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Theorien der Literatur

2009
978-3-7720-5291-0
A. Francke Verlag 
Günter Butzer
Hubert Zapf

FLiteraturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt damit eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für künftige Lehre und Forschung zu. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe ,Theorien der Literatur' konzipiert. Auch der nun vorliegende vierte Band behandelt sowohl unverzichtbare Grundlagen als auch aktuelle Perspektiven der Literaturtheorie und geht davon aus, dass diese beiden Pole keinen Gegensatz, sondern einen produktiven Zusammenhang bilden. Er beginnt mit grundsätzlichen Überlegungen zur Literatur als ,Lebenswissen', liefert sodann eine Erkundung der Aktualität von Brechts Dramentheorie und Bourdieus Literaturtheorie, präsentiert die implizite Literaturtheorie des Mittelalters in Sängerkrieg und Dichterstreit, entfaltet die fundamentalen literaturwissenschaftlichen Kategorien Raum, Rätsel, Symbolik, Performanz, Wiederholung und Geräusch, behandelt die Funktion von Literatur als Medium einer ,Ästhetik der Existenz' und schließt mit Beiträgen zum Zusammenhang von Kabbala und Literaturtheorie sowie zur semiotischen Erzähltheorie. Der Band dient, wie die anderen Bände der Reihe, sowohl zur Einführung und Orientierung als auch zur vertiefenden Auseinandersetzung mit maßgeblichen Theorien der Literatur.

A. Francke Verlag Tübingen und Basel THEOR IEN DER LITER ATUR Grundlagen und Perspektiven BAND IV Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Theorien der Literatur IV Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Theorien der Literatur Grundlagen und Perspektiven BAND IV Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2009 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-8291-7 Titel: Schmuckbuchstabe aus Hans Sachs: (Das vierdt poetisch Buch) mancherley neue Stücke schöner gebundener Reimen. Nürnberg: Heußler, 1576; Oettingen-Wallersteinsche Sammlung der Universität Augsburg Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 Ottmar Ette ÜberLebensWissen und ZusammenLebensWissen. Von Schiffbrüchen mit Überlebenden in Zeiten beschleunigter Globalisierung 7 Klaus-Detlef Müller Gegen ein ,Theater für Menschenfresser‘ Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters 37 Stephanie Stockhorst Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes. Eine methodenorientierte Fallstudie am Beispiel der frühen Wilhelm Meister-Rezeption 55 Freimut Löser Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter. Versprengte Gedanken zum Wesen der Literatur 81 Kaspar H. Spinner Literatur und Raum 117 Doren Wohlleben Rätsel und Literatur: Ethische Perspektiven einer hermeneutischen Grundfigur 131 Joachim Jacob Glückliche Gegenstände - Symboltheorie und Literatur 149 Inhalt 4 Christina Wald Gender-Performativität und theatrale Performance: As You Like It 169 Martin Middeke Literatur und Wiederholung 191 Günter Butzer Selbst-Bildung: Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 217 Bernadette Malinowski „Il trapassar del segno“: Aspekte ästhetischen Fragens 241 Till Kuhnle Von Dante zu Derrida: Kabbala und Literaturtheorie 271 Hans Vilmar Geppert Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung 305 Die Beiträgerinnen und Beiträger 339 Vorwort Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt damit eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematischorientierende Funktion für künftige Lehre und Forschung zu. Literaturtheorie in dem Sinn, wie sie von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes verstanden wird, ist nichts Abgehobenes oder nur Abstraktes, sondern stellt eine eigenständige, transdisziplinäre Form des Nachdenkens über Texte, kulturelle Prozesse, Symbolsysteme und Modelle menschlicher Selbstinterpretation dar. Sie ist daher in ihrer Bedeutung, wie die Literatur selbst, nicht auf den innerakademischen Bereich begrenzt, sondern potentiell von allgemeinerem Interesse. Das breite Spektrum von Fragen und Aufmerksamkeitsrichtungen, das sich mit ihr seit jeher verbunden hat und das sich im Repertoire klassischer Positionen von der Antike bis zur Moderne niederschlägt, hat sich im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch einmal entschieden erweitert durch neuere Ansätze der Literaturtheorie, die sich im kritischen Dialog mit der Geschichte der Literaturtheorie herausgebildet haben und die mittlerweile zu wesentlichen Bezugspunkten eines zunehmend globalisierten literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurses geworden sind. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe konzipiert, in der bisher drei Bände erschienen sind. Auch die Beiträge des nun vorgelegten vierten Bandes beziehen sich auf beide im Untertitel angesprochenen Seiten der literaturtheoretischen Debatte - auf ihre in lang zurückreichenden Reflexionsprozessen herausgebildeten Grundlagen und auf die in den vergangenen Jahrzehnten formulierten neuen Perspektiven, die oft unter Einbeziehung von Erkenntnissen anderer Disziplinen ästhetische Zeichenprozesse beleuchten und in ihren verschiedenen historischen, kulturellen, psychologischen und anthropologischen Dimensionen herausarbeiten. Diese beiden Pole markieren ohnehin keinen binären Gegensatz, denn einerseits bleiben auch die innovativen Ansätze der neueren Zeit noch im Gestus des radikalen Neuaufbruchs auf die Geschichte der Begriffs- und Diskursbildung angewiesen, die sich mit der kulturellen Evolution der Literatur und Literaturtheorie entwickelt hat. Und andererseits entfalten die klassischen Positionen im Rahmen neuer Fragestellungen und interdisziplinärer Impulse teilweise eine erstaunliche Aktualität, die sie als unverzichtbaren Bestandteil auch gegenwärtiger Orts- und Funktionsbestimmungen von Literaturtheorie erscheinen lässt. Im Sinn dieser Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität, von Tradition und Innovation ist auch dieser vierte Band der Reihe angelegt. Er beginnt mit grundsätzlichen Überlegungen zur Literatur als ‘Lebenswissen’, liefert sodann eine Erkundung der Aktualität von Brechts Dramentheorie und Bourdieus Literaturtheorie, präsentiert die implizite Literaturtheorie des Mittelalters in Sängerkrieg und Dichterstreit, entfaltet die fundamentalen literaturwissenschaftlichen Kategorien Raum, Rätsel, Symbolik, Performanz und Wiederholung, behandelt die 6 Funktion von Literatur als Medium einer ‘Ästhetik der Existenz’ und schließt mit Beiträgen zum ästhetischen Fragen, zum Zusammenhang von Kabbala und Literaturtheorie sowie zur semiotischen Erzähltheorie. Wie die vorherigen Bände sind auch die vorliegenden Beiträge aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die im Wintersemester 2007/ 08 und Sommersemester 2008 an der Universität Augsburg stattfand. Sie beleuchten Literatur aus der Sicht unterschiedlicher Fächer: Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik, Romanistik, Anglistik, Amerikanistik, Mediävistik und Kulturgeschichte. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Frau Christina Esser vom Francke Verlag für die vorzügliche Kooperation, insbesondere aber auch Christina Isensee und Ines Maier für die Einsatzbereitschaft und Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben, sowie der Kurt-Bösch-Stiftung zugunsten der Universität Augsburg für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Es ist beabsichtigt, die Reihe sowohl als Mit diesem Band hat ein Wechsel in der Herausgeberschaft stattgefunden. Der Mitbegründer dieser Reihe, Hans Vilmar Geppert, hat mit der Emeritierung seine Herausgebertätigkeit eingestellt, wird aber, wie der vorliegende Band dokumentiert, das Projekt weiterhin als Beiträger unterstützen. Günter Butzer und Hubert Zapf Vorlesung als auch in Publikationsform fortzusetzen. ÜberLebensWissen und ZusammenLebensWissen.Von Schiffbrüchen mit Überlebenden in Zeiten beschleunigter Globalisierung Ottmar Ette I. Globi, Globalisierung und Schiffbruch Bei einem seiner unzähligen Abenteuer gelangt „Globi der Seefahrer“ im Verlauf seiner Weltumsegelung nach Asien und lernt „Hongkong - eine Welthandelsstadt“ kennen. 1. Mit unverkennbar europäischem Blick nimmt er die ihm fremde und zugleich vertraute Szenerie wahr: „Welch Getümmel, welch Gewimmel, / unter Chinas blauem Himmel - / alles sieht so anders aus, / bunter als bei uns zu Haus.“ 2 Schnell findet er sich zurecht, degustiert die verschiedensten Waren (darunter „Pfeffer, Nelken, Muskatnuss“) 3 und fertigt schließlich eine Liste der zu tätigenden Einkäufe an, die einer recht einfachen Regel gehorcht: „Wichtig ist vor allen Dingen, / solche Sachen heimzubringen, / die man in Europa liebt, / die es aber dort nicht gibt.“ 4 Nachdem man die beim Feilschen auf dem Markt erstandenen Waren unter Deck verstaut und mit viel Glück auch einen Angriff von Seeräubern überstanden hat, wird bald schon das Kap der Guten Hoffnung umschifft, als urplötzlich ein Sturm losbricht und das Schiff auf ein Riff wirft. Nur mit knapper Not entgehen Globi, sein Kapitän und die Mannschaft dem sicheren Tod. Das mitgeführte Gold wird gerettet, so dass Globi reich belohnt in sein Ursprungsland zurückkehren kann. Wie es das glückliche Ende des Schiffbruchs mit Zuschauer schon andeutete: Die ganze Geschichte ist noch einmal glimpflich, ja glücklich ausgegangen. Alle Elemente dieser Abenteuer- und Erfolgsgeschichte sind uns wohlvertraut, auch wenn wir vom historisch-technologischen setting im Zeitalter der stets von Pira- 1 Globi der Seefahrer. Bild-Geschichten und Zeichnungen: Peter Heinzer. Verse: Guido Strebel. Zürich: Globi-Verlag 2003, S. 85. 2 Ebd., S. 84. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 86. 8 ten bedrohten Segelschiffe heute durch mehrere Jahrhunderte getrennt sind (oder vielleicht auch nur getrennt zu sein scheinen). Doch die Karavellen des 15. und 16. Jahrhunderts wie die Fregatten des 18. Jahrhunderts sind tief ins kollektive (Bild-) Gedächtnis der Europäer eingebrannt. Im Rahmen des Welthandels wird das Andere zum bunt ausgemalten komplementären Wirtschaftsraum, der satte Gewinne verspricht. Die dominante Bewegungsfigur des Europäers bleibt stets einer Kreisstruktur verpflichtet: Reich an Gold und reich an Geschichten kann man in der vertrauten Heimat zum Zuschauer seines eigenen zeitlich begrenzten Schiffbruchs werden, der als Daseinsmetapher wie in einer mise en abyme den Verlauf des eigenen Lebens semantisch kondensiert. Die Vektoren der Weltkarten führen stets in die Heimat zurück. Der Name des in der Schweiz so berühmten Helden, dessen Geschichten freilich anders als jene Harry Potters nicht globalisiert um die Welt gingen, hat etymologisch wie semantisch nichts mit der Globalisierung zu tun - wenn sich auch bereits das erste, 1935 erschienene Globi-Buch dem Thema „Globis Weltreise“ verschrieb. Doch die in der Schweiz so weitverbreitete Figur des Globi selbst ist unablösbar mit Erfahrungen und mehr noch mit dem schweizerischen und abendländischen imaginaire, ja Phantasma der Globalisierung verbunden und trägt in den Köpfen der kleinen wie der großen Leserinnen und Leser auch weiter zu deren Tradierung und Ausgestaltung bei. Globalisierung ist überall. Im Verlauf der letzten Jahre hat sich zunehmend ein Bewusstsein für die Tatsache entwickelt, dass Globalisierung ein Begriff der longue durée ist 5 . Um das im Angriff auf das World Trade Center weltweit augenfällig gewordene und gemachte Scheitern eines bestimmten Modells und Verständnisses der Globalisierung - und eines damit einhergehenden Modells und Verständnisses eines nationale Grenzen überspannenden Zusammenlebens zu begreifen und analytisch umzusetzen, bedarf es eines historisch fundierten und zugleich transhistorischen, zwischen den jeweils spezifischen Perioden „durchlässigen“ Modells für den Ablauf globaler Prozesse. Es gilt dabei, zwischen zumindest vier Phasen beschleunigter Globalisierung zu unterscheiden, deren erste mit dem ebenso globalen wie globalisierenden Projekt des Christoph Columbus beginnt, deren zweite - wie die Analyse des von Osterhammel und Petersson beobachteten Schubes etwa belegt - um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzt, deren dritte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entfaltet und deren vierte und bislang unabgeschlossene Phase sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit aller Macht abzuzeichnen beginnt 6 . Standen die beiden ersten Phasen beschleunigter 5 Vgl. u.a. Osterhammel, Jürgen/ Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen. München: Verlag C.H. Beck 2003; Gruzinski, Serge: Les Quatre Parties du monde. Histoire d'une mondialisation. Paris: Editions de La Martinière 2006; García Canclini, Néstor: La globalización imaginada. México - Buenos Aires - Barcelona: Paidós 1999. 6 Ich habe dieses Modell in wenigen Zügen erstmals erwähnt und vorgestellt in Ette, Ottmar: Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 26-28 sowie in „Wege des Wissens. Fünf Thesen zum Weltbewusstsein und den Literaturen der Welt“. In: Hofmann, Sabine / Wehrheim, Monika Lebenswissen 9 Globalisierung im Zeichen zunächst der iberischen Mächte und dann von Frankreich und England, so prägte ab der dritten Phase mit den Vereinigten Staaten von Amerika erstmals eine außereuropäische - wenn auch europäisch programmierte - Macht die Spezifik beschleunigter Globalisierung. Den jeweiligen Phasen eigentümlich sind ebenso die Sprachen (etwa Spanisch, Portugiesisch und Latein in der ersten, Französisch und Englisch in der zweiten) wie die spezifischen Technologien der Wissenszirkulation und Wissensrepräsentation. In jeder jeweils aktuellen Phase sind die vorgängigen Phasen gegenwärtig, ja deren sorgsame Einbeziehung erlaubt es erst, ein ausreichend komplexes Verständnis von der jeweils präsenten Beschleunigungs- (aber auch Entschleunigungs-) Phase zu entwickeln. In all diesen Globalisierungsphasen - Vorder- und Rückseite unseres Globi-Bandes führen dies eindrücklich vor - sind freilich auch die unterschiedlichsten, zumeist aber nautischen Bildwelten des Scheiterns hinter den Erfolgsgeschichten präsent: Schiffbruch ist überall. Die hintergründige und durchaus widersprüchliche Metaphorik des Schiffbruchs mit Zuschauer aber ist - wie Hans Blumenberg eindrucksvoll gezeigt hat - ein Grundbestandteil tradierter antiker Vorstellungen und lässt sich bis auf Lukrez zurückverfolgen, der diese „Konfiguration geprägt“ und das zweite Buch seines Weltgedichtes mit der „Imagination“ beginnen lässt, „vom festen Ufer her die Seenot des Anderen auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer zu betrachten“ 7 . Im Zentrum dieser Metaphorik steht dabei von Beginn an das „Verhältnis des Philosophen zur Wirklichkeit“ 8 - und die Paradoxie, „daß der Mensch als Festlandlebewesen dennoch das Ganze seines Weltzustandes bevorzugt in den Imaginationen der Seefahrt sich darstellt“ 9 . So kann sich auch in einem Land, das noch bis vor kurzem nicht für große Erfolge in der Hochseeschifffahrt berühmt war, ein nautisches imaginaire verbreiten. II. Columbus und die Fehler im System Das aus der hier gewählten Perspektive erste im eigentlichen Sinne globale Projekt, das in die weltgeschichtlich relevante Tat umgesetzt wurde, ist das des Christoph Columbus. Denn der Genuese hat erstmals die seit der Antike bekannte Vorstellung von der Kugelgestalt der Erde unter Rückgriff auf die berühmten Berechnungen Paolo Toscanellis in einen ebenso konkreten wie wagemutigen Plan übersetzt: Indien, die Gewürzinseln und das Cipango Marco Polos nicht wie die portugiesischen Seefahrer auf dem Weg nach Osten zu erreichen, sondern den Osten über den Westen „verkehrt herum“ anzusteuern. Mit allem hatte der Genuese gerechnet, nur nicht (Hg.): Lateinamerika. Orte und Ordnungen des Wissens. Festschrift für Birgit Scharlau. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 169-184. 7 Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 31. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 10. 10 mit einem neuen Kontinent: Amerika stand Columbus gleichsam im Wege - „In the beginning, America was in the way.“ 10 Columbus - so ließe sich sagen - entdeckte keine Neue Welt (und schon gar nicht deren Bewohner), sondern schuf eine Neue Welt: eine Welt der globalisierten Beziehungen, basierend auf dem globalisierenden Projekt direkter transozeanischer Kommunikation. Sein ursprüngliches Projekt freilich scheiterte. Schon als junger Mann erlitt Columbus Schiffbruch, gelangte immerhin aber so - mit Müh‘ und Not sein Leben rettend - nach Portugal, ins Zentrum damaliger Weltkenntnis, wo er sich die Grundlagen seines nautischen wie seines kosmologischen Wissens erarbeiten konnte. Nur einem göttlichen Heilsplan konnte es auch später aus Sicht des Columbus entspringen, ihn alle Gefahren und Schiffbrüche - ebenso den seiner „Santa María“, der zum Anlass der Gründung einer ersten befestigten europäischen Siedlung in der Neuen Welt wurde, wie jenen, der zu seiner verzweifelten Lage auf der Insel Jamaica führte - überleben zu lassen. Doch jenseits der noch am Ende seines Testaments zum Ausdruck kommenden Überzeugung, der „Christo Ferens“ 11 für eine Welt zu sein, die für ihn keine „Neue“, sondern nur das andere Ende der „Alten“ war, waren längst für viele gebildete Zeitgenossen jene Fehler im System des Columbus offenkundig geworden, die bereits Pedro Mártir de Anglería in seinen Dekaden als sicherlich einer der ersten zunächst nur vermutet und dann immer bestimmter angemerkt hatte 12 . Durch seinen Rückgriff auf antike Quellen, jüdisch-christliche Überlieferungen, mystische Texte des Mittelalters, aber auch die Karten und Berechnungen seines Landsmannes Toscanelli standen am Beginn des ersten im eigentlichen Sinne globalen Projekts bekanntlicherweise fundamentale Fehleinschätzungen. Hätte Columbus die tatsächliche Entfernung gekannt, die es von der andalusischen bis zur indischen oder chinesischen Küste zu überwinden galt, so hätte er nur schwerlich einen Weg eingeschlagen, den auf Grund der immensen Entfernungen und dem damaligen Stand der nautischen Techniken und Längenberechnungen keine Schiffsbesatzung überleben konnte. Mission impossible. So aber waren es gerade die Fehler in Columbus’ System, die es dem Genuesen erlaubten, Land im Westen zu erreichen, nach seiner Rückkehr nach Spanien vertragsgemäß zum Almirante aufzusteigen und als Christo Ferens zum Ausgangspunkt der christlichen Missionierung des amerikanischen Kontinents zu werden. Im Verhältnis zu den Fehleinschätzungen nehmen sich die absichtlichen Fehlangaben des Columbus zu den zurückgelegten Distanzen geradezu lächerlich aus. Die sogenannte Entdeckungsgeschichte Amerikas beginnt als Geschichte eines Irrtums und einer Fälschung. Doch Columbus’ Rettung vor dem sicheren Schiffbruch, vor dem ihm und seiner Mannschaft gewissen Tod war es, dass sich seinem Kurs die Inselwelt der Antillen und damit die Hemisphäre 10 Cressy, David: Elizabethan America: „God's Own Latitude? ” In: History Today (London) 36 (1986), S. 44. 11 Colón, Cristóbal: „Testamento y Codicilo”. In (ders.): Los cuatro viajes. Testamento. Edición de Consuelo Varela. Madrid: Alianza Editorial 1986, S. 302. 12 Vgl. hierzu Mártir de Anglería, Pedro: Décadas del Nuevo Mundo. Bd. 1. México: Editorial Porrúa e Hijos 1964, S. 129 und passim. Hierauf aufmerksam machte früh schon O’Gorman, Edmundo: „Pedro Mártir y el proceso de América”. In ebd., Bd. 1, S. 7-37. Lebenswissen 11 eines unbekannten Kontinents entgegenstellte, der über Nacht - genauer: von der Nacht des 11. auf den 12. Oktober 1492 - alle seine zum Scheitern verdammten Berechnungen zu Koordinaten eines unerhörten Erfolgs werden ließ. So konnte das globale Projekt des Columbus gelingen, weil er sich den Fehlern im System auf Gedeih und Verderb anvertraute, der sich seinen Augen darbietenden anderen Wirklichkeit misstraute und bis zu seinem Lebensende unerschütterlich davon überzeugt blieb, den ursprünglichen Plan - und damit das asiatische Festland - erreicht zu haben. Hieraus ließe sich zum einen der Schluss ziehen, dass Fehler im System eine ungeheure Produktivität entfalten können, ja zur eigentlichen Produktivkraft zumindest dann zu avancieren vermögen, wenn fehlerhafte Annahmen das objektiv Unmögliche aus dem Bereich des nicht Verwirklichbaren holen und in die Region des Machbaren rücken. Zum anderen aber könnte man mit Fug und Recht behaupten, dass der Erfolg des ersten globalen Projekts - und damit die Anfänge einer ersten beschleunigten Globalisierung - auf einer Poetik des Scheiterns beziehungsweise auf einem Bordbuch als Chronik eines angekündigten Schiffbruchs beruhen, was die weitere Geschichte sukzessiver Globalisierungsphasen in ein eigenartiges Licht taucht. Am Anfang der Globalisierung stand der Fehler im System. III. Las Casas, Heilserwartung und Unheilserfahrung Kritik an Cristóbal Colón kam rasch auf. Auch Bartolomé de las Casas hatte - bei aller Sympathie - mancherlei Kritik an dem Genuesen zu üben, doch zweifelte er ebenso wenig wie dieser an der Gottgefälligkeit der spanischen Expansionsbewegung, die das Vorhaben des Columbus gleich mehrfach mit der Rückeroberung Granadas und dem Kampf gegen den Islam verknüpfte 13 . Wie sehr dieser Kampf nicht nur im Mittelmeerraum ausgetragen wurde, sondern sich im Zuge der iberischen Expansion als eine Auseinandersetzung von globalen Dimensionen erwies, die trotz aller Unterdrückungsversuche der Inquisition dank immer wieder in Erscheinung tretender Konvertiten auch die Iberer selbst betreffen konnte, wurde nicht nur im Verlauf des 16. Jahrhunderts immer wieder deutlich 14 . Die Expansion der Spanier und der Portugiesen situiert sich daher weltweit in einem Konkurrenzkampf zwischen zwei (religiösen) Blöcken - Christentum und Islam -, so dass auch für den Dominikaner Fray Bartolomé de las Casas, der sich in seiner Historia de las Indias gerne auch portugiesischer Quellen versicherte, die Ausbreitung der Iberer letztlich alleine der Ausbreitung des christlichen Glaubens zu dienen hatte. Denn es gelte, in 13 Vgl. hierzu Las Casas, Bartolomé de: Historia de las Indias. Edición de Agustín Millares Carlo y estudio preliminar de Lewis Hanke. 3 Bde. México, D.F.: Fondo de Cultura Económica 2 1965, Bd. I, S. 179 f. 14 Vgl. Gruzinski, Serge: Les Quatre Parties du monde, a.a.O., S. 168: „Dans trois parties du monde, l’Eglise catholique se heurte à un rival tout aussi planétaire qu’elle, l’islam, sans lequel on ne saurait prendre la mesure de la mondialisation ibérique et de ses limites. Les mahométans inquiètent et fascinent.“ 12 der Nachfolge Christi und seiner Apostel und Schüler die unterschiedlichsten Völker des Weltkreises „a la cristiana religión en todo tiempo y en todo lugar“ 15 zuzuführen. Selbst bei einem Las Casas kommt die Frage eines friedvollen Zusammenlebens der Religionen nicht wirklich in Betracht. Globalisierung ist aus der Perspektivik von Las Casas folglich die von Gott selbst in Auftrag gegebene weltweite Erlösung aller Völker durch das Christentum. Die Entdeckungsgeschichte ist daher ein heilsgeschichtlich 16 fundierter und motivierter Prozess, der zugleich die bisherigen und von der Antike verbürgten Grenzen des Wissens radikal sprengt 17 . Wie sehr die Kehrseite dieses lichtvollen Prozesses, der vielen Europäern die neuzeitlich-humanistischen Freudentränen in die Augen trieb, die Zerstörung weiter Landstriche, die Auslöschung ganzer Völkerschaften, ja eine Katastrophe kontinentalen Ausmaßes sein konnten, war wohl keinem anderen Denker früher bewusst geworden als dem mehrfach zwischen Spanien und Amerika pendelnden Bartolomé de las Casas selbst. Seine aus dem direkten Erleben der „dunklen Seite“ der iberischen Expansion entstandene und ihrerseits rasch globalisierte Streitschrift der Brevísima Relación de la Destrucción de las Indias ließ es nicht an geradezu apokalyptischen Bildern fehlen, um die enorme Beschleunigung nicht nur der Entdeckungsgeschichte, sondern auch der damit verbundenen Zerstörungsgeschichte drastisch zum Ausdruck zu bringen: La causa porque han muerto y destruido tantas y tales y tan infinito número de ánimas los cristianos, ha sido solamente por tener por su fin último el oro y henchirse de riquezas en muy breves días, y subir a estados muy altos y sin proporción de sus personas, conviene a saber, por la insaciable cudicia y ambición que han tenido, que ha sido mayor que en el mundo ser pudo, por ser aquellas tierras tan felices y tan ricas, y las gentes tan humildes, tan pacientes y tan fáciles a subjetarlas, a las cuales no han tenido más respecto, ni dellas han hecho más cuenta ni estima (hablo con verdad por lo que sé y he visto todo el dicho tiempo), no digo que de bestias (porque pluguiera a Dios que como a bestias las hobieran tractado y estimado), pero como y menos que estiércol de las plazas. 18 Fray Bartolomé de las Casas schuf einen Amerika-Diskurs, der keineswegs nur von der dichotomischen, die gegen Spanien gerichtete leyenda negra inspirierende Struktur geprägt war, sondern einen janusköpfigen Globalisierungs-Diskurs darstellt, innerhalb dessen die Beziehungen zwischen Europa und Amerika im selben Maße durch die christliche Heilsgeschichte wie durch einen Kalamitäten-Zusammenhang geprägt sind. Die Möglichkeit einer hemmungslosen Bereicherung an materiellen wie symbolischen Gütern stellt aus der Sicht von Las Casas jenen Fehler im System einer ins Globale ausgeweiteten Heilserwartung dar, den der Dominikaner in unermüdlicher Arbeit ebenso an gesetzgeberischen Initiativen wie an der Schaffung konkreter gesellschaftlicher Gegenmodelle zu beheben suchte. Heilserwartung und Unheilserfahrung, Paradies und Apokalypse, aber auch Steuerung und Schiffbruch ließen sich 15 Las Casas, Bartolomé de : Historia de las Indias, a.a.O., Bd. I, S. 17. 16 Vgl. hierzu auch ebd., Bd. I, S. 160. 17 Ebd., Bd. I, S. 24. 18 Las Casas, Bartolomé de: Brevísima Relación de la Destrucción de las Indias. Edición de André Saint- Lu. Madrid: Ediciones Cátedra 1984, S. 74. Lebenswissen 13 auch für Las Casas nicht voneinander trennen: der Fehler lag im System. Und von nun an hatte der Schiffbruch der Globalisierung Zuschauer, die von Europa, vom sicheren Land aus diese Szenerie reflektieren konnten. IV. Schiffbrüchige an den Rändern einer sich globalisierenden Welt Von zahlreichen Mühen und Gefahren, aber auch mehreren Schiffbrüchen konnte auch der zwischen 1525 und 1528 geborene Hans Staden aus Homberg bei Kassel berichten. Seine Warhaftige Historia und Beschreibung eyner Landtschafft der Wilden, Nacketen, Grimmigen Menschfresser Leuthen war im Jahre 1557 erschienen, wurde in der Folge in zahlreiche Sprachen übersetzt und gilt bis heute als einer der Grundlagentexte zur Geschichte Brasiliens und des europäisch-überseeischen Kulturkontakts 19 . Dieser Text, der eine lange und durchaus spannende Rezeptionsgeschichte aufzuweisen hat 20 , bietet eine manche Elemente des pikaresken Romans, der sich zeitgenössisch auch in Deutschland zu verbreiten begann, aufnehmende, zugleich aber gerade die indigenen Kulturen der Tupi-Indianer beschreibende Struktur an, die ihren Erfolg (das Buch lässt sich als „Bestseller“ des 16. Jahrhunderts bezeichnen) 21 gewiß den eher „abenteuerlichen“ Passagen verdankt. Denn nach einer ersten, zwischen 1547 und 1549 unter portugiesischer Führung nach Brasilien unternommenen Reise geriet der hessische Armbrustschütze und Kanonier 1554, nach dem Schiffbruch seines spanischen Schiffes und einem waghalsigen Rettungsversuch, bei seinem zweiten Aufenthalt an der heute brasilianischen Küste für etwa neun Monate in die Gefangenschaft der Tupinambá und musste zusehen, wie diese einige seiner Mitgefangenen verspeisten. Der Lebenslauf Hans Stadens, der viermal den Atlantik überquerte, ist trotz der Aufsehen erregenden Schilderungen des von ihm Erlebten durchaus charakteristisch für jene zahlreichen Europäer, die - um das Jahr 1600 geht man von ungefähr 200000 Menschen aus Europa aus, die sich innerhalb des iberischen Kolonialreiches weltweit niedergelassen haben 22 - unterschiedlichste Posten innerhalb der Kolonialverwaltung einnahmen oder sich wie Staden als Söldner anwerben ließen. Diese Europäer bewegen sich bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts - also in einer Phase fortgesetzter, sich konsolidierender Globalisierung - in einem globalisierten Horizont, innerhalb dessen die noch für lange Zeit mit hohen Risiken behafteten 19 Vgl. hierzu die faksimilierte Ausgabe von Staden, Hans: Warhaftige Historia und Beschreibung eyner Landtschafft der Wilden, Nacketen, Grimmigen Menschfresser Leuthen [...]. Marpurg. Faksimile- Ausgabe. Frankfurt am Main 1925; ich benutze im Folgenden die leichter zugängliche Edition von Staden, Hans: Brasilien 1547 - 1555. Mit 62 Abbildungen und 1 Karte. Herausgegeben und eingeleitet von Gustav Faber. Aus dem Frühneuhochdeutschen übertragen von Ulrich Schlemmer. Stuttgart: Edition Erdmann im K. Thienemanns Verlag 1982. 20 Vgl. Münzel, Mark: „Vier Lesarten eines Buches: Zur Rezeption von Hans Stadens Warhaftige Historia“. In: Martius-Staden-Jahrbuch (Sao Paulo) 53 (2006), S. 9-22. 21 Ebd., S. 9. 22 Zu diesen Schätzungen von Pierre Chaunu vgl. Gruzinski, Serge: Les Quatre Parties du monde, a.a.O., S. 251. 14 Schiffsverbindungen dafür sorgen, daß Schiffbrüche oder die Angriffe von Piraten, Korsaren und Freibeutern im Bewusstsein der Zeitgenossen an der Tagesordnung sind. Staden war mit diesen Gefahren selbstverständlich vertraut. Die Gefangennahme durch die Indianer - eine Art Schiffbruch „zwischen“ den wenigen Zentren europäischer Macht an der Ostküste Brasiliens - lässt den Homberger Söldner dann aber zu einem wahren Überlebenskünstler werden. Warum hat Staden überlebt? Zweifellos war der Hesse ein ausgezeichneter Beobachter all jener Zeichen, die ihm vieles über die Lebensgewohnheiten, die Vorstellungen und Denkweisen der Indianer verrieten. Zog der narrative erste Teil seines Bestsellers auch die meiste Aufmerksamkeit auf sich, so verfügt der zweite, diskursiv angelegte Teil über Qualitäten, die insbesondere im 20. Jahrhundert vorzugsweise ins Zentrum der (disziplinären) Auseinandersetzungen um Hans Staden rückten. Im Übrigen zeigten auch die Holzschnitte, die selbstverständlich innerhalb des historischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Horizonts ihrer Zeit verstanden werden müßten, „künstlerisch unbeholfen, aber mit großer ethnographischer Genauigkeit indianisches Leben, etwa Hütten oder Pflanzbau.“ 23 Im Zentrum des zweiten Teiles stand ganz unverkennbar das Leben der Indianer, mit denen Staden auf für ihn unabsehbare Zeit zusammenleben musste. Mit großem Detailreichtum präsentierte der erfahrene Soldat die Konstruktionsweise der Wohnungen der Tupinambá, ihre Art, Feuer zu machen oder zu schlafen, ihre Geschicklichkeit bei der Jagd, beim Umgang mit ihren Waffen oder beim Anbau von Nutzpflanzen. Doch ging er nicht nur auf Werkzeuge oder Kochgewohnheiten, auf Trinksitten oder Schmuck ein, sondern fragte auch danach, „was bei ihnen Recht und Ordnung heißt“ 24 , welches ihre Glaubensvorstellungen sind 25 , welchen Ehrbegriff sie pflegen 26 oder - etwa im Kapitel „Wieviele Frauen ein Mann hat und wie er sich zu ihnen verhält“ - wie die Geschlechter zusammenleben 27 . Staden entfaltet hier ein recht komplexes Wissen über das Leben der Indianer, das sich insbesondere auf ihre spezifischen Lebensformen und die Spielregeln des Zusammenlebens erstreckt. Dieses von ihm zusammengestellte Lebenswissen war - so darf vermutet werden - für ihn ein ÜberLebenswissen 28 , das es ihm ermöglichte, als Gefangener seinen Platz innerhalb der indianischen Gemeinschaft zu verstehen und sich an die nunmehr auch für ihn als Gefangenen geltenden Spielregeln zu halten. So werden Formen des Zusammenlebens dargestellt, innerhalb derer auch die Glaubensüberzeugungen der Ich-Figur selbst relevant werden und von den Indianern - etwa zur Beendigung eines ihre Pflanzungen gefährdenden Dauerregens - in ihrem Sinne funktionalisiert werden: Sie fordern Staden auf, seinen Gott um Hilfe anzufle- 23 Münzel, Mark: Vier Lesarten eines Buches, a.a.O, S. 19. 24 Staden, Hans: Brasilien, a.a.O., S. 230. 25 Ebd., S. 242. 26 Ebd., S. 241. 27 Ebd., S. 238. 28 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004. Lebenswissen 15 hen. Der Europäer beginnt, eine Rolle innerhalb der Ökonomie der indigenen Gemeinschaft zu spielen und so zu überleben. Dass sich das von Hans Staden in literarischer Form gespeicherte und entfaltete ZusammenLebensWissen vorrangig auf eine individuelle Erfahrung und das Ziel eines Überlebens innerhalb einer zunächst gänzlich fremden und feindlichen Gemeinschaft, nicht aber auf generelle Formen und Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Europäern und Indianern richtete, wird man dem Verfasser der Warhaftigen Historia wohl kaum vorwerfen können. Als angeheuerter Söldner in spanischen oder portugiesischen Diensten war er selbst Teil des Fehlers im System der kolonialen Ausbreitung Europas über die Welt. Doch zeigt Stadens Reisebericht auf faszinierende Weise, in welcher Form ein von seiner Zeit und ihren ästhetischen Formen und Normen geformter literarischer Text nicht nur für heutige Anthropologen überzeugende ethnographische Elemente, sondern auch ein Lebenswissen mit unterschiedlichsten Formen des ZusammenLebensWissens speichern kann, die bis heute von großer Relevanz und Faszinationskraft sind. Ein neben Hans Staden weiteres eindrucksvolles Beispiel für einen Schiffbruch mit Überlebenden bietet Alvar Núñez Cabeza de Vaca, der an der Expedition des Pánfilo de Narváez teilnahm, die im Juni 1527 vom Hafen von Sanlúcar de Barrameda - wo sich später auch Staden zu seiner zweiten Reise nach Amerika einschiffen sollte - aus aufbrach, um sich (anders als etwa Hernán Cortés, den Pánfilo de Narváez noch an seinem illegalen Vordringen ins Zentrum des Aztekenreiches hatte hindern wollen) mit rechtlicher Billigung des Kaisers Karl V. an die Eroberung des 1512 von Europäern „entdeckten“ Florida zu machen. Doch die Expedition des glücklosen Narváez geriet rasch zur Katastrophe. Bald schon wurde das aus rund sechshundert Mann bestehende Heer der Spanier durch Schiffbruch, Krankheiten und die ständigen Angriffe nomadisierender Indianer so stark dezimiert und in alle Winde zerstreut, dass von der ursprünglichen Armada nur noch ganze vier Männer übrig blieben - unter ihnen Alvar Núñez Cabeza de Vaca. Kein anderer Titel hätte angesichts der zahlreichen Schiffbrüche Cabeza de Vacas Bericht daher nachträglich besser auf den Punkt bringen können als jener der Naufragios, die zwischen 1537 und 1540 und damit kurz nach seiner glücklichen Rückkehr nach Spanien entstanden 29 und im Jahre 1542 erstmals veröffentlicht vorlagen 30 . Es ist der Bericht eines Soldaten, der in der ersten Phase beschleunigter Globalisierung plötzlich seiner Rolle als glanzvoller spanischer Conquistador verlustig geht, einer ihm völlig fremden Umgebung preisgegeben ist und zu einem wahren Überlebenskünstler avanciert. In einem unvorstellbar mühevollen und oft monatelang unterbrochenen Marsch wird er den gesamten Süden Nordamerikas von den Küsten Floridas bis zu den Küsten Kaliforniens durchqueren, bevor es ihm gelingt, sich mit seinen Gefährten in das von Cortés eroberte Neuspanien und zu dessen Hauptstadt México 29 Vgl. hierzu Ferrando, Roberto: Introducción. In: Núñez Cabeza de Vaca, Alvar: Naufragios y Comentarios. Edición de Roberto Ferrando. Madrid: Historia 16 1984, S. 27 f. 30 Der Titel der erstmals im Oktober 1542 veröffentlichten Naufragios lautet: Relación que dió Alvar Núñez Cabeza de Vaca de lo acaescido en las Indias en la armada donde iva por governador Pánfilo de Narvaez [...]. 16 durchzuschlagen, wo man die Gruppe 1535 - gleichsam im Zentrum eines gerade erst globalisierten Raumes - triumphal empfängt. Wie bei Staden geht es auch bei diesem Schiffbrüchigen um ein Überlebenswissen und ein Zusammenlebenswissen. Es verwundert daher nicht, dass in die narrativen Grundstrukturen des Berichts immer wieder längere beschreibende Ausführungen eingelassen sind, in denen die Lebensformen der Indianer dargestellt werden, die den Überlebenden der Expedition zunächst mit Lebensmitteln - viel Fisch und vor allem „unos raíces que ellos comen, y son como nueces, algunas mayores o menores“ 31 - aushalfen. Von Beginn an schildert der Spanier stets aufmerksam die Interaktionsformen mit den Indianern, die - wie der Ich-Erzähler glaubt - durch ihr Weinen großes Mitleid mit dem Häuflein versprengter Spanier bekunden. Auch wenn es sich bei den „indios“ aus Sicht des Erzählers um „hombres tan sin razón y tan crudos, a manera de brutos“ 32 handelt, werden doch bei aller Distanz die Lebensformen der Indianer so genau beobachtet, dass hieraus ein Überlebenswissen und auch ein ZusammenLebensWissen gewonnen werden kann, das in den Naufragios später literarisch festgehalten wird. Konfliktlösungsstrategien stehen dabei des Öfteren im Vordergrund 33 . Auch Grausamkeiten und Morde unter den Indianern werden während der langen Jahre ständigen Kontakts mit immer wieder wechselnden indianischen Gruppen genau registriert, wobei die cristianos selbst auch Funktionen für die indianischen Gemeinschaften übernehmen und etwa mit der Heilung von Kranken beauftragt werden. Nachdem sich einige erkrankte Indianer nach einer eher rituellen Behandlung durch die Christen - „santiguado y encomendado a Dios“ 34 - als geheilt empfinden, beginnen auch hier Austauschprozesse zwischen indios und cristianos, insofern letztere zumindest vorübergehend auch in die (symbolische) Ökonomie indigener Gemeinschaften eingebaut werden. Anders als andere Versprengte oder Schiffbrüchige, die in den indigenen Gruppen blieben und nicht mehr zu den „Christen“ zurückkehrten, gaben weder Hans Staden noch Alvar Núñez Cabeza de Vaca ihre Hoffnung auf, einen Weg zurück zu den Europäern und in ihre Heimat zu finden. Beide Berichte entwerfen globalisierte Lebensläufe, in denen - zumindest temporär - nicht nur interkulturelle, sondern auch transkulturelle Verhaltensweisen und Prozesse deutlich erkennbar werden. Dies zeigt am Ende des Bandes auch der Hinweis auf die Gruppe der Überlebenden selbst 35 , zu der auch ein negro alárabe gehört. Und es macht uns darauf aufmerksam, mit welcher Gewalt und Geschwindigkeit in dieser Phase beschleunigter Globalisierung Europa, Afrika und Amerika, die Welt des Islam, der Guanchen, der amerikanischen Religionen und des Christentums hier aufeinander stoßen. 31 Núñez Cabeza de Vaca, Alvar: Naufragios y Comentarios, a.a.O., S. 71. 32 Ebd., S. 73. 33 Vgl. ebd., S. 104. 34 Ebd., S. 95. 35 Vgl. Núñez Cabeza de Vaca, Alvar: Naufragios y Comentarios, a.a.O., S. 142. Lebenswissen 17 V. Cornelius de Pauw und die globale Zerstörung Mit dem Werk eines der berühmtesten Protagonisten dessen, was Antonello Gerbi den „Disput um die Neue Welt“ nannte 36 , hat es ein schlechtes Ende genommen. Denn die beiden 1768 und 1769 auf Französisch in Berlin zunächst unter dem Autornamen „Mr. de P***“ erschienenen Bände der Recherches philosophiques sur les Américains sind heute entweder völlig in Vergessenheit geraten und selbst Spezialisten kaum mehr bekannt oder bestenfalls noch als Zeugnisse eines forcierten Eurozentrismus und einer bornierten und durch nichts begründeten These von der Inferiorität allen Lebens in Amerika im Gespräch. Gewiß sollte nicht verschwiegen werden, dass der 1739 in Amsterdam geborene de Pauw, der an Jesuitenkollegs in Lüttich und Köln eine sehr gute Ausbildung genossen hatte und zeitweise vielleicht auch an der Göttinger Universität eingeschrieben war 37 , eine extreme Abwertung der Neuen Welt - die er selbstverständlich niemals betreten hatte - betrieb und sich die Frage stellte, wie es denn möglich sei, dass sich zwei so ungleiche Hemisphären auf demselben Planeten befänden: „La différence d’un Hémisphère à l’autre étoit donc totale, aussi grande quelle pouvoit l’être, ou qu’on puisse l’imaginer.“ 38 Doch gilt es darüber nicht zu vergessen, dass de Pauw ein ebenso scharfzüngiger wie scharfer Denker der Globalität war. Schon zu Beginn des „Discours Préliminaire“ seiner Recherches machte er auf die ungeheure weltgeschichtliche Wucht aufmerksam, die binnen kürzester Zeit, in einer unerhörten Beschleunigung, von der „Entdeckung“ der Neuen Welt ausgegangen war: Cette étonnante révolution qui changea la face de la terre & la fortune des Nations, fût absolument momentanée, parce que par une fatalité presqu|incroiable, il n’existoit aucun équilibre entre l’attaque et la défense. Toute la force & toute l’injustice étoient du côté des Européens: les Américains n’avoient que de la foiblesse: ils devoient donc être exterminés & exterminés dans un instant. 39 Die erste Phase beschleunigter Globalisierung erscheint so im doppelten Zeichen einer fundamentalen Ungleichheit zwischen den Welten und einer brutalen Extermination der indigenen Bevölkerung, die den europäischen Entdeckungs- und Eroberungsprozess begleitet habe. Doch blieb de Pauw bei dieser Kritik an einer scheinbar längst vergangenen Zeit, die in ihrer Polemik uneingestanden noch vieles der Brevísima Relación de la Destrucción de las Indias von Las Casas verdankt, keineswegs stehen. 36 Vgl. Gerbi, Antonello: La Disputa del Nuovo Mondo. Storia di una Polemica: 1750 - 1900. Nuova edizione a cura di Sandro Gerbi. Milano - Napoli: Riccardo Ricciardi Editore 1983. 37 Vgl. hierzu Church, Henry Ward: „Corneille de Pauw, and the controversy over his Recherches philosophiques sur les Américains“. In: PMLA (New York) LI, 1 (March 1936), S. 180 f; sowie Beyerhaus, Gisbert: „Abbé de Pauw und Friedrich der Große, eine Abrechnung mit Voltaire“. In: Historische Zeitschrift (München - Berlin) 134 (1926), S. 465-493. 38 Pauw, Cornelius de: Recherches philosophiques sur les Américains, ou Mémoires intéressants pour servir à l’Histoire de l’Espèce humaine. 2 Bde. Berlin: Chez Georges Jacques Decker, Imp. du Roi 1768- 1769, hier Bd. I, S. 95. 39 Pauw, Cornelius de: Recherches philosophiques sur les Américains, Bd. I, S. a2v f. 18 Denn der von „la cruauté, l’avarice, l’insaciabilité des Européens“ 40 angetriebene Prozess sei noch immer nicht zum Stillstand gekommen. Bereits die Ereignisse, die wir der ersten Phase beschleunigter Globalisierung zurechnen, hätten - so de Pauw - die Welt an den Rand einer Katastrophe planetarischen Ausmaßes gebracht. Denn dem europäischen Völkermord an den Indianern „antwortet“ gleichsam eine scheinbar unaufhaltsame Epidemie, auf deren Ausbreitung über die gesamte Erde Cornelius de Pauw auch im weiteren Verlauf seiner Recherches philosophiques sur les Américains immer wieder aufmerksam machte - die Syphilis 41 . Diesen nunmehr planetarischen Kalamitätenzusammenhang malte der holländische Abbé zwar in den grellsten Farben aus, indem er das Bild eines Planeten zeichnete, von dem das Menschengeschlecht fortan vollständig getilgt wäre. Doch begriff der aufmerksame Beobachter und Zeitgenosse der Cooks und Bougainvilles sehr genau, dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine neue Entwicklung im Sinne einer zweiten Phase beschleunigter Globalisierung anzubahnen begann, die nicht weniger mit gewaltigen Risiken für die gesamte Menschheit behaftet sei. Wie stark dieser von England und Frankreich ausgehende Schub war, lässt sich nicht zuletzt auch anhand der Tatsache aufzeigen, dass mit den Werken von de Pauw, Raynal oder Robertson über die außereuropäische Welt eine auch öffentlichkeitswirksame Diskussion über die Expansion im Siècle des Lumières in Gang gekommen war. Cornelius de Pauw jedenfalls ließ von Beginn an keinen Zweifel an seiner skeptischen Haltung gegenüber diesem deutlich konstatierbaren Globalisierungsschub. Überdies schloss er auch die Wissenschaft und deren Vertreter mit in seine Kritik ein, betätigten sie sich doch auch als Motoren eines zerstörerischen (und letztlich selbstzerstörerischen) Ausgriffs Europas auf die Welt: Si le génie de la desolation & des torrents de sang, précédent toujours nos Conquérants, n’achetons pas l’éclaircissement de quelques points de Géographie, par la destruction d’une partie du globe, ne massacrons pas les Papous, pour connoître au Thermomètre de Réaumur, le climat de la Nouvelle Guinée. Après avoir tant osé, il ne reste plus de gloire à acquérir, que par la moderation qui nous manque. Mettons des bornes à la fureur de tout envahir, pour tout connoître. 42 Gewiss spricht hier ein philosophe (und weder ein Wissenschaftler noch ein Reisender), der für seine „Recherchen“ über Amerika und die Amerikaner (im Sinne der indigenen Völker) auf keine eigenen Erfahrungen vor Ort und keine empirischen Grundlegungen seiner Behauptungen zurückgreift. Doch auch wenn de Pauw epistemologisch damit nicht den Reisenden, sondern den Daheimgebliebenen, nicht den Vertretern einer sich entwickelnden Feldforschung, sondern den Kompilatoren und armchair travellers zuzuordnen ist, greift seine Kritik an der destruktiven Macht einer europäischen Wissenschaft, die ihre wissenschaftliche Conquista zunehmend mit universalistischen Zielen, die der gesamten Menschheit zugute kämen, begründete, doch einen charakteristischen (und neuralgischen) Punkt der Expansion Europas an. 40 Ebd., Bd. I, S. a4r. 41 Ebd., Bd. I, S. a3r f. 42 Ebd., Bd. I, S. a4r. Lebenswissen 19 Denn allzu gerne versuchten Frankreich und England, ihre kolonialen Zielsetzungen innerhalb dieser zweiten Phase beschleunigter Globalisierung hinter allgemein philantropischen und spezifisch wissenschaftlichen Zwecken zu verschleiern. Die erstaunlich lang anhaltende Wirkung seiner Recherches philosophiques sur les Américains, die sich gerade mit Blick auf seine an Buffon anschließende These von der Inferiorität Amerikas (zumindest in seinen tropischen Teilen) noch in Hegels weltgeschichtlichen Entwürfen nachweisen lässt, schloss freilich die gewiss rhetorisch kalkulierte, aber gleichwohl scharfsinnige Kritik an der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung und des in ihrer Entwicklung beobachtbaren wissenschaftlichen Begründungsdiskurses nicht mit ein. Doch de Pauws tout envahir, pour tout connoître verschmilzt die Globalisierung (und die mit ihr verbundene Ausweitung und Restrukturierung des Wissens) mit ihrer Kehrseite, gleichsam ihrem Schiffbruch: der rücksichtslosen, von Europa ausgehenden Zerstörung dessen, was später mühevoll von der Wissenschaft desselben Europa wieder rekonstruiert werden soll. Dann aber ist das Werk der Zerstörung schon zumeist vollendet und das Leben des Anderen - wir werden darauf noch mehrfach zurückkommen - weitgehend ausgelöscht. Die europäische Wissenschaft hat vielfach Anteil am zunächst von Europa aus gesteuerten Globalisierungsprozess; sie ist Teil einer kulturellen Konstruktion, deren einzelne Elemente aus sehr vielen verschiedenen Kulturen stammen, die aber dennoch von Europa geprägt und mit Europa untrennbar verbunden sind und kraft ihrer Geschichte kein „wertfreies“ universalistisches Werkzeug darstellen. Den eigentlichen Schiffbruch, den fundamentalen Fehler im System der europäischen Globalisierung wie der von Europa aus gesteuerten Wissenszirkulation hat Cornelius de Pauw wie kaum ein anderer rhetorisch auf den Punkt gebracht: denn das tout envahir, pour tout connoître zielt auf eine europäische Gier nach Besitz und Wissen, die der Entfaltung eines ZusammenLebensWissens im globalen Maßstab abträglich ist, ja der wechselseitigen Achtung kaum eine Chance lässt. VI. Wege zu neuen Zirkulationsformen des Wissens Der prägnanteste und zugleich fundierteste Kritiker de Pauws war im ausgehenden 18. Jahrhundert zweifellos Francisco Javier Clavijero. Mit seiner nach der Vertreibung der Jesuiten aus Neuspanien zunächst im italienischen Exil und in italienischer Sprache publizierten Storia Antica del Messico 43 legte er eine grundlegende, ja bahnbrechende Arbeit zu den präkolumbischen Kulturen auf dem Territorium des damaligen spanischen Vize-Königreichs Neuspanien vor. Clavijeros Werk ist dabei im Kontext der neuspanischen Aufklärung nicht nur wissenschaftsgeschichtlich von höchstem Interesse: Seine Schrift wollte dazu beitragen, durch eine Neubestimmung der Vergangenheit dieses Raumes auch eine Neubestimmung der Zukunft des künftigen Mexico anzubahnen. Clavijero legte den Finger in die Wunde jener an Europa ausgerichteten und von Europa kontrollierten Wissenszirkulation, die sich in dieser Phase der Globalisierung noch immer fast ausschließlich an europäischen Autoren orien- 43 Clavijero, Francisco Javier: Storia Antica del Messico. 4 Bde. Cesena: Gregorio Biasani 1780. 20 tierte. In seinem „Prólogo del autor“ wandte er sich vehement gegen jene „turba increíble de escritores modernos“ 44 , die die Wahrheit verschleiere, und betonte, er habe „todo cuanto se ha publicado hasta ahora sobre la materia“ gelesen, die „pinturas históricas de los mexicanos“ (also die Piktogramme, Codices usw.) aufmerksam studiert, viele Manuskripte konsultiert, aber auch auf die sechsunddreißig Jahre seines Aufenthalts in Neuspanien (bis zur Ausweisung der Jesuiten und dem Beginn seines Exils in Europa) zurückgegriffen. Damit ergänzte Clavijero in einer epistemologisch wichtigen Überlegung nicht nur die Archiv- und Bibliotheksstudien durch die empirische Feldforschung und Augenzeugenschaft, sondern erweiterte zugleich die erstere durch die Einbeziehung nicht-abendländischer Quellen, Dokumente und Zeugnisse. Amerika wird vom Forschungsobjekt zum Forschungssubjekt. Immer wieder rechnet Clavijero dabei mit den Entstellungen und Übertreibungen ab, wie sie der „señor de Paw en sus Investigaciones filosóficas sobre los americanos“ oder „el señor de Marmontel en sus Incas“ vorgetragen hätten 45 . Neue, zukunftsweisende Formen und Wege weltweiter Wissenszirkulation konkretisierten sich. Wenn Bartolomé de las Casas in seiner Historia de las Indias in einem interessanten Perspektivenwechsel auch einmal die Ankunft der Spanier am 12. Oktober 1492 aus indianischer Sicht „erfand“ („admirados de ver aquellos navíos, que debían pensar que fuesen algunos animales que viniesen por la mar, o saliesen della“ 46 ), so findet sich gegenüber der stets europäischen Perspektive von de Pauw bei Clavijero eine stärker oszillierende Blickrichtung, wie sie sich auch bereits anhand der von ihm benutzten Quellen nachweisen läßt. Zugleich macht Clavijero auf die Diversität unterschiedlicher indigener Völker aufmerksam, was umgekehrt - wie der Autor der Historia antigua de México immer wieder anhand von Beispielen belegt - zu ständigen Auseinandersetzungen und Zersplitterungen geführt habe, die die Spanier bei der Eroberung hätten ausnutzen können 47 . Diese Argumentationsweise, die noch José Martí ein gutes Jahrhundert später als Erklärungsmuster für den raschen Zusammenbruch der indianischen Reiche benutzen sollte, stellte gegenüber der statischen, von de Pauw vorgetragenen Gegenüberstellung von grundsätzlicher Inferiorität und Superiorität eine klare Historisierung und Dynamisierung historiographischer Deutungsmuster dar. Die Storia Antica del Messico steht für sich abzeichnende Veränderungen innerhalb eines globalen Zirkulationsraums des Wissens, welche die fundamentalen Asymmetrien etwa zwischen Alter und Neuer Welt zwar nicht auflösten, wohl aber thematisierten und zum Ausgangspunkt für die Schaffung veränderter Formen und Inhalte der Wissenszirkulation machten. 44 Ebd., S. xxi. 45 Ebd., S. xxxiii. 46 Las Casas, Bartolomé de: Historia de las Indias, a.a.O., Bd. I, S. 201. 47 Clavijero, Francisco Javier: Historia antigua de México, a.a.O., S. 65. Lebenswissen 21 VII. Schiffbrüche ohne Überlebende In der europäischen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine außereuropäische Dimension sehr häufig nachzuweisen, steht aber oft im Hintergrund der zentralen Ereignisstruktur. So begibt sich etwa Saint-Preux, der männliche Held eines der großen Bestseller des 18. Jahrhunderts, auf Anraten seines Freundes Milord Edouard auf eine Weltumsegelung, die ihn vier Jahre lang von der von ihm geliebten, aber mit einem anderen verheirateten Julie trennen und die aufgewühlte Gefühlswelt der beiden Liebenden durch das bewährte Hausmittel der Distanz beruhigen soll. So wird Saint-Preux seinen „tour du monde“ auf einem englischen Schiff als „ingénieur des troupes de débarquement“ absolvieren, ein augenzwinkernder Hinweis, mit dem Rousseaus 1761 erschienener Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse der weltbeherrschenden Rolle der Seemacht Großbritannien auf allen Weltmeeren Tribut zollt 48 . Der Wunsch des adligen englischen Freundes, Gott möge den jungen Mann „sain de corps et de cœur de ce long voyage“ zurückführen 49 , erfüllt sich jedoch nur zum Teil. Denn Saint-Preux muß sein „errer dans l'univers“ 50 zwar nicht mit einem Schiffbruch bezahlen; doch trotz größtmöglicher Distanz ist sein Herz von der Liebe zu Julie nicht genesen. Die Episode mag zeigen, wie präsent die Optionen einer beschleunigt sich globalisierenden Welt selbst in der tiefsten Provinz, in einem kleinen Schweizer Dörfchen am Fuße der Alpen, sein konnten. Zugleich ergibt sich eine eigenartige metonymische Verschiebung oder Überkreuzung: Denn nicht Saint-Preux wird auf den Weltmeeren zu Tode kommen, sondern Julie auf dem Genfer See - als Folge ihres Versuches, ihren bei einem Ausflug in den See gefallenen Sohn zu retten 51 . Der Unfall der schönen jungen Frau und Mutter wird die beiden Liebenden voneinander trennen und Julie endgültig in ein himmlisches Geschöpf, in die „céleste“ Julie, verwandeln 52 . Schiffbruch ist im Blumenbergschen Sinne in der Tat überall. Das Scheitern der Liebe zwischen der neuen Héloïse und dem neuen Abélard findet freilich nicht auf den Weltmeeren, nicht in den Kolonien, sondern in der europäischen Provinz statt. Anders jedoch bei einem weiteren der großen Bucherfolge des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre, der - freilich mit zunächst geringem Erfolg - mit seinem Reisebericht Voyage à l'île de France eine Darstellung seiner zwischen 1768 und 1770 in den französischen Kolonien im Indischen Ozean 48 Rousseau, Jean-Jacques: Julie ou La Nouvelle Héloïse. Lettres de deux amants habitants d’une petite ville au pied des Alpes recueillies et publiées par Jean-Jacques Rousseau. Paris: Editions Garnier Frères 1960, S. 375. 