leben umringt von ihr, trotz all unserer Exklusionen und Abstraktionen. Die Geisteswissenschaften sollten auf diesen offenen Horizont ständig hinweisen, ohne den der Mensch bei allen Triumphen des operationalen Denkens in Atemnot geriete. Die Geisteswissenschaften vertreten den Geist, der ins Unvordenkliche zurückschaut, auch indem er ins Unvordenkliche vorwärts schaut. Ohne solche Erinnerung und Repräsentanz keine Kultur, ohne Kultur kein Mensch, ohne Mensch auch keine Naturwissenschaften. 1 448 Geistesgeschichte Wo konstruktivistisch der argumentative Sprung vom Allgemeinen zum Besonderen versucht wird - in der Literaturwissenschaft etwa durch die Bielefelder und Siegener NIKOL-Gruppe des literaturwissenschaftlichen Konstruktivismus - drohen Kurzschlüsse. So ist es mir beispielsweise nicht nachvollziehbar, welche Erkenntnischancen für die Literaturwissenschaft in der Übernahme der konstruktivistischen These, Kognition sei „gleichzusetzen mit dem gesamten Lebensprozeß“ (151) oder in der systematisch nicht zwingenden Koppelung des Konstruktivismus an die Darwinsche Selektionstheorie (152) liegen sollen. Weder kann die konstruktivistische Literaturwissenschaft ihre Wert- und Zielsetzungen (etwa bei Schmidt: „Aufklärung im Sinne der Fähigkeit von Kritik und Selbstkritik, Selbstverantwortlichkeit und Rationalität; Solidarität als Reduktion der Herrschaft von Menschen über Menschen, als Reduktion von Wahrheitsterrorismus“ [157]) aus einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie ableiten, noch ist einzusehen, wieso die konstruktivistische Literaturwissenschaft die Interpretation abschaffen, hingegen die Textanalyse beibehalten will (160). Wenn die konstruktivistische Literaturwissenschaft zwischen Text und Kommunikat unterscheidet (158), ist dem entgegenzuhalten, daß es nach dieser Theorie strenggenommen Text als Gegebenheit gar nicht geben dürfte. Vollends unerfindlich ist, wieso die These, „daß die Realität, so wie wir sie erfahren, […] eine menschliche Schöpfung darstellt“, den Gegensatz zwischen Kunst (hier offensichtlich mit Fiktion gleichgesetzt) und Wirklichkeit aufheben soll (162f.) (Alle Zitate aus Siegfried J. Schmidt: Vom Text zum Literatursystem. Skizze einer konstruktivistischen (empirischen) Literaturwissenschaft. In: Einführung in den Konstruktivismus. Mit Beiträgen von Heinz von Foerster, Ernst von Glaserfeld, Peter M. Hejl, Siegfried J. Schmidt und Paul Watzlawick. München 2.A. 1995 [In den Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung]. Dort S. 147-166.) * Der Beitrag geht zurück auf ein Referat anläßlich einer Tagung der Katholischen Akademie in Freiburg am 19. und 20. Januar 2001. Eine Vorfassung ist veröffentlicht in: Freiburger Universitätsblätter. Heft 147. März 2000. Die Wahrheit wird euch frei machen Die Freiburger Universitätsdevise - ein Christuswort als Provokation der Wissenschaft * Teil I: Die Universitätsdevise Joh 8,32 und ihre Geschichte Auf der Westseite des Kollegiengebäudes I der Albert-Ludwigs-Universität, an der Stirn des schönen Bogens, mit dem sich die Aula aus der übrigen Fassade leicht herauswölbt, steht in vergoldeten, dem Stein eingeschnittenen Antiqua- Buchstaben ein Spruch, der durch seine hervorgehobene Stellung eine Devise für das geistige Leben der Universität zu sein beansprucht. Der biblische Sinn des Christus-Wortes Die Inschrift ist ein verselbständigter Teilsatz aus Joh 8,32. Der ganze Vers lautet im Zusammenhang mit Vers 31 nach der Luther-Übersetzung aus dem Griechischen: „Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Da alétheia = Wahrheit schon im griechischen Denken ein bedeutungsvielfältiges Wort und ein philosophischer Terminus ist, kann der biblische Sinn dieser Aussage nur aus dem Kontext geklärt werden: Das Zitat ist ein Christus-Wort an die Gläubigen. Es spricht von der Wahrheit, die im „lógos“ Christi erscheint, von Luther als „Rede“ übersetzt. Das meint zunächst Christi Verkündigungsrede. Darüber hinaus aber ist Christi Leben insgesamt Verkündigung, ja er selbst ist der fleischgewordene lógos: „Und das Wort (lógos) ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 450 Geistesgeschichte 1 Vgl. R. Bultmann, Der Gedanke der Freiheit nach antikem und christlichem Verständnis, Pforzheim 1958. - Zum Thema des Universitätsmottos vgl. V. Mertens, Von der Suche einer alten Universität nach einer zeitgemäßen Selbstdarstellung. Die künstlerische Ausstattung des neuen Kollegiengebäudes von 1911, in: Freiburger Universitätsblätter, 4, 1993, 125-148, bes. 127f. - Wichtige Hinweise verdanke ich dem Universitätsarchivar Dr. Dieter Speck. 1,14). Wie Christus den lógos nicht nur verkündet, sondern der lógos ist, so auch verkündet Christus nicht nur die Wahrheit, sondern er ist die Wahrheit. Die untergründige Identität der Wahrheit mit dem göttlichem Schöpfungs- Lógos und dem fleischgewordenen Lógos Christus ist ein Hauptmotiv des Johannes-Evangeliums. In seiner Abschiedsrede (Joh 14,6) sagt Jesus von sich: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“; und noch im Verhör vor Pilatus (Joh 18,37) bezeugt er von sich: „Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll.“ Aus der nachösterlichen Perspektive der Evangelien meint dieses Zeugnis nicht nur Christi Rede, vielmehr seine gesamte Wirklichkeit und Wirkung bis ans Kreuz und darüber hinaus. Es ist befremdlich, daß Königtum sich hier nicht als Macht, sondern als Wahrheit darstellt. Es ist eine eschatologische Bestimmung für einen messianischen König. Hier und heute ist die Wahrheit ohne Macht und verzichtet darauf; deshalb steht Jesus jetzt vor dem Gericht des Römers. Und trotzdem ist Christus schon hier und heute der Mächtigere - in einer Verborgenheit, durch die nur hin und wieder der Blitz zuckt; etwa beim Niederstürzen des Verhaftungskommandos unter Jesu Wort „Ich bin’s“ (Joh 18,6). Aber in der Apokalypse, der Aufdeckung, wird sich die Wahrheit als ultimative Macht offenbaren. Diese Wahrheit ist nicht nur Deutung von Leben und Wirklichkeit, sondern ist Leben und Wirklichkeit selber. Im gleichen Kapitel 8, dem das Universitäts-Motto entnommen ist, heißt es: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8,12) In Joh 6,48 verkündet Christus: „Ich bin das Brot des Lebens.“ „Wer an mich glaubt […], von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.“ (Joh 7,38) Die lebenhafte Wahrheit macht Menschen frei, die von ihr ergriffen sind und sie ergreifen. 1 Und Befreiung ist nun ein zentrales Motiv der gesamten Bibel - von der Befreiung des Gottesvolks aus der Knechtschaft der Ägypter als der Urtatsache des jüdischen Glaubens über die Befreiung aus der Babylonischen Gefangenschaft bis zur Erlösungstheologie des Paulus. Gott ist der Befreier der verknechteten Menschen; Christus, der Erlöser, wendet sich an die Niedrigen und Erniedrigten. Stammt doch das Wort „Erlösung“ mit seinen griechischen, lateinischen und hebräischen Äquivalenten aus der Rechtssprache und meint „Loskauf“ und „Lösung“ der Bande des Verknechteten. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, heißt es 2 Kor 3,17, und Röm 8,21 spricht von der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes“. 451 Die Wahrheit wird euch frei machen Diese Freiheit bedeutet Freiheit von Lebensangst und Sündenangst, Zukunftsangst und Vergangenheitsangst, von Verfangenheit in den Bedingungen und Zwängen der Lebensumstände und der Person in ihrer Verkrümmung in sich selbst. Diese Freiheit ist zugleich Freisetzung zu Gott, zum Nebenmenschen und zum eigenen Ich. Diese Zusage und diese Verleihung der Freiheit durch Christus und in Christus ist eine Wahrheit, die geschenkt und geglaubt und durch Lebenspraxis bewahrheitet wird. Abermals in Joh 8,36 sagt Christus zu den Jüngern: „So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.“ Hier wie gleicherweise bei unserem Motto sind Zusagen an die Bedingung des Glaubens und der Nachfolge geknüpft, und diesen Bedingungssatz im Zitat zu kappen, ist allemal ein philologischer Sündenfall, bei dem den Vertretern der philologischen Fächer der Philosophischen Fakultät, die bis heute in dem so überschriebenen Kollegiengebäude zu Hause ist, nicht ganz wohl sein dürfte. Christus schließt seine Aussage vor Pilatus mit dem Satz ab: „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ (Joh 18,34) Wissenschaftlich ist eine Wahrheit, die nicht nur Deutung, sondern Deutung und Gedeutetes zugleich ist, und die geglaubt werden muß, um Wirkungskraft zu gewinnen, ein Unding. Und wissenschaftlich wäre, was Christus da zu Pilatus sagt, ein unzulässiger Zirkel: Nur wer schon Teilhaber der Wahrheit ist, kann sie gewinnen. Pilatus ist nicht aus dieser Wahrheit, und deshalb antwortet er Christus mit der skeptischen Frage: „Was ist Wahrheit? “ Diese Pilatus-Frage entspricht eher dem Geist der Wissenschaften im 20. Jahrhundert als die Glaubenswahrheit des Christentums, und doch wurde das Wahrheitswort Christi 1911 am Neubau der Universität angebracht, der dem wissenschaftlichen Geist ein zeitgemäßes Haus geben wollte. Wie das Christus-Wort zum Universitätsmotto wurde - trotz Kulturkampfstimmung an der Freiburger Universität Wie und zu welchem Ende kam diese Inschrift hierher? Die Antwort ist ein Stück Universitätsgeschichte, in dem sich wie in einem Brennglas Geistesgeschichte des Wilhelminischen Zeitalters sammelt. Nicht auf Vorschlag der Theologischen Fakultät, traditionell der ersten und vornehmsten, da sie die Keimzelle der mittelalterlichen Universitäten ist. Die katholische, lange Zeit jesuitische Prägung der Universität Freiburg wurde mit dem Übergang von Stadt und Universität an das Großherzogtum Baden 1806 zunehmend schneller aufgelöst. Zahlreiche evangelische Professoren wurden berufen. Der kulturelle und politische Liberalismus brach sich Bahn. Der Kulturkampf zwischen Kirche und Staat war heftig und zog sich in Baden bis 1888 hin. Eingedenk der vergangenen katholisch-kirchlichen Dominanz wurden in 452 Geistesgeschichte 2 Zit. bei P. Kalchthaler, „Der langersehnte, der große, der festliche Tag ist da …“. Die Feierlichkeiten zum neuen Kollegiengebäude (Mit einem Exkurs zur Freiburger Architektur der Wintererzeit), in: ebd. 45-73, hier 62. Zur Feier der Grundsteinlegung: 61f., vgl. auch die zeitgenössische Publikation: Feier der Grundsteinlegung des neuen Universitätsgebäudes, Freiburg 1906. 3 Protokollbuch der Theologischen Fakultät 1881-1914, Sitzungsprotokoll vom 9.7.1906, Universitätsarchiv (im folgenden UA) B 35, Nr. 36, 239. 4 Ein differenziertes Bild Hoches gibt W. Müller-Seidel, Alfred Erich Hoche. Lebensgeschichte im Spannungsfeld von Psychiatrie, Strafrecht und Literatur, München 1999 (= Sitzungsberichte d. Bayer. Akad. d. Wiss. Phil.-Hist. Kl. 1999, H. 5). 5 Sitzungsprotokoll der Theologischen Fakultät vom 28.2.1911. UA B35, Nr. 36, 309. Freiburg die Ungebundenheit der Wissenschaft und die Hoheit des Staates in Erziehung und Kultur energisch hervorgehoben. Schon bei der Grundsteinlegung des neuen Kollegiengebäudes am 3.Juli 1906 waren auf Grund dieser Konstellation Spannungen aufgetreten. Der Prorektor, der Physiker Franz Himstedt, hatte in seiner Festansprache auf die frühere Bedrohung der „geistigen Freiheit“ der Universität durch die Jesuiten hingewiesen 2 - Rector magnificentissimus war übrigens der Großherzog, so daß der Prorektor, im turnusmäßigen Wechsel aus den Fakultäten gewählt, die Stellung des heutigen Rektors einnahm. Die Theologische Fakultät hatte Beschwerde geführt und verlangt, „es möge aus Anlaß einer Stelle der Festrede des Herrn Prorektor dem Senat gegenüber der sicheren Hoffnung Ausdruck gegeben werden, daß künftighin bei öffentlichem Auftreten des jeweiligen Prorektors den religiösen Gefühlen Andersgläubiger in gebührender Weise Rechnung getragen werde“ 3 . Die defensive Argumentation ist auffällig: Die Forderung klingt schon fast nach Minderheitenschutz. Die prinzipiellen Auseinandersetzungen des Kulturkampfs flammten während der Schlußphase der Bauzeit des neuen Kollegiengebäudes heftig wieder auf, als Papst Pius X. 1910 zur Abwehr des Reformkatholizismus und allgemein der säkularistischen Tendenzen der Moderne vom gesamten in Seelsorge und Lehre tätigen Klerus, also auch vom Lehrkörper der Theologischen Fakultäten der Universitäten, den sogenannten Antimodernisteneid verlangte, der die Geistlichkeit streng auf die vatikanische Glaubenslehre festlegte. Das Ministerium für Justiz, Unterricht und Kultus betonte, bei beamteten katholischen Hochschullehrern greife das Eidesverlangen in die staatsrechtliche Beamtenstellung ein. Der nunmehrige Prorektor Alfred Erich Hoche, erbitterter Gegner Sigmund Freuds, ein berühmter und - wegen seines 1920 mit dem Juristen Binding gemeinsam herausgegebenen Buches Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - heute auch berüchtigter Psychiater 4 , sprach am 25. Februar 1911 bei einer Plenarsitzung des Senats von der Möglichkeit, „daß die Theologische Fakultät aus dem Organismus der Universität entfernt würde“ 5 , und bezeichnete - nun allerdings als Exprorektor - beim Hochschul- 453 Die Wahrheit wird euch frei machen 6 Vgl. Kölnische Volkszeitung und Handelsblatt, Abendausgabe, 13.10.1911. 7 Protokollbuch der Theologischen Fakultät. UA B 35 Nr. 36, 331. 8 Nach freundlicher Auskunft meines Kollegen Hugo Ott, der für mich die Akten des Diözesanarchivs daraufhin durchgesehen hat. 9 Protokollbuch der Theologischen Fakultät, 330f. (Zur Festschrift anläßlich der Einweihung vgl. Anm. 40.) lehrertag in Dresden im November 1911 die Katholisch-Theologischen Fakultäten als „Fremdkörper an unserer Universität“ - eine Äußerung, die weithin Aufsehen erregte 6 . Unter diesen Rahmenbedingungen fanden die Feierlichkeiten zur Einweihung des neuen Kollegiengebäudes vom 27. bis 29. Oktober 1911 statt. Wehmütig bemerkt der damalige Dekan der Theologischen Fakultät Simon Weber in einer undatierten Eintragung ins Protokollbuch der Theologischen Fakultät: „Die Fakultät ist in einer Zeit heftiger Bekämpfung in das neue Gebäude eingezogen. Möge Gott ihr Recht schützen und sie durch segensreiche Arbeit das Heil wahrer Wissenschaft wirken lassen vor Unglauben und Irrglauben als lux lucens in tenebris.“ 7 Die Neuerrichtung des Kollegiengebäudes und der Umzug der theologischen, juristischen und philosophischen Fakultät aus dem ehemaligen Jesuitenkolleg, dem alten Kollegiengebäude, in den stilistisch stark angefeindeten schönen Jugendstilbau hatte - sieht man ihn vor diesem Hintergrund - nicht nur praktische, sondern auch symbolische Bedeutung. Er markierte einen Aufbruch, bei dessen offizieller Begehung die Spannungen offensichtlich überspielt wurden. Der Erzbischof und die hohe Geistlichkeit wohnten dem Festakt bei; im Münster fand ein Pontifikalamt statt. Auffällig ist aber, daß sich in der Festschrift zur Einweihung, die alle anderen offiziellen Ansprachen und die Festpredigt des evangelischen Stadtpfarrers wörtlich, die des Rabbiners wenigstens im Tenor enthält, kein Wort über die Predigt oder aus der Predigt des Erzbischofs findet. Ob das Ordinariat nicht nach diesem Beitrag gefragt worden ist oder auf Anfrage eine Publikation der Predigt in der Festschrift abgelehnt hat - auch eine frei gehaltene Predigt hätte sich ja rekonstruieren lassen -, kann nicht mehr ermittelt werden. 8 Bei alledem hat der Dekan der Theologischen Fakultät Simon Weber ein untergründiges Beben verspürt. Er notiert in der schon zitierten Eintragung: „Die Reden beim Festakt waren auffallend auf die Erhaltung der wissenschaftlichen Freiheit gestimmt […], gerade als ob nicht die Wahrheit und die Logik kraftvoller Argumentation der nervus aller gelehrten Freiheit wären. Exprorektor Hoche betonte beim Festessen […] die Notwendigkeit eines homogenen Lehrkörpers, was wohl ein Appell gegen Anstellung von Professoren sein sollte, die den Antimodernisteneid geleistet haben.“ 9 Damit ist ein Stichwort gefallen: Was der Staat gegenüber der katholischen Kirche juristisch als seinen Zuständigkeitsbereich reklamiert, wird von den Repräsentanten der säkularen Wissenschaft als Freiheitsraum der Wissen- 454 Geistesgeschichte 10 C. Braig, Die Freiheit der Philosophischen Forschung in kritischer und christlicher Fassung. Eine akademische Antrittsvorlesung mit einer Vorbemerkung, Freiburg 1894, 62. 64. 1911 hat Braig im Herder-Verlag eine Streitschrift Der Modernismus und die Freiheit der Wissenschaft veröffentlicht, die im Eintreten für die Berechtigung des Antimodernisteneids seine Positionen von 1894 eher noch bestärkt. Braig wendet sich gegen die „‚voraussetzungslose‘ Forschung“, die „den Untergang der katholischen theologischen Fakultäten an den Hochschulen Deutschlands und Österreichs“ „weissagte“. Als Meinung dieser von ihm bekämpften Forschung führt er an, daß „der Eid gegen den Modernismus die Freiheit der Wissenschaft grundsätzlich vernichtet“ (ebd. 2). Braig seinerseits will zu dem Nachweis beitragen, „daß der ‚Modernismus‘ und sein Nährvater, der ‚Liberalismus‘, vorzugsweise in der deutschen Philosophie und kritischen Theologie, mit Unrecht die Wissenschaft für sich in Anspruch nehmen und daß sie beide ganz mit Unrecht sich der Freiheit ihrer Forschung rühmen“ (ebd.V). Wie sehr Braig den Ansatz der kritischen Philosophie Kants mißversteht oder ignoriert, sieht man zum Beispiel an seinem Ausruf: „[…]keine Wissenschaft, auch die nicht, die ihr Freiheitsrecht ins Ungemessene ausweiten möchte, ist in der Lage zu beweisen, daß die Grenzen des Gemeinverstandes zugleich die Grenzen des Erkennbaren darstellen.“ (Ebd. 5) Kant, der eine erkenntnistheoretische Kritik der reinen Vernunft liefert, wird hier als common-sense-Philosoph hingestellt. schaft definiert, und zwar nach zwei Seiten hin: Die Kirche hat die Freiheit der Wissenschaft zu respektieren, der Staat hat sie zu respektieren und gegen die Kirche zu schützen. Die wichtigste heutige Frontstellung, Freiheit der Wissenschaft vor dem Übergewicht wirtschaftlicher und technischer Verwertungsinteressen, spielt noch keine Rolle. Die Theologische Fakultät schweigt zur Motto-Frage Soviel ist nun schon klar: Das Christus-Wort an der westlichen Front des neuen Kollegiengebäudes stellt den Neubau nicht unter das Evangelium. Es ist vielmehr paradoxerweise eine Universität, der die Theologie zum Fremdkörper in ihrem Organismus zu werden scheint, die sich das Bibelwort souverän aneignet, unter dem Stillschweigen der katholischen Theologen. Das ist umso auffälliger, als der Dogmatiker Carl Braig, immerhin Prorektor von 1907/ 8, als Freiburger Antrittsvorlesung am 5. Juni 1894 eine scharf apologetische Rede über „Die Freiheit der philosophischen Forschung in kritischer und christlicher Fassung“ gehalten hatte. Sie endete mit ebendem Johannes- Zitat, das 1911 als Universitäts-Devise eingemeißelt wurde: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Es krönt einen Vortrag, der gegen Kants erkenntniskritische Destruktion der Metaphysik an der Beweisbarkeit des Theismus durch eine Philosophia perennis festhält, „deren edelste und freieste Blüthe die christliche Wissenschaft ist“ 10 . Mit solchen Positionen jedoch stehen die katholischen Theologen nach Meinung der anderen Fakultäten unter dem durch den Antimodernistenstreit noch einmal bekräftigten Verdacht, keine freie Wissenschaft zu betreiben. Einem theologischen Anspruch, gar noch vorgetragen aus der katholisch-theologi- 455 Die Wahrheit wird euch frei machen 11 Für die inneren Spannungen des Katholizismus in Freiburg vgl. die ungemein reiche und differenzierte Dissertation von C. Arnold, Katholizismus als Kulturmacht. Der Freiburger Theologe Joseph Sauer (1872-1949) und das Erbe des Franz Xaver Kraus, Paderborn u. a. 1999; dort 291 der hier zitierte Brief. Zum Problem vgl. auch I. Götz von Olenhusen, Die Ultramontanisierung des Klerus. Das Beispiel der Erzdiözese Freiburg, in: W. Loth (Hg.), Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne, Stuttgart 1991, 46-75; dies., Klerus und abweichendes Verhalten. Zur Sozialgeschichte katholischer Priester im 19. Jahrhundert: Die Erzdiözese Freiburg, Göttingen 1994. schen Fakultät, hätte sich die moderne säkulare Bildungs- und Wissenschaftseinrichtung Universität wohl nicht gefügt. Dabei war die Theologische Fakultät selbst durch die innere Frontstellung zwischen ultramontaner und eher liberaler Partei gelähmt, die sich durch den Antimodernismusstreit sehr verhärtete. Der Zwiespalt konnte bis zur Zerrissenheit und Verbiegung der Person führen, zumal Loyalitätsrücksichten auch die eher kritischen Geister nach außen banden und zu vorsichtigem, teils resignativem Taktieren veranlaßten. So schreibt etwa Joseph Sauer, damals noch Extraordinarius der Freiburger Theologischen Fakultät, später eine Zentralgestalt der Freiburger Universitätsgeschichte bis in die zweite Nachkriegszeit, Schüler des für eine moderne Wissenschaftlichkeit eintretenden katholischen Kirchengeschichtlers, christlichen Archäologen und Kunsthistorikers Franz Xaver Kraus, in einem Brief vom 21. Februar 1911 an seine Vertraute Augusta von Eichthal: „[…] die Antimodernismus-Eidaffaire. Ja, das ist freilich zur Zeit ein unerschöpfliches Thema für die Presse; die liberale erschöpft sich in Sensationsberichten […]; die Zentrumspresse rückt dagegen mit Feuer und Schwert gegen den Höllendrachen an. […] Die Erdrosselungsversuche für Gewissen und Wissen von Seiten Roms werden stets kühner und brutaler gesteigert. […] es ist der Infallibilitätswahnsinn, der gleiche Bazillus, der auch gekrönte Häupter zu befallen pflegt: […] Es zielt alles, was mit nervöser Überstürzung über die Kirche an Maßnahmen und Verfluchungen geschleudert wird, so direkt auf eine systematische Ruinierung des ganzen kirchlichen Organismus, daß man stumm resigniert, […] um dann hinzugehen und alle diese Maßnahmen als die weisesten der weisen Inspirationen des hl. Geistes gegen alles schlechte Liberalengerede zu verteidigen.“ In der Tat hat Sauer im allgemeinen Schlagabtausch keine auffällige Rolle gespielt und, soweit ich sehe, in der Frage der Universitätsdevise zumindest offiziell den Mund gehalten, obwohl er als christlicher Archäologe und Kunsthistoriker ja prädestiniert gewesen wäre, sich in der Frage der Fassadengestaltung des neuen Kollegiengebäudes zu engagieren. Ohnehin war er - wie sein verstorbener Lehrer Kraus, seinerzeit ein Ratgeber und Vertrauter des Großherzogs, - nicht um eine wie auch immer geartete katholische Abgrenzung, sondern um einen Anschluß des Katholizismus an die maßgeblichen (evangelischen) Kreise und Standards in Wissenschaft, Kultur und nationaler Gesinnung bemüht. 11 456 Geistesgeschichte 12 A. Dove, Ausgewählte Aufsätze und Briefe, in: O. Dammann (Hg.), Briefe, Bd. 2, München 1925, Nr. 125, 287. 13 Zu Dove vgl. O. Dammann, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 4, Berlin 1959, 91f. Ergiebiger sind die Einleitung von Dammann zu Doves ausgewählten Briefen (VII-XXVI) und vor allem Friedrich Meineckes Nachruf auf Dove in der Historischen Zeitschrift 116, 1916 (wiederabgedruckt im Rahmen der Werkausgabe Meineckes in: F. Meinecke, Zur Geschichte der Geschichtsschreibung, E. Kessel [Hg.], München 1968, 356-385), sowie die Einleitung: „Alfred Dove und der klassische Liberalismus im neuen Reich“ in: A. Dove, Ausgewählte Aufsätze und Briefe, in: F. Meinecke (Hg.), Aufsätze, Bd. 1, VI-XXXV; das Zitat ebd. XXXIV. Viel Material und reiche Gesichtspunkte enthält auch die leider noch ungedruckte Arbeit von V.Stadler-Labhart, „Immer fragt der Seufzer: Wo? “ Bilder aus dem Leben von Alfred Dove (4.4.1844-19.1.1916) nach Briefen und Mitteilungen. - Die Verfasserin machte sie mir freundlicherweise zugänglich. Soeben ist im Druck erschienen: Verena und Peter Stadler-Labhart: Die Welt des Alfred Dove 1844-1916. Profil eines Historikers der Jahrhundertwende. Bern 2008. 14 A. Dove, Ausgewählte Schriftchen vornehmlich historischen Inhalts, Leipzig 1898, 427. Der Historiker Alfred Dove als Mottofinder Jedenfalls kam der Vorschlag für das Motto am neuen Kollegiengebäude aus der Akademischen Baukommission, die unter Vorsitz des nunmehrigen Prorektors, des Althistorikers und Vorsitzenden der Reichslimeskommission Ernst Fabricius, auch für Kunst und Geist am Bau zu sorgen hatte. Beigesteuert wurde die Devise von dem wegen eines Schlaganfalls 1905 vorzeitig emeritierten Historiker Alfred Dove, der 1897 nach Freiburg berufen worden war. Eine Grußadresse der Universität zu Doves 70. Geburtstag am 4. April 1914 hob nachdrücklich dieses Verdienst hervor. 12 Was für ein Mann war Dove? Sein Nachfolger, der mit ihm befreundete, jüngere Friedrich Meinecke, der von 1906 bis 1919 in Freiburg lehrte, veröffentlichte 1916 in der „Historischen Zeitschrift“ einen langen Nachruf auf Dove und gab 1925 Ausgewählte Aufsätze mit einer menschlich äußerst liebe- und verehrungsvollen, gleichwohl wissenschaftlich leise Abstand nehmenden Charakteristik heraus, die von Doves eigenen Äußerungen voll bestätigt wird. Dove, norddeutsch-protestantischer Herkunft, war eher ein Außenseiter im Universitäts- und Wissenschaftsbetrieb mit einer verzögerten Universitätskarriere. Er war halb Journalist und Literat - Schützling Gustav Freytags und Freund Paul Heyses -, halb Gelehrter der Ranke-Schule, ein klassischer Liberaler mit einem „realistisch abgekühlten Idealismus“, 13 skeptisch-resignativ nicht nur gegenüber den politischen, sondern auch den kulturellen Entwicklungen im Kaiserreich, dem Menschenbild der Goethezeit und des Biedermeier verbunden, abgewandt von der Philosophie ebenso wie von aller „konfessionellen Theologie“ mit dem „Lehrgebäude ihres Offenbarungs- und Wunderglaubens“ 14 , abgewandt aber auch von David Friedrich Strauß’ radikaler Kritik des Christentums und dessen Versuch, in der Abhandlung Der alte und der neue Glaube (1872) von den modernen Natureinsichten her 457 Die Wahrheit wird euch frei machen 15 Vgl. Doves scharfe Kritik an Strauß’ Abhandlung, Der neue Glaube nach David Strauß, in: A. Dove, Ausgewählte Schriftchen, 426-452. 16 F. Meinecke, in: A. Dove, Aufsätze, XXXI. 17 A. Dove, Briefe, Nr. 121, 279. 18 A. Dove, Schriftchen, 451. 19 A. Dove, Luthers Bedeutung für die Neuzeit überhaupt, in: Ders., Schriftchen, 53-62, hier 61. 20 Vgl. A. Dove, Schriftchen, 62. 451. 21 F. Meinecke in: Dove, Aufsätze, XXXVIIf. Meineckes Dove-Zitate aus: Alexander von Humboldt auf der Höhe seiner Jahre, Leipzig 1872. Bd. 1, 5. einen neuen Glauben zu entwerfen. Alles das war für Dove gleichermaßen Dogmatismus. 15 Zu Recht faßt Meinecke Doves Position als Agnostizismus zusammen, getragen von „Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen“ 16 . Dove sagt über sich in einem Brief an den Philosophen Heinrich Rickert vom 7. April 1910: „Ich selbst bin resignierter Dualist und brauche zum Abschluß meiner Weltanschauung nur eine Art von anspruchslosem Glauben - ein unartikuliertes Grunzen der Vernunft […]“ 17 . Das „gemeinsame Christliche in uns“ ist ihm „die Idee menschlicher Gemeinschaft selber in ihrer idealsten Form“ 18 . Sein „Christentum des Herzens“ wünscht sich „eine harmlos nach innen gewandte Kirche wie die unsere [also die evangelische, G.K.], welche keiner berechtigten Forderung des Staatsgefühls hinderlich in den Weg tritt […].“ Eine solche brauche auch „vor keiner Staatsgewalt der Zukunft bang zu erzittern.“ 19 Mit solchen Überzeugungen liegt Dove ganz auf der Linie der - wie er sagt - „unter der Pflege protestantisch-deutscher Staatskunst erwachsene[n] Toleranz“, die Katholiken und anderen konfessionellen „Altgläubigen“ zwar das Winkeldasein von Exoten zubilligt, im Raum der Universität und der Wissenschaft aber exklusiv ist. 20 Zu Doves Haltung im Kulturkampf sagt Meinecke, Doves Monographie über Alexander von Humboldt von 1872 zitierend: „Am liebsten hätte er wohl die katholische Kirche wie die Konfessionen überhaupt sich selbst überlassen, wo dann ‚eine vielseitige lebendige Religiosität in die heitere Mannigfaltigkeit unserer modernen Kultur sehr zu guter Stunde ein paar ernste Linien mehr hineinzeichnen würde.‘ Aber zuvor müsse die katholische Kirche erst in sich selbst Staat und Kirche trennen. ‚Auf diesem Feld dürfen wir auch in Zukunft keines Friedens, kaum der Waffenruhe gewärtig sein.‘“ 21 Dove - ein Ästhet und Ironiker Eine Gestalt wie Dove war geradezu prädestiniert dafür, in der Spannungssituation zwischen Universität einerseits, katholischer Kirche und theologischer Fakultät andererseits unser Universitätsmotto mit seinen, wie ich im Folgenden zeigen möchte, vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten zu (er)finden. Dove war ein zuweilen apodiktischer und zu spitzen Bemerkungen 458 Geistesgeschichte 22 V. Stadler-Labhart, (s. Anm. 13) 66ff., 135f. 23 Vgl. A. Dove, Aufsätze, 320-323. 24 A. Dove, Briefe. Nr. 122. 6.11.1911, 280f. 25 A. Dove, Aufsätze, 322. 26 A. Dove, Briefe: Nr. 122, 280f. 27 Zit. Dammann, in: A. Dove, Briefe, XXIII. Meineckes Nachruf (vgl. Anm. 13) spricht von Doves Aversion gegen die „geschwollenen Superlative, die innere Geschmacklosigkeit und industrielle Betriebsamkeit“ der „Kulturmodernisten“ (384). 28 Vgl. F. Meinecke, in: A. Dove, Aufsätze, XII. „Historischer Künstler, der er sein wollte“ charakterisiert Eberhard Gothein in seiner Rede bei Übernahme des Vorsitzes in der Badischen Historischen Kommission am 19.10.1912 seinen Vorgänger Dove, in: A. Dove, Briefe, Nr. 124, 283-286, hier 285. Schon in den 70er Jahren hat Dove Heinrich von Treitschke gestanden, „[…] daß mich Politik höchstens ästhetisch interessiert.“ A. Dove, Briefe. Nr. 15, 32. neigender, im ganzen aber liebenswürdiger Mann, umfassend gebildet und geistig fluktuierend, jedoch politisch charaktervoll. Die ihm von dem äußerst einflußreichen Leiter der Hochschulabteilung im preußischen Kultusministerium Friedrich Althoff angetragene Laudatio für eine Festschrift zum zehnjährigen Regierungsjubiläum Wilhelms II. hat er - mit vorsichtiger Kritik am Jubilar - abgelehnt. 22 Bei aller Begabung für Festrhetorik besaß Dove Hintersinnigkeit und Ironie. So schreibt er den enkomiastischen Artikel „Das neue Kollegienhaus der Freiburger Universität“ im „Festblatt“ der „Freiburger Akademischen Mitteilungen“ vom 21.Oktober 1911, 23 greift aber gegenüber seinem Freund, dem Heidelberger Philosophen Wilhelm Windelband, zur Reservatio mentalis: „Es war bestellte Arbeit; das Kapitel de regibus im Cornelius Nepos muß immer ich schreiben, wie ich auch schon die Inschrift am Gebäude selbst vorgeschlagen.“ 24 Dove berührt die katholisch-jesuitische Vergangenheit der Universität nicht, jubelt aber in seinem Beitrag: „Freiburg, das sonst wie von Deutschland in die Ecke gestellt erschien, ist jetzt zur großen deutschen Universität geworden.“ „Der gesunde, durch keine historische Tradition gelähmte […] Realismus unserer Jugend findet im heutigen Freiburg, was er braucht.“ 25 Gegenüber Windelband jedoch gesteht Dove: „[…] alles, was ich darin über Freiburg sage […], trieft von Ironie. Ich […] brauche den ideenassoziationslosen Naturgenuß von Freiburg nur als seniles Beruhigungs- und Verdauungsmittel.“ 26 Hebt die spätzeitliche Melancholie des Mannes, dessen „Ideen […] im Blumentopf aus den sechziger Jahren“ 27 wuchsen - so Dove über sich -, ihn vom Dröhnen des Wilhelminischen Zeitalters um ihn herum ab, so ist es andererseits sein ästhetisches, irisierendes, feinsinnig-distanziertes Verhältnis zur Zeit, zur Politik, zur Geschichte, zur geistigen Welt und - zur Sprache, das ihn zum geistreichen Spiel der Anspielungen befähigt. Es ist seine Fähigkeit zum geistig Dekorativen, das dem Bedürfnis der Zeit entsprach. „Er verhielt sich im tiefsten Grund künstlerisch gegenüber der geschichtlichen Welt“, urteilt Meinecke. 28 Künstlerisch - das heißt, es wird mehr charakte- 459 Die Wahrheit wird euch frei machen 29 Zit. Dammann in: A. Dove, Briefe, XXV. 30 Der von Meinecke für die Grundsteinlegung des Kollegiengebäudes im Senatsauftrag verfaßte Text nennt als Ziel der Universität Wahrheit, als Weg volle Freiheit der Forschung. Das hätte wohl die überwiegende Mehrheit seiner Kollegen so oder ähnlich gesagt (UA B1/ 4873.) Das war der Geist, der Doves Motto-Vorschlag Resonanz finden ließ. Aber Doves Motto war der zündende Einfall, das zugleich programmatische, chamäleonartige und hintersinnige Zitat. - Zur Frage eines Zusammenhangs zwischen Doves Vorschlag und dem sogenannten „Fall Spahn“ vgl. Anm. 54 der Erstfassung dieses Beitrags in: Freiburger Universitätsblätter 147, 2000 (4), 5-53. 31 A. Dove, Briefe Nr. 5. 32 Vgl. A. Dove, Schriftchen, 53-62. risiert als argumentiert, weniger erklärt als arrangiert; die dezidierte Aussage ist in ein Spiel von Valeurs und Abschattierungen gebrochen. Intuition und Impression dominieren. „Die gemeinwissenschaftliche Tugend der Bestimmtheit“ 29 hat Dove sich selbst abgesprochen. Und so liegt Doves Bedeutung auch nicht in einer mehr oder weniger fest umrissenen universitären Programmatik der Wissenschaftsfreiheit - die kann man fast als Gemeingut der liberalen Professorenschaft bezeichnen, und ihre wissenschaftspolitischen Wortführer waren andere 30 -, sondern im scharfsinnigen Herauspicken des Christus- Worts in seiner Eignung für eine Pointe von höchster Dignität, die sich in vielen Facetten der Zeitstimmung reflektieren konnte. Nicht einen politischen Kopf, sondern einen geistreichen Zitierer gilt es hier dingfest zu machen. Ich habe keine Äußerung Doves über seinen Motto-Vorschlag gefunden, was schon dafür spricht, daß er nicht eigentlich die Quintessenz eines ideellen Programms der Universität darstellt, viel eher einen glücklichen Einfall. Dieser Einfall war privatim präludiert. Bereits in einem Brief vom 2.Juni 1870 an den Pfarrer und Jugendfreund Theodor Lorenz zitiert Dove das Christus- Wort, das er viele Jahre später als Universitätsmotto vorschlagen wird, und zwar auch hier bereits mit antikirchlicher Spitze. Dove äußert in seinem Brief sein Befremden über die Konversion zum Christentum und die „Faxe der Taufe“ seines jüdischen Kollegen Philipp Jaffé, nennt die Kindstaufe allenfalls ein „unschädliches Symbol auf dem Kopf“ und Zeichen der Zugehörigkeit zu unserem Kulturkreis, wendet sich ab vom christlichen Verlangen nach Seelenfrieden, wie er es dem Adressaten unterstellt, und erklärt den Kampf mit uns selbst und der Welt zur Bestimmung des Menschen. Daran schließt sich die Richtungsumkehr des Christus-Worts, die auch den eigentümlichen Quersinn des Universitätsmottos ausmacht: „Auch der Kampf der Forschung ist ein guter Kampf, und von jeder Wahrheit, die etwas Geistiges in sich trägt […], gilt die Verheißung, daß sie uns frei machen werde.“ 31 Dieses dezidiert säkulare Wissenschaftsethos hinderte Dove nicht, 1883, zum 400jährigen Jubiläum des Geburtstags, in einer Festrede über „Luthers Bedeutung für die Neuzeit überhaupt“ den Reformator in Äußerungen zu feiern, die nun die Stichwörter des Mottos im religiösen Feld aufblitzen lassen. 32 Leuchtend und begeisternd steht da der nationale religiöse Heros vor 460 Geistesgeschichte 33 Ebd. 58. 34 Ebd. 56. 35 A. Dove, Briefe, Nr. 125, 287. 36 Beide Schreiben UA B1/ 360. Vom Schreiben der Baukommission gibt es - als Nr. 91 und 94 - zwei im Wortlaut, aber nicht im sachlichen Inhalt leicht von einander abweichende Fassungen. 37 Schreiben der Baukommission vom 8.2.1910. UA B1/ 360. 38 Schreiben der Baukommission vom 22.1.1910. UA B1/ 360. der düsteren Folie der herrschenden und die Meinungen zwingenden Katholischen Kirche: „Ermittlung und Verbreitung der Wahrheit war gleichsam ein Münzregal der Kirche.