49 Ebd., S. 376. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 691. 52 Ebd., S. 704. 22 gemachten Erfahrungen präsentiert hatte 53 , legte mit seinem ursprünglich 1788 der dritten Ausgabe seiner Etudes de la nature beigegebenen und im Folgejahr, wenige Monate vor der Französischen Revolution, erstmals separat publizierten Roman Paul et Virginie einen Text vor, dessen Ruhm bis heute den Blick auf die Gesamtheit seiner anderen Werke verstellt hat 54 . Den Höhepunkt und definitiven Wendepunkt dieses kleinen Romans bildet in geradezu klassischer Anlage ein Schiffbruch mit Zuschauer, der das Schiff, das die schöne Virginie von ihrem erzwungenen Aufenthalt im (eher kalten) Herzen des französischen Kolonialreichs wieder zurück auf ihre weitgehend als Idylle dargestellte Tropeninsel und zum Herzen ihres geliebten Paul bringen soll, kurz vor Erreichen des rettenden Hafens erfasst. Alles spielt sich blitzschnell und in Sichtweite der Insel ab: On vit alors un objet digne d’une éternelle pitié: une jeune demoiselle parut dans la galerie de la poupe du Saint-Géran, tendant les bras vers celui qui faisait tant d’efforts pour la joindre. C'était Virginie. Elle avait reconnu son amant à son intrépidité. La vue de cette aimable personne, exposée à un si terrible danger, nous remplit de douleur et de désespoir. Pour Virginie, d'un port noble et assuré, elle nous faisait signe de la main, comme nous disant un éternel adieu. 55 Ein letzter Rettungsversuch, von den Zuschauern an Land mit verzweifelten Schreien begleitet, scheitert an der Weigerung der jungen Frau, sich ihrer schweren Kleider zu entledigen: Virginie versinkt in den Fluten, nicht ohne zuvor noch ein letztes Mal als „un ange qui prend son vol vers les cieux“ 56 zu erscheinen. Wie bei Rousseau wird die geliebte Frau sakralisiert und sogleich ins Himmlische entrückt. Erneut haben wir es - zumindest mit Blick auf das weibliche Personal - mit einem Schiffbruch ohne Überlebende zu tun, der eine Liebesbeziehung auf immer zerstört. Dabei ist die Verknüpfung von Schiffbruch und Eros gerade im 18. Jahrhundert ein durchaus häufiges Motiv, das in den unterschiedlichsten Varianten durchgespielt wird 57 . Bei diesem Schiffbruch freilich wird die Daseinsmetapher zugleich unübersehbar im Horizont der Globalisierung verortet. So ist dieser Schiffbruch aus globalisierungsgeschichtlicher Sicht - jenseits der genderspezifisch rele- 53 Zu den reiseliterarischen Bewegungsmustern dieses bis heute faszinierenden Reiseberichts vgl. das erste Kapitel in Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Verlag 2001, insbes. S. 60-64. 54 Eine verdienstvolle Neubewertung unternimmt König, Torsten: Wissenschaft, Ästhetik und Religion in Bernardin de Saint-Pierres „Etudes de la nature“. Phil. Diss. Berlin: Humboldt Universität 2007. 55 Bernardin de Saint-Pierre: Paul et Virginie. Edition revue et augmentée d'une chronologie. Paris: Editions Garnier Frères 1964, S. 202. 56 Ebd., S. 203. 57 Vgl. etwa Casanova, Giacomo: Geschichte meines Lebens. Mit einem Essay von Peter Quennell „Der Verführer in der Literatur“. Herausgegeben und eingeleitet von Erich Loos. Erstmals nach der Urfassung ins Deutsche übersetzt von Heinz von Sauter. Bd. I. Berlin: Propyläen Verlag 1985, S. 163. Lebenswissen 23 vanten Produktion einer schönen, ins Himmlische entrückten weiblichen Leiche 58 - eine literarhistorisch aufschlussreiche Gestaltungsform eines literarischen Motivs, das vor dem Hintergrund einer beschleunigten Globalisierung (an welcher der französische Autor selbst aktiven Anteil nahm) die mörderische Kehrseite zur unberührten Inselwelt hervortreibt. Der Schiffbruch wird zur Chiffre eines globalen Scheiterns - und avanciert zugleich zum Kreuzungspunkt in Bernardin de Saint-Pierres Poetik des Scheiterns. Nur in der Transzendierung zur „himmlischen“ Virginie wird - parallel zu Rousseaus céleste Julie - das Scheitern der irdischen Liebe, ja letztlich aller irdischen Verbindungen ästhetisch produktiv. So können aus einer insulären Idylle - wie in Bernardin de Saint-Pierres Rahmenerzählung - fürwahr traurige Tropen werden. Noch Alexander von Humboldt war von der ästhetischen - wenn auch weniger von der wissenschaftlichen - Kraft und Produktivität Bernardin de Saint-Pierres tief beeindruckt. Die literarische Anlage mancher Szenerie seines Reisewerks weist unverkennbare Spuren Bernardin de Saint-Pierres wie Rousseaus auf. Störten ihn auch „abenteuerliche Theorien“ und „physikalische Irrthümer“ in den Etudes de la nature 59 , so war er um so mehr von Paul et Virginie begeistert, ein Werk, dem nichts Gleichwertiges in anderen Literaturen an die Seite zu stellen sei und das seinen Freund Aimé Bonpland und ihn selbst lange Jahre auf ihrer Amerikareise begleitet habe 60 . Wenn Erwähnungen und Darstellungen von Schiffbrüchen in Humboldts Werken auch eher selten sind, so findet sich doch an einer sehr charakteristischen Stelle etwa seiner Ansichten der Natur, am Ende des die Erstausgabe von 1808 abschließenden Essays Ueber die Wasserfälle des Orinoco, bei Atures und Maypures, ein derartiger Verweis. In einer den gesamten Band abschließenden Passage berichtet Humboldt anlässlich seines Besuches der Gräbnisstätte des ausgelöschten Volkes der Atures von deren Bestattungsriten und den mapires, jenen geflochtenen Körben, in denen die Atures-Indianer ihre Toten bestatteten. Dann aber gelangt der Erzähler zur Schilderung jenes im Namen der Wissenschaft begangenen Raubes, der das Ende der einbändig gebliebenen Erstausgabe seiner Ansichten überschattet: Wir verließen die Höhle bei einbrechender Nacht, nachdem wir mehrere Schädel und das vollständige Skelett eines bejahrten Mannes, zum größten Aergerniß unserer indianischen Führer, gesammelt hatten. Einer dieser Schädel ist von Herrn Blumenbach in seinem vortrefflichen kraniologischen Werke abgebildet worden. Das Skelett aber ist, wie ein großer Theil unserer Sammlungen, in einem Schiffbruch untergegangen, der an der afrikanischen Küste unserm Freunde und ehemaligen Reisegefährten, dem jungen Franziskanermönch, Juan Gunzalez, das Leben kostete. Wie im Vorgefühl dieses schmerzhaften Verlustes, in 58 Vgl. hierzu Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Kunstmann 1994; sowie dies. (Hg.): Die schöne Leiche. Weibliche Todesbilder in der Moderne. München: Goldmann 1992. 59 Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. II. Stuttgart - Tübingen: Cotta 1847, S. 67. 60 Ebd., Bd. II, S. 68. 24 ernster Stimmung, entfernten wir uns von der Gruft eines untergegangenen Völkerstammes. 61 Es kann kein Zweifel daran aufkommen, daß Alexander von Humboldt in diesem zweiten seiner „Höhlengleichnisse“ die Aporien europäischer Wissenschaft aufzeigen und - dies belegen die mehrfachen Wiederaufnahmen und späteren Erinnerungen an diese Ereignisse - den Anteil seines persönlichen Involviertseins zumindest reflektieren wollte 62 . Der Schiffbruch des jungen Franziskaners Juan González im Jahre 1801, also noch während der Fortsetzung der Reise Humboldts und Bonplands, zeigte dem späteren Verfasser des Kosmos die Grenzen einer Wissenschaft auf, die von Europa aus und für Europa Daten und Informationen, aber auch Skelette und Schädel sammelt, um das Sammeln dieser Gegenstände bei der Feldforschung außerhalb Europas in möglichst vollständige Sammlungen verschiedenartigster Objekte in den Museen, Archiven und Forschungszentren in Europa zu überführen. Die Szenerien des Abtransports der Skelette wie des Schiffbruchs verweisen auf die Grenzen einer derartigen Wissenschaftspraxis 63 . Kein Zweifel: die Forschung im außereuropäischen Feld wird vom Feld der Forschung in Europa kontrolliert. All dies geht ein in Humboldts ebenso an Detailkenntnissen reiche und reflektierte wie hintergründige Sichtweise der ersten Phase beschleunigter Globalisierung wie der menschlichen Entwicklung insgesamt: Wo hat die Geschichte der Völker eine Epoche aufzuweisen, der gleich, in welcher die folgenreichsten Ereignisse: die Entdeckung und erste Colonisation von Amerika, die Schifffahrt nach Ostindien und das Vorgebirge der guten Hoffnung und Magellan's erste Erdumseglung, mit der höchsten Blüthe der Kunst, mit dem Erringen geistiger, religiöser Freiheit und der plötzlichen Erweiterung der Erd- und Himmelskunde zusammentrafen? Eine solche Epoche verdankt einen sehr geringen Theil ihrer Größe der Ferne, in der sie uns erscheint, dem Umstand, daß sie ungetrübt von der störenden Wirklichkeit der Gegenwart, nur in der geschichtlichen Erinnerung auftritt. Wie in allen irdischen Dingen, ist auch hier des Glückes Glanz mit tiefem Weh verschwistert gewesen. Die Fortschritte des kosmischen Wissens wurden durch alle Gewaltthätigkeiten und Gräuel erkauft, welche die sogenannten civilisirenden Eroberer über den Erdball verbreiten. 64 Größe und Gräuel, Glanz und Grauen der Globalisierung als zivilisatorischer Prozess, dessen Expansion die Eroberung involviert, sind in Humboldts Geschichtsbild und Wissenschaftsverständnis nicht voneinander zu trennen. Zugleich stellt das faszinierte Interesse Humboldts ebenso für die Fehler im System des Christoph Columbus wie für deren geschichtsverändernde Produktivität die Verbindung her zu einer ebenso globalisationsgeschichtlich wie geschichtsphilosophisch fundierten Wissenschaftskonzeption. Mit Bedacht entwickelt der Verfasser der Vues des Cor- 61 Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen. Erster Band. Tübingen: Cotta 1808, S. 328. 62 Vgl. hierzu ausführlich Ette, Ottmar: Weltbewußtsein, a.a.O., S. 183-196. 63 So überrascht es nicht, wenn am Ende von Humboldts Ansichten die Ansicht einer Welt sich abzeichnet, in der die Natur sehr gut ohne den frevelnden Menschen auskommt; vgl. ebda., S. 330. 64 Ebd., Bd. II, S. 337. Lebenswissen 25 dillères über Jahrzehnte hinweg eine Epistemologie des (eigenen) Scheiterns, um ein Scheitern der (eigenen) Epistemologie zu verhindern 65 . Alexander von Humboldt war sich der Widersprüche und Fehler im System der (europäischen) Globalisierung wie seiner eigenen, der Humboldtschen Wissenschaft wohlbewusst. Mehr noch: Er versuchte sie für sein Denken produktiv werden zu lassen. Dies zeigt sich etwa bei seinen Überlegungen zu Klimaveränderungen, die durch menschliches Handeln ausgelöst werden. Dabei stellte er nicht nur in seinem Examen critique fest, dass schon Christoph Columbus gleichsam in der doppelten Rolle eines europäischen Entdeckers, mithin als Zerstörer und als wissenschaftlicher Beobachter festgehalten habe, dass die Luftfeuchtigkeit auf Grund der Zerstörung eines Teiles der Wälder in der Karibik spürbar abgenommen hatte 66 . Humboldt begann vielmehr damit, einen tieferen Einblick in die ökologischen Veränderungen nicht nur der ersten, sondern auch der zweiten Phase beschleunigter Globalisierung zu gewinnen und zu formulieren. So hielt er etwa im Kontext seines Entwurfs (und seiner Praxis) einer weltweit ausgerichteten multiparametrischen Klimaforschung im dritten Band seiner Asie centrale, am Ende des eigentlichen Hauptteils, mit großer Entschiedenheit fest, dass der Mensch in zunehmendem Maße das Klima verändere: „en abattant les forêts, en modifiant la distribution des eaux, en versant dans les centres de culture industrielle de grandes masses de vapeurs et de substances gazeuses dans l’atmosphère“ 67 . Bereits auf seiner amerikanischen Reise hatte Humboldt mehrfach ökologische Schäden konstatiert und analysiert, was lange Zeit von der Forschung vollständig ignoriert wurde. Es ist faszinierend zu sehen, wie reflektiert und frühzeitig Humboldt auch auf diesem Gebiet immer wieder die Kehrseite der Globalisierung in sein Denken miteinbezog und zugleich der Wissenschaft - mit Blick auf Abholzungen, aber auch auf die culture industrielle - eine klare geoökologische Agenda vorlegte. Humboldts Epistemologie des Scheiterns, die Einbeziehung nicht nur der Triumphe, sondern auch der Schiffbrüche macht sein Œuvre, das gleichsam zwischen Alter und Neuer Welt entstand, zu einem Orientierungspunkt für all jene, die Moderne nicht als ein nationales oder bestenfalls kleingekammert-europäisches Projekt diskutieren, sondern im Kontext aufeinander folgender Phasen beschleunigter Globalisierung verstehen. Humboldts Untersuchungen und Reflexionen über die geschichtlichen, gegenwärtigen und künftigen Lebensbedingungen auf unserem Planeten, die sich bei ihm oft mit dem Gedanken der Migration von Pflanzen wie von Menschen verbinden, belegen die Relevanz eines Wissens und einer Wissenschaft, die Globalisierung und Lebensbedingungen zusammenzudenken vermögen. 65 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Die Fehler im System und die Kunst des Scheiterns. Alexander von Humboldt und das Glück, niemals anzukommen“. In: Sánchez, Yvette/ Ingold, Felix Philipp (Hg.): Fehler im System (im Druck). 66 Vgl. Humboldt, Alexander von: Examen critique de l’histoire de la Géographie du Nouveau Continent et des progrès de l’astronomie nautique aux quinzième et seizième siècles. Bd. I. Paris: Librairie de Gide 1837, S. 537 f. 67 Humboldt, Alexander von: Asie Centrale. Recherches sur les chaînes de montagnes et la climatologie comparée. Paris: Gide 1843, Bd. III, S. 346 f. 26 VIII. Die Modernisten und der spanische Schiffbruch Entwarf Alexander von Humboldt mit seinem gewaltigen, über sieben Jahrzehnte entstandenen Œuvre die sicherlich komplexeste europäische Antwort auf die zweite Phase beschleunigter Globalisierung, so steht das nicht weniger aus einer ständigen Bewegung entstandene Schaffen José Martís für die wohl prägnanteste lateinamerikanische Antwort auf die dritte Beschleunigungsphase ein. In seinen politischen wie in seinen ästhetischen Schriften, in seinen Chroniken über die USA wie in seinen Artikeln über Europa, in seinen militanten Aufrufen wie in seinen literarischen Reden erweist sich Martí aus dieser Perspektive als ein Denker der Globalität. Die Kraftlinien der unzähligen Texte aus der Feder des sechs Jahre vor Humboldts Tod in Havanna geborenen Dichters und Essayisten, Intellektuellen und Revolutionärs überschneiden sich in seinem zweifellos berühmtesten Essay, der programmatisch am 1. Januar 1891 im US-amerikanischen Exil in La Revista Ilustrada de Nueva York erschien: Nuestra América. Schon der Beginn dieses Essays stand ganz im Zeichen einer beschleunigten Globalisierung: Cree el aldeano vanidoso que el mundo entero es su aldea, y con tal que él quede de alcalde, o le mortifiquen al rival que le quitó la novia, o le crezcan en la alcancía los ahorros, ya da por bueno el orden universal, sin saber de los gigantes que llevan siete leguas en las botas, y le pueden poner la bota encima, ni de la pelea de los cometas en el cielo, que van por el aire dormido[s] engullendo mundos. Lo que quede d’aldea en América ha de despertar. Estos tiempos no son para acostarse con el pañuelo a la cabeza, sino con las armas de almohada, como los varones de Juan de Castellanos: las armas del juicio, que vencen a las otras. Trincheras de ideas, valen más que trincheras de piedras. 68 Eine rasante, mit ungeheurem Tempo voranschreitende Bewegung hat eingesetzt, in der auch das Lokale nicht länger getrennt vom Globalen zu denken ist. Dies ist die zentrale Einsicht, die der kubanische Denker zum Ausgangspunkt eines geostrategischen Entwurfs macht, der ebenso visionär wie auf genauer Detailkenntnis beruhend ein Ausgreifen der USA nach Süden prognostiziert und diese Expansion aus einer zwar spezifisch lateinamerikanischen, zugleich aber unverkennbar welthistorischen Perspektive in ihren Konsequenzen durchdenkt. Für José Martí ist der Kampf gegen die Kuba noch immer unterdrückende Kolonialmacht Spanien fast schon ein Kampf mit der Macht einer vergangenen Zeit: Denn längst hat der Autor der Versos sencillos verstanden, daß an die Stelle Spaniens, der beherrschenden Macht der ersten Globalisierung, nun ein neuer Protagonist getreten ist, der die dritte Phase beschleunigter Globalisierung dominieren wird: die Vereinigten Staaten von Amerika. Wir wissen heute, daß die Martíschen Befürchtungen zutrafen und die Vereinigten Staaten noch vor dem Ende des Jahrzehnts, in dem Martí 1895 den Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien nach Cuba trug, in den kubanisch-spanischen Krieg eingriffen und sich die noch verbliebenen Reste des spanischen Weltreichs - Puerto Rico, Cuba und die Philippinen - sicherten. 68 Martí, José: Nuestra América. Edición crítica. Investigación, presentación y notas Cintio Vitier. La Habana: Centro des Estudios Martianos - Casa de las Américas 1991, S. 13. Lebenswissen 27 Der kubanische Modernist setzte sich mit der für ihn aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung nicht auseinander, ohne die beiden vorgängigen Phasen - zu denen er schon früher zahlreiche Artikel verfasst hatte - in seine Analyse miteinzubinden. Vor dem Hintergrund des für sein Schreiben und Handeln charakteristischen Epochenbewußtseins einer rapide an Fahrt aufnehmenden Zeit, in der sich die Siebenmeilenstiefel des Märchens rasch in Soldatenstiefel einmarschierender Besatzungstruppen verwandeln konnten (und verwandeln sollten), entfaltet Martí sein Plädoyer, die Staaten „unseres Amerika“ müssten sich so rasch als möglich - und bevor es zu spät sei - zu einer kompakten Einheit verbinden „como quienes van a pelear juntos“ 69 . Martí zog damit die Lehren aus der ersten Globalisierungsphase, als ein militärtechnologisch überlegener Gegner bei seinen Eroberungen von der Uneinigkeit und Zerstrittenheit der indigenen Völker Amerikas profitierte. Erneut aber konstatierte Martí einerseits einen hohen Grad an Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Nationen und Regionen Süd- und Mittelamerikas sowie der Karibik; und andererseits zweifelte er nicht an der militärtechnologischen Überlegenheit - insbesondere der gezielt aufgerüsteten, hochmodernen Kriegsflotte - der Vereinigten Staaten, eine Gefahr, vor der er schon am 15. Juli 1882 in La Nación warnte 70 . Seit diesem Zeitpunkt verfolgte der kubanische Essayist mit großer Aufmerksamkeit und wachsender Beunruhigung die weitere Aufrüstung jener Kriegsflotte, die dann auch 1898, im ersten transkontinentalen Medienkrieg der Moderne, die spanische Flotte sowohl in der Karibik vor Santiago de Cuba als auch im Pazifik vor Manila dank der technischen Überlegenheit ihrer Panzerkreuzer in der Tat versenkte. Früh schon begriff Martí, dass mit den Vereinigten Staaten von Amerika erstmals ein außereuropäischer Faktor die Entwicklungen zunächst auf dem amerikanischen Kontinent, bald aber auch im globalen Kontext wesentlich mitbestimmen würde. Noch einen Tag vor seinem Tod im Freiheitskampf schrieb der Autor von Ismaelillo an seinen mexikanischen Freund Manuel Mercado, er habe nicht nur die Unabhängigkeit Cubas im Auge gehabt, sondern es auch für seine Pflicht gehalten, „de impedir a tiempo con la independencia de Cuba que se extiendan por las Antillas los Estados Unidos y caigan, con esa fuerza más, sobre estas tierras de América.“ 71 Wie sehr der Untergang der spanischen Flotte, gleichsam der Nachfahren der Karavellen des Columbus und der Silberflotten Philipps II., sich nicht nur in Spanien, sondern auch in Hispanoamerika geradezu traumatisierend ins kollektive (Bild-) Gedächtnis einbrannte, mag ein fiktionaler Text des großen nicaraguanischen Dichters Rubén Darío zeigen, eine kurze Erzählung, die unter dem etwas enigmatischen Titel „D.Q.“ erstmals 1899 in Buenos Aires erschien 72 . Dort läßt Darío seinen Er- 69 Martí, José: Nuestra América, a.a.O., S. 13. 70 Vgl. Martí, José: „Carta de los Estados Unidos“. In (ders.): Obras Completas. Bd. 9. La Habana: Editorial de Ciencias Sociales 1975, S. 325 f. 71 Martí, José: „A Manuel Mercado“. In (ders.): Obras Completas, a.a.O., Bd. 4, S. 167. 72 Noch im selben Jahr erschien der Text ebenfalls in Buenos Aires in der Zeitschrift Fray Mocho; vgl. hierzu die textkritischen Fußnoten der Ausgabe von Darío, Rubén: „D.Q“. In (ders.): Don Quijote no debe ni puede morir (Páginas cervantinas). Prólogo de Jorge Eduardo Arellano. Anotaciones de Günther Schmigalle. Managua: Academia Nicaragüense de la Lengua 2002, S. 21. 28 zähler aus der Perspektive eines spanischen Soldaten die ganze Dramatik jener Szenerie lebendig werden, in welcher im Epochenjahr 1898 der überwiegende Teil der Flotte des Landes von Don Quijote - so ließen sich die Titelinitialen deuten - im Meer versank: „Cervera estaba en poder del yanqui. La escuadra se la había trabado [sic] el mar, la habían despedazado los cañones de Norte América. No quedaba ya nada de España en el mundo que ella descubriera.“ 73 Die spannende Frage, ob in den Ereignissen von 1898 freilich „the founding gesture of modern geopolitics“ 74 gesehen werden kann, oder ob hierin nicht eher der Ausdruck einer spezifischen, nun von den USA beherrschten Phase innerhalb eines langanhaltenden Prozesses erkannt werden muss, der zuvor ausschließlich von europäischen Mächten kontrolliert worden war, wäre aus einer globalisierungsgeschichtlichen Sicht wohl eher mit dem Verweis auf geopolitische wie militärstrategische Kontinuitäten zu beantworten, die stets auf die entscheidende Funktion von Inseln und Archipelen rekurrierten. Der Untergang der spanischen Flotten konfiguriert jenen symbolischen Schiffbruch, in dem die Welt Don Quijotes, die Welt eines spanischen Siglo de Oro, dessen Gold im Wesentlichen aus Amerika stammte, unterging. Kein Wunder also, dass der Hispanoamerikaner Rubén Darío „seinen“ Don Quijote sich samt seiner altertümlichen Rüstung in einen tiefen Abgrund stürzen ließ 75 . In diesem zeitgeschichtlichen Kontext, in dem der südliche Teil Amerikas häufig mit Krankheitsmetaphern belegt wurde, veröffentlichte José Enrique Rodó - symbolträchtig just zu Anfang eines neuen Jahrhunderts - seinen weder diktionalen noch fiktionalen, sondern zwischen beiden Polen oszillierenden friktionalen Text Ariel. In einer nachhaltigen und denkwürdigen Umdeutung des Shakespeares The Tempest entnommenen Dreiecks Prospero - Ariel - Caliban entwarf der uruguayische Schriftsteller eine hemisphärische Konstruktion, die deutlich nach den Ereignissen von 1898 die Position eines seiner lateinischen - wenn auch (anders als bei Martí) nicht seiner indigenen - Wurzeln und Verbindungen bewussten Amerika gegenüber den USA neu zu bestimmen suchte. Dem von den USA ausgehenden Globalisierungsdruck setzte er die Warnung vor einer „América deslatinizada por propia voluntad“ entgegen: „Tenemos nuestra nordomanía. Es necesario oponerle los límites que la razón y el sentimiento señalan de consumo.“ 76 Die von Rodó in Ariel entworfene Situation einer geistig-kulturellen Überlegenheit gegenüber den utilitaristischen USA faszinierte eine hispanoamerikanische Leserschaft, die nach den Erfahrungen von 1898 nach neuen Gegenstrategien und anderen Verstehensmodellen für die kontinentalen wie für die globalen Entwicklungen Ausschau hielt. Angesichts des von ihm 73 Ebd., S. 24. 74 Hulme, Peter. „Beyond the Straits: Postcolonial Allegories of the Globe“. In: Loomba, Ania / Kaul, Suvir / Bunzl, Matti / Burton, Antoinette / Esty, Jed (Hg.): Postcolonial Studies and Beyond. Durham - London: Duke University Press 2005, S. 47. Noch immer lesenswert ist Wehler, Hans-Ulrich: Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865 - 1900. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974. 75 Darío, Rubén: D.Q., a.a.O., S. 24. 76 Rodó, José Enrique: „Ariel“. In (ders.): Obras Completas. Editadas, con introducción, prólogos y notas, por Emir Rodríguez Monegal. Madrid: Aguilar 2 1967, S. 232. Lebenswissen 29 konstatierten Vorrückens eines angelsächsischen Kulturmodells, das sich mit der dritten Phase beschleunigter Globalisierung zweifellos eine grundsätzliche Vorherrschaft erarbeitet hatte, beharrte Rodó auf einer Perspektive, welche die vorbildgebende abendländische Tradition in ihrer griechisch-römisch-christlichen Linie aus dem Blickwinkel eines lateinischen Amerika neu zu beleben suchte. Waren Portugiesisch, Spanisch und Latein die Sprachen der ersten Globalisierungsphase gewesen und hatte das Französische neben dem Englischen auch in der zweiten Phase noch diese „lateinische“, romanische Tradition fortgeführt, so war spätestens seit den Niederlagen Frankreichs im preußisch-französischen Krieg von 1870/ 71 und der spanischen Niederlage gegen die USA von 1898 unübersehbar geworden, dass mit der Herabstufung der ehemaligen romanischen Weltmächte (einschließlich der aktuellen panlateinischen Führungsmacht Frankreich) zu bloßen Regionalmächten das Englische als alleinige Sprache der Globalität vorherrschen würde. Selbst die spanische Sprache schien, wie Rodós modernistischer Mitstreiter und Antipode Rubén Darío nicht grundlos befürchtete, auf dem amerikanischen Kontinent in Gefahr. So heißt es in einem der berühmtesten Gedichte seiner Cantos de vida y esperanza an Roosevelt gewandt. „Eres los Estados Unidos, / eres el futuro invasor, / de la América ingenua que tiene sangre indígena, / que aún reza a Jesucristo y aún habla en español.“ 77 So war das bange Fragezeichen dem spanischsprachigen modernistischen Schwan buchstäblich auf den weißen Leib geschrieben: „¿Seremos entregados a los bárbaros fieros? / ¿Tantos millones de hombres hablaremos inglés? “ 78 Vor diesem Hintergrund ist der hispanoamerikanische Modernismo nicht zuletzt der Versuch, innerhalb der sich grundsätzlich wandelnden geopolitischen, ökonomischen und kulturellen Kraftfelder der dritten Phase beschleunigter Globalisierung neue geokulturelle Positionen zu entwickeln, die spätestens nach dem Schiffbruch der spanischen Flottenverbände vor Manila und Santiago de Cuba auf die Konzeption und konkrete Herausbildung einer eigenen, gerade auch kulturell bestimmten Modernität abzielten. IX. Traurige Tropen und ein ZusammenLebensWissen als ÜberLebenswissen Noch vor seiner Ankunft auf dem Kontinent wird der Ich-Erzähler in Claude Lévi- Strauss Tristes Tropiques, einem neuen Columbus gleich, von einer „ivresse olfactive“ 79 erfasst, die unverkennbar auch im Zeichen des Exotischen steht. Und doch ist in diesem Text, in dem die Taten, Texte und Erlebnisse der Descubridores und Conquistadores omnipräsent sind, das eigentliche Abenteuer schon fast vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat. Ein allerletztes Mal nur noch bietet sich dem Forscher des 20. Jahrhunderts jene Möglichkeit, die sich den Columbus und Vespucci, Villegaignon 77 Darío, Rubén: A Roosevelt. In (ders.): Obras Completas. Bd. V. Madrid: A. Aguado 1953, S. 878. 78 Darío, Rubén: „Qué signo haces, oh Cisne“. In (ders.): Obras Completas, a.a.O., S. 890. 79 Lévi-Strauss, Claude: Tristes Tropiques. Paris: Plon 1984, S. 84. 30 und Thevet, Staden und Léry Jahrhunderte zuvor so oft geboten hatte. Die Erfahrung dieser „seule aventure totale proposée à l’humanité“ 80 steht im Zeichen eines Nevermore, ja einer veritablen Poetik des Gescheitertseins. Denn der welthistorische Prozess, der mit Columbus begann, hat auf dem amerikanischen Kontinent zu jener Zerstörung der indigenen Völker, zu jener schon von Las Casas beschworenen Destrucción de las Indias geführt, die dem Ich-Erzähler in Lévi-Strauss’ literarischem Reisebericht im 20. Jahrhundert wie die letzten sichtbaren Splitter eines geborstenen Spiegels erscheint, der nicht länger das andere Bild des Eigenen reflektiert - und just darum als das eigene Andere angeeignet und zugleich ausgelöscht wird. Nur mehr die unglücklichsten Formen unserer Existenz erscheinen noch in diesem Gegenbild der Erfolgsgeschichte einer omnipräsenten okzidentalen Globalisierung: Aujourd’hui où des îles polynésiennes noyées de béton sont transformées en porte-avions pesamment ancrés au fond des mers du Sud, où l’Asie tout entière prend le visage d'une zone maladive, où les bidonvilles rongent l'Afrique, où l’aviation commerciale et militaire flétrit la candeur de la forêt américaine ou mélanésienne avant même d'en pouvoir détruire la virginité, comment la prétendue évasion du voyage pourrait-elle réussir autre chose que nous confronter aux formes les plus malheureuses de notre existence historique? Cette grande civilisation occidentale, créatrice des merveilles dont nous jouissons, elle n’a certes pas réussi à les produire sans contrepartie. Comme son œuvre la plus fameuse, pile où s'élaborent des architectures d’une complexité inconnue, l’ordre et l'harmonie de l’Occident exigent l’élimination d’une masse prodigieuse de sous-produits maléfiques dont la terre est aujourd’hui infectée. Ce que d’abord vous nous montrez, voyages, c’est notre ordure lancée au visage de l’humanité. 81 Die konstruktive, stets neue Verbindungen schaffende Globalisierung okzidentaler Formen transportiert in derselben Bewegung ihre zerstörerische Kehrseite mit. Die erstmals 1955 veröffentlichten Tristes Tropiques, die auf Reisen zurückgehen, die der französische Anthropologe und Mythenforscher zwischen 1934 und 1937 sowie 1938 und 1939 in Brasilien unternahm, lassen den Ich-Erzähler die Tupi-Kawahib „entdecken“, nur um diese fast im selben Augenblick definitiv untergehen zu lassen. Der Schiffbruch der amerikanischen Völker, der Untergang jener Tupi, in deren Gewalt sich einst Hans Staden befand, ist für den französischen Erzähler evident: Hier gibt es nichts mehr zu entdecken. Das einst von de Pauw gebrandmarkte zerstörerische Spiel der wissenschaftlichen Feldforschung ist aus. Alle Tropen des Diskurses über die Tropen sind verbraucht. Denn die mit der Logik der Entdeckung einhergehende Logik der Zerstörung unterminiert alle Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens in Differenz. Der Fehler im System der europäischen Expansion besteht nicht zuletzt darin, daß das Wissen über das Leben des Anderen nicht in ein Wissen zum Leben mit dem Anderen übersetzt wird. Aus dieser Sicht fehlt es - trotz einiger wichtiger Versuche 82 - an Arbeiten, die das von der Literatur gespeicherte und immer wieder neu hervorgebrachte Lebens- 80 Ebd., S. 82. 81 Ebd., S. 36. 82 Vgl. Barthes, Roland: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France, 1976 - 1977. Texte établi, annoté et présenté par Lebenswissen 31 wissen aus einer multi-, inter- und transkulturelle Prozesse der Globalisierung miteinbeziehenden Sicht kritisch analysieren. Die Entfaltung eines derartigen Ansatzes könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten, an jenem von Beginn der okzidentalen Globalisierung erkennbaren Fehler im System zu arbeiten: der Frage nach einem verschiedenste Kulturen querenden ZusammenLebensWissen. Angesichts der Unfähigkeit der medizinisch-biotechnologisch ausgerichteten Life Sciences, Grundsätzliches zur Lösung dieses Problems beizutragen, ist es heute an der Zeit, ein anderes Verständnis von Lebenswissenschaften zu entwickeln, das die kulturelle Dimension nicht länger aus einem semantisch völlig reduzierten Lebensbegriff ausblendet 83 und die viellogischen Strukturen der Literatur für die Entfaltung neuer Wissensfelder nutzt. X. Aus dem Laboratorium der Literaturen der Welt Wenden wir uns daher einem der weltweit profiliertesten Vertreter eines Zwischen- WeltenSchreibens zu, das in der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung weit davon entfernt ist, im Konzert der Literaturen der Welt ein marginales Phänomen darzustellen. 1998 erschien unter dem Titel Les Identités meurtrières ein Band des im Libanon geborenen Romanciers und Essayisten Amin Maalouf, der vor dem Hintergrund der zerrissenen Welt seines Geburtslandes im Zwischenbereich von Literatur und Philosophie, von Kulturtheorie und Identitätspolitik die Problematik eines vom Scheitern bedrohten Zusammenlebens aufgriff. Seit seinem 1983 erschienenen Band Les croisades vues par les arabes bewegt sich das literarische Œuvre des vielfach mit Literatur- und Kulturpreisen ausgezeichneten Schriftstellers zwischen Orient und Okzident, zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen und Kontinenten, wobei von seinem Debutroman Léon l’Africain (1986) bis zu seinem zwischen dem Nahen Osten, Frankreich und der spanischsprachigen Karibik angesiedelten friktionalen Band Origines (2004) eine Geschichte verschiedener Phasen der Globalisierung entstand, die sich in ihrer literarischen Polysemie gegenüber unterschiedlichsten Logiken öffnet. Den autobiographischen Hintergrund hierfür bildet seine eigene transgenerationelle Lebensgeschichte: Je viens d’une famille originaire du sud arabique, implantée dans la montagne libanaise depuis des siècles, et qui s’est répandue depuis, par migrations successives, dans divers coins du globe, de l’Egypte au Brésil, et de Cuba à l’Australie. Elle s’enorgueillit d’avoir toujours été à la fois arabe et chrétienne, probablement depuis le IIe ou le IIIe siècle, c’est-à-dire bien avant l’émergence de l’islam et avant même que l’Occident ne se soit converti au christianisme. 84 Claude Coste. Paris: Seuil - IMEC 2002; sowie Touraine, Alain: Pourrons-nous vivre ensemble? Egaux et différents. Paris: Fayard 1997. 83 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“. In: Lendemains (Tübingen) XXXII, 125 (2007), S. 7- 32; vgl. auch die Diskussion in den drei nachfolgenden Nummern der Zeitschrift. 84 Maalouf, Amin: Les Identités meurtrières. Paris: Grasset 1998, S. 23. 32 Die transareale, mithin verschiedene kulturelle wie religiöse Räume durchlaufende und scheinbar essentialistische Trennungen unterlaufende Familienbiographie situiert sich im „brassage accéléré, vertigineux“ einer „ère de la mondialisation“, die dringlich nach einem neuen Verständnis von Identität verlange 85 . Vehement wendet sich der libanesische Autor gegen jegliche Form ausschließlicher und ausschließender Identitäten, die er - mit Blick keineswegs nur auf die Geschichte seines eigenen Herkunftslandes - als mörderisch bezeichnet 86 - freilich ohne den Begriff der Identität selbst aufzugeben 87 . Diese identités meurtrières reduzierten Identität auf eine einzige Zugehörigkeit („appartenance“) und zwängen die Menschen zu einer „attitude partiale, sectaire, intolérante, dominatrice, quelquefois suicidaire“ 88 , was Maalouf anhand von Beispielen wie Ruanda, Jugoslawien oder dem Libanon darzulegen sucht. Einem derartig reduktiven Identitätskonzept stellt er seine Konzeption multipler und möglichst vielfältiger Zugehörigkeiten - also appartenances im Plural - entgegen, womit der mehrfach von Bürgerkriegen im Libanon betroffene Maalouf bewußt allen Ausschlussmechanismen einen Riegel vorzuschieben sucht. In jedem einzelnen Land auf dieser Erde sei heute ein „réfléchir à la manière de faire vivre ensemble des populations différentes“ 89 gefragt, denn überall gebe es Spannungen, die sich im globalen Kontext leicht vergrößerten oder von interessierter Seite angeheizt werden könnten. Damit entwirft der Schriftsteller Maalouf im Rückgriff ebenso auf seine eigene transareale wie transgenerationelle Lebensgeschichte vom Standpunkt der Literatur aus ein Lebenswissen, das als ZusammenLebensWissen innerhalb einer enorm beschleunigten Globalisierung zugleich auch als ein ÜberLebenswissen verstanden werden kann. Aus dieser Perspektive erscheint die Literatur in der Tat als der privilegierte Ort, von dem aus der vielleicht zentrale Fehler im System der Globalisierung - die fehlende Entwicklung eines transarealen und transkulturellen ZusammenLebensWissens - zumindest angegangen, vielleicht sogar zum Teil behoben werden kann. Mögen die europäischen Literaturen - wenn auch gewiss in geringerem Maße als die europäischen Wissenschaften - mit den zerstörerischen Entwicklungen, welche alle Phasen der Globalisierung betreffen, auch verbunden (gewesen) sein: Das Wissen der Literaturen der Welt, das eben diese kolonialen wie postkolonialen und vielleicht auch postokzidentalen Erfahrungen aufbewahrt, ist doch keineswegs reduktiv an eine jeweils bestimmte Logik und (andere Logiken ausschließende) Rationalität gebunden, wie dies in mehr oder minder starkem Maße in allen Diskursen der Natur- und Kulturwissenschaften - auch im Bereich der Philosophie - unzweifelhaft der Fall ist. Das Wissen der Literatur projiziert und bildet einen Kosmos der Redevielfalt, innerhalb dessen sich eine mobile, gleichsam bewegliche Traversen bildende Relationalität zu entfalten vermag. 85 Ebd., S. 44. 86 Ebd., S. 39, sowie hierzu S. 103. 87 Gründe für eine Aufgabe des Identitätsbegriffs als analytischer Kategorie finden sich in Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung, a.a.O., S. 467-475. 88 Maalouf, Amin: Les Identités meurtrières, a.a.O., S. 39. 89 Ebd., S. 180. Lebenswissen 33 Nach der besonders gut in der Sylvesternacht des Milleniums beobachtbaren Selbstinszenierung der Globalität als globaler, alle Bereiche des Planeten miteinander vernetzender Medialität haben die Ereignisse rund um den 11. September 2001 zweifellos zu einer Dämpfung der Euphorie geführt und das Bewusstsein für jenes Scheitern geschärft, das alle Prozesse beschleunigter Globalisierung begleitet. Auch das Scheitern der Globalisierung wird seitdem von den Medien eindrucksvoll globalisiert. Dies betrifft die durch massive Wanderungsprozesse und Arbeitsmigrationen beförderten Globalisierungsängste ebenso wie die durch die weltweite Ausbreitung von Krankheiten wie Syphilis oder Aids ausgelösten Paniken, die Befürchtungen angesichts der Unterbrechung globaler (einschließlich virtueller) Kommunikationswege wie die durch mediale Omnipräsenz terroristischer Aktivitäten erzeugten Verunsicherungen. Gefährdeten früher Seeräuber, Freibeuter und Korsaren die interkontinentalen Infrastrukturen, so haben heute Hacker, Virenkonstrukteure und andere anonyme Angreifer aus dem Internet mit ihren unterschiedlichsten Trojanern deren Platz im kollektiven Bilderreservoir eingenommen. Mag sein, dass zum imaginaire der Globalisierung längst auch eine imaginierte Globalisierung zählt, die sich gleichsam medial selbst fingiert. Doch gleichviel, ob wir zwischen einer zirkulären, insbesondere Berufsgruppen wie Politiker, Banker und (vielleicht auch) Akademiker erreichenden Globalisierung sowie einer tangentialen, vom Rest der Bevölkerung weniger funktionalisierten als imaginierten 90 Globalisierung nebst vieler anderer Formen und Unterformen unterscheiden: Ausschlaggebend ist doch, daß Globalisierung immer zugleich auch als zerstörerische Kraft, als neue Weltordnung wie als neue „Weltunordnung“ 91 , als „nuevo desorden mundial“ 92 - wie so unterschiedliche Denker wie Hans Küng und Néstor García Canclini unisono formulieren - wahrgenommen wird. Längst lassen sich folglich neben den Zeichen für ein Scheitern der Globalisierung die unterschiedlichsten Aspekte einer Globalisierung des Scheiterns wahrnehmen - von den Atombombentests und Nuklearhavarien über völkerrechtswidrige Invasionen bis hin zu Klima- und Umweltkatastrophen, von den Schiebern, Fluchthelfern und Grenzverletzern über weltweit wirksame Dumpinglöhne bis hin zum globalen Transport radioaktiver Abfälle. Vor allem aber weisen die Aspekte eines Scheiterns der Globalisierung wie jene einer Globalisierung des Scheiterns auf die wachsenden Konflikte und Spannungsfelder hin, die ein friedvolles Zusammenleben in Differenz gefährden und zunehmend verunmöglichen. Die vielleicht wichtigste Aufgabe der Philologie könnte in der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung darin bestehen, das komplexe, in sich widersprüchliche, vieldeutige und viellogische Wissen der Literaturen der Welt vom Zusammenleben so zu erforschen, dass dieses Wissen, das stets im Kontakt mit der außerliterarischen Lebenswelt steht, aus der spezifischen Eigengesetzlichkeit und 90 Vgl. García Canclini, Néstor: La globalización imaginada, a.a.O., S. 12. 91 Küng, Hans: Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft. München: Piper 1997, S. 19. 92 García Canclini, Néstor: La globalización imaginada, a.a.O., S. 9. 34 dem Eigen-Sinn der Literatur heraus verstanden, übersetzt und auch verbreitet werden kann. Es geht folglich darum, jenes ZusammenLebensWissen, das die Literaturen der Welt über lange Jahrhunderte, die auch den mehrphasigen Prozess der Globalisierung begleiteten, rezipierten und produzierten, zu erforschen und wo möglich gesellschaftlich verfügbar zu machen. Dabei käme gerade auch den literarischen Darstellungsformen eines Scheiterns von Versuchen des individuellen wie kollektiven Zusammenlebens eine große analytische Relevanz zu. So entstünde ganz nebenbei eine Poetik des Scheiterns, in der das Scheitern zu einem immer neuen Ausgangspunkt künftiger Erprobungen und Versuche wird. Die Literatur kann diese Versuche mit jener Phantasie ausstatten, die den Politiken der Globalisierung oft fehlt und sie wie unlängst sogar von britischen Militärs im Irak beklagt im intellektuellen Bankrott zu Politiken des Scheiterns werden lässt. Die Literaturen der Welt halten ein Lebenswissen bereit, das gerade in den Zeiten beschleunigter Globalisierung - und damit intensivierten Schiffbruchs auf individueller wie auf kollektiver Ebene - überlebensnotwendig ist. Vielleicht, das sollten wir nicht vergessen, ist in jedem Schiffbruch wiederum die (utopische? ) Chance geborgen, einer Welt, die ihren Fehlern im System ausgeliefert ist, eine andere Welt entgegenzusetzen - ganz so, wie dies der Protagonist in Umberto Ecos L’isola del giorno prima zumindest versucht. Wurde er auch gegen seinen Willen in einer Phase, in der Frankreich und England an die Stelle der alten iberischen Kolonialmächte traten, ans Ende der Welt, an die Datumsgrenze geschickt, wo er zwischen unbekannten Inselwelten Schiffbruch erlitt, so vermag er doch, als einziger Überlebender dieses Schiffbruchs eine andere Welt aufzubauen, in der er dank seines Schreibens eine Möglichkeit des Zusammenlebens mit seiner Signora findet: Non avrebbe dovuto riconoscere che, uscito da un mondo insano, aveva trovato la vera salute? Il naufragio gli aveva concesso il dono supremo, l‘esilio, e una Signora che nessuno ormai poteva sottrargli... 93 Im Scheitern, im Schiffbruch, im Unheil liegt, das eigene Überleben einmal vorausgesetzt, stets die Chance, jene neuen Welten des Wissens zu entdecken, die wir uns beim direkten Erreichen unserer Ziele niemals erträumt hätten. So könnte uns eine Poetik des Scheiterns unverhofft zu einer Poetik des ZusammenLebensWissens führen. Literaturverzeichnis: Barthes, Roland: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France, 1976 - 1977. Texte établi, annoté et présenté par Claude Coste. Paris: Seuil - IMEC 2002. Bernardin de Saint-Pierre: Paul et Virginie. Edition revue et augmentée d'une chronologie. Paris: Editions Garnier Frères 1964. 93 Eco, Umberto: L’isola del giorno prima. Milano: Bompiani 13 2006, S. 212. 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Gegen ein ‚Theater für Menschenfresser’ Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters Klaus-Detlef Müller Die ersten überlieferten Äußerungen Brechts zu Theater und Drama richten sich mit Verve und satirischem Biss gegen alles, was der junge Stückeschreiber auf seinem Gebiet vorfindet: gegen die in seinen Augen völlig überlebte dramatische Tradition des bildungsbürgerlichen Kanons, gegen eine bei aller Kunstfertigkeit unverbindlichharmlose Aufführungspraxis auch der großen Bühnen und ihrer berühmten Regisseure, gegen die Anspruchslosigkeit (Appetitlosigkeit) des Publikums und nicht zuletzt gegen die herrschende Ästhetik. Das ‚bourgeoise Amüsiertheater’ (GBA 21, S. 229) 1 ist trotz „einiger vereinzelter erträglicher Aufführungen“ in seinen Augen „so tot, als es nur sein kann“ (GBA 21, S. 133). Es ist eine „heruntergewirtschaftete, ihrer Magie beraubte alte Schindmährenmanege mit […] weiblichen Tenören und männlichen Primadonnen, mit […] durchwaschenen Dessous und ausgeorgelten Röhren“ (GBA 21, S. 382), die sich allem Zeitgemäßen und Neuen konsequent verweigert. Mag Brecht als Augsburger Theaterkritiker und als provozierender Verursacher von Theaterskandalen in München und Berlin auch pro domo argumentieren, so trifft er doch auch den Nerv der Zeit - das Bewusstsein einer Krise des Theaters ist allgemein. Davon zeugen zahlreiche publizistische Zeugnisse wie Rundfragen und Interviews zur Situation des Theaters, für die Brecht ein gefragter und geschätzter Beiträger und Partner war, und so sind diese Textsorten die Vorform seiner theoretischen Äußerungen. Er verlangt hier ein neues Publikum: das Publikum der Straße, der Sportpaläste, der Sechstagerennen, der Boxkämpfe, ein Publikum, das nicht an Kunst, sondern an der Wirklichkeit interessiert ist. Die aber erschließt sich nicht über das Fühlen: „Ich schreibe nicht für jenen Abschaum, der Wert darauf legt, daß ihm das Herz aufgeht.“ (T2, S. 267) 2 Er hat eine andere Vorstellung von anzustrebender Rezeption: „Die einzige Pietät dem Publikum gegenüber ist, seinen Verstand möglichst hoch einzuschätzen.“(T2, S. 268) Noch aber gibt der Zuschauer „seine Vernunft mit dem Mantel an der Garderobe ab“ (GBA 21, S. 280). Zur Steigerung seiner Aktivität empfiehlt Brecht, das Rauchen zuzulassen, wobei die Schauspieler darauf zu achten hätten, dass die Zigarre auf keinen Fall ausgeht. Dem Regisseur wiederum legt er die Verpflichtung auf, „die alten Werke des alten Theaters rein als 1 Brecht-Zitate nach: Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. 30 Bände. Hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin und Weimar/ Frankfurt/ M. 1988-2000. Zitiert als GBA. 2 T2 = Bertolt Brecht: Schriften zum Theater 2. 1918-1933. Frankfurt/ M. 1963. Klaus-Detlef Müller 38 Material zu behandeln, ihre Stile zu ignorieren, ihre Verfasser vergessen zu machen, und […] allen diesen für andere Epochen gemachten Werken den Stil unserer Epoche aufzudrücken“ (GBA 21, S. 198). Dabei sind ihm die Grenzen solcher Vorschläge durchaus bewusst: Sie liegen darin, dass die Theater, wie alle Formen medialer Vermittlung, als ‚Apparate’ gesellschaftlich institutionalisiert sind und Interessen dienen. Ein neues, zeitgemäßes Theater erfordere also die Inbesitznahme und Umfunktionierug der Apparate: „Der Schrei nach einem neuen Theater ist [nichts weniger als] der Schrei nach einer neuen Gesellschaftsordnung.“(GBA 21, S. 238) Diese hier sehr verkürzt und skizzenhaft angedeuteten Standpunkte und Axiome liegen der Brechtschen Theatertheorie voraus. Sie sind Grundlage einer radikalen, an die Wurzeln gehenden Erneuerung von Drama und Theater, die für das 20. Jahrhundert beispiellos folgenreich war, auch wenn das neuerdings mit einem seltsamen Mangel an historischem Bewusstsein zunehmend geleugnet wird. Allerdings sind auch umstürzende Veränderungen zeitgebunden. Wenn Brecht seine Bemühungen als grundsätzliche Erneuerung von Drama und Theater, als eingreifenden Traditionsbruch verstehen konnte und in diesem Sinne auch gewirkt hat, so konnte er nicht ahnen, dass sein Ansatz am Ende des 20. Jahrhunderts durch das Regietheater und das ‚postdramatische Theater’ 3 bei weitem überboten werden konnte, so dass erst hier die Tradition des europäischen Theaters konsequent aufgegeben wurde. Aus dieser Perspektive erscheinen seine Erneuerungsversuche noch vergleichsweise konservativ, ist er eher der letzte Vertreter des aristotelischen Theaters. 4 So hat er sich auch als Fortsetzer von Tendenzen verstanden, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts virulent wurden. Aus heutiger Sicht ist vor allem entscheidend, dass er konsequent am Primat des Dramentextes festhielt. Theaterarbeit war für ihn Auslegung des Textes und der Fabel, die zwar mit allen Mitteln und Möglichkeiten des Theaters zu leisten ist, sie aber nicht dem Theater als Apparat unterwerfen darf. Schon in den Anmerkungen zur Dreigroschenoper kritisierte er: „Wir haben heute das absolute Primat des Theaters über die dramatische Literatur. […] Die Notwendigkeit, die neue Dramatik richtig zu spielen - wichtiger für das Theater als für die Dramatik -, wird dadurch abgeschwächt, daß das Theater alles spielen kann: es ‚theatert‘ alles ein.“ (GBA 24, S. 58) Demgegenüber verlangt er eine „Literarisierung des Theaters“ (ebd.). Sie bestimmt seine Dramenproduktion ebenso wie seine Regiearbeit bis hin zu den Modellinszenierungen des Berliner Ensembles. In seinen Modellbüchern dokumentiert er, wie die Texte gelesen werden sollten, um zu textgerechten Realisierungen zu gelangen und um ein „allzu freies Herumschöpfen mit seinen Stücken zu verhindern“ (GBA 25, S. 393), - ein Protest gegen die nach heutigen Maßstäben noch vergleichsweise harmlosen Anfänge des Regietheaters. Das gilt auch für die Stücke anderer Autoren, getreu der für die geplante Aufführung von Shakespeares Coriolan 3 Hierzu Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt/ M. ³2005. 4 Vgl. hierzu Klaus-Detlef Müller: „Brecht - ein letzter Aristoteliker des Theaters? Zur Bedeu- tung des Fabelbegriffs für das epische Theater.“ In: IASL 25 (2000), S. 134-147. - Brechts Verhältnis zur Tradition ist produktiv, hingegen ist aristotelisches Theater, das hinter Brechts Neuerungen zurückbleibt, nur noch epigonal. Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters 39 formulierten Maxime: „Ich denke, wir können den Shakespeare ändern, wenn wir ihn ändern können.“(GBA 23, S. 395) So viel als Vorbemerkung. Im Folgenden will ich versuchen, die wichtigsten Grundsätze der Brechtschen Dramen- und Theatertheorie zu erläutern, für die der Stückeschreiber wechselnde Termini verwendet hat: episches Theater, antiaristotelisches Theater, dialektisches Theater, Theater des wissenschaftlichen Zeitalters 5 . I. 6 Zur bestimmenden Gestalt einer neuen Theater- und Dramenästhetik für das 20. Jahrhundert wurde Brecht durch sein Konzept des epischen Theaters. Damit ist zunächst der Versuch bezeichnet, neue und zeitgemäße Gegenstände auf der Bühne darstellbar zu machen. 7 Für diese Gegenstände erwies sich die überlieferte Form der Dramatik als ungeeignet: „Man konnte tatsächlich nicht mehr wagen, [das klassische Repertoire] in seiner alten Form erwachsenen Zeitungslesern anzubieten.“ (GBA, 21, S. 182) Seine Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann hat in einer Notiz vom 26.7.1926 Brechts Äußerung festgehalten: „Wenn man sieht, daß unsere heutige Welt nicht mehr ins Drama paßt, dann paßt das Drama eben nicht mehr in die Welt“, und sie fügt hinzu: „Im Verlaufe dieser Studien stellte Brecht seine Theorie des ‚epischen Dramas’ auf.“ 8 Allein das „große epische und dokumentarische Theater“, so Brecht 1927, könne beanspruchen, „unserer Zeit gemäß“ zu sein (GBA 21, S. 200). Auf eine Theorie im eigentlichen Sinne legt er sich in den zwanziger Jahren allerdings nicht fest, betont aber, dass die epische Technik nicht nur die Dramenform, sondern auch die „Darstellung durch den Schauspieler, Bühnentechnik, Dramaturgie, Theatermusik, Filmverwendung usw.“ umfasst und „nicht so sehr an das Gefühl, sondern an die Ratio des Zuschauers appelliert. Nicht miterleben soll der Zuschauer, sondern sich auseinandersetzen“, was allerdings keinesfalls bedeute, dass dem epischen Theater das Gefühl abzusprechen sei (GBA 21, S. 210). Auch wenn es zunächst nicht sehr viel mehr ist als ein programmatisches Schlagwort, spielt es in den kulturkritischen Diskussionen der Zeit sofort eine beachtete Rolle. In einem Rundfunkgespräch mit dem Soziologen Fritz Sternberg, dem Theaterkritiker Herbert Ihering und dem Intendanten des Kölner Rundfunks Ernst Hardt vom 11. Januar 1929 wird Brecht zur Präzisierung der Grundsätze seiner neuen Dramatik aufgefordert: Er verlangt eine Umorientierung von der Ästhetik als der Lehre vom Schönen auf die Soziologie, „d.h. die Lehre von den Beziehungen der Menschen zu den Menschen, 5 Vgl. hierzu Klaus-Detlef Müller: „Das alte Neue. Brechts ‚Theater des wissenschaftlichen Zeitalters’.“ In: Carsten Dutt/ Roman Luckscheiter (Hrsg.): Figurationen der literarischen Moderne. Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2007, S. 261-275. 6 Das Folgende ist teilweiseVorabdruck eines Kapitels aus der Neufassung des Arbeitsbuches Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. 7 Vgl. hierzu Werner Hecht: „Brechts Weg zum epischen Theater 1918-1933.“ Berlin 1962. Wiederabdruck. In: Werner Hecht (Hrsg.): Brechts Theorie des Theaters. Frankfurt/ M. 1986, S. 45-90. 8 Elisabeth Hauptmann: „Notizen über Brechts Arbeit 1926.“ In: Sinn und Form. 2. Sonderheft Bertolt Brecht. Berlin 1957, S. 241-243, hier: S. 243. Klaus-Detlef Müller 40 also die Lehre vom Unschönen“, um „möglichst alles, was wir an Dramatik und Theater heute haben, möglichst vollständig unter den Boden zu schaufeln.