“ 33 Aber Luther wußte, „daß Wahrheit und Freiheit auf Erden nicht ersessen und erträumt, sondern erstritten und errungen werden müssen.“ 34 Es paßt ins Bild assoziativer Weltwahrnehmung reizsamer Kulturarrangeure, daß die Ehrenadresse der Universität an Dove zum 70. Geburtstag das Motto nun auf ihn anwendet: Das Motto „spricht als ein Stück Ihres Wesens und als eine persönliche Mahnung zu geläuterter Kultur des Geistes und Charakters.“ 35 Die Akademische Baukommission Doch zurück zum Kollegiengebäude. Ein an den Senat gerichtetes Schreiben der Akademischen Baukommission vom 12.März 1909 teilt unter anderen Ergebnissen ihrer Sitzung vom vorhergehenden Tage zum Figurenschmuck und zur Dekoration am Bau auch Doves Motto-Vorschlag mit. Welche Bedeutung man ihm zumaß, geht aus der Erwägung hervor, die Devise als Unterschrift zum Universitätswappen, das über dem Südwestportal angebracht werden sollte, in kleinerer Schrift zu wiederholen. Aber die Mitteilung schweigt über Argumente in der Diskussion ebenso wie über Doves Begründung. Auch im Schreiben des Senats an die Fakultäten vom 17.März, wohl nach inzwischen abgehaltener Senatssitzung, ist lediglich von der „vollen Zustimmung des Senats“ zu Doves Motto die Rede. 36 Die Senatsakten dieses Zeitraums, aus denen man vielleicht eine Debatte rekonstruieren könnte, falls sie überhaupt stattgefunden hat, fehlen im Universitätsarchiv. Um so wertvoller ist es, daß sich im Briefwechsel der Baukommission Erörterungen zum Figurenschmuck auf der Balustrade des Aula-„Ovums“ finden, also oberhalb der Wahrheitsinschrift, die Rückschlüsse auf die Atmosphäre der Überlegungen und Verhandlungen zulassen. Obwohl die Baukommission der Meinung war, der Figurenschmuck solle mit der bereits beschlossenen Inschrift aus dem Johannes-Evangelium harmonieren, 37 waren nur die Kunsthistoriker und Archäologen als Sachverständige eingesetzt, 38 kein Theologe unter ihnen, auch nicht der Vertreter der christlichen Archäologie. 461 Die Wahrheit wird euch frei machen 39 Schreiben der Baukommission vom 8.2.1910 und Antwort des bautechnischen Referenten im Ministerium vom 14.2.1910 auf den Bericht des akademischen Senats, UA B1/ 360. 40 Eröffnungsfeier des neuen Kollegienhauses der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. am 28.10.1911, Freiburg 1912, 42. Die Thematik Wahrheit und Freiheit wurde ohne Bezugnahme auf die biblische Herkunft des Mottos idealistisch-klassizistisch verhandelt und behandelt. Schon bei der Erwägung, die biblische Inschrift unterm Universitätswappen zu wiederholen, hatte man gemeint: „Die Inschrift würde auch vortrefflich zu den beiden Figuren am Eingang passen“ - immerhin Homer und Aristoteles als Heroen der antiken Tradition und Sinnbilder für intuitive und rationale Erkenntnis. Als Figuren auf der Balustrade konnten unter großer Zustimmung Prometheus und ein sich mit Lorbeer bekränzender Jüngling in Vorschlag kommen, ehe das Ministerium „kräftige“ allegorische weibliche Gewandfiguren der Wahrheit und Freiheit, auch sie letztendlich antikisch aufgefaßt, bestimmte. 39 Kein Gedanke daran, daß eine Allegorie der im Johannes-Evangelium gemeinten Wahrheit überflüssig sein könnte, weil diese Wahrheit in Christus inkorporiert ist. Kein Gedanke daran, daß Freiheit hier Freisetzung aus dem Schuldzusammenhang des Lebens meint. Kein Gedanke an die Bibel überhaupt. Auf den ersten Blick könnte man als Analogie an kirchliche Figurenprogramme des Barock, etwa im Treppenhaus der Würzburger Residenz, mit ihren üppigen antiken Bezügen denken. Aber das trifft die Sache nicht, da solche Figurenprogramme, wenngleich oft mühsam genug, schließlich doch christlichen Superzeichen zugeordnet blieben. Durch die Kriegszerstörungen sind diese allegorischen Figuren auf der Balustrade der Universitätsaula jedenfalls verschwunden. Die Einweihungsfeierlichkeiten des neuen Kollegiengebäudes Bedürfte es weiterer Bekräftigungen für die a-theologische, ja, geradezu antitheologische Denkweise, der sich das Johannes-Zitat an der Aula verdankt, lägen sie in seinen zahlreichen Paraphrasierungen bei den Einweihungsfeierlichkeiten des neuen Kollegiengebäudes, aus denen ich hier nur ein paar herausgreife. Der Prorektor Fabricius bestimmt in seiner Festrede in der Aula die Wahrheit innerweltlich ethisch im Sinn des deutschen Idealismus als „oberste Instanz für unser sittliches Wollen und Streben“, „deren unbedingte Herrschaft zur sittlichen Freiheit führt“. 40 Der Prorektor der Universität Heidelberg beruft die Inschrift zwar „als schönes Jesuswort“ - eine Ausnahme unter den Festrednern -, wendet das Wort aber sofort ins Praktische als Argument gegen die Befürchtung, das 462 Geistesgeschichte 41 Ebd. 60. 42 Ebd. 81. 43 Vgl. ebd. 18. Von Doves Unverständnis gegenüber der Arbeiterbewegung spricht Meinecke, der sich selbst vom Konservativen zum Anhänger der Sozialpolitik Friedrich Naumanns entwickelte, vorsichtig in seinem einleitenden Essay. Vgl. A. Dove, Aufsätze, XXVII. 44 Eröffnungsfeier,13. Wachstum der Universitäten könne ein Überangebot an Akademikern erzeugen: „Die Wahrheit wird euch frei machen. Durch dieses Freiwerden sind ja in der Tat eine Fülle von neuen Kräften ausgelöst, von Kräften, welche auch eine Fülle neuer Berufe schaffen, so daß von einer dauernden Überfüllung gewiß nicht gesprochen werden kann. Das ist eine wichtige, ja doch wohl die wichtigste Staffel zu Deutschlands Größe.“ 41 Der Dekan der Theologischen Fakultät, der schon zitierte Simon Weber, vermied bei seiner Verkündigung der aus Anlaß der Einweihung beschlossenen theologischen Ehrenpromotionen ein direktes Zitat der biblischen Devise und schloß mit einem Hoch, das sie allenfalls lose umspielt: „dem Geiste Wahrheit, dem Guten Freiheit, dem Vaterlande Segen und Gott die Ehre! “ 42 Die evangelische Festpredigt: Joh 8,32 in der „Färbung religiöser Empfindung“ Am aufschlußreichsten für unseren Zusammenhang scheint mir die Predigt des evangelischen Stadtpfarrers Kattermann anläßlich des Festgottesdiensts in der Ludwigskirche, nun tatsächlich über den vollen Text von Joh 8,31f. Weit von einer Textexegese entfernt, bestimmt Kattermann zunächst Wahrheit und Freiheit ausdrücklich „ohne religiösen oder kirchlichen Zusammenhang“ als „Worte des Glaubens“ im Sinne von Schillers gleichnamigem Gedicht, einer Urkunde des bei Schiller noch entschiedener als bei Goethe außerchristlichen Idealismus: „Wer für die Wahrheit glüht, wer nach Freiheit strebt, der glaubt an geistige und sittliche Werte, der ist über allen toten Mechanismus hinaus.“ Der evangelische Kirchenmann will für alle sprechen, die gegen Mechanismus, man kann ergänzen: Materialismus und marxistisch grundierte Sozialdemokratie, stehen. 43 Es geht hier und in fast allen anderen Festbeiträgen um die Artikulation der staatstragenden Gesinnung des nationalliberalen, monarchisch eingestellten oder zumindest arrangierten deutschen Bürgertums. In dieser Haltung reiht der Prediger seine Predigt dem Reigen der Festveranstaltungen ein, die von einem Prolog im Theater, der Aufführung von Goethes „Helena“ aus Faust II über die Festgottesdienste und akademischen Veranstaltungen bis zu Franz von Suppés Operette Flotte Burschen reichte. Die religiöse Zeremonie steht zwischen des „deutschen Geistes Glutverlangen zur hohen Schönheit der Antike“ 44 , das sich in der Goethe-Aufführung be- 463 Die Wahrheit wird euch frei machen 45 Ebd. 18. 46 Ebd. 19. 47 Ebd. 20. 48 Ebd. 21f. 49 Ebd. 21. kundet, und der flotten Verherrlichung der akademischen Elite und des Establishments. Genau entsprechend ihrer Stellung im Festprogramm versteht sich die Festpredigt als christliche Abschattierung einer allgemeinen Hochstimmung und eines übergreifenden Wertekatalogs, der eben im Universitäts- Motto gipfelt: „Es wird heute und morgen auf mancherlei Weise an unser Ohr klingen, in dieser Stunde sei es uns gestattet, ihm die Färbung religiöser Empfindung zu geben.“ 45 Das wirkt wie eine Entschuldigung oder eine Captatio Benevolentiae. Daß dem Motto die „Färbung religiöser Empfindung“ nicht erst gegeben werden mußte, weil es in der Substanz eine religiöse Aussage ist, eben ein Christus-Wort, wird gar nicht wahrgenommen. Dementsprechend handelt die Predigt nicht biblisch von der Wahrheit, die in Christus erscheint, sondern ordnet Christus einem vorgegebenen Wahrheitsbegriff unter: „Wahrheit ist das umfassende Wort für alles, was in Kunst und Wissenschaft, in Religion und Sittlichkeit erstrebt wird. Wahrheit ist mehr als Wissenschaft und ist mehr als Kirche.“ 46 „Die Wahrheit ehrlich suchen ist uns ein Gottesdienst.“ 47 „Wir wissen, der wahrhaft freie Mensch ist der sittlich starke Mensch, der die erkannte Wahrheit ins Leben umsetzt und zum Wollen das Vollbringen fügen kann; der Mensch, der sich losringen kann von allen Mächten, die seinen Weg aufwärts zum Licht hindern wollen. Das meint Jesus Christus. Er steht vor uns als der wahrhaft Freie, von dem wir immer noch zu lernen haben.“ 48 Noch haben wir von Christus zu lernen, meint der Prediger Kattermann, obwohl der Mensch im Prinzip immer schon sittlich frei ist. Der Weg geht durch Freiheit zur Wahrheit, und damit ist das Bibelzitat, das ja durch Wahrheit zur Freiheit zu führen verheißt, auf den Kopf gestellt. Daß die Wahrheit in Christus den Menschen frei macht von der Knechtschaft der Sünde, und zwar gemäß Luther sola fide und sola gratia, denn wir sind nach Luther allzumal Bettler, ist vollends am Protestanten Kattermann vorbeigegangen. Luther ist für ihn - wie vor ihm in der zitierten Abhandlung Doves - der Freiheitsheld, „der seine Überzeugung nicht drangab trotz Papst und Kaiser“ 49 . Damit wird der biblische Christus, dort der Heiland und Erlöser des in der Sünde gebundenen Menschen, zum Vorbild menschlicher Autonomie, der Befreier wird zum Idealbild der Freiheit. Die Inkorporation der Wahrheit wird zu ihrer Illustration und Personifikation. Aus Christi Ruf an die Mühseligen und Beladenen in die Nachfolge tritt der Appell an die freien Geister heraus. Sie sind mit dem Leitmotiv der Predigt aufgerufen: „Wir wollen rechte Jünger sein, die da gerne aufschauen zu jedem rechten Meister, 464 Geistesgeschichte 50 Ebd. 23f. 51 Ebd. 23.21; die folgenden Zitate 22f. die nicht vergessen des Meisters, der jenes goldene Wort gesprochen.“ 50 Es geht hier nicht um die rechten Jünger Christi, sondern der Wahrheit, wie ja auch Christus gleich einem idealistischen Helden, etwa Egmont oder Marquis Posa, „für Wahrheit und Freiheit sein Leben gab“. „Wir wollen rechte Jünger sein, die die Wahrheit lieben.“ 51 Zu allem Überfluß wird der Obermeister, sozusagen der Oberprofessor Christus noch mit einem Wort Wilhelms II. als „persönlichste Persönlichkeit“ charakterisiert: „Da bekommen dann Wahrheit und Freiheit Blut in die Adern und Farbe auf die Wangen.“ Soweit der Duktus der evangelischen Festpredigt. Das Bibelwort an der Stirn der Aula spricht in Spiegelschrift von seiner Entfremdung bereits im ersten Augenblick des Gebrauchs. Die evangelische Festpredigt illustriert diese Entfremdung. Kultur der Zitate Im Universitäts-Motto wird der neutestamentliche Vers als frei verfügbares Bildungsgut in Anspruch genommen, das einer Aussage rhetorischen Glanz und Pathos verleiht. Sogar in der oben erwähnten katholisch kämpferischen Antrittsvorlesung des Dogmatikers Carl Braig von 1894 stoßen wir auf diese Zitatfunktion, denn auch dort erscheint der Johannes-Vers ohne Quellenangabe, völlig aus dem Sinnzusammenhang und sogar dem Satzzusammenhang herausgerissen. Wie unspezifisch, zumindest unbiblisch Braigs Begriffe von Wahrheit und Freiheit sind, ersieht man daraus, daß das Christus-Wort in Braigs Rede das Ende eines Zitat-Konglomerats bildet, das mit dem Schlußvers des Goetheschen Sonetts „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen“, beginnt: „Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“ Bei Braig liest sich’s so: „Das Gesetz nur kann euch Freiheit geben, die Freiheit, die groß und still sich beugt vor der Gottheit, weil sie das Göttlichste, das Maß, gefunden. […] Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Die Poetik des alten Heiden Goethe, die antike Ethik des Maßes und die Verkündigung Christi sind in diesem dröhnenden Schluß-Bombast ganz willkürlich zum Akkord gestimmt. Bei dem Historiker Dove war die ästhetische Affizierbarkeit gleichsam das Medium, durch das der Zugriff auf das Neue Testament stattfand. Bei der Robustheit, mit der die akademische Festgesellschaft von 1911 über den Text verfügte, fühlt man sich an den 1864 erstmals erschienenen, bis heute in unzähligen Auflagen verbreiteten Büchmannschen Zitatenschatz erinnert. Georg Büchmanns Geflügelte Worte sind eine Sammlung geläufiger Zitate aus der europäischen Tradition, die umgekehrt durch diese Blütenlese immer 465 Die Wahrheit wird euch frei machen 52 Nachruf (s. Anm. 13), 362. geläufiger wurden. Eine Funktion solcher Zitate lag gerade darin, daß der Gebildete die Herkunft und damit wenigstens oberflächlich den ursprünglichen Kontext erkannte, zugleich aber die geistreiche Verschiebung in einen zunächst nicht gemeinten Zusammenhang würdigen konnte. Die Baukommission hatte also mit ihrem Vorschlag ihren Auftrag genau erfüllt: Der Bibelspruch als Bildungsschmuck wird zum Wandschmuck. Zum Charakter des Christus-Worts als Bildungsschmuck gehört das Weglassen der Zitatquelle, denn die kennt man eben, wenn man gebildet ist, und außerdem hätte die Quellenangabe eine theologische Verbindlichkeit suggerieren können, die es gerade abzubauen galt. Was sollte denn nun aber eigentlich mit dem Motto uneigentlich gesagt werden? Welche Aussage galt es, rhetorisch zu überhöhen? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, auch nach der Lektüre der Festkundgebungen nicht. Bis zu einem gewissen Grad ist hier die rhetorische Form die Botschaft, wie denn überhaupt die zunehmende Zitatgier des 19.Jahrhunderts, die der Büchmann bediente und befriedigte, Phänomen eines Zeitgeists war, der die enorme Konzentration von Klassik, Romantik und idealistischer Philosophie auf eine integrale idealistische Welt- und Menschendeutung nicht mehr durchzuhalten vermochte. War mit der Aufklärung das kirchliche Christentum als Bindungskraft und Ordnungsmacht verblaßt, so versandete nun der Idealismus, der diese Funktionen in einer ungeheueren Anstrengung wenigstens für eine Bildungselite zu übernehmen versucht hatte, in der unübersehbaren Fülle der Empirie und der Realien und der zunehmenden Dynamik der gesellschaftlichen und politischen Prozesse. Schon Heine hatte im Blick auf Goethes Tod vom Ende der Kunstperiode gesprochen und die Ablösung einer Epoche der Welterfassung mit Hilfe von Kunst und Philosophie durch eine Epoche der Politik und des praktischen Denkens angesagt. Bereits 1853 war in einer Abhandlung von Ludwig von Rochau der Begriff der „Realpolitik“ geprägt worden, der eine nicht mehr primär an Ideen, sondern an den Realien orientierte Politik ins Auge faßte. Die Kunst wird von Programmen des Realismus bestimmt. Das alles bedeutet keine allgemeine, gar programmatische Abkehr von idealistischen Positionen und Gesinnungen. Fast im Gegenteil. Sie äußerten sich im Establishment besonders bei festlichen Anlässen mit einem zunehmenden Überschwang, mit einem Willen zu großen Gefühlen und Schlagworten, der den heutigen Betrachter beinahe ratlos machen kann. Denn nicht nur muß er im Blick behalten, daß man mit aller Kraft und Hingabe etwas verehren kann, was substantiell dürftig und unbestimmt ist; Meinecke spricht treffend in seinem Nachruf auf Dove von einer „Verdünnung der Lebensideale“ 52 . Man kann auch für das schwach Gedachte stark 466 Geistesgeschichte 53 Eröffnungsfeier (s. Anm. 40), 19. 54 Ebd. 21. 55 Eröffnungsfeier, 24. eintreten. Und es ist zu beobachten, daß durchaus ein Gefühl konsistenter Wertorientierungen in der meinungsbestimmenden gesellschaftlichen Schicht herrschen oder beschworen werden kann, wo doch tatsächlich die Übereinstimmungen der Weltauffassung und -deutung sich längst wie ein riesiger Luftballon vom Boden der tatsächlichen Verhältnisse abgelöst haben. Nur leise Signale lassen diese Diskrepanz aufblitzen, und zu ihnen gehört die Zitatsucht. Zitate können eklektisch Zusammenhänge herstellen, wo die substantiellen Zusammenhänge nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Umgekehrt gesagt: Die Bruchstücke der einen geistigen Welt beginnen, für die Beteiligten eher unbemerkt, als Zitate zu flottieren. Der resignative - um noch einmal Meinecke zu zitieren - „realistisch abgekühlte Idealismus“ des geistigmoralischen Impressionisten Dove macht ihn zum Instrument der Zeittendenz. Synthetisierendes über der Zersplitterung muß möglichst dehnbar sein, wird deshalb vage und ungefähr. So bei der Universitäts-Devise. Die evangelische Festpredigt beschwört die großen Männer der Wissenschaft und die großen Propheten, Luther und Kant, aber auch die „exakte Wissenschaft“. „Eins haben sie alle gemein die verschiedenen Wege, auf denen die Wahrheit gesucht wird: alle suchen die Lebenswirklichkeit, die Wirklichkeit im weitesten Sinne genommen […]“.“Die Lebenswirklichkeit aber ist unendlich wie Gott selbst.“ 53 So wird „auch in Zukunft noch manchem Forscher das gefundene Stück Wahrheit ein Gottesgeschenk, ein Stück Gotteserkenntnis sein […]“ 54 In derartigem geistigen Treibsand, im unverbindlichen Beschwören von Verbindlichkeiten, driften alle Unterscheidungen weg. Wahrheit meint in diesem Geschiebe exakte Erkenntnis und Lebenswahrheit und Lebenssinn; Freiheit meint sittliche Selbstbestimmung, aber auch akademische Freiheit, Chancen der Berufswahl und freie Burschenherrlichkeit, jedenfalls nichts, was die Stabilität der Verhältnisse bedrohen könnte. Das ganze Konglomerat wird durchtränkt und zusammengehalten von einer feierlichen Stimmung, die übergeordnete unbestimmte Worte und Vorstellungen wie „Gott“, „Heilig“, „Vaterland“ ins Schwingen bringt, so daß schließlich auch der Rabbiner in einem Festgottesdienst der Synagoge „die Nachbarschaft zwischen Universität und Synagoge ein Symbol für die innere Gemeinsamkeit des Dranges nach Erkenntnis“ 55 nennen kann. Er bezieht sich dafür auf Jes 54,2, ausgerechnet eine Auserwählungszusage an das Gottesvolk. Wie tragfähig derartig oberflächlich und beflissen gesuchte Gemeinsamkeiten waren, zeigte sich 27 Jahre später beim Brand der Synagoge, die eben dieser Universität doch nur räumlich benachbart war. 467 Die Wahrheit wird euch frei machen Säkulare Verständnismöglichkeiten des Christus-Wortes Obwohl das seiner Spezifik beraubte Johannes-Zitat als Universitäts-Devise in seiner Verwendung ein Zeugnis der alles erfassenden Konturaufweichung war, lassen sich trotzdem zwei - wenngleich dünn ausgezogene - Leitlinien des Traditionsbezugs ablesen, und auch darin springt ein Funke des Text- Funds und-Vorschlags durch Alfred Dove. Das Versbruchstück aus dem Johannes-Evangelium bot sich nämlich als Form für einen Inhalt an, dem sich der Neuklassizismus und Idealismus eines Großteils der Universitätsgelehrten der Zeit, vor allem der Geisteswissenschaftler, viel mehr verbunden wußte als der Bibel. Ich meine das Wahrheitsethos der antiken Philosophie in seiner Rezeption durch den deutschen Idealismus, das in den Festkundgebungen von 1911 immer wieder als pathetischer Nachhall anklingt. Ob Dove das beabsichtigte oder nicht - in einem einzigen Satz läßt die Universitätsdevise die zwei großen Überlieferungsströme der europäischen Geistesgeschichte zusammenfließen, die Bibel als Form, die Antike als Inhalt. Hören wir noch einmal genauer: Die Wahrheit wird euch frei machen. Nach griechischer philosophischer Tradition ist Wahrheit im engeren Sinne ein Richtigkeitsbegriff der Logik, der die Adäquatheit einer Aussage zu einem Sachverhalt bezeichnet. Darüber hinaus ist Wahrheit aber auch ein Integrationsbegriff, der umfassende Seinserkenntnis meint. In dieser Eigenschaft hat die Wahrheit einen verpflichtenden und zugleich freisetzenden Charakter. Die Wahrheit nimmt den Menschen in die Pflicht. Er muß für sie eintreten; aber sie setzt ihn auch frei - von Irrtümern, von Vorurteilen, von egoistischen Interessen, von Leidenschaften, von Beschränktheiten und Fesseln. Gegenüber dem Verpflichtenden der Wahrheit treten alle praktischen Verpflichtungen zurück. Das ist das philosophische Wahrheitsethos von hoher Dignität, das man tatsächlich mühelos dem Christus-Wort Joh 8,31f. unterlegen kann, indem man es von seinem Zusammenhang und Ursprung ablöst. Daß dieses Ethos nur noch im Derivat faßbar war, daß es schon den philosophieresistenten Dove nur als widerhallendes Echo und freilich hoch gehaltene Bildungsreminiszenz erreichte, legte vielleicht besonders nahe, es eklektisch in eine geborgte Formulierung zu fassen, die den Glanz der Sache aufmöbelte. Doch für die universitäre Praxis war dieses Ethos längst nicht mehr allgemein maßgeblich, war es, abgesehen vom großen Impetus der Humboldtschen Universitätsreform, nie gewesen. Schließlich gab es in der gelehrten Welt auch eine lange, zumindest als Unterströmung wirksame Tradition voltairianischer Skepsis und zunehmend des Agnostizismus. Die „aprioristischen, agnostischen, immanentistischen Konstruktionen der modernistischen [Gefühls]Philosophie“ attackiert Julius Meyer, Dekan der Theologischen Fakultät, in einer Denkschrift an das Ministerium zur Rechtfertigung des 468 Geistesgeschichte 56 Akten der Theologischen Fakultät vom 15.8.1910-15.4.1911. UA B 35/ 456. Antimodernismuseids. 56 Von dieser Polemik her kann man das Universitätsmotto auch als Verheißung einer desillusionistischen Wahrheit lesen, die alle dem Anspruch nach letzten Wahrheiten abräumt. In diese dem katholischen Theologen suspekte Richtung weist das zum Büchmann-Zitat gewordene Wort des berühmten Berliner Physiologen Emil Du Bois-Reymond aus seiner weit verbreiteten Rede „Über die Grenzen des Naturerkennens“ von 1872: „Ignoramus et ignorabimus“, das schließlich auch ganz gut über eine moderne Universität passen würde. Umso besser deshalb, daß sich dem Bibelvers sogar eine Bedeutung für den akademischen Alltag und Schulbetrieb abgewinnen läßt. Nicht umsonst klingt der Sinnspruch von Meyers Groschenheften an ihn an: „Bildung macht frei.“ In den verdienstvollen populärwissenschaftlichen Unternehmungen des Verlegers Joseph Meyer, des Begründers des „Bibliographischen Instituts“, wirkte die Überzeugung, durch Bildung breite Volksschichten emanzipieren zu können. Bildung ist die Eingangspforte zum sozialen Aufstieg, akademische Bildung zu sozialen Spitzenstellungen. Aber der klassische, am Idealismus orientierte Bildungsbegriff, der besonders in Goethes organologischem Individualismus eine zentrale Rolle spielt, war wiederum zu unspezifisch für die Naturwissenschaften, die sich schließlich, und nicht zuletzt, auch durch die Universitätsdevise angesprochen und repräsentiert fühlen sollten. Ihnen war nun der Weg zur Unversitätsinschrift über den englischen Philosophen Francis Bacon offen, einen der Väter der Neuzeit. In seinen Meditationes sacrae von 1597 findet sich der Satz: „Nam et ipsa scientia potestas est.“ Auf deutsch zum Sinnspruch zurechtgeschliffen: Wissen ist Macht. Bacons Begründung: Wissen und Macht des Menschen fallen in eins zusammen, weil Unkenntnis der Ursachen den Erfolg vereitelt. Mit anderen Worten: Einsicht in die Zusammenhänge macht uns erfolgreich und mächtig, weil wir dadurch die Fähigkeit gewinnen, in sie einzugreifen. Das ist sowohl empirisch als auch utilitaristisch gedacht. Man kann es politisch verstehen, aber vor allem deckt es den gesamten Bereich der Wissenschaften ab. Ob der Naturwissenschaftler durch Erkenntnis der Naturgesetze die ungeheuere Naturbemächtigung ermöglicht, die neuzeitlich durch den Menschen stattgefunden hat; ob der Historiker durch das Verständnis historischer Prozesse diesen ihren fatalen Charakter nimmt, ob der Psychologe Verdrängtes analytisch ans Licht bringt - immer schafft Wissen die Voraussetzung für den Menschen, sich aus den Fesseln des Gegebenen zu lösen, Entscheidungsspielräume zu eröffnen, das Gesetz des Handelns an sich zu ziehen. In diesem Sinne gibt Wissen Macht und Macht Freiheit, nämlich Handlungs- und Verfügungsfreiheit. 469 Die Wahrheit wird euch frei machen Es liegt mir fern, den Beteiligten von 1911 alle diese Überlegungen zu unterstellen - mag der eine oder andere sie angestellt haben, greifbar sind sie mir nicht. Ich beschreibe den möglichen Interpretationshorizont der Zeit, nicht aus den Quellen nachgewiesene Gedankengänge. Fest steht nur soviel: Wenn man dem Wahrheitsbegriff sein Ganzheitspathos nimmt und Wahrheit zur exakten Erkenntnis verschlankt, wenn man ferner Wahrheit und Wissen aufklärerisch zueinander vermittelt, kann man also auch dieses Denken der Wahrheits-Devise am Kollegiengebäude I unserer Universität subsumieren. Denn bekanntlich ist ja Aufklärung, laut Kant, der Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Und sogar eine liberal verdünnte Theologie, wie sie zu Anfang des Jahrhunderts blühte und sich in der eben erörterten evangelischen Festpredigt bezeugt, kann sich mit einer Verkürzung der Christusaussage als besonderer Formulierung einer allgemeinen Weisheitslehre arrangieren. Der kleinste gemeinsame Nenner aber, auf den alle diese Inhalte gebracht werden können, ist das Schlagwort von der Freiheit der Wissenschaft, verstanden als nach allen Seiten abgesicherte Forschungs- und Lehrfreiheit, von einflußreichen Koryphäen mißverstanden als Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft - ein Mißverständnis, von dem im späteren wissenschaftstheoretischen Teil dieser Ausführungen noch zu reden sein wird. Für diese Lesart allerdings muß man das Bedingungsverhältnis von Wahrheit und Freiheit im Christus-Wort auflösen und letztlich umpolen, wie das bereits in der evangelischen Festpredigt bemerkt werden konnte. Denn nochmals: Christus spricht von Freiheit aus Wahrheit, Freiheit der Wissenschaft meint Wahrheit aus Freiheit. Auf die Dehnbarkeit der Formel „Freiheit der Wissenschaft“ vom heiligen Gut bis zur heiligen Kuh ist hier nicht einzugehen. Säkularisierung - und Nietzsche, der mit dem Hammer philosophiert Alle erörterten Bedeutungen kann man in das Zitat aus dem Johannes-Evangelium an unserer Universität hineinlesen. Herauslesen kann man sie schwerlich. Stellt man die Philologenfrage nach dem Kontext und die Philosophenfrage zurück, was denn nun Wahrheit in Wahrheit sei, und versteht man das Bündel von Bedeutungsverschiebungen, -verengungen und -erweiterungen, die da stattgefunden haben, historisch, als seismographische Anzeige von Zeitgeisterschütterungen und-verwerfungen, dann erkennt man ein Musterbeispiel für den geistesgeschichtlichen Prozess der Säkularisierung. Sie spielt sich darin ab, daß biblische, theologische und kirchliche Formen der christlichen Tradition mit neuen weltlichen Inhalten erfüllt werden - ein Vorgang, der von den Kräuseln der Werbesprache („Es werde Licht“ als Überschrift für die Beschreibung der Beleuchtungsanlage der Mercedes-A-Klasse) und der Satire (etwa Bertolt Brechts Hauspostille) bis in die ideologischen Sumpfzonen des 470 Geistesgeschichte Nationalismus („Nationale Erweckung“, „völkische Wiedergeburt“, der Führer als „Heiland“ und „Erlöser“) alle denkbaren Nuancen zeigt. Eine davon ist es, eine biblische Verheißung für die Jünger in der Glaubensnachfolge unter Erhaltung des Wortlauts umzufunktionieren in eine Verheißung an die Adepten der säkularen Universitätswissenschaften. Die Voraussetzung solcher Säkularisierung ist das Entstehen und Bestehen eines Kulturbereichs autonomer Weltlichkeit seit der Aufklärung außer Reichweite der kirchlich garantierten Verbindlichkeiten des Christentums. Dabei ist eine strikte Opposition der Sphären die Ausgangsbedingung etwa für den Umgang der Werbung oder der literarischen Satire mit christlichen Formen, Bildern und Vorstellungen. Brechts Hauspostille will natürlich nicht die Erbaulichkeit der alten geistlichen Hauspostillen für sich reklamieren, sondern sie verspotten. Der Mercedes-Werbespruch will nicht die Lichtanlage der A-Klasse am Weltanfänglichen des Schöpfungslichts teilhaben lassen, sondern spielerische Allmachtgefühle im potentiellen Käufer wecken - sein Lichtanknipsen wird zum Schöpfungswort - und so Heiterkeit und damit Kauflust erzeugen. Es kann sich zwischen den Bereichen aber auch um Grenzverwischungen und -übergriffe in einer Grauzone handeln. Derartiges ereignet sich in der Geschichte des universitären Wahrheitsmottos, wo sich, wahrscheinlich teilweise sogar hinter dem Rücken des Bewußtseins der Beteiligten, etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft zwischen den Repräsentanten des Christentums und der säkularen Universität, letztlich der säkularen Gesellschaft abspielt: Von Seiten der Repräsentanten der säkularen Gesellschaft wird die Fiktion erzeugt und geduldet, sie stehe noch im Licht eines weltgesättigten und weltkonformen Christentums; ihre Werte seien dessen Werte. Am Beispiel des Wahrheits-Mottos der Universität: Dem biblischen Wahrheitsbegriff wird ein ganz anderer substituiert, der von der Aura des Bibelworts zehrt. Von Seiten der Kirche, vor allem der evangelischen, wird an der Fiktion gewebt und festgehalten, sie umfasse mit ihrer Glaubensbotschaft noch den Gesamtbereich der weltlichen Kultur und Gesellschaft mit ihren vielfältigen Werten und Tendenzen. Unendlich verdünnt, läßt sich das Evangelium über alle säkularen Phänomene konformistisch ergießen. Der Preis für solchen Konformismus, bei dem die Kirche einen guten Magen und gute Nerven bewähren muß, ist der Verzicht auf Prägnanz und Spezifik der biblischen Botschaft. Entsprechende Prozesse können sich auch außerhalb fixierbarer Verantwortlichkeit und Zuständigkeit der Beteiligten abspielen, quasi durch kulturelle Osmose. Seinesgleichen geschieht. Dabei war der Zerschmetterer der faulen Kompromisse und Synthesen des Wilhelminischen Bildungsbürgertums längst erschienen und geistig schon wieder verloschen: Friedrich Nietzsche, dessen Gedankenwelt zwar in der Geschichte des Universitätsmottos keine erkennbare Rolle spielt. Aber wenigstens als Gegenbild der Weichspülungen soll sie hier kurz aufblitzen und 471 Die Wahrheit wird euch frei machen 57 F. Nietzsche, Werke, Krit. Gesamtausgabe, G. Colli/ M. Montinari, (Hg.), 6.Abt, 3. Bd., Berlin 1969,163-251, hier 208. 58 Ebd. 231. 59 Ebd. 223. kontrastiv die Zitatkultur und die Säkularisation beleuchten. Immerhin ist es einmal zu einer kurzen, aber heftigen Berührung zwischen Nietzsche und Alfred Dove gekommen, als dieser 1873 noch in seiner Eigenschaft als Herausgeber der nationalliberal orientierten, hoch angesehenen Wochenschrift „Im Neuen Reich“ in einem „Neujahrsworte an die deutsche Geistesarbeit“ eine Schrift des Medizinhistorikers Puschmann rühmend angeführt hatte, die bei Richard Wagner Größenwahn diagnostizierte. Nietzsche, damals noch Wagnerianer, reagierte am 17.Januar 1873 im „Musikalischen Wochenblatt“ mit einem „Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift ‚Im Neuen Reich‘“, das den „impressionablen Alfred Dove“ geradezu anpöbelt und ein Musterbeispiel dafür bietet, was im 19.Jahrhundert bei intellektuellen und wissenschaftlichen Kontroversen gang und gäbe war. Nietzsche überbietet allerdings mühelos alle Exzesse der Polemik. Immerhin hat er das Impressionable Doves als hervorstechenden Zug im Sprung erfaßt. Nietzsches Extremposition: Das Christentum ist wahrheits-feindlich 1888, kurz vor Ausbruch des Wahnsinns, schrieb Nietzsche sein Pamphlet Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, das 1895, sozusagen als Nachlass zu Lebzeiten, veröffentlicht wurde. Voll Haß hämmert er ein, daß Christentum und Wahrheit diametral entgegengesetzt sind und daß es „unanständig [ist], heute Christ zu sein.“ 57 „‚Glaube‘ heißt, Nicht-wissen-wollen, was wahr ist.“ 58 Und genau das Pilatus-Verhör zielt Nietzsche an, in dem ein biblisches Wahrheits-Wort Christi gesprochen ist: „Habe ich noch zu sagen“, heißt es bei Nietzsche, „daß im ganzen neuen Testament bloß eine einzige Figur vorkommt, die man ehren muß? Pilatus, der römische Statthalter. […] Der vornehme Hohn eines Römers, vor dem ein unverschämter Mißbrauch mit dem Wort ‚Wahrheit‘ getrieben wird, hat das neue Testament mit dem einzigen Wort bereichert, das Werth hat, - das seine Kritik, seine Vernichtung selbst ist: ‚was ist Wahrheit! ‘…“ 59 Fast mehr noch als das Christentum, das erst in den fürchterlichen Zusammenbrüchen des 20.Jahrhunderts diesen schneidenden Ton zu hören begonnen hat, ist hier der kulturprotestantisch eingefärbte Idealismus angegriffen, dem sich das Universitätsmotto in seinem synkretistischen Verständnis verdankt. Im Zusammenhang des Antichrist hat Nietzsche ein „Gesetz wider das Christentum“ formuliert, dessen zweiter Satz heißt: „Jede 472 Geistesgeschichte 60 Ebd. 252. 61 C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Biographie, 3 Bde., München 1981, hier: Bd. 3, 34. Theilname an einem Gottesdienste ist ein Attentat auf die öffentliche Sittlichkeit. Man soll härter gegen Protestanten als gegen Katholiken sein, härter gegen liberale Protestanten als gegen strenggläubige. Das Verbrecherische im Christsein nimmt in dem Maße zu, als man sich der Wissenschaft nähert. Der Verbrecher der Verbrecher ist folglich der Philosoph.“ 60 Es ist hier nicht der Ort, auf Nietzsches „Fluch“ und „Gesetz“ interpretierend einzugehen, aber ein kultureller Riß soll heraustreten, den das Christus-Wort als Universitätsdevise verdeckt. Er geht als Spaltung durch Nietzsche selbst, denn es ist der Sohn des protestantischen Pfarrhauses, von dessen Geist tief durchtränkt, der so flucht. Sein nach außen gerichteter Haß auf das Christentum ist auch Selbsthaß eines christlichen Erbes in ihm, das er verdrängt und verleugnet, aber nicht eliminieren kann. Der Verhöhner des Mitleids hat im Brief an den Freund, den ungläubigen Basler Theologen Overbeck, am 14.September 1884 bekannt: „Von meiner Kindheit an hat sich der Satz ‚im Mitleid liegen meine größten Gefahren‘ immer wieder bestätigt […].“ In den Tagen des geistigen Zusammenbruchs in Turin umarmte er schluchzend und tränenüberströmt ein altes Droschkenpferd, von dem er annahm, der Kutscher habe es mißhandelt. 61 Schon der Titel des Pamphlets Der Antichrist ist zweideutig und läßt in Nietzsches Attacke gegen das Christentum die Gründe ihres Scheiterns erkennen. Nietzsche nicht als ein, sondern als der Antichrist: Dieser hybride Anspruch macht ihn, von Nietzsches Umwertung der Werte her gelesen, zur Christusfigur. Der Antichrist ist der wahre Christus - ein Anspruch, den schon Christus den Antichristusfiguren in den Mund legt (Mt 24,24; Mk 13,22). Eine strukturell ähnliche Umkehrfigur steckt in dem anderen Nietzsche-Titel des gleichen Jahres 1888: Ecce homo. Er überkreuzt sich mit dem im Antichrist zitierten Pilatuswort „Was ist Wahrheit? “ Der Römer, der nach Nietzsches Interpretation die Wahrheitsoffenbarung in Christus zurückweist und damit angeblich das einzige wertvolle Wort des Neuen Testaments gesprochen hat, dieser Pilatus wird nun mit einem anderen Wort in Anspruch genommen, das Nietzsche als Wahrheit über sich okkupiert. Indem Nietzsches Titel die Pilatusaussage „Ecce homo“ für sich aneignet, setzt er sich abermals als Erlöser vom Christentum an die Systemstelle Christi, den er im Antichrist verhöhnt. Durch ein verwirrendes Spiel von Negationen und Negationen der Negationen bleibt Nietzsche so an das verhaftet, wovon er loskommen möchte. Derart kann Nietzsche als Index dafür dienen, welche verdeckten Abgründe in der Epoche liegen. Nietzsche kann aber auch als Index dafür verwendet werden, wie widerspruchsvoll Säkularisierung ist. Man kann in ihr einen Ausverkauf, häufig einen Mißbrauch sehen, und zwar immer dann, 473 Die Wahrheit wird euch frei machen wenn versucht wird, durch religiöse Anspielungen und Einfärbungen letzte Verbindlichkeit des Glaubens anderweitig festzumachen - etwa durch die Sakralisierung von Volk und Staat. Man kann in allen solchen Übertragungen aber zugleich ein Zeichen der Lebenskraft christlicher Keime sehen, die, noch so weit verschleppt, die Fruchtbarkeit und Unerschöpflichkeit des Christentums auch in einer unchristlich gewordenen Welt erweisen. Christliche Motive können wie Samen im Trockenen lange Zeit scheinbar leblos liegen, bis ein Blick auf sie fällt, der ihre originale Kraft wieder frei macht und an ihren originalen Zusammenhang erinnert. Diese Lebenskraft des Christentums ist so groß, daß sich noch die antichristliche Polemik der Moderne mit seiner Hilfe artikuliert, wie sich am Extremfall Nietzsche zeigt. Im Fall des Universitätsmottos bleibt in raffinierter Diffusion, was bei Nietzsche als explosive Paradoxie herausgetrieben wird: Das Christus-Wort wird auf Doves Vorschlag im säkularen Gebrauch multivalent eingesetzt, aber nicht direkt parodiert. Trotzdem drängt sich im Blick auf die Persönlichkeit Doves und seine frühere, schon erörterte antikirchliche Verwendung von Joh 8,32 der Eindruck auf, daß im pathetischen Zitat ehrwürdiger Traditionen auch ein ironisches Spiel mit ihnen getrieben wird. Zuzutrauen wäre Dove ein augenzwinkernder Zuruf an die Kirchen, speziell an die Katholische Kirche in der Situation des Antimodernistenstreits, noch spezieller an die katholischen Theologen in der Klemme des vom Vatikan erzwungenen Gehorsamseides: Liebe Herren Kollegen, die Wahrheit wird euch frei machen. Oder ernsthaft gesagt: Der säkulare Tempel der Wissenschaften erhebt im Namen der Freiheit der Wissenschaft den Anspruch, würdiger und zeitgemäßer und befreiender als die Kirche(n) das biblische Wahrheitswort vor sich herzutragen. Die Universität hält in Bibelworten ihren Wahrheitsbegriff, ihren Freiheitsanspruch und ihre Verheißung der Kirche entgegen. Eine Zeitraffung von 1911 zur aktuellen Situation Damit sind die Überlegungen aus der Allgemeinheit der Säkularisierungsdebatte zum Wahrheitsmotto der Universität zurückgekehrt. Soll es verschwinden? Nein. Soll es bleiben, aber in seinem biblischen Sinn restituiert werden? Gleichfalls nein, um so weniger, als es nie in diesem Sinn zur Universitäts-Devise gemacht worden ist. Man kann es historisch verstehen als Zeugnis einer geistigen Konstellation des Wilhelminischen Zeitalters, dessen Problematik nicht zuletzt in seinem hemmungslosen Synkretismus und Eklektizismus, in seiner Neigung zu pathetischen Räuschen lag, die alle Inhalte und Unterscheidungen verdampften. Man kann es auch, nach dem Durchgang durch das historische Verständnis, auf sich als Angehörigen dieser Universität in unserer Zeit beziehen, die mehr an individuelle Eigenständigkeit als an 474 Geistesgeschichte 62 Dem Universitätsarchivar Dr. Speck verdanke ich die Mitteilung, Studenten von heute brächten das Universitätsmotto häufig mit dem zynischen Spruch „Arbeit macht frei“ an KZ-Toren in Verbindung - ein Zeichen für den niedrigen Stand des historischen Unterscheidungsvermögens, aber auch für historische Perspektivenverschiebungen. 63 Laut dem Bericht der Freiburger Tagespost vom 1.11.1935 über das „Richtfest der Universität nach dem Brand“ sagte Ministerialdirektor Frank in seiner Ansprache: „Nicht mehr beziehungslose Wissenschaft soll in der neuerstandenen Universität den Studierenden vermittelt werden, sondern eine Wissenschaft, ausgerichtet nach dem Gesetz, das über dem Eingang der Universität stehen wird: ‚Dem ewigen Deutschtum‘.“ Die Freiburger Zeitung vom 1.11.1935 referiert noch aus Franks Rede: „An dieser Hochschule soll die Pflege des Rassegedankens, der Eugenik und die Pflege des deutschen Volkstums eine Heimstätte finden.“ Hier und in anderen Äußerungen klingt die Absicht an, mit der in gotischen Lettern geplanten Inschrift eine prägnante Neubestimmung der Universität entgegen ihrem bisherigen Selbstverständnis zu dokumentieren. Aber nur der Dekan der Theologischen Fakultät, der bekannte Kanoniker Nikolaus Hilling, nimmt ausdrücklich Bezug auf das alte Universitätsmotto, allerdings ohne seine biblische Herkunft zu erwähnen. Das geschieht anläßlich einer Aufforderung des Rektorats an die Dekane der Fakultäten, zu den zwei Inschriftenvorschlägen „Dem ewigen deutschen Volk“ oder „Dem deutschen Geist“ Stellung zu nehmen. Hilling antwortete am 3.3.1935: „Von den beiden Vorschlägen würde ich die Inschrift ‚Dem deutschen Geist‘ vorziehen. Gleichsam als Gegenstück zu der bereits vorhandenen Inschrift ‚Die Wahrheit wird euch frei machen‘ würde ich auch den Wahlspruch unseres Führers ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ für angebracht halten. Heil Hitler.“ Fabricius, auch befragt, beteuerte in einem Schreiben vom 12.3.1935 seine Regimetreue, lehnt aber als einziger Befragter eine zusätzliche Inschrift überhaupt ab, weil eine deutsche Inschrift in gotischen Lettern stilistisch in Dissonanz zu der schon über dem Eingang vorhankollektive Bindungen appelliert und die im Geistigen mehr auf Analyse als auf ausgreifende Synthesen setzt. Nur sollte man wissen, was man tut und in welchem Zusammenhang man lebt, erst recht als Wissenschaftler. Aber wenn man es weiß, warum soll man nicht - bewußt gegen den Kontext - das Wahrheitsmotto der Universität für sich im Sinne der idealistischen Tradition oder des Utilitarismus und Empirismus aneignen oder ganz verwerfen? Die Aneignung in einer kontextunabhängigen Lesart bedeutet nicht allemal, daß man, redensartlich gesagt, fünf gerade sein läßt. Wenn man wissenschaftlich unterschieden hat, sind persönliche Konsequenzen möglich und fällig. Schließlich haben mittlerweile auch die kontextunabhängigen Lesemöglichkeiten der Devise ihre Geschichte gewonnen. So sagte mir ein älterer Verwandter, der während des Zweiten Weltkriegs in Freiburg studiert hat: „Es hat uns jungen Leuten etwas bedeutet, daß dieses Motto über der Universität stand und signalisierte: Es gibt noch etwas anderes als das Herrschende.“ Meine Rückfrage: „Welches andere? “ Antwort: „Darüber wurde nicht gesprochen. Eben etwas anderes.“ 62 Ohnehin dürfte dem Texthermeneutiker klar sein, daß seit der Anbringung der Widmung „Dem ewigen Deutschtum“ über dem Haupteingang nach dem Brand und der Aufstockung des Kollegiengebäudes 1934-36 ein latentes Verweisungs- und Provokationsverhältnis zwischen beiden Inschriften neu entstanden ist - ob wahrgenommen oder nicht. 63 475 Die Wahrheit wird euch frei machen denen lateinischen Inschrift stehen und historisch die Authentizität des Gebäudes beeinträchtigen würde. Gewiß bedürften diese Antworten wiederum einer historischen Interpretation, die hier nicht geleistet werden kann. Auch die Frage nach Taktik und Ironie müßte gestellt werden (alle zitierten Unterlagen UA BI/ 4044). Zum Zusammenhang siehe: M. Mück, „Dem ewigen Deutschtum“, Inschriften und Symbole an der Universität im Zeichen des Nationalsozialismus, in: E.John/ B.Martin/ H.Ott (Hg.), Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, Freiburg/ Würzburg 1991, 35-42. 64 Siehe M. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt a.M. 1943, 8. ergänzte Auflage 1997; vgl. auch: B. Casper, Das Versuchtsein des Daseins und das „Freiwerden von den Götzen“, in: P.-L. Coriando (Hg.), „Herkunft aber bleibt stets Zukunft“. Martin Heidegger und die Gottesfrage, Frankfurt a.M. 1998, 67-81, vor allem 78ff. Generell muß gesagt werden: Untersuchungen wie die vorliegenden haben ihre Grenze darin, daß sie mittlere, durchschnittliche geistige Höhenlagen und kollektive Gestimmtheiten statuieren und konstruieren. Der Einzelfall, das Einzelzeugnis wird ihnen zum Beleg für die Mentalität von idealtypisch angesetzten Kollektiven. Dagegen hat jedes individuelle Leben sein eigenes Profil, seine eigene Würde, seine eigene Freiheit. Es kann hier nicht einläßlich ermittelt und herausgestellt werden - nicht einmal für den Hauptakteur Alfred Dove. Es kann nicht geklärt werden, wie vielen Lehrenden und Lernenden das Universitätsmotto mehr oder weniger naiv zur Formulierung ihres philosophischen oder religiösen Wahrheitsethos geworden ist, das sie mit vollem Ernst gelebt haben und leben. Es kann hier auch nicht dargestellt werden, ob und wie überragende originelle Gestalten unseres geistigen Lebens das Wahrheits-Motto denkerisch ergriffen, auf es Bezug genommen und es theologisch oder philosophisch weitergedacht haben. 64 Teil II: Das Wahrheitswort Christi und die Wahrheit der Wissenschaft hier und heute Nur auf mittlerer Höhenlage, nämlich meiner eigenen, möchte ich nun in einem zweiten Teil meiner Überlegungen die Frage eröffnen, ob nicht auch der genuine Sinn des entfremdeten Bibelzitats an der Stirn der Freiburger Universität dem Geist der Wissenschaft standhalten, ja, ihn sogar grundieren kann - freilich nicht als Basis der Institution und Organisation Universität. Das ist aus einem historischen und einem sachlichen Grund unmöglich. Der historische: Die Universität forscht und lehrt in einer pluralistischen Gesellschaft und für sie. Der sachliche: Es kann christliche Wissenschaftler, aber 476 Geistesgeschichte keine christliche Wissenschaft geben, denn Glaubenswahrheiten können zwar das Leben des einzelnen Wissenschaftlers prägen, sie können auch - durch die Theologie - wissenschaftlich ausgelegt werden, aber sie sind per se keine wissenschaftlichen Wahrheiten. Und das genau ist für mich die entscheidende Einsicht: Glaubenswahrheiten können und wollen nicht wissenschaftlich bewiesen oder grundgelegt werden, weil sie der Wissenschaft vorausliegen. Aber weil sie der Wissenschaft vorausliegen, kann ich mich als Wissenschaftler in ihnen verankern. Zur Möglichkeit und Chance, als Christ Wissenschaftler zu sein, mache ich hier nur einige Andeutungen aus meiner persönlichen Sicht und im vollen Bewußtsein des Risikos. Es besteht einmal als Risiko von Mißverständnissen und Mißdeutungen. Sie sind dadurch nahegelegt, daß im Lauf der Geschichte des Christentums und der Kirchen immer wieder mit intellektuell fragwürdigen Übergriffen, Kurzschlüssen und erpreßten Versöhnungen in die Wissenschaft eingewirkt worden ist. Wir leben allerdings inzwischen in einer liberalen säkularen Wissenschaftstradition, die umgekehrt schon vorab jede positive Relationierung von christlicher Lebenshaltung und Wissenschaft als Verengung und Verkürzung des wissenschaftlichen Ansatzes, als Verblendung und Wunschdenken zu deuten geneigt ist. Es besteht so heute die absurde Situation, daß es unter Wissenschaftlern weniger anstößig ist, ein unreflektierter als ein reflektierter und das Verhältnis von Wissenschaft und Glauben reflektierender Christ zu sein. Und wenn man den Theologen als Fundament ihrer Profession christlichen Glauben allenfalls zubilligt, geht das leicht einher mit der Anzweiflung der Wissenschaftlichkeit der Theologie. Das Risiko meiner Überlegungen besteht zum zweiten in der Unüblichkeit dieser Fragestellung für einen Fachwissenschaftler, weil er in ihrer Verfolgung zwangsläufig den Bereich seiner wissenschaftlichen Kompetenz überschreiten muß. Trotzdem sei es gewagt, eher als Aufforderung zum Gespräch, das mir dringend notwendig erscheint, denn als Darbietung von Ergebnissen. Voraussetzungslose Wissenschaft? Zunächst zum wissenschaftstheoretischen Hintergrund: Jeder Wissenschaftler weiß oder sollte wissen, daß wir aus und in Gegebenheiten existieren, die wir weder vollständig in der Hand haben noch völlig erkennen können. Es gibt etwas, woraus der Mensch lebt und worauf er sich verläßt, noch indem er es erforscht. Mitsamt seiner einzigartigen Erkenntnis- und Weltveränderungsenergie findet sich der Mensch vor und kann diese Vorfindlichkeit niemals hintergehen. Mögen wir eine Welt des Menschen erzeugen - sie bleibt ein sekundäres System, das sich aus einem primären speist, eine Menschenwelt, die einer naturgeschichtlich gegebenen Welt aufruht; naturgeschichtlich: Das 477 Die Wahrheit wird euch frei machen 65 Vgl. die für meine Überlegungen maßgebliche, Kant kritisch weiterführende Erkenntnistheorie von G. Prauss, Die Welt und wir, 2 Bde., Stuttgart 1990ff. heißt, der Kosmos samt Raum, Zeit und Naturgesetzen ist paradoxerweise aus einem explodierenden Nichts entstanden, das zugleich alles enthält, und er entfaltet sich in einer nicht wiederholbaren Weise, ist also nicht durchgängig kausal strukturiert. Der Mensch ist eine Gegebenheit in dem Sinne, daß es ihn auch nicht geben könnte. Und nicht nur dahinter gibt es kein Zurück; auch das menschliche Bewußtsein als Selbstbewußtsein kann nicht empirisch erklärt werden, weil es unsere Empirie allererst konstituiert. 65 Es ist jene Vorgegebenheit, die noch die empirischen Vorgegebenheiten strukturiert. Der Versuch, das Bewußtsein evolutionär aus Empirie abzuleiten, ist also zirkulär. Und noch einmal: Unser individuelles Bewußtsein ist uns gegeben in dem Sinne, daß wir uns in unserem So-und-nicht-anders-Sein zwar nachfragen, aber nicht einholen können. Es geht uns wie Josef K. in Kafkas Prozeß, der mit seiner Rechtfertigungsschrift nie zu Ende kommen kann, weil im Schreiben immer schon wieder Leben stattfindet, das noch nicht gerechtfertigt ist, demnach das Weiterschreiben der Rechtfertigung verlangt, aber auch erst ermöglicht. Unser Leben ist der Swinegel, der dem Hasen unseres Bewußtseins triumphierend zuruft: „Ick bün all schon hier.“ Es ist unsere Letzttatsache. Im Bereich der Gegebenheiten sind wir auf Grundorientierungen angewiesen, die sich primär nicht dem theoretischen Denken, sondern dem gelebten Leben in seiner sensuellen, emotionalen, kulturellen und geschichtlichen Komplexität und der Mannigfaltigkeit seiner individuellen Erscheinungen verdanken und die sich daran bewähren. Wir leben in diesen Orientierungen, die ich Wahrheiten der Lebenspraxis nennen möchte, und sie ermöglichen uns zu leben, und alles ist bei diesen Wahrheiten der Lebenspraxis unvermeidlich gegeben, was bei wissenschaftlichen Wahrheiten unzulässig ist: Sie bedürfen praktischer Bewahrheitung, sind Deutung und Gedeutetes zugleich, sind zirkulär: Wir müssen in ihnen sein, um sie zu gewinnen. Was einem seine Letztwahrheit ist, aus der er bewußt oder unbewußt lebt, das ist immer geglaubt. Das gilt selbst für den Agnostiker. So wie die Lebenspraxis die Haltung wissenschaftlicher Erkenntnis hinterfängt, hinterfangen die Wahrheiten unserer Lebenspraxis unsere theoretischen Wahrheiten. Das gilt für den Naturwissenschaftler, der ein Erkenntnisfeld aus der Praxis des gelebten Lebens ausgrenzt und durch Abstraktion für naturwissenschaftliche Erkenntnis zurichtet, ohne es doch damit aus seiner lebenspraktischen Verflechtung definitiv herausrücken zu können und zu dürfen. Er bleibt praktisch verantwortlich für das, was er theoretisch tut. Das gilt für den Geisteswissenschaftler, der die lebenspraktische Perspektivik und Relativität seines Erkennens in seiner wissenschaftlichen Reflexion gegenwärtig zu 478 Geistesgeschichte 66 Ich halte an Wilhelm Diltheys Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften fest. Im „Geist“ der „Geisteswissenschaften“ schwingt - über Hegel - ein säkularisiertes religiöses Pathos nach. Der „Geist“ ist das schöpferische Prinzip, das in allen seinen Gestaltungen auf sich zurückverweist. Die Akzentuierung der Selbstreflexivität macht mir den Begriff unverzichtbar, auch wenn sein Pathos etwas fremd in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft wirkt. Die schärfste Konkurrenz erwächst heute dem Begriff der „Geisteswissenschaft(en)“ in seiner Diltheyschen Bestimmung durch den Begriff „Kulturwissenschaft(en)“, den schon um die Wende des 19. zum 20.Jahrhundert der Neukantianer Heinrich Rickert eingeführt hat. Die Begriffsbildung „Kulturwissenschaften“ hat zwar den Vorteil, „von Anfang an positiv und offensiv [zu sein]; sie beanspruchen eine für die Selbstreflexion der Gesellschaft vitale Funktion […]“ (A. Assmann, Kulturwissenschaft im internationalen Vergleich, in: Akademie-Journal. Magazin der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, 1/ 2000. Themenschwerpunkt Kulturwissenschaften/ Geisteswissenschaften/ Humanwissenschaften in der Diskussion, 20-22, hier 21). Gerade der konstitutive Zug der Selbstreflexivität kommt aber im Terminus „Kulturwissenschaften“ nicht zum Ausdruck. Während im Begriffspaar „Natur- und Geisteswissenschaften“ die Verschiedenartigkeit der Bezugsweisen mitgehört werden kann, denn „Geist“ ist das Subjekt und Objekt zugleich, „Natur“ aber nur Objekt, legt das Begriffspaar „Natur- und Kulturwissenschaften“ den falschen Eindruck nahe, Kultur sei das Pendant zu Natur, wogegen doch die Natur der Naturwissenschaften ein Konstrukt ist, das erst durch Kultur hervorgebracht wird. Vgl. G. Kaiser, Vertreibung des Geistes? Nur die Geisteswissenschaften können den Menschen in seinen Widersprüchen erfassen - zum Abschluß der „Welt“-Serie, in: Die literarische Welt, 28.4.2001, 7. 67 H.-G. Gadamer, Hermeneutik, in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974. Spalte 1069f. halten hat. 66 Wir bleiben als Wissenschaftler auf Lebenspraxis zurückbezogen; sei es, daß wir unsere Erkenntnisse in einen Rahmen der Lebenspraxis einstellen müssen; sei es, daß wir uns in unserer historisch-praktischen Vorfindlichkeit in die Erkenntnis einbringen müssen, damit sie überhaupt zustande kommen kann. Die Wahrheitsproblematik in den Geisteswissenschaften Ich meine das letztere im Sinne der lexikonartig verknappten Aussage Hans- Georg Gadamers, hinter der die Autorität seiner grundlegenden Erörterung Wahrheit und Methode von 1960 steht, daß „im ganzen die Voraussetzungshaftigkeit alles Verstehens als erwiesen gelten [darf]“ und „daß der Verstehende seine eigenen Voraussetzungen ins Spiel bringt“. 67 Denn was der Naturwissenschaftler kann und können muß - sich im Erkenntnisakt aus der Person zur Beobachterfunktion zu neutralisieren -, das ist dem Geisteswissenschaftler in seinem Verstehensprozeß nicht gegeben. Es ist gleichgültig, ob der Naturwissenschaftler als dieser und kein anderer mit dieser und keiner anderen Lebensgeschichte, als Christ oder als Agnostiker durchs Mikroskop oder Teleskop blickt; beim Vertreter einer verstehenden Wissenschaft ist hier der Ausgangspunkt seines Verstehens. Der Vertreter 479 Die Wahrheit wird euch frei machen solcher Wissenschaften, die im Englischen sehr schön „Humanities“ heißen, spricht, gewollt oder ungewollt, ausgesprochen oder unausgesprochen, in jeder wissenschaftlichen Frage, die er stellt, auch von dem, was er selbst als historisches Individuum ist. Der Naturwissenschaftler schreitet in seinen Erkenntnissen fort zu immer genaueren und weiter umfassenden Ergebnissen. Indem er sich auf den Boden der naturwissenschaftlichen Abstraktion begibt, ist sein Erkennen und Denken direkt anschlußfähig. Der Geisteswissenschaftler begibt sich in einen Prozeß des Verstehens, der etwas anderes als Erkenntnisfortschritt ist. Beim Erkenntnisfortschritt fügt sich das jeweils letzte Ergebnis dem vorhergehenden an oder gliedert es sich ein oder räumt es beiseite. Naturwissenschaftliche Ergebnisse von gestern sind von der Forschung absorbiert oder kassiert, wogegen sich das Verstehen in seiner historisch-individuellen Perspektivik dialogisch neben anderes Verstehen stellt, so wie zwei verschiedene Menschen ihr Gegenüber je eigentümlich wahrnehmen und darüber kommunizieren können. Es ist möglich, argumentativ vergleichend Ergebnisse aufeinander zu beziehen und sich über die jeweiligen Verstehensvoraussetzungen zu einigen, das heißt, das Verstehen des anderen Verstehenden dergestalt zu verstehen, daß sich das eigene Verstehen dabei modifiziert und ein übergreifender Verstehenshorizont entstehen kann. Überhaupt geht das Verstehen mit einer Veränderung der Ausgangsperspektive einher, die auch das bereits Verstandene rückwirkend ergreift und derart wandelt, daß es seinerseits wieder verwandelnd auf das aktuelle Verstehen einwirkt. Das Verstehen hält so alles im Fluß, was es nicht ausscheidet. Mithin läßt sich der Verstehende auf ein Geschehen zwischen sich und seinem Gegenüber ein, bei dem der Prozeß in das Ergebnis eingeht, das immer vorläufig bleibt. Die Schritte der Annäherung sind jeweils zugleich Schritte der genaueren Wahrnehmung der Andersheit des Anderen. Alles zusammen ergibt keine Verwackelung des Bildes, sondern eine Vertiefung, so wie wir jemanden um so besser kennenlernen, je länger und näher wir mit ihm aufmerksam zusammenleben. Und je näher wir ihn kennenlernen, um so mehr tritt auch heraus, daß er eine Unverfügbarkeit behält, und diese Unverfügbarkeit wird zum Anreiz oder Stachel weitergehender Verstehensversuche. Bei dieser Erläuterung des Verstehens mit Rückgriff auf die Lebenspraxis bleibt jedoch bewußt zu halten, daß wissenschaftliches und praktisches Verstehen nicht identisch sind und werden dürfen. Das wissenschaftliche Verstehen erfordert gegenüber der Lebenspraxis einen Haltungsunterschied, auch wenn wir - etwa als verstehende Psychologen - lebenden und antwortenden Personen gegenüberstehen. Wir müssen beim wissenschaftlichen Wahrnehmen des anderen auch Wahrnehmende dieses Wahrnehmens selbst und damit in Abstand zu ihm und uns sein. Wir müssen methodisch und umfassend auf die markantesten wissenschaftlich relevanten Verstehensanstrengungen der Forschung zurückgreifen - zur Blickerweiterung und als 480 Geistesgeschichte 68 Zur näheren Ausführung meiner Vorstellung von „Werk“ und Werkverhältnis vgl. G. Kaiser, Wozu noch Literatur? Über Dichtung und Leben, München 1996. 2.A. Würzburg 2005 Korrektiv. Das wissenschaftliche Verstehenwollen bleibt eine Art frei schwebenden Interesses, damit eine Art von Mittelbarkeit in der Unmittelbarkeit. Wir versachlichen uns verstehend zum Organ des Verstehens, wogegen lebenspraktisches Verstehen über sich hinaus auf gemeinsame Lebenspraxis zielt. Auch die Verstehenswissenschaften fordern also eine theoretische Einstellung, und sie können sehr wohl zwischen Verstehen und Mißverstehen von Personen und Sachen, damit ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ unterscheiden. Gleichwohl gilt: Die Spezifik dieser Einstellung besteht darin, daß sie Lebenspraxis zwar deutend übersteigt, aber nicht von ihr abstrahiert. Wir haben als Geisteswissenschaftler keine anderen Sonden als uns selbst. Wir untersuchen den Fluß, in dem wir schwimmen, ja, der durch uns hindurchfließt, indem wir nicht nur mit unserem gesamten Wissen, sondern auch mit unserer gesamten Erfahrung verstehen und dabei auf sie reflektieren. Vertreter der Humanities erforschen kein Konstrukt jenseits ihrer Praxiswelt, aus der sie temporär und partiell als Intelligenzen austreten, sondern ihre Lebenspraxiswelt selber. Sie tragen nicht ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in diese Praxiswelt hinüber; sie finden sie hier. Zusammenfassend gilt bei alledem: Sowohl in den Naturwissenschaften wie in den Humanities gibt es keine Voraussetzungslosigkeit, aber verschiedene Weisen der Voraussetzungshaftigkeit. Man kann das verdrängen oder von vornherein nicht zur Kenntnis nehmen, aber solches Verhalten ändert die Sachlage nicht. Verstehen von Personen; Verstehen von Kunstwerken Die Distanz zum Gegenüber ist entschieden anders und größer, wo es sich um das Verständnis von vergangener Geschichte, und erst recht da, wo es sich um das Verständnis von Werken, statt von Personen und ihren Handlungen handelt. 68 Speziell das Kunstwerk oder Kunstereignis bleibt, auch wenn wir uns in es einfühlen, werkhaft gegeben und reagiert nicht wie eine Person. Es bedarf unserer Mitwirkung, um vom Produkt zu einer Art von Gegenüber zu werden. Es fordert ihm gemäße, in ihm provokatorisch angelegte Weltsichten und Reaktionen des Gefühls heraus, besonders dringlich das Theater oder das Kino; aber es zieht uns als Betrachter, sei es als leidenschaftliche Betrachter, nicht als Akteure in sich hinein. Der schön paradoxe Titel der Schillerschen Abhandlung Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792) weist genau auf diese Eigenart: Wir können unsere Erschütterung durch die Tragödie genießen, weil das Kunstwerk und die Bühne nicht unsere unmittelbare Lebenswirklichkeit, sondern eine imaginäre Entwurfswelt vor 481 Die Wahrheit wird euch frei machen uns hinstellen, die keine direkten Konsequenzen hat und uns nicht in sich hineinzwingt, sondern in der tragischen Erschütterung Freiheit des Überblicks läßt. In besonderem Maße gilt das für den verstehenden Wissenschaftler, dem eine hochgradige Differenziertheit, Komplexität, Reflektiertheit und eine dementsprechende Versprachlichung seiner Wahrnehmung des Werks abverlangt ist. Aber ohne die Basisfähigkeit und -willigkeit, sich auf das Werk oder die Aufführung auch emotional und imaginativ einzulassen, wird er wissenschaftlich ein stumpfer Spiegel bleiben; ohne Zurücknahme in gedanklichargumentatives und vergleichendes Abwägen, das gleichermaßen Form wie Inhalt durchdringt, ist er ein Spiegel ohne Tiefenschärfe. Aus Selbstkontrolle fließt auch die Fähigkeit, solche Werke, die von der historischen und individuellen Situation des Betrachters weit abliegen, in ihrem Sosein wahrzunehmen und in ihrer Fremdartigkeit zu erschließen. Was sich in dieser wissenschaftlichen Professionalisierung des Verstehens von Werken im Unterschied zum unreflektierten Literatur- oder Kunsterlebnis durchhält, ist allerdings doch die Grundstruktur: Werke werden nicht als Wirklichkeit unmittelbar, sondern als imaginäre Welten wahrgenommen, aus denen man sich ohne direkte äußere Folgen wieder hinwegbegeben kann, auch wenn sie uns noch so sehr ‚angehen‘ und in uns weiterwirken. Und wenn Werke, etwa ferner Epochen und Kulturen, den Anspruch haben, wissenschaftlich auch und gerade in der Befremdlichkeit ihrer Weltwahrnehmung und -darbietung erfaßt zu werden, ist das nichts als eine Modifikation der Grundgegebenheit des Verstehens, daß der Verstehende sich aufs Spiel setzt, weil im zu Verstehenden immer ein außerhalb unserer Verfügung bleibendes Fremdes Aufmerksamkeit, Achtung und Anerkennung verlangt. Trotzdem: Auch dieses Fremde, eben das Andere des Anderen, kann von uns, auch wissenschaftlich, nur als unser Anderes wahrgenommen werden. Wäre es das nicht, bliebe es außerhalb unserer Wahrnehmung. Und so in doppeltem Sinne ist Verstehen ein Prozeß und Abenteuer, auch das wissenschaftliche. Bleiben geisteswissenschaftliche Urteile Vorurteile? Es sollte mit diesen Überlegungen klar geworden sein, daß die besondere Voraussetzungshaftigkeit verstehender Wissenschaften keineswegs schlicht mit einer Verhaftung in Vorurteilen gleichzusetzen ist. Trotzdem will ich versuchen, das Prozeßhafte des eben Erörterten noch einmal zu verdeutlichen. Beim gelingenden Verstehen kann das in der eigenen Welthaltung gründende Vorurteil zunächst als eine Art Instrument zum Aufspüren dienen. Kein Zweifel, daß der Gegner des Christentums einen besonders aufmerksamen Blick für die Verfehlungen und Verbrechen der Christentumsgeschichte haben kann. Kein Zweifel auch, daß der Christ einen besonders aufmerksamen Blick 482 Geistesgeschichte für die Wirkungskraft des Christentums bis in den säkularen Bereich hinein haben kann. Aber solche Wahrnehmungen sind noch keine Wissenschaft und kein Verstehen. Das Vorurteil verwandelt sich zum Urteil erst in dem Maße, in dem der Sachwiderstand des zu Verstehenden - sozusagen sein Einspruch gegen positive oder negative Vereinnahmung durch mich, sein Anspruch auf seine Eigentümlichkeit - ernst genommen und der Verstehensvorgang plastisch, für Korrekturen jederzeit offen gehalten wird. Noch mehr: Der Rang des wissenschaftlichen Verstehens entsteht dadurch, daß im Hin und Her zwischen bedingungsweiser Identifikation mit dem zu Verstehenden und bedingungsweiser Distanzierung seine Nähe und Ferne, damit seine Eigenart, immer schärfer heraustritt. Am Ende habe ich es nicht in meinen großen Sack gesteckt. Am Ende habe ich als Verstehender an ihm in dem Grade geistige Konturschärfe gewonnen, wie das zu Verstehende durch mein Verstehen Konturschärfe gewonnen hat. Meine Position wird mir klarer, indem mir als Literaturwissenschaftler die Positionierung der literarischen Werke klarer gelingt. Im gelingenden Verstehen verändert sich auch der Verstehende; insofern hat auch das wissenschaftliche Verstehen Begegnungscharakter. Es setzt in Bewegung. Am Beispiel: Ich verstehe Nietzsches Antichristentum tiefer, wenn ich dessen Prägung und Abstoßung im Verhältnis zum Christentum seiner Herkunft erfaßt habe; dafür habe ich durch meine emotionalen und intellektuellen Verankerung im Christentum besondere Voraussetzungen, auf Grund derer ich einen eigentümlichen Gewinn an wissenschaftlicher Gegenstandserkenntnis erzielen kann. Ich verstehe aber auch mein Christentum tiefer, indem ich verstehend durch Nietzsches Antichristentum hindurchgegangen bin. Das ist mein persönlicher Gewinn in meiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Aber es fördert auch wiederum meine wissenschaftliche Tätigkeit, weil in dieser Dialektik mein Leben reicher und differenzierter geworden ist. Ich habe mich als mein Erkenntnisorgan verfeinert. Auf den berühmten Wahnsinns-Zetteln zwischen dem 3. und 7. Januar 1889 unterschreibt Nietzsche mehrfach „Dionysos“ und „Der Gekreuzigte“. Der mag ein braver Christ sein, der in diesem „Gekreuzigten“ diesen „Dionysos“ aufgehen lassen will; aber ein authentischer Wissenschaftler ist dieser Christ nicht. Der mag ein braver Atheist sein, der das Umgekehrte versucht, nämlich diesen „Gekreuzigten“ in diesem „Dionysos“ aufgehen zu lassen, aber ein authentischer Wissenschaftler ist dieser Atheist nicht. Das für Nietzsche Christushafte in dem für ihn Dionysischen und das für ihn Dionysische in dem für ihn Christushaften in ihrem Spannungsverhältnis gilt es zu erkennen, und in der Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Gegenstands können der Forscher mit christlicher Gründung und der Forscher mit antichristlicher Gründung durchaus produktiv und wissenschaftsförderlich zusammentreffen. Freilich ist das ein Idealmodell. 483 Die Wahrheit wird euch frei machen 69 Vgl. L.L. Albertsen, Niels Bohr und Goethe. Zur nichtliterarischen Goethe-Rezeption in Dänemark, in: Goethe-Jahrbuch 104, 1987, 357-359; P. Huber, Naturforschung und Meßkunst. Spuren Goethescher Denkart in der frühen Quantentheorie. (= Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V. Hamburg, 18, 2000. H. 2.). Die Wahrheitsproblematiken in den Naturwissenschaften Soviel für den Bereich der verstehenden Wissenschaften. Für den Bereich der Naturwissenschaften ist noch eigens zu bedenken, daß die Grenze zwischen exakter Erkenntnis und praktischer Einbettung nur im Modellfall so einfach verläuft, wie oben gesagt. Ein Blick in die Geschichte der Naturwissenschaften zeigt, wie sehr Vorannahmen und Deutungen auch exakt erhobene Daten und Ergebnisse überformen und den Wahrnehmungsrahmen beeinflussen können. Das gilt ausdrücklich nicht nur für kirchliche Einflußnahmen und fundamentalistisch christliche Präokkupationen - ich erinnere an den Fall Galilei in der Astronomie oder an die Geschichte der Paläontologie -, sondern auch für Hypothesenbildungen seit der Aufklärung - etwa die mechanistische oder vitalistische Hypothese oder Haeckels Monismus. Wobei der Fall Haeckel zusätzlich deutlich macht, daß in den Naturwissenschaften, auch den modernen, strikt unterschieden werden muß zwischen dem harten Kernwissen des Fachmanns und seinen wissenschaftstheoretisch bewussten oder unbewussten Ausgriffen in philosophische Bereiche wie Ontologie, Erkenntnistheorie oder Ethik (evolutionäre Erkenntnistheorie, evolutionäre Ethik, Positivismus, Empirismus). Jede wissenschaftliche Grenzüberschreitung aus dem Abstraktionsfeld der exakten Erkenntnis heraus unterstellt auch den Naturwissenschaftler den Prämissen der nicht-exakten Wissenschaften, um es möglichst allgemein zu sagen. Der Naturwissenschaftler, der die evolutionäre Erkenntnistheorie vertritt, ist - ob er will oder nicht - Philosoph unter Philosophen und nicht Naturwissenschaftler unter Philosophen. Ja, ich gehe noch weiter: Sobald der exakte Naturwissenschaftler auch im eigenen Bereich über das strikte Erkennen hinaus seine Befunde deutet, ja, schon in der Hypothesenbildung fließen Momente seiner individuellen Weltsicht in seine Wissenschaft ein. Niels Bohrs für die moderne Physik bahnbrechendes Kopenhagener Modell, das mit dem Begriff des „Phänomens“ arbeitet und die Scheidung von Subjekt und Objekt sowie die Geltung der Kausalität relativiert, greift im produktiven Mißverständnis auf Vorstellungen Goethes und - über Bohrs Vater - auf Vorstellungen der romantischen Naturphilosophie zurück. 69 Einsteins Relativitätstheorie trägt, wie ich mir habe sagen lassen, als Theoriegebilde so stark individuelle Züge, daß eine andere Theorie vergleichbarer Reichweite und Leistungsfähigkeit doch eine ganz andere Gestalt haben würde. Schönheit und Eleganz mathematischer und naturwissenschaftlicher 484 Geistesgeschichte 70 E.P. Fischer, Einstein und sein überfordertes Publikum, Berlin u.a. 1996, 21. Theorien sind wissenschaftliche Beurteilungskriterien, die zweifellos nicht nur in der rationalen Leistungs- und Überzeugungskraft begründet sind, sondern zugleich ein Moment emotionaler Befriedigung enthalten, und es ist mannigfach bezeugt, daß der Keim naturwissenschaftlicher oder mathematischer Einsichten nicht selten in bildhaften Vorstellungen, sogar in geträumten Bildern, liegen kann. Für Albert Einstein haben philosophisch-theologische Positionen von Benedict Spinozas Ethica ordine geometrico demonstrata eine entscheidende Rolle gespielt, und frei nach Kant hat Einstein im Alter formuliert: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft blind.“ 70 Und noch einmal spezifisch anders sind die Verhältnisse in der Medizin. Nur im Binnenbereich der medizinischen Forschung kann der Mediziner exakter Naturwissenschaftler sein; als Arzt steht er unter dem ethischen Gebot des Helfens, auch schon in der Wahl seiner wissenschaftlichen Fragestellungen; und als Arzt ist er dem einzelnen Menschen in seiner Individualität und leib-seelischen Konkretheit zugewandt, die sich der naturwissenschaftlichen Abstraktion als ganze nicht erschließen. Bei alledem halte ich es - als Nichtfachmann - für wichtig, trotzdem den grundsätzlichen Unterschied zwischen verstehenden und erkennenden, idiographischen und nomothetischen Wissenschaften festzuhalten, der bei allen Grenzschwankungen doch zuletzt darin bestehenbleibt, daß Verifikation und Beweis im naturwissenschaftlichmathematischen Bereich ohne Einschränkung Allgemeingültigkeit beanspruchen können und müssen, wogegen im geisteswissenschaftlichen Bereich die Verifikation individuell-historische Deutungsspielräume behält, die allerdings nicht durch Apodiktik überdeckt werden dürfen. Mit der Erfahrung von Auschwitz im Nacken, und nicht nur auf Grund der möglicherweise veränderten Quellenlage, muß eine Geschichte des Gaskriegs im Ersten Weltkrieg heute anders aussehen als vorher. Ein nachgeborener Historiker wird anders über den Zweiten Weltkrieg schreiben als ein Kriegsteilnehmer, ein ehemals Begeisterter anders als ein Widerständler. Nur in begrenztem Umfang sind hier Beweise möglich, wohl aber konsensfähige Argumente. Derweise wird Geschichte, und zwar des Geschichtlichen jeder Art, also auch Kunst- und Literaturgeschichte, ständig umgeschrieben, ohne daß frühere herausragende Darstellungen Rang und Bedeutung verlören. Das Gewesene verändert sich in der Wahrnehmung durch das Medium unserer Erfahrungen; die sich verändernde Gegenwart verändert die Geschichte. Walter Benjamin hat davon gesprochen, daß die Güter der vergangenen Kultur den Siegern im Klassenkampf in die Hände fallen - eine marxistische Version dieser Einsicht. Und das durch Geschichtsschreibung sich ver- 485 Die Wahrheit wird euch frei machen 71 Vgl. R. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, auf Grund der Ausg. von A. Buchenau neu hg. von L.Gäbe, durchgesehen von H. G. Zekl, Hamburg ²1977, 53. Zum Zusammenhang vgl. T. Böning, Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, Berlin u. a. 1988, 63ff. D.R. Hofstadter hat in seiner international aufsehenerregenden Studie: Gödel, Escher, Bach. An Eternal Golden Braid, New York 1979, dt.: Gödel, Escher, Bach. Ein endloses geflochtenes Band, Stuttgart 1985, den von mir hier angesprochenen Graben in etwas anderer Weise zitiert: „Es gibt eine berühmte Kluft zwischen subjektiver und objektiver Sprache, zum Beispiel die ‚subjektive‘ Empfindung von ‚rot‘ und die ‚objektive‘ Wellenlänge des roten Lichts. Viele Menschen sehen diese beiden Sprachen als auf alle Zeiten unvereinbar an. Ich glaube das nicht.“ Dieser Unglaube Hofstadters beruht allerdings lediglich auf Vermutungen: „Die subjektive Empfindung von ‚rot‘ kommt von einem Strudel der Selbstwahrnehmung im Gehirn“, meint Hofstadter, während er die objektive Wellenlänge des roten Lichts auf die physikalischen Gesetze zurückführt: „Wir sollten daran denken, daß es physikalische Gesetze sind, die das bewirken.“ Lassen wir beiseite, daß physikalische Gesetze nicht bewirken, sondern beschreiben. Wichtiger ist, daß der „Strudel der Selbstwahrnehmung“ in der subjektiven Empfindung ‚rot‘ durch etwas erzeugt wird, was nicht Selbstwahrnehmung ist, und daß die physikalischen Gesetze sich einem spezifisch naturwissenschaftlichen Wahrnehmungsmodus innerhalb gesetzter Rahmenbedingungen verdanken, die unhintergehbare Subjektivität und damit Selbstwahrnehmung ausschließen. Deshalb können diese Sachwahrnehmungen nicht zur Selbstwahrnehmung in ihrer Koppelung an lebenspraktische Gegenstandswahrnehmung vermittelt werden - der Graben ist unüberschreitbar (alle Zitate in der deutschen Ausgabe, 757). ändernde Geschichtsbild gewinnt als bewußtseinsbildend wiederum Einfluß auf den zur Zukunft offenen Geschichtsprozess - dieses allerdings nun wieder eine Gemeinsamkeit mit der Zukunftsträchtigkeit und praktischen Konsequenz, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse in höchstem Maße haben. Aber sie haben es in ihrer Stabilität und in ihren exakten Ergebnisvoraussagen, historische Einsichten dagegen in ihrer Teilhabe am geschichtlichen Fluß, also in einer grundsätzlich anderen Weise. Weil das für mich der springende Punkt ist, wiederhole ich deshalb: Bei den Humanities ist die Voraussetzung in der Wissenschaft die historische und individuelle Perspektivik des Erkennens. Bei den exakten Naturwissenschaften ist die Voraussetzung in der Wissenschaft die Zubereitung des Erkenntnisgegenstands durch Abstraktion. Im Vorbeigehen verweise ich dafür auf die zweite der sechs grundlegenden Meditationes de prima Philosophia des René Descartes von 1641, der mit seinem Denken die Wendung zu den modernen Naturwissenschaften grundgelegt hat. Descartes beschreibt zunächst sensibel den Hauch von Honiggeschmack, von Blumenduft, die taktilen Qualitäten einer Wachsscheibe, läßt diese dann am Feuer schmelzen, so daß alle vorher beobachteten Qualitäten verschwinden, und behauptet am Ende zuversichtlich, trotz des Verlusts aller vorher festgestellten sinnlichen Qualitäten bleibe das Wachs Wachs. 71 Das gilt im naturwissenschaftlichen Sinn, im Sinne naturwissenschaftlicher Abstraktion gewiß, aber nicht im Erlebnissinn, der das praktische Leben auch des Naturwissenschaftlers trägt. Man könnte im Weintrinkerland Baden auch 486 Geistesgeschichte 72 Vgl. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, J. Winckelmann (Hg.), Tübingen ²1951, 566-597, hier 582ff. 73 Vgl. ders., Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, 475-526, hier: 475 u. ö. sagen: Keine noch so exakte chemische Geschmacksanalyse wird den tatsächlich hier und jetzt von mir und keinem anderen geschmeckten Geschmack erreichen, auch nicht den Geschmack dessen, der soeben den Wein analysiert hat oder ihn gleich analysieren wird. Um diesen unüberbrückbaren Sprung zwischen wissenschaftlichem Beschreiber und erlebendem Ich geht es. Der geschmeckte Geschmack wird allemal unerreichbar im Hintergrund der chemischen Analyse bleiben. In diesem Sinne ist und bleibt auch dem Naturwissenschaftler als Naturwissenschaftler Natur unzugänglich. Gewiß kann im Fragefeld der Naturwissenschaften morgen bewiesen werden, was heute Vermutung bleibt, aber der hier aufgezeigte Graben bleibt immer gleich. Man kann naturwissenschaftliche Empirie nicht bis zu meiner und deiner Lebenserfahrung, erst recht nicht zu meiner und deiner Selbsterfahrung vorantreiben. Und schon gar nicht kann auf Beweisführungswegen die Region der begründenden Lebenswahrheiten verkleinert werden, denn sie ist kein weißer Fleck auf der Landkarte des wissenschaftlichen Denkens, sondern eine andere Sphäre. Max Webers Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft Als Geisteswissenschaftler möchte ich zum Abschluß dieser wissenschaftstheoretischen Überlegungen noch den Blick auf eine Position werfen, die bis heute in der Diskussion der Voraussetzungshaftigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis eine erhebliche Rolle spielt. Ich meine Max Webers Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft. Zunächst einmal ist festzustellen, daß Wertfreiheit bei Weber nicht Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft meint. Vielmehr spricht er selbst von Voraussetzungen der Wissenschaft, und zwar in Hinblick auf die Sinnfrage von Kulturerscheinungen, also auch der Wissenschaft selbst, die man nach Weber wissenschaftlich nicht beantworten könne - so in der berühmten Orientierungsrede „Wissenschaft als Beruf“ vor Studenten der Münchner Universität im Winter 1918. 72 Weiter versteht Weber seine Forderung nach Wertfreiheit als praktisch, nicht wissenschaftstheoretisch. Denn laut Weber enthält diese Forderung selbst schon eine Wertung, und deshalb kann wiederum laut Weber nicht wissenschaftlich über sie entschieden werden. 73 Die Wissenschaft hat nach Weber kein Instrumentarium, um wissenschaftlich zu begründen, ob und welchen Sinn sie hat und ob und wie sie sich in ihrer Aufgabe bestimmt und begrenzt. Demgemäß fordert er vom Wissenschaftler als Wissenschaftler nicht 487 Die Wahrheit wird euch frei machen 74 Vgl. ders., Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, 146-214, hier: 151. 75 Ders., Wissenschaft als Beruf, 586. 76 Ders., Die „Objektivität“, 152. eine Theorie, sondern ein Ethos und ein Programm des Nicht-Wertens. Zwar halte ich schon diese Forderung für letztendlich unerfüllbar, und auch Weber selbst ist hier skeptisch, aber man könnte sie vielleicht näherungsweise einlösen, wenn man ihren Geltungsbereich auf bewußte Wertungen als Entscheidungsdirektiven im Praxisbereich einschränkte. Denn Wertungen als bewußte Akte kann man sistieren, Handlungs- und Verhaltenskonzepte von Erkenntnisakten scheiden, praktische Nutzanwendungen ebenso wie Sinnfragen dahingestellt sein lassen. Aber das ist ja nur die Spitze eines Eisbergs. Darunter liegen die in unser Lebensverhältnis unlösbar verwobenen impliziten Wertungen, die unbewußten oder halb bewußten Vorgaben unseres Denkens und Erkennens, die es im Bereich der Geisteswissenschaften nicht nur trüben können (das konzediert Weber) 74 , sondern von vornherein als perspektivisch konstituieren. Diese Dimension der Erkenntnisproblematik ist von Weber durch das Postulat der Wertfreiheit aus dem Raum der Wissenschaft hinausverlagert. Seine Forderung, wissenschaftliche Erkenntnis und Wertung strikt von einander zu scheiden, setzt jedenfalls zweierlei voraus: erstens die prinzipielle Trennbarkeit von wissenschaftlicher Empirie und Wertung. Diese behauptet Weber rigoros bis zu dem Satz: „Ich erbiete mich, aus den Werken unserer Historiker den Nachweis zu führen, daß, wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, das volle Verstehen der Tatsachen aufhört.“ 75 Korrespondierend ist die zweite Voraussetzung Webers, daß Wertung in die Zuständigkeit der „Persönlichkeit“ fällt. Sie gründet für ihn in den höchsten und letzten Maximen, die „unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben“. Wertungen sind also nicht vollständig logisch herleitbar und durchargumentierbar, was natürlich nicht ausschließt, daß sie argumentativ abgestützt werden können. Grundsätzlich aber sagt Weber: „[…] die Geltung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin […]“. 76 Wenn ich von Wahrheiten der Lebenspraxis im Vorfeld der Wissenschaft spreche, sehe ich mich hier näher bei Weber als solche Kritiker, die glauben sollten, Weber gegen mich ins Feld führen zu können. Tatsächlich gehen die Fragen, die Weber im Innersten bewegen und ihm seine wissenschaftliche Leidenschaft geben, über praktisch begrenzte oder begrenzbare Erkenntnis-, Entscheidungs- und Handlungsspielräume in Spezialwissenschaften wie Nationalökonomie oder Soziologie weit hinaus. 488 Geistesgeschichte 77 W. Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen, Tübingen 1996, 99. 78 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, 596. Der große Freiburger Max-Weber-Forscher Wilhelm Hennis hat die Einsicht verbreitet, daß in Webers Forschungen ein anthropologisches Interesse grundlegend ist: Wie formt sich der Mensch unter gegebenen Umständen aus? „[…] es ist Webers eigentliches Thema, das, was ihn wie nichts sonst umtreibt: Gibt es noch einen intellektuell verantwortbaren Weg, die Menschen innerlich zu erwecken […]? “ 77 Niemand wird behaupten wollen, daß es eine Vorstellung vom Menschen, ja, eine „Erweckung“ - Hennis verwendet einen pietistisch geprägten Begriff! - geben kann ohne ein immanentes Ensemble von Wertungen. Die Frage nach dem Menschen als historischem Wesen ist eo ipso wertorientiert. Vielleicht könnte man die These wagen, daß gerade hier Webers Dilemma und auch seine Größe als Wissenschaftler liegen: daß das, was Hennis Webers „eigentliches Thema“ nennt, gemäß Webers Wissenschaftsethos und Wissenschaftsverständnis ein wissenschaftliches Thema nicht ist, daß Weber aber, eben, weil er weit mehr als ein wissenschaftlicher Facharbeiter mit klinisch reiner Fragestellung war, immer wieder über die selbst gesetzte Grenze hinausdrängte. Er weist deshalb in seinen Schriften eine besonders große Amplitude des Argumentierens zwischen spezialistischer Sachanalyse, panoramischer Deutung, wissenschaftstheoretischer Erörterung und ethischem Appell auf. Gerade die wirkungsvollste Formulierung seines Wertfreiheitspostulats, die schon zitierte Rede „Wissenschaft als Beruf“ von 1918, am Ende der Wilhelminischen Epoche, entfesselt Bekenntnisse von Kulturpessimismus, Schicksalsgefühl und Verkündung der Manneswürde: „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit […]. Wer dies Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen kann, dem muß man sagen: Er kehre lieber, schweigend, ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirche zurück. Sie macht es ihm ja nicht schwer. Irgendwie hat er dabei - das ist unvermeidlich - das ‚Opfer des Intellekts zu bringen‘, so oder so.“ 78 In solchen Sätzen agiert sich eine tragische Welt- und Wissenschaftsanschauung aus, wie sie sich beiläufiger und weniger steil schon in Doves mehrfach erwähntem Brief an Theodor Lorenz von 1871 mit der Absage des Wissenschaftlers an den christlichen Seelenfrieden formuliert findet. Doch eine wissenschaftliche oder wissenschaftstheoretische Aussage sind diese Sätze Webers ebenso wenig wie seine apodiktische, an Nietzsche angelehnte Behauptung bei gleicher Gelegenheit, die Wissenschaft sei „die spezifisch gottfremde Macht. Daß sie das ist, darüber wird - mag er es sich zugestehen oder 489 Die Wahrheit wird euch frei machen 79 Ebd. 582. nicht - in seinem letzten Innern heute niemand in Zweifel sein. Erlösung von dem Rationalismus und Intellektualismus der Wissenschaft ist die Grundvoraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft mit dem Göttlichen.“ 79 Gerade die Berufung auf die Zeitgeistmeinung, gerade die Beteuerungsformel, darüber werde niemand im Zweifel sein, läßt um so stärker hervortreten, daß es sich hier nicht um Problemerörterungen, sondern um pathetisch vorgetragene Meinungsdeklarationen handelt. Der schneidenden Schärfe Nietzsches ist dabei ein akademischer Dämpfer aufgesetzt, das Christentum wird nicht als Lüge verdammt, aber dem unbedingten Wahrheitswillen der Wissenschaft als Sedativ gegenübergestellt. Weber spricht hier nicht von Wissenschaft als Beruf, vielmehr vom Forscher als zur Einsamkeit entschlossenem Übermenschen, um den - frei nach Nietzsche - die Wüste wächst. Christentum und Wissenschaft Und damit sind wir wieder bei der Frage Christentum und Wissenschaft. In dem eben skizzierten Raum der lebenspraktischen und personalen Grundierung auch des wissenschaftlichen Verhaltens kann das Christus-Wort von der Wahrheit, die uns frei machen wird, in seinem authentischen Gehalt maßgeblich sein, wenn wir uns von ihm ergreifen lassen. Wie das? Ich habe eingangs auf Joh 14,6 verwiesen, die Selbstprädikation Christi: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Dieses Wort erregt bis heute immer wieder Ärgernis als vermeintlicher Ausdruck christlicher Intoleranz. Dabei ist sein Anstoß primär ein anderer. Christus bezeichnet sich hier zunächst einmal als weghafte Wahrheit - im Gegensatz zur Wahrheit eines logischen Schlusses. Das Erfahrungshafte wird dadurch unterstrichen, daß das Prädikat „bin“, griechisch „eimi“, im Jüdisch-Aramäischen eher dynamisch zu verstehen ist: „ich geschehe als …“. Christus als Wahrheit hat einen Ereignischarakter, der erfahren werden muß, und das nicht auf der Landkarte. Darüber hinaus erscheint zu erfahrende Wahrheit hier nicht als Qualität einer Aussage, sondern als Qualität des Aussagenden. Alle Wahrheit ist in ihm; alle Wahrheit geht von ihm aus. Das ist einerseits viel mehr als der Anspruch, die Wahrheit über etwas zu sagen, ja, es ist geradezu eine Ungeheuerlichkeit: Christus sagt nicht die Wahrheit; er ist die Wahrheit. Aber andererseits ist das auch etwas anderes, als der Anspruch, die Wahrheit über etwas zu sagen oder zu wissen. Christus ist die Wahrheit, die er als sich Bekundender ist, die in ihm erscheint. Sie steht in keinem Ausschließungsverhältnis zu anderen Wahrheitsansprüchen, denn sie steht auf einer Ebene 490 Geistesgeschichte 80 Vgl. P. Tillich, The new Being[…] as Love,[…] as Freedom […] as Fulfilment, London, SCM Press Ltd. ²1959; 8: „What is truth? “, 63-74, hier: 70. Tillich (65) versteht Joh 8,32 als Antwort des Johannes-Evangeliums auf die zentrale Frage des griechischen Geistes, Christus in den Mund gelegt. Die Umdeutung des Diktums zur Formulierung des griechischen Wahrheits-Ethos wäre dann eine genaue Sinnumkehr. Zum Schluß noch ein Hinweis: Auch ein anderer herausragender Bau des geistigen Lebens in Freiburg in zeitlicher Nachbarschaft zum neuen Kollegiengebäude, das 1912 eingeweihte Verlagsgebäude des Herderverlags, trägt im Giebelfeld ein Motto nach dem Johannes- Evangelium: „Geist schafft Leben“. Es wurde aber erst bei Beseitigung der Kriegsschäden des Zweiten Weltkriegs angebracht. Nach mündlicher Mitteilung des Verlegers Dr. Hermann Herder legte sein Vater Theophil Herder-Dorneich Wert auf den Nachweis „nach Joh 6“, obwohl hier nur ein freies Zitat vorliegt und nicht ein wörtliches, wie beim nachweislosen Universitätsmotto. Es sollte deutlich gemacht werden, daß hier nicht „der Herren eigner Geist“ gemeint sei. für sich. Diese Wahrheit ist in ihm und nur in ihm gegeben, und wo er nicht statuiert wird, ist diese Wahrheit nicht und wird auch nicht entbehrt. Man weiß gar nichts von ihr. Es gehört zu den genialen Details der Passionserzählung des Johannes, daß derselbe Statthalter Pilatus, der im Verhör Jesu skeptisch fragt, was Wahrheit sei, es wenig später zumindest zu ahnen scheint - als er dem Volk den gegeißelten Christus mit den Worten vorstellt, die Luther als: „Sehet, welch ein Mensch! “ übersetzt (Joh 19,5), die aber wörtlich, mit bestimmtem Artikel, zu übersetzen wären: „Siehe da, der Mensch.“ Sinngemäß ist das eine Wahrheitsaussage: Das ist wahrhaftig der Mensch. Der Mann, der an der philosophischen Wahrheit zweifelt oder an dem, was er dafür hält, statuiert sie nun als menschliche. Der Sprung von: das ist in Wahrheit der Mensch! zu: das ist die Wahrheit als Mensch! wäre der Rückbezug auf den fleischgewordenen Lógos, der Sprung in den Glauben. Wo das als Letztwahrheit statuiert wird, ist diese Wahrheit - potentiell, und gewiß nicht in der durchgehenden Realität dessen, was Kirchen- und Glaubensgeschichte aus ihr gemacht haben - der genaue Gegensatz zu allem Wahrheitsdogmatismus, auch dem christlichen. Hätte Christus ein Gebäude aus Lehrwahrheiten errichtet und gepredigt, hätte Christus die Wahrheit nur gewußt und gesagt, dann hätte er ein neues Gesetz gegeben. Paul Tillich äußert sich darüber in einer Predigt sinngemäß: Gerade weil Christus die Wahrheit ist, ist er mehr als alle seine Worte und alle Worte über ihn. Die Wahrheit, die uns frei macht, ist weder Jesu Lehre noch sind es die Lehren über Jesus. Jesu Lehren zeigen auf die Wahrheit, die er ist. Die Wahrheit, die den Christen frei macht, ist diese in Christus, auf die hin er sich in Bewegung setzt, auch wenn und weil er schon in ihr ist und aus ihr herkommt. 80 Diese Wahrheit legt ihre Personhaftigkeit so offen, daß jede Verwechslung mit Erkenntniswahrheiten und Lehrsatzwahrheiten unmöglich sein sollte - sowohl dem Christen wie dem Nichtchristen. Die Wahrheit Christi ist dem Anspruch nach auch von der menschlichen Wahrheit der Lebenspraxis, von der eben die Rede war, kategorial verschie- 491 Die Wahrheit wird euch frei machen den. Es ist keine Lebenswahrheit des Menschen, sondern für die Menschen. Unsere Lebenswahrheit können wir durch Bewahrheitung allenfalls tendenziell gewinnen, wir können uns nach ihr ausstrecken, aber wir können sie nicht sein. Und wären wir sie, wären wir immer noch nur unsere Wahrheit. Die Wahrheit Christi aber beansprucht, Wahrheit für alle zu sein, die sie annehmen. Denn, wie schon biblisch belegt, die Wahrheit Christi tritt als letztlich identisch mit dem Leben und - füge ich im Blick auf das Neue Testament gesamthaft hinzu - der Liebe selber auf. Daß das, woraus wir leben, das, was unseren Wissensmöglichkeiten vorgängig ist, in seinem Kern als Liebe gedeutet werden kann, mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, aber fragen wir einmal nicht nach dem Bild der Wirklichkeit, in der wir täglich erwachen, sondern nach dem Grund unserer Existenz, der uns den Blick in die Wirklichkeit ermöglicht und auferlegt, dann ist festzustellen: Wir wären nicht Person und damit Mensch geworden, wären wir nicht in einen noch so kleinen und zerbrechlichen Raum menschlicher Wärme und Fürsorge hinein geboren - das gilt auch für den größten Pessimisten und Nihilisten und Egoisten. Wir hätten nicht sprechen gelernt, wäre uns nicht Sprache zugesprochen worden. Wir könnten nicht lieben, hätten wir nicht immer schon Liebe erfahren. Die von Christus verkündete und in Christus erscheinende Wahrheit anzunehmen, heißt, Gott als umfassende Liebe wahrzunehmen. Der Wahrheit, die zu sein Christus aussagt, kann man sich öffnen oder man kann sie ablehnen. Dem sich Öffnenden sagt sie eine Freiheit zu, die auch dem Wissenschaftler viel verspricht. Was die Bibel Sünde nennt, entspringt der Befangenheit in uns selbst und der Lebensangst. Die Schlange der Sündenfallerzählung verheißt göttliches Letztwissen, das Mißtrauen und Angst auflösen soll, die sie doch selber erst erweckt hat. Das ist tiefsinnig auch für den Wissenschaftler. Die Intention, Totalwissen als absolutistisches Verfügungswissen zu erlangen, liefert uns einer totalitären Wissenschaftsgläubigkeit aus, die doch nur eine angstbesetzte, Ergebnisse erpressende und kurzschließende, lebenspraktische Verantwortung überspielende Ideologie ist, die uns für unsere Grenzen blind macht. Stattdessen ist es uns angemessen, theoretisch und methodisch zu unterscheiden: das Nichtwißbare und das Wißbare, die praktische und die theoretische Wahrheit, den Konstruktcharakter der naturwissenschaftlichen Forschungsgegenstände und die Perspektivik geisteswissenschaftlicher Erkenntnis. Es ist wissenschaftlich, die Voraussetzungshaftigkeit der Wissenschaft zu bedenken Noch einmal möchte ich am Ende den Historiker Alfred Dove als Repräsentativ- und Kontrastfigur aufrufen: In seiner schon genannten polemischen 492 Geistesgeschichte Rezension von David Friedrich Strauß’ Abhandlung Der alte und der neue Glaube, bei der er sich seltsamerweise noch einmal mit Nietzsche trifft, und zwar mit der Ersten unzeitgemäßen Betrachtung von 1873, „David Strauß - der Bekenner und Schriftsteller“, verflechten sich zwei Grundüberzeugungen Doves: erstens, daß es die Wissenschaft dahin gebracht hat, objektiv zu sein, und zweitens, daß es eine Geschmacklosigkeit für den Gebildeten sei, Glaubensfragen ans Tageslicht zu zerren. Beide Positionen Doves gehören zusammen wie Vorder- und Rückseite einer Münze: Nur wenn die Wissenschaften voraussetzungslos wären, wäre die Erörterung der individuellen Voraussetzungen, also auch des Glaubens, im Theorieraum überflüssig und vielleicht auch indiskret. Wenn es aber Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft nicht gibt, dann stehen die Voraussetzungen auch grundsätzlich zur Debatte. Das Beschweigen der Probleme ist unzeitgemäß und löst sie nicht, und Geschmacksurteile sind dann fehl am Platze. Speziell der Vertreter der Humanities erweist Wissenschaftlichkeit nicht durch den Gestus einer Scheinobjektivität, welche die Standortgebundenheit seines Denkens überspielt, sondern durch die Reflexion darauf. Dieses Postulat gilt keineswegs nur für den Christen, sondern für jeden Wissenschaftler. Das heißt natürlich nicht, daß jeder Publikation eine Erörterung der eigenen Verstehensperspektivik vorausgehen müßte; das ist grundsätzlich, aber nicht immerzu zu leisten. Ein Physiker muß erklären können, warum ein Flugzeug fliegt, aber er muß es nicht bei jedem Flug seinem Nachbarn klarmachen. Im Sinne solcher Grundsätzlichkeit verstehe ich diese Überlegungen. Sie sind kein Glaubensbekenntnis, durch das ich mich als Christ „oute“. Sie sind vielmehr Überlegungen zur Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft, insbesondere verstehender Wissenschaft. Sie sind der Versuch, die Voraussetzungshaftigkeit jeder Erkenntnis und so auch meiner eigenen Erkenntnis zu reflektieren, die in unserem wissenschaftlichen Alltag meist beschwiegen wird, als sei es etwas, worüber der feine Mann nicht spricht. Wozu kann das Christus-Wort den Wissenschaftler frei machen? Soviel zu dem, wovon das Christus-Wort über der Aula der Freiburger Universität den Wissenschaftler frei zu machen verheißt: vom Wahn der absoluten Erkenntnis, vom Allwissenheits- und Verfügungswahn und vom Wahrheitsdogmatismus. Und wozu will es Wissenschaftler frei machen? Die Freiheit, die Christus als Ergebnis seiner Wahrheit verheißt, ist Liebesfähigkeit, Kraft, Offenheit, Versöhnungsbereitschaft gegenüber uns und anderen. Das ist eine Freiheit, die sich sehr wohl eignet als Voraussetzung für wissenschaftliche Erkenntnis und den Umgang mit ihr. Ruhige, hingebungsvolle Aufmerksamkeit auf das andere und den anderen, das Hinübergehen zu dem, das uns in seinem Eigenrecht „angeht“, Lösung der Selbstbestätigungs- und 493 Die Wahrheit wird euch frei machen Selbstrechtfertigungszwänge, Mut, eigene Irrtümer und Grenzen zu erkennen, Öffnung des Blicks für das Neue und immer Neue und Unerwartete, das uns von der Verhaftung in uns wegruft - die herrliche Freiheit des Wissenschaftlers zur liebevollen Rundum-Neugier kann durchaus in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes entspringen und ruhen, die das Universitätsmotto verkündet. Anhang Nachweis der Erstveröffentlichungen Theodizee als biblisch erzählte Geschichte. Zeitschrift für Theologie und Kirche. 102. Jg. Februar 2005. S.115-142 Volkszählung und Gottesgeburt. Überlegungen zu Weihnachten. Geist und Leben. Zeitschrift für christliche Spiritualität. 75. Jg. H. 6. Nov./ Dez. 2002. S.401-409 (Erweiterter Text) Gerhard Tersteegens Lied „Gott ist gegenwärtig“. Von der prophetischen Vision zur pietistischen Betrachtung. Erstdruck unter dem Titel: „Gott ist gegenwärtig“. Ein Kirchenlied von G. T. In: Weg und Weite. Festschrift für Karl Lehmann. Hg. Alfred Raffelt unter Mitwirkung von Barbara Nichtweiß. Freiburg i.Br., Basel, Wien 2001. S. 221-229 War der Exodus der Sündenfall? Fragen an Jan Assmann. Zeitschrift für Theologie und Kirche. 98. Jg. Heft 1. März 2001. S. 1-24 Christentum und säkulare Literatur. Stimmen der Zeit. 123. Jg. Heft 1. Januar 1998. S. 3-16 Aufklärung und Christentum in Lessings „Nathan der Weise“. Theologische Zeitschrift. Hg. von der Theologischen Fakultät der Universität Basel . 63. Jg. Heft 4. 2008. S. 358-380. (Rechte beim Verlag Friedrich Reinhardt, Basel) Erlösung Tod. Eine Unterströmung des 19. Jahrhunderts in Raabes „Unruhige Gäste“ und Meyers „Die Versuchung des Pescara“. Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1997. S. 1-17 Christliche Lyrik heute? Die Gedichte Christian Lehnerts. Geist und Leben. Zeitschrift für christliche Spiritualität 80. Jg. März/ April 2008. S. 87-98 Theologisierung der Kunst oder Ästhetisierung Gottes? Zu George Steiners polemischem Essay „Von realer Gegenwart“. Frankfurter Rundschau 7.5.1991. (Forum Humanwissenschaften. Erweiterter Text) Polarität von Mann und Frau. Ein kulturelles Konzept und was aus ihm zu retten ist. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 51. Jg. Heft 6. Juni 1997. S. 496-509 Kannitverstan oder: Über den Vorteil, keine Fremdsprachen zu sprechen. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Hg. Ulrich Stadler. Stuttgart, Weimar 1996. S. 399-408 Wandrer und Idylle im Werk Goethes, speziell im „Faust“. Goethe-Jahrbuch. 120. Bd. 2003. S. 29-43 (erschienen 2004) (Teils erweiterter, teils gekürzter Text) 498 Anhang Noch einmal Wandrer und Idylle. Zur Helena-Handlung in Goethes „Faust II“. Erstdruck unter dem Titel: Wandrer und Idylle. Antezedenzien und Konsequenzen der Helena-Handlung in „Faust II.“ In: „... auf klassischem Boden begeistert“ Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. FS für Jochen Schmidt zum 65. Geburtstag. Hg. O. Hildebrand, Th. Pittrof. Freiburg i.Br. 2004. S. 191-212 Lazarus als Lyriker. Über die Gedichte Heinrich Heines. Heine-Jahrbuch 2004. 43. Jg. S. 62-98 Experimentieren oder Erzählen? Zwei Kulturen in Gottfried Kellers „Sinngedicht“. Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft. 45. Jg. 2001. S. 278-301 Soziale Welten im Wassertropfen. Fontanes realistisches Erzählen. Unanfechtbare Wahrheiten gibt es nicht. Freiburger Philologen zum 100. Todestag Fontanes. Freiburg 1998. S. 34-43 Thomas Manns „Wälsungenblut“ und Richard Wagners „Ring“. Erzählen als kritische Interpretation. Thomas Mann Jahrbuch. Bd. 12. 1999. S. 239-258 Günter Eich: „Inventur“. Poetologie am Nullpunkt. Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln, Weimar, Wien 2003. S. 268-285 Endspiel im Tessin. Max Frischs unentdeckte Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. Schweizer Monatshefte. 82./ 83. Jahr. Heft 12/ 1 Dez./ Jan. 2002/ 2003. S. 46-52 Politische Ideologie und literarische Qualität. Erstdruck unter dem Titel: Stahlblick und Grauen. Politische Ideologie und literarische Qualität. In: Neue Zürcher Zeitung 17. 6. 2000. Aquarelle im Krieg. Der Soldat Karl August Hanke zeichnet und aquarelliert in Rußland 1941-1946. Zur politischen Bedeutung des Privaten im NS- Staat. Erstdruck unter dem Titel: Aquarelle im Krieg. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 47. Jg. H. 3. 1993. S. 1049-1069 Wie die Kultur einbrach. Giftgas und Wissenschaftsethos im Ersten Weltkrieg. Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 56. Jg. H. 3. März 2002 : S. 210-220 Vertreibung des Geistes? Nur die Geisteswissenschaften können nach dem Menschen fragen, der naturwissenschaftliche Fragen stellt. Erstdruck unter dem Titel: Vertreibung des Geistes. Nur die Geisteswissenschaften können den Menschen in seinen Widersprüchen erfassen. Zum Abschluß der „Welt“-Serie. In: Die literarische Welt 28.4. 2001 (Erweiterter Text) Die Wahrheit wird euch frei machen. Die Freiburger Universitätsdevise - ein Christuswort als Provokation der Wissenschaft. Erstdruck unter dem Titel: Die Wahrheit wird euch frei machen. Die Freiburger Universitätsdevise - ein Glaubenswort als Provokation der Wissenschaft. In: Welche 499 Auswahl weiterer Veröffentlichungen seit 1990 Wahrheit braucht der Mensch? Wahrheit des Wissens, des Handelns, des Glaubens. Freiburg i.Br. 2003. S. 47-103 ( = Tagungsberichte Der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg i. Br. Hg. Ludwig Wenzler). Alle Beiträge sind überarbeitet. Bisher ungedruckte Beiträge: Der Auftritt des Gewissens in der Bibel und in der antiken Tragödie Das Erzählen ist die Handlung. „Der Mann an Noahs Fenster“ in „Starlite Terrace“ von Patrick Roth „mein eigentum und mir unendlich fern.“ Zum Dichter Stefan George Auswahl weiterer Veröffentlichungen seit 1990 Augenblicke deutscher Lyrik. Gedichte von Martin Luther bis Paul Celan interpretiert durch Gerhard Kaiser. 4. Auflage. Frankfurt a.M. 1991 (Insel Tb 978) Mutter Natur und die Dampfmaschine. Ein literarischer Mythos im Rückbezug auf Antike und Christentum. Freiburg i.Br. 1991 Lessings „Nathan der Weise“. Glaube, Liebe, Hoffnung: Der Grund des Toleranzdramas. In: Pastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft. 80. Jg. 1991/ 92. S. 568-584 Fitzcarraldo Faust. Werner Herzogs Film als postmoderne Variation eines Leitthemas der Moderne. (= Themen - Eine Privatdruck-Reihe der Carl Friedrich von Siemens Stiftung Nr. 53). München 1993 Karl August Hanke, Gerhard Kaiser: Bilder im Krieg - Menschen im Krieg. (Bilder: Karl August Hanke. Vorwort: Gerhard Kaiser) Sankt Gallen, Freiburg i.Br. 1994 Ist der Mensch zu retten? Vision und Kritik der Moderne in Goethes „Faust“. Freiburg i.Br. 1994 (Italienische Übersetzung: Faust o il destino della modernità - a cura di Aldo Venturelli. Übersetzt von Luca Crescenti. Milano 1998.) Begegnung zwischen Gott und Mensch. Der Brief vom 10. Mai in Goethes „Werther“, Ovids „Metamorphosen“ 3, 256 ff. und Exodus 33,17 ff. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche. 91. Jg. 1994. Heft 1. S. 97-114 Kann man nach der Wahrheit des Christentums fragen? In: Zeitschrift für Theologie und Kirche. 92. Jg. 1995. H.1. S. 102-120 500 Anhang Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Ein Grundriß in Interpretationen. 3 Bde. 2. Auflage Frankfurt a.M. 1996 (1. Aufl. 1988 [Von Goethe bis Heine]; 1991 [Von Heine bis zur Gegenwart]) Friedrich Hölderlin: Hymne an die Freiheit. In: Interpretationen. Gedichte von Friedrich Hölderlin. Hg. Gerhard Kurz. Stuttgart 1996. S. 31-47 Aufklärung oder Denunziation? Zur Ausstellung „Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 50. Jg. 1996. S. 455-459. Mehrfach nachgedruckt, u.a. in: Heribert Prantl (Hg.): Wehrmachtsverbrechen. Eine deutsche Kontroverse. Hamburg 1997, S. 52-60 Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart. Freiburg i. Br.1997. 2. Aufl. 1999 Idee oder Körper. Zu Schillers und Goethes Rezeptionsweise antiker Plastik. In: Antiquitates Renatae. Deutsche und französische Beiträge zur Wirkung der Antike in der europäischen Literatur. Festschrift für Renate Böschenstein zum 65. Geburtstag. Hg. Verena Ehrlich-Haefeli u.a. Würzburg 1998. S. 165-176 Schillers Einspruch gegen den Kunstraub der Weltmächte. Zur Bedeutung der Ästhetik für ein rechtliches Problem. In: Kunstraub - ein Siegerrecht? Historische Fälle und juristische Einwände. Hg. Volker-Michael Strocka. Berlin 1999. S. 41-46 Der Neue Himmel und die Neue Erde im Gedicht. In: Wissenschaft als Kunst denken - Wissenschaft als öffentliche Aufgabe. Hörsaal Holzen 5. 2000. S. 11-34 Gottfried Keller. Das Sinngedicht. Novellen. Mit einem Essay von Gerhard Kaiser. Frankfurt a.M. 2000: Insel (Tb) , S. 303-335 Goethe - Nähe durch Abstand. Vorträge und Studien. Jena, Weimar 2000. 2. Aufl. 2001. (= Collegium Europaeum Jenense. Kulturwissenschaftliche Reihe) Rede, daß ich dich sehe. Ein Germanist als Zeitzeuge. Stuttgart, München 2000 Sand im Getriebe. Mehrdimensionale Bedeutungen in Bibel und Literatur. In: Das Plateau. Die Zeitschrift im Radius-Verlag. 78. 1. August 2003. S. 4-24 Philosophie als Literaturkritik. Zum 100. Geburtstag von Theodor W. Adorno. In: Das Plateau. Die Zeitschrift im Radius-Verlag. 79. 1. Oktober 2003. S. 40-47 Wie die Literatur einbrach. Giftgas und Wissenschaftsethos im Ersten Weltkrieg. 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Weltordnung und gesellschaftlich-politische Ordnung in Schillers Werk. = Abhandlungen der Philologisch-historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Stuttgart/ Leipzig 2007 Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. 6. Aufl. mit einer Vorrede: Der Germanist in eigener Sache. Tübingen, Basel 2007 Resurrection. Die Christus-Trilogie von Patrick Roth. Der Mörder wird der Erlöser sein. Tübingen 2008 Christian Lehnerts Text zu Hans Werner Henzes Oper „Phaedra“. Das Libretto als Dichtung. In: Achim Aurnhammer, Günter Schnitzler (Hg.): Dichtung und Musik. Erscheint Freiburg 2008 (ebendort auch Erstdruck des Librettos: Chr. L.: Phaedra. Konzertoper in zwei Akten) Was hat Schumann aus Goethes „Faust“ gemacht? Bemerkungen eines Germanisten zu Robert Schumanns „Szenen aus Goethes Faust“. Erscheint In: Freiburger Universitätsblätter Heft 182. Dezember 2008 (Im Fettdruck Einzelveröffentlichungen) Eine Gesamtbibliographie findet sich unter: http: / / www3.ub.uni-freiburg.de/ index.php? id=2769 ISBN 978-3-7720-8276-4 Die thematisch breit gefächerten Beiträge reichen von interdisziplinären essayistischen Überblicken zu minutiösen Einzelinterpretationen literarischer Werke. In Frage stehen etwa: Literarische Strukturen in der Bibel und ihre theologische Aussage; die Umformung biblischer und theologischer Elemente in säkularer Literatur; Geschlechtersymbolik in der Literatur; der Streit der „zwei Kulturen“ im Erzählprozess; das Geschichtsverhältnis „autonomer“ Kunst; Eigenart und Sinn der Geisteswissenschaften. Im Bewusstsein der Voraussetzungshaftigkeit geisteswissenschaftlicher Erkenntnis bezieht Kaiser methodisch selbstreflexiv und kritisch sein eigenes Christentum in sein Denken ein. Die seit 1990 entstandenen, z.T. unveröffentlichten Arbeiten bilden die Summe eines langen, auf deutliche Positionsbestimmungen angelegten Gelehrtenlebens. Ein nachträglicher gewichtiger Beitrag zum Jahr der Geisteswissenschaften.