“(GBA 21, S. 270) Das bedeutet insbesondere, wie der Soziologe Sternberg auf Brechts Aufforderung erläutert, dass das Drama des Individuums als historisch überholt zu verabschieden sei. Seine Form ist für Brecht schon seit Shakespeare die eines „Haferfeldtreibens“, das spätere Zeiten als „ein Drama für Menschenfresser“ wahrnehmen werden (GBA 21, S. 272). Dagegen tritt die „Theorie des epischen Theaters“ an, für die der Stückeschreiber ein eingeschränktes Urheberrecht beansprucht (sie sei „allerdings von uns“), zugleich aber auf ältere Ursprünge verweist, etwa im asiatischen Theater (das er nur aus einigen unvollständigen Berichten und Fotos kennt) und im Naturalismus, dessen Romane „das Eindringen von Wissenschaft in Kunstbezirke“ praktiziert und auch für die Dramatik verbindlich gemacht hätten - in epischer Form (GBA 21, S. 273f.). Was Brecht in der Weiterentwicklung dieser Traditionslinie, in der er Georg Kaiser als seinen unmittelbaren Vorläufer sieht, für sich beansprucht, ist (über Kaiser hinausgehend) die Entthronung des Individuums, die „diskutierende Haltung“, die Einführung „kollektivistischer Inhalte“ und die Orientierung auf ein „Publikum des wissenschaftlichen Zeitalters“ (GBA 21, S. 275). Sternberg deutet darüber hinaus eine Zukunftsperspektive dieser Art von Dramatik an: Bei einem dialektischen Umschlag der ökonomischen Verhältnisse sei das epische Theater nicht weniger als die „Vorwegnahme der Erlebnisse der zukünftigen Historie“ (GBA 21, S. 275). In einem Presseartikel von 1929 (Über Stoffe und Form, GBA 21, S. 302-304) hält Brecht fest, dass der Weg zu einem neuen Theater mit der Entscheidung für die neuen Stoffe (genannt sind hier exemplarisch die Rolle des Heliums, der Petroleumkomplex, das Geld) beginne und dass diese sofort auf die Grenzen der dramatischen und theatralischen Form stoße: „Schon zur Dramatisierung einer simplen Pressenotiz reicht die dramatische Technik der Hebbel und Ibsen bei weitem nicht aus.“ (GBA 21, S. 303) Denn mit den neuen Stoffen ergibt sich eine ganz neue Art von „Beziehungen der Menschen untereinander“, deren Komplexität „nur durch Form vereinfacht werden“ könne und damit eine neue Zwecksetzung der Kunst erfordere. Den neuen Zweck nennt er etwas missverständlich ’Pädagogik’. Im Kontext richtet sich das gegen die mittelmäßige Unterhaltungsdramatik, bezeichnet das Moment der Belehrung, die auf Objektivität zielt, wie denn episch und dokumentarisch als formale und inhaltliche Wechselbegriffe verwendet werden. Als Terminus verweist das epische Theater auf die theaterpraktische Orientierung in Brechts Versuch einer Neubestimmung von Drama und Theater. Obwohl er zunächst an eine Liquidierung der Ästhetik und an eine wissenschaftliche Begründung im Zeichen der Soziologie denkt, geht es um eine Neuakzentuierung, nicht um einen Bruch mit der Tradition, wie es die Berufung auf die Weiterführung der epischen Tendenzen in der naturalistischen Literatur bezeugt. Erst später hat er die naturalistische Dramatik als unzulänglich und sogar als verbrecherisch bezeichnet, als letzte und konsequenteste Ausprägung der bürgerlichen Dramaturgie, die als Mitleidsdramaturgie darauf abziele, den Menschen mit seinem ‚Schicksal’ abzufinden (vgl. GBA 21, S. 232). Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters 41 Der ökonomische Charakter aller bestimmenden gesellschaftlichen Momente der Wirklichkeit und damit der zeitgerechten Gegenstände von Drama und Theater hatte Brecht schon 1926 zur Marx-Lektüre geführt. 9 Der marxistische Soziologe Fritz Sternberg vermittelte ihm dann die wissenschaftlich begründete Einsicht in die historische Relativität der Kunst und ihrer Formen und damit eine objektive und wissenschaftliche Rechtfertigung für eine andere Begründung und Umfunktionierung des Theaters und der Schauspielkunst. Das Studium des Marxismus setzt Brecht fort durch die Teilnahme an Kursen der Neuköllner Marxistischen Arbeiterschule, vor allem aber durch die Kooperation mit marxistisch geschulten Intellektuellen wie Hanns Eisler, Emil Burri, Bernhard von Brentano, Walter Benjamin, Paul Partos, Slatan Dudow, Alfred Döblin und insbesondere Karl Korsch, den er ausdrücklich als seinen ‚marxistischen Lehrer’ bezeichnet hat. 10 Von entscheidender Bedeutung ist die Einsicht in die Möglichkeit einer Begründung von Drama und Theater im Rahmen der materialistischen Dialektik. Schon zu Beginn der 30er Jahre hat Brecht gelegentlich den Terminus ‚dialektisches Theater’ verwendet und für die ‚Versuche’ eine entsprechende Abhandlung angekündigt. Gleichwohl hat er an dem Begriff ‚episches Theater’ festgehalten und damit den vermittelnden Traditionsbezug nicht aufgegeben. In einem 1956 geführten Gespräch mit Ernst Schumacher hat er deshalb einräumen müssen, es sei ihm nicht gelungen, „klarzumachen, daß das Epische meines Theaters eine Kategorie des Gesellschaftlichen und nicht des Ästhetisch-Formalen ist.“ 11 Gleichwohl ist der Sprachgebrauch folgerichtig, insofern er deutlich macht, dass die angestrebte Funktionsänderung vom Drama und vom Theater und nicht vom politischen Kontext her begründet, wenn auch gesellschaftskritisch intendiert war. Wenn zur Präzisierung der zugleich ästhetischen und gesellschaftlichen Pro-grammatik im Folgenden von einer Theorie des episch-dialektischen Theaters die Rede ist, soll damit verdeutlicht werden, dass es sich „nicht in erster Linie um eine Theorie des politischen Theaters, sondern um eine politische Theorie des Theaters“ handelt. 12 Sie liegt nicht in der 9 Die neuere Forschung tendiert dazu, die marxistischen Voraussetzungen des Brechtschen Werkes wieder zu ignorieren. Das ist nach dem Scheitern des sozialistischen Experiments naheliegend, aber nicht sachgerecht. Selbst Jan Knopf wendet sich in einer neueren Publikation gegen eine Orientierung an den verschiedenen für das Werk beanspruchten Ideologien, darunter auch der Marxismus (vgl. Jan Knopf: Bertolt Brecht. Frankfurt/ M. 2006, hier: S. 7). Auch wenn es zu begrüßen ist, dass das Interesse stärker den poetologischen Qualitäten gilt, ist ein Ignorieren der historischen Voraussetzungen fahrlässig. 10 Hierzu Wolfdietrich Rasch: „Brechts marxistischer Lehrer. Zum ungedruckten Briefwechsel zwischen Brecht und Karl Korsch.“ In: Merkur 17/ 1963, S. 988-1003. Erweiterte Fassung in WR: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1967, S. 243-273, 315-317. 11 ErnstSchumacher: „Er wird bleiben.“ In Hubert Witt (Hrsg.): Erinnerungen an Brecht. Leipzig 1964, S. 339. 12 Michael Voges: „Gesellschaft und Kunst im wissenschaftlichen Zeitalter. Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters.“ In: Klaus-Detlef Müller (Hrsg.): Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München 1985, S. 201-255, hier: S. 201. Die Ausführungen von Voges sind nach wie vor eine der besten Einführungen in Brechts. Klaus-Detlef Müller 42 Form einer systematischen Abhandlung vor, sondern in einer Vielzahl von Stellungnahmen, kleineren Schriften, Anmerkungen zu Stücken und Aufführungen, theaterpraktischen Empfehlungen, aktuellen Rechtfertigungen und Polemiken, Äußerungen in Briefen und Selbstverständigungen im Journal, oftmals nur in fragmentarischer Form, deren gemeinsamer Argumentationshorizont unverkennbar und erschließbar ist, ohne als solcher vollständig ausformuliert zu sein. Der Versuch einer Zusammenführung im Messingkauf ist Fragment geblieben, dessen ‚kurze Zusammenfassung’ im Kleinen Organon für das Theater gibt den Reflexionsstand nur unvollständig wieder, zumal da seit dem Beginn des Exils die für die Erprobung unverzichtbare praktische Theaterarbeit fehlte und der für die Weiterentwicklung des Konzepts notwendige Prozess, Einfluss auf eine Veränderung der Institutionen und des Zuschauerverhaltens zu nehmen, abgebrochen war. Theatertheorie wird gleichsam zum Ersatz für die verhinderte Theaterpraxis und ist in der Folge mit dem Kleinen Organon für das Theater Grundlage der wiedergewonnenen Theaterarbeit. Das heterogene Material, das zum größten Teil erst nach Brechts Tod veröffentlicht wurde, erlaubt trotz seiner eingeschränkten Systematik eine Rekonstruktion des Theoriekonzepts. II. Das epische Theater war von Anfang an auf große und objektive Gegenstände und auf eine kritische Gesellschaftsanalyse orientiert, die bei aller dem Medium Theater geschuldeten Pointierung und Stilisierung überprüfbar wirklichkeitsgerecht sein und selbst wissenschaftlichen Kriterien standhalten sollte. Brecht rechnet mit einem informierten, urteilsfähigen und mindestens sachverständigem Publikum, das das Bühnengeschehen nicht passiv mitvollziehen, sondern distanziert beobachten und kritisch beurteilen soll. Nicht an sein Gefühl, sondern an seinen Verstand appelliert er, an seinen Lernwillen, nicht an sein Unterhaltungsbedürfnis, wobei das nicht als Alternative, sondern als Akzentverschiebung gedacht ist. Die folgenreiche vergleichende Schematisierung der dramatischen und der epischen Form des Theaters in den Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny’ (GBA 24, S. 78f.) provozierte in der scheinbar antithetischen Gegenüberstellung von Gefühl und Ratio als deren Rezeptionsformen ein lang anhaltendes Missverständnis, weil nicht beachtet wurde, dass Brecht nicht auf Oppositionen, sondern ausdrücklich auf „Gewichtsverschiebungen“ abzielte. Die zunächst eher gesellschaftsanalytische Lehrhaftigkeit der ersten Theorie des epischen Theaters, die schon auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Institutionen und der Apparate (Theater, Oper, Rundfunk, Musikleben) und eine andere Organisation des Staates abzielte, erhält eine neue Zielrichtung und ein spezifisches Publikum durch die von Karl Korsch vermittelte Einführung Brechts in die materialistische Dialektik und das dialektische Denken. 1928 notiert Brecht: „Als ich ‚Das Kapital‘ von Marx las, verstand ich meine Stücke. […] Ich entdeckte natürlich nicht, daß ich einen ganzen Haufen marxistische Stücke geschrieben hatte, ohne eine Ahnung zu haben. Aber dieser Marx war der einzige Zuschauer für meine Stücke, den Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters 43 ich je gesehen hatte. Denn einen Mann mit solchen Interessen mußten gerade diese Stücke interessieren. Nicht wegen ihrer Intelligenz, sondern wegen der seinen. Es war Anschauungsmaterial für ihn.“ (GBA 21, S. 256f.) Mit der genaueren Kenntnis der materialistischen Dialektik ist die hier ironisch bezeichnete Verständnisbarriere tatsächlich oder vermeintlich aufgehoben: Der Stückeschreiber findet sein Publikum, indem er sich zu dessen Anwalt macht. Brecht übernimmt von dem marxistischen Philosophen Karl Korsch das Modell eines ‚kritischen Marxismus’: „Drängen auf die Krise hin, Herauswicklung der Widersprüche, die Kunst des praktischen Negierens, also einer Kritik, die, der Entwicklungsgesetze eingedenk, im Hinblick auf eine bestimmte mögliche Lösung kritisiert.“(GBA 22, S. 45) Die bestimmte Negation erweist sich als Grundhaltung einer marxistischen Gesellschaftstheorie, die die bestehende Gesellschaft als veränderlich begreift und eine angemessene Beschreibung des solchermaßen historisierten Gegenstandes nur im Rahmen einer Theorie seiner Veränderung zu leisten vermag. Geschichte stellt sich dar als Feld menschlicher Praxis, als ein - bei aller sozialhistorischen Kausalität - in bestimmter Weise offener Prozess, der den menschlichen Eingriff, die Aktivität des ‚subjektiven Faktors’, nicht allein möglich, sondern notwendig macht. Die Dialektik von Theorie und Praxis erscheint als dialektische Einheit von Denken und Verhalten. Für das von Brecht geforderte „eingreifende Denken“ ist die Dialektik eine „Einteilung, Anordnung, Betrachtungsweise der Welt, die durch Aufzeigung ihrer umwälzenden Widersprüche das Eingreifen ermöglicht.“ (GBA 21, S. 424) Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit lässt weder den Erkennenden noch die erkannte Wirklichkeit unverändert: „Man kann die Dinge erkennen, indem man sie ändert.“ (GBA 21, S. 425) Die Darstellung der Wirklichkeit im Theater erhält mit dem angestrebten Funktionswechsel die Aufgabe, die Notwendigkeit und die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen erfahrbar zu machen. Es wird damit, wie Brecht in wiederholten Hinweisen auf Marx’ 11. Feuerbachthese ausführt, „eine Angelegenheit für Philosophen, allerdings solcher Philosophen, die die Welt nicht nur zu erklären, sondern auch zu ändern wünschten“, also von dialektischen Denkern (GBA 22, S. 110). In diesem präzisen Sinn erweist sich das episch-dialektische Theater als eine ‚Dramaturgie der Veränderung’. Es ist Teil der ‚geistigen Aktion’, einer Kritik herrschender Vorstellungen über das gesellschaftliche Zusammenleben, also Ideologiekritik und Medium ‚eingreifenden Denkens’. Es bleibt Teil des Überbaus, für den die Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit objektiv vorgegeben und als solche darstellbar sind, aber es kann diese Widersprüche verschärfen und in dialektischer Realitätserkenntnis einen Beitrag zu ihrer Lösung leisten und damit zur Praxis werden. Für die praktische Erprobung der neuen Grundsätze des episch-dialektischen Theaters blieb Brecht in der Endphase der Weimarer Republik und vor der Emigration kaum noch Zeit. Der wichtigste Versuch ist die Aufführung der Mutter nach dem Roman von Maxim Gorki (1932). In den Anmerkungen zu Stück und Aufführung erläutert der Stückeschreiber Text und Aufführung. Das Werk ist ausdrücklich „ein Stück antimetaphysischer, materialistischer, nichtaristotelischer Dramatik“ (GBA 24, 115). Es fordert eine neue Zuschauerhaltung: Statt „hingebender Einfühlung, Klaus-Detlef Müller 44 […] psychischer Wirkungen, wie etwa der Katharsis, […] suggestiven Theatererlebnisses“ soll ein „ganz bestimmtes praktisches, die Welt veränderndes Verhalten“ gelehrt, soll der Held nicht einem „unentrinnbaren Schicksal“ ausgeliefert werden (GBA 24, S. 115). Der Terminus nichtaristotelisches oder antiaristotelisches Theater wird in der Folge zu einem Schlüsselbegriff für die Bestimmung des epischen Theaters. Er bezeichnet die programmatische Wendung gegen das bürgerliche Theater und dessen Grundsätze der Einfühlung, der Illusion, des Glaubenmachens und des Appells an das Gefühl des Zuschauers statt an sein kritisches Urteilsvermögen. Vom epischen Theater wird zudem nicht das Individuum angesprochen, sondern das soziale Subjekt, „der Zuschauer als Masse“ (GBA 21, S. 441). Unter Berufung auf Korschs Kernpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung (1922) hat Brecht die Wirkungsintention der aristotelischen Dramaturgie kritisiert: Sie setze auf mitleidende Identifikation - Mitleid sei aber„die dem Menschen zugekehrte Seite des Einverständnisses mit dem durch Menschen nicht Änderbaren“, das als Schicksalsgläubigkeit den „Zusammenhang zwischen dem Tragischen und dem Religiösen“ (GBA 21, S. 574) bezeuge, und sei historisch überholt, „denn das Schicksal des Menschen ist der Mensch geworden“ (GBA 22, S. 710). ‚Nichtaristotelische Dramatik’ bezeichnet also das Differenzkriterium im Verhältnis zur dramatischen und theatralischen Tradition. Ebenso wie die Bezeichnung ‚episches Theater’ statt der näherliegenden und auch gelegentlich verwendeten ‚dialektisches Theater’ verweist die Begrifflichkeit auf eine Funktionsänderung zugleich der Dramaturgie und der schauspielerischen Praxis, nicht jedoch auf einen Bruch im Sinne einer ausschließlich politischen Instrumentalisierung. Das episch-dialektische Theater versteht sich als revolutionär, es bleibt aber Theater, wenn auch mit einer anderen Verwendung der theatralischen Mittel. Das Bühnenbild Caspar Nehers zur Mutter täuscht keine Wirklichkeit vor, sondern nimmt „sozusagen selber Stellung zu den Vorgängen“ (GBA 24, S. 115), ebenso wie das szenische Arrangement. Seine „ordnenden Gesichtspunkte sind geschichtlich-gesellschaftlicher Art“ (GBA 24, S. 118). Der Schauspieler macht sich als „zwischen Beschauer und Vorgang stehend bemerkbar“ (GBA 24, S. 119) und die Bedeutung der Vorgänge wird durch Lieder und Chöre kommentiert. „Die einzelnen Szenen wirkten wie Gleichnisse.“ (GBA 24, S. 110) Das ist ein Hinweis auf den gestischen Charakter des Bühnengeschehens. Elisabeth Hauptmann hatte diesen schon 1926 als spezifisch für das epische Theater festgehalten. Sein Prinzip ist „aus dem Gedächtnis spielen (Gesten; Haltungen zitieren)“, so dass „Zeigeszenen“ entstehen. 13 Das Gestische ist die zu visueller Anschaulichkeit aufgehobene objektive Bedeutung des dargestellten Vorgangs, die Aufhebung des falschen illusionistischen Scheins von Unmittelbarkeit in die Mittelbarkeit des aus epischer Distanz gewissermaßen Zitierten, das in der Wiedergabe als schon Verstandenes objektiviert wird. In diesem Sinne erhalten die Szenen der Mutter die exemplarische Bedeutung historisch repräsentativer Gleichnisse. 13 Hauptmann (Anm. 7.), S. 243. Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters 45 III. Bis zum Exil waren die theatertheoretischen Reflexionen Brechts weitestgehend Begleitung der praktischen Theaterarbeit in der Form von Anmerkungen zu den Stücken und Aufführungen oder publizistische Auseinandersetzung mit der Situation des Theaters. Sie sind, wie Brecht im Journal am 11.5.1942 als Entgegnung auf einen kritischen Einwand Hanns Eislers notiert, „zwar nur technische Hinweise für die Aufführung, nötig, weil ohne sie die Bühne die Stücke stilmäßig einschmelzen und um ihre spezielle Wirkung bringen, andererseits aber auch Bruchstücke einer Ästhetik des Theaters, die nicht geschrieben ist“ (GBA 27, S. 94). In diesem Sinne sind auch die zahlreichen, nur teilweise veröffentlichten Schriften des Exils zu verstehen, von denen nur einige hier Erwähnung finden können. In einem Aufsatz mit dem Titel Vergnügungstheater oder Lehrtheater? von 1935 macht Brecht deutlich, dass die Einführung epischer Elemente in die dramatische Form, mithin die Aufhebung der aristotelischen Trennung dramatischer und epischer Darstellungsweisen, im epischen Theater lehrhafte Tendenzen wirksam werden lässt, allerdings nur dann, wenn ihre Nützlichkeit auch das Bedürfnis nach Vergnügen befriedigt: „Gäbe es nicht solch amüsantes Lernen, dann wäre das Theater seiner ganzen Struktur nach nicht imstande, zu lehren. Das Theater bleibt Theater, auch wenn es Lehrtheater ist, und soweit es gutes Theater ist, ist es amüsant.“ (GBA 22, S. 112) Andererseits kann aber keine Rede davon sein, dass die Erkenntnis und die Darstellung der „großen verwickelten Vorgänge in der Welt“ für den Künstler „ohne Benutzung einiger Wissenschaft“ möglich sei (GBA 22 S. 112f.): Zeitgerechte Kunst darf also nicht hinter dem zurückbleiben, was die Wissenschaft weiß, aber zugleich gilt: „Was immer an Wissen in der Dichtung stecken mag, es muß völlig umgesetzt sein in Dichtung.“ (GBA 22, S. 114) Vergnügungstheater und Lehrtheater sind also keine Gegensätze, sondern korrespondierende Momente einer zeitgemäßen Ästhetik. In diesem Zusammenhang spricht Brecht davon, dass das epische Theater nicht auf eine „einfache Einfühlung in dramatische Personen“ setzen dürfe, sondern „Stoffe und Vorgänge einem Entfremdungsprozeß aus[setzen]“ müsse, um sie verstehbar zu machen: „Das ‚Natürliche‘ mußte das Moment des Auffälligen bekommen.“ (GBA 22, S. 108f.) Was hier ‚Entfremdungsprozeß’ genannt ist, wird unter dem Begriff ‚Verfremdung’ zu einem Schlüsselkomplex des episch-dialektischen Theaters. 14 Verfremdung setzt einen „weitgehenden Verzicht auf Einfühlung des Zuschauers“ vo-raus, nicht aber den „Verzicht auf seine Beeinflussung. Die Darstellung des Verhaltens der Menschen vom gesellschaftlichen Standpunkt aus soll ja gerade das gesellschaftliche Verhalten des Zuschauers eingreifend beeinflussen.“ (GBA 24, S. 211) Dem Einfühlungsprinzip der aristotelischen Dramatik attestiert Brecht historische Überholtheit: „Vom Standpunkt der Einzelpersönlichkeit aus können die entscheidenden Vorgänge unseres Zeitalters nicht mehr begriffen, durch Einzelpersönlichkeiten können sie nicht mehr beeinflußt werden. Damit fallen die Vorteile der Einfühlungstechnik, jedoch fällt mit der Einfühlungstechnik keineswegs die Kunst.“ 14 Vgl. hierzu Jan Knopf: „Verfremdung.“ In: Hecht (Anm. 6), S. 93-141. Klaus-Detlef Müller 46 (GBA 22, S. 175) An ihre Stelle tritt die Verfremdungstechnik und der Verfremdungseffekt (V-Effekt). Verfremdung ist eine Darstellung, „durch die das Geläufige auffällig, das Gewohnte erstaunlich“ wird (GBA 22, S. 211), den Schein des Natürlichen und Nicht-Änderbaren verliert. Die Wahrnehmung wird entautomatisiert, das fraglos Hingenommene wird als fremd gezeigt und verliert seine unbefragte Legitimation. Der fremde Blick, der in den Naturwissenschaften zu Fortschritten in der Erkenntnis geführt hat, richtet sich auf die sozialen Verhältnisse im Bühnengeschehen. Der Schauspieler identifiziert sich nicht mit seiner Rolle und verhindert zugleich eine Identifikation des Zuschauers mit seinem Rollen-Ich. Er zitiert seinen Text und zugleich seinen eigenen Verhaltensgestus in der dramatischen Aktion, nimmt in seinem Spiel Stellung zu den gezeigten Vorgängen und lädt den Zuschauer zu deren kritischer Beurteilung ein. Er vermeidet illusionistische Wirkungen, kommuniziert mit dem Publikum und reisst die ‚vierte Wand’ nieder, die im Illusionstheater den Schein von Unmittelbarkeit und realer Präsenz des Geschehens fingiert. Nicht nur sein Spiel, sondern auch die Bühnendekoration und die Verwendung von Musik, der ‚Schwesterkünste’ in der Inszenierung, kommentieren die Vorgänge und nehmen zu ihnen Stellung. Und auch der Zuschauer wird aktiv, er soll das Gezeigte nicht mit- und nachempfinden, sondern kritisch einschätzen. Die Aufgabe der Einfühlung ist im Hinblick auf den Kunstanspruch des Theaters „eine riesige Entscheidung, vielleicht das größte aller denkbaren Experimente“ (GBA 22, S. 553). Dabei legt Brecht sich auf einen Gesichtspunkt fest, der für seine Theaterarbeit von entscheidender Bedeutung ist, wenn er erklärt: „Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt werden.“ (GBA 22, S. 154f.) Historisierung der Gegenwart verlangt aber, dass der Zuschauer einen Standpunkt bezieht, der „nicht nur außerhalb der Sphäre der Figur, sondern auch weiter vorn in der Entwicklung liegt“ (GBA 22, S. 819), also in der sozialen Utopie, der Vorwegnahme des zukünftigen Sinns der Geschichte, zu dessen Verwirklichung das aktuelle Publikum aufgerufen ist. In diesem Sinne ist „der V-Effekt eine soziale Maßnahme“ (GBA 22, S. 700). So programmatisch alle diese Überlegungen und Anweisungen sind, verzichtet Brecht doch auf ihre Verabsolutierung. Der Darstellungsstil des epischen Theater ist „ein Weg, den wir gegangen sind“, nicht „der neue Stil“, sondern „eine der vielleicht möglichen Lösungen des Problems, das so lautet: wie kann das Theater zugleich unterhaltend und lehrhaft sein“ und „dem Menschen dieses großen und schrecklichen Jahrhunderts“ helfen, „sich und die Welt zu meistern.“ (GBA 22, S. 557) Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters 47 IV. Als seine umfassendste und umfangreichste theatertheoretische Schrift hat Brecht, vor allem in den Jahren 1939 und 1940, den Messingkauf konzipiert. 15 Die Schrift blieb unvollendet und fragmentarisch, ist aber der wichtigste Versuch, die Grundsätze des episch-dialektischen Theaters zu klären und zu vermitteln. Der Messingkauf ist aber weniger ein selbständiger Theorieentwurf als vielmehr ein zweckbestimmter Rahmen für die Zusammenführung sowohl publizierter als auch unveröffentlichter, vielfach noch fragmentarischer Schriften. Er formuliert vorhandene Entwürfe um und stellt sie in einen komplexeren Kontext. Dabei geht es darum, die Verfahrensweisen des episch-dialektischen Theaters im Kontext der Theaterexperimente seit dem Naturalismus, vor allem aber der 1920er und frühen 1930er Jahre, zu begründen und systematisch zu rechtfertigen. Die ganz eigene Qualität des zwar unabgeschlossenen, in seiner Konzeption aber zu Ende geführten Entwurfs ist Vermittlung, sowohl im formalen Sinne der Präsentation der Argumente als auch gehaltlich im reflektierten Anschluss an die ästhetische Tradition der Theaterkunst. Brecht bedient sich dabei der platonischen Form des philosophischen Dialogs. Er weist darauf hin, daß ihn die Dialoge Galileis, insbesondere der Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, zu dieser Form „angestiftet“ haben (GBA 26, S. 327). Sie gehörten zu den Arbeitsgrundlagen des zeitgleich entstehenden Leben des Galilei. Der Dialog als Form der Darbietung eröffnet die Möglichkeit, auf Polemik, die bis 1933 die lustvoll praktizierte Grundhaltung des Theatertheoretikers Brecht war, weitgehend zu verzichten. In einem Brief an Slatan Dudow vom Juli 1937 verwendet er für die neue verbindlichere, in der Sache aber weiterhin entschiedene Haltung das Stichwort „Wortdiplomatie“ (GBA 29, S. 37) und beruft sich dafür auf die Argumentationsweise der Naturwissenschaften: „Bacon polemisierte niemals, wie er mit Stolz hervorhebt, und dabei griff keiner so erfolgreich wie er die Scholastik an.“ (GBA 29, S. 37f.) In der gleichen Weise wendet sich der Messingkauf gegen die ästhetische Scholastik des aristotelischen Klassizismus. In diesem Sinne wird die Theorie des episch-dialektischen Theaters in vier nächtlichen Diskussionen zwischen einem Philosophen als Anwalt eines Funktionswechsels der Institution Theater und vier Theaterleuten prozesshaft entwickelt. Der Philosoph vertritt die Grundsätze des episch-dialektischen Theaters, wie sie in Brechts Schriften der 1930er Jahre entwickelt wurden: eingreifendes Denken, nichtaristotelisches Theater, Kritik des Naturalismus, Säkularisierung des Theaters als einer ursprünglich kultischen Institution, Kritik der Einfühlung, Vereinbarkeit von Vergnügungstheater und Lehrtheater, Verfremdung und Historisierung, Fixieren des Nicht- Sondern, Gleichnis und Parabel, epische und gestische Spielweise, Distanzierung durch kommentierende Elemente, gezielter Einsatz von Musik und Bühnenbau, 15 Vgl. hierzu Klaus-Detlef Müller: „Der Philosoph auf dem Theater. Ideologiekritik und ‚Linksabweichung’ in Bertolt Brechts Messingkauf.“ In: Text+Kritik. Sonderband Bertolt Brecht I. München 1972, ²1978. Auch in: Hecht (Anm. 6), S. 142-182 und ders.: „Die ‚dialektische Wendung’ in Brechts Messingkauf. Kunst und Ästhetik in der Theorie des epischen Theaters.“ In: Text+Kritik. Sonderband Bertolt Brecht I. Dritte Auflage. Neufassung. München 2006, S. 33-40. Klaus-Detlef Müller 48 Aktivierung des Zuschauers, Aufdeckung der gesellschaftlichen Kausalität usw. Die Theaterleute halten dagegen, indem sie die ästhetischen Funktionen der tradierten Theaterkunst begründen und rechtfertigen und den unterstellten Kahlschlag gegen ihre Praktiken abschwächen. Der Verlauf der nächtlichen Auseinandersetzungen zeigt aber, dass die Standpunkte gar nicht so unvereinbar sind, wie es zunächst den Anschein hatte. Auch als soziales Laboratorium benötigt das Theater die hochentwickelte Spielkultur der Theaterkunst, um den angestrebten Funktionswechsel der Institution vollziehen zu können, so dass die Theaterleute sich durch das ‚Thaeter‘, wie der Philosoph sein Konzept in Abgrenzung zur aristotelischen Tradition vorläufig nennt, durchaus nicht in Frage gestellt fühlen müssen. Und der Philosoph muss seinerseits anerkennen, dass das Theater der Einfühlung und Illusion in seinen Praktiken ein Potential enthält, das verfremdende Darstellung auf dem angestrebten Niveau überhaupt erst möglich macht. Brecht hatte ja von Anfang an betont, dass es sich bei der Unterscheidung der dramatischen und der epischen Form des Theaters nicht um Oppositionen, sondern um „Gewichtsverschiebungen“ (GBA 24, S. 78) handelt - genau das demonstriert der Messingkauf in der dialogischen Auseinandersetzung. Und das führt in der vierten Nacht zu einer für beide Seiten unerwarteten Vermittlung, zu einer „Rückverwandlung des Thaeters in ein Theater“ (GBA 22, S. 697). Denn der Dramaturg stellt fest, dass die Inanspruchnahme der Theaterleute für ein „wissenschaftliches Institut“, das keine Kunst produzieren zu wollen vorgab, an sie einen sogar gesteigerten Kunstanspruch gestellt hat: „Spielend wie du es willst und zu dem Zweck, den du willst, machen wir doch Kunst.“ (GBA 22, S. 752) Seine neue Legitimation als Kunst erhält das Theater allerdings erst durch einen Funktionswechsel, den seine Krise in den 1920er Jahren vorbereitet und gefordert hat, als bestimmte Negation. Denn der ganze Apparat der Theaterkunst diente zuvor „dem Geschäft, die Menschen mit dem Schicksal abzufinden. Diesen Apparat ruinierte sie [die Theaterkunst], als plötzlich in ihren Darbietungen als Schicksal des Menschen der Mensch auftrat. Kurz, sie wollte das neue Geschäft betreiben, aber die alte Kunst bleiben. Sie tat alles zögernd, halb, egoistisch, mit schlechtem Gewissen. Aber nichts steht der Kunst weniger an. Erst als sie sich selber aufgab, gewann sie sich selber wieder.“ (GBA 22, S. 748) Die Aufhebung der Entgegensetzung von neuer Zwecksetzung und Bewahrung des Kunstanspruchs ist das bestimmende Moment der prozesshaft dialogischen Auseinandersetzung und ihrer Präsentation als Konfrontation scheinbar sich ausschließender Interessen. Den so erzielten Konsens hat Brecht als „die dialektische Wendung in der Vierten Nacht des ‚Messingkaufs’“ bezeichnet: „Dort geht der Plan des Philosophen, die Kunst für Lehrzwecke zu verwerten, auf in dem Plan der Künstler, ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihre Fragen gesellschaftlicher Art in der Kunst zu plazieren.“ (GBA 26, S. 457) Wissenschaft und Kunst sind keineswegs „zwei ungeheuer verschiedene Dinge, […] Wissen gehört zur Menschlichkeit ebenso wie Kunst […]. Ganz ohne Wissen ist niemand, und so ist niemand ganz ohne Kunst.“(GBA 22, S. 808) Das bedeutet aber nicht, dass sie zusammenfallen. Vielmehr macht gerade die Unterscheidung eine Würdigung der Schauspielkunst durch den Philosophen als den Vertreter des Wissens und der Lehre möglich: „Die Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters 49 Schauspielkunst kann nur als eine elementare menschliche Äußerung verstanden werden, die ihren Zweck in sich hat. […] Sie beruht auf einem unmittelbar gesellschaftlichen Vermögen, einer Lust der Menschen in Gesellschaft, sie ist wie die Sprache selber, sie ist eine Sprache für sich.“ (GBA 22, S. 754) Als eine Art Sprache kann sie zwar benutzt und auch missbraucht werden, aber sie ist zugleich die Bedingung von Welterfahrung, Welterschließung und Weltwissen. Ein solches Fazit ist ein neuer Akzent in Brechts Theatertheorie. Er ergibt sich aus der Art ihrer Präsentation, in der sich die unterschiedlichen Standpunkte begegnen. Geltungsanspruch und Geltungsverlust werden nicht gesetzt, sondern ausgehandelt, wobei sich zeigt, dass Wissen und Lehre mit Kunst sehr wohl vereinbar sind, zugleich aber, was in diesem Kontext vielleicht noch wichtiger ist, dass der Kunst auf neue Weise Autonomie zugestanden werden kann: „So ist die Kunst ein eigenes und ursprüngliches Vermögen, welches weder verhüllte Moral, noch verschönertes Wissen allein ist, sondern eine selbständige, die verschiedenen Disziplinen widerspruchsvoll repräsentierende Disziplin.“ (GBA 22, S. 755) V. Der Messingkauf ist nicht über das Stadium des Entwurfs und des Fragments hinausgelangt. Er ist, wie alle Schriften des Exils, Begleitreflexion einer Dramenproduktion, deren praktische Erprobung noch aussteht. Als 1948 für den nach Europa zurückgekehrten Stückeschreiber mit der Inszenierung der Antigone des Sophokles die praktische Theaterarbeit wieder beginnt, veranlaßt Helene Weigel ihn, die Grundsätze seines epischen Theaters programmatisch zusammenzustellen und zu veröffentlichen. So entsteht 1948 das Kleine Organon für das Theater, das Brecht als eine „kurze Zusammenfassung des Messingkaufs“ bezeichnet und als dessen „Hauptthese“ er festhält: „daß ein bestimmtes Lernen das wichtigste Vergnügen unseres Zeitalters ist, so daß es in unserm Theater eine große Stellung einnehmen muß. Auf diese Weise konnte ich das Theater als ein ästhetisches Unternehmen behandeln, was es mir leichter macht, die diversen Neuerungen zu beschreiben. Von der kritischen Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Welt ist so der Makel des Unsinnlichen, Negativen, Unkünstlerischen genommen, den die herrschende Ästhetik ihm aufge-drückt hat.“ (GBA 27, S. 272) Damit greift er auf die ‚dialektische Wendung’ in der vierten Nacht des Messingkaufs zurück, ohne sie noch einmal explizit herzuleiten. Was dort prozesshaft entwickelt ist, wird jetzt in einem immer noch offenen Regelsystem festgehalten. Mit dem Titel verweist Brecht auf die Naturwissenschaften der frühen Neuzeit als die Grundlagendisziplinen eines durch sie vorstellbar gewordenen ‚wissenschaftlichen Zeitalters’. Hatte er im Messingkauf auf die Form der Galileischen Dialoge zurückgegriffen, so ist das Formmuster hier Francis Bacons Novum Organum Scientiarum. 16 Bacon hatte in dieser Schrift im Widerspruch gegen den mittelalterlichen 16 Vgl. hierzu Reinhold Grimm: „Vom Novum Organum zum Kleinen Organon. Gedanken zur Verfremdung.“ In: Willi Jäggi/ Hans Oesch (Hrsg.): Das Ärgernis Brecht. Basel/ Stuttgart 1961, S. 45- 70. Klaus-Detlef Müller 50 Aristotelismus neue ‚Werkzeuge’ der Erkenntnis für die naturwissenschaftliche Forschung entwickelt. In der gleichen Weise präsentiert Brecht das Instrumentarium (‚Organum’) eines Theaters, das seine aristotelischen Grundlagen negiert, so weit sie zum Hindernis für ein zeitgemäßes Theater geworden sind, ohne freilich hier mit der Tradition vollständig zu brechen. Bacons Vorgehensweise war für Brecht ein Muster modernen Denkens. Er hat schon im Juni 1940 dem schwedischen Schriftsteller Arnold Ljungdal, der eine Arbeit über seine neuere Produktion plante, vorgeschlagen, dafür die Form von „Bacons kurzen glossarischen Kapitelchen in seinem ‚Neuen Organon’“ zu verwenden und damit „alle diese Idiotien (etwa daß Anrufung des Verstandes Abkehr vom Gefühl bedeutet oder daß das Epische und das Dramatische unvereinbare Gegensätze sind, oder daß soziologisch konstruierte Charaktere kein Bios haben können usw.) endlich einmal aus der Literaturgeschichte […] zu fetzen“ (GBA 29, S. 178). Das Kleine Organon führt er in der Vorrede nicht als ein Regelwerk ein, sondern als eine Untersuchung, „wie eine Ästhetik aussähe, bezogen von einer bestimmten Art, Theater zu spielen, die seit einigen Jahrzehnten praktisch entwickelt“ wurde und die bisher nur in „gelegentlichen theoretischen Äußerungen, Ausfällen, technischen Anweisungen, publiziert in der Form von Anmerkungen zu den Stücken des Verfassers“ vorliegt. (GBA 23, S. 65) Neu ist explizit der ästhetische Zugriff, der durch das Ergebnis des Messingkaufs möglich geworden ist und der die polemische Frontstellung gegen die herrschende Ästhetik in einem süffisanten Gestus aufhebt: „Widerrufen wir also, wohl zum allgemeinen Bedauern, unsere Absicht, aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren, und bekunden wir, zu noch allgemeinerem Bedauern, nunmehr unsere Absicht, uns in diesem Bereich niederzulassen.“(GBA 23, S. 66) Theater soll wieder als „eine Stätte der Unterhaltung“ verstanden werden, indem die scheinbare Entgegensetzung des Lehrhaften und Nützlichen gegen das Schöne aufgehoben wird, die vorübergehend zu einer Opposition von Theater und Thaeter geführt hatte. Brecht spricht jetzt konsequent von einem ‚Theater des wissenschaftlichen Zeitalters’ oder genauer von einem Theater für die „Kinder eines wissenschaftlichen Zeitalters“ (GBA 23, S. 70), indem er so den Rezipientenbezug und den Wirkungsanspruch betont. Mit dieser Bestimmung des Publikums lässt sich die aufklärerische Zweckbestimmung des Ästhetischen: Belehrung und Unterhaltung (prodesse et delectare) neu fassen. Hatte Brecht bisher die Lehrhaftigkeit und die dialektische Wissensvermittlung und Bewusstseinsbildung akzentuiert, um sich gegen das ‚bourgeoise Amüsiertheater’ und seinen „Rauschgifthandel“ abzugrenzen, so setzt er nun auf eine zeitgemäße Form des Vergnügens und der Unterhaltung und damit auf eine ästhetische statt einer nur wissenschaftlichen Begründung des Theaters. Zeitgemäß ist das Vergnügen, wenn das Lernen als Genuss verstanden werden kann, wenn es das Wissen als Befreiungspotential versteht, das es der Menschheit ermöglicht, „den Stern, auf dem sie haust, bewohnbar zu machen“ (GBA 23, S. 71). „Es treffen sich aber Wissenschaft und Kunst darin, daß beide das Leben der Menschen zu erleichtern da sind, die eine beschäftigt mit ihrem Unterhalt, die andere mit ihrer Unterhaltung.“ (GBA 23, S. 73) Die produktive Haltung gegenüber Natur und Gesellschaft ist eine kritische (ebd.), bestimmt von Veränderungswillen. Das Theater, Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters 51 das hier seinen Platz findet, „muß sich in der Wirklichkeit engagieren, um wirkungsvolle Abbilder der Wirklichkeit herstellen zu können und zu dürfen.“ (GBA 23, S. 74) Dabei wird unterstellt, es sei seit jeher „das Geschäft des Theaters wie aller anderen Künste auch, die Leute zu unterhalten. Dieses Geschäft verleiht ihm immer seine besondere Würde; es benötigt keinen andren Ausweis als den Spaß, diesen freilich unbedingt. […] Das Theater muß nämlich durchaus etwas Überflüssiges bleiben dürfen, was freilich dann bedeutet, daß man für den Überfluß ja lebt.“ (GBA 23, S. 67) Wenn das Ästhetische damit in seiner genuinen Funktion für das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters wiedergewonnen ist, so ist das doch zugleich als eine Aufhebung und Negation gemeint, die die Darstellung bestimmt. Das bürgerliche Theater und seine Ästhetik sind dem größten Teil des Publikums den ‚Überfluß’ ebenso schuldig geblieben wie die korrespondierende materielle Produktion. Damit können das Theater und die ihm zugeordnete Schauspielkunst nur zu einer Stätte des Genusses werden, wenn sie ihre bisherige Gestalt und Funktion verlieren und wenn sie einen neuen Standpunkt beziehen: „Wie die Umgestaltung der Natur, so ist die Umgestaltung der Gesellschaft ein Befreiungsakt, und es sind die Freuden der Befreiung, welche das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters vermitteln sollte.“ (GBA 23, S. 87) Als Fazit wird in § 77 festgehalten: „Die Abbildungen müssen nämlich zurücktreten vor dem Abgebildeten, dem Zusammenleben der Menschen, und das Vergnügen an ihrer Vollkommenheit soll in das höhere Vergnügen gesteigert werden, daß die zutage getretenen Regeln in diesem Zusammenleben als vorläufige und unvollkommene behandelt sind. In diesem läßt das Theater den Zuschauer produktiv, über das Schauen hinaus. In seinem Theater mag er seine schrecklichen und nie endenden Arbeiten, die ihm den Unterhalt geben sollen, genießen als Unterhaltung, samt den Schrecken seiner unaufhörlichen Verwandlung. Hier produziert er sich in der leichtesten Weise; denn die leichteste Weise der Existenz ist in der Kunst.“ (GBA 23, S. 97) VI. Mit der Rückkehr in die Ästhetik hat Brecht den Status eines Klassikers erreicht, zugleich aber auch, nach dem ironischen Diktum von Max Frisch, „die durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers“. Zwar ist bei erklärter pragmatischer Intention gescheiterte Rezeption literaturhistorisch eher Regel als Ausnahme, sie ist im Falle Brechts aber prekär, weil die Wirkungskonzeption in einer auf Veränderung drängenden Theorie der Gesellschaft verankert ist. Der Versuch einer politischen Bewusstseinsbildung durch das Theater, seine Bestimmung als Teil der ‚geistigen Aktion’ (Korsch), geht in der Tat von zweifelhaften Prämissen aus. Die Verfremdung als dialektisches Erkenntnis- und Darstellungsprinzip der neuen Dramatik unterstellt eine aktive Teilnahme des Zuschauers. Brecht hat hier nicht ohne Grund von einer ‚Zuschaukunst’ gesprochen. „Es gilt zwei Künste zu entwickeln: die Schauspielkunst und die Zuschaukunst.“ (GBA 23, S. 191) Die Negation der Negati- Klaus-Detlef Müller 52 on, die Verwandlung des Bekannten ins Erkannte und der Wille zur Veränderung setzen die genaue Kenntnis des Negierten voraus. Und der Zuschauer muss nicht nur politisch willens, sondern auch aufgrund umfassender ästhetischer Erfahrung auch in der Lage sein, die angestrebte Bewusstseinsveränderung zu vollziehen. Über solche ästhetische Kompetenz verfügte nur das bürgerliche Publikum, dem aber der angestrebte Veränderungswille nicht zugeschrieben werden kann. Brecht hat das in seinen letzten Lebensjahren bemerkt. In einem Gespräch mit Ernst Schumacher im April 1955 in München (Schumacher datiert es auf September 1955) hat er eingeräumt, dass die von ihm angestrebte Wirkung allenfalls in einer späteren Zeit zu erwarten sei, „weil heute zum Beispiel überhaupt noch nicht episch gespielt werden kann. Die Schauspieler müßten Marxisten sein und die Zuschauer auch. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? “ 17 Und in der gleichen Weise hat er in den Nachträgen zum ‚Kleinen Organon’ eine Schulung der Rezipienten zur notwendigen Voraussetzung ästhetischen Genusses gemacht: „Wir (müssen) den historischen Sinn - den wir auch den neuen Stücken gegenüber benötigen - zu einer wahren Sinnlichkeit ausbilden.“ (GBA 23, S. 290) Schon 1930 hatte er verlangt, „daß der Zuschauer (als Masse) literarisiert wird, d.h. daß er eigens für den Theater‚besuch‘ ausgebildet, informiert wird“ (GBA 21, S. 441). Die Zuschaukunst setzt also die Veränderung, die das Theater erreichen soll, schon voraus. Und so spricht manches dafür, dass entgegen allen hochgespannten Erwartungen doch Marx (beinahe) „der einzige Zuschauer“ (GBA 21, S. 256) für seine Stücke geblieben ist. Umgekehrt heißt das aber auch, dass Brecht dem Irrtum/ naiven Glauben der Aufklärer aufgesessen ist, dass keinen Bestand haben kann, was als falsch erkannt und durchschaut ist, und dass bloße Ideologie ist, was als schlecht verstandene Verhältnisse legitimiert. Wenn er die Handlungsmöglichkeiten des Individuums in Frage stellt, dann mystifiziert er zugleich das als vernünftig angenommene Kollektiv als geschichtlich handlungsfähig, indem er es ästhetisch im immer einzelnen Zuschauer oder Leser anspricht, zugleich aber nicht akzeptiert, dass Aufklärung in der modernen Gesellschaft zum ‚Massenbetrug’ (Adorno/ Horkheimer) 18 geworden ist. Dennoch ist es voreilig, hier einfach von Scheitern zu sprechen. Notwendig ist vielmehr eine Historisierung. Brecht hat mit der anthropologischen Begründung des Theaters und mit den in ihr aufbewahrten kultischen Elementen des Theaters ebenso gebrochen wie mit ihrer philosophischen Weiterführung in der Aufklärung. Er hat stattdessen eine politisch-soziologische Begründung angeboten. Damit hat er auf eine zu seiner Zeit berechtigte, aber mit dem Untergang der sozialistischen Utopie nachträglich als kurzzeitig erkennbare Perspektive gesetzt. Gleichwohl hat er aber definitiv die Weichen für ein neues Verständnis des Theaters gestellt und ist damit zum wichtigsten Erneuerer des Theaters im 20. Jahrhundert geworden. Stichwortartig lässt sich das folgendermaßen bilanzieren: Er hat endgültig die im bürgerlichen Bildungstheater erstarrten Traditionen der Dramatik aufgehoben, hat die Verfahrensweisen 17 Schumacher (Anm. 10), S. 339. 18 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/ M. 1969. Hier S. 128-176: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters 53 der Identifikation und Illusion in Frage gestellt und die passive Rezeption verabschiedet; er hat eine Dramatik ohne selbständig handelnde Individuen und bloß passiv leidende Subjekte begründet und das Ende der bürgerlichen Ideologie als obsolet gewordener Aufklärung für die Dramatik eingeleitet, und er hat die geschlossene Form des Dramas, die Grundlage seiner ästhetischen Autonomie, als überholte ästhetische Maxime aufgegeben und konsequent auf eine Verselbständigung der dramatischen und theatralischen Künste und ihre Interaktion gesetzt. Mit allen diesen Leistungen, die in der Folge unumkehrbar geworden sind, steht er zwar in Traditionen, aber die Konsequenz seines Vorgehens ist ohne Vergleich. Sein Werk bezeichnet die Perspektiven der dramatischen Moderne, allerdings im Widerspruch gegen dessen auch möglichen Tendenzen: gegen das entfesselte Regietheater, die Unverbindlichkeit des dramatischen Spiels, die Autonomisierung der performativen Verfahren und die Verabschiedung des Dramentexts im ‚postdramatischen Theater’. Ohne Brecht ist das moderne Theater nicht zu verstehen, auch wenn er bei zunehmender Anerkennung und Rechtfertigung der unterhaltenden Elemente des Ästhetischen die Eigenart und Eigendynamik der Massenunterhaltung verkannt hat. Literaturverzeichnis Grimm, Reinhold. „Vom Novum Organum zum Kleinen Organon. Gedanken zur Verfremdung.“ In: Willi Jäggi/ Hans Oesch (Hrsg.). Das Ärgernis Brecht. Basel/ Stuttgart 1961, S. 45-70. Hauptmann, Elisabeth. „Notizen über Brechts Arbeit 1926.“ In: Sinn und Form. 2. Sonderheft Bertolt Brecht. Berlin 1957, S. 241-243. Hecht, Werner (Hrsg.). Brechts Theorie des Theaters. 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Auch in: Werner Hecht: Brechts Theorie des Theaters. Frankfurt/ M. 2006, S. 142-182. ---. „Brecht - ein letzter Aristoteliker des Theaters? Zur Bedeutung des Fabelbegriffs für das epische Theater.“ In: IASL 25 (2000), S. 134-147. ---. „Die ‚dialektische Wendung’ in Brechts Messingkauf. Kunst und Ästhetik in der Theorie des epischen Theaters.“ In: Text+Kritik. Sonderband Bertolt Brecht I. Dritte Auflage. Neufassung. München 2006, S. 33-40. Klaus-Detlef Müller 54 ---. „Das alte Neue. Brechts Theater des wissenschaftlichen Zeitalters.“ In: Carsten Dutt/ Roman Luckscheiter (Hrsg.): Figurationen der literarischen Moderne. Helmuth Kiesel zum 60. Geburtstag. Heidelberg 2007, S. 261-275. Rasch, Wolfdietrich. „Brechts marxistischer Lehrer. Zum ungedruckten Briefwechsel zwischen Brecht und Karl Korsch.“ In: Merkur 17/ 1963, S. 988-1003. Erweiterte Fassung in WR: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1967, S. 243-273, 315-317. Schumacher, Ernst. „Er wird bleiben.“ In: Hubert Witt (Hrsg.): Erinnerungen an Brecht. Leipzig 1964. Voges, Michael. „Gesellschaft und Kunst im wissenschaftlichen Zeitalter. Brechts Theorie des episch-dialektischen Theaters.“ In: Klaus-Detlef Müller (Hrsg.): Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München 1985, S. 201-255. Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes Eine methodenorientierte Fallstudie am Beispiel der frühen Wilhelm Meister-Rezeption Stefanie Stockhorst I. Das literarische Feld und seine Grundlagen in der Sozialwissenschaft Seit geraumer Zeit kann die Feldtheorie einen festen Platz im methodischen Repertoire der Literaturwissenschaft für sich in Anspruch nehmen. Gleichwohl liegen ihre Ursprünge nicht im Bereich der Textwissenschaft, sondern in der Kulturanthropologie bzw. in der Soziologie. Seiner akademischen Ausbildung nach Philosoph, blieb Pierre Bourdieu (1930-2002) nach seinem Militärdienst in Algerien, um dort von 1958 bis 1960 Feldforschung zur Kultur der Berber in der Kabylei zu betreiben. Bereits die aus dieser frühen Phase seiner Forschung hervorgehenden Publikationen - so z.B. die Sociologie de l’Algérie (1958) 1 , Le déracinement (1964) 2 und der Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (1972) 3 - lassen zwei methodische Grundzüge erkennen, die sich im gesamten Œuvre Bourdieus wiederfinden: die Empirie und die Kultursoziologie. Als sein Hauptwerk gilt zu Recht die breit angelegte Studie Die feinen Unterschiede (1979), 4 in der Bourdieu eine scharfsichtige Bestandsaufnahme der in der französischen Gesellschaft nachweislichen Lebensstile einschließlich der damit verbundenen sozialen Positionen und Aufstiegswahrscheinlichkeiten vornimmt. Als analytisches Instrumentarium nutzte er dabei eine Reihe von begrifflichen Konzepten, die er seit Beginn der 1980er Jahre schließlich auch auf kulturelle Phänomene übertrug. An erster Stelle wäre darunter die Einteilung der sozialen Wirklichkeit in Felder zu nennen, also etwa in das Feld der Politik, der Wirtschaft, der Religion oder der Kultur. Solche Felder können auch noch weiter untergliedert werden in Subfelder wie etwa das Feld der Universität oder eben das literarische Feld. Ein Feld als speziali- 1 Pierre Bourdieu: Sociologie de l’Algérie. Paris 1958. 2 Pierre Bourdieu/ Abdelmalek Sayad: Le déracinement. La crise de l’agriculture traditionelle en Algérie. Paris 1964. 3 Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Übers. v. Cordula Pialoux u. Bernd Schwibs. Frankfurt a. M. 1976 [frz. Esquisse d’une théorie de la pratique, précédé de trois études d’ethnologie kabyle, 1972]. 4 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a.M. 1982 [frz. La distinction. Critique sociale du jugement, 1979]. Stefanie Stockhorst 56 sierter Teilbereich des Sozialen zeichnet sich durch eigene Logiken, Hierarchien und Strukturen aus, die objektiv feststellbar und im historischen Handlungskontext verbindlich sind. 5 Wie alle anderen sozialen Felder versteht Bourdieu auch den Literaturbetrieb als ein „Feld von Kräften, die sich auf all jene, die in es eintreten, und in unterschiedlicher Weise gemäß der von ihnen besetzten Stellung ausüben […], und zur gleichen Zeit ein Feld der Konkurrenzkämpfe, die nach Veränderung oder Bewahrung jenes Kräftefeldes streben“. 6 Die Positionen, welche die einzelnen Akteure in einem Feld einnehmen, ergeben sich jeweils aus ihrer Relation zu anderen Positionen im Feld, also durch Verhältnisse von Dominanz bzw. Unterordnung sowie von Identifikation bzw. Distinktion. Solche Beziehungen innerhalb eines Feldes stehen indes nicht ein für allemal fest, sondern müssen immer wieder aufs Neue erzeugt und vergegenwärtigt werden. Um die Verhaltensweisen und Legitimationsmuster beschreiben zu können, die von den unterschiedlichen Akteuren eingesetzt werden, um ihre wechselseitigen Beziehungen im Feld klarzustellen, d.h. um ihre jeweiligen Positionen abzugrenzen und gegebenenfalls auch zu verbessern, gebraucht Bourdieu den Begriff des Habitus. Er versteht darunter bestimmte „Einstellungssysteme“, die sich „in Beziehung zu einer festgelegten Struktur von […] sozial gekennzeichneten Stellungen“ 7 verwirklichen. Gemeint ist damit, dass die Akteure innerhalb eines Feldes in Abhängigkeit von der Stellung, die sie in diesem Feld innehaben oder für sich in Anspruch nehmen, jeweils eigentümliche Dispositionen in ihrer Selbstinszenierung an den Tag legen. Wenngleich das Habitus-Konzept zuweilen als Modellierung eines sozialen Determinismus individueller Handlungsmöglichkeiten missverstanden wurde, geht es dabei lediglich darum, empirisch gehäufte und damit auch in strukturell analogen Zusammenhängen wahrscheinliche Verhaltensschemata nicht nur begrifflich fassen, sondern auch funktional erklären zu können. 8 Daher betont Bourdieu ausdrücklich: „So stark der Feldeffekt auch sein mag, wirkt er sich doch niemals in mechanistischer Art und Weise aus.“ 9 Vielmehr eröffne das Feld einen weiten, aber aufgrund 5 Eine rein strukturalistische Auffassung von Kultur lehnt Bourdieu jedoch nachdrücklich ab, da so das gesellschaftlich handelnde Individuum auf ein bloßes Randphänomen der Struktur verkürzt werde. - Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und ‚Klassen‘. Zwei Vorlesungen. Übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt a. M. 1985 [frz. Leçon sur la leçon, 1982], S. 38. 6 Pierre Bourdieu: „Das literarische Feld. Die drei Vorgehensweisen [frz. Le champ littéraire, 1991].“ Übers. v. Stephan Egger. In: Louis Pinto/ Franz Schultheis (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Texte von Pierre Bourdieu, Christophe Charle, Mouloud Mammeri, Jean-Michel Péru, Michael Pollak, Anne-Marie Thiesse. Konstanz 1997 (édition discours Bd. 4), S. 33-147, hier S. 34. 7 Bourdieu, „Das literarische Feld“, S. 135f. 8 Vgl. ausführlich zur Wechselbeziehung von Stellungen, Einstellungen und Stellungnahmen im Feld Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt a.M. 1999 [frz. Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, 1992], S. 365-371. 9 Bourdieu, „Das literarische Feld“, S. 116, vgl. auch S. 72ff. - Vgl. zur Kritik an der Determiniertheit gesellschaftlichen und künstlerischen Handelns in Bourdieus Feldtheorie z.B. John Guillory: „Bourdieu’s Refusal.“ In: Modern Language Quarterly 4 (1997), S. 367-398. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 57 objektiver Gegebenheiten, die sich der Einflussnahme des einzelnen entziehen, eben doch endlichen „Raum der Möglichkeiten“. 10 Die dynamische Beziehung von Habitus und Feld ergibt sich nach Bourdieu durch die soziale Praxis. 11 Diese Praxis besteht im kommunikativen und interaktiven Vollzug der Habitusformen im Feld, oder anders gesagt, durch die ständige, symbolvermittelte Behauptung und Infragestellung von Machtpositionen. In diesem Zusammenhang spielt das erweiterte Verständnis von Kapital, mit dem Bourdieu operiert, eine zentrale Rolle. Neben dem ökonomischen Kapital, also dem finanziellen Vermögen, geht er von verschiedenen Sorten des symbolischen Kapitals aus, mit denen sich in Form von Prestige mindestens ebenso große gesellschaftliche Macht verbinden kann. 12 So mag beispielsweise ein zahlungskräftiger Industrieller auf einer Vernissage beim Erwerb teurer Exponate durch sein ökonomisches Kapital für Aufsehen sorgen, ohne jegliche intellektuelle Anerkennung zu finden. Umgekehrt wird dem mittellosen Kunstkritiker großer Respekt entgegengebracht, weil er aufgrund seines kulturellen Kapitals die Stücke trefflich zu deuten versteht, ohne sie freilich bezahlen zu können. Beide Akteure hingegen applaudieren höflich zur Büfetteröffnung durch den Bürgermeister, der zwar womöglich weder über entsprechendes ökonomisches oder kulturelles Kapital verfügt, aber in der Honoratiorenrolle situativ das größte soziale Kapital geltend machen kann. Ähnliche Mechanismen - er spricht hierbei von Homologien 13 - entdeckte Bourdieu auch im Feld der kulturellen Produktion, welches nicht zuletzt auch das Subfeld der Literatur umfasst. 14 Bourdieu erprobte das Konzept der Feldtheorie in der Literatur nach mehreren kürzeren, überwiegend theoretisch ausgerichteten Vorstudien - dazu gehört insbesondere die Methodenskizze Das literarische Feld (1991) 15 - in einer breit angelegten Studie mit dem Titel Die Regeln der Kunst (1992). 16 Anhand der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts entwickelt er darin das Modell der Ausbildung eines relativ autonomen literarischen Feldes mit seinen ganz eigenen, internen 10 Bourdieu, „Das literarische Feld“, S. 67; sowie auch Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995, S. 94. 11 Das Wechselverhältnis von subjektivem Habitus und objektiven Feldeigenschaften bei der Genese von sozialen bzw. künstlerischen Praxisformen bringt Markus Schwingel treffend auf den Punkt: „Schematisch läßt sich mithin die ‚Dialektik von objektiven und einverleibten Strukturen’ in drei Glieder zerlegen: in 1. die externen, objektiven Strukturen sozialer Felder, 2. die internen Habitusstrukturen und 3. - gleichsam als Synthese von Habitus und Feld - die wiederum externen Praxisformen.“ (Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung. 5., verb. Aufl., Hamburg 2005, S. 76). 12 Vgl. dazu grundlegend Pierre Bourdieu: „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital.“ In: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt. Sonderbd. 2. Göttingen 1983, S. 183-198. 13 Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 259-270. 14 Eine Überblicksdarstellung von Begrifflichkeit, Methodik und Erklärungspotential der literarischen Feldtheorie bietet Markus Schwingel: „Kunst, Kultur und Kampf um Anerkennung. Die Literatur- und Kunstsoziologie Pierre Bourdieus in ihrem Verhältnis zur Erkenntnis- und Kultursoziologie.“ In: IASL 22 (1997), H. 2, S. 109-151. 15 Vgl. Anm. 6. 16 Vgl. Anm. 8. Stefanie Stockhorst 58 Kriterien und Mechanismen der Wahrnehmung, Bewertung und Legitimation. Den Angelpunkt seiner Untersuchung bildet Gustave Flauberts L’éducation sentimentale (1869). In diesem Roman wird das Scheitern des Protagonisten Frédéric Moreau erzählt, der, aus der Provinz kommend, im Paris der 1848er-Revolution großen gesellschaftlichen und amourösen Ambitionen nachgeht, so dass der Text vielfältige Möglichkeiten bietet, soziale und kulturelle Milieus dieser Zeit auszuloten. Neben einer internen Analyse der dargestellten gesellschaftlichen Verhältnisse bietet Bourdieu eine gleichermaßen akribische Aufarbeitung der externen Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des Romans in seiner Zeit. Auf der Grundlage dieser konkreten Beobachtungen ermittelt er darüber hinaus einige generalisierbare Kennzeichen des literarischen Feldes. Die Haupteigenschaft und oberste Maxime dieses Feldes ist das Streben nach künstlerischer Autonomie, denn seine Genese setzt historisch gesehen ein mit der fortschreitenden Ablösung der vorherrschenden Wertmaßstäbe von der „Herrschaft einer Instanz äußerlicher Legitimierung“, 17 d.h. von feldexternen Faktoren wie politischen oder religiösen Werthaltungen und vor allem von den ästhetischen und sozialen Normen des höfischen Mäzenatentums. 18 Wenngleich mit guten Gründen feldähnliche Konstellationen bereits für die Literatur der Frühen Neuzeit nachgewiesen wurden, 19 entstand ein literarisches Feld im engeren Sinne mit dem Übergang von der poetischen Nebenstundentätigkeit zum Berufsschriftstellertum. Mit der Professionalisierung geht ein weiteres wesentliches Merkmal des literarischen Feldes einher, das in der Ausweitung des Marktes für literarische Erzeugnisse besteht, mussten doch die Schriftsteller nunmehr ihr Auskommen durch den Verkauf ihrer Werke sicherstellen. Aus dieser Notwendigkeit resultiert eine ebenfalls feldkonstituierende Agonalität, eine Konkurrenzsituation, die insofern das Verhältnis zwischen den einzelnen Autoren kennzeichnet, als diese durch den Kampf ums Publikum im Wettbewerb stehen. Durch die Angewiesenheit auf die Zahlungsbereitschaft der Käufer ergibt sich somit 17 Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Übers. v. Wolf H. Fietkau. Frankfurt a. M. 1970 [frz. 1970], S. 77. 18 Vgl. Bourdieu, „Das literarische Feld“, S. 38f. Anhand der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts entwickelt Bourdieu das Modell der Ausbildung eines literarischen Kräftefeldes mit eigenen, internen Kriterien und Mechanismen der Wahrnehmung, Bewertung und Legitimation. Auch wenn die Ergebnisse seiner Untersuchung im einzelnen nicht auf die Verhältnisse der deutschen res publica litteraria übertragbar sind, erhellt das Paradigma der Autonomisierung des literarischen Feldes insgesamt auch die dortigen Entwicklungen besonders im ausgehenden 18. Jahrhundert. 19 Vgl. Alain Viala: Naissance de l’écrivain. Paris 1985; ders.: „Bourdieu, wiedergelesen mit den Augen Boileaus.“ In: Markus Joch/ Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 108) S. 45-53; sowie Stefanie Stockhorst: „Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relativen Autonomie barocker Gelegenheitsdichtung.“ In: Markus Joch/ Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 108), S. 55-71. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 59 für das um künstlerische Autonomie bemühte literarische Feld eine neuartige Form der Heteronomie durch die Gesetze des Marktes. 20 Auf diese Marktorientierung wiederum lässt sich mit bestimmten künstlerischen Habitusformen reagieren, mit denen jeweils unterschiedliche Publikumsgruppen angesprochen werden. Zum einen besteht die Möglichkeit, den kommerziellen Erfolg in den Vordergrund zu rücken und sich dementsprechend am Massengeschmack zu orientieren. Zum anderen kann ein spezifischer Marktwert auch durch die Exklusivität der künstlerischen Autonomie erzeugt werden. Er besteht zunächst einmal im kulturellen Kapital des sich zweckfrei gebenden l’art pour l’art, ist jedoch bei einer Leserschaft, die sich durch einen differenzierteren Geschmack von der Masse abheben möchte, letztlich auch in ökonomisches Kapital konvertierbar. Durch den geschickten Einsatz von Konventionalität und Originalität lassen sich darüber hinaus Abstufungen zwischen diesen beiden Extrempositionen erzielen. 21 Allerdings hängen die Erfolgschancen eines Werkes im literarischen Feld nicht allein von der künstlerischen Programmatik seines Verfassers ab, sondern auch von seiner Stellung im Feld, denn je größer sein Konsekrationsgrad, also seine Machtposition aufgrund bereits erworbener Anerkennung, desto eher wird seine ästhetische Setzung akzeptiert und umgekehrt. 22 Gleichzeitig bedeutet die Möglichkeit des Überganges von der Bohème zum etablierten Literaturbetrieb immer auch einen Generationenkampf, in dem es gilt, die Positionen der aufstrebenden und der arrivierten Avantgarde, aber auch die der überholten Arrièregarde, der Publikumsautoren und der Epigonen zuzuweisen. Um die literarische Feldtheorie für die gegenwärtigen Zwecke zu illustrieren, soll im Folgenden eine kleine, aber aufschlussreiche Feldkonstellation im deutschsprachigen Raum um 1800 exemplarisch untersucht werden. 23 Die notwendig kursorische Vorgehensweise orientiert sich dabei zum einen an den vorgängig erläuterten Schlüsselbegriffen der Feldtheorie und zum anderen an dem methodischen Dreischritt, den Bourdieu darüber hinaus in den Regeln der Kunst formuliert hat. Demnach umfasse die feldtheoretische Literaturanalyse: „[E]rstens die Untersuchung der Position des literarischen (usw.) Feldes innerhalb des Feldes der Macht - und deren sukzessiver Entwicklung; zweitens die Analyse der inneren Struktur des literarischen (usw.) Feldes, eines Universums mit eigenen Funktions- und Transformationsgesetzen, das heißt eine Analyse der Struktur der objektiven Beziehungen zwischen den Positionen, die von den miteinander um die Legitimität konkurrierenden Individuen oder Gruppen eingenommen werden; schließlich die Untersuchung der Gene- 20 Vgl. im Überblick Gisèle Sapiro: „Elemente einer Geschichte der Autonomisierung. Das Beispiel des französischen literarischen Feldes.“ In: Markus Joch/ Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 108), S. 25-44. 21 Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 88ff. 22 Vgl. Bourdieu, „Das literarische Feld“, S. 56ff. 23 Auf die Schwierigkeiten, die sich für größere literarische Felder aus der zu bearbeitenden Datenfülle ergeben, verweist z.B. Toril Moi: „The Challenge of the Particular Case: Bourdieu’s Sociology of Culture and Literary Criticism.“ In: Modern Language Quarterly 4 (1997), S. 498-508. Stefanie Stockhorst 60 se des Habitus der Inhaber dieser Positionen, das heißt die Untersuchung der Dispositionen, die als Ergebnisse eines gesellschaftlichen Werdegangs und einer Position innerhalb des literarischen (usw.) Feldes in dieser Position eine mehr oder weniger günstige Gelegenheit ihrer Aktualisierung finden […].“ 24 II. Goethes Wilhelm Meister im literarischen Feld um 1800 Im Laufe des 18. Jahrhunderts veränderte sich der Markt für Druckerzeugnisse erheblich, da in der Folge der Aufklärung immer mehr Menschen lesen konnten und wollten: Die Zahl der Neuerscheinungen stieg ebenso wie die Auflagenhöhen. Obwohl Bücher nach wie vor ein kostspieliges Vergnügen waren und nicht für alle sozialen Schichten zugänglich, nahm die Buchproduktion seit der Jahrhundertmitte in atemberaubendem Maße zu. Verzeichnete der Leipziger Ostermeßkatalog im Jahr 1740 noch 751 Titel, so waren es 1770 bereits 1144 und 1800 ganze 2563. Auch inhaltlich änderte sich das Profil des Angebotes. Bestand das Gros zunächst in Texten religiöser und erbaulicher Art, so entstand in der zweiten Jahrhunderthälfte eine immer größere Nachfrage nach wissenschaftlich-enzyklopädischen Schriften sowie vor allem auch nach Unterhaltungsliteratur. 25 Ganz allmählich konnten sich die Schriftsteller durch die Ausformung eines literarischen Marktes, an dem sie ihre Produkte verkaufen konnten, aus den Bedingungen des Mäzenatentums herauslösen. Zugleich gerieten sie nun hingegen verstärkt in die Abhängigkeit vom zahlenden Publikum, um dessen Gunst sie konkurrierten. Dies gilt nicht nur für sog. ‚triviale‘ Erfolgsautoren, die den Massengeschmack bedienten, sondern auch für die Vertreter einer elitären Kunstauffassung, die sich unabhängig von adligen Gönnern im gesellschaftlich-politischen Rahmengefüge und Markt zu positionieren suchten. Anhand der frühen Rezeption von Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, erschienen im Umfang von vier Bänden von Januar 1795 bis Oktober 1796, lassen sich die Strategien, mit denen der Autor, seine Verbündeten sowie auch seine Konkurrenten ihre Werke und ihre jeweiligen Auffassungen von Literatur bei kommerzialisiertem Buchmarkt und anwachsendem Publikum im Feld zu etablieren versuchten, geradezu mustergültig nachzeichnen. Der letzte Band von Goethes Roman wurde fast gleichzeitig mit dem berüchtigten Xenien-Almanach ausgeliefert, in dem Goethe und Schiller in satirischen Distichen zu einem schonungslosen Rundumschlag beinahe gegen die gesamte res publica litteraria ausholten. Gleichzeitig standen die Horen, Schillers ehrgeiziges Zeitschriftenprojekt, bereits unter kritischem Beschuss von verschiedenen Seiten. Somit trafen die Lehrjahre auf eine literarische Öffentlichkeit, in der aus konkretem Anlass bereits einige Anspannung herrschte, die den „Kampf um 24 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 340. 25 Vgl. York-Gothart Mix: „Schreiben, lesen und gelesen werden. Zur Kulturökonomie des literarischen Feldes (1770-1800).“ In: Wolfgang Adam/ Markus Fauser (Hg.): Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2005 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt Bd. 4), S. 281-309, bes. S. 291-295. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 61 das Monopol der legitimen Art und Weise kulturellen Schaffens“ 26 verschärfte. Hinzu kam eine klare Vorliebe der Leserschaft nicht für ästhetizistische, sondern für unterhaltsame Lektüre, etwa für die rund 50 Geschichtsromane von Benedikte Naubert, für Räuberromane nach dem Modell des Bestsellers Rinaldo Rinaldini (1798) von Christian August Vulpius sowie für Familien-, Ritter-, Reise- und Gespensterromane, die den literarischen Höhenkamm nach Erscheinungs- und Absatzzahlen bei weitem übertrafen. 27 Die zeitgenössischen Reaktionen auf die Lehrjahre sind in der Forschungsliteratur breit dokumentiert und aufgearbeitet worden. Der Rezeptionsverlauf wird in der Regel eingeteilt in die Phasen der Werkstattdokumente, der privaten Reaktionen der Empfänger von Freiexemplaren und schließlich der öffentlichen Kritik durch die Romantiker. Dazu gehörten allen voran Friedrich Schlegel - wenigstens in seinen publizierten Rezensionen - als Befürworter und Novalis als Gegner. Der Roman brach in verschiedener Hinsicht mit den Publikumserwartungen, so dass er als Avantgardetext durchaus misstrauisch beäugt wurde. Die wesentlichen Einwände der zeitgenössischen Kritiker betreffen insbesondere die folgenden fünf Streitpunkte: erstens die mangelnde Sittlichkeit, zweitens das Bildungskonzept und die Frage, ob Bildungserfolg oder lediglich das Streben nach Bildung dargestellt werde, drittens die unzureichende Motivierung von Handlung und Charakterentwicklung, viertens Probleme der formalen Komposition sowie schließlich fünftens die Dominanz des Ökonomischen über die Poesie. 28 Hinter diesem letzten Einwand gegen den Roman, der erstmals von Novalis ins Feld geführt wurde, verbirgt sich freilich bei näherem Hinsehen weit mehr als nur eine inhaltliche Kritik am Roman, weit mehr auch als ein ästhetischer Schulenstreit zwischen Klassik und Romantik. Vielmehr artikuliert Novalis mit seinem Vorwurf einen künstlerischen Widerstand gegen das Eindringen der Ökonomie in die Literatur, das durchaus nicht nur ein fiktives Ereignis bei Goethe darstellt, sondern einen 26 Bourdieu, „Das literarische Feld“, S. 56. 27 Vgl. etwa das Antiquaritatsverzeichnis von 335 einschlägigen Titeln bei Fedor von Zobeltitz: Der deutsche Roman um 1800. Familien-, Ritter- und Räuberromane. Berlin 1908, S. 23-67. 28 Vgl. Wilhelm Voßkamp: „‚Man muß den Roman mehr als einmal lesen‘. Zur Wirkungsgeschichte von Goethes ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre[n]‘.“ In: Henning Krauß (Hg.): Offene Gefüge. Literatursystem und Lebenswirklichkeit. Festschrift für Fritz Nies zum 60. Geburtstag. Tübingen 1994, S. 199-210; Kurt Krolop: „Geteiltes Publikum, geteilte Publizität: ‚Wilhelm Meisters‘ Aufnahme im Vorfeld des ‚Athenaeums‘ (1795-1797).“ In: Hans-Dietrich Dahnke/ Bernd Leistner (Hg.): Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin/ Weimar 1989, S. 270-384; Klaus F. Gille: ‚Wilhelm Meister‘ im Urteil der Zeitgenossen. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Goethes. Assen 1971; Hans Eichner: „Zur Deutung von ‚Wilhelm Meisters Lehrjahren‘.“ In: JbFDH (1966), S. 165-196; sowie in weiten Teilen immer noch brauchbar Konstantin S. Galaboff: Die Stellung Fr. Schlegels und der anderen deutschen Romantiker zu Goethes ‚Wilhelm Meister‘ im Lichte des Ur-Meister. Göttingen 1917. - Siehe ferner die Quellenedition von Klaus F. Gille (Hg.): Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre. Königstein/ Ts. 1979 (Texte der deutschen Literatur in wirkungsgeschichtlichen Zeugnissen Bd. 3). Stefanie Stockhorst 62 epochalen Umbruch in der Literaturlandschaft markiert. 29 Im Zuge dieses Umbruchs treten genau jene Merkmale dominant hervor, an denen Bourdieu die Entstehung von literarischen Feldern festmacht: Autonomiestreben, Professionalisierung, Marktorientierung und Konkurrenz. Die Verwerfungslinien verlaufen zum einen zwischen der Massenproduktion und der autonomen Produktion des l’art pour l’art, zum anderen aber auch innerhalb des Subfeldes der autonomen Produktion zwischen der etablierten Avantgarde im Goethe-Umkreis und der aufsteigenden Avantgarde um Novalis und Friedrich Schlegel. „Man kann jezt [! ] über den bunten Trödelmarkt der teutschen Lesewelt kaum mit flüchtigem Fuß hineilen“, so konstatiert der Berliner Prediger und Literat Daniel Jenisch 1797 in einer Monographie über Wilhelm Meisters Lehrjahre, „ohne daß uns nicht, aus jeder Groß- und Klein-Krämer-Bude dieses Marktes, von Kaufleuten und Käufern, die lautesten Klagen über Meisters Lehrjahre in’s Ohr schallen, wegen langweiliger Stellen, vernachläßigter Einheit des Plans, und unnatürlich herbeygeführter Episoden dieses neuesten Geisteserzeugnisses eines unserer genievollsten Schriftsteller.“ 30 Weiter bemerkt Jenisch ein Auseinanderklaffen der gegenwärtigen Literaturproduktion in rein handwerklich gearbeitete Massenware von Publikumsautoren einerseits und wenige, technisch unkonventionelle Ausnahmetexte andererseits. Als Beispiel für die erste Gruppe führt er „H....e, Buchhändler und Buchmacher in W........s“ an, der, „wie er es selbst in der allgemeinen Litteratur-Zeitung gestanden, oder vielmehr öffentlich gerühmt, in einem Raum von sechs Jahren nicht weniger als vierzig, baare vierzig Bände Romane geschrieben“. 31 Es bereite, so habe jener Vielschreiber H. weiter verlautbaren lassen, einem durchschnittlich begabten Menschen keine allzu großen Mühe, sich die nötigen Fertigkeiten zum Bücherschreiben anzueignen, so dass „der Buchhändler Romane bei ihm bestellen kann, wie wir Schränke bey dem Tischler zu bestellen pflegen“. 32 Als Repräsentanten wahrhaft „genialer“ und „classischer“ Literatur nennt er dagegen namentlich Goethe: „Die Werke solcher Meister sind allemal lebendige Abdrücke des Genius der Menschheit, wie er sich da mit allen den erstaunenswürdigen und mannigfaltigen Kräften, welche der erhabene Weltgenius in ihn pflanzte, aus dem Keim zur Blüthe, aus der Blüthe zur Frucht entwickelt […].“ 33 Jenisch stand mit seinen Beobachtungen über die zunehmende Kommerzialisierung der Literatur keineswegs allein. Um den nötigen Kassenerfolg sicherzustellen, so klagt Schiller brieflich gegenüber Goethe anlässlich der beim Verleger Cotta einge- 29 Vgl. Gille, ‚Wilhelm Meister‘ im Urteil der Zeitgenossen, S. 174. 30 Daniel Jenisch: Ueber die hervorstechendsten Eigenthümlichkeiten von ‚Meisters Lehrjahren‘. Berlin 1797. Auszugsweise abgedruckt in: ders.: Ausgewählte Texte. Hg. v. Gerhard Sauder. St. Ingbert 1996, S. 61-68, hier S. 61. 31 Ebd., S. 62. 32 Ebd., S. 63. 33 Ebd. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 63 henden Beschwerden „über die abstrakte Materien“ 34 seiner Horen, müsse man seine künstlerischen Ambitionen zurückschrauben. Er berichtet: „Ich sprach noch kürzlich mit Humboldt darüber; es ist jetzt platterdings unmöglich mit irgend einer Schrift, sie mag noch so gut oder noch so schlecht seyn, in Deutschland ein allgemeines Glück zu machen. Das Publikum hat nicht mehr die Einheit des Kinder- Geschmacks, und noch weniger die Einheit einer vollendeten Bildung. Es ist in der Mitte zwischen beyden, und das ist für schlechte Autoren eine herrliche Zeit, aber für solche, die nicht bloß Geld verdienen wollen, desto schlechter.“ 35 In der Vermutung, dass Goethes Roman in der literarischen Öffentlichkeit auf ähnliche Schwierigkeiten stoßen könnte wie seine Zeitschrift, setzt er hinzu: „Ich bin jetzt sehr neugierig zu hören, wie von Ihrem Meister wird geurtheilt werden, was nehmlich die öffentlichen Sprecher sagen, denn daß das Publikum getheilt ist, versteht sich ja von selbst.“ 36 Eine bloße Teilung des Publikums erwies sich ein gutes Jahr später als bei weitem zu gelinde ausgedrückt. Noch vor dem Erscheinen des letzten Bandes fand bereits ein Autodafé durch Friedrich Leopold von Stolberg statt, worüber Schiller Goethe brieflich informierte: „Neulich erfuhr ich, daß Stolberg und wer sonst noch bey ihm war den Meister feierlich verbrannt habe, biß auf das Vierte Buch, welches er wie Ahrnts Paradiesgärtlein rettete und besonders binden ließ. Er hält es in allem Ernste für eine Anempfehlung der Herrenhuterey, und hat sich sehr daran erbaut.“ 37 Auch Schiller, der den Roman insgesamt befürwortet, bringt punktuelle Kritik vor. Insbesondere moniert er den völligen Verzicht auf eine philosophische Ausrichtung, den er angesichts des florierenden Idealismus für eine riskante Gegenposition hält: „Ich gestehe es, es ist etwas stark, in unserm speculativischen Zeitalter einen Roman von diesem Innhalt und von diesem weiten Umfang zu schreiben, worinn ‚das einzige was Noth ist‘ so leise abgeführt wird - einen so sentimentalischen Charakter, wie Wilhelm doch immer bleibt, seine Lehrjahre ohne Hülfe jener würdigen Führerinn vollenden zu lassen. Das schlimmste ist, daß er sie wirklich in allem Ernste vollendet, welches von der Wichtigkeit jener Führerinn eben nicht die beßte Meinung erweckt.“ 38 Zu den Kritikern aus Weimar zählte auch Herder, der sich gegenüber Caroline Gräfin von Baudissin, die dem Stolberg-Kreis nahestand, von dem Roman distanzierte. Bereits in den früheren, von Goethe privat verlesenen Fassungen habe ihn „die 34 Schiller an Goethe, 15.5.1795. In: Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. 1940 begründet von Julius Petersen. Fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese, Siegfried Seidel u. Norbert Oellers. Weimar 1943ff., Bd. 27, S. 184. - Belege nach dieser Ausgabe werden im folgenden mit dem Kürzel NA unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl nachgewiesen. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Schiller an Goethe, 23.[25.? ]6.1796, NA 28, S. 270. - Bei dem Paradiesgärtlein handelt es sich um ein über lange Zeit weitverbreitetes Gebetbuch von Johann Arndt (1555-1621), zuerst Leipzig 1612. 38 Schiller an Goethe, 9. 6. 1796, NA 28, S. 258. Stefanie Stockhorst 64 schlechte Gesellschaft“ 39 gestört, in der sich Wilhelm aufhalte. Nunmehr erscheine ihm auch die Charakterentwicklung an Plausibilität verloren zu haben, und vor allem befremde ihn ein einzigartiger Mangel an Moralität: „Es kann niemand mehr gegen diese Vorstellungsart haben, als ich, da ich in mehreren Verhältnißen wirklich darunter leide. Vielleicht an keinem Orte Deutschlands setzt man sich über zarte moralische Begriffe, ich möchte sagen, über die Grazie unsrer Seele in Manchem so weit weg, als hier; u. damit entgeht dem armen Menschen der größeste Reiz seines Lebens, u. es erklingen sehr falsche Dißonanzen - Doch gnug davon.“ 40 Demgegenüber wurde Christian Gottfried Körner zum wichtigsten der frühen Fürsprecher des Romans, nachdem er sich in einem Brief an Schiller höchst wohlwollend über die Lehrjahre geäußert hatte. Schiller leitete den Brief an Goethe weiter, dem das Lob gefiel: „Die Klarheit und Freyheit, womit er seinen Gegenstand übersieht, ist wirklich bewundernswerth, er schwebt über dem Ganzen, übersieht die Theile mit Eigenheit und Freyheit, nimmt bald da bald dort einen Beleg zu seinem Urtheil heraus, decomponirt das Werk um es nach seiner Art wieder zusammen zu stellen, und bringt lieber das was die Einheit stört, die er sucht oder findet, für diesmal bey Seite, als daß er, wie gewöhnlich die Leser thun, sich erst dabey aufhalten, oder gar recht darauf lehnen sollte.“ 41 Ausgehend von Körners Äußerungen, in denen sich der Dichter offensichtlich wiedererkannte, spricht Goethe die ästhetische Inkompetenz seiner Leserschaft an, die er aus diversen für völlig töricht befundenen Reaktionen ersehe: „So hat mir neulich jemand geschrieben, daß er die Stelle im zweyten Bande, Seite 138: ‚Nein! rief er aus, du bildest dir ein, du abgestorbener Weltmann, daß du ein Freund seyn könnest. Alles was du mir anbieten magst, ist der Empfindung nicht werth die mich an diese Unglücklichen bindet! ‘ zum Mittelpunct des Ganzen gemacht und seinen Umkreis daraus gezogen habe, dazu passe aber der letzte Theil nicht und er wisse nichts damit zu machen. So versicherte mir ein andrer, meine Idylle sey ein fürtrefflich Gedicht, nur sey ihm noch nicht klar, ob man nicht besser thäte es in zwey oder drey Gedichte zu separieren.“ 42 Solche Lektüren dokumentieren ein Aufeinanderprallen von etabliertem Publikumsgeschmack und künstlerischem Innovationsanspruch, durch das die Stellung der Avantgarde im literarischen Feld gekennzeichnet ist. So erklärt Goethe, dass es gleichsam in der Natur der Sache liege, wenn man als Schriftsteller von seinen Lesern nicht verstanden würde, wenngleich er auf die allmähliche Ausbildung wenigstens eines minimalen ästhetischen Grundverstandes bei seinem Publikum hofft: 39 Herder an Caroline von Baudissin, vor Mai 1795. In: Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. Bd. 7. Weimar 1982, S. 152. 40 Ebd., S. 153. 41 Goethe an Schiller, 19.11.1796. In: Johann Wolfgang von Goethe: Werke. 133 Bde. in 143 Tln. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887-1919 [Reprint München 1987], Bd. IV, 11, S. 265. - Belege nach dieser Ausgabe werden im Folgenden mit dem Kürzel WA unter Angabe von Abteilung, Bandnummer und Seitenzahl nachgewiesen. 42 Ebd. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 65 „Möchte bey solchen Äußerungen nicht die Hippokrene zu Eis erstarren und Pegasus sich mausen! Doch das war vor 25 Jahren, als ich anfing, eben so und wird so seyn wenn ich lange geendigt habe. Indessen ist nicht zu leugnen daß es doch aussieht, als wenn gewisse Einsichten und Grundsätze, ohne die man sich eigentlich keinem Kunstwerk nähern sollte, nach und nach allgemeiner werden müßten.“ 43 Die Erziehung des Publikums zum ästhetischen Geschmack stellt nicht nur eine altruistische Aufgabe des Künstlers dar, sondern vor allem auch eine Notwendigkeit, um sich in den ökonomischen Verteilungskämpfen auf dem literarischen Markt zu behaupten. Denn wer kein Publikum hatte, verlor auch alsbald seine Verleger, wiewohl sich Autoren mit anspruchsvollem Profil solchen Zwängen geradezu programmatisch nicht unterwarfen. So trug sich auch Friedrich Schlegel mit dem Gedanken, das Publikum durch Unbeirrtheit nach den Bedürfnissen der Literatur zu formen. Seine elitäre Positionierung im Feld grenzt sich zielgerichtet gegen den Massengeschmack ab: „Sie jammern immer, die Deutschen Autoren schrieben nur für einen so kleinen Kreis, ja oft nur für sich selbst untereinander. Das ist recht gut. Dadurch wird die Deutsche Litteratur immer mehr Geist und Charakter bekommen. Und unterdessen kann vielleicht ein Publikum entstehen.“ 44 Schiller jedenfalls ergriff nach Goethes Stellungnahme zu Körners Brief sofort publizistische Maßnahmen, um seinem ästhetischen Verbündeten bei seiner Romanoffensive im literarischen Feld Schützenhilfe zu leisten. Er schrieb an Körner, dass er dessen Meister-Brief auszugsweise in den Horen abdrucken wolle. Was er plante, war eine regelrechte Manipulation des Publikums, das er durch eine glorifizierende Besprechung im unverfänglichen Gewand eines Leserbriefs zu beeinflussen suchte: „Dein Brief über den Meister hat mich eben so erfreut, als er mich überrascht hat, und ich unterschreibe Göthens Meinung darüber vollkommen, deßen Brief ich Dir hiermit übersende. Hoffentlich wirst Du es billigen, daß ich diese Gedanken über den Meister, ganz so wie sie sind, als Auszug aus einem Brief, in die Horen einrücke. In der anspruchslosen Manier müssen sie jedem lieb seyn, der den Roman gelesen hat, und werden sicher mehr wirken, als eine Recension in Forma.“ 45 Durch die Publikation des Privatbriefs, der anonym unter dem Titel Über Wilhelm Meisters Lehrjahre (aus einem Brief an den Herausgeber der Horen) erschien, wird Körners persönliche Stellungnahme zur öffentlichkeitswirksamen Immunisierungsstrategie. Körner erörtert darin insbesondere die Hauptfiguren des Romans in ihrer Anlage und Entwicklung sowie die Wechselbeziehung von ‚Charakter‘ und ‚Schicksal‘. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass der Roman ein vollkommen gelungenes Kunstwerk darstelle. Möglichen Einwänden gegen Unstimmigkeiten im Text greift er vor, indem er behauptet, dass sie sich entweder durch gründlichere Lektüre auflösen ließen oder aber gewollt seien. Auf diese Weise unternimmt er eine umfassende Absicherung des 43 Ebd. 44 Friedrich Schlegel: „Fragmente“ In: Athenaeum 1 (1798), H.2, S. 251. 45 Goethe an Schiller, 19.11.1796, WA IV, 11, S. 266. Stefanie Stockhorst 66 Textes gegen jegliche Kritik, wobei er evidente Ungereimtheiten zunächst dahingestellt sein lässt: „Die Entwicklung der Begebenheiten ist sinnreich und überraschend, aber nicht gekünstelt und paradox. Bey einer genauen Betrachtung findet man den Grund dazu entweder in den vorhergehenden Schicksalen, oder in irgend einem charakteristischen Zuge, oder in dem natürlichen Gange des menschlichen Geistes und Herzens. Für einige Dissonanzen gab es keine Auflösung, die jeden Leser befriedigen konnte.“ 46 Wenngleich Goethe sich über handwerkliche Besserwisserei seiner Leser zu den Lehrjahren ärgerte, übernimmt selbst Körners Änderungsvorschlag in diesem Kontext eine taktische Funktion: „Sollte nicht auch die Deutlichkeit gewinnen, wenn mehr angedeutet wäre, wie bey Natalien allmählich eine Leidenschaft für Meistern entsteht? Ueberhaupt scheint mir der leichte Rhythmus, der in den drey ersten Bänden die Begebenheiten herbeyführt, sich im vierten zu ändern.“ 47 Körner nämlich zieht seinen kritischen Vorstoß sofort wieder zurück, indem er erneut alle Merkwürdigkeiten als künstlerische Intention auslegt: „Doch war dieß vielleicht absichtlich zum Behuf der größern tragischen Wirkung, oder um die Spannung überhaupt zu erhöhen.“ 48 Daher mündet seine Stellungnahme letztlich in einer Apotheose des Genies, dem das gewöhnliche Publikum nur bedingt zu folgen vermöge: „Bey Betrachtung eines Kunstwerks, wie dieses, giebt es einen gewissen Punkt, bis wie weit man dem Künstler nachspüren und sich von seinem Verfahren Rechenschaft geben kann - aber weiter hinaus entzieht er sich unsern Blicken, so gern wir ihm auch ins innere Heiligthum folgen möchten. Wo er unterscheidet, wählt, anordnet, wird er uns immer deutlicher, je mehr wir mit seinem Werke vertraut werden; aber vergebens suchen wir den Genius zu belauschen, wenn er dem Bilde der Phantasie Leben einhaucht. Der gemeine Leser ruft aus: ‚So etwas erfindet man nicht; hier muß eine wahre Geschichte zum Grunde liegen‘ - und den ächten Kunstfreund durchdringt ein elektrischer Schlag.“ 49 Das mit diesem Künstlerbild verbundene Prestige wies dem Roman eine Ausnahmestellung in der literarischen Landschaft zu. Durch Körners Text wurde der Roman maßgeblich als Bildungsroman und damit als neuartiges Gattungsmodell etikettiert. 50 Nicht das Genie, sondern die überindividuellen Sinnangebote des Romans führt hingegen Wilhelm von Humboldt an, wenn er den Lehrjahren breite Zustimmung prophezeit: „Im ‚Meister‘ ist alles und für alle und doch jedes Einzelne und das Ganze für den Verstand und die Phantasie durchaus bestimmt. Darum wird auch jeder Mensch im ‚Meister‘ seine Lehrjahre wiederfinden. Auch in ganz anderen Situationen, als der ‚Meister‘ schildert, wird er das Leben genießen und benutzen lehren. Denn es sind nicht einzelne Exempel 46 [Christian Gottfried Körner]: „Ueber Wilhelm Meisters Lehrjahre (aus einem Brief an den Herausgeber der Horen).“ In: Die Horen 8 (1796), S. 105-116, hier S. 114f. 47 Ebd., S. 115. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 116. 50 Vgl. Gille, ‚Wilhelm Meister‘ im Urteil der Zeitgenossen, S. 41f. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 67 und Fälle, es ist die ganze Kunst und Weisheit selbst, poetisch dargestellt; der Dichter, um völlig bestimmt zu sein, nötigt den Leser, diese Weisheit sich selbst zu schaffen, und das Produkt in dieser letzteren hat nun keine anderen Grenzen als die seiner eigenen Fähigkeit. Der ‚Meister‘ wirkt im höchsten Verstande produktiv aufs Leben.“ 51 Friedrich Schlegel geht in den Fragmenten des zweiten Athenaeum-Stückes im Jahr 1798 sogar so weit, die Lehrjahre zum geistigen Jahrhundertereignis zu erklären: „Die Französische Revolution, Fichte’s Wissenschaftslehre, und Goethe’s Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters. Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revoluzion wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben.“ 52 Unverzüglich protestierte Friedrich Nicolai, der indes als Veteran der Aufklärung mittlerweile heillos in die Position der unzeitgemäßen Arrièregarde zurückgefallen war, gegen den Inhalt wie auch gegen die Terminologie dieses Athenaeums-Fragments: „Tendenzen! Das ist auch so ein neugebrauchtes Wort, wobei der Doktor immer mit der Zunge schnalzte, wenn er’s vorbrachte, damit es wichtig klänge. […] Sonst dächte ich: Friedrich der Große und die Amerikanische Republik und - die Kartoffeln - wären ganz andere Tendenzen des Zeitalters, als der arme Meister, der in seinen Lehrjahren nichts gelernt hat, als sich von jedem Geschöpfe regieren zu lassen, das er antraf […].“ 53 Der Tendenz-Begriff wurde kurzfristig zum Nebenschauplatz der Meister-Debatte. Schlegel antwortete auf Nicolais Polemik im zweiten Athenaeums-Stück des Jahres 1800 in dem Aufsatz Ueber die Unverständlichkeit: „Etwas andres freylich ist noch in dem Fragment, welches allerdings misverstanden werden konnte. Es liegt in dem Wort Tendenzen, und da fängt nun auch schon die Ironie an.“ 54 Unter dem schillernden Modebegriff der ‚Ironie‘ will Schlegel auch seine Rezension Über Goethe’s Meister im Athenaeum verstanden wissen, wie er an den befreundeten Schleiermacher schreibt: „Gott sey Dank, Du findest Ironie im Uebermeister. Das andre giebt sich.“ 55 Seine als ‚Uebermeister‘ ironisierte, durchaus mehrdeutige Besprechung besteht in weiten Teilen in einer subjektiven Auslegung der Romanhandlung, die weder Inhaltsreferate noch Textbelege bietet. 56 51 W. von Humboldt an Goethe, 24.11.1796. In: Wilhelm von Humboldt. Sein Leben und Wirken, dargestellt in Briefen, Tagebüchern und Dokumenten seiner Zeit. Hg. v. Rudolf Freese. Leipzig 1953, S. 266. 52 Friedrich Schlegel, „Fragmente“, S. 232. 53 Friedrich Nicolai: „Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie S**.“ In: ders.: ‚Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig‘. Satiren und Schriften zur Literatur. Hg. v. Wolfgang Albrecht. Leipzig/ Weimar 1987, S. 44-180, hier S. 89. 54 Friedrich Schlegel: „Ueber die Unverständlichkeit.“ In: Athenaeum 3 (1800), H.2, S. 337-354, hier S. 344. 55 F. Schlegel an Schleiermacher, Mitte Juli 1798. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 24: Abt. 3, Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Hg. v. Raymond Immerwahr. Paderborn/ München/ Wien 1985, S. 148. 56 Vgl. zu diesem literaturkritischen Verfahren der ‚Charakteristik‘ Hendrik Birus: „‚Größte Tendenz des Zeitalters‘ oder ‚ein Candide, gegen die Poësie gerichtet‘? Friedrich Schlegels und Stefanie Stockhorst 68 Dezidiert sieht Schlegel dort von einer kritischen Beurteilung des Romans ab, der nur aus sich selbst heraus zu verstehen sei. Wie Humboldt meint er, das ästhetische Erlebnis lasse sich nicht in Worte fassen, sondern verbinde sich mit einem geradezu physischen Schlag: „Vielleicht soll man es also zugleich beurtheilen und nicht beurtheilen; welches keine leichte Aufgabe zu seyn scheint. Glücklicherweise ist es eben eins von den Büchern, welche sich selbst beurtheilen, und den Kunstrichter sonach aller Mühe überheben. Ja es beurtheilt sich nicht nur selbst, es stellt sich auch selbst dar. Eine bloße Darstellung des Eindrucks würde daher, wenn sie auch keins der schlechtesten Gedichte von der beschreibenden Gattung seyn sollte, außer dem, daß sie überflüssig seyn würde, sehr den Kürzern ziehen müssen; nicht bloß gegen den Dichter, sondern gegen den Gedanken des Lesers, der Sinn für das Höchste hat, der anbeten kann, und ohne Kunst und Wissenschaft gleich weiß, was er anbeten soll, den das Rechte trifft wie ein Blitz.“ 57 Ganz ähnlich wie Körner spielt Schlegel die Gattungskonventionen des Romans aus, die das Publikum als Bewertungsmaßstab an Wilhelm Meister herantragen könnte. Gerade die Nicht-Befolgung geltender Regeln stellt er als künstlerische Leistung heraus, wobei er dem Publikum freilich durch die Hintertür eine Mängelliste an die Hand gibt: „Die gewöhnlichen Erwartungen von Einheit und Zusammenhang täuscht dieser Roman eben so oft als er sie erfüllt. Wer aber ächten systematischen Instinkt, Sinn für das Universum, jene Vorempfindung der ganzen Welt hat, die Wilhelmen so interessant macht, fühlt gleichsam überall die Persönlichkeit und lebendige Individualität des Werks, und je tiefer er forscht, je mehr innere Beziehungen und Verwandtschaften, je mehr geistigen Zusammenhang entdeckt er in demselben. Hat irgend ein Buch einen Genius, so ist es dieses.“ 58 Das ambivalente Spiel mit den Lesererwartungen durchzieht den gesamten Text, wenngleich Schlegel letztlich gerade in den vermeintlichen Täuschungen und Enttäuschungen, denen der Leser ausgesetzt sei, die reine Poesie erblickt: „Wie mögen sich die Leser dieses Romans beym Schluß desselben getäuscht fühlen, da aus allen diesen Erziehungsanstalten nichts herauskommt, als bescheidne Liebenswürdigkeit, da hinter allen diesen wunderbaren Zufällen, weissagenden Winken und geheimnisvollen Erscheinungen nichts steckt als die erhabenste Poesie, und da die letzten Fäden des Ganzen nur durch die Willkühr eines bis zur Vollendung gebildeten Geistes gelenkt werden! “ 59 Die Rezension vermittelt eine zwiespältige Haltung gegenüber dem Roman, die letztlich zu einer abgrenzenden Positionsbestimmung führt. In einem Atemzug mit der kritischen Stellungnahme bringt Schlegel romantische Programmwerte in Umlauf, Novalis’ Kritik des Wilhelm Meister.“ In: Karl Eibl/ Bernd Scheffer (Hg.): Goethes Kritiker. Paderborn 2001, S. 27-43, bes. S. 28ff. 57 Friedrich Schlegel: „Über Goethe’s Meister.“ In: Athenaeum 1 (1798), H.2, S. 323-354, hier S. 335. 58 Ebd., S. 335f. 59 Ebd., S. 351. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 69 die er teils aus den Lehrjahren herausliest, teils durch die ironische und fragmentarische Formgebung seines eigenen Textes performativ vergegenwärtigt. Seine Notizen zu der als Fragment veröffentlichten Rezension verraten noch deutlicher, dass seiner zweischneidigen Argumentation ein weitergehender Generationenkonflikt zwischen aufsteigender und etablierter Avantgarde um prinzipiell dasselbe Publikum zugrundeliegt. Romantischen Ansprüchen genüge der Text demnach nicht, obschon er als Vergleichsgröße herangezogen wird: „Ein vollk.[ommener] Roman müßte auch weit mehr romant.[isches] Kunstwerk sein als W.[ilhelm] M.[eister]; moderner und antiker, [philosophisch]er und [ethisch]er und [poetisch]er pol[itischer], liberaler univers.[eller] gesellschaftlicher.“ 60 Außerdem legt Schlegel dar, dass er den Vergleichspunkt der Lehrjahre, der Wissenschaftslehre und der Französischen Revolution in ihrer Methode sehe, von der, wie er meint, auf den zweiten Blick gar nichts substantiell Benennbares mehr übrigbleibe: „Das beste im W.[ilhelm] M.[eister] ist d.[ie] Methode, wie in d.[er] W[issenschafts]l[ehre] und im Grund auch in der Revoluz.[ion]. - Sie ist leicht und bequem (doch kann sie aber <sehr> leicht zu bequem und dadurch seicht und oberflächlich werden.) / Worin besteht sie eigentlich? “ 61 Novalis, der sich über mehrere Jahre mit den Lehrjahren beschäftigte, lehnte den zunächst wohlwollend aufgenommenen Roman letzten Endes ebenfalls ab. Während der Arbeit an dem Manuskript zu seinem romantischen Gegenentwurf Heinrich von Ofterdingen, postum 1802 erschienen, berichtet er Caroline Schlegel über das Bildungskonzept, mit dem er sich von Goethes Roman abzugrenzen wünscht: „Der Meinige wird diesen Sommer wahrscheinlich in Toeplitz oder Carlsbad fertig. Indeß, wenn ich sage, fertig - so heißt dies der erste Band - denn ich habe Lust mein ganzes Leben an Einen Roman zu wenden - der allein eine ganze Bibliothek ausmachen - vielleicht die Lehrjahre einer Nation enthalten soll. Das Wort Lehrjahre ist falsch - es drückt ein bestimmtes Wohin aus. Bey mir soll es aber nichts, als - Übergangs Jahre vom Unendlichen zum Endlichen bedeuten. Ich hoffe damit zugleich meine historische und philosophische Sehnsucht zu befriedigen.“ 62 Im Februar 1800 schreibt Novalis an Ludwig Tieck, dass sein Roman kurz vor dem Abschluss stehe. Zugleich plant er eine große Rezension, um den großen Vorgängertext Goethes in der literarischen Öffentlichkeit zu vernichten. Das Buch, so Novalis’ hauptsächliche Kritik, propagiere eine vermeintliche Notwendigkeit zur Unterordnung unter die Ökonomie, die dem Wesen der Poesie zutiefst entgegenstehe. So hält er in einem auf den 11. Februar 1800 datierten Rezensionsentwurf fest: „Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch - so pretentiös und pretiös - undichterisch im höchsten Grade, was den Geist betrifft - so poëtisch auch die Darstellung ist. Es 60 Friedrich Schlegel: Fragmente zur Litteratur und Poesie, Nr. 289. In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel- Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. 1. Abt., Bd. 16: Fragmente zur Poesie und Literatur, Teil 1. Paderborn/ München/ Wien 1981, S. 108. 61 Schlegel, Fragmente zur Litteratur und Poesie, Nr. 195, S. 475. 62 Novalis an C. Schlegel, 27.2.1799. In: ders.: Werke, Tagebücher und Briefe. Hg. v. Hans-Joachim Mähl, Richard Samuel u. Hans J. Balmes. 3 Bde. München 1978, hier Bd. 1, S. 691. Stefanie Stockhorst 70 ist eine Satyre auf die Poësie, Religion etc. Aus Stroh und Hobelspänen ein wolschmeckendes Gericht, ein Götterbild zusammengesetzt. Hinten wird alles Farçe. Die Oeconomische Natur ist die Wahre - Übrig bleibende.“ 63 Der Roman blieb trotz dieser scharfen Verurteilung in der romantischen Literaturkritik noch lange im Gespräch. Eine Bilanz aus der frühen Rezeption zog Friedrich Schlegel 1808 im Rahmen einer Rezension der ersten vier Bände von Goethes Werkausgabe bei Cotta, die 1806 erschienen waren. Er hält fest, dass das Werk „nicht bloß als ein vortrefflicher Roman, sondern überhaupt als eines der reichhaltigsten und geistvollsten Werke, welche die deutsche Literatur besitzt, allgemein anerkannt und verehrt“ 64 werde, um gleich darauf einzuschränken, dass die Leserschaft doch eher geteilter Meinung sei. Im Folgenden zählt er die gängigen der gegen die Lehrjahre erhobenen Vorwürfe auf, um sie nacheinander allesamt zu entkräften. Als er schließlich nach den Ursachen für die kontroversen Meinungen fragt, deutet sich mit dem Hinweis auf Epochenvorlieben ein Bekenntniskonflikt zwischen den Schriftstellern an: „So kann man dann gewiß nicht behaupten, die Absicht des Verfassers sei gegen die Poesie gerichtet, ob man gleich allenfalls sagen könnte: es sei ein Roman gegen das Romantische, der uns auf dem Umweg des Modernen (wie durch die Sünde zur Heiligkeit) zum Antiken zurückführe.“ 65 Letztlich führt er jedoch die Vielfalt der widerstreitenden Ansichten über den Roman auf die Deutungsoffenheit des dargestellten Bildungskonzepts zurück: „Die Antwort auf diese Frage, soweit sie sich beantworten läßt, scheint uns folgende zu sein: Bildung ist der Hauptbegriff, wohin alles in dem Werke zielt und wie in einen Mittelpunkt zusammengeht; dieser Begriff aber ist gerade so wie er sich hier vor uns entfaltet, ein sehr vielsinniger, vieldeutiger und mißverständlicher.“ 66 Abschließend thematisiert er die vorgeprägten Erwartungen des Publikums an die Gattung ‚Roman‘, insbesondere an den ‚Künstlerroman‘, denen die Lehrjahre nur bedingt entsprächen. 67 Er vermutet, dass „dieser falsche Gattungsbegriff das Urteil mißleitet“, da „jeder Roman ein Individuum für sich ist“. 68 Goethes Werk sei kein Vertreter der Gattung ‚ Roman‘, und schon gar kein Künstlerroman, denn „wie bald 63 Novalis: „Fragmente und Studien 1799/ 1800“, Werke, Tagebücher und Briefe Bd. 2, S. 806. 64 Friedrich Schlegel: „Goethes Werke.“ In: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 3: Charakteristiken und Kritiken II (1802-1829). München/ Paderborn/ Wien u.a. 1975, S. 109-144, hier S. 127. 65 Schlegel, „Goethes Werke“, S. 131. 66 Ebd. - Die Vieldeutigkeit des Bildungsbegriffs macht Voßkamp auch für das exzeptionelle Fortdauern der Diskussionen um die Lehrjahre verantwortlich (vgl. Voßkamp, „‚Man muß den Roman mehr als einmal lesen‘“, S. 201ff.). - Vgl. auch Jürgen Jacobs: „Reine und sichere Tätigkeit. Zum Bildungskonzept in Goethes ‚Wilhelm Meister‘.“ In: Pädagogische Rundschau 53 (1999), S. 411-423. 67 Vgl. dazu Manfred Engel: „Kunst in den ‚Lehrjahren‘ - die ‚Lehrjahre‘ als Kunst.“ In: Deutschlandforschung 5 (1996), S. 7-28. 68 Schlegel, „Goethes Werke“, S. 134. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 71 wird der Künstler im M EISTER über dem Menschen vergessen! “ 69 Vielmehr handele es sich bei dem Text um ein sich gegen jede Klassifizierung sträubendes Unikat. Schlegel folgert: „So lasse man denn auch den M EISTER als ein in seiner Art einziges Individuum für sich bestehen, und enthalte sich aller verwirrenden Vergleichungen, deren das vortreffliche Werk zu seinem Lobe ohnehin nicht bedarf.“ 70 Das fallweise unterschiedlich ausgeprägte romantische Rezensionswesen über die Lehrjahre nahm die inhaltliche und formale Gegnerschaft zum Anlass für eine Machtprobe im literarischen Feld. Den eigentlichen Gegenstand des vordergründigen Literaturstreits bildet die Frage der Dominanz, oder, wie Goethe es nach einem Bericht von Johann Daniel Falk in einer geselligen Runde im Frühjahr 1808 ausgedrückt haben soll, die Kanonisierung. Den Anlass für die Lagebesprechung bot der inzwischen verstorbene Novalis, dessen symbolisches Kapital ihm nach Goethes Einschätzung günstige Bedingungen im künstlerischen Verteilungskampf verschafft hätte: „Ja, wovon sprachen wir doch gleich? Ha, von Imperatoren! Gut! Novalis war noch keiner, aber mit der Zeit hätte er auch einer werden können. Schade nur, daß er so jung gestorben ist, zumal, da er noch außerdem seiner Zeit den Gefallen getan und katholisch geworden ist. Sind ja doch schon, wie die Zeitungen besagten, Jungfrauen und Studenten rudelweise zu seinem Grabe gewallfahrtet und haben ihm mit vollen Händen Blumen gestreut. Das nenn’ ich einen guten Anfang, und es läßt sich davon schon etwas für die Folgen erwarten. Da ich nur wenig Zeitungen lese, ersuche ich meine anwesenden Freunde, wenn etwas weiter von dieser Art, was von Wichtigkeit, eine Kanonisierung oder dergleichen vorfallen sollte, mich davon sogleich in Kenntnis zu setzen.“ 71 Wenn Schlegel den Roman als Ausnahmeerscheinung deklariert, lobt er ihn zugleich in eine literaturgeschichtliche Isolation, in der er für die Profilierung der Romantiker ungefährlich erscheint. So erweist sich bei einem Blick hinter die programmatischen Kulissen die geniale Schöpfungsästhetik der Kunstperiode als Habitusform namentlich der literarischen Avantgarde um 1800, mit der sich auf seiten aller Beteiligten dezidiert literaturpolitische Ziele verbanden. 72 Mit ihren spezifischen Kräfteverhältnissen, welche durch die Verteilung von ökonomischem (ÖK) und kulturellem (KK) Kapital, durch die jeweils mögliche künstlerische Autonomie (A UTON ) sowie durch das positionsbedingte Prestige der Akteure (Konsekrationsgrad) erzeugt werden, 69 Ebd., S. 135. 70 Ebd., S. 141. 71 Goethe nach einem Bericht von Johann Daniel Falk, Ostern 1808. In: Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses v. Flodoard Freiherrn v. Biedermann erg. u. hg. v. Wolfgang Herwig. 5 Bde. in 6 Tln. Zürich 1965-1987. Bd. 2, S. 301f. 72 Vgl. auch mit überzeugenden Belegen für das strategische Vorgehen York-Gothart Mix: „Wahre Dichtung und Ware Literatur. Lyrik, Lohn, Kunstreligion und Konkurrenz auf dem literarischen Markt 1760-1810.“ In: Markus Joch/ Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 108), S. 109-135. Stefanie Stockhorst 72 lässt sich die Feldkonstellation der Wilhelm Meister-Rezeption in Anlehnung an entsprechende Schaubilder von Bourdieu 73 graphisch wie folgt darstellen: Abb.: Skizze des literarischen Feldes um 1800 In der Folgezeit übernahmen Die Lehrjahre weiterhin eine „prototypische Rolle“ 74 für die Romandiskussion, und auch auf die literarische Praxis wirkte sich die Spannung zwischen Goethe und den Romantikern produktiv aus. Der umstrittene Text setzte Maßstäbe, an denen sich die Nachfolger im Feld nolens volens abarbeiten mussten. Auf die Lehrjahre folgten neben Novalis’ Heinrich von Ofterdingen etliche nacheifernde Abgrenzungsversuche als Reaktionen. Dazu gehören unter anderem Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen (1798), Friedrich Schlegels Lucinde (1799) und der anonym von ihm publizierte Florentin (1801) seiner späteren Ehefrau Dorothea Veit, Clemens Brentanos Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter (1801) und auch noch 73 Vgl. für das literarische Feld im Frankreich des 19. Jahrhunderts, in das Flaubert mit seiner Éducation sentimentale eintritt, Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 199. - Im Unterschied dazu kann für das Feld um Wilhelm Meister keine politische Zuordnung der Positionen vorgenommen werden, da alle Beteiligten eine unpolitische Ästhetik vertreten. 74 Wilhelm Voßkamp: „Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution. Begriffs- und funktionsgeschichtliche Überlegungen zum deutschen Bildungsroman am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts.“ In: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft Würzburg 1986. Stuttgart 1988 (Germanistische Symposien Berichtsbände Bd. IX), S. 337-352, hier S. 340. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 73 Achim von Arnims Armut, Reichtum, Schuld und Sühne der Gräfin Dolores (1810). Goethes Roman prägte somit die ästhetischen Feldlinien nachhaltig, denn seine polarisierende Wirkung nötigte sowohl Befürworter als auch Gegner zu eigenen Positionsbestimmungen gegenüber diesem Leittext. III. Die Feldtheorie als Perspektive der Literatursoziologie Vor dem Hintergrund dieser skizzenhaft angelegten Beispielstudie soll abschließend versucht werden abzustecken, worin die spezifischen methodischen Stärken der Feldtheorie liegen und warum es sich lohnt, mit ihr zu arbeiten. Während sich die Zahl der feldtheoretisch orientierten Untersuchungen in Frankreich bereits kaum mehr überschauen lässt, setzte die Bourdieu-Rezeption in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft zunächst etwas schleppend ein, womöglich, weil andere, nicht soziologisch orientierte Theorien als methodisch ertragreicher eingeschätzt wurden. Inzwischen kann man erfreulicherweise feststellen, daß Bourdieus Untersuchungsmodell nicht nur durch - mehr oder weniger gelungene - Übersetzungen 75 seiner wichtigsten Schriften, sondern auch durch zahlreiche Einführungsbände 76 leicht zugänglich geworden ist. Auch wenn die Auseinandersetzung um das Für und Wider der Feldtheorie weiterhin ertragreich geführt wird, lassen sich doch mittlerweile einige wiederkehrende Argumente in ihren Grundzügen rekapitulieren. Zunächst ein paar Bemerkungen zum Grundsätzlichen: Große theoretische Entwürfe wie etwa die Psychoanalyse, der Existentialismus, die Systemtheorie oder die Diskursanalyse bringen in aller Regel große praktische Probleme mit sich, und zwar nicht nur bei der Umsetzung in der Literaturwissenschaft. Die faszinierende Erklärungs- und Definitionsmacht übergreifender Konzepte verleitet zum einen dazu, in stereotype Argumentationsmuster zu verfallen und den Untersuchungsgegenstand in das starre methodische Korsett einer Theorie einzupassen 77 statt umgekehrt die 75 Bedauerlicherweise krankt ausgerechnet die derzeit einzige verfügbare deutschsprachige Ausgabe von Les règles de l’art an einem uneinheitlichen Übersetzungskonzept, das den Text insbesondere durch die variierende Wiedergabe zentraler analytischer Konzepte (etwa champs du pouvoir durch ‚Feld der Macht’ und ‚Macht-Feld’), aber auch durch mangelnde syntaktische Präzision weit weniger verständlich erscheinen lässt als das französische Original. 76 Zu nennen wären insbesondere Joseph Jurt: Bourdieu. Stuttgart 2008; sowie mit speziellem Fokus auf die Literaturwissenschaft immer noch ders.: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis (vgl. Anm. 10); Eva Barlösius: Pierre Bourdieu. Frankfurt a. M. u.a. 2006; Boike Rehbein: Die Soziologie Pierre Bourdieus. Konstanz 2006; Mark Hillebrand/ Paula Krüger/ Andrea Lilge/ Karen Struve (Hg.): Willkürliche Grenzen. Das Werk Pierre Bourdieus in interdisziplinärer Anwendung. Bielefeld 2006; Werner Fuchs-Heinritz/ Alexandra König: Pierre Bourdieu. Eine Einführung. Konstanz 2005; Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung. (vgl. Anm. 11); Christian Papilloud: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds. Mit einem Nachwort von Loïc Wacquant. Bielefeld 2003; sowie im Überblick Cornelia Bohn/ Alois Hahn: „Pierre Bourdieu (1930-2002).“ In: Dirk Kaesler (Hg.): Klassiker der Soziologie. Bd. II: Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens. 5. Aufl., München 2007, S. 289-310. 77 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf gegenüber der Feldtheorie Jacques Dubois: „Pierre Bourdieu and Literatur.“ In: SubStance 93 (2000), H. 3, S. 84-102. Stefanie Stockhorst 74 Theorie als Hilfsmittel zu benutzen, um Sinnangebote und Bedeutungsnuancen adäquater und differenzierter erfassen zu können. Der theoriegeleitete Zugriff gerät auf diese Weise allzu leicht zu einer Zwangsjacke, die sich dem Erkenntnisinteresse mitunter sogar widersetzt, indem er disparate Befunde auf starre Termini reduziert. Zum anderen haben gerade sehr elaborierte Theorien die Eigenheit, oft nur den Kontext wirklich erhellen zu können, auf den sie ursprünglich zugeschnitten sind, während sie sich bei anderen Verwendungen entweder als zu sperrig oder als zu speziell erweisen, um als anwendbarer methodischer ‚Werkzeugkasten‘ dienen zu können. Dem ließe sich entgegenhalten, man könne doch auch ganz auf unbequeme theoretische Überbauten verzichten, um ersatzweise lieber die Texte selbst zu Wort kommen zu lassen. Leicht fällt in diesem Zusammenhang auch der Vorwurf, bei allzu avancierten Theorien handele es sich im Wesentlichen um einen Selbstzweck, der entweder völlig unnötig sei oder das ohnehin Selbstverständliche begrifflich überhöhe. Beide Einwände können natürlich in dieser Radikalität nicht aufrechterhalten werden, denn zum einen sprechen Texte jedenfalls in der Wissenschaft niemals für sich, sondern sind, sobald sie zum fachspezifischen Diskursinhalt werden, zwangsläufig durch den Blick von wissenschaftlichen Subjekten immer schon gefiltert und gedeutet. Zum anderen handelt es sich bei der Methodenreflexion bereits prinzipiell um eine Frage der Redlichkeit: Abhängig von den Fragestellungen und Begrifflichkeiten, welche zur Beschreibung und Analyse herangezogen werden, lassen sich - in den Naturwissenschaften ebenso wie in den Geisteswissenschaften - jeweils unterschiedliche Resultate erzeugen, oder anders gesagt, methodische Voreinstellungen bestimmen und begrenzen die Erkenntnismöglichkeiten. Nicht zuletzt vermag eine gründliche Klärung von Terminologie und Verfahrensweisen durchaus erhebliche Präzisionsgewinne in der begrifflichen Auseinandersetzung mit empirischen Phänomenen zu erbringen. Sich darüber gelegentlich Rechenschaft abzulegen, ist mithin keineswegs eine bloß formale akademische Konvention, sondern eine elementare Notwendigkeit, um den disziplinären Anspruch auf Wissenschaftlichkeit vertreten zu können. Neben diesen generellen Bedenken gibt es freilich noch weitere Schwierigkeiten zu bewältigen: Wenn nun durchaus ‚mit Theorie‘ gearbeitet werden soll, schließt sich unmittelbar die Frage an, welche das zweckmäßigerweise sein kann. Um dies zu entscheiden, sollte nicht von dem abstrakt verfügbaren Bestand an Theoriemodellen ausgegangen werden, sondern vom Erkenntnisinteresse. Ganz allgemein formuliert heißt das für die Literaturwissenschaft, eine Theorie muss geeignet sein, literarische Texte in ihrer spezifischen Bedingtheit zu analysieren. Dazu gehören grundsätzlich zwei Aspekte: einerseits die eigentümliche ästhetische Qualität sprachlicher Kunstwerke sowie andererseits die gesellschaftlich-historischen Zusammenhänge, innerhalb derer sie als sinnhafte Setzungen in Erscheinung treten. Der erste Aspekt lässt sich einstweilen vergleichsweise gut mit einem altbewährten close reading in den Griff bekommen, sofern der Umgang mit den textuellen Befunden nicht in rein positivistische Faktenanhäufungen oder in kontextfreie Metaphysik bzw., um es mit Bourdieu zu sagen, in „Wesensanalyse und die Illusion des Pierre Bourdieus Literaturtheorie 75 Absoluten“ 78 abgleiten. Weitere Grenzen der immanenten Analyse ergeben sich, sobald beobachtbare Momente von Traditionsverhalten und Intertextualität nicht nur konstatiert, sondern auch erklärt werden sollen. Für den zweiten, den sozialen Aspekt von Literatur hingegen gibt es kein standardisiertes Verfahren, dafür aber drei grundlegende Probleme. Im weitesten Sinne sozialgeschichtlich ausgerichtete Ansätze machen sich erstens nach wie vor leicht eines sozialen Determinismus literarischer Produktion verdächtig. Dies geht auf das alte Widerspiegelungspostulat und die damit verbundenen Schwierigkeiten materialistischer Literaturtheorie mit dem Moment der ästhetischen Brechung im Realitätsbezug literarischer Texte zurück. 79 Reflexe dieser Herangehensweise liegen in einer Tendenz älterer literatursoziologischer Arbeiten zur Vernachlässigung ästhetischer Gesichtspunkte zugunsten von - zumal oft einigermaßen zusammenhanglos präsentierter - sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Statistiken. 80 Zweitens führte die oft ideologisch gefärbte Dogmatik sozialgeschichtlicher Ansätze der 1970er und 1980er Jahre zeitweilig zu einer unverdient pauschalen Marginalisierung der Literatursoziologie innerhalb der literaturwissenschaftlichen Methodenlehre. 81 Drittens gilt es, ein praktikables Verfahren zu finden, um die im sozial- und literaturwissenschaftlichen Denken gleichermaßen tief verankerte Dichotomie einer subjektiven Perspektive handelnder Akteure einerseits und einer objektiven Perspektive gegebener, historisch wandlungsfähiger Strukturen andererseits aufbrechen zu können. Einen der beiden genannten Aspekte von Literatur, also den ästhetischen oder den sozialen, zu vernachlässigen, hieße sowohl für eine übergreifende Literaturgeschichtsschreibung als auch für Einzeluntersuchungen, die kommunikative Wirklichkeit von literarischen Texten zu verfehlen. Somit muss sich das Projekt einer zuver- 78 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 450. 79 Eine Rettung der Widerspiegelungstheorie versuchte zuletzt Spiewok mit einer entsprechenden Modifikation des Mimesis-Konzepts: „Der Abbildcharakter eines poetischen Textes unterscheidet sich von dem eines Sachtextes insofern, als er das Ergebnis einer subjektiv gebrochenen Abbildung der Wirklichkeit ist. ‚Subjektiv gebrochene‘ Wirklichkeit ist nicht identisch mit ‚subjektiv verzerrter‘ Wirklichkeit, sondern mit subjektiv ausgewählter, gedeuteter, gewerteter Wirklichkeit.“ (Wolfgang Spiewok: „Überlegungen zu einer Theorie sozialgeschichtlicher Literaturbetrachtung.“ In: ders. (Hg.): Ergebnisse der 22. und 23. Jahrestagung des Arbeitskreises ‚Deutsche Literatur des Mittelalters‘. Greifswald 1990 (Deutsche Literatur des Mittelalters Bd. 6), S. 5-19, hier S. 7) - Allerdings liegt hier immer noch die Annahme zugrunde, Literatur könne zwar nicht Eins zu Eins, aber doch in einem technisch nachvollziehbaren und nicht allzu komplizierten, nämlich nur ‚gebrochenen‘, nicht aber ‚verzerrten‘ Verhältnis auf die sie hervorbringende Wirklichkeit zurückgeführt werden, was von einem recht eingeschränkten Kunstbegriff ausgeht. 80 Vgl. dazu kritisch Niels Werber: „Evolution literarischer Kommunikation statt Sozialgeschichte der Literatur.“ In: Weimarer Beiträge 41 (1995), S. 427-444. 81 Vgl. zu dieser fachgeschichtlichen Problematik Bernd Balzer: „Ein gewendetes ‚Königsprojekt‘. Sozialgeschichtliche Literaturgeschichtsschreibung ‚im historischen Prozeß‘.“ In: Johannes Janota (Hg.): Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991. Bd. 2. Tübingen 1993, S. 161-172; sowie zur kritischen Darstellung der Grundpositionen Jurt, Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, S. 3- 31. Stefanie Stockhorst 76 lässigen Text-Kontext-Analyse immer wieder der methodischen Herausforderung stellen, einen Königsweg zwischen schematischer Widerspiegelung und freischwebender Werkimmanenz zu finden. Gerade durch die post-sozialgeschichtliche Rückbesinnung auf die literarische conditio socialis etwa durch den New Historicism, den Cultural Materialism sowie durch die Kultur- und Mentalitätengeschichte ist diese Herausforderung auf neuartige Weise virulent geworden, und zugleich kann ihr auf neuartige Weise begegnet werden. Im Zeichen des cultural turn ergeben sich vielfältige Möglichkeiten zur theoretischen Zusammenführung von ästhetischer Eigengesetzlichkeit und umrahmender Sozialstruktur - wenngleich auch diese im Interesse entwicklungsfähiger und ungenormter Erkenntnismöglichkeiten jeweils keinen universellen Deutungsanspruch erheben können. So erscheint es nur konsequnt, wenn Martin Huber und Gerhard Lauer ihrem im Jahr 2000 erschienen Sammelband mit dem scheinbar resignierten Titel Nach der Sozialgeschichte einen methodologischen Rück- und Ausblick voranstellen, der mit der Frage „Neue Sozialgeschichte? “ zukünftig ausbaufähige Perspektiven aufzeigt. 82 Einen wegweisenden Vorstoß in Richtung einer solchen ‚neuen Sozialgeschichte‘ unternimmt die Theorie des literarischen Feldes. 83 „Der Feldbegriff ermöglicht es“, so erklärt Bourdieu die Zielsetzung seines Ansatzes, „über den Gegensatz zwischen interner und externer Analyse hinauszugelangen, ohne irgend etwas von den Erkenntnissen und Anforderungen dieser traditionell als unvereinbar geltenden Methoden aufzugeben.“ 84 Sein bausteinartig verwendbares Modell bietet mit den dynamisch aufeinander bezogenen Faktoren von Feld, Habitus, Praxis und Kapital ein Instrumentarium, das über die Erkenntnismöglichkeiten älterer sozialgeschichtlicher Literaturmodelle hinausweist. 85 So beschränkt sich die Untersuchung von Literatur im Sinne Bourdieus nicht auf die sozialen Bedingungen von Produktion, Distribution und Rezeption und damit auf eine Erklärung von Literatur allein oder überwiegend durch äußere Faktoren. Vielmehr werden darüber hinaus auch die permanente Neubestimmung der Kräfteverhältnisse in der literarischen Welt sowie auch spezifische ästhetische Qualitäten textueller Gebilde mit in die Überlegungen einbezogen. 86 In diesem Zusammenhang wurde Bourdieu indes gelegentlich vorgeworfen, er redu- 82 Martin Huber/ Gerhard Lauer: „Neue Sozialgeschichte? Poetik, Kultur und Gesellschaft - zum Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft.“ In: dies. (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 1-11. 83 Vgl. auch den alternativen Entwurf einer struktural-funktionalen Sozialgeschichte der Literatur bei Renate von Heydebrand/ Dieter Pfau/ Jörg Schönert (Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Tübingen 1988 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 21). - Vgl. außerdem die Problemskizze bei Klaus R. Scherpe: „Literaturgeschichte im sozialen und kulturellen Zusammenhang. Eine Revision und ein Prospekt.“ In: Zeitschrift für Germanistik NF 1 (1991), S. 257-269, bes. S. 257-260. 84 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 328. 85 Vgl. zum ausdrücklich undogmatischem Anspruch der Feldtheorie und ihrer historischen Anpassungsfähigkeit Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 283-339, bes. S. 320. 86 Vgl. Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 326. Pierre Bourdieus Literaturtheorie 77 ziere künstlerische Tätigkeit auf strategisches Kalkül, das jedoch vielen Autoren abgehe. 87 Um eine Habitusform zu begründen, reicht jedoch das bloße Vorhandensein einer literarischen oder programmatischen Stellungnahme aus, sei es nun durch den Anschluss an Vorgänger und ihre Texte, durch die produktive Auseinandersetzung mit ihnen oder aber durch die explizite bzw. implizite Abkehr von ihnen. Demzufolge besteht für die Autoren als Akteure im literarischen Feld überhaupt keine Möglichkeit, sich nicht zu positionieren, denn ihr Werk ist notwendig durch seine eigenen, wie auch immer beschaffenen Charakteristika von anderen unterschieden. Zusammenfassend kann daher folgendes festgehalten werden: Trotz ihres primär literatursoziologisch ausgerichteten Interesses, das sie in historischer Perspektive verfolgt, kann die Feldtheorie auch bei der internen Analyse von Texten nützliche Erkenntnisse vermitteln. Erstens erlaubt sie eine funktional genaue Rekonstruktion von sozialen Feldstrukturen, wie sie innerhalb von literarischen Texten im Modus der Fiktionalität erschaffen werden. Zweitens wird es mit ihrer Hilfe möglich, bestimmte textuelle Strategien nicht nur auf der Ebene der repräsentierten Milieus, sondern auch auf der Ebene der Stoffe, Themen und Werthaltungen und sogar bis in die sprachliche Gestaltung hinein als literarisch vermittelte Habitusformen und damit als ästhetische Distinktionsmerkmale im Feld der kulturellen Produktion sichtbar zu machen. Damit soll nun freilich nicht der Eindruck erweckt werden, dass es sich bei der Feldtheorie um eine Universalmethode handle, mit der sich sämtliche Erscheinungsformen des Literarischen vollumfänglich erhellen ließen. Vielmehr bedarf sie der Ergänzung durch weiterführende Methoden, um die ästhetische Faktur literarischer Texte im Einzelnen sachgerecht und terminologisch exakt erschließen zu können. Dazu erscheinen die herkömmlichen Verfahren der Rhetorik, Stilistik oder Metrik ebenso unerlässlich wie weiterführende Schwerpunktsetzungen, beispielsweise unter stoff- und motivgeschichtlichen, intertextuellen, diskursanalytischen, medialen oder genderspezifischen Gesichtspunkten. Allerdings werden mit der Notwendigkeit solcher Erweitungen nicht nur die Grenzen der Feldtheorie erkennbar, sondern auch ihre ungewöhnlich flexiblen Anschlussmöglichkeiten für die Textwissenschaften, denn diese und andere Fragehorizonte lassen sich ohne weiteres in das methodische Rahmengefüge einer feldtheoretischen Literaturuntersuchung integrieren. Literaturverzeichnis Quellen Freese, Rudolf (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Sein Leben und Wirken, dargestellt in Briefen, Tagebüchern und Dokumenten seiner Zeit. Leipzig 1953. 87 Vgl. so bereits Peter Bürger: „On Literary History.” In: Poetics 14 (1985), S. 199-207. Stefanie Stockhorst 78 Gille, Klaus F. (Hg.): Goethes Wilhelm Meister. 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Mir zeiget sich ein Wunderbronnen, / in den mein Geist voll beben Staunen’s blickt / Aus ihm er schöpfet gnadenreiche Wonnen, / Durch die mein Herz er namenlos erquickt. / Und nimmer möcht ich diesen Bronnen trüben, / Berühren nicht den Quell mit frevlem Muth: - / In Anbetung möcht ich mich opfernd üben, / Vergießen froh mein letztes Herzensblut. - […] Walther von der Vogelweide (erhebt sich): Den Bronnen, den uns Wolfram nannte, / Ihn schaut auch meines Geistes Licht; / Doch, der in Durst für ihn erbrannte, / Du, Heinrich [= Tannhäuser], kennst ihn wahrlich nicht. / Laß dir denn sagen, laß dich lehren: / Der Bronnen ist die Tugend wahr, / Du sollst in Inbrunst ihn verehren / Und opfern seinem holden Klar. / Legst du an seinen Quell die Lippen, / Zu fühlen frevle Leidenschaft, / Ja, wolltest du am Rand nur nippen, / Wich ewig ihm die Wunderkraft! / Willst du Erquickung aus dem Bronnen haben, / Mußt du dein Herz, nicht deinen Gaumen laben. […] Tannhäuser (in höchster Verzückung): Dir, Göttin der Liebe, soll mein Lied ertönen! / Gesungen laut sei jetzt dein Preis von mir! / Dein süßer Reiz ist Quelle alles Schönen, / Und jedes holde Wunder stammt von dir. / Wer dich mit Glut in seinen Arm geschlossen, / Was Liebe ist, kennt er, nur er allein: - / Armsel’ge, die ihr Liebe nie genossen, / Zieht hin, zieht in den Berg der Venus ein! So kennt man den Sängerkrieg auf der Wartburg. Aus Richard Wagners Tannhäuser- Oper. Ich habe die Dresdener Uraufführungsfassung von 1845 zitiert. 1 Das bekannte Bild ist dies: Minnesänger - auf der einen Seite Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach rein, keusch und züchtig, auf der anderen Tannhäuser frech frevelnd fordernd - streiten um das Wesen der Minne. Ich möchte den Sängerkrieg aber aufgreifen, weil es darin - meiner Meinung nach - um etwas anderes geht: um die Kunst. Um dichtungstheoretische Äußerungen im 13. Jahrhundert zudem; noch zögerlich und testend, sicher noch nicht systematisch und strukturiert, von Interesse aber alle Male. Auch wenn die Aufnahme in eine Reihe ‚Theorien der Literatur‘ vielleicht etwas hochgegriffen ist für streitende Sänger. So kann und soll aus ihren Texten keine „hochgestochene“ Theorie entwickelt werden, sondern es sind nur bescheidene Textinterpretationen zu bieten. Ich werde in einem 1 Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Große romantische Oper in drei Akten von Richard Wagner, Dresden (Meser) 1845, S. 27-31. Freimut Löser 82 ersten Teil den ‚Sängerstreit auf der Wartburg‘ behandeln, in einem zweiten das Phänomen „Sangspruch“ (denn darum geht es) historisch verorten, und in einem dritten Teil Texte aus diesem Bereich „Sangspruch“ vorstellen, die unter dichtungstheoretischen Aspekten von Bedeutung sein könnten. Dabei kann es, wie gesagt, nicht um ausgefeilte Theorien der Literatur gehen. Gezeigt werden kann - vielleicht - nur, wie Literaten des 13. Jahrhunderts auf dem Weg zum reflexiven Verständnis ihrer Kunst sind. I. Sängerstreit 2 Abb. 1 Die Wartburg bei Eisenach ist ein „geschichtsträchtiger“, sagenumwobener Ort. Luther hat dort als „Junker Jörg“ versteckt gelebt, die Bibel übersetzt und ein Tintengefäß nach dem Teufel geworfen. Demokratie und deutsche Einheit nehmen dort (und dies nicht erst 1989) ihren Ausgang. Wir sind im Jahr 1817: Die Wartburg ist in diesem Jahr, als dort deutsche Studenten zusammenkommen und beim legendären „Wartburgfest“ Einheit und Freiheit für die deutschen Länder fordern, noch in einem eher ruinösen Zustand. Erst nach 1838 wird sie im Auftrag des Großherzogs Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach restauriert, oder besser gesagt: teilweise neu gebaut. Die Wartburg prägt bis heute unser Mittelalter-Bild, und doch ist, wie so oft, auch dieses unser „Wartburgmittelalter“ auf Entwürfen des 19. Jahrhunderts errichtet. Moritz von Schwind erhielt vom Großherzog Carl Alexander 2 Vgl. zum Folgenden Burghart Wachingers konzise Darstellung: Der Sängerstreit auf der Wartburg. Von der Manesseschen Handschrift bis zu Moritz von Schwind, Berlin/ New York 2004 (Wolfgang Stammler Gastprofessur Heft 12). Bildnachweis: Ebd., S. 63. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 83 den Auftrag, mehrere Räume mit Bildern zur Geschichte der Wartburg zu versehen. In den Jahren 1854 bis 1856 führte er den Auftrag aus. Das Bild vom Sängerstreit ist das größte der Fresken, heute vielleicht auch (neben den Bildern der Heiligen Elisabeth) das berühmteste. Es vermittelt den historischen Atem der „Echtheit“, denn es suggeriert dem Betrachter, dass er sich am authentischen Ort des realen historischen Geschehens befinde. So sagt es wenigstens die Inschrift: „In diesem Saale wurde der Sängerstreit gehalten den 7ten Juli 1207, dem Geburtstag der Heiligen Elisabeth.“ Mitnichten. Schwinds lebhafte Darstellung ist einer literarischen Sage entsprungen. Den berühmten Sängerwettstreit am Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen hat es so nie gegeben, der kriec von Wartberc fand nicht statt. Schwind und Wagner und die Wartburgbegeisterung des 19. Jahrhunderts und mit ihnen unsere Bilder entspringen der literarischen Fantasie schon des Mittelalters. Als erster Einstieg in diese mittelalterliche Tradition soll die Illustration dienen, die die berühmte Große Heidelberger Liederhandschrift, der sogenannte ‚Codex Manesse‘ aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts, dem Textkomplex des sogenannten Wartburgkrieges (aus dem 13. Jahrhundert) vorangestellt hat (siehe Abb. 2). 3 Die Miniatur ist zweistöckig aufgebaut, in zwei Ebenen unterteilt. Oben thronen Landgraf Hermann von Thüringen und seine Gattin, die Landgräfin; beide tragen pelzbesetzte Mäntel; die Geste der Landgräfin zeigt ihre ‚huldvolle Teilnahme‘; der Landgraf hat das Schwert erhoben, Zeichen richterlicher Gewalt. Er wird - ganz Marcel Reich-Ranicki seiner Zeit - über die Kunst richten, wobei es hier nun freilich buchstäblich um Leben oder Tod geht. Im unteren Bildfeld sitzen sieben Männer: Sänger als Teilnehmer eines literarischen ‚Krieges‘. Zur Darstellung dieses ‚Krieges‘ dienen die typischen Redegesten, Gesten, die vom Dozieren (bei der Figur links außen) bis zu äußerst erregter Diskussion in lebhafter Gebärdensprache (rechts) gesteigert sind. Die Beischrift nennt den Charakter der „Versammlung“ und sechs der sieben Gestalten beim Namen: Hie kriegent mit sange her Walther von der Vogilweide, her Wolfram von Eschilbach, her Reiman der Alte, der tugenthafte Schriber, Heinrich von Oftertingen vnd Klingesor von Vngerlant. Im Großen und Ganzen sind dies die Sängerrollen, die in den Wartburgkrieg-Gedichten vorkommen. Die beiden letztgenannten sind, nach allem was man weiß, fiktive Gestalten. 4 3 Heidelberg, cpg 848. Bildnachweis: Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Hg. v. Ingo F. Walther unter Mitarbeit v. Gisela Siebert, Frankfurt/ Main 1988, Tafel 72, S. 148. 4 Auf eine Differenz zwischen Text und Bild ist hinzuweisen: Statt des Sangspruchdichters Reinmar von Zweter lässt der Illustrator den berühmten Minnesänger (und bekannten „Antipoden“ Walthers von der Vogelweide) Reinmar (den Alten) agieren; Biterolf, der in den Texten eine Rolle spielt, ist nicht ins Bild gesetzt. Freimut Löser 84 Abb. 2 Die Texte, die in der Großen Heidelberger Liederhandschrift auf dieses Bild folgen, sind auch - mit unterschiedlichem Strophenbestand - in anderen Handschriften überliefert. Die Überlieferungslage ist so komplex wie die Sache selbst. 5 Sicher sagen lässt sich: Es handelt sich um 5 Dazu und einführend zum Ganzen: Burghart Wachinger, Artikel „Der Wartburgkrieg“, in Burghart Wachinger u.a. (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Band 10, Sp. 740-766. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 85 „Dichtungen, die für den Gesangsvortrag bestimmt waren, Strophen in der Tradition der Sangspruchdichtung. Wir kennen weder die Verfasser der Texte noch die Erfinder der Melodien. Was wir haben, sind offenbar mehrere Texte von verschiedenen Autoren, und diese Texte sind in den Handschriften z. T. unvollständig aneinandergereiht, gelegentlich auch durcheinander gewürfelt […]. Nach der Abfolge des Geschehens in der fertig ausgebildeten Sage ist an den Anfang das ‚Fürstenlob‘ zu stellen, das auch auf dem Manesse-Bild vor allem gemeint ist, entstanden wohl zwischen 1260 und 1280, 24 Strophen lang: ein Streit auf Leben und Tod zwischen Heinrich von Ofterdingen auf der einen und fünf Sängern auf der anderen Seite, ein Streit darüber, wer den besten Fürsten lobt und damit auch der beste Sänger ist“. 6 Heinrich von Ofterdingen provoziert, und er provoziert bewusst. Ausgerechnet auf der Wartburg des Thüringers besingt er den Ruhm des Herzogs von Österreich. Andere wie Walther und der tugendhafte Schreiber setzen sich für den anwesenden Landgrafen Hermann von Thüringen ein. Reinmar von Zweter und Wolfram von Eschenbach, ursprünglich als Schiedsrichter ausersehen, greifen schließlich auch auf der Seite des Landgrafen ein. Als erster Eindruck kann die Anfangsstrophe des Textkomplexes vom Wartburgkrieg dienen. Sie erzählt einleitend von der Provokation der Anwesenden durch Heinrich von Ofterdingen. Ich gebe den Text und die Übersetzung nach Wachinger, der seinerseits für den mittelhochdeutschen Text einer Handschrift folgt: der Jenaer Liederhandschrift aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, 7 die für dieses Gedicht den besten Text und auch die Melodie bietet: 1 Das erste singen hie nu t t Heinrich von Ofterdingen in des edelen vürsten don von Düringen lant, der teilt uns e [=ie] sin g t und wir im gotes lon. 5 Der meister get in kreizes zil, gegen alle singer die nu leben er ofgeworfen hat. benennet ir sin weinich oder vil, recht als ein kemphe er stat. Nu horet, wie er des kamphes kan gegen alle meister phlegen: 10 des vürsten tugent uz Osterrich wil er of die wage legen; ab sie ergen sin, die widerwegen mit drier vürsten milte, die hosten sie vinden megen, haben sie alle nu so hohen pris an tugenden leben, 15 in diebes wis wil er sich hiute des gevangen geben. Das erste Singen unternimmt hier jetzt Heinrich von Ofterdingen im Ton des edlen Fürsten von Thüringen, der gibt uns immer von seinem Besitz, und wir geben ihm Gottes Lohn. Der Meister [Ofterdingen] tritt in die Mitte des Kampfkreises. Gegen alle heute lebenden Sänger hat er seine Herausforderung aufgestellt. Ob ihm wenige oder viele 6 Wachinger [Anm. 2], S. 15f. 7 Jena, UB, Ms. El. f. 101. Freimut Löser 86 von ihnen als Gegner zugeteilt werden, er steht wie ein Kämpfer. Nun hört, wie er den Kampf gegen alle Meister zu unternehmen versteht: Er will die Vorzüge des Fürsten von Österreich in die eine Waagschale legen. Wenn es irgendwo [Sänger] gibt, die [dessen Vorzüge] aufwiegen mit der Freigiebigkeit dreier anderer Fürsten, der höchsten, die sie finden können, wenn diese zusammen ebenso hohes Lob für ihr vorbildliches Leben verdienen, dann will er sich heute dafür wie ein Dieb gefangen nehmen lassen. Der Streit ist als Gerichtszweikampf inszeniert. Für den Fall seiner Niederlage, so stellt er selbst die Bedingungen des Kampfes, soll Heinrich von Ofterdingen wie ein Dieb bestraft werden. Das heißt: damit wäre er dem Tode verfallen. Er spielt mit hohem Einsatz; man könnte sagen: er „pokert hoch“. Gleich drei besonders freigiebige Fürsten könnten seinen einen Kandidaten, den Herzog von Österreich, nicht aufwiegen. Schon dies ist - natürlich - eine ungeheure Provokation. Verstärkt wird sie durch die Provokation der Kollegen: Um das Lob der drei Fürsten (über den Österreicher hinaus) zu erhöhen, dürfen ihm ruhig alle lebenden Sänger entgegentreten. Derartige Provokationen können nicht gut ausgehen; auch dann nicht, wenn wir uns nicht ausgerechnet am Hof des Landgrafen von Thüringen befänden. Natürlich hat dieser „Sängerkrieg“ so nie statt gefunden. Die Situation ist dramatisch, aber fiktiv, mehr: eine solche Situation ist nicht einmal „realistisch“. Sie ist, wie dies Burghart Wachinger formuliert hat, „konstruiert, um ein Thema zu verdeutlichen“. Dieses Thema wird Wachinger zufolge in einer Wendung der ersten paar Verse der zitierten Strophe bereits implizit angesprochen: Das „Singen“ geschehe, so wird berichtet, in des edelen vürsten don von Düringen lant. Der Erzähler, der hier spricht, ist selbst „Partei“, denn mit der Benennung des Tons (d.h. der Strophenform und der Melodie), wird dem Landgrafen gehuldigt; der „Ton“ der Dichtung vom ‚Wartburgkrieg‘ ist ihm gewidmet und der „Berichterstatter“ reiht sich bewusst ein in die Schar derer, die vom freigiebigen Landgrafen „Geschenke“ erhalten und ihm dafür „Gottes Lohn“ geben: der teilt uns e sin g t und wir im gotes lon. In Ofterdingens angekündigtem ‚Loblied‘, der zu erwartenden Erwiderung der Herausgeforderten und im Einleitungstext geht es immer um das Thema der milte (Freigebigkeit) der Fürsten auf der einen und der Reaktion der Sänger auf der anderen Seite; sie bieten dem Fürsten Ruhm vor Gott und den Menschen, öffentliches Lob und öffentliche Fürbitte. „Damit“, so Wachinger, „ist eine typische Beziehung angesprochen, die in der Sangspruchdichtung des 13. und frühen 14. Jahrhunderts immer wieder thematisiert wurde, das Nehmen und Geben von guot umbe êre. Die Dichter und Sänger waren, soweit sie nicht adlige Dilettanten waren, auf die Gönnerschaft von Fürsten und adligen Herren angewiesen. Für das, was sie an guot empfingen, verbreiteten sie die êre dieser Herren, und das war für die Herren keineswegs ganz unwichtig; denn ein guter oder schlechter Leumund konnte reale politische Bedeutung haben. Dass in dieser Form des Herrendienstes auch Gefahren für die moralische Integrität und für das künstlerische Selbstbewusstsein der Dichter lauerten, liegt auf der Hand. Das ‚Fürstenlob‘-Gedicht steht in diesem Zusammenhang, und es Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 87 macht die Frage der Wahl des richtigen Herren für Gaben und Lob zu einer Frage auf Leben und Tod für die Sänger.“ 8 Literatur hat so zunächst einmal dienende Funktion; und dies in doppelter Weise: Sie dient dem Literaturproduzenten zur Sicherung seines Lebensunterhalts. Und sie dient dem, der diesen Lebensunterhalt durch seine Freigebigkeit sichert, zum Erwerb von êre. Damit ist nicht nur das Ansehen in der Öffentlichkeit gemeint, das literarische Publikatoren in einer Art „Lob-Offensive“ ihrem milten Auftraggeber erwerben. Sie sichern ihm eben auch gotes lon. Das heißt, die wechselseitige Relation zwischen Literaturproduzenten und Auftraggeber, der zugleich Subjekt der Literatur ist, die er veranlasst und kontrolliert, wie deren Objekt, manifestiert sich in einer scharfen wechselseitigen Abhängigkeit, die zugleich stark ethisch, ja geradezu religiös konnotiert ist: der teilt uns e sin gut und wir im gotes lon. Nur so kann der „Waren- und Tauschwertcharakter“ der Literatur überhaupt erträglich gehalten werden. Wer wahrhaft milte ist, erwirbt Ansehen vor der Gesellschaft und vor Gott; wer dieses Ansehen mehrt, verhält sich ethisch korrekt. Aber weiter: Kunst an sich, als solche vielleicht sogar perfekt, sichert für den Kunstproduzenten - nichts. Künstlerische Perfektion mag vielleicht Selbstbewusstsein vermitteln - den Selbsterhalt ermöglicht sie erst durch ihren „Warencharakter“. Der selbstbewusste Literat erlebt zugleich Abhängigkeit und den vorrangig funktionalen Charakter seiner Kunst. Der „Warenwertcharakter“ der Literatur begünstigt zugleich das „Freisetzen der Kräfte des Marktes“. Literaturproduzenten sind Konkurrenten. Konkurrenten um die Gunst potentieller Auftraggeber wie des Publikums. Entscheidend für den Gewinn dieser Konkurrenz ist primär nicht der makellose Zustand der ‚Ware Sangspruch‘ unter künstlerischem Aspekt (dazu später), sondern zunächst einmal die Erfüllung der Erwartungshaltung des Publikums (in Thüringen sollte man nicht den Österreicher loben). Für den Literaturproduzenten ist der Ausgang der Konkurrenz ein Kampf auf Leben und Tod. Literatur ist, im wahrsten Sinne des Wortes, „Lebensgrundlage“, Schreiben ist „Überlebenskampf“. Das Fürstenlob des Wartburgkrieges ist eine Allegorie des 13. Jahrhunderts auf den ‚Literaturbetrieb‘, eine literarisch verkleidete Reflexion eines anonymen Literaturproduzenten über die Funktionsgesetze seiner Kunst, in der er reale und fiktive Berufsgenossen auftreten lässt. Das heißt aber zugleich, dass das Verhältnis von Realität und Fiktion ebenfalls thematisiert ist (und dies nicht nur im ‚Personal‘); ein Sangspruchdichter schreibt im Medium Sangspruchdichtung ein Werk, das die Gesetze der Gattung einhält und zugleich sprengt (Einzelsprüche, sonst gattungstypisch, reihen sich nicht nur zu Liedeinheiten, sondern zu einer Handlungs-Einheit); in diesem Werk treten reale und fiktive Sangspruchdichter auf. Das Ganze ist aber kein „Schlüsselroman“ (mit biographischen Details), sondern Reflexion über das Wesen der Verbindung zwischen Autor, Werk und Publikum. Sangspruchdichter als Autoren sind gleichzeitig die Komponisten der Melodien der sangbaren Sprüche, sie sind Vortragskünstler, die öffentlich auftreten; und dies neben (und gegen) andere 8 Wachinger [Anm. 2], S. 17f. Freimut Löser 88 Kollegen. Die Konkurrenz ist (in der Fiktion des Wartburgkrieges) eine auf Leben und Tod. Die jährlichen Veranstaltungen in Klagenfurt bei der Konkurrenz um den Bachmann-Preis sind nur ein schwacher Schatten solcher Verhältnisse; mittelalterliche Sangspruchdichter sind in ihrem Werk auf eine Weise präsent, die man sich heute vielleicht nur noch schwer vorstellen kann: Die Werke werden - primär - nicht durch Schriftlichkeit vermittelt, sondern im Vortrag des Dichters/ Komponisten, der als „autoritative Autorität“ auftritt und dabei gleichzeitig die Rollen seiner Dichtung alle verkörpert. Er ist in seine Texte eingeschrieben. Die Verbindung Text - Textproduzent ist jedem evident, die Identität von Autor und Werk wird vom Publikum und den Konkurrenten wahrgenommen. Diese Verbindung ist essentiell und existentiell. Der Autor ist ins Werk eingeschrieben und dessen Erfolg auf Gedeih oder Verderb ausgeliefert. Dichtung ist Existenzkampf. Wer nicht reüssiert, wird hingerichtet. Ofterdingen freilich bleibt dieses Schicksal erspart. Und damit zurück zur Geschichte: Ofterdingen wird von seinen Gegnern eigentlich überwunden, bittet vor dem - offenen - Ende des Fürstenlobs aber noch darum, einen Alliierten zu rufen, der die Größe des österreichischen Fürsten gleich ihm bezeugen könne: den berühmten Klingsor aus Ungerlant. Dieser Meister Klingsor, auf den sich Ofterdingen im Fürstenlob beruft, ist in anderen Gedichten des Wartburgkrieg-Komplexes eine zentrale Figur. Der Fürstenlob-Dichter bezieht sich mit dieser Figur vor allem auf das sogenannte Rätselspiel. 9 Die Klingsor-Figur des Rätselspiels geht - und dies ist ein besonders geglückter intertextueller Kunstgriff - auf eine Figur aus dem Parzival Wolframs von Eschenbach zurück. Dort, in Wolframs Parzival (66,4) ist Clinschor ein pfaffe, der wol zouber las, d.h. ein gelehrter Mann, der die magischen Künste beherrscht, eine Figur, die andere durch schwarze Magie in Zauberbann schlägt und deren Zaubermacht erst von dem Artusritter Gawan gebrochen werden kann. Wolfram selbst, Klingsors „Autor“ und Namensgeber (bei Chrétien de Troyes, in Wolframs Vorlage ist er noch namenlos), hatte sich in seinem Werk sehr nachdrücklich als Laien stilisiert. 10 Das ging bis zu der in der Forschung viel diskutierten Behauptung, er könnte nicht lesen und schreiben, als die seine dezidierte Wendung gegen Buchgelehrsamkeit lange missverstanden wurde. 11 .Der Dichter des ‚Rätselspiels‘ hat nun die durch Studien der schwarzen Magie zaubermächtige Romanfigur ‚Klingsor‘ mit ihrem eigenen, ‚ungelehrten‘ Schöpfer konfrontiert. „Der Gegensatz“, so Wachinger, „zwischen dem gelehrten, aber dubiosen pfaffen Klingsor und dem frommen Laien Wolfram von Eschenbach schien ihm nämlich geeignet, ein zentrales Problem der mittelalterlichen Bildungs-, Sozial- und Literaturgeschichte zu diskutieren, die Differenz zwischen pfaffen und leien, zwischen Schriftkundigen und Illiteraten. Der Gegensatz zwischen beiden Gruppen bleibt im ganzen Mittelalter virulent, auch wenn beide Blöcke sich ausdifferenzieren, die Bildungshürden zwischen ihnen verringert werden und neue 9 Dessen Kern muss früher, vielleicht schon in den 1230er Jahren, entstanden sein; es wurde dann aber bis ins Spätmittelalter hinein immer wieder um neue Rätsel erweitert. 10 Man vergleiche die vieldiskutierte Stelle schildes ambet ist mîn art aus dem Parzival (115,11). 11 ...ine kan deheinen buochstap... (Parzival 115,27). Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 89 Grenzen innerhalb der Blöcke entstehen. Laien, insbesondere der oberen Schichten, beanspruchen größeren und differenzierteren Anteil am Wissen ihrer Zeit, und sie wollen auch in der Literatur ihre eigenen Probleme diskutiert sehen.“ 12 Es ist dieser Horizont, der die Opposition der Figuren ‚Wolfram‘ und ‚Klingsor‘ im Wartburgkrieg in einem besonderen Licht erscheinen lässt und ihr bildungsgeschichtliches Profil verleiht: Die Wolfram-Figur des Textes ist literarische Umsetzung des Autors Wolfram; dieser ist Laie, zugleich aber ein unter den Zeitgenossen berühmter Dichter, der über einen großen Wissensschatz verfügt. 13 Dieser Wissensschatz aber bleibt - trotz antiker oder kosmologischer Elemente - immer im Rahmen mittelalterlicher Gottesfurcht. Klingsor andererseits wird als Gelehrter dargestellt, dessen Kenntnisse und Interessen, insbesondere natürlich die in den magischen Künsten und in der Astronomie mit ihren heidnischen Quellen, mindestens Verdacht erregend sind. Im Rätselspiel des fiktiven Wartburgkrieges wird dieser Gegensatz zum Konflikt, er wird sozusagen über das Stellen und Lösen von Rätseln nicht kriegerisch, sondern auf literarischem Feld ausgetragen. Im alten Teil, im Kern des Wartburgkrieges, im Rätselspiel, ist es Klingsor, der die Rätsel stellt, und es ist Wolfram, der sich durch die Kenntnis der richtigen Lösung als gebildeter und kompetenter, ja als „weiser“ Laie ausweisen kann. Die Rätsel würden wir heute vielleicht als „gefinkelt“, vielleicht auch als „umständlich“ bezeichnen. Eigentlich sind es geistliche Allegorien. Wer sie zu lösen versteht, weist damit auch seine Bildung nach. Geprüft wird eine Deutungskunst, die, so Wachinger, als „spezifisch geistlich-gelehrte Kompetenz“ 14 galt. ‚Wolframs‘ kluge Antworten erschüttern ‚Klingsors‘ Meinung über dessen Bildungsstand so sehr, dass er dessen Laienstatus bezweifelt. Um ihn erneut und wirklich zu prüfen, schickt er ihm in der Nacht einen Teufel namens Nasion ins Haus, der ‚Wolfram‘ nach dessen astronomischen Kenntnissen befragt. Die Figur Wolfram erweist sich nun auch noch auf höherer Ebene als klug; seine Antwort: Von Astronomie verstehe er nichts, Gott allein kenne die Kreise aller Sterne; und das ist eigentlich demütig-fromme Selbstbescheidung gegenüber zu hohem Wissensanspruch. Der Teufel Nasion aber ist ärgerlich, dass er für einen derart Unwissenden den weiten Weg unternommen hat, und stellt triumphierend fest: du 12 Wachinger [Anm. 2], S. 20. 13 „Wolfram hat frz. Quellen benutzt und hatte Zugang zu verschiedenen lateinischen Überlieferungen; er besaß sehr genaue Kenntnisse auf den Gebieten der Medizin, Astronomie und Kosmologie, Geographie, Tier- und Pflanzenkunde, aber auch Theologie und der Rechtswissenschaft. Es ist nachgewießen, daß er ganze Namenslisten aus lat. Quellen übernommen hat. Wolfram selber behauptet, nicht lesen und schreiben zu können (ine kan decheinen buochstap Pz. 115,27). Auf welchen Wegen er sein vielfältiges Wissen erworben hat, ist unsicher. Eine formale Schulbildung ist nicht nachweisbar.“ So Joachim Bumke, Artikel Wolfram v. Eschenbach, in: Burghart Wachinger u.a. (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Band 10, Sp. 1377. 14 Wachinger [Anm. 2], S. 21. Freimut Löser 90 bist ein leie, snippen snap! ‚Wolfram‘ schlägt ein Kreuz, was den zornigen Teufel vertreibt. Der programmatische alte Kern des Rätselspiels setzt, wie dies Wachinger beschreibt, das Wissen des frommen Laien, der sich seiner Grenzen bewusst ist, gegen eine Wissenschaft, die die Grenzen des dem Menschen Zugänglichen missachtet. 15 Die Gattung „Sangspruch“ konturiert eine Auseinandersetzung um die Inhalte, um die Präsentations- und Vermittlungsweisen, die sie selbst transportiert. Sie diskutiert so ihre eigenen Bedingungen. Die Konkurrenz zwischen „Laien“ und „Gebildeten“ ist in gewisser Weise künstlich. Denn eine formal nach Vollkommenheit und inhaltlich nach komplexen Wissensinhalten strebende Literatur ist natürlich alles andere als Literatur für „Ungebildete“, obwohl sie sich selbst so stilisiert. Was dabei greifbar wird ist weniger der uneinlösbare Charakter einer solchen „Laienliteratur“, sondern die Struktur der vermittelten Wissensinhalte: Sie liegen nicht im Bereich der scientia, der durchaus in sich suspekt sein kann, sondern idealiter im Feld der sapientia. „Sangspruch“ als Form der wissensvermittelnden Literatur diskutiert damit gleichzeitig über ihre eigenen Grenzen in Fragen des Erwerbes wie der Struktur dieses Wissens. Sie ist dabei gleichzeitig programmatisch „Laienliteratur“ - und schlägt sich, auch in dieser Hinsicht, auf die Seite ihres Publikums, dessen Erwartungen erfüllt, wenn nicht mehr als erfüllt werden. Formuliert wird der Wissensanspruch von „Laien“, die gleichzeitig in frommer Selbstbescheidung klüger sind als die Gelehrten, deren ‚faustischer‘ Wissensdrang keine Grenzen akzeptiert. Soweit der - fiktive - mittelalterliche Text vom Wartburgkrieg. Anders als bei Richard Wagner geht es darin also um: - den Fürstenpreis als materielle Grundlage der Dichtung und der Dichter, - eine Hierarchie der Sänger, die sich ergibt aus ihrer Kunstfertigkeit und ihrem Bildungswissen und dem Kampf der Sänger um ihren Platz in dieser Hierarchie, - die wahre Weisheit der frommen Laien gegen den Bildungsdünkel der gelehrten Klerikerwelt. Dies ist ein fiktiver Entwurf, wohlgemerkt; aber der fiktive Wartburgkrieg-Text hat eine Entsprechung in der Realität. Damit komme ich zum angekündigten zweiten Teil, zu „realen“ Auseinandersetzungen bekannter Literaten untereinander. II. Sangspruchdichtung Weithin bekannt, wenn nicht ‚berühmt‘, ist die sogenannte ‚Fehde‘ zwischen Walther von der Vogelweide und Reinmar dem Alten. Darin geht es - scheinbar hat Richard Wagner doch das Mittelalter treffend rezipiert - um die Liebe. Und es geht zunächst einmal um Minnesang (nicht um Sangspruch). Ein sehr berühmtes Lied Walthers lautet so: 15 Ebd. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 91 In dem dône: Ich wirbe umb allez daz ein man I. Ein man verbiutet âne pfliht ein spil des im wol nieman gefolgen mag. er giht, wenne ein wîp ersiht sîn ouge, si sî sîn ôsterlîcher tag. wie wære uns andern liuten sô geschehen, solten wir im sînes willen jehen? ich bin der, derz versprechen muoz: bezzer wære mîner frouwen senfter gruoz. dâ ist mates buoz! II. Ich bin ein wîb dâ her gewesen, sô stæte an êren und ouch alsô wolgemuot. ich trûwe ouch noch vil wol genesen, daz mir mit stelne nieman keinen schaden tuot. swer küssen hie ze mir gewinnen wil, der werbe ez mit fuoge und ander spil. ist daz ez im wirt ê sâ - er muoz sîn iemer sîn mîn dieb und habe imz dâ und lege ez anderswâ! ’ 16 Es handelt sich um Texte, die nicht isoliert gesehen werden dürfen, sondern die jeweils ihre volle Bedeutung erst im gegenseitigen Zusammenspiel bekommen. Es ist allgemein bekannt, dass Walthers Schachlied (oben in einer von Günther Schweikle edierten und übersetzen Fassung) eine Reaktion auf den Konkurrenten Reinmar darstellt. 16 In dem Ton: Ich strebe nach allem, was ein Mann - Ein Mann treibt ein Spiel ohne Berechtigung so weit, daß ihm wohl niemand folgen kann. Er sagt, wenn sein Auge eine Frau erblicke, sie sei sein österlicher Tag. Wie würde es um uns andere Leute bestellt sein, sollten wir ihm seinen Willen zugestehen? Ich bin derjenige, der dies zurückweisen muß: Besser wäre für meine Herrin ein zarter Gruß. Hiermit ist seine Mattsetzung aufgehoben! - „Ich bin bisher eine Frau gewesen, so gewiß der Ehre und auch ebenso hochgestimmt. Ich getraue mich, auch weiterhin ganz so zu bleiben, so daß mir durch Stehlen niemand Schaden zufügt. Wer hier einen Kuß von mir gewinnen will, der erwerbe ihn mit Anstand und anderen Spielregeln. Geschieht es, daß er ihm unversehens zufällt - er muß deshalb für alle Zeit für mich ein Dieb sein, und er behalte ihn dort und lege ihn anderswohin zurück! “ (Übersetzung und Textvorlage aus: Walther von der Vogelweide: Werke, Gesamtausgabe Bd. 2, Liedlyrik. Hrsg., übers. u. komm. von Günther Schweikle, Stuttgart 1998, S. 166). Freimut Löser 92 Reinmar 17 I. (MF 159,1 ) Ich wirbe umbe allez, daz ein man ze werltlîchen fröiden iemer haben sol: Daz ist ein wîp, der ich enkan nâch ir vil grôzem werde niht gesprechen wol. Lobe ich si, sô man ander frouwen tuot, daz genimet si niemer tac von mir für guot. doch swer ich des, si ist an der stat, das ûz wîplîchen tugenden nie fuoz getrat. daz ist iu mat. II. Alse eteswenne mir der lîp durch sîne bæse unstæte râtet, daz ich var Und mir gefriunde ein ander wîp, sô wil iedoch daz herze niender wan dar. Wol ime des, daz ez sô rehte welen kan und mir der süezen arbeite gan. doch hân ich mir ein liep erkorn, deme ich ze dienst, und wær ez al der werlte zorn, wil sîn geborn. III. Unde ist daz mirs mîn sælde gan, daz ich abe ir wol redenden munde ein küssen mac versteln, Gît got, daz ich ez bringe dan, sô will ich ez tougenlîchen tragen und iemer heln. Und ist, daz siz für grôze swære hât und vêhet mich durch mîne missetât, waz tuon ich danne, unsælic man? dâ nim eht ichz und trage ez hin wider, dâ ichz dâ nan, als ich wol kann. IV. Si ist mir liep und dunket mich, wie ich ir volleclîche gar unmære sî. Waz darumbe? daz lîde ich. ich was ir ie mit stæteclîchen triuwen bî. Nû waz, ob lîhte ein wunder an ir geschiht, daz si mich eteswenne gerne siht? sâ denne lâze ich âne haz, swer giht, daz ime an fröiden sî gelungen baz. der habe im daz. 17 Textgrundlage von Text und Übersetzung: Reinmar, Lieder, hrsg., übers. u. komm. von Günther Schweikle, Stuttgart 2002, S. 138-144. Die fünfte Strophe ist in unserem Zusammenhang unerheblich. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 93 Übersetzung: Ich strebe nach allem, was ein Mann an weltlichen Freuden immer haben muß: Das ist eine Frau, die ich nicht ihrem übergroßen Wert gemäß rühmen kann. Lobe ich sie, wie man andere Damen lobt, das nimmt sie mir niemals als angemessen ab. Doch schwöre ich dies: Sie steht an der Stelle, wo sie aus (dem Bereich) weiblicher Tugenden nie einen Fuß setzte. Das heißt für euch „matt“! - Wenn zuweilen mir der Leib in seinem üblen Wankelmut rät, daß ich fortziehe und mir eine andere Frau als Freundin nehme, so will jedoch das Herz nirgends anders hin als dorthin (wo sie ist). Wohl ihm, daß es so richtig wählen kann und mir die süße Mühsal gönnt! Denn schließlich habe ich mir eine Liebe erwählt, der ich zum Dienst - und wäre es der ganzen Welt zum Unwillen - geboren sein will. - Und ist`s an dem, daß mir`s mein Glück vergönnt, daß ich von ihrem wohl-redenden Mund einen Kuß stehlen kann, (und) gibt Gott, daß ich ihn davon bringe, so will ich ihn heimlich tragen und immer verbergen. Und ist`s an dem, daß sie dies für eine große Schmach hält und mich wegen meiner Missetat anfeindet - was tue ich dann, ich unglücklicher Mann? Da nehme ich ihn eben und trage ihn wieder dahin zurück, wo ich ihn wegnahm. So gut ich eben kann. - Sie ist mir lieb, jedoch dünkt mich, daß ich ihr ganz und gar gleichgültig bin. Was soll`s? Das leide ich! Ich war ihr immer in beständiger Treue nahe. Nun, was dann, wenn vielleicht ein Wunder mit ihr geschieht, so daß sie mich zuweilen gerne sieht? Sofort lasse ich dann den frei von Neid, der sagt, daß ihm besser gelungen sei, Freuden zu erlangen. Der halte sich daran. Schon die Verwendung von Reinmars Ton durch Walther und die ausdrückliche Angabe dieses Faktums macht die Bezüge deutlich. Zuerst ist Walther wiedergegeben: In dem dône: Ich wirbe umb allez daz ein man. In der Folge ist Reinmars Lied abgedruckt, das exakt mit diesen Worten beginnt. Walthers Lied bezieht sich außerdem auf ein zweites Lied Reinmars. Walther gibt dies in Strophe I,3f. zu erkennen: er giht, wenne ein wîp ersiht sîn ouge, si sî sîn ôsterlîcher tag. Damit bezieht sich Walther auf eine Zeile Reinmars im Lied XIX,3 (sî ist mîn ôsterlîcher tag). Walther weist weiter Reinmars Matt-Drohung zurück, denn Reinmar hatte I,9 (in der Übersetzung) angekündigt: „das heißt für euch ‚matt‘! “: daz ist iu mat - Walther hält I,9 dagegen: dâ ist mates buoz, „Hiermit ist seine Mattdrohung aufgehoben“. Walther setzt sich insbesondere in der Frauenstrophe seines Liedes (II), in der er Reinmars Dame auftreten lässt, mit Reinmars Motiv vom Kussraub auseinander: Reinmars Text-Ich behauptet (in Strophe III), wenn es vom Munde der Dame einen Kuss stehlen könnte, würde es ihn verbergen; wenn sie es wegen dieser Missetat dann anfeinde, einfach zurücktragen. Walther lässt die Dame in einer Frauenstrophe (II) antworten, dass ihr durch solches Stehlen kein Schaden zugefügt werde. Ein Kuss sei mit Freimut Löser 94 Anstand und in den Spielregeln zu erwerben. Ein Dieb könne den geraubten Kuss ruhig behalten, müsse ihn dann aber auch - bitteschön - anderswohin zurückgeben (II,8f.: und habe imz dâ und lege es anderswâ). Auch das ist mit klarem Bezug auf Reinmar Strophe IV,9 gesagt: der habe im daz. Kurz: Die Beziehungen zwischen den beiden Liedern sind eindeutig. Aber es geht nur vordergründig um die Minne. Es geht um unterschiedliche Konzepte der Minne. Es geht darum, wie die Kunst die Damen lobt, es geht um den Anspruch der Kunst, es geht um die Kunstfertigkeit und ihren Rang. Es geht um die Künstler selbst. Etwa dort, wo Walther leichthin Reinmars kunstvolle äußere Form (den Ton) übernimmt und inhaltlich parodiert; es geht um Intertextualität und es geht um das Verhältnis zweier Künstler, die sich weniger als Sänger d e r M i n n e definieren, sondern vielmehr als der Minne S ä n g e r . Reinmar hatte sein „Schach! “ nicht den Damen anderer Sänger angedroht, sondern eben diesen Sängern. Walther wehrt diese Matt-Drohung ab. Das Verhältnis der Minnesänger untereinander ist das einer scharfen Konkurrenz; nicht etwa als Rivalen um die Gunst der Dame stehen sie in Konkurrenz, sondern als Bewerber um den - gedachten - Lorbeerkranz des „besten Minnesängers“. Die Auseinandersetzung (hier im Medium des Minnesangs) entspricht der, die im Wartburgkrieg die Sangspruchdichter führen; nur, dass es hier nicht um ‚Fürstenlob‘ geht, sondern um ‚Frauenlob‘. Für die Sänger geht es um ihren Ruf, um ihre Kunst, um Alles mithin (wie die „Schachmatt! “-Drohung und ihre Abwendung deutlich macht). Deutlicher noch als hier wird dies in zwei anderen Texten der sogenannten Walther-Reinmar-Fehde: in den beiden Nachrufen auf Reinmar, die Walther verfasste (sie sind dem Sangspruch zuzuordnen). Reinmar-Nachruf I 1 Owê, daz wîsheit unde jugent, des mannes schœne noch sîn tugent niht erben sol, sô ie der lîp erstirbet! daz mac wol klagen ein wîser man, 5 der sich des schaden versinnen kann: Reinmâr, waz guoter kunst an dir verdirbet! dû solt von schulden iemer des geniezen, daz dich des tages wolte nie verdriezen, dun spræchest ie den frouwen wol mit ir vil reinen siten. 10 des sülen si iemer danken dîner zungen. hetest anders niht wan eine rede gesungen: ‚sô wol dir, wîb, wie reine dîn nam! ’ dû hetest alse gestriten an ir lob, daz elliu wîb dir iemer genâden solten biten. 18 18 Ach, daß Weisheit und Jugend, des Mannes äußere Erscheinung noch seine inneren Werte sich nicht vererben sollen, wenn einst der Leib stirbt. Das muß ein kluger Mann wohl beklagen, der den Verlust ermessen kann: Reinmar, wieviel erlesene Kunst geht mit Dir dahin! Du solltest zu Recht immer dafür gerühmt werden, daß es Dich nicht einen Tag verdrießen wollte, stets gut über die Frauen mit ihren reinen Sitten zu sprechen. Dafür sollten sie Deiner Zunge immer danken. Hättest Du nichts anderes als das eine Lied gesungen: „Gepriesen seist Du, Frau, wie Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 95 Reinmar-Nachruf II 1 Dêst wâr, Reinmâr, dû riuwest mich michels harter danne ich dich, ob dû lebtest und ich wær erstorben. ich wil ez bî mînen triuwen sagen, 5 dich selben wolt ich lützel klagen: ich klage dîn edelen kunst, daz si ist verdorben. dû kundest al der werlte fröide mêren, sô dû ez ze guoten dingen woltest kêren. mich riuwet dîn wol redender munt und dîn vil süezer sanc, 10 daz die verdorben sint bî mînen zîten, daz dû niht eine wîle mohtest bîten. sô leist ich dir geselleschaft, mîn singen ist niht lanc. dîn sêle müeze wol gevarn und habe dîn zunge danc. 19 Befreit man die Strophen vom biografischen Ballast des angeblich gespannten Verhältnisses zwischen Walther und Reinmar, liest man solche Äußerungen vielmehr als dichtungstheoretische Aussagen, ergibt sich: Literatur (und die zugehörige Musik) sind Lebensinhalt für die Zielgruppe (II,7 fröide) wie für die Produzenten. Sie sind nicht zu trennen vom Literaten und dessen performativen Akten (II,9: wol redender munt, II,13: zunge). Die Kunst ist für den Künstler höchster aller Werte, über den Künstler selbst gestellt: II,5: dich selben wolt ich lützel klagen. Was von Reinmar in den Augen seines Konkurrenten Walther bleibt, ist das eine berühmte Lied (,sô wol dir, wîb, wie reine dîn nam‘), das er zitiert. Die kunst ist zwar mit der Person Reinmars gestorben (verdorben in Nachruf I, Z. 6 und in Nachruf II, Z. 6). Und dennoch stiftet sie für den Künstler die memoria. Und wieder kommt es zur Identitätsstiftung, wenn die Person des Künstlers mit seiner Tätigkeit als Künstler identifiziert wird und Walther dem toten Kollegen, den eigenen bald zu erwartenden Tod ankündigend, ins Grab nachruft: „sô leist ich dir geselleschaft, mîn singen ist niht lanc.“ (II, 12). Leben heißt Singen. Wenn der Sangspruchdichter schweigt, ist er tot. Bevor wir solche literaturreflexiven Implikationen im Vergleich erhärten oder hinterfragen können, muss das Phänomen - besonders im Rahmen eines Bandes über Literaturtheorie, die weitgehend (post)moderne Theorie ist - historisch verortet rein dein Begriff“, Du hättest so Dich eingesetzt für ihren Preis, daß alle Frauen um Dein Seelenheil bitten sollten. Textgrundlage und Übersetzung: Walther von der Vogelweide, Werke, Gesamtausgabe Bd. 1 Spruchlyrik. Hrsg., übers. u. komm. von Günther Schweikle, Stuttgart 1994, S. 272f. 19 Wahrlich Reinmar, Du machst mich traurig - viel mehr als ich dich (traurig machte), wenn Du lebtest und ich wäre gestorben. Ich will es auf meine Treue sagen, um Dich selbst wollte ich wenig klagen: ich klage um Deine edle Kunst, - daß sie dahingegangen ist. Du wußtest die Freude der ganzen Welt zu mehren, wenn Du Dein Tun schönen Dingen widmen wolltest. Ich traure um Deinen wohlberedten Mund und Deinen wahrlich lieblichen Gesang, daß die vergangen sind zu meiner Zeit, daß Du nicht eine Weile warten mochtest. Dann würde ich Dir Gesellschaft leisten, mein Singen dauert nicht (mehr) lange. Deiner Seele möge es wohl ergehen und Deiner Zunge sei Dank. Ebd., S. 274f. Freimut Löser 96 werden. Als Sangspruchdichtung 20 wird innerhalb der deutschen Lyrik vom späten 12. bis zum 15. Jahrhundert diejenige Gattung bezeichnet, die zum gesungenen Vortrag bestimmt ist und sich gleichzeitig vom Minnesang abhebt. Die ältesten aufgezeichneten Texte stammen aus dem späten 12. Jahrhundert. Von der Zeit um 1200 an wird der Typus kontinuierlich fortgeführt; etabliert hat ihn der gerade erwähnte Walther von der Vogelweide, der bekanntlich auch als Minnesänger, wenn nicht als d e r Minnesänger seiner Zeit tätig war. Daher kommt es bei ihm zu Gattungsinterferenzen. Wie die metrisch-musikalische Form (Kanzonenstrophe) überträgt er auch den Kunstanspruch des Minnesangs in die Gattung Sangspruch. Vorherrschendes Textformat ist bis ins 14. Jahrhundert die Einzelstrophe (nicht wie im Minnesang das mehrstrophige Lied). Melodien wurden häufig mehrfach benutzt: Auch thematisch voneinander unabhängige Strophen wurden auf dieselbe Melodie und damit auf dieselbe sprachmetrische Strophenform gedichtet; die Anzahl der benutzten Töne schwankt von Dichter zu Dichter (und von Interpret zu Interpret). Das thematische Spektrum ist weit: religiös geprägte und höfisch orientierte Morallehre, Fürstenlob und Kritik, Kommentare zum Zeitgeschehen, Vermittlung von Wissen aus Theologie und Artes liberales, aber auch (mit Berührungen zum Minnesang) Minnelehre und Frauenpreis: dazu - für uns besonders interessant - Kommentare (anerkennend oder kritisch) über Kollegen, Gedanken über die eigene Kunst und das „Literaturproduzentendasein“. Sangspruchdichtung wurde von Berufsautoren komponiert, gedichtet und vorgetragen, die ihr Publikum an wechselnden Adelshöfen suchten, wo sie Lohn für ihre Kunst erwarteten. Thematisiert ist dies in der, eingangs behandelten, „Geschäftsgrundlage“ guot umbe êre. Typisch für die Dichterrolle, so Gert Hübner, „ist der Anspruch auf autoritative Vermittlung und Bekräftigung anerkannter, traditioneller Wissensbestände in sprachlich kunstvoller Form. […] Das Konzept verleiht der Sangspruchdichtung sowohl einen lehrhaften als auch einen reflektierten, vom Einfluss der Rhetorik geprägten Charakter. Schon im 13. Jahrhundert begründete dieses Selbstverständnis ein spezifisches, auf den Autor- und Texttypus bezogenes Traditionsbewusstsein. Während die Sangspruchdichtung an den Adelshöfen im 15. Jahrhundert ihr Ende fand, knüpften daran die städtischen Meistersinger an, die ihren eigenen Kunstbegriff in die Tradition der ‚alten Meister‘ stellten und deren Töne für die eigene Textproduktion weiter verwendeten.“ 21 Für die Sangspruchdichter ist es besonders wichtig, dass man sich stets deren Status vor Augen hält, wie ihn Horst Brunner 22 hervorhebt: Anders eben als die Minnesänger waren sie ganz überwiegend Berufsautoren, die ihren Lebensunterhalt als Fahrende und Auftragsdichter verdienten. So standen sie nicht nur in 20 Das Folgende nach Gert Hübner, Artikel „Spruchdichtung“ in: Metzler Lexikon Literatur, 3. völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Dieter Burdorf u.a., begr. v. Günther u. Irmgard Schweikle, Stuttgart 2007, S. 726f. und Horst Brunner, Artikel „Sangspruch/ Reimspruch“, in: Horst Brunner, Rainer Moritz (Hgg.), Literaturwissenschaftliches Lexikon, 2. überarb. u. erw. Aufl., Berlin 2006, S. 359ff. 21 Hübner, ebd. S. 727. 22 Zum Folgenden: Brunner, ebd. S. 360. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 97 Konkurrenz zu anderen Unterhaltungskünstlern sondern eben auch untereinander. Damit mag auch das ausgeprägte Kunst- und Traditionsbewusstsein zusammenhängen, das sich bei ihnen im 13. Jahrhundert herausbildete. Die typische „Rolle“ war die des gelehrten Lehrers, woraus Brunner auch die zeitübliche Benennung als „meister“(d.h. „magister“) erklärt, „die auf der Autorität des Sängers insistiert; dazu kam für die politischen Strophen die Rolle dessen, der politische Neuigkeiten mitzuteilen und zu kommentieren weiß (in der Regel für interessierte Auftraggeber)“. Früheste Sangspruch-Dichter noch des 12. Jahrhunderts sind Herger und Spervogel. Den Höhepunkt erreicht der Texttyp um 1200 (Walther). Weitere bekannte Sangspruch-Dichter des 13. und frühen 14. Jahrhunderts sind Reinmar von Zweter, der Marner, der Meißner, Konrad von Würzburg (nur mit einem Teil seines sehr vielseitigen Schaffens), Hermann Damen, Rumelant von Sachsen und Frauenlob. Überliefert ist die ältere Sangspruch-Dichtung (bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts) in den gleichen Handschriften wie der Minnesang, vor allem in der Großen Heidelberger (Manessischen) Liederhandschrift (C); von besonderer Bedeutung ist die Jenaer Liederhandschrift (J; um 1340), die neben den Texten auch zahlreiche Melodien enthält. Aus diesem weiten Feld sollen einige Strophen herausgegriffen werden, die unter den Auspizien möglicher literaturtheoretischer Ansätze im Spätmittelalter interessant erscheinen. III. „Literaturtheorie“ im Literatenstreit Ich konzentriere mich zunächst auf einen Dichter, der in der Forschung bisher definitiv zu kurz kam, ganz einfach deshalb, weil eine kritische Edition seines Werkes (mehr als hundert Sangspruchstrophen) bisher fehlt. 23 Es geht um den gerade erwähnten Rumelant von Sachsen (mitteldeutsch/ niederdeutsch, 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts). In Rumelants viertem Ton sind, neben anderen, die folgenden Strophen 4-7 überliefert. Sie gehören klar zusammen. 24 IV,4 1 Des wazzers müchte lichte, daz ein rat wol brechte kerren. daz vant ein alter mülnere uns in honewise. Hat er vil starker vluot gewalt, waz mac uns daz gewerren? sin breiter wac der stet ouch nicht in ganzem prise: 5 Sin übervlüete ist also groz, daz sie den tich gebrichet mit ungevuoc. 23 Eine große Arbeit dazu hat Holger Runow, Göttingen, jetzt angekündigt. 24 Text nach Burghart Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, München 1973 (MTU 42), S. 164f. und Freimut Löser, Mein liebster Feind. Zur Rolle des literarischen Gegners in der Sangspruchdichtung am Beispiel Rumelants, in: Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters (Fs Volker Mertens), Tübingen 2002, S. 507-534, hier S. 528f. Freimut Löser 98 swer daz mit vuoge erwirbet, daz man im daz beste sprichet, des ist genuoc. sprich, mülner, nu din wac dri starke rat wol tribet, 10 wes schult ist, daz din müle so dicke lere blibet? IV,5 1 Welich ist din wac? daz ist der sin, der dir uz herzen vliuzet. dri rat er umme tribet. weistus nicht, so vrages. Daz eine rat melet dir latin, des vil din kunst geniuzet, dar umme endanke ich dir nicht sere grozes wages; 5 Daz ander rat dir swebesch melet, din diutisch ist uns ze drete; daz dritte rat daz ist din alter - nu ist din kunst verkunstet. ob ich hete den selben phat gegen ze latin und ze diutischen also lange 10 so du, min wazzer were ouch starker mit gesange. IV,6 1 Vil lieber Marner, vriunt , bistu der beste diutische singer, den man nu lebendic weiz, des hat din nam groze ere. Du has die museken an der hant, die sillaban an dem vinger gemezzen, des versma die leien nicht zuo sere! 5 Du weist nicht al, daz got vermac, wie er al sine gabe geteilet hat: ja git er eime Sasen also vil also eime Swabe helfe unde rat. daz sunte Pawel in der pisteln hat gesprochen 10 „got git nach sinem willen“, la daz ungerochen! 25 IV,7 1 Ren, ram, rint - rechte raten ruoch nach meisterlicher orden! wie mac daz wunderliche wunder sin genennet: Ez was ein kint und wart ein man und ist ein kint geworden. daz wunder ist vür wunder wunderliche erkennet. 5 Ez ist ein ren der wildicheit, ein ram der unbehende, der zucht ein rint. von alter gez ez hinder sich, sin lob hat widerwende. daz wunderkint treit graer varwen stopfelhar uf kindes kinne. 10 ez ist genant. nu rat, bistu des namen inne. 26 25 Mein lieber Marner, guter Freund, bist du der beste deutsche Sänger, der heute lebt, so hat dein Name große Ehre. Du hast die Musik an der Hand, die Silben am Finger gemessen, doch verschmähe nicht zu sehr die Laien. Du weißt nicht alles, was Gott vermag, nicht, wie er seine Gaben verteilt hat. Er gibt ja einem Sachsen ebensoviel Rat und Hilfe wie einem Schwaben. Was Sankt Paulus hat gesagt in der Epistel - ,Gott gibt nach seinem Willen - , das laß unangefochten! Übersetzung nach: Burghart Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters, Frankfurt/ Main 2006 (Bibl. d. Mittelalters 22), S. 310f. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 99 Es ist klar ersichtlich, dass die Strophen IV,4 und IV,5 besonders eng zusammengehören; sie sollen etwas ausführlicher interpretiert werden: Beide polemisieren gegen einen Literaten, der dem Publikum als ein alter Müller vorgestellt wird. Damit kann niemand anderer als Rumelants Kollege „der Marner“ gemeint sein; dafür spricht der Überlieferungszusammenhang mit den folgenden Strophen, die ausdrücklich an den Marner gerichtet sind; dafür spricht auch die Tatsache, dass der Angegriffene als alt vorgestellt wird (vgl. IV, 4,2 und IV,5,7 mit IV,7,7) und dass er Schwabe ist (vgl. IV,5,5 mit IV,6,7). Auch die Tatsache, dass die Mühle Deutsch und Latein mahlt, stimmt zum Marner, von dem wir als einzigem Sangspruchdichter des 13. Jahrhunderts wissen, dass er deutsch und lateinisch gedichtet hat. Man kann die Allegorie der beiden Strophen insgesamt so deuten: 27 Der alte Müller (=Marner) verfügt über einen Mühlbach mit sehr viel Wasser (=sin); dieses Wasser treibt ihm drei Räder an (=latin, swebesch, alter). Aber der zu kräftige Wasserzustrom (IV, 4,5) bricht den Damm (d.h. die Dichtung verliert die vuoge), die Mühle bleibt leer (IV, 4-10): d.h. trotz bester Ausgangslage gibt es in der literarischen Mühle des Marners nichts zu mahlen. Auch die drei starken Räder des Marners finden bei Rumelant keinen Beifall: Das Lateinische schiene ihm zwar noch ein Vorteil, wenn auch kein Grund Marners sin zu bewundern; das Deutsche in seiner scheinbar feinsten Form (swebesch) sei bei ihm einfach zu schnell. Das Alter wird zwar als gewisser Vorzug gewertet, nicht aber als Verdienst. Besonders wichtig scheint mir die Feststellung, dass Rumelant auf einen Angriff des Marners reagiert. Die Erwähnung der honewise (IV,4,2) deutet darauf hin, dass der Marner „auf höhnische Weise“ offenbar eine Spottstrophe auf Rivalen verfasst hatte; er scheint entweder Rumelant selbst oder einem bestimmten anderen Sangspruchdichter oder allgemein den „künstelosen“ Kollegen vorgeworfen zu haben, über zu wenig „Wasser“ (sin) zu verfügen, weshalb deren Mühle leer bleibe; „auf solchen Spott“, so Wachinger, „sind unsere beiden ersten Strophen der genau treffende Gegenspott: Du freilich hast viel Wasser und drei große Räder, aber dein Wasser zerbricht den Damm und deine Mühle bleibt leer.“ 28 In IV,6 liegt eine Anspielung auf die Guidonische Hand (s.u.) vor und damit auf den gelehrten Musikunterricht, den der Marner offenbar genossen hat. Ihm gegenüber zählt sich Rumelant zu den weit weniger gut ausgebildeten Laien: Mit Gottes Hilfe könne auch er, der ungebildete Sachse, dichten. Das erneute Aufgreifen des Bildungsgegensatzes wie der verschiedenen Landschaften und Stämme (wie schon in IV,4 und IV,5) macht es wahrscheinlich, dass auch IV,6 zusammen mit den 26 Ren, Widder, Rind - versuche, auf richtige Art nach meistergemäßer Ordnung zu raten! / Wie kann das rätselhafte Rätseltier heißen: / Es war ein Kind, wurde ein Mann und ist wieder ein Kind geworden. / Das Wesen ist als Rätsel auf rätselhafte Art und Weise erkannt worden. / Es ist ein Ren in Bezug auf sein wildes Wesen, ein Widder in Bezug auf seine Ungelenkheit und / in Bezug auf sein Verhalten ein Rind. / Auf Grund (seines) Alters geht es rückwärts, sein Lob ist auch rückläufig. / Das seltsame Kind / hat (alters)graue Stoppeln auf dem kindlichen Kinn. / Es ist beschrieben. Jetzt rate, wenn du den Namen kennst. 27 Vgl. Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen [Anm. 25], S. 166. 28 Wachinger, ebd., S. 167. Freimut Löser 100 beiden Strophen eine Vortragseinheit bildete. Wir haben hier also eine Abweichung von der Regel des Sangspruches, nämlich eher eine liedhafte Einheit. IV,7 hingegen ist als Rätsel formuliert und hebt sich - wohl als Einzelstrophe konzipiert - durch die Grobheit des Spottes vom gemäßigteren Ton der anderen Strophen deutlich ab. Zwar gibt es Berührungspunkte, indem hier dem Marner beispielsweise mangelnde zucht vorgeworfen wird (IV,7,6; vgl. IV,4,6 ungevuoc); auch das Alter ist wieder ein Thema (vgl. VI,5,6f.), aber nur hier in Strophe IV,7 wird der Marner im harten Tiervergleich als senil wirklich verspottet. Insgesamt lässt sich für die Strophen eines nun nicht fiktiven „literarischen Krieges“ festhalten: 29 1. Dem Angriff Rumelants - so die erste Strophe (IV,4) - ging ein (für uns heute verlorener) Angriff des Marners voraus; es handelt sich also um eine Reaktion. Es ist - so stilisiert es der Text - nicht das „Ich“, von dem die Aggression ausgeht, sondern es ist „der Andere“. 2. Diese Aggression traf, wird behauptet, nicht nur Rumelant, sondern die Kollegenschaft (so jedenfalls möchte ich IV,4,2 und 3 deuten: daz vant ein alter mülnere uns in honewise; waz mac uns daz gewerren? ). Wenn diese Deutung stimmt, schlägt Rumelant die Strategie ein, den Ansprechpartner seiner Texte zu isolieren und sich selbst einer Gruppe einzuordnen (Gegensatz: 2: uns - 4: sin breiter wac; 5: sin übervlüete). Ein literarischer Text stiftet damit in der Auseinandersetzung mit einem wie immer gearteten Gegner nicht nur Identität, sondern Gruppenidentität. 3. Es geht um die Kunst und um die Rangordnung in dieser Kunst. Verallgemeinert wird formuliert: swer daz mit vuoge erwirbet, daz man im daz beste sprichet, / des ist genuoc. (7f.) Damit würde dem Marner gegenüber sogar sein hoher literarischer Rang anerkannt, wenn ihm nicht gerade ungevuoc (6) attestiert worden wäre. - Literarische Konkurrenz erzeugt und transportiert zugleich den Anspruch, der Beste zu sein und als solcher von den Kollegen anerkannt zu werden. 4. Zum ersten Mal nennt sich das ich dieses Textes in IV,5,3 bezeichnenderweise im Umfeld der Erwähnung von Marners Lateinkenntnissen: Daz eine rat melet dir latin, des vil din kunst geniuzet, / dar umme endanke ich dir nicht sere grozes wages. Bildung an sich garantiert nicht den Erfolg und provozierte eher als Bewunderung Widerspruch. 5. Marners zweite „Kunstfertigkeit“, sein Schwäbisch, wird hingegen wieder mit einer Gruppe konfrontiert (IV,5,5: din diutisch ist u n s ze drete). Und der hier aufscheinende regionale Gegensatz wird ein zweites Mal zum Thema gemacht: ja git er eime Saxen also vil also eime Swabe (7). 6. Das Alter ist zunächst noch nicht Anlass zum Spott, sondern die Folie, vor der sich das Ich abhebt: ob ich hete den selben phat gegen ze latin und ze diutischen also lange so du, min wazzer were ouch sterker mit gesange (IV,5,7-10). 29 Vgl. Löser, Mein liebster Feind [Anm. 25], S. 531f. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 101 7. Die Strophe IV,6 spricht den Marner versöhnlich an: Vil lieber marner, vriunt und konzediert gar die Möglichkeit, bei ihm könne es sich tatsächlich (wie von ihm behauptet? ) um den beste[n] diutische[n] singer handeln. Seiner perfekten Ausbildung werden jedoch sofort (Z.4) die leien (wieder als Gruppe) konfrontiert. 8. Der Hochmut wird nur als Möglichkeit angedeutet, aber er ist doch mitgedacht: versma die leien nicht zuo sere (4). Hochmut, wenn er denn droht, ist Hochmut des Wissens, des Sich-Vermessens, die Geheimnisse der göttlichen Schöpfung alle zu kennen; aufscheinend in der Warnung: Du weist nicht al, daz got vermac, wie er al sine gabe geteilet hat (5f.). 9. Das „Rätsel“ (IV,7) dient dem Namensspott (Ren, ram = Marner) und konstruiert den Gegensatz zwischen dem kindisch-senilen Marner (7: von alter get ez hinder sich) und einem Ich, das sich offensichtlich „in der Blüte seiner Jahre“ befindet. Die Vorwürfe sind wildicheit, unbehende und mangelnde zucht. 10. Insgesamt dient der literarische Gegner als Folie, vor der sich ein Ich entfaltet, das seine Gruppenzugehörigkeit bestätigt, das sich seiner Bildung (im Gegensatz zum Latein des Marners einer „Bildung des Herzens“ und des „wahren Sinnes“) versichert, das sich im Gegensatz zum Alter („Senilität“) als „jung“ definiert und seine Identität auch über die Zugehörigkeit zu einer Landschaft und zu einem Sprachraum gewinnt. Der literarische Gegner dient als Folie zur Definition des Selbst, das sich einer Gruppe integriert, aus der der Gegner ausgeschlossen wird. Die Themen, die hier angesprochen sind, begegnen mehrfach in den Polemiken der Sangspruchdichter. 30 Ich greife sie kurz auf. Der „alte Müller“ macht das erste Thema klar erkennbar: Alter/ Jugend, Erfahrung Es sind sonst die Spitzen gegen die Unbedachtheiten der Jugend, die in der Sangspruchdichtung vorrangig präsent sind. Und dies auch und gerade im „dichtungstheoretischen“ Feld. Der Unverzagte spießt in I,4 (einer von gerade 22 Strophen aus seinem schmalen Werk) die jüngeren Kollegen auf: Sizze an dime neste, gouch, unz din zit kome, daz sich din[e] vlügele breiten, so mahtu ze sange reiten. 31 Es scheint, als ob Weisheit und Alter hier einen Bund eingehen. Das ist nicht nur bei den 30 Vgl. Freimut Löser, Von kleinen und von großen Meistern. Bewertungskategorien in der Sangspruchdichtung, in: Dorothea Klein u.a. (Hgg.), Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext, Tübingen 2007, S. 371-398. 31 Zit. nach Minnesinger. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. III, hg. v. Friedrich Heinrich von der Hagen, 1838-1861, ND Aalen 1963, S. 43. „Bleib in Deinem Nest sitzen, du Tor, bis deine Zeit kommt, daß sich deine Flügel ausbreiten. Dann kannst du zum Sang ausreiten.“ Vergleichbar sind auch die kritischen Worte, die Hermann Damen an den jungen Frauenlob richtet, in: Löser, Von kleinen und von großen Meistern [Anm. 31], S. 384f. Freimut Löser 102 Sangspruchdichtern so. Man denke an Heinrich Seuse oder Johannes Tauler, man denke an die Rolle der Lebensaltersstufen im Mittelalter ganz allgemein. Auffällig ist allerdings schon, dass im Bereich der Sangspruchdichtung Erfahrung und Weisheit korreliert werden und so eine Autorisierungsmöglichkeit gewonnen wird, die im Rahmen der Hierarchisierung von Autorität innerhalb der Gruppe gegen jüngere Kollegen gewendet werden kann. Demgegenüber sticht umso mehr das umgekehrte Argumentationsmuster ins Auge. Besonders drastisch, wenn Rumelant - wie oben - sich über die Senilität des Marners lustig macht. Repertoire Mit der Frage des Alters, der Erfahrung, der Ausbildung und des Kunsterwerbes mögen auch die Fragen des Repertoires direkt oder indirekt zusammenhängen; d.h. der Kunstanspruch des Einzelnen kann auch danach bemessen werden. Sangspruchdichter sind einerseits Spezialisten, und doch ist es auffällig, dass an einigen Stellen ein sehr umfangreiches Repertoire angedeutet wird. So sagt eben der Marner in einer Strophe von sich: Sing ich dien liuten mîniu liet, sô wil der êrste daz, wie Dieterîch von Berne schiet, der ander, wâ künic Ruother saz; der dritte wil der Riuzen sturm, sô wil der vierde Eggehartes nôt, Der fünfte, wen Kriemhilt verriet; dem sehsten tæte baz, war komen sî der Wilzen diet; der sibende wolde eteswaz Heimen ald hern Witichen sturm, Sigfrides ald hern Eggen tôt; Sô will der ahtode da bî niht wan hübschen minnesanc; dem niunden ist diu wîle bî den allen lanc; der zehend enweiz wie, nu sust nu sô, nu dan nu dar, nu hin nu her, nu dort nu hie. dâ bî hæte manger gerne der Ymelunge hort, der wigt mîn wort ringer dan ein ort, des muot ist in schatze verschort. sus gêt mîn sanc in manges ôrn, als der mit blîje in marmel bort. sus singe ich unde sage iu niht, des iu bî mir der künic enbôt. 32 32 Sing ich den Leuten meine Lieder, so will der erste hören, wie Dietrich aus Bern fliehen mußte, der andre, wo König Rother saß; der dritte will den Sturm der Reußen, der vierte aber Eckharts Not, der fünfte will Kriemhilds Verrat; dem sechsten gefiele es besser zu hören, wohin der Wilzen Volk gekommen ist; der siebte wollte gern ein Stück aus Heimes oder Wittichs Stürmen, von Siegfrieds oder Eckes Tod; der achte aber möchte nichts als höfischen Minnesang; dem neunten wird die Zeit bei alledem zu lang; der zehnte weiß nicht was, mal so mal so, mal dies mal das, mal hin mal her, mal dort mal hier. Doch viele hätten gern der Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 103 An der viel diskutierten Strophe ist hier nur wichtig, was der Marner alles erwähnt; das reicht vom Minnesang bis zum Nibelungenlied und umgreift vor allem die Heldenepik. Das heißt, wie Jens Haustein gezeigt hat, 33 die Strophe spricht für die Existenz kleinerer Einheiten heldenepischer Texte, die die Sangspruchdichter wohl im Repertoire hatten und auch vorgetragen haben. Dazu gehörte offenbar auch der Minnesang. Aber derartige Zeugnisse sind so häufig nicht, und gerade die Strophe des Marners zeigt doch auch seinen Spott über das Publikum und eine ironische Distanz von dem Repertoire, das er vorträgt, weil man es von ihm fordert. Solche Distanz vom Repertoire zeigt sich erst recht in der Spottstrophe auf Leuthold von Seven: Got welle sône welle, doch sô singet der von Seven noch baz dan ieman in der werlte. Frâget nifteln unde neven, geswîen, swâger, swiger, sweher - si jehent ez sî wâr. tageliet, klageliet, hügeliet, zügeliet, tanzliet, leich er kan, er singet kriuzeliet, twingeliet, schimpfliet, lobeliet, rüegliet als ein man 34 Die Breite des Repertoires, über das er verfügt, kann demnach keinen Gradmesser liefern, an dem die Bedeutung eines Sangspruchdichters ablesbar wäre. Im Gegenteil: Kunst - auch die anderer - ist im Repertoire, das der Künstler vorträgt, weitgehend verfügbar und reproduzierbar. Selbst jemand, der alle Gattungen vortragen kann, wird berühmt nur im Kreis seiner Verwandtschaft (wie Leuthold). Wahre Kunst gründet auf anderen Kriterien. Rumelant attestiert dem Marner in IV,4 (s.o.) einen breiten Zustrom von Ideen, vielleicht auch von Fantasie und künstlerischer Handwerkskunst, aber eben auch übervlüete, die den Teich bricht, und damit ungevuoc. Der wahre sin kommt aus dem herzen; so beginnt die zweite Anti-Marner-Strophe Rumelants [IV,5]: der sin, der dir uz herzen vliuzet. Das deckt sich weitgehend mit einer These, die Konrad von Würzburg aufgestellt hat: Literatur (und besonders der Sang) bedarf der göttlichen Inspiration, um in gewisser Weise überhaupt innovativ sein zu können. Inspiration und Innovation Als Votum für eine derart inspirierte Innovation deute ich jedenfalls die Zeilen Konrads von Würzburg, der sich dagegen wendet, Dichtung sei ars (und damit erlernbar): Nibelunge Hort, die schätzen meine Worte noch weniger als einen Pfennig, ihr Geist ist mit dem Schatz verscharrt. So dringt mein Lied in viele Ohren, wie wenn einer mit Blei in Marmor bohrt. So singe und sage ich euch doch nicht, was euch der König durch mich entbieten läßt. (Text und Übersetzung nach: Wachinger, Lyrik [Anm. 26], S. 253). Vgl. Jens Haustein, Marner- Studien, Tübingen 1995 (MTU 109), S. 222; vgl. Löser, Von kleinen und von großen Meistern [Anm. 31], S. 385. 33 Haustein, ebd., S. 223f. 34 Vgl. Löser, Von kleinen und von großen Meistern [Anm. 31], S. 386. Freimut Löser 104 Für alle fuoge ist edel sanc getiuret und gehêret, darumbe daz er sich von nihte breitet unde mêret. elliu kunst gelêret mac werden schône mit vernunst, Wan daz nieman gelernen kan rede und ged ne singen. diu beidiu müezen von in selben wahsen unde entspringen; ûz dem herzen clingen muoz ir begin von gotes gunst. 35 Ich verstehe Konrad so, dass Kunstfertigkeit, dass die erlernbare Kunst, geleitet von der Vernunft, nicht das letzte Kriterium der Dichtung sein kann, sondern dass etwas anderes (künstlerische Befähigung, in der Metapher des herzen ausgedrückt) dazu kommen muss. Aber: Das Kriterium der Innovation scheint mir auch bei den Spruchdichtern selbst alles andere als das alleinige; daneben (und in gewissem Sinn dagegen) steht die Berufung auf die Tradition im Rahmen eines ausgeprägten Traditionsbewusstseins; so sagt ja schon der Marner von sich: lîhte vinde ich einen vunt, den si vunden hânt, die vor mir sint gewesen: ich muoz ûz ir garten und ir sprüchen bluomen lesen. 36 Das aber heißt: Nicht der gilt unter den mittelalterlichen Sangspruchdichtern als großer Meister, der das Neue „erfindet“; wer so etwas annähme, ließe sich allzu leicht von neuzeitlichen Autor- und Kreativitätsvorstellungen leiten. Das entscheidende Qualitätskriterium erfüllt vielmehr der, der sich recht in die Tradition zu stellen weiß und im Umgang mit der Tradition aus dieser heraus Neues wirkt. Das hat Heinrich von Mügeln wohl am klarsten zum Ausdruck gebracht Was e die meister han den sprüchen wat gesniten an, die zeist ich wider unde span daruß eins niuwes tichtes kleit. 37 35 Vor aller Kunst und Lebensart ist edler Gesang erhöht und ausgezeichnet, weil er auf nichts gestützt gedeiht und sich entfaltet. Jede Kunst kann schön und vernünftig gelehrt werden, doch Wort- und Sangeskunst kann niemand lernen. Sie müssen beide aus sich selber wachsen und entstehen. Aus dem Herzen tönen müssen sie, entspringen aus Gottes Begnadung. (Text und Übersetzung nach Wachinger, Lyrik [Anm. 26], S. 278f.); vgl. Konrad von Würzburg. Kleinere Dichtungen. Die Klage der Kunst. Leiche, Lieder und Sprüche. 3. Aufl., Bd. III, hg. v. Edward Schröder, Den Haag 1967, S. 66. 36 Text nach Haustein [Anm. 33], S. 196. „Möglicherweise gelingt mir ein Fund, den die schon gemacht haben, die vor mir gewesen sind. Ich muss aus ihren Gärten und aus ihren Sprüchen eine Blütenlese sammeln.“ 37 Vgl. Löser, Von kleinen und von großen Meistern [Anm. 31], S. 380 und insbesondere Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958, S. 110. „Die Gewänder, die die Meister früher den Sprüchen maßgeschneidert haben, die habe ich wieder aufgefädelt und daraus das Kleid einer neuen Dichtung gewebt.“ Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 105 Bildung Der Umgang mit der Tradition ist Thema im Grunde auch der „Bildungsdebatte“, so wie schon im oben behandelten Text Rumelants (Strophe IV,5 Z. 3f.) formuliert: Daz eine rat melet dir latin, des vil din kunst geniuzet, dar umme endanke ich dir nicht sere grozes wages. Das allegorische Mühlrad der Lateinkenntnisse, so der Angriff, könnte zwar der Kunst(fertigkeit) zum Vorteil gereichen. Eine große Flut des Erkenntnisreichtums 38 ist nicht damit verbunden. Neben die Betonung der Gelehrsamkeit und die Berufung auf die gelehrte Ausbildung tritt in der Sangspruchdichtung eben auch eine ausgesprochen „laikal-poetologische Ausrichtung“, wie wir ihr etwa eingangs im Wartburgkrieg begegnet sind. Sie wird direkt greifbar, wenn Rumelant (s.o. Strophe IV, 6,4) den gelehrten „Lateiner“ Marner auffordert: des versma die leien niht zuo sere („verachte deshalb die Laien nicht zu sehr“). Andererseits ist Bildung, und zwar gelehrte Bildung, Voraussetzung der Dichtung. Rumelant wendet sich an den Kollegen Singûf: des lobe den mysner; der kan me wen du: her leset in buchen 39 und ebenso betont er: der scrift in buchen kvnde hat: da von ist syn getichte vil die reyner. Man vergleiche beispielsweise auch die Aussage des Meißners (wohl gegen den Marner): Swer sanc, daz pellicanus tœte sine kint, er hat gelogen, er lese baz die buoch. Lesefähigkeit, Literarizität und ein gerüttelt Maß an angelesenem und anlesbarem Wissen „verleiht“, könnte man sagen, unter den Sangspruchmeistern den Meistergrad (wohlgemerkt: auf einer ersten Stufe). Diese literale Bildung stellt sich bewusst in eine gelehrte Tradition und führt diese gelehrte Bildungstradition in ihren Argumentationsstrukturen auch ins Feld: Waer ich in künsten wis(e), also Plato was, ein Aristotiles und ein meister Ipocras, Galenus unde ein Socrates, die wisen, Virgilius kunst, Boecius, Cato, Seneca mite, Donatus, Beda, het ich al ir künste site, dennoch sone künd ich nimmer vollen prisen. Des hoch gelobeten vürsten lop vol bræht ich niht. 40 Hier wird der ganze Bildungskanon aufgeführt. Zwar um sich scheinbar in Selbstbescheidung zu üben („Wär ich...“), dann aber doch den Kanon zu überbieten und im darauf folgenden Fürstenlob zu instrumentalisieren. Doch ist die Nennung 38 IV,5, Z.1 hatte ja definiert: wac [Wasser] - daz ist der sin, der dir ûz herzen vliuzet. 39 Vgl. dazu und zum Folgenden: Löser, Von kleinen und von großen Meistern [Anm. 31], S. 372f. „Jetzt lobe den Meisner; der vermag mehr als du, denn er liest in Büchern - er weiß was in Büchern geschrieben steht; deshalb ist seine Dichtung umso reiner - wer in seinem Lied behauptete, daß der Pelikan seine Kinder töte, der hat gelogen; er soll die Bücher besser lesen.“ 40 Minnesinger Bd. III [Anm. 32], Ton II Nr. 12, S. 55. „Wäre ich so weise in den ‚Artes‘ wie es Plato war und ein Aristoteles, wie ein Meister Hippokrates, Galen und Sokrates, diese Weisen, hätte ich die Kunst Virgils; Boetius, Cato, Seneca dazu, Donat, Beda - wäre ich an Wissen wie alle sie beschaffen, dann könnte ich doch niemals adäquat preisen. Das Lob des hochgelobten Fürsten könnte ich nicht vollbringen.“ Freimut Löser 106 all der Namen nur dann sinnvoll, wenn man weiß, welche Tradition im Einzelnen aufgeführt wird und in welchen Bildungskanon der Philosophie, Medizin, Grammatik, Rhetorik und Exegetik sich ein Sangspruchdichter wie Rumelant hier einordnet. Aber hat er die weisen Meister, die er zitiert - außer dem Namen nach - auch gekannt? Hat er Florilegien benutzt, oder hat er die Schriften der Meister selbst gelesen? In welchen Übersetzungen? Oder in lateinischen Fassungen? Burghart Wachinger hat hervorgehoben, dass der schon häufiger erwähnte Marner der einzige Sangspruchdichter des 13. Jahrhunderts war, von dem wir mit Sicherheit wissen, dass er deutsch u n d lateinisch gedichtet hat. Und Rumelant, der eben noch seine staunenswerte Bildung vorgeführt hat, polemisiert im zitierten Mühlenrätsel ja gegen eben diesen Marner, dem seine Lateinkenntnisse gerade nicht helfen (s.o. IV, 5,3ff.). Die Konnotation der lateinischen Sprache liegt im Feld der Bildung. Aber auch die deutsche Sprache und ihre Beherrschung sind Themen. Region/ Sprache Dass der Umgang mit der Sprache und die „Sprachmächigkeit“ - auch und gerade im Deutschen - Thema und Beurteilungskriterium der Sangspruchdichter untereinander sind, ergibt sich mit bemerkenswerter Klarheit; beispielhaft sieht man dies am zitierten „Mühlenrätsel“ Rumelants, das als Antwort auf eine vorausgegangene Provokation des Marners zu lesen ist: Daz ander rat dir swebesch melet, din diutisch ist uns ze drete. „Das zweite Mühlrad (neben dem des Lateinischen) mahlt dir schwäbisch; dein Deutsch ist uns zu drete“. Jens Haustein hat sicher recht, wenn er den Vorwurf an Marner, sein diutisch sei ze drete, nicht als „exaltiert“ oder „exzentrisch“, sondern als „überhastet“ lesen möchte. 41 Interessant scheint mir aber auch ein anderer Aspekt der Stelle: der regionale; dem Niedersachsen Rumelant klingt Marners Schwäbisch offenbar im Wortsinn zu „flott“. In der dritten Strophe des Rätsels (s.o. IV, 6,5ff.) fährt Rumelant an den Marner gewandt fort: „Du weißt nicht alles, was Gott vermag und wie er seine ganze Gabe verteilt hat: Hilfe und Rat gibt er doch einem Sachsen genau so gut und viel wie einem Schwaben.“ Hier offenbart sich, denke ich, ein regionaler Gegensatz, der sich an der Sprache entzündet. Er scheint zunächst seinen Ausgang davon zu nehmen, dass sich ursprünglich manche Sprecher mit südwestdeutschem Sprachduktus über solche mit mitteldeutschem stellten, Eleganz der Sprache und Angemessenheit für sich in Anspruch nahmen und damit die Verteidigung und den Gleichberechtigungsanspruch aus Mitteldeutschland geradezu provozierten. Regionale Bindungen, ein gewisser Stolz auf die Herkunft und ein Gegensatz zwischen verschiedenen deutschen Sprachlandschaften, aber auch zwischen Stadt und Land, machen sich später noch bei Hans Folz bemerkbar. 42 Dafür gibt es ganz konkrete Gründe, die auch einen diachronen Aspekt haben: Man muss sehen, dass durch „geographische Verlagerung spruchmeisterlicher 41 Haustein [Anm. 33], S. 45; draete = „eilig, schnell, rasch“. 42 Dazu: Löser, Von kleinen und von großen Meistern [Anm. 31], S. 375. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 107 Aktivitäten eine gewisse Dynamik in die Geschichte des Sangspruchs“ kommt. Waren es zunächst die Höfe und Städte des deutschen Südwestens, die den Sangspruch pflegten (mit der intensiven Wirkung Walthers, mit Bruder Wernher, Ulrich von Singenberg, Leuthold von Seven), so verlagern sich die Zentren um die Mitte des 13. Jahrhunderts in den böhmischen Raum und an die Höfe des Ostens und Nordens. 43 Im Mittelalter - und das wird meiner Ansicht nach sehr deutlich - existiert bereits eine kulturelle Konkurrenz zwischen den Räumen, die den Abstand zu anderen Räumen als „Kulturgefälle“ interpretiert haben mag. Aber in jedem Raum wird eben dieser Raum als mindestens allen anderen gleichwertig, wenn nicht den anderen überlegen definiert. Sprache (und ihre Eleganz wie ihre Normhaftigkeit) sind damit erkennbar regional verortet. Komposition Überregional hingegen ist ein Kriterium, das sich wieder aus einem Text Rumelants (IV,6,1-4) entwickeln lässt: Vil lieber marner, vriunt, bistu der beste diutische singer, den man nu lebendic weiz, des hat din nam groze ere. Du has die museken an der hant, die sillaben an dem vinger gemezzen, des versma die leien nicht zuo sere. Die Strophe enthält eine Anspielung auf die sogenannte Guidonische Hand 44 und damit wohl auf den gelehrten Musikunterricht, den der Marner genossen haben soll. Rumelant zählt sich selbst demgegenüber zu den „ungebildeten“ Laien. Dies kann eine ironisch-polemische Anwendung konventioneller Bescheidenheitsfloskeln sein. Es kann freilich auch der Wirklichkeit entsprechen (und einen tatsächlichen „Laienstatus“ Rumelants benennen). Deutlich wird dabei aber vor allem, dass Rumelant - bei aller Polemik gegen den Marner und gerade in der Auseinandersetzung mit dem Konkurrenten - diesem die perfekte Beherrschung der Bau-, Ton- und Kompositionsprinzipien seiner museken attestiert. Das heißt: Gerade der musiktheoretische und kompositionspraktische Aspekt wird unter den Konkurrenten offenbar fraglos als Beurteilungs- und Bewertungskriterium anerkannt. Der don, die Tönevielfalt, die Erschaffung und Rezeption von dœnen spielen im Blick auf Autorbewusstsein und „copyright“-Fragen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Man denke an den Marner und dessen berühmten, viel diskutierten Vorwurf: Wê dir von Zweter Regimâr! dû niuwest mangen alten funt, […] 43 Helmut Tervooren, Sangspruchdichtung, 2. Aufl., Stuttgart 2001 (Sammlung Metzler 293), S. 120. 44 Guido von Arezzo (um 992 bis nach 1033) ist der wirkungsreichste Autor mittelalterlicher Musiklehre. Die „Guidonische Hand“ verbindet Tonqualitäten mit digitaler Merktechnik (einzelne „Tonbuchstaben“ sind Fingergliedern zugeordnet). Freimut Löser 108 dû dœnediep. 45 Burghart Wachinger konnte zeigen, dass der Vorwurf dœnediep nicht unbedingt nur jenen bezeichnen muss, der in Tönen anderer Meister dichtete, dass nämlich gerade beim Angreifer, also beim Marner selbst, durchaus der Verdacht bestehe, dass er zwei Töne verwendete, die er nicht selbst erfunden hat, und dass Reinmar von Zweter (soviel zu sehen ist) niemals einen „fremden“ (von einem Konkurrenten stammenden) Ton benutzte. Im 14. Jahrhundert dichtete man zudem, so Wachinger, ganz „bedenkenlos in den dœnen älterer Meister“, während es zuvor im 13. Jahrhundert noch „die Regel [war], dass jeder Dichter nur eigene dœne benutzte“. 46 Mir drängt sich daher eine andere Interpretation des Vorwurfes Marners an Reinmar von Zweter auf: Wenn man bedenkt, dass Reinmars ‚Neue Ehrenweise‘ und der ‚Frau-Ehren-Ton‘ sehr eng verwandt sind, dass im einen 24 Strophen, im anderen 285 (! ) Strophen überliefert sind und Reinmar keine anderen Töne als diese beiden kennt und verwendet, dann könnte der Vorwurf dœnediep auch ein ganz anderer sein; etwa so: Du, der du immer nur denselben Ton verwendest, dû niuwest mangen alten funt, und bestiehlst so als dœnediep dein Publikum gerade um das, was ihm zustünde, nämlich endlich einmal ein neuer don. So gewendet beschreibt der Vorwurf „dœnediep“ eine mangelnde innovatorische Kompetenz der Autoren/ Komponisten und den Anspruch des Publikums an diese innovatorische Kompetenz. Sie liegt nicht bei Themen und Inhalten der Texte, sondern im Formalen. Es ist der don, der eine erhebliche Rolle bei der Einschätzung der Meister untereinander spielt. Selbstbescheidung Ein letzter Punkt muss in der Diskussion noch ausführlicher aufgegriffen werden: Der implizite Vorwurf Rumelants gegen den Marner, alles wissen zu wollen, das nur Gott wissen kann und dabei die „unwissenden“ Laien zu verachten. 47 Darin ist die Anklage enthalten, den eigenen Wissensdrang nicht angemessen zu zügeln (curiositas) und der Hochfahrt (superbia) zu verfallen. Es ist dies ein zentraler Punkt der Sangspruchpolemiken und der literarischen Selbstinszenierung. Vergleichbar ist Rumelants Stellungnahme an anderem Ort gegen jene gar gelerten leiebœren pfaffen, die sich so gelehrt dünken, dass sie die Abgründe der Hölle, die Höhe des Himmels und die Geheimnisse der Astronomie besingen und sich einbilden, all das zu wissen, was nur Gott wissen kann. Superbia droht demnach überall dort, wo sich ein Mensch Erkenntnisse anmaßt, die allein Gottes Weisheit vorbehalten sind. Insgesamt gilt, dass der Kampf um die meisterschaft weniger als Wettkampf meisterlicher Leistungen geführt wird, sondern als „Streit um Selbsteinschätzungen, bei dem dauernd moralische Kategorien durchschlagen. Meisterlicher Hochmut ist der am häufigsten geäußerte Vorwurf [in den Auseinandersetzungen der 45 Text nach Haustein [Anm. 33], S. 14. „Weh dir, Reinmar von Zweter! Du erneuerst so manchen alten Fund [...] du Tönedieb.“ 46 Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen [Anm. 28], S. 125. 47 S.o. IV,6,4f. versma die leien nicht zuo sere! Du weist nicht al, daz got vermac! Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 109 Spruchdichter untereinander]. Moralische und künstlerische Beurteilung eines Rivalen sind fast nie zu trennen.“ 48 Das aber heißt, dass die Selbstpräsentation der Sangspruchdichter letztlich immer vorsichtig zu geschehen hat, weil ein allzu selbstbewusster ‚Selbstdarsteller‘ allzu leicht den superbia-Vorwurf auf sich zöge. Dazu das letzte Textbeispiel: Singûf - ein Meister mit sprechendem Namen - hatte ein zweistrophiges Rätsel gestellt und behauptet, es sei so schwer zu lösen, dass dies nur vier Meister miteinander vermöchten. Rumelant von Sachsen hatte es leichthin gelöst (Schlaf der Sünde und Weisheit des Glaubens). 49 Er antwortet nun auch noch - nach der ebenfalls zweistrophigen Lösung in dem Ton, in dem Singûf das Rätsel gestellt hatte - in einem eigenen Ton: R VIII,2 Der sich so ho gesetzet hat mit sange in meister singer grat, daz eyn durch grvndet meister nicht muoz myt ym kvnst allieren, swie gar durch grvndich wis her sy, her gebe ym speher meister dry tz helfe, vnd solte ich halten phlicht, ich hildez mit den vieren: Singof, sing abe, sing hyn, sing her. Vier g te meister synger, die machent, des ich dich gewer, die kvnste dyn noch kleyner dan eyn vinger. Sich hielt eyn engel altz ho. Den got v rstiez. Der wart vnvro. Swer alsus t t, deme scicht also. Got selber dreuwet dise dro. Hochvart v r gote nehat neheynen dynger. R VIII,3 Ich sage dich, singof, waz t t st, destu tz ivngest volgen m st: Nv lobe den mysner! Der kan me wen du: her leset in b chen. Dry spehe meister, die noch leben, wiltu ym die tz h lfe geben, ir kvnst t t dyner kvnste we; daz soltu wol v rs chen: Von wertzeb rch meister conrat, der besten synger eyner, der scrift in b chen kvnde hat; 48 Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen [Anm. 25], S. 306. 49 Vgl. dazu: Löser, Mein liebster Feind [Anm. 25], S. 517ff. Freimut Löser 110 da von ist syn getichte vil die reyner. Der hellevivr der ander sy. Der vnv rtzagete, so ist ir dry. Stan sie dem mysnere bi myt helfe, ich bin der sorge vry. Sie machent, daz dyn sanges pris wirt kleyner (dan eyn vinger). Es handelt sich um eine Replik speziell auf Singûfs Herausforderung, dass vier Meister nötig seien, sein Rätsel zu lösen. Die Replik hat als Bezug zunächst Singûfs Herausforderung, macht dann dessen Namen selbst zum Text und spielt mit ihm: Aus Singûf werden vier gemacht (Singof, sing abe, sing hyn, sing her). Der Namensspott akzentuiert noch einmal scharf das Verhältnis zwischen Sangspruchdichter und Sangspruchdichtung. ‚Singûf‘ ist der Name, den eine Person wählt, um sich selbst als Sangspruchdichter zu identifizieren (andere nennen sich „der Unverzagte“), für sich zu werben und die eigene Person in ihrer Funktion als Textproduzent und Vortragskünstler („Sing ûf! “) zu charakterisieren. Der Name ist Programm. Er ist aber auch Text. Diese „textpersonale“ Identität macht sich der Angriff zunutze, indem er durch Text-Parodie die Person parodiert, Text und Person gleichermaßen dekonstruiert. „Sing-ûf-sing-ab-sing-hin-sing-her“ verliert die Einheit seiner Person, das Signum, das Charakteristikum. Aus Einem wird Vieles (und Unverbindliches). Und diesen Vieren werden vier wahrhaft meisterhafte Sänger konfrontiert. In der Replik Rumelants geht es also nicht um eine Beantwortung oder Kritik des Rätsels (die ist ja zuvor in Singûfs Ton schon erfolgt); es geht um seine Zurückweisung in einem kontextuell-soziokulturellen Rahmen. Aber es geht um mehr: Der Vorwurf Rumelants ist der des Hochmuts. Und um diesen offenzulegen wird dieselbe Methode biblischer Anspielungen verwendet, die in den beiden Antwortstrophen in Singûfs Ton verwendet wurde. 50 Z. 13f. (Sich hielt eyn engel altz ho. Den got v rstiez. Der wart vnvro) bezieht sich auf den Fall Lucifers. Die Warnung Z. 15f. (Swer alsus t t, deme scicht also. / Got selber dreuwet dise dro) hat ihren Bezug in der Bibel (am deutlichsten übrigens gerade in den Weisheitsbüchern, die Singûf benutzt hatte, um seinen Weisheitsbegriff zu verschlüsseln): „Die Hoffart des Menschen wird ihn stürzen“ und „Darum hat der Herr allezeit den Hochmut geschändet und endlich gestürzt“. In der ersten Zeile der Replik (Der sich so ho gesetztet hat / mit sange in meister singer grat) liegt auch eine Anspielung auf Mt 23 vor: „Sie sitzen gerne oben an […aber] ihr sollt euch nicht lassen Meister nennen […] wer sich selbst erhöhet der wird erniedrigt.“ Es geht also insgesamt um die superbia. Christoph Huber hat die Verwendung des Terminus hochvart bei den Sangspruchdichtern allgemein untersucht. 51 Im Vergleich 50 Es sind drei Stufen zu unterscheiden. 1. Das Rätsel fragt in zwei Strophen Singûfs nach Grundbegriffen des Glaubens und bedient sich dazu biblischer Allusionen. 2. Die Lösung wird mit derselben Methode gegeben. 3. Die Replik bedient sich ebenfalls biblischer Anspielungen. 51 Christoph Huber, Wort sind der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob, München 1977 (MTU 64), insbesondere S. 158-162 und 189-199. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 111 mit diesem Material lässt sich nun die eigentliche Bedeutung von Rumelants Vorwurf genauer bestimmen: Es geht primär nicht um Singûfs falsche, weil zu hohe Einstufung des eigenen Stellenwertes im hierarchischen Gefüge der „Berufsgruppe“ der Sangspruch-Meister. Der Vergleich mit Lucifer, der sein wollte wie Gott, zeigt vielmehr: Der Vorwurf zielt auf Singûfs Konzeption von wîsheit, eine Konzeption, die den Eigenwert der menschlichen Weisheit zu hoch einschätzt und daher vergisst, dass es sich um eine Gabe Gottes handelt. Was Singûf in seiner ersten Rätselstrophe zu raten aufgegeben hat, ist also auf ihn selbst anzuwenden: Er ist durch seine Hochfahrt selbst im Sündenschlaf befangen. Umgekehrt fehlt ihm das, was er nach Aussage seiner zweiten Rätselstrophe so gerne „zu sich bittet“: nämlich die Weisheit des Glaubens. Rumelant reduziert Singûfs zu hoch gegriffenen Weisheitsanspruch aber in der eigentlichen Replik auf das Beherrschen der Künste und führt ihn damit in die „sangspruchmeisterliche“ Kunstdebatte zurück: Wie kann einer von Weisheit reden und diese quasi gar als Besitz reklamieren, der nicht einmal die Grundlagen beherrscht? Rumelant hält dem „überheblichen“ Gegner deshalb konsequent vier andere Sänger vor, die sich ihm in der Beherrschung der Kunst als weit überlegen erweisen: Den Meißner und Konrad von Würzburg, weil sie der scrift in b chen kvnde haben, den Höllefeuer und den Unverzagten. Die starke Betonung der Schriftkenntnis impliziert den Vorwurf, dass der illiteratus Singûf die Bücher zur Erstellung seines Rätsels nicht benutzt hat. „Ich“ und „Du“ treten als Opposition gegeneinander (ich sage dich, singof, waz t t st). Es werden die vier Meister beim Namen genannt, die durch ihre Kunst und Gelehrsamkeit Singûf weit überlegen sind. Singûf wird als Gegenüber angesprochen und aufgefordert, die Überlegenheit dieser Meister anzuerkennen (Nv lobe; Wiltu ym die tzv h lfe geben). Das „Ich“ des Liedes solidarisiert sich mit diesen Meistern (Stan sie dem mysnere bi / myt helfe, ich byn der sorge vry). Der Schluss formuliert dem Ansprechpartner Singûf gegenüber, worum es geht: dyn sanges pris wirt kleyner. Die Bedeutung dieser Zeile tritt noch verschärfter hervor, wenn man bedenkt, dass sich die Aussage so auch ganz ähnlich in Strophe 1 findet: Die machent, des ich dich gewer, / die kvnste dyn noch kleyner dan eyn vinger. Strophe 1 hebt ganz besonders, und dies mehrfach, die Hochfahrt Singûfs hervor, eine Hochfahrt, die nicht nur gegenüber der Gruppe der anderen „Kollegen“ greifbar ist, sondern die als Todsünde der superbia im christlichen Sinn definiert wird. Demgegenüber wird die Gemeinschaft einer Gruppe beschworen, in die sich der Sänger der gegen Singûf gerichteten Strophe explizit „einschreibt“: Vnd solte ich halten phlicht, / ich hieldez mit den vieren. Dieser Vierergruppe wird der „solipsistische“ Singûf entgegengestellt, der sich auf seine eigene Kraft verlassen muss und allein gewissermaßen zu viert auftritt: Singof, sing abe, sing hyn, sing her. Der Namensspott vernichtet dabei weniger das Individuum, als dass er es in seiner selbst gewählten Vereinzelung charakterisiert. „Singûf“ dient damit dem „Ich“ der Antwort als Folie, sich selbst in eine Gruppe einzuordnen, sich als Individuum in die Geborgenheit einer Gruppe zu begeben, aus der Singûf ausgeschlossen ist, weil er sich selbst, so wird behauptet, ausgeschlossen hat. Der Gestus des Belehrenden und Mahnenden sichert dem Antwortenden eigene Freimut Löser 112 Unverletzlichkeit und Unangreifbarkeit. Indem er sich so gegen Singûf wendet und ihn aus einer Gruppe ausgrenzt, in die er sich selbst einordnet, stiftet er für sich den Zusammenhang mit dieser Gruppe. Das „Ich“ Singûfs, das dergestalt entworfen wird, bietet dem „Ich“ Rumelants die Möglichkeit eines eigenen neuen Rollenentwurfs: als Gegenteil eben jenes Singûf. Der literarische Gegner, der auf diese Weise angegriffen wird, bietet damit die Möglichkeit der Identitäts- und Gruppenstiftung. Rumelants Rolle (gegenüber der Gesellschaft und als eigenes Selbst) wird durch die von ihm selbst entworfene Rolle seines Gegners Singûf möglich gemacht. Wenn man sich hier an die Theorien erinnert, die vom Tod des Autors sprachen oder gar daran, dass behauptet wurde, dem Mittelalter sei der Autorbegriff nicht angemessen, 52 dann sieht man gerade hier, wie lebendig ein Autor wird, wenn er sich mit literarischen Gegnern befasst. Dass aus einer solchen literarischen Gegnerschaft keine persönliche abzuleiten ist, zeigt Rumelants Nachruf auf den toten Freund: 53 Ihesus Krist, der kristen e wart gichtich, der mac uns vil wol gevristen. daz ist ougensichtich. todes kunft uns allen willich ist bereit. Got hett einen Marner lange vristet, der was maniges warner. nu hat in vurlistet mortlich todesvallen. got, daz ist mir leit. Schentlîcher mort der wart noch nie begangen an eime kranken blinden alten manne, Dem selber nach dem tode mochte irlangen. die morder sin die sten zu gotes banne. Kristes muter, süze maget, gedenke, waz er dines lobes grüze schone mit gelenke manigem kunde schallen diner werdicheit. 54 52 Bernhard Cerquiglini, Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989, S. 25: „L`auteur n`est pas une idée médiévale.“ Dazu: Freimut Löser, Postmoderne Theorie und Mittelalter- Germanistik. Autor, Autortext und edierter Text aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht, in: Hans Vilmar Geppert/ Hubert Zapf (Hgg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. II, Tübingen/ Basel 2005, S. 277-294, hier besonders S. 278-285. 53 Text und Übersetzung nach Wachinger, Lyrik [Anm. 26], S. 306-309. 54 Jesus Christus, der sich zum Bund mit den Christen bekannt hat, kann unser Leben erhalten. Das sieht, wer Augen hat zu sehen. Der Tod ist eifrig bereit, zu uns allen zu kommen. Gott Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 113 Was vorhin noch Anlass zum Spott war (des Marners Alter), ist jetzt Anlass zum Mitleid. Die Verwerflichkeit des Mordes an einem kranken, blinden, alten manne wird besonders betont. War zu Lebzeiten des literarischen Gegners versucht worden, diesen aus der sozialen Gruppe der Sangspruchdichter auszugrenzen, das eigene „Ich“ stattdessen fest in dieser Gruppe zu verankern und vor der Folie des abgewerteten Anderen entsprechend aufzuwerten, so verschieben sich jetzt die Bedeutung der Gruppe und des eigenen Selbst: Die Gruppe wird ins allgemein Menschliche erweitert und an den Platz des meisterlichen Kunstverständnisses und des meisterlichen Wissens und seiner Rangordnung tritt das Memento mori: der mac uns vil wol gevristen […] todes kunft uns allen willich ist bereit. Nur einmal tritt in dieser Strophe ein „Ich“ auf: Got, daz ist mir leit. Nach dem Tod des literarischen Gegners wird die Verbundenheit erkannt, formuliert und in der Perspektive des Mitleids und der Anerkennung der Kunstfertigkeit des Anderen ins Wort gebracht. In diesem Fall lobt Rumelant besonders die Mariendichtung des Marners, versteht diese als gutes Werk, und wendet sich deswegen fürbittend für den toten Kollegen (und einstigen Gegner) an die Gottesmutter. Der Verlust des Anderen erschüttert das eigene Ich, macht den Verlust auch für dieses Ich deutlich, denn im Lauf der Auseinandersetzung ist dieses Andere zum Bestandteil des Eigenen geworden. Was nämlich ist dieser literarische Gegner schon anderes als ein Konstrukt des eigenen Selbst? Entworfen und „aufgebaut“ hauptsächlich zu dem Zweck, dieses eigene Selbst zu konturieren, wenn nicht gar zu konstruieren. Nirgendwo wird dies deutlicher als in den „Fehden“ der Sangspruchdichtung, die aufzeigen können, wie die Fiktion des Anderen entworfen und konstruiert wird. Gerade die Auseinandersetzung mit diesem Anderen ist der Ort, an dem man sich über die eigenen literarischen Positionen klar zu werden versucht. Man bezieht Position, in dem man sich absetzt. Die Sangspruchdichter des Mittelalters entwerfen kein System der Literatur, sie schreiben keine systematische Literaturtheorie. Was sich hingegen in ihren umfangreichen Werken finden lässt, sind „versprengte Gedanken“ über das Wesen der Literatur, die sie produzieren, darüber hinaus aber auch vielleicht über das Wesen der Literatur ihrer Zeit. Die „Versprengtheit“ dieser Gedanken und das „Ringen“ um die eigene Position im Ringen gegeneinander (eben im Sängerkrieg und im Dichterstreit) ist gleichzeitig der beste Spiegel des Diskurscharakters dieser Art von Reflexion: Eine Vielfalt von Positionen wird gegeneinander gesetzt; und doch strebt man nach der (Selbst-)Vergewisserung der Einheit auch in diesem Diskurs: Der Spott gegen das Alter endet (wie gerade gesehen) in der compassio. In der scharfen Auseinandersetzung mit dem jugendlichen Ungestüm hält man dieses doch immer für belehrbar. Die Differenz regionaler Identitäten wird klar erkannt und in der hatte einen Marner lange leben lassen, der war für viele ein Warner. Nun hat ihn überlistet eine mörderische Todesfalle. Gott, das betrübt mich. Ein schändlicherer Mord ist nie begangen worden an einem kranken, blinden alten Mann, der sich wohl selbst schon nach dem Tode sehnte. Seine Mörder stehen unter dem Bannfluch Gottes. Mutter Christi, süße Jungfrau, denke daran, wie viele Lobesgrüße schön und geschmeidig, er vor vielen zu singen wußte auf dich und deine Ehre. Freimut Löser 114 Differenz der unterschiedlichen Regionalsprachen (und deren literarischem Anspruch) auch deutlich formuliert; in einer Zeit, die nach einer „Ausgleichssprache“ drängt kaum verwunderlich, findet sich hinter dieser regionalen Differenz doch auch ein bemerkenswert einheitlicher „Wortschatz“ und das Bestreben, sich zu verstehen. Die Auseinandersetzungen mit literarischen Gegnern sind nicht (wie dies in der früheren Forschung geschehen ist) auf einer biographischpersonalen Ebene zu deuten: Der „Andere“ erweist sich als (literarisches) Konstrukt zur Schärfung der eigenen Positionen. Der literarische Gegner erweist sich, spätestens im Tod, als Kollege, ja Freund, um dessen Verlust man trauert. Und doch ist diese Trauer wieder Anlass, über das eigene Kunstverständnis erneut zu reflektieren (wie im Falle Walthers und Reinmars). Literatur wird in ihrem „Tauschwertcharakter“ erkannt; die Abhängigkeit der Literaturproduzenten und Vortragskünstler von Auftraggebern und Publikum führt aber keineswegs zu „billigem“ Opportunismus, sondern womöglich zu einer Verstärkung der eigenen Position (wenn man etwa „wider den Stachel der Abhängigkeit löckt“, in dem man vor dem Thüringer Fürsten den österreichischen lobt - wenigstens in der Fiktion). Im Zentrum aller Reflexionen steht, denke ich, der eminent ethische Charakter der Literatur. Der Konkurrenzcharakter der Literaturproduzenten untereinander wird klar erkannt, was in einem literarischen Zirkel, der von seiner Kunst lebt, nicht wundert 55 . Und doch bleibt diese Konkurrenz zurückgebunden und aufgehoben in das Prinzip der „Selbstbescheidung“, das den Anspruch an die eigene Kunstfertigkeit und an die eigene umfassende Bildung zwar in die höchsten Höhen treibt, dabei aber immer die superbia bekämpft und auf der wahren sapientia des laien besteht. Der diskurshafte Charakter der Reflexion literarischer Grundbedingungen wird besonders deutlich auch im Gegeneinander von „Kunstfertigkeit“ und Inspiration: wahre Kunst, die „aus dem Herzen fließt“, kann man nicht „erlernen“, und doch bedarf man der einzelnen Fertigkeiten ebenso sehr wie der klassischen (Aus-)Bildung. Innovation ist kein „Geniestreich“, sondern nur aus der gründlichen Kenntnis der Tradition denkbar und möglich. Die Kunst der Sangspruchdichter ist in ihren eigenen Augen - und das hilft vielleicht auch dazu, superbia zu vermeiden - „Blütenlese“ aus den Werken großer Vorgänger. Das haben sicher auch Robert Gernhardt, F. W. Bernstein und F. K. Wächter gewusst, die in ihrer Biographie über den großen (von ihnen erfundenen) Arnold Hau dessen Dramulett vom ‚Wartburgkrieg‘ abgedruckt haben. Auch darin geht es - an einer Stelle - darum, wie man Kunst bewerten kann: 56 NEIDHARDT VON KREUZBERG: brimmen bram brummen gebrummen 55 Zur Erinnerung: Nicht Händel oder gar Mozart sind die ersten Berufskomponisten, sondern Walther und Reinmar; nicht die Schriftsteller der Neuzeit müssen als erstes von ihren literarischen Produkten leben; und nicht erst die „Rolling Stones“ sind erfolgreich „on tour“. 56 Die Wahrheit über Arnold Hau, hg. v. R. Gernhardt / F. W. Bernstein / F. K. Wächter, Frankfurt 1974 (Zweitausendeins), durchgesehene und nicht verbesserte Neuauflage des Erstdruckes von 1966. Sängerkrieg und Dichterstreit im Mittelalter 115 rimmen ram rummen gerummen trimmen tram trummen getrummen brimmen bram brummen gebrummen - Tandaradei! Springt herab. ERSTER SCHIEDSRICHTER: Schon aus? Sehr schön, sehr schön! Das war also die dritte Ablautreihe, die dritte Deklination! Ganz treffend. Gedrungen. Gut die Wiederkehr der Anfangsreihe. ZWEITER SCHIEDSRICHTER: Wirklich schön. Haben Sie alle bemerkt, wie der Doppelnasal die Brechung verhindert hat? Das nenn ich das Hohelied der Grammatik. TANNHÄUSER: Fand ich auch! Besonders das mit dem „rimmen“ war gut, nicht? WOLFRAM VON ESCHENBACH: Wenn ich noch etwas dazu sagen darf …? ERSTER SCHIEDSRICHTER: Aber bitte! WOLFRAM VON ESCHENBACH: Nun, ich finde, es waren nicht mehr so viele i drin. Vielleicht ist es ja das, was die Postmoderne dem Mittelalter voraus hat: Dass unsere Technik die i schneller zählen kann? Literaturverzeichnis Bernhard Cerquiglini, Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989. Burghart Wachinger (Hg.), Lyrik des späten Mittelalters, Frankfurt/ Main 2006. Burghart Wachinger, Artikel „Der Wartburgkrieg“, in Burghart Wachinger u.a. (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Band 10. Burghart Wachinger, Der Sängerstreit auf der Wartburg. Von der Manesseschen Handschrift bis zu Moritz von Schwind, Berlin/ New York 2004 (Wolfgang Stammler Gastprofessur Heft 12). Burghart Wachinger, Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts, München 1973. Christoph Huber, Wort sind der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob, München 1977. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. III, hg. v. Friedrich Heinrich von der Hagen, 1838-1861, ND Aalen 1963. Die Wahrheit über Arnold Hau, hg. v. R. Gernhardt / F. W. Bernstein / F. K. Wächter, Frankfurt 1974 (Zweitausendeins), durchgesehene und nicht verbesserte Neuauflage des Erstdruckes von 1966. Freimut Löser, Mein liebster Feind. Zur Rolle des literarischen Gegners in der Sangspruchdichtung am Beispiel Rumelants, in: Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters (Fs Volker Mertens), Tübingen 2002. Freimut Löser, Postmoderne Theorie und Mittelalter- Germanistik. Autor, Autortext und edierter Text aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht, in: Hans Vilmar Geppert/ Hubert Freimut Löser 116 Zapf (Hgg.), Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. II, Tübingen/ Basel 2005. Freimut Löser, Von kleinen und von großen Meistern. Bewertungskategorien in der Sangspruchdichtung, in: Dorothea Klein u.a. (Hgg.), Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext, Tübingen 2007. Gert Hübner, Artikel „Spruchdichtung“ in: Metzler Lexikon Literatur, 3. völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Dieter Burdorf u.a., begr. v. Günther u. Irmgard Schweikle, Stuttgart 2007. Heidelberg, cpg 848. Bildnachweis: Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Hg. v. Ingo F. Walther unter Mitarbeit v. Gisela Siebert, Frankfurt/ Main 1988. Helmut Tervooren, Sangspruchdichtung, 2. Aufl., Stuttgart 2001. Horst Brunner, Artikel „Sangspruch/ Reimspruch“, in: Horst Brunner, Rainer Moritz (Hgg.), Literaturwissenschaftliches Lexikon, 2. überarb. u. erw. Aufl., Berlin 2006. Jena, UB, Ms. El. f. 101. Jens Haustein, Marner-Studien, Tübingen 1995. Joachim Bumke, Artikel Wolfram v. Eschenbach, in: Burghart Wachinger u.a. (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Band 10. Karl Stackmann, Der Spruchdichter Heinrich von Mügeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität, Heidelberg 1958. Konrad von Würzburg. Kleinere Dichtungen. Die Klage der Kunst. Leiche, Lieder und Sprüche. 3. Aufl., Bd. III, hg. v. Edward Schröder, Den Haag 1967. Reinmar, Lieder, hrsg., übers. u. komm. von Günther Schweikle, Stuttgart 2002. Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Große romantische Oper in drei Akten von Richard Wagner, Dresden (Meser) 1845. Walther von der Vogelweide, Leich. Lieder. Sangsprüche, 14., völlig neub. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns, hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin/ New York 1996. Walther von der Vogelweide, Werke, Gesamtausgabe Bd. 1 Spruchlyrik. Hrsg., übers. u. komm. von Günther Schweikle, Stuttgart 1994. Walther von der Vogelweide: Werke, Gesamtausgabe Bd. 2, Liedlyrik. Hrsg., übers. u. komm. von Günther Schweikle, Stuttgart 1998. Bildnachweis Heidelberg, cpg 848. Bildnachweis: Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Hg. v. Ingo F. Walther unter Mitarbeit v. Gisela Siebert, Frankfurt/ Main 1988, Tafel 72, S. 148. Literatur und Raum Kaspar H. Spinner Die Bedeutung des Raums in der Literatur ist in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus des literaturwissenschaftlichen Interesses geraten. Die Aspekte, unter denen er untersucht wird, sind ausgesprochen vielseitig und greifen interdisziplinär weit aus, z.B. in die Kulturwissenschaft, in die Philosophie, in die Mentalitätsgeschichte. Die folgenden Ausführungen reihen sich in die semiotischstrukturalistische Tradition der Textanalyse ein (die wesentlichen Anstöße dafür hat Jurij M. Lotman gegeben, auf den neuere Publikationen immer wieder verweisen, vgl. Lotman 1972). Zusätzlich beziehe ich entwicklungs- und tiefenpsychologische Gesichtspunkte ein; dadurch ist es mir möglich, textinterne Verweisstrukturen und ihre symbolische Bedeutung mit anthropologischen Grunderfahrungen in Verbindung zu bringen. Ich argumentiere eng an Texten und beginne mit einfachster Literatur. 1. Ein Kindervers als Prototyp Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein. Stock und Hut steht ihm gut ist gar wohlgemut. In diesem Kindervers erscheint in prototypischer Form ein Grundmotiv von Literatur: der Auszug des jungen Helden von der Geborgenheit des Zuhauses in die weite Welt. Märchen, Abenteuerromane, die Epen der mittelalterlichen Literatur handeln davon. Raum und erzählende Literatur hängen eng zusammen, nicht nur, weil Orte (Innenräume, Straßen, Landschaft …) beschrieben werden, sondern weil der literarische Held Raumgrenzen überschreitet und sich dadurch von den anderen, ortsgebundenen Figuren unterscheidet. Durch die Bewegung des Helden ergibt sich auch ein Zusammenhang von Raum und Zeit. Am Kindervers wird deutlich, was auch für viele Romane gilt: Beim Auszug des Helden in andere Räume handelt es sich um einen Entwicklungsprozess. Hänschen zieht mit „Stock und Hut“ los, den Attributen des erwachsenen Mannes, er ist auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Allerdings gelingt ihm dies im Kinderlied noch nicht, denn der Text geht (in der bekanntesten Version) folgendermaßen weiter: Aber Mutter weinet sehr, Hat ja nun kein Hänschen mehr Kaspar H. Spinner 118 Da besinnt Sich das Kind Eilet heim geschwind. Es ist also ein misslungener Versuch des Selbstständigwerdens, oder vielleicht sollte man eher sagen: Es ist ein erster, zu früher Versuch. Dass Selbstständigwerden mit Raumerfahrung zu tun hat, ist nicht nur eine Angelegenheit literarischer Fiktion. Der Zusammenhang lässt sich beim Kleinkind beobachten, wenn es die ersten Krabbel- und Gehversuche macht: Es geht von der Mutter weg und kehrt wieder zurück in ihre Arme, es löst sich also körperlich los und sucht in der Umarmung wieder die Symbiose. So wird Raum von ihm leibsinnlich erfahren. Das ist grundlegend für das Verhältnis des Menschen zum Raum: Raum erfährt man, indem man sich bewegt, indem man etwas greift, von etwas weg- und zu etwas hingeht. In tiefenpsychologischer Sicht kann man noch einen Schritt weiter zurück gehen im Entwicklungsprozess des Kindes, zur Grunderfahrung der Geburt, wo ein menschliches Wesen hinausgestoßen wird in den Raum, in dem es ein eigener Leib, ein Individuum sein muss, das sich einer Realität außerhalb von ihm selbst gegenübergestellt sieht. Raumerfahrung hat, wie man daran sieht, mit Subjektwerdung zu tun. Raum ist das Fremde, das Andere, das dem menschlichen Wesen ins Bewusstsein bringt, dass es an einen Körper, und das heißt: an ein Hier und ein Jetzt gebunden ist. Ein menschliches Individuum kann, unter den Bedingungen der Wirklichkeit, nicht zugleich hier und dort sein und nicht mit allem verschmelzen. Wenn die Literatur also immer wieder vom Weg des Helden in andere Räume erzählt, so ist das nicht nur metaphorisch oder symbolisch ein Verweis auf den Entwicklungsprozess, sondern es ist die Imagination einer leibsinnlichen Erfahrung, die jeder Mensch auch körperlich gemacht hat und immer wieder macht. Ein Blick auf die vorschulische Lesesozialisation mag zusätzlich verdeutlichen, wie grundlegend die leibsinnliche Raumerfahrung für den Zugang zur Literatur ist. Eine Schlüsselszene für das Raumerleben begegnet vielen Kindern schon früh in häuslichen Vorlesesituationen. Die Lesesozialisationsforschung hat gezeigt, dass die Vorlesesituation geprägt ist einerseits von der Geborgenheit, die durch die körperliche Anwesenheit des/ der Vorlesenden gegeben ist - oft schmiegt sich das Kind an die Mutter oder den Vater richtig an -, andererseits erlebt das Kind in den vorgelesenen Geschichten Abenteuer, die mit Ängsten verbunden sind. Es macht also eine doppelte Raumerfahrung: Geborgenheit und Ausgesetztsein, Ersteres als körperliche Erfahrung, Letzteres als Imagination, beides gleichzeitig, nicht nacheinander wie im Kindervers von Hänschen klein. Wenn Kinder (und oft auch Erwachsene) später für das eigene Lesen einen Raum der Geborgenheit suchen, z.B. eine kuschelige Ecke oder das gemütliche Bett, ist dies in gewisser Weise die Fortsetzung der ursprünglichen, raumbestimmten Erfahrung der Vorlesesituation. Man kann hier auf den Psychologen Donald W. Winnicott verweisen, der vom potentiellen Raum zwischen der individuell-psychischen Realität und der wirklichen äußeren Welt gesprochen hat; dieser intermediäre Raum ist für das Kind wichtig im Literatur und Raum 119 Ablösungsprozess von der Mutter und dem damit verbundenen Weg zur Subjektwerdung (Winnicott 1987). Sogenannte Übergangsobjekte wie ein Teddybär oder eben dann ein Lied oder eine Geschichte gehören weder ganz der innersubjektiven noch ganz der objektiven Welt an. In der Erfahrung eines solchen intermediären Raums sieht Winnicott den Ursprung von Spiel, Kreativität und Kultur. Ich kehre noch einmal zu Hänschen klein zurück; der Kinderbuchautor Hans Manz hat eine Variation des Liedes geschrieben: Zweierlei Erfahrungen Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein - warum nicht hinaus? Nein, nein, hinein, als wäre die Welt ein geräumiges gastliches Haus. Dafür ging klein Klaus in die weite Welt hinaus, erlebte die Welt als offenes Feld. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, und er fühlte sich ziemlich verloren. 1 In den beiden Strophen sind zwei unterschiedliche Raumerfahrungen gestaltet, ausgehend von einer kleinen Formulierungsvariante: „hinein“ und „hinaus“. Beim „hinein“ findet Hänschen Geborgenheit in der weiten Welt; Klaus dagegen, der „hinaus“ geht, fühlt sich verloren. Der Raum, in den der Held geht, kann also unterschiedlich erfahren werden. Beide Erfahrungen, „hinein“ und „hinaus“ in die Welt, kann schon das kleine Kind machen und von beiden handelt Literatur - und es ist auch Thema der Wissenschafts- und Mentalitätsgeschichte: Welt und Weltall können als geordneter, behüteter Raum erfahren werden oder als endlose Leere, die einen Horror vacui bewirkt. An Adverbien wie „hinein“ und „hinaus“ wird ein weiterer grundlegender Aspekt des Raumproblems deutlich, die Perspektivität, die ebenfalls auf der Leibgebundenheit der Raumerfahrung beruht. Wenn man noch die Gegensatzpaare hinein/ herein und hinaus/ heraus berücksichtigt, dann wird erst recht offensichtlich, dass die Sprache die Standortgebundenheit von Raumwahrnehmung aufgreift. In der Gegenüberstellung der folgenden beiden Sätze wird zum Beispiel durch die Adverbien „heraus“ und „hinaus“ sofort der Standort des jeweiligen Sprechers deutlich: „Komm doch heraus in die frische Luft.“ - „Nein, es ist mir zu kalt, ich mag nicht 1 Manz, Hans: Mit Wörtern fliegen. Weinheim 1995, 83. Kaspar H. Spinner 120 hinausgehen.“ In der Sprachwissenschaft werden solche Probleme unter dem Begriff der Deixis abgehandelt; er ist inzwischen auch in der Literaturwissenschaft ein wichtiger Begriff geworden (z.B. Krusche 2001). Dabei handelt es sich bei literarischen Texten in der Regel um die „Deixis am Phantasma“ (Bühler 1965), nämlich um Verweise innerhalb eines vorgestellten Raumes. Man kann es als ein Kennzeichen literarischer, insbesondere erzählender Texte betrachten, dass der Leser durch die Erzählperspektive in eine perspektivische Sichtweise hineinversetzt wird. Abhandlungen zur Erzählperspektive handeln deshalb immer auch von Raumproblemen. Bei vielen lyrischen Texten ist ebenfalls eine räumliche Perspektivierung gegeben, vor allem dann, wenn ein lyrisches Ich explizit bezeichnet ist (durch das Pronomen „ich“). In literarischen Texten sind es vor allem Oppositionsstrukturen, die zu einer symbolischen Bedeutungserweiterung der Raumangaben führen, z.B. bei Hänschen klein „weite Welt“/ „heim“, bei Hans Manz „hinein“/ „hinaus“. Die Oppositionen können abstrakter oder konkret sein; abstraktere Kategorien sind z.B. oben/ unten, innen/ außen, nah/ fern, horizontal/ vertikal; mehr gegenständlich sind Kategorien wie Stadt/ Natur, Erde/ Himmel, Land/ Wasser, psychologische Kategorien gegensätzlicher Raumerfahrung sind z.B. Sicherheit/ Unsicherheit, Geborgenheit/ Offenheit, Bindung/ Freiheit. Die neuere Linguistik hat gezeigt, dass räumliche Gegensätze auf metaphorischer Ebene auch die Alltagssprache prägen, ohne dass man sich dessen in der Regel bewusst ist, z.B. oben/ unten in „überglücklich“/ „niedergeschlagen“, „hochbegabt“/ „unterbelichtet“ oder „aufwerten“/ „abwerten“ (Lakoff/ Johnson 1998). In literarischen Texten werden räumliche Gegensätze textintern in übergreifende Makrostrukturen eingebunden und gewinnen bedeutungstragende Funktion, so dass sie einen ergiebigen Ansatzpunkt für die Interpretation bilden. Dies soll im Folgenden an einzelnen Beispielen gezeigt werden. 2. Joseph von Eichendorff: Weihnachten Bei Joseph von Eichendorff erfährt der Raum besonders stark eine symbolische Bedeutungserweiterung, weshalb es auch viele literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum Raum, insbesondere zur Landschaft, in seinen Werken gibt (berühmt der Aufsatz von Richard Alewyn 1957, neuere Beiträge in Mülder-Bach/ Neumann 2007). Ich wähle ein Gedicht, das in dieser Hinsicht bislang noch nicht im Fokus der Fachliteratur stand: WEIHNACHTEN Markt und Straßen stehn verlassen, Still erleuchtet jedes Haus, Sinnend geh’ ich durch die Gassen, Alles sieht so festlich aus. An den Fenstern haben Frauen Buntes Spielzeug fromm geschmückt, Literatur und Raum 121 Tausend Kindlein stehn und schauen, Sind so wunderstill beglückt. Und ich wandre aus den Mauern Bis hinaus in’s freie Feld, Hehres Glänzen, heil’ges Schauern! Wie so weit und still die Welt! Sterne hoch die Kreise schlingen, Aus des Schnees Einsamkeit Steigt’s wie wunderbares Singen - O du gnadenreiche Zeit! 2 Es ist sofort erkennbar, dass der Raum in diesem Gedicht eine wichtige Rolle spielt, und man kann eine gewisse Parallele zum Kindervers entdecken: Auch in Eichendorffs Weihnachtsgedicht handelt es sich um ein Hinausgehen, auch hier ist der Protagonist derjenige, der nicht in seinem ursprünglichen Raum bleibt. Besonders erhellend in Bezug auf die Raumdarstellung ist die Abfolge der Strophen; die Räume sind durch eine „Wegestruktur“ (Hoffmann 1978, S. 590) miteinander verbunden, so dass eine „Richtungsräumlichkeit“ (Böhme 2005, XIX) entsteht: Das lyrische Ich geht von einem Raum in einen anderen. In der ersten Strophe finden sich zwei (aufeinander bezogene) Räume: einerseits Markt, Straßen und Gassen, andererseits die Häuser. Das lyrische Ich ist in den Gassen, offenbar allein, getrennt von anderen Menschen. Sie sind in den Häusern, die Beschreibung „still erleuchtet“ zeigt, dass die Häuser bewohnt sind. Das Partizip „sinnend“ schafft für den Leser eine Erwartungshaltung (worüber mag das lyrische Ich sinnen? ). Die zweite Strophe enthält mit den „Fenstern“ ein in der Literatur (insbesondere auch der Romantik) verbreitetes Motiv. Allerdings geht es in diesem Text nicht um den Blick hinaus (wie zum Beispiel in Eichendorffs Gedicht Sehnsucht), aber auch nicht um einen Blick ins Innere der Häuser. „An den Fenstern“ sieht das lyrische Ich buntes Spielzeug, also am Übergangsort zwischen den beiden Räumen (man kann dabei an Winnicotts intermediären Raum denken, der hier sozusagen ganz konkret ins Bild gesetzt ist). Das Spielzeug markiert eine Grenze und schafft zugleich eine Verbindung zwischen Innen und Außen, zwischen Geborgenheit und Offenheit; das durch die Gassen wandelnde lyrische Ich hat durch das zur Schau gestellte Spielzeug in gewisser Weise Teil an der feiernden Gemeinschaft in den Häusern, ohne direkt einbezogen zu sein. Die dritte Strophe führt in einen weiteren Raum, in das „freie Feld“, dessen Offenheit im Gegensatz zu den „Mauern“ steht. Es findet eine horizontale Bewegung statt: Das lyrische Ich wandert „hinaus“; unter „Feld“ assoziiert man etwas flächig Ausgedehntes, und das Adjektiv „weit“ konnotiert auch eher horizontale als vertikale Erstreckung. Die Strophe führt semantisch von den „Mauern“ im ersten Vers bis zur 2 Eichendorff, Joseph von: Sämtliche Werke. Gedichte. 1.Teil. Hrsg. v. Harry Fröhlich und Ursula Regener. Stuttgart 1993, S. 326f. Kaspar H. Spinner 122 „Welt“ am Schluss; es findet also eine enorme Raumerweiterung statt. Auch das Licht ist nun ein anderes als in den Gassen mit den erleuchteten Häusern; „hehres Glänzen, heil’ges Schauern“ ist ein nicht gerichtetes Licht; Herman Meyer hat in seinem viel zitierten Aufsatz zum Raum in der Erzählkunst bezogen auf Aus dem Leben eines Taugenichts eine Beobachtung angestellt, die auch für die vorliegende Gedichtstelle gelten kann: „Die betontermaßen richtungsindifferente Beweglichkeit des Lichts ist Projektion und Spiegelung des Seelischen, des lyrisch bewegten Gemüts“ (Meyer 1963, S. 49). Das Gehen des lyrischen Ichs kommt in diesem richtungsindifferenten Licht offensichtlich zur Ruhe. Aber noch ist das Gedicht nicht zu Ende. Die vierte Strophe ist von der Vertikalen geprägt, wie schon das zweite Wort signalisiert: „hoch“. Das Erhabene ist nun an die Stelle des Idyllisch-Biedermeierlichen, mit dem das Gedicht begonnen hat, getreten. Es ist allerdings nicht nur von einem Oben die Rede; mit dem Singen, das auf“steigt“, ist eine Verbindung von unten und oben geschaffen (ähnlich wie in der ersten Strophe durch das Fenster eine Verbindung von innen und außen). Während in vielen Texten von Eichendorff die Tiefe gefährlich verlockend erscheint, z.B. durch verführerisch singende Sirenen, sind hier das Irdische und das Himmlische nicht getrennt (wie das auch in dem bekannten Gedicht Mondnacht der Fall ist); das entspricht dem Weihnachtsfest als der Erinnerung daran, dass der Sohn des himmlischen Vaters auf der Erde geboren worden ist. Bedeutsam ist in der letzten Strophe ferner die Bewegung der Sterne, die „Kreise schlingen“; das ist keine zielgerichtete Bewegung von einem Hier zu einem Dort (wie das für das wandernde lyrische Ich in den ersten drei Strophen gilt). Das Kreisen ist eine Bewegung ohne Fortbewegung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass in der letzten Strophe kein Ich mehr explizit genannt ist; es fehlt der Perspektivträger, der für eingeschränkte Sicht verantwortlich ist; das Ich ist in den Raum aufgenommen. Dieser ist von Musik („Singen“) erfüllt - in allen vorherigen Strophen ist dagegen das Adjektiv „still“ vorgekommen. Mit den beiden letzten Zeilen ist die visuelle Wahrnehmung, bei der vor allem durch verschiedene lokalisierbare Einzelheiten Raumverhältnisse bewusst werden (im Gedicht zum Beispiel „Haus“, „Fenster“, „Mauern“ usw.), abgelöst von der akustischen Wahrnehmung, für die der Raum nicht so sehr als ein begrenzter und aufgeteilter, sondern als ein mit Klang gefüllter Raum erfahren wird. Diese Hinweise auf die Raumstruktur im Gedicht sollten deutlich gemacht haben, dass Raum nicht nur äußere Staffage ist, sondern dass die Raumanalyse (und auch das intensive Nachempfinden des Raumes) zum tieferen Gehalt des Gedichts führen kann. 3. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers als Beispiel der Erzählliteratur Für Hinweise zur Rolle des Raums in epischen und dramatischen Texten wähle ich einen Autor, bei dem der Raum immer wieder eine besonders bedeutsame Rolle spielt und der über eine große Sensibilität in der Raumwahrnehmung verfügte: Goe- Literatur und Raum 123 the. In seinem Briefroman Die Leiden des jungen Werthers 3 spricht schon der erste Satz des ersten Briefes die Raumproblematik an: „Wie froh bin ich, daß ich weg bin! “ (197) Etwas weiter im Brief heißt es dann: „Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend“, „[…] man möchte zur Maienkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumzuschweben […]“ (198). Es ist eine Entgrenzungs- und Verschmelzungsphantasie, die hier entfaltet wird, ein ozeanisches Gefühl, wie man tiefenpsychologisch sagen könnte, das Befreiung und zugleich Regression ist. Im Herumschweben in einem Meer von Gerüchen gibt es, losgelöst von der Erdenschwere, kein richtunggebendes Hier und kein Dort, kein Oben und kein Unten, kein Links und kein Rechts mehr. Die Trennung zwischen eigenem Leib und Umwelt ist hier zurückgenommen. Dieser Naturerfahrung wird im genannten Wertherbrief die Stadt gegenübergestellt, die Werther als „unangenehm“ (198) bezeichnet. Damit greift der Roman die Stadt-Land-Motivik auf, die seit der Antike immer wieder eine große Rolle in der Literatur spielt. Wie sehr im Werther Raumerfahrung auch explizit reflektiert wird, zeigt der Brief vom 21. Junius: „[…] ich habe allerlei nachgedacht, über die Begier im Menschen, sich auszubreiten neue Entdeckungen zu machen, herumzuschweifen; und dann wieder über den innern Trieb, sich der Einschränkung willig zu ergeben, und in dem Gleise der Gewohnheit so hinzufahren, und sich weder um rechts noch links zu bekümmern.“ (216f.) Der Gegensatz zwischen Auszug und Beschränkung im umgrenzten Raum, der schon den Kindervers und das Eichendorff-Gedicht bestimmt hat, findet sich hier wieder. Er wird in diesem Brief noch weiter entfaltet: „O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft! Ein großes dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung verschwimmt sich darinne, wie unser Auge, und wir sehnen uns, ach! unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit all der Wonne eines einzigen großen herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen.“ (217) Dann ist aber auch von einer Gegenbewegung die Rede: „Und so sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande, und findet in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder und der Geschäfte zu ihrer Erhaltung, all die Wonne, die er in der weiten öden Welt vergebens suchte.“ (217) Diesen Gegensatz hat später Eichendorff im Gedicht Die zwei Gesellen als zwei Lebensentwürfe gestaltet. Gegen Ende des Romans wird die Imagination eines befreienden Raumes zum Abgrund, in den sich Werther hinunterstürzen möchte, wie in der Sturmnacht des Briefes vom 8. Dezember: „Nachts nach eilf rannt ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehn, über Äcker und Wiesen und He- 3 Zitate nach Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Richter. Band 1,2. München 1987. Kaspar H. Spinner 124 cken und alles, und das weite Tal hinauf und hinab eine stürmende See im Sausen des Windes. Und wenn denn der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich herrlichen Widerschein rollte und klang, da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach! Mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund, und atmete hinab! hinab, und verlor mich in der Wonne, all meine Qualen all meine Leiden da hinab zu stürmen, dahin zu brausen wie die Wellen.“ (273f.) Wie am Anfang des Romans handelt es sich auch hier um eine Entgrenzungsphantasie, um den Wunsch, in einem größeren, umfassenden Raum aufgehen zu können; aber die Richtung zeigt nicht mehr nach oben, sondern in die Tiefe und verweist damit auf das katastrophale Ende. 4. Goethe: Faust I als Beispiel für Raum im Drama Besonders interessant bezüglich der Raumstruktur ist Goethes Faust I 4 mit seinen wechselnden Schauplätzen. „Der Tragödie erster Teil“ (also nach dem „Vorspiel auf dem Theater“ und dem „Prolog im Himmel“) beginnt in Fausts Studierzimmer mit der Szenenangabe: „In einem hochgewölbten, engen, gotischen Zimmer“ (545). Faust bezeichnet es als „Kerker“ (Vers 398), als „Mauerloch“ (Vers 399) und sagt zu sich selbst: „Flieh! auf! hinaus ins weite Land! “ (Vers 418). Hier findet man also wieder einen Gegensatz von Innen und Außen und einen Helden, der hinausgehen will und in der zweite Szene „Vor dem Tor“ dann seinen „Kerker“ verlassen hat. Es ist das Osterfest, das hier die Menschen ins Freie lockt, und die räumliche Konstellation wird im Text eng mit der Auferstehung Christi verknüpft: […] Sie feiern die Auferstehung des Herrn, Denn sie sind selber auferstanden, Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, Aus Handwerks- und Gewerbes-Banden, Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, Aus der Straßen quetschender Enge, […] (Vers 921ff.) Der Raum wird in der Szene „Vor dem Tor“ immer wieder thematisiert. Besonders prägnant ist die folgende Stelle, in der Faust von der Sehnsucht nach dem Fliegen spricht und die an die zitierten Werther-Stellen erinnert: Doch ist es jedem eingeboren, Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt, Wenn über uns, im blauen Raum verloren, Ihr schmetternd Lied die Lerche singt; Wenn über schroffen Fichtenhöhen Der Adler ausgebreitet schwebt, Und über Flächen, über Seen Der Kranich nach der Heimat strebt. (Vers 1092ff.) 4 Zitate nach Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Richter. Band 6,1 München 1986. Literatur und Raum 125 Für solches Streben hat der nüchterne Wagner gar kein Verständnis: Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden, Doch solchen Trieb hab’ ich noch nie empfunden. Man sieht sich leicht an Wald und Feldern satt. (Vers 1100ff.) Faust ist der Inbegriff eines Menschen, der sich mit dem Raum, an den er gebunden ist, nicht begnügen will. Wagner kennt weder diesen Drang noch kann er das Naturerleben als eine grundlegende psychische Erfahrung nachvollziehen. Die Wechselrede zwischen beiden ist deshalb besonders aufschlussreich, weil im Gegensatz Faust/ Wagner exemplarisch der Unterschied zwischen einer ästhetischen und einer nichtästhetischen Raumerfahrung sichtbar wird. Der „blaue Raum“ ist für Faust mehr als ein konkretes Wirklichkeitsphänomen; er wird zum Symbol für eine tiefe Sehnsucht. Besonders konsequent gestaltet ist die Abfolge der Räume in der Gretchentragödie. Die erste Begegnung mit Faust findet in der „Straßen“-Szene statt, dann folgt die Szene im „kleinen reinlichen Zimmer“ („Abend“), in dem man zuerst Gretchen sieht und in das sich dann Faust und Mephistopheles hineinschleichen. Mit Fausts Satz „In diesem Kerker welche Seligkeit! “ (Vers 2694) wird das Kerkermotiv wieder aufgegriffen und nun positiv konnotiert. Der Einbruch in den Raum der Intimität wird noch gesteigert, wenn Faust den Bettvorhang aufhebt (Vers 2709) und sich seinen Phantasien hingibt: „Hier möcht’ ich volle Stunden säumen.“ (Vers 2710) Nachdem Faust und Mephistopheles verschwunden sind, tritt Gretchen wieder ins Zimmer und öffnet das Fenster, weil ihr das Zimmer nun „so schwül, so dumpfig“ (Vers 2753) vorkommt. Ihr Zimmer ist nicht mehr der beschützte eigene Raum, weil die Fremden eingedrungen sind; das wird auch durch das offene Fenster ausgedrückt. Der Wunsch, „die Mutter käm’ nach Haus“ (Vers 2756), ist ein Regressionswunsch zurück zur mütterlichen Behütung. Dass dieses Zurück nicht möglich ist, zeigt der weitere Verlauf des Dramas mit dem Tod der Mutter. Wenn sich Gretchen anschließend bei offenem Fenster auszieht, wird noch einmal deutlich, dass die Intimität nicht mehr auf einen abgeschirmten Raum begrenzt ist. Und dass Gretchen dann im „Schrein“, in den sie ihre Kleider einräumt, das von Mephistopheles hineingeschmuggelte Kästchen entdeckt, zeigt, dass sich das Verhängnis in einen innersten Raum, in ein Kästchen im Kleiderschrank, eingenistet hat. Aus dem Kästchen kommt der verführerische Schmuck, der Gretchen aus ihrer engen Welt hinauslocken soll. Die zweite Begegnung von Faust und Gretchen findet in der „Garten“-Szene statt. Dieser Ort nimmt eine Zwischenstellung zwischen dem öffentlichen Raum „Straße“, in dem sich die beiden das erste Mal gesehen haben, und der Intimität des Zimmers ein. Es folgt dann die Szene „Ein Gartenhäuschen“, also ein abgeschirmter Raum, nicht mehr der offene Garten, aber noch nicht das Zimmer im Haus. Hier kommt es zum ersten Kuss. In den beiden folgenden Szenen „Wald und Höhle“ und „Gretchens Stube“ treten die beiden Liebenden getrennt auf, und zwar je an einem Ort, der für sie typisch ist. „Wald und Höhle“ konnotiert als Raum die Verwirrung und die Triebhaftigkeit, von der Faust erfasst ist. Kaspar H. Spinner 126 Bin ich der Flüchtling nicht? Der Unbehaus’te? Der Unmensch ohne Zweck und Ruh? Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen braus’te Begierig wütend nach dem Abgrund zu. Und seitwärts sie, mit kindlich dumpfen Sinnen, Im Hüttchen auf dem kleinen Alpenfeld, Und all ihr häusliches Beginnen Umfangen in der kleinen Welt. (Vers 3349ff.) Sehnsucht in die Weite und in die Höhe, die in der Fantasie des Fliegens im Osterspaziergang zum Ausdruck kam, ist hier zum Sturz „nach dem Abgrunde zu“ geworden (ähnlich wie im Werther-Brief vom 8. Dezember). Im Gegensatz dazu, auf der Horizontalen („seitwärts“) fantasiert Faust ein „Hüttchen“ als die Welt Gretchens, für das - im Gegensatz zum Räume durchschreitenden Faust - die Bindung an einen Ort charakteristisch ist und für das es zur Katastrophe wird, dass es seine Grenzen überschreitet. In „Marthens Garten“ treffen sich die beiden wieder; im Vergleich zum Gartenhäuschen ist das ein weniger intimer Ort; die Szene beginnt auch damit, dass Gretchen Faust wegen seines Glaubens zur Rede stellt, wodurch eine Distanz zwischen den beiden entsteht. Die Szene endet dann allerdings mit der Verabredung für die Nacht. Das nächtliche Beisammensein in Gretchens Kammer wird auf der Bühne nicht gezeigt, es bleibt eine Leerstelle, die der Theaterbesucher erschließt. Die folgende Szene spielt „Am Brunnen“, an einem öffentlichen Ort, wo sich die Frauen treffen, wenn sie Wasser holen. Hier wird das Intime als Tratsch ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt, (noch) nicht bezogen auf Gretchen, sondern auf „Bärbelchen“, die unverheiratet ein Kind erwarten soll (Vers 3545ff.). Hier wird Gretchen bewusst, wie sie bald in der Öffentlichkeit dastehen wird. So zeigt sich, wie die Tragödie Gretchens mit dem Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit zu tun hat. In letzterer wird die als beglückend erfahrene Liebe („Gott! war so gut! ach war so lieb! “, Vers 3586) zu Sünde und Schmach. Auch die weitere Szenenabfolge ist ergiebig für eine Analyse der Raumstrukturen. Hier seien nur noch zwei besonders markante Stellen herausgegriffen. Eine intensive Raumimagination findet sich in der „Dom“-Szene. Gretchen meint in dem als eng empfundenen Raum zu ersticken und wird ohnmächtig: Mit wird so eng! Die Mauer-Pfeiler Befangen mich! Das Gewölbe Drängt mich! - Luft! (Vers 3816ff.) Das Drama endet im „Kerker“, der nun nicht mehr als Metapher, sondern in seiner eigentlichen Bedeutung Schauplatz ist. Faust will Gretchen herausholen „Ins Freie“ (Vers 4537). Aber Gretchen verweigert sich, obschon die Kerkertür offen ist. „Fliehn“ (Vers 4545) und „in der Fremde schweifen“ (Vers 4548), also der Weg in andere Räume in der Horizontalen der irdischen Welt, ist für sie keine Möglichkeit Literatur und Raum 127 mehr. Ihr Blick richtet sich nach oben, in die Vertikale, zu Gott und den Engeln, und von da kommt eine „Stimme von oben“: „Ist gerettet! “ (Vers 4611). Faust dagegen ist auch hier wieder derjenige, der den begrenzten Raum, den „Kerker“, verlässt. Er entflieht in einer Bewegung auf der Horizontalen; erst am Ende des zweiten Teils der „Tragödie“ werden ihn die Engel errettend in die Höhe heben. So durchzieht die Semiotik des Raums konsequent das ganze Drama. 5. Goethe: Iphigenie auf Tauris und ein Ausblick auf kognitive Kartierungen Anhand von Goethes Iphigenie auf Tauris 5 sei auf einen weiteren Aspekt der Raumthematik hingewiesen, der in den obigen Ausführungen noch nicht zur Sprache gekommen ist. Das Drama beginnt mit einer Situation, die zunächst den bisherigen Beobachtungen entspricht: Die Protagonistin schreitet von einem inneren Raum in einen anderen, offeneren: Heraus in eure Schatten, rege Wipfel Des alten, heilgen, dichtbelaubten Haines, Wie in der Göttin stilles Heiligtum, Tret’ ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl, […] (161) Die Ortsangabe, mit der Iphigenies Rede beginnt, schafft gleich eine gewisse Spannung, denn das Adverb „heraus“ und die Präposition „in“ bezeichnen eigentlich Gegensätzliches; der Schauplatz ist eine Art Übergangsraum, zugleich innen und außen. Es handelt sich ja auch nicht um eine offene Landschaft, sondern um einen „dichtbelaubten Hain“. Iphigenie hat hier Zuflucht gefunden, ist von den Fremden freundlich aufgenommen worden, aber sie tritt mit „schauderndem Gefühl“ in den Hain, die neue Welt bleibt ihr fremd. Einige Verse weiter spricht Iphigenie das Verspaar, das zum geflügelten Wort geworden ist: Und an dem Ufer steh’ ich lange Tage, Das Land der Griechen mit der Seele suchend; […] (161) Mit einem einprägsamen räumlichen Bild, mit Iphigenie am Ufer, wird hier ihre Sehnsucht nach der Heimat veranschaulicht. Dabei führt die Formulierung von der konkreten Anschaulichkeit („Ufer“, dann schon in eine Metonymie übergehend: „Land“) zur Innerlichkeit („Seele“). Geradezu exemplarisch wird hier die symbolische Bedeutungserweiterung des Raumes als Ausdruck innerer Befindlichkeit in einem einzigen Satz entwickelt. Dass dieses Verspaar zum Inbegriff der Griechenlandsehnsucht in der deutschen Klassik (und darüber hinaus) geworden ist, führt zu einer paradoxen Konstellation: Was für Iphigenie die Heimat ist, das ferne Griechenland, ist für die deutsche Klassik ersehnte Fremde. Auflösen lässt sich das Paradox 5 Zitate nach Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Richter. Band 3,1. München 1990. Kaspar H. Spinner 128 von Fremde und Heimat, wenn man Griechenland als ersehnte Heimat der Seele begreift, wie es der Satz aus Iphigenie nahe legt. Mit diesen Überlegungen habe ich die mehr textimmanente Vorgehensweise, an die ich mich bei den anderen Textbeispielen gehalten habe, überschritten und Bezug genommen auf die Raumvorstellungen des Autors und der Epoche und auf die Wirkung von literarischen Texten auf die mentalen Konstruktionen der Leserinnen und Leser. Solche Überlegungen führen zur kulturgeschichtlichen Forschung, in der die Raumthematik heute besonders aktuell ist. Wie bestimmte geographische Regionen konnotativ besetzt sind, was als Eigenraum, was als Fremdraum empfunden, wie sich solche kognitiven Karten (mind maps) im Bewusstsein und Empfinden historisch verändern, sind spannende Fragen in diesem Zusammenhang. Für den deutschen Kulturraum ist Sehnsucht nach dem Süden bis hin zur Entstehung und Entfaltung des Tourismus einflussreich geworden. Für Italien ist es ebenfalls ein Goethezitat, das zum Schlüsselwort geworden ist, der Vers aus Mignons Lied: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn […] 6 Die Künste - Literatur, Malerei, dann auch der Film - haben immer wieder Sehnsuchtsräume ins allgemeine kulturelle Bewusstsein gebracht, im 20. Jahrhundert z.B. die Südsee (man denke an Gauguin oder an Gottfried Benn) oder in den 1970er Jahren den Westen der USA. Mit der Beschleunigung der Verkehrswege nimmt die Aura, mit der ferne Regionen besetzt werden, immer mehr ab. Mit Handy, Navigationshilfe im Auto und Überwachungskameras verändert sich der erfahrene Raum zudem zum programmierten und überwachten Raum. Umso mehr sind es virtuelle phantastische Räume, die viele Leser und Mediennutzer heute faszinieren. 6. Abschließende Bemerkungen Mit den obigen Ausführungen wurden nur einige wenige Schlaglichter auf die Komplexität des Themas Raum und Literatur geworfen. Übergangen habe ich die literarischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert, in denen Räume zunehmend als labyrinthisch und nicht mehr fassbar erscheinen. Bei Kafka ist Raumerfahrung in diesem Sinne ein zentrales Thema und deshalb gibt es zu diesem Autor auch besonders viele literaturwissenschaftliche Abhandlungen, die sich dem Raum widmen. Ausgeklammert habe ich auch die Frage nach den in literarischen Texten genannten Orten, die in der gegenwärtigen Forschung stark bearbeitet wird (z.B. Berlin in der Literatur). Geradezu ein Modethema in der heutigen vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft ist der Aspekt der Kartographie (z.B. Stockhammer 2005), den ich im Zusammenhang mit Iphigenie auf Tauris nur gestreift habe. Untersucht wird dabei die Rolle von Karten in literarischen Texten (in Bezug auch auf die Geschichte der Kartographie); ferner interessieren die rekonstruierbaren topographischen Zu- 6 Zitate nach Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Münchner Ausgabe. Hrsg. v. Karl Richter. Band 2,2. München 1987, S. 170. Literatur und Raum 129 sammenhänge in einem Text und ihr Zusammenhang mit realgeographischen Vorstellungen in einer bestimmten Epoche. Ein weiterer grundlegender Aspekt des Verhältnisses von Raum und Literatur betrifft die Frage, wie bestimmte geographische Räume, denen Autorinnen und Autoren zugehören, die literarischen Werke prägen. Diese Fragestellung hat eine fragwürdige Vorgeschichte in der national(sozial)istischen Germanistik, wird aber heute neu und interessant bearbeitet. Raum als Interpretationskategorie halte ich deshalb für attraktiv, weil man von konkreten inhaltlichen und sprachlichen Beobachtungen (und zugleich von der imaginativen Vergegenwärtigung des Textes) ausgehen kann und rasch zu symbolischen Makrostrukturen des Textes gelangt. Auch intermediale Zusammenhänge lassen sich leicht herstellen, zur Malerei (etwa in Hinblick auf die Zentralperspektive oder in Bezug auf Naturdarstellung) und zum Film. Vielfältig sind die interdisziplinären Bezüge. Die phänomenologisch orientierte Philosophie (z.B. Bollnow 1976), die kognitionspsychologisch orientierte Geographie (mit dem Standardwerk von Downs/ Stea 1982), die Tiefenpsychologie (z.B. Bischof 1996) sind neben den einschlägigen literaturwissenschaftlichen Publikationen für meine Überlegungen besonders anregend gewesen. Literatur Alewyn, Richard: „Eine Landschaft Eichendorffs.“ In: Euphorion 51 (1957), 42-60. Bischof, Norbert: Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. München 1996. Böhme, Hartmut (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart 2005. Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum. 3. Aufl. Stuttgart 1976. Bühler, Karl: Sprachtheorie. 2. Aufl. Stuttgart 1965. Downs, Roger M./ Stea David: Kognitive Karten: Die Welt in unseren Köpfen. New York 1982. Hoffmann, Gerhard: Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman. Stuttgart 1978. Krusche, Dietrich: Zeigen im Text. Anschauliche Orientierung in literarischen Modellen von Welt. Würzburg 2001. Lakoff, George/ Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 1998. Lange, Carsten: Architekturen der Psyche. Raumdarstellung in der Literatur der Romantik. Würzburg 2007. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972. Meyer, Herman: „Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst.“ In: H.M.: Zarte Empirie. Stuttgart 1963, 33-56. Michel, Paul (Hg.): Symbolik von Ort und Raum. Bern 1997. Mülder-Bach, Inka/ Neumann, Gerhard (Hg): Räume der Romantik. Würzburg 2007. Stockhammer, Robert (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen. München 2005. Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität. 4. Aufl. Stuttgart 1987. Rätsel und Literatur: Ethische Perspektiven einer hermeneutischen Grundfigur Doren Wohlleben Rätsel und Literatur sind strukturell miteinander verwandt: Das in fast allen Kulturkreisen verbreitete Rätsel ist eine nichtidentische Sprach- und Erkenntnisform, die sich durch Bildhaftigkeit sowie Mehrdeutigkeit auszeichnet und einen einzelnen Gegenstand verfremdend umschreibt. Seine Paradoxie besteht in dem Nichterkennen des Bekannten, denn es löst Dinge aus ihrem alltäglichen Kontext heraus und stellt neue Verknüpfungen her. Hierin ist das Rätsel dem literarischen Verfahren vergleichbar. Alles kann zum Gegenstand der Literatur werden, alles zum Rätsel. Allerdings muss dies auf eine bestimmte ästhetische Weise geschehen, deren ethische und hermeneutische Implikationen es im Folgenden zu beleuchten gilt. Es wird mir hierbei nicht um eine Gattungstypologie des Rätsels gehen, also nicht um den - in der Linguistik und Literaturwissenschaft schon vielfach unternommenen und oftmals gelungenen 1 - Versuch, das Rätsel als eine literarische Gattung zu explizieren und zu definieren. Auch interessiert mich weniger die antike rhetorische Tradition (welche nur kurz gestreift werden soll), die das Rätsel als eine Trope, sprich als ein literarisches Stilmittel auffasst und zur Allegorie in Beziehung setzt. Eine Motivgeschichte des Rätsels wäre in diesem Umfang nicht zu leisten, da das Rätsel als Synonym für alles (noch) Unverständliche, Ungelöste, Unerklärte, aber auch für alles (prinzipiell) Unverstehbare, Unlösbare und Unerklärbare eine ubiquitäre Metapher in der Geistes-, Kultur- und Wissensgeschichte darstellt. Was ich probieren will, ist, das Rätsel als eine hermeneutische Grundfigur zu lesen, d.h. als eine textuelle 2 Verstehensfigur, die über Jahrtausende und über die unterschiedlichsten Kulturen hinweg die Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten dialogischer Kommunikation abbildet und das Problem der Unverständlichkeit poetisch 1 Vgl. hierzu z. B. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Halle 1929. Mathilde Hain: Rätsel. Stuttgart 1966. Burkhart Wachinger: „Rätsel, Frage und Allegorie im Mittelalter.“ In: Ingeborg Glier u. a. (Hg.): Werk - Typ - Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur. Stuttgart 1969, S. 137-160. Alfred Schönfeldt: „Zur Analyse des Rätsels.“ ZfdPh 97 (1978), S. 60-73. Wolfgang Eismann; Peter Grzybek (Hg.): Semiotische Studien zum Rätsel. Simple Forms Reconsidered II. Bochum 1987. Claudia Schittek: Die Sprach- und Erkenntnisformen der Rätsel. Stuttgart 1991. Volker Schupp: „Rätsel.“ In: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 2002, S. 191-210. 2 Das vor allem im Barock beliebte Bildrätsel, der Rebus, verdiente eine eigene Betrachtung und kann im Folgenden nicht berücksichtigt werden. Vgl. hierzu: F. R. Hoffmann: Grundzüge einer Geschichte des Bilderräthsels. Berlin 1869. Doren Wohlleben 132 pointiert. Eine ethische Perspektivierung bietet sich meiner Meinung nach aus mehrerlei Gründen an: Erstens wird das Rätsel bei vielen mythologischen, religiösen, anthropologischen, aber auch philosophischen und sogar naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen herangezogen, um die uns alle beunruhigende Frage nach dem Anfang zumindest ein Stück weit zu beantworten: Am Anfang war, so ließe sich Joh. 1,1 variieren, das Rätsel und das Rätsel war Wort, aber auch Gott und/ oder der Andere (dies wird im zweiten Teil in einem theoretischen Exkurs zu Emmanuel Lévinas näher ausgeführt, der Rätsel und Antlitz miteinander verschränkt). Denn zweitens ist dieses Rätsel immer auf einen Anderen angewiesen, auf dessen Ant-Wort: Das Rätsel ist unter allen literarischen Gattungen die einzige, die zu ihrer Existenz der Reaktion des Kommunikationspartners bedarf, sich also erst in der Komplementierung des Dialogs durch einen Anderen als Gattung konstituiert. Rätsel nehmen allerdings oft paradoxale Struktur an, denn sie verkomplizieren bewusst und intendieren Missverständnisse. Somit stellen sie die Möglichkeiten einer Antwort auf die Frage schon wieder selbst in Frage. Und drittens eignet dem Rätsel etwas, was man mit Rückgriff auf Judith Butler „ethische Gewalt“ nennen kann, 3 d.h. die Nötigung zu einer Antwort, auch wenn der Befragte selbst gar nicht willig ist, Rechenschaft abzulegen. Der (angebliche) Dialog wird von dem geführt, der fragt - der Befragte hat allenfalls die Möglichkeit, sich gegenüber der Macht des Fragestellers als ebenbürtig zu erweisen. Wir wissen aus zahlreichen Mythen und Märchen, was einem Befragten, der die Antwort nicht weiß, droht: der Tod. Auch wenn im Leben, im Gegensatz zur Literatur, glücklicherweise selten das Leben selbst auf dem Spiel steht, gehört dennoch die Furcht, eine Antwort schuldig zu bleiben und vor der Chiffrierung eines Textes zu kapitulieren, zum Grundinventar der Alpträume - nicht nur der Philologen. Die Sorge, einen Text, die Welt, sein menschliches Gegenüber nicht zu verstehen, zählt zu den anthropologischen Urängsten, ebenso wie die (utopische) Hoffnung, dass ein epiphanisches Erraten von Sinn doch prinzipiell irgendwie möglich sein müsste. Als vierte ethische Perspektive kommt hinzu, dass das Nicht-Bestehen einer Rätselaufgabe eine gesellschaftliche Ausgrenzung zur Folge haben kann: Das Rätsel gibt eine gewisse Norm an, die zu erfüllen erwartet wird. Wer ihr nicht nachkommt, das Passwort nicht kennt, wird von der Gesellschaft der Lösungskundigen ausgeschlossen, beziehungsweise findet erst gar keinen Zugang zu ihr. Ein Abweichen von der Norm, beispielsweise das geistreiche Erfinden eines neuen Lösungswortes, sieht das Rätsel eigentlich nicht vor. 1 Das Rätsel und die Sphinx In der griechischen Antike gibt es zwei Bezeichnungen für das durch Luther zum Durchbruch gelangte Wort „Retzel“: 1.) ainigma (von ainítto = ,dunkel andeuten‘) und 2.) griphos (,das Netz, die Falle‘). Der zweite griechische Ausdruck griphos meint den 3 Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Aus dem Englischen von Rainer Ansén. Frankfurt am Main 2003. Rätsel und Literatur 133 spielerischen Aspekt des Rätsels, der auch später in der Barockzeit, in der Rätselaufgaben zu einem beliebten Gesellschaftsspiel avancierten, sowie im 20. Jahrhundert, in der Kulturtheorie eines Johan Huizinga 4 und deren Rezeption in der Postmoderne, von Bedeutung war. Mit griphos wurde in der Antike eine im Spiel, z.B. auf Symposien, zur geistigen Schulung oder zur bloßen Unterhaltung gestellte Aufgabe bezeichnet, die durch Nachdenken zu erraten ist. Unsere Knotenmetaphorik ist mit dem altgriechischen Bild des Netzes verwandt, das sich wiederum zu der lateinischen Gewebe-Metapher, dem textum, in Bezug setzen lässt. Von Interesse ist hier die Oberflächenstruktur des Rätsels, das Wortspiel: Es geht um das Lösen des Knotens, danach hat das Netz (griphos) selbst keine Bedeutung mehr. Diese Rätselaufgabe ist von Menschen gemacht und von Menschen zu lösen. Anders bei dem ainigma, einer dunklen Andeutung, die sich auf Aussagen mit verschlüsseltem Sinngehalt bezieht, welche nicht selten von göttlichen Wesen stammen. Diese Form des Rätsels beansprucht metaphysischen Tiefsinn und hat oft eine existentielle Bedeutung für den Rätsellöser, der häufig nicht nur sein individuelles Schicksal, sondern zudem das seines ganzen Volkes mit aufs Spiel setzt. Göttersprüche und Orakel wurden in der Antike in Rätselform überliefert. Wenn ein Rätsel erraten worden ist, hieß dies allerdings noch nicht, dass das Schicksal des Rätsellösers gerettet war. Ein berühmtes Beispiel hierfür, das bei den folgenden Ausführungen näher betrachtet werden soll, ist der Mythos von Ödipus und der Sphinx. Im Mittelpunkt wird nicht Ödipus, sondern die Sphinx-Gestalt stehen, die ich als Denkfigur des Anderen lese. Zuvor ein paar wenige Erläuterungen zur Geschichte und Rezeption der Sphinx- Figur: Das Bild der Sphinx, ein Mischwesen aus Mensch und Tier, erscheint in fast allen antiken Kulturen und gilt schon lange nicht mehr als bloße Ausgeburt einer abergläubischen Phantasie. 5 Es ist tief im religiösen, mythischen, aber auch politischen Bewusstsein der Antike verwurzelt. So stellte beispielsweise in Ägypten über drei Jahrtausende hinweg das Menschenantlitz des Zwitterwesens den regierenden Pharao dar: Der Sphinx hatte hier noch eine tragende staatspolitische Funktion, wie man bis heute an dem megalomanen Sphinx-Monument von Gise von ca. 2600 v.Chr. sehen kann, bei dem es strittig ist, ob es sich hier um eine erste weibliche Darstellung handelt, die dann aber auch die einzige wäre, denn alle uns überlieferten ägyptischen Sphingen sind männlich. Andere Aufgabenbereiche waren neben der Repräsentation des Sonnengottes das Bewachen von Tempeln, Palästen und Gräbern, die Begleitung einer erscheinenden Gottheit oder das Hüten des Lebensbaumes. Aber zugleich war die Sphinx-Figur auch ein Todesdämon. Ihre genuin weiblichen Gesichtszüge kommen erst in der griechischen Antike auf. Einher mit dieser eindeutigen Feminisierung geht die Dämonisierung; so schildert sie Hesiod an der Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert v.Chr. in seiner Theogonie als eine Ausgeburt der Schlangenmutter Echidna mit ihrem Sohn, dem zweiköpfigen Hund Orthtros (V. 4 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg 18 2001, S. 119-132. 5 Vgl. hierzu: Heinz Demisch: Die Sphinx. Geschichte ihrer Darstellung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1977. Doren Wohlleben 134 326ff.). Schon über Echidna heißt es: „Zur Hälfte ein Mädchen/ Mit geschwungenen Augen und schönen Wangen, / Zur anderen Hälfte aber ein Ungeheuer, / Eine Schlange furchtbar und riesig, / Sich windend, wild, in den Tiefen der heiligen Erde“ (V. 296-300). 6 Betont wird in der Literatur, aber auch in der Bildenden Kunst immer wieder das liebreizende, anmutige Antlitz, das in einem grotesken Widerspruch zu dem gewaltigen tierischen Unterleib steht, von dem eine Todesgefahr ausgeht. Plato betrachtete den Namen ,Sphinx‘ als eine Volksetymologie, welche die ursprüngliche boötische Form ,Phix‘, eine Ableitung des Berges Phikion, auf dem die thebanische Sphinx hauste, mit dem griechischen Verb sphingein (,würgen, erdrosseln‘) in Verbindung brachte. 7 Gerade das Changieren zwischen Schönheit, Erhabenheit und Grausamkeit machte den Sphinx-Mythos zu einer Denkfigur nicht nur der Literatur und Kunst, in der er seit Anfang des 19. Jahrhunderts einen beliebten Gegenstand bildet und zu Beginn der Moderne, in der die Sphinx mit der femme fatale parallelisiert wird, eine Konjunktur erlebte, 8 sondern auch der Philosophie, die ihren (mythischen) Ursprung nicht selten auf das Rätsel zurückführt. So setzt Georg Wilhelm Friedrich Hegel 9 den Anfang der Philosophie bei den Griechen fest und analogisiert ihn mit dem Lösen jenes berühmten Rätsels, das die Sphinx jedem Vorbeiziehenden aufgab und das allein Ödipus zu lösen wusste (all seine Vorgänger wurden von der Sphinx in den Abgrund gestürzt): „Wer ist es, der morgens auf vier Beinen geht, mittags auf zweien und abends auf dreien? “ (Bd. 13, S. 466). Jenes Sphinx-Rätsel bildet die Urszene von Hegels Geistphilosophie. Denn in der Figur der Sphinx finde eine Verschränkung von Natur und Geist statt: „Aus der dumpfen Stärke und Kraft des Tierischen“, so Hegel, „will der menschliche Geist sich hervordrängen“ (Bd. 13, S. 465). Dieser menschliche Geist ist laut Hegel dann zum angemessenen Bewusstsein seiner selbst gelangt, wenn er das Rätsel, das die Natur ihm aufgab, zu lösen imstande ist. Mit Ödipus sei dies geschehen: Seine Antwort „Das ist der Mensch“ initiiert den Akt der Selbstbewusstwerdung und desavouiert die von Hegel stark kritisierte Vorstellung, dass „die Welt dem Menschen als ein Rätsel vorgelegt und dies sein letztes Verhältnis zu ihr sei“ (Bd. 20, S. 501). Während bei seinen Philosophenkollegen und Zeitgenossen, Schelling und Schopenhauer, die Betonung auf der Rätselhaftigkeit des Menschen selbst oder zumindest seines Verhältnisses zur Welt liegt und das Staunen über diese Tatsache, das thauma- 6 Hesiod: Sämtliche Gedichte. Theogonie - Erga - Frauenkataloge. Übersetzt und erläutert von Walter Marg. Darmstadt 2 1984. 7 Vgl. hierzu: Heinz Demisch: Die Sphinx, S. 13. 8 Vgl. hierzu: Inge Stephan: „Im Schatten des Mythos. Zur Ödipus-Sphinx-Konstellation bei Ingeborg Bachmann und Heiner Müller.“ In: Klaus L. Berghahn (Hg.): Responsibility and commitment: ethische Postulate der Kulturvermittlung. Festschrift für Jost Hermand. Frankfurt am Main/ Berlin/ Bern/ New York/ Paris/ Wien 1996, S. 209-223 sowie: Søren Eberhardt; Günter Helmes: „Antikenrezeption und Geschlechterdifferenz. Sphingen bei Helene Böhlau, Else Laske-Schüler, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke.“ In: Helmut Scheuer; Michael Grisko (Hg.): Liebe, Lust und Leid: zur Gefühlskultur um 1900. Kassel 1999, S. 257-283. 9 Im Folgenden zitiert nach Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt am Main 1969ff. mit Band- und Seitenangabe. Rätsel und Literatur 135 zein, in antiker Tradition, den Anfang der Philosophie bildet, 10 beruht letzterer für Hegel auf der Überwindung des Rätsels. Nicht an der Struktur des Rätsels orientiert sich also Hegels Philosophiebegriff, sondern an dessen rein geistiger Lösung. Doch was hat dies mit der Sphinx zu tun? Die Sphinx ist für Hegel ein Bindeglied zwischen - ich wiederhole - „der dumpfen Stärke und Kraft des Tierischen“ sowie des sich herausdrängenden Geistes (Bd. 13, S. 465). In ihr ist die alte ägyptische Zeit des Mythos, des unauflösbaren Rätsels, mit der neuen griechischen Zeit des Logos, des lösbaren Rätsels, vereint. Der Kopf der Sphinx steht für das neue Zeitalter, welches das naturwüchsige alte überwunden hat. Komplettiert ist diese Überwindung allerdings erst dann, wenn der Grieche Ödipus in einen intellektuellen Zweikampf mit dem Zwittergeschöpf getreten ist und es durch die Antwort „Das ist der Mensch“ besiegt hat. In vielen literarischen und essayistischen Reflexionen über die Sphinx wird immer wieder die Frage erhoben, was die Sphinx eigentlich bewogen haben mag, sich infolge der richtigen Antwort des Ödipus in den Abgrund zu stürzen: Ist sie ein gottgleiches Wesen, dessen Stolz es nicht duldet, besiegt zu werden? Vergilt sie mit ihrem eigenen Tod die unzähligen Tode der schuldlosen Menschen, die mangels Selbsterkenntnis von ihr hinüber gestoßen wurden? Ist sie eine Gestalt, die nur in Fragen leben kann, und deren mythisches Dasein dann beendet ist, wenn eine eindeutige rationalistische Antwort gegeben worden ist? Betrachtet man den Ödipus-Sphinx-Mythos einmal aus einem ethischen Blickwinkel, kann man auch zu einer kritischeren Lesart kommen als Hegel dies mit seiner positiven Geschichts- und Menschendeutung - auf fulminante Weise - geleistet hat: Der für die Kommunikationsform des Rätsels viel gerühmte Dialog kommt eigentlich nicht zustande. Zwar erfüllt die Frage der Sphinx in bedingtem Maße das, was Hans-Georg Gadamer als Voraussetzung für die Frage betrachtet, nämlich das Eröffnen einen neuen Horizontes: 11 Ödipus gewinnt eine neue Erkenntnis über den Menschen, doch hat diese Erkenntnis keinerlei Auswirkung auf sein eigenes Leben. Ödipus, der kurz vor der Begegnung mit der Sphinx unwissentlich seinen leiblichen Vater nach einem Streitgespräch auf einer Wegkreuzung ums Leben gebracht hat und sich auf der Höhe seines Lebens wähnt (sich folglich der alles überblickenden Zweibeinerposition rühmt), merkt nicht, dass die Rätselantwort „Das ist der Mensch“ nicht ausreicht, um sein eigenes, mit Goethe, „Lebensrätsel“ 12 zu lösen. Später wird er seine Geliebte, Iocaste, die sich als seine Mutter entpuppt, in den Tod treiben, und somit zum zweiten Mal mit der Lösung eines Rätsels, diesmal das seiner eigenen Herkunft, eine Frau in den Abgrund stürzen. Vielleicht, so lässt sich spekulieren, hätte er sein eigenes Schicksal abwenden können, wenn er anstatt der Antwort 10 Vgl. hierzu: Axel Hutter: „Die Welt als Rätsel. Drei Begegnungen der Philosophie mit der Sphinx.“ In: István M. Fehér; Wilhelm G. Jacobs (Hg.): Zeit und Freiheit. Budapest 1999, S. 151- 161. 11 Vgl. hierzu: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 2 1965, S. 344ff. 12 Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden, hg. v. Karl Robert Mandelkow. Bd. IV (1821-1832). München 3 1988, S. 264. Doren Wohlleben 136 „Das ist der Mensch“ die Antwort „Das bin ICH“ gegeben hätte. Mit diesem ICH hätte er nämlich, wenn auch nur indirekt, sein fragendes Gegenüber als DU anerkannt. Der Sphinx wäre dann nicht nur der Status eines Computers zugekommen, welcher nach Lösen des Passwortes auf Selbstvernichtung und Absturz programmiert ist, sondern sie hätte als ebenbürtiger Dialogpartner gegolten, der mittels seiner Frage einen Bezug zu dem Antwortenden herstellt. Die Antwort „Das bin ich“ wäre Zeichen einer Einsicht in das eigene Eingespanntsein zwischen Vierbeiner und Dreibeiner, Kindheit und Greisenalter, Geburt und Tod gewesen. Mit der Anrede der Sphinx als Du wäre eine Anerkennung des Tieres im Menschen einhergegangen, der angeborenen Schuldhaftigkeit und Gewaltbereitschaft - und zugleich eine Anerkennung der Undurchschaubarkeit und Unlösbarkeit dieses Anderen. Doch der kluge Ödipus wundert sich nicht über die Erscheinung der Sphinx, nicht über deren merkwürdig lächelndes Antlitz und auch nicht über ihren monströsen Löwenleib. Für ihn scheint das Phänomen in dem Moment gelöst, in dem die dunkle Frage durch eine klare Antwort gebannt und - vermeintlich - Gewissheit erlangt ist. 2 Das Rätsel bei Emmanuel Lévinas Hier bietet sich ein kurzer theoretischer Exkurs zu dem Rätsel-Begriff von Emmanuel Lévinas an, dem unter der Überschrift Rätsel und Phänomen das neunte Kapitel in den Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie in Die Spur des Anderen 13 gewidmet ist: Rätsel gelten Lévinas - und diesbezüglich bildet er einen diametralen Gegenpol zu Hegel - als prinzipiell unlösbar. Sie können sich nicht enthüllen oder, mit Martin Heidegger gesprochen, entbergen. Stattdessen hinterlassen sie eine Spur, wobei jede Spur Zeichen von etwas ist, das es zugleich verbirgt. Es geht Lévinas um das Rätsel des Anderen, der, beispielsweise in einer persönlichen Begegnung, die nachhallt, eine Spur hinterlässt, welche sich bereits im selben Moment wieder verflüchtigt, ohne je ganz verschwunden zu sein. Dieser Andere ist weder ein alter ego, ein Gleicher, noch ist er, wie bei Martin Buber, ein ,Du‘, ein Vertrauter. Er muss ein ,Er‘ bleiben, ein Ille, der sich zurückzieht und sich meinem Gesetz und meinem Willen verweigert. Lévinas’ Konzept dieser ,Illeität‘ ist eng mit dem des Rätsels verknüpft, das wiederum in einem dichotomischen Spannungsverhältnis zu seinem Begriff des Phänomens steht. Rätsel und Phänomen sind koexistent und lassen sich nicht hierarchisieren: Das Rätsel kommt nicht dann und wann das phänomenale Erscheinen stören, als ob diese Erscheinung, die der Erkenntnis angemessen, d.h. rational ist, unterbrochen würde durch geheimnisvolle Inseln des Irrationalen […]. Das Rätsel erstreckt sich soweit wie das Phänomen […]. (S. 251) 13 Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übersetzt, hg. und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/ München 1983, S. 236-260. Die Seitenzahlen werden nach dieser Ausgabe im Folgenden direkt im Fließtext genannt. Rätsel und Literatur 137 Was erscheint, sich rational erkennen und sprachlich ordnen lässt, schreibt Lévinas der Seite des Phänomens, dem immanenten Bereich zu. Alles Gesagte und somit sprachlich Strukturierte zählt hierzu. Diese „Verkettung des Gesagten“ (S. 251) kann jedoch unterbrochen werden, und zwar immer dann, wenn das Rätsel in diese Ordnung einbricht und für Verwirrung sorgt, denn: „Alles Sprechen ist Rätsel“ (S. 252). Dieses Rätsel, so Lévinas, „trägt die Spur des Sagens, das sich aus dem Gesagten schon zurückgezogen hat“ (S. 251). Das Sagen parallelisiert er wiederum mit dem Antlitz (S. 252). Denn auch das Antlitz entzieht sich entgegen dem Gesicht, welches physiognomisch deutbar, hermeneutisch lesbar und visuell abbildbar ist, jeglicher eindeutigen Interpretation. Während das Phänomen die unabdingbare Voraussetzung für die Erscheinung und somit die Erkenntnis bildet, geht das Rätsel über diese Erkenntnis hinaus und ins Metaphysische hinein. Sein Erscheinen ist zu flüchtig und zu diskret, um als Erscheinung wahrgenommen werden zu können; es hinterlässt nur eine Spur, eben die Spur des Anderen: Das Rätsel, die Dazwischenkunft eines Sinnes, der das Phänomen verwirrt, aber sehr bereit ist, sich wie ein unerwünschter Fremder zurückzuziehen, wenn man nicht die Ohren spitzt nach diesen Schritten, die sich entfernen - das Rätsel ist die Transzendenz selbst, die Nähe des Anderen als eines Anderen. (S. 254) Alterität und Rätsel sind bei Lévinas folglich eng aufeinander bezogen. Das Rätsel symbolisiert hier nicht, wie bei den Denkern des 19. Jahrhunderts, den Ursprung der Philosophie, sondern den Ursprung der Ethik, die bei Lévinas immer über die Beziehung zum Anderen definiert ist. Diese Ethik verweigert sich einem hermeneutischen Zugriff und lässt sich nur in tautologischer Form angemessen fassen: Am Anfang war das Rätsel, und das Rätsel war Wort, und das Wort war Rätsel, wobei Wort hier nicht das Gesagte (logos), sondern das Sagen selbst (legein) meint. Diese genuin ethische Dimension, die Emmanuel Lévinas dem Rätsel zuspricht, und es somit eigentlich jenseits einer Hermeneutik verortet, nimmt in der Geistesgeschichte eine Extremposition und Sonderstellung ein: Viel öfter kommt dem Rätsel die Funktion einer paradigmatischen Verstehensfigur zu. Dies werde ich im Folgenden mit einem holzschnittartigen Streifzug durch die (Literatur-) Geschichte des Rätsels deutlich zu machen versuchen, bei dem ich allerdings nicht alle Epochen, sondern nur einzelne Stationen in den Blick nehmen kann und hierbei den großen, spannenden Komplex der psychoanalytischen Rezeption des Rätsels 14 ausblende. 3 Streifzüge durch die (Literatur-) Geschichte des Rätsels In der griechisch-römischen Antike spielte das Rätsel, das aus dem Orient übernommen wurde, eine bedeutsame Rolle, wurde aber noch nicht als Gattung reflektiert. Im Folgenden will ich drei Funktionen des antiken Rätsels differenzieren: ers- 14 Vgl. hierzu: Rolf Vogt: Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung oder Das Rätsel der Sphinx. Frankfurt am Main/ New York 1986. Doren Wohlleben 138 tens eine gesellschaftliche, zweitens eine poetologisch-handlungsdynamische und drittens eine rhetorische Funktion. Die typische Lebensform des Rätsels - wobei hier der oben bereits explizierte, griechische Begriff des griphos zugrunde liegt (,Fischernetz‘, übertragen dann auch: ,verfängliche Aufgabe‘) -, seine gesellschaftliche Relevanz, zeigte sich beispielsweise in den Rätselspielen beim Gastmahl, in öffentlichen Rätselwettkämpfen, bei der Brautwerbung oder im Kinderspiel. In Epen und Dramen hat das Rätsel immer wieder eine handlungsdynamische Funktion: Es taucht - mit seinem griechischen und von den Römern übernommenen Begriff des ainigma (,die in Bildern redende Fabel‘) - oft im Zusammenhang mit Göttersprüchen und Orakelbescheiden auf, 15 bildet also eine geeignete Ausdrucksform für das fatum, das den Helden und Völkern ihr Schicksal weist. An markanten Punkten des Handlungsgeschehens erfüllt es somit nicht nur eine handlungsdynamische, sondern auch eine poetologische Funktion, indem Vergangenes und Zukünftiges in einer kurzen, dunklen Rede zusammengeführt, strukturell miteinander verwoben und reflektiert werden. Als Beispiel könnte man die Rede der Prophetin Sibylle im sechsten Buch von Vergils Äneis anführen, einer mythischen Frauenfigur, die wegen ihrer Schauerlichkeit übrigens oft mit der Sphinx parallelisiert wird. Sie weist dem Helden Äneas den Weg in die Unterwelt zu seinem Vater und übt so am Ende der ersten Hälfte der Äneis, der Odyssee des Helden, eine katalysatorische Wirkung aus, welche die Handlungen der zweiten Hälfte des Epos, der römischen Ilias, initiiert: So aus innerstem Heiligtum läßt Kumaes Sibylle Schauerlich Rätselwort ertönen, brüllt in der Grotte, Wahrheit hüllend in dunkles Wort […]. (VI, 98-100) 16 Auch hier werden, wie Lévinas dies theoretisch expliziert hat - ich erinnere an sein „Alles Sprechen ist Rätsel“ 17 - Rätsel und Verwirrung miteinander assoziiert. Die Blätter der Sibylle sind rätselhafte, göttliche Anweisungen, die es zu ordnen gilt, eine Herausforderung, der selbst das mythische Wesen Sibylle aus Kumae bei Neapel, eine nach Ovid 700 Jahre alte weise Frau, kaum gewachsen ist. Abgesehen von dieser epischen Relevanz war das Rätsel, vor allem in der Spätantike, Bestandteil des rhetorischen Tropenkatalogs. Es wurde mittels des rhetorischen Begriffs der obscuritas (Dunkelheit) definiert, einem Bestimmungskriterium, das bis in den Barock die philosophische und poetologische Diskussion prägen sollte. 18 Über 15 Zu der problematischen Gleichsetzung von ,Rätsel’, das prüfen soll, ob eine verschlüsselte Äußerung verstanden wird, und ,Botschaft’, mittels derer eine Mitteilung gemacht wird, vgl. Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter. Tübingen 1994, S. 89ff. 16 Vergil: Aeneis. Übersetzt von Johannes Götte, in Zusammenarbeit mit Maria Götte. Mit einer Einführung von Bernhard Kytzler. München 1990, S. 145. 17 Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Übersetzt, hg. und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/ München 1983, S. 236-260, hier: S. 252. 18 Vgl. hierzu: Manfred Fuhrmann: „Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike.“ In: Wolfgang Iser (Hg.): Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. München 1966, S. 47-72. Rätsel und Literatur 139 das Moment der obscuritas konnte eine Brücke zu der Gedankentrope der Allegorie geschlagen werden, von der das Rätsel als eine allegoria obscurior, eine dunklere Allegorie, nur graduell unterschieden wurde. Der Maßstab für das rhetorisch klare und somit in römischer Vorstellung auch ethisch gute Sprechen und Schreiben blieb der Gegenbegriff zur obscuritas, die perspicuitas (,Klarheit, Durchsichtigkeit‘). Lediglich als Abweichungsphänomen von der rhetorischen Norm fand das Rätsel also Eingang in den antiken Katalog der Tropen und rhetorischen Figuren. Einen Sinnzuwachs erhielt es erst mit dem Apostel Paulus, vor allem aber durch Augustin, die den aenigma- Tropus nun zu dem (göttlichen) mysterium in Verbindung setzten und somit zu einem christlich-hermeneutischen Begriff aufwerteten. Die Grenze zwischen allegoria und aenigma wird, wie schon in der rhetorischen Tradition, fließend: Dasselbe Phänomen, das bei Paulus als allegoria eingestuft wurde, gilt Augustin als aenigma, denn es sei vor seiner Erklärung dunkel gewesen. Im Mittelalter 19 bleibt zwar die obscuritas das entscheidende Bestimmungskriterium, diese ist nun aber positiv konnotiert, da ihr heuristischer und didaktischer Nutzen erkannt wird. Denn gerade die dunkle Rede zwinge den Menschen, seinen Verstand geübt und geschärft zu halten und führe ihn zu höherer Erkenntnis. Diese höhere Erkenntnis mache ihn zugleich besser. Auch der ästhetische Rang des Rätsels, das beispielsweise im Wartburgkrieg zu einem Strukturprinzip erhoben werden konnte und sich als Variante der klerikalen Auslegungstradition erwies, nach der die Aussage eines Textes nicht auf den buchstäblichen Wortsinn beschränkt ist, 20 wurde folglich ungleich höher eingestuft. Denn nur die ästhetische Perfektion ziehe durch ihren heuristischen Mehrwert die ethische Dimension nach sich. Auch bibelhermeneutisch gewinnt das Rätsel spätestens mit Nikolaus Cusanus, der seine Philosophie als eine scientia aenigmatica bezeichnet, an Relevanz, denn der Schöpfer könne von seinen Geschöpfen nur geschaut werden wie im Spiegel und Rätselbild. Das letzte Ziel müsse diese Schau Gottes ohne Aenigma bleiben, von Angesicht zu Angesicht - eine Tradition, die sich durchaus mit der jüdischen Hermeneutik des 20. Jahrhunderts und ihrer Maskenmetaphorik 21 korrelieren lässt. Erst im Barock, in dem Rätselaufgaben zu einem beliebten Gesellschaftsspiel wurden, verliert das Signum der obscuritas an Relevanz. Im Gegenzug hierzu gewinnt das Spiel-Kriterium an Gewicht, das in der griechischen Antike bereits in der Bedeutung des griphos angelegt war. Um die Unterhaltung der Abend- und Festgesellschaften zu gewährleisten, kam es darauf an, dass das Rätsel lösbar sein musste, weshalb eine allzu große Dunkelheit als abträglich galt. Die Rätselstrukturen sollten nach anfänglicher Irritation des Befragten klar zu ordnen und zu lösen sein. Mit dieser gesellschaftlichen Anerkennung geht zugleich eine literarische Abwertung einher: Als 19 Eine umfassende Darstellung zum Rätsel im Mittelalter bietet folgende Habilitationsschrift: Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter. Tübingen 1994. Vgl. auch: Freimut Löser: „Rätsel lösen. Zum Singûf-Rumelant-Rätselstreit.“ In: Wolfram-Studien XV (1996), S. 245-275. 20 Vgl. hierzu: Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter. Tübingen 1994, besonders S. 387- 391, hier: S. 390. 21 Vgl. hierzu: Almut Bruckstein: Die Maske des Moses. Studien zur jüdischen Hermeneutik. Berlin/ Wien 2001. Doren Wohlleben 140 historisches, nicht sonderlich ernst zu nehmendes Phänomen betrachtet Johann Christoph Gottsched die Rätsel in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst: „Zwar Räthsel findet man noch zuweilen: ja es giebt ganze Sammlungen solcher Tändeleyen; darunter zuweilen eins und das andre noch sinnreich genug ist“. 22 Noch fast 30 Jahre später, im Teutschen Merkur vom 13. Januar 1776, disqualifiziert sie Christoph Martin Wieland als „närrische Erfindungen eines kranken Witzes“. Nur selten, beispielsweise in Hebels Karlsruher Literaturkreis, stießen Rätsel auf literarische Akzeptanz. Zwar änderte sich dies zeitweilig durch Friedrich Schillers Bearbeitung von Carlo Gozzis Turandot, in der Rätsel als Aufgaben nicht nur in der Rahmensituation zwischen Turandot und Kalaf eine Rolle spielten, sondern auch zwischen Schiller und Goethe sowie zwischen den Schauspielern und seinem Publikum, doch überlagerte weiterhin die soziale Funktion des Rätsels als Gesellschaftsspiel seine poetologische Bedeutung. Johann Wolfgang von Goethe hatte letztere erahnt, wenn er in einem Brief an Friedrich Schiller vom 2. Februar 1802 dessen Bildersprache im Turandot-Drama rühmt sowie die „entzückte[n] Anschauungen des Gegenstandes“, „worauf man fast eine neue Dichtungsart gründen könnte“. 23 Er selbst begründet diese „neue Dichtungsart“ nicht in seiner expliziten Poetik, macht aber in seiner impliziten vielfältig von ihr Gebrauch, 24 in der Rätsel, so Goethe in seinem Brief an Karl Friedrich Zelter vom 4. Dezember 1827, „mit freigebigen Händen ausgestreut sind“. 25 Die bloße Gleichsetzung seiner Leser, die dem Autor eine eindeutige Interpretation abverlangen, von einerseits hermeneutischer Sinnsuche und andererseits Rätsellösen brandmarkt Goethe als naiv: „Ebenso quälen sie [die Leser] sich und mich mit den Weissagungen des Bakis, früher mit dem Hexen-Einmaleins [hier spielt er auf die berühmte Stelle in Faust I an] und so manchem andern Unsinn, den man dem schlichten Menschenverstande anzueignen gedenkt“. 26 Der schlichte Menschenverstand reiche nicht aus, um das Rätsel Literatur zu lösen, das - und hier kann man sich beinahe an Lévinas erinnert fühlen - unlösbar bleiben muss, will es seine hermeneutische unergründliche Tiefendimension wahren. Religion und Rätsel rücken nah zusammen, und Goethe überschreitet die rein textuelle Funktion des Rätsels hin zu einer ethischen, wenn er von dem „Lebensrätsel“ spricht, das er gegen die „psychisch-sittlich-ästhetischen Rätsel“ 27 der Kunst ausspielt. Die Lösung des Lebensrätsels kann nur durch die Auflösung des Lebens selbst gewährt werden, und nicht einmal der Tod vermag eine solche Erlösung zu leisten, da sich mit ihm das Rätsel 22 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Neudruck Darmstadt 5 1962, S. 795. 23 Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in drei Bänden, hg. v. Hans Gerhard Gräf und Albert Leitzmann. Bd. 2 (1798-1805). Leipzig 1955, S. 394. 24 Vgl. hierzu: Jochen Hörisch: „Das Leben war ihnen ein Rätsel. Das Rätselmotiv in Goethes Romanen.“ In: Euphorion 78 (1994), S. 111-126. 25 Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden, hg. v. Karl Robert Mandelkow. Bd. IV (1821-1832). München 3 1988, S. 264. 26 ebd. 27 ebd. Rätsel und Literatur 141 auf-löst, „ein Konvolut sibyllinischer Blätter […] in der Luft zerstiebt“. Dies schreibt der betagte Goethe am 19. März 1827 an Zelter, den er nach dem Tod von dessen einzigem Sohn zu trösten versucht: Mir erscheint der zunächst mich berührende Personenkreis wie ein Konvolut sibyllinischer Blätter, deren eins nach dem andern, von Lebensflammen aufgezehrt, in der Luft zerstiebt und dabei den überbleibenden von Augenblick zu Augenblick höhern Wert verleiht. […] Verzeih diese abstrusen Ausdrücke! man hat sich aber von jeher in solche Regionen verloren, in solchen Sprecharten sich mitzuteilen versucht, da wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen. 28 Hier liefert Goethe nolens volens die Definition einer der wichtigsten poetologischen Funktionen des Rätsels in der Literatur, die eine Brücke zu schlagen versucht zwischen der Gewalt der Vernunft und dem Walten der Unvernunft und ausgerechnet mit dem Aufschub der Lösung Erlösung in Aussicht stellt. Das „Rätselwort“ (V. 1338), wie Faust die viel zitierte Selbstbeschreibung des Mephisto charakterisiert, er sei „Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (V. 1336f.), bleibt demnach am Ende des Lebens genauso paradox wie zu dessen Beginn: Am Ende war das Rätsel, und das Rätsel war Wort - Rätselwort. Ein knappes Jahrhundert später nimmt Walter Benjamin in seinem Fragment Über das Rätsel und das Geheimnis 29 nochmals auf die prekäre Nähe des „Rätselwort[es]“ (S. 17) zum Geheimnis sowie auf die eschatologische Dimension des Rätsels Bezug: Das Rätsel entsteht da, wo mit Nachdruck eine Intention darauf sich regt, ein Gebild oder einen Vorfall, der nichts Sonderbares oder schlechterdings überhaupt gar nichts zu enthalten scheint, der symbolisch-bedeutenden Sphäre anzunähern. (S. 17) In dieser Annäherung an die „symbolisch-bedeutende Sphäre“ gewinnt Benjamin dem Rätsel eine „,geheimnisvolle‘ Seite“ (S. 17) ab, die allerdings nur so lange Bestand hat, so lange die Lösung aussteht. Ist das Rätsel gelöst, erlischt auch sie und mit ihr „die Erlösung der versteckten Intention aufs Unlösbare“ (S. 18). Dennoch verbirgt nach Benjamin jedes Wort, zumindest jedes dichterische, „jenseits des in ihm mitgeteilten gründende[n] Kern[s], das Symbol einer Nicht-Mitteilbarkeit“ (S. 18) und bleibt somit Rätselwort. Nur diesem Rätselwort spricht er eine eschatologische Kraft zu: „Lösen ließen sich daher viele Rätsel durch das bloße Bild, erlösen aber nur durch das Wort“ (S. 18), so Benjamin. Die versteckte Intention des Rätsels ist ihm zufolge immer, auch wenn es sich um scheinbar nur spielerische Worträtsel handelt, die Erlösung; jede Lösung weist auf diese Erlösung voraus und vernichtet sie zugleich. Walter Benjamin wendet sich in seinem Fragment gegen die europäischaufklärerische Tradition, in der die Dechiffrierung des Rätsels, die wissende Antwort im Mittelpunkt des Interesses steht. Ihr setzt er die jüdische Hermeneutik entgegen, 28 ebd., S. 219. 29 Walter Benjamin: „Über das Rätsel und das Geheimnis.“ In: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. VI (Fragmente vermischten Inhalts, Autobiographische Schriften). Frankfurt am Main 2 1986, S. 17f. Die Seitenzahlen werden nach dieser Ausgabe im Folgenden direkt im Fließtext genannt. Doren Wohlleben 142 die Name und Geheimnis miteinander korreliert und das epiphanische Moment des Rätsels betont, das „in seiner ganzen Unmittelbarkeit hereinbrechend“ (S. 18) seinen utopischen Ursprung und Zielpunkt nicht leugnen kann. Auch in der späteren (Kunst-) Philosophie des 20. Jahrhunderts dient das Kriterium des Plötzlichen im Rätsel als Signum des modernen Denkens, aber auch der modernen Kunst schlechthin. Martin Heidegger betont in Der Ursprung des Kunstwerkes, dass das moderne Kunstwerk keinen Ursprung mehr hat, sondern selbst Ur- Sprung ist, da es - analog zum Rätsel - sprunghaft erraten werden müsse. Nicht von Methoden geleitet oder mittels der Prinzipien der Urteilskraft wird es mehr erschlossen, sondern - gleich der Lösung eines Rätsels - im unerwarteten, unverfügbaren Aufblenden von Sinnhaftigkeit. Im Nachwort Heideggers zum Ursprung des Kunstwerkes heißt es: „Die vorstehenden Überlegungen gehen das Rätsel der Kunst an, das Rätsel, das die Kunst selbst ist. Der Anspruch liegt fern, das Rätsel zu lösen. Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen“. 30 Ebenso knüpft Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie an diesen Rätselcharakter der Kunst an, der letztere erst generiere: „Als konstitutiv aber ist der Rätselcharakter dort zu erkennen, wo er fehlt: Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine“. 31 Wenn das Rätsel auch Mitte des 20. Jahrhunderts in der Philosophie und Kulturtheorie als heuristische Denkschablone für das moderne Kunst- und Kulturverständnis fungiert, so findet es in der germanistischen Literaturwissenschaft, abgesehen von indirekten Verweisen im Zusammenhang mit dem Hermetismus, 32 lediglich als überholtes, historisches Phänomen Beachtung. Zwar bescheinigt ihm Volker Schupp in seinem Deutschen Rätselbuch von 1972 wenigstens Potential, das er aber lediglich für die vage Zukunft, nicht für die Gegenwart geltend macht: „Im Augenblick sind die Auspizien für das Rätsel nicht günstig, die unliterarischen Varianten sind aber fest verankert. […] Das literarische Rätsel könnte in Potentia überwintern“. 33 Zu den „unliterarischen Varianten“ zählt Volker Schupp auch das 1913 in der New York Sunday World erstmals erschienene Kreuzworträtsel. Das Kreuzworträtsel löst das Rätselwort im Goetheschen oder Benjaminschen Sinne ab. Während es in deutscher Tradition als bloße Buchstabenspielerei für den Untergang der literarischen Rätselform verantwortlich gemacht wird und somit das Ende der Symbiose von Rätsel und Literatur symbolisiert, dient es im anglophonen Bereich als poetologisches Modell postmoderner Denk- und Schreibverfahren: Denn es ist sowohl horizontal als auch vertikal les- und schreibbar. Die losen Enden seiner Struktur, sein 30 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Mit einer Einführung von Hans-Georg Gadamer. Stuttgart 2005, S. 83. 31 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Bd. 7. Frankfurt am Main 1972, S. 191. 32 Vgl. hierzu z. B.: Gerhard Kurz: „Hermetismus. Zur Verwendung und Funktion eines literaturtheoretischen Begriffs nach 1945.“ In: Nicola Kaminski (Hg.): Hermetik: literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace. Tübingen 2002, S. 179-197. 33 Volker Schupp: „Nachwort.“ In: Deutsches Rätselbuch, hg. v. Volker Schupp. Stuttgart 1972, S. 365-432, hier: S. 432. Rätsel und Literatur 143 azentrisches, nicht hierarchisiertes System, die blinden Flecken und schwarzen Löcher seiner Leerstellen, der auf keinen integralen Sinn zentrierbare Inhalt sowie die gegen den Phonozentrismus gewandte Schriftgebundenheit kommen der postmodernen Theoriebildung entgegen. Das Crossword stellt im angelsächsischen Kulturraum ein Analogon zu der in der frankophonen und bei uns sehr viel stärker rezipierten Theorie des Rhizoms dar, der von Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Buch Tausend Plateaus 34 entwickelten Idee des Netz- und Wurzelwerkes, das ebenfalls für ein offenes, autopoietisches System steht. Wenn das Rätsel als poetologische Denkform nun schon Einzug in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gehalten hat - erinnert sei an die Mitte des Romans Austerlitz (2001) von W. G. Sebald, in der Penelope ein Kreuzworträtsel just in dem Moment vollendet, in dem sich das Lebensrätsel des Protagonisten Austerlitz in der mémoire involontaire zu lösen beginnt 35 -, ist es vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis es auch den theoretischen Diskurs neu erobert. 4 Zu Ingeborg Bachmanns Erzählung Das Lächeln der Sphinx 36 Diese sehr frühe Erzählung Ingeborg Bachmanns erschien zuerst in der Wiener Tageszeitung vom 25. September 1949, also im selben Jahr, in dem Bachmann ihre Dissertation über Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein einreichte; sie war damals 23 Jahre alt. Bis heute ist die Erzählung, die Bachmanns Ruhm als Literatin mitbegründete, in der Bachmann-Forschung nicht sonderlich geschätzt. Kritisiert wird immer wieder der übertriebene Gleichnischarakter dieser - so Monika Albrecht und Dirk Göttsche in ihrem Bachmann-Handbuch - „bemühten Parabel“. 37 Was der Erzählung im Grunde vorgeworfen wird, ist, dass sie auf der Darstellungsebene das praktiziert, wogegen sie sich auf der Inhaltsebene sträubt: das Suggerieren allzu klarer hermeneutischer Lösungsangebote. Geschrieben wenige Jahre nach Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung, übt sie eine (vielleicht überstrapazierte) Kritik am Rationalismus, an dem menscheneigentümlichen Spiel um Wissen und Macht, dessen Übergang zu einem Kampf auf Leben und Tod fließend ist: Ingeborg Bachmann greift in ihrer Erzählung das antike Motiv der mit Vernichtung drohenden Sphinx auf, die in einer unbestimmten Zeit ihren beunruhigenden Schatten über das Reich eines namenlos bleibenden Königs legt. Letzterer muss, anders als sein mythisches Vorbild Ödipus, drei Fragen beantworten, um sich und 34 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1997, S. 30. 35 W. G. Sebald: Austerlitz. Frankfurt am Main 2 2003, S. 208f. Vgl. hierzu auch: Yahya Elsaghe: „Das Kreuzworträtsel der Penelope: Zu W. G. Sebalds Austerlitz.“ In: GegenwartsLiteratur. Ein germanistisches Jahrbuch/ A German Studies Yearbook 6/ 2007, Schwerpunkt: W. G. Sebald, hg. v. Paul Michael Lützeler und Stephan K. Schindler, S. 164-184. 36 Ingeborg Bachmann: „Das Lächeln der Sphinx.“ In: dies.: Werke, hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. Bd. 2 (Erzählungen). München/ Zürich 5 1993, S. 19- 22. Im Folgenden werden die Seitenzahlen nach dieser Ausgabe direkt im Fließtext angeführt. 37 Monika Albrecht; Dirk Göttsche (Hg.): Bachmann Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2002, S. 107f. Doren Wohlleben 144 sein Volk zu retten, wobei die letzte eine anthropozentrische ist, welche das Rätsel nach dem Zweibeiner der thebanischen Sphinx aufnimmt und weiter spinnt. Der Herrscher fühlt sich „unausgesprochenen Forderungen und Weisungen [ausgesetzt], denen er folgen zu müssen glaubte und die er nicht kannte“ (S. 19). Dem modernen König ist, um in antiker Terminologie zu sprechen, der Inhalt seines fatum abhanden gekommen. Erst als sich ein „Schatten, der vielleicht die Bedrohung barg“ (S. 19), erahnen lässt, schöpft er Hoffnung, die Gefahr identifizieren und lokalisieren zu können. Dieser Schatten erscheint jedoch aufgrund seiner Monstrosität zunächst als amorph und somit als inkommensurabel: Was allzu ungeheuerlich ist, kann rational nicht erfasst werden. Das „ungeheure Tier“ (S. 19) entzieht sich dem menschlichen Verstand. Die Dunkelheit (obscuritas), die dieser Schatten über sein Reich legt, steht einer klaren Erkenntnis entgegen. Erst als es dem König gelingt, „ein plattes, breites Gesicht zu entdecken, das jenem Wesen gehörte, das jeden Augenblick den Mund öffnen und derart fragen konnte, daß man vor ihm seit Jahrhunderten versagte, ihm die Antwort schuldig blieb und verloren war“ (S. 19), ist ihm eine Identifikation des Schattens als die mythische Sphinx-Figur möglich. Das Gesicht lässt den tierischen Schatten, Inbegriff des Anderen, zu einem Menschenantlitz und zugleich zu einem Dialogpartner werden: „Aus der dumpfen Stärke und Kraft des Tierischen“, ich erinnere noch einmal an Hegel, „will der menschliche Geist sich hervordrängen“ (Werke, Bd. 13, S. 465). Diesem Antlitz kann sich der König nicht entziehen, ihm fühlt er sich ausgesetzt und zugleich zur Provokation genötigt: „Er öffnete also zuerst den Mund und forderte sie heraus, ihn herauszufordern“ (S. 19). Die erste Frage der Sphinx zielt auf die innere Beschaffenheit der Erde, auf das faustisch-neuzeitliche Begehren, das zu erforschen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Mit Hilfe all seiner Gelehrten und Arbeiter gelingt es dem König, in Formeln und Tabellen die Welt zu entschlüsseln und zu entzaubern. Obgleich des Königs Antwort die Sphinx nicht wirklich befriedigt, die den Mangel der „Achtung vor den Resultaten“ (S. 20) beklagt, gilt das Rätsel als gelöst. Die Antwort passt, wie bei seinem antiken Vorgänger, zur Frage, obgleich sie jegliche kritische Selbsterkenntnis vermissen lässt. Dies trifft ebenso auf das zweite Rätsel zu, das diesmal dem All gewidmet ist, den menschlichen Lebensraum also transzendiert. Inzwischen hat der König Gefallen an dem „tödlichen Spiel“ (S. 21) gefunden, genießt die Wettkampfsituation und fühlt sich ebenbürtig, wenn nicht gar „mit aufkeimendem Triumph“ (S. 20f.) überlegen. Doch dann erschüttert erneut das Antlitz der Sphinx die Selbstgewissheit des Königs: Das Antlitz bleibt hermeneutisch unzugänglich, lässt sich nicht lesen, erscheint als „blicklos“ (S. 21), wobei der Blickaustausch immer auch gegenseitiges Verständnis, Vertrauen symbolisiert. Ein blickloses Gesicht ist ein Antlitz, weder ein Ich noch ein Du, sondern ein Ille, der beunruhigt, indem er sich jeder Erkenntnis entzieht und vorüberzieht. Das dritte und letzte Rätsel hat den Menschen selbst zum Gegenstand. Es übersteigt seine antike Vorlage, indem es sich nicht mit der Antwort „Das ist der Mensch“ begnügt, sondern diese mythische Antwort in eine aufklärerische Frage überführt: „Was mag wohl in den Menschen sein,“ so fragt die Bachmannsche Sphinx den König, „die du beherrschst“ (S. 21). Dieses größte Rätsel, der Mensch selbst, scheint nur unter Opferung des Menschen lösbar: Rätsel und Literatur 145 Der Herrscher lässt „mit peinlicher Genauigkeit“ (S. 21) Guillotinen aufstellen und sein gesamtes Volk hinrichten. „Gebeugt und stumm vor Erwartung“ (S. 22) tritt er vor die Sphinx, die sich ihm nun ähnlich entzieht wie bei der ersten Begegnung, nämlich als Schatten. Diesmal stellt der Schatten allerdings keine Bedrohung dar, sondern vielmehr, in biblischer Sprache, Schutz und Geborgenheit für die Opfer: „Er sah ihren Schatten sich wie einen Mantel über die Toten breiten, die nun nicht aussagten, was zu sagen war, weil sich der Schatten über sie gelegt hatte, um sie zu bewahren“ (S. 22). Der Schatten, den der König durch all seine aufklärerischen Forschertätigkeiten zu bezwingen versucht hatte, kehrt zurück. Was entblößt und entborgen wurde, erhält nun wieder seinen schützenden Schleier. Die Aufklärung der Rätsel wird auf symbolischer Ebene in die Dunkelheit des Mythos zurückgeführt. Hiermit einher geht die Sprachlosigkeit der ehemaligen Dialogpartner: Der König ist „stumm“, die Sphinx spricht ihn nur noch durch eine Gebärde frei. Was bleibt, ist das bedeutungsreiche Gesicht des Zwitterwesens. Als Grenzgänger entschwindet es aus dem immanenten Bereich des Herrschers in ein anderes Reich, das Reich des Anderen, und nimmt das „Meer von Geheimnissen“ (S. 22) mit sich fort. Dieses Lächeln der Sphinx bietet eine Spanne von Deutungsmöglichkeiten, von einer mütterlichen Versöhnungsgeste bis hin zu einem zynischen Überlegenheitsausdruck. Fest steht, dass es sich um eine menschliche Mimik handelt - Löwen lächeln nicht. Genauso gewiss ist allerdings, dass das Lächeln kein komplizenhaftes Augenzwinkern meint, das für gegenseitiges Verständnis einsteht, sondern die Rätselhaftigkeit des Anderen in das Gesicht einschreibt, welches dadurch zum Antlitz wird. Jenes Antlitz ist in Erscheinung getreten, ohne, im Sinne eines Phänomens, zu erscheinen. Es war vor seinem Auftauchen als „unausgesprochene Forderung und Weisung“ (S. 19) ebenso gegenwärtig wie nach seinem Verschwinden. Der Erzählauftakt „In einer Zeit […]“ (S. 19) versetzt nicht in die märchenhaft entrückte Zeit eines ,Es war einmal‘, sondern hält - vergleichbar mit den Parabeln Franz Kafkas - die Omnipräsenz der „Gefährdung“ vor Augen, die durch die Parenthese des allwissenden Erzählers im Anfangssatz („ - zu erklären, worin diese Gefährdung bestand, ist müßig, denn Gefährdungen haben zu viele Ursachen und doch keine zugleich - “; S. 19) an Unheimlichkeit gewinnt. Die Dialektik der Aufklärung wird hier mit der Ambivalenz des Rätsels verschränkt, mit dessen Zweideutigkeit, die zwischen Ordnung und Verwirrung, zwischen logos und mythos changiert. Geheimnis und Rätsel - und hiermit komme ich zum Schluss - lassen sich, was auch die Erzählung Ingeborg Bachmanns zeigt, keinesfalls so eindeutig separieren, wie dies in der gegenwärtigen germanistischen Forschung getan wird, 38 in der das Geheimnis für die metaphysische Tradition mit religiös-ethischem Tiefsinn bürgt, während dem Rätsel die oberflächliche, postmoderne Struktur des bloßen Spiels vorbehalten bleibt. Mag auch seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine semantische 38 Vgl. hierzu: Jochen Hörisch: „Vom Geheimnis zum Rätsel. Die offenbar geheimen und profan erleuchteten Namen Walter Benjamins.“ In: Aleida und Jan Assmann (Hg.): Schleier und Schwelle. Bd. 2: Geheimnis und Offenbarung. München 1998, S. 161-178. Doren Wohlleben 146 Verschiebung weg vom Geheimnis hin zum Rätsel festzustellen sein, 39 so zieht dies nicht die Konsequenz nach sich, dass dem Rätsel, das ja in seiner griechischen Bedeutung des ainigma immer schon rituell-religiös verankert war, die ethische Dimension abhanden gekommen ist. Der sicherlich nicht zu leugnende, aber im 20. Jahrhundert überbetonte Unterhaltungswert des Rätsels kann über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass das Rätsel anthropologischen Grundbedürfnissen nachkommt, indem es sich der Herausforderung und dem Paradox der arché stellt, die ,Herrschaft‘ und ,Anfang‘ zugleich meint: Wo der Mythos zur Depotenzierung archaischer Ängste Antworten gibt 40 und den Leser auffordert, die dahinter stehende beunruhigende Frage zu suchen, da wirft das Rätsel Fragen auf und evoziert Ängste, die es dann mit Hilfe des Lesers oder Dialogpartners in eine beruhigende, Erlösung in Aussicht stellende Antwort überführt. Die Angst vor dem Ausbleiben dieser Lösung/ Erlösung und die Lust an derselben bedingen einander. Denn die Arbeit am Mythos ist immer auch eine Arbeit an dem Zwitterwesen Sphinx: der (utopische) Verstehensversuch, Löwenleib und Mädchenlächeln miteinander in Einklang zu bringen. Diese Sphinx als eine hermeneutische Denkfigur des Anderen ist allgegenwärtig. Ihr Antlitz irritiert, bedroht und ruft zur Verantwortung - auch da, wo sie selbst längst in den dunklen Abgrund gestoßen worden zu sein scheint: ihr Blick bleibt. Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Bd. 7. Frankfurt am Main 1972. Albrecht, Monika; Göttsche, Dirk (Hg.): Bachmann Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2002. Bachmann, Ingeborg: „Das Lächeln der Sphinx.“ In: dies.: Werke, hg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. Bd. 2 (Erzählungen). München/ Zürich 5 1993, S. 19-22. Benjamin, Walter: „Über das Rätsel und das Geheimnis.“ In: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. VI (Fragmente vermischten Inhalts, Autobiographische Schriften). Frankfurt am Main 2 1986, S. 17f. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main (Sonderausgabe) 1996. Bruckstein, Almut: Die Maske des Moses. Studien zur jüdischen Hermeneutik. Berlin/ Wien 2001. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Aus dem Englischen von Rainer Ansén. Frankfurt am Main 2003. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1997. Demisch, Heinz: Die Sphinx. Geschichte ihrer Darstellung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1977. 39 Vgl. ebd., S. 162/ 164. 40 Vgl. hierzu die Mythos-Theorie Hans Blumenbergs, für den es die „Wiederherstellung des Paradieses wäre, für alles den richtigen Namen zu haben, auch für das rätselhafte Wesen, das man selbst ist […]“ (Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main (Sonderausgabe) 1996, S. 44). Rätsel und Literatur 147 Eberhardt, Søren; Helmes, Günter: „Antikenrezeption und Geschlechterdifferenz. Sphingen bei Helene Böhlau, Else Laske-Schüler, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke.“ In: Helmut Scheuer; Michael Grisko (Hg.): Liebe, Lust und Leid: zur Gefühlskultur um 1900. Kassel 1999, S. 257-283. Eismann, Wolfgang; Grzybek, Peter (Hg.): Semiotische Studien zum Rätsel. Simple Forms Reconsidered II. Bochum 1987. Fuhrmann, Manfred: „Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike.“ In: Wolfgang Iser (Hg.): Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. München 1966, S. 47-72. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 2 1965. Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden, hg. v. Karl Robert Mandelkow. Bd. IV (1821-1832). München 3 1988. 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Jedenfalls keinen, auf den man bauen könne. Denn insbesondere die literarische Sprache, so etwa der einflussreiche amerikanische Literaturtheoretiker Paul de Man, sei von einer unhintergehbaren Rhetorizität gezeichnet, die uns das ‚Zeichen’ und die ‚Substanz’ permanent verwechseln lasse (De Man: 1993a, 220). Da Sprache und empirische Wirklichkeit getrennte Welten sind und jeder Bezug auf eine außersprachliche Wirklichkeit in Texten immer notwendig sprachlich vermittelt ist (De Man: 1993b, 86, 110ff. u.ö.), lässt sich zumindest, so die Einsicht des Dekonstrukivisten, nie entscheiden, ob unser Sprechen Inhalt hat. Die folgenden Überlegungen verfolgen die These, dass die von George Steiner aufgeworfene Frage seit dem 18. Jahrhundert auch in der Diskussion um das literarische Symbol präsent ist. Und ich möchte vorschlagen, das literarische Symbol nicht, wie es häufig geschieht, primär über seinen Verweisungscharakter zu verstehen, sondern als diejenige literarische, sprachliche Figur, die einen besonderen Anspruch auf den Wirklichkeitsbezug des literarischen Sprechens und der literarischen Erfahrung mit sich führt. Es ist kein Zufall, dass sich Paul de Man in seinem zentralen Aufsatz Die Rhetorik der Zeitlichkeit (1993b), aus dem ich eben schon zitiert habe, eingehend mit dem Symbol beschäftigt, dessen ‚Ideologie’ de Man darin sieht, den Anspruch auf den Wirklichkeitsgehalt des Sprechens immer schon als erfüllt zu sehen, im Rahmen „einer Ästhetik [...] die sich weigert, zwischen einer Erfahrung und der Darstellung dieser Erfahrung zu unterscheiden.“ (De Man: 1993b, 84) Dagegen möchte ich zeigen, dass das literarische Symbol den Anspruch nach einer besonderen Welthaltigkeit des Sprechens wohl formuliert, im Sinne einer Sehnsucht, dass das Sprechen Inhalt haben möge, ihn aber zugleich durch seinen genuin verweisenden Charakter als Problem auch offen hält. Eine angemessene Theorie des literarischen Symbols hätte diesen Anspruch wie seine Problematisierung mit zu bedenken. Meine Überlegungen, die keine neue Symboltheorie vorlegen wollen, sondern vielmehr nur beabsichtigen, diesen behaupteten, bereits vorliegenden impliziten Problemgehalt des literarischen Symbols etwas schärfer zu konturieren, gliedern sich Joachim Jacob 150 in vier Abschnitte. Nach einer kurzen forschungsgeschichtlichen Situierung meines Themas (I) möchte ich zunächst zwei systematische ‚Urszenen’ der Symboltheorie vorstellen (II), die für die von mir verfolgte Perspektive von besonderer Bedeutung sind, um dann in einem knappen Überblick vier maßgebliche Wendepunkte der literarisch-ästhetischen Symboltheorie in diesem Zusammenhang zu skizzieren (III). Ich schließe mit einigen Bemerkungen zu einem hieraus abzuleitenden, möglicherweise zeitgemäßen Gebrauch des, so meine Überzeugung, keineswegs obsoleten Begriffs des Symbols für die literaturwissenschaftliche Praxis (IV). I. Überdruss „Symbol [...] bildhaftes Zeichen, das über sich hinaus auf höhere geistige Zusammenhänge weist, für die Veranschaulichung eines Begriffs, als sinnliches Zeugnis für Ideenhaftes.“ (Schweikle: 2 1990, 450) Im Unterschied zur alltäglichen Rede über Literatur, über Lyrik insbesondere, in der es meist von ‚Symbolen’ nur so wimmelt (insbesondere dann, wenn es etwas kniffliger wird), haben sich die Literaturwissenschaft und die Literaturtheorie vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer getan mit dem Symbol. Sie tun es immer noch. Denn wenn die Aktualität des Symbols (Berndt u.a.: 2005) reklamiert werden muss, ist dies ein sicheres Indiz dafür, dass es dies eben (noch) nicht ist, aktuell. So fasst Gerhard Kurz in seiner einschlägigen Darstellung Metapher, Allegorie, Symbol zu Beginn des dem Symbol gewidmeten Abschnitts zusammen: „In der literaturwissenschaftlichen Diskussion seit den [19]60er Jahren herrschte eine auffallende Zurückhaltung gegenüber dem Begriff des Symbols“ (Kurz: 5 2004, 70). Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert (die interessante Ausnahme, die hier die Regel bestätigt, ist Jürgen Links Versuch der Modernisierung des Begriffs in seinem dann Schule gemacht habenden Konzept der Kollektivsymbolik, s. Link: 1988; Drews u.a. 1985; Becker u.a. 1997; sowie auch Michael Titzmanns wichtige Monographie von 1978, die vor allem in methodologischer Hinsicht „Unsicherheiten im Umgang“ mit dem Symbol konstatiert, Titzmann: 1978, 19). Diese „Zurückhaltung“ gegenüber dem Symbol in der deutschen Literaturwissenschaft, die Kurz mit sprechenden Beispielen belegt, hat Gründe. Denn nicht nur, dass es nicht sehr leicht ist, zu bestimmen oder sich gar darüber zu einigen, was denn ein Symbol ist, und wie es zum Beispiel von anderen sprachlichen Figuren und Formen wie der Allegorie, der Metapher, dem Motiv oder allgemeiner vom sprachlichen Bild abzugrenzen ist, sondern Literaturwissenschaft und Literaturtheorie tun sich schwer mit dem Symbol, weil sie es immer auch mit großen Ansprüchen befrachtet haben seit Johann Wolfgang Goethe im späten 18. Jahrhundert die bis dahin nicht existierende Unterscheidung von ‚Allegorie’ und ‚Symbol’ zu einer polemischen Profilierung seines eigenen Symbolverständnisses einführte. Die Allegorie, so Goethes oft zitierte Bestimmung, nehme „das Besondere nur als Beispiel“ eines Allgemeinen, Abstrakten, wogegen es „eigentlich die Natur der Poesie“ ausmache „ein Symboltheorie und Literatur 151 Besonderes“ auszusprechen, „ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen“: „Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.“ (Goethe: 9 1981, 471) Goethe nennt an dieser Stelle nicht ausdrücklich den Begriff des Symbols, aber der Sache nach ist es die ‚symbolische’ Darstellungsweise die „ein Besonderes“ als ein Besonderes, für sich Geltendes lebendig ausspricht, ohne schon („oder erst spät“) an ein Allgemeines zu denken. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen. Seit dieser Epoche machenden Abwertung der Allegorie für eine ‚lebendige Poesie’ und der Aufwertung des Symbols zum eigentlichen Darstellungsideal der Dichtung ist das Symbol, durchaus nicht immer im Goethe’schen Sinne, aber immer mit Berufung auf seine Autorität, mit der Last großer Synthesen beladen worden: Anschauung und Bedeutung sollten sich im Symbol vereinen und harmonisch zu einander finden, Form und Leben, das Innere und das Äußere, Mensch und Welt, Natur und Geist. Im Symbol sollte sich die Literatur verdichten, zum Bild und zugleich eindringlich werden, über sich hinaus auf das große Ganze weisen und den Blick in höhere Bereiche lenken. Ja, die ästhetische Erfahrung und die Kunst überhaupt sollten im Symbol aufgehen. Solche Behauptungen und mit ihnen mitformulierte Erwartungen mussten Widerspruch provozieren oder aber - und schlimmer noch - angesichts der vermeintlichen Allzuständigkeit des Symbolischen Langeweile. Noch einmal Gerhard Kurz: „Ein nur zu verständliches Motiv dieser Zurückhaltung [der neueren Literaturwissenschaft; J.J.] war und ist der Überdruß am zuvor inflationären und ideologisch aufgeladenen Gebrauch des Symbolbegriffs. Wie so oft war ein Begriff nicht aufgegeben worden, weil er widerlegt, sondern weil man seiner überdrüssig wurde.“ (Kurz: 5 2004, 70) Wenn nun jedoch die Anzeichen nicht täuschen, ist nach der anhaltenden Konjunktur der Skepsis gegenüber dem besonderen ästhetischen Anspruch des Symbols, deren letzter Ausläufer die poststrukturalistische Dekonstruktion gewesen ist (ich werde auch auf sie noch einmal zu sprechen kommen), wieder Bewegung und neue Aufmerksamkeit in die Debatte gekommen, denn „Symbole sind allgegenwärtig! - Jede kulturelle Praxis ist stets und notwendig von Akten der Symbolproduktion und -lektüre begleitet“, und literarische Texte sind davon nicht ausgenommen (Berndt: 2005, 7). So scheint es in den eigentümlichen Amplitudenbewegungen geisteswissenschaftlicher Forschung und den mit ihnen verbundenen Aufmerksamkeitskonjunkturen nun wieder möglich, sich dem Symbolbegriff und seiner langen, komplexen Geschichte (vgl. Sørensen: 1963, Todorov: 1995, Rolf: 2006) vergleichsweise unvoreingenommen zu nähern und ihn kritisch auf seine Brauchbarkeit und Notwendigkeit hin zu befragen. Joachim Jacob 152 II. Zwei Urszenen der Symboltheorie Ich möchte mit einer längeren Passage aus Platons Symposion beginnen, die zunächst einmal nichts mit unserem Thema zu tun zu haben scheint und genau genommen auch keine ‚Szene’ darstellt, sondern eine Geschichte erzählt, einen mythos, der veranschaulichen soll, warum wir uns eigentlich lieben: „Unsere ehemalige Natur war [...] nicht dieselbige wie jetzt, sondern ganz eine andere [...] die ganze Gestalt eines jeden Menschen [war] rund, so daß Rücken und Brust im Kreise herumgingen. Und vier Hände hatte jeder und Schenkel ebensoviel wie Hände, und zwei Angesichter auf einem kreisrunden Halse einander genau ähnlich und einen gemeinschaftlichen Kopf für beide einander gegenüberstehende Angesichter, und vier Ohren, auch zweifache Schamteile und alles übrige, wie es sich hieraus ein jeder weiter ausbilden kann. [...] Und kreisförmig waren sie selbst und ihr Gang, um ihren Erzeugern ähnlich zu sein. An Kraft und Stärke nun waren sie gewaltig und hatten auch große Gedanken, [...] daß sie sich einen Zugang zum Himmel bahnen wollten, um die Götter anzugreifen. Zeus also und die anderen Götter berieten, was sie ihnen tun sollten, und wußten nicht was. Denn es war weder tunlich, sie zu töten und wie die Giganten sie niederdonnernd das ganze Geschlecht wegzuschaffen - denn so wären ihnen auch die Ehrenbezeugungen und die Opfer der Menschen mit weggeschafft worden - noch konnten sie sie weiter freveln lassen. Mit Mühe endlich hatte sich Zeus etwas ersonnen und sagte: Ich glaube nun ein Mittel zu haben, wie es noch weiter Menschen geben kann und sie doch aufhören müssen mit ihrer Ausgelassenheit, wenn sie nämlich schwächer geworden sind. Denn jetzt, sprach er, will ich sie jeden in zwei Hälften zerschneiden, so werden sie schwächer sein und doch zugleich uns nützlicher, weil ihrer mehr geworden sind. Und aufrecht sollen sie gehen auf zwei Beinen. Sollte ich aber merken, daß sie noch weiter freveln und nicht Ruhe halten wollen, so will ich sie, sprach er, noch einmal zerschneiden, und sie mögen dann auf einem Beine fortkommen wie Kreisel. Dies gesagt, zerschnitt er die Menschen in zwei Hälften, wie wenn man Früchte zerschneidet, um sie einzumachen [...]. Sobald er aber einen zerschnitten hatte, befahl er dem Apollon, ihm das Gesicht und den halben Hals herumzudrehen nach dem Schnitte hin, damit der Mensch, seine Zerschnittenheit vor Augen habend, sittsamer würde, und das übrige befahl er ihm auch zu heilen. [...] Nachdem nun die Gestalt entzweigeschnitten war, sehnte sich jedes nach seiner andern Hälfte, und so kamen sie zusammen, umfaßten sich mit den Armen und schlangen sich ineinander, und über dem Begehren, zusammenzuwachsen, starben sie aus Hunger und sonstiger Fahrlässigkeit, weil sie nichts getrennt voneinander tun wollten. War nun die eine Hälfte tot und die andere blieb übrig, so suchte sich die übriggebliebene eine andere und umschlang sie, mochte sie nun auf die Hälfte einer ehemaligen ganzen Frau treffen, was wir jetzt eine Frau nennen, oder auf die eines Mannes, und so kamen sie um. Da erbarmte sich Zeus und gab ihnen ein anderes Mittel an die Hand, indem er ihnen die Schamteile nach vorne verlegte [...] und bewirkte vermittelst ihrer das Erzeugen ineinander, in dem weiblichen durch das männliche, deshalb, damit in der Umarmung, wenn der Mann eine Frau träfe, sie zugleich erzeugten und Nachkommenschaft entstände, wenn aber ein Mann den andern, sie doch eine Befriedigung hätten durch ihr Zusammensein und erquickt sich zu ihren Geschäften wenden und, was sonst zum Leben gehört, besorgen könnten. Von so langem her also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wieder herzustellen, und versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen. Symboltheorie und Literatur 153 Jeder von uns ist also ein Stück [orig.: symbolon] von einem Menschen, da wir ja, zerschnitten wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Also sucht nun immer jedes sein anderes Stück.“ (Platon: 1974, 267-275 [189d-191d]) Der Mythos von der Teilung des Menschen, den Platon im Symposion (um 380 v. Chr.) erzählt, führt am Ende des hier zitierten Ausschnitts den Begriff des Symbols als eine Metapher ein. Jeder Mensch ist als ein symbolon eines ursprünglichen Menschen vorzustellen, als eine Hälfte eines als Freundschaftszeichen zerschnittenen und aufbewahrten Würfels, wie es antike, überlieferte Praxis war: Zwei Menschen zerschneiden einen Ring oder einen Würfel und jeder bewahrt eine Hälfte als Andenken an den anderen auf. Aus Platons veranschaulichender Metapher lassen sich Momente eines Symbol- Begriffs gewinnen, die in der komplexen und verwirrenden Geschichte dieses Begriffs bis in die Gegenwart hinein immer wieder artikuliert und bedeutsam geworden sind. Das Symbol, so ließe sich die ursprüngliche Bedeutung als Würfelteil deuten, ist ‚nur’ ein, an sich bedeutungsleeres, Zeichen, es ist nur ein Bild, nur eine Verabredung. Entscheidend ist lediglich, dass es zwei gibt, die auf einander verweisen, weil zwei sich mit ihrer Hilfe aneinander erinnern. Das Symbol in diesem Sinn ist eine bloße Marke, deren äußere Gestalt recht egal ist. Nur praktisch sollte sie sein. Es ist ein Zeichen, auf dessen Bedeutung sich zwei oder mehr verständigt haben: etwas ‚Zusammen-Geworfenes’, wie ‚Symbol’ wörtlich heißt. In diesem Sinne sind z.B. mathematische Zeichen willkürlich verabredete, konventionelle Symbole. Aber auch etwa noch im Sprachgebrauch der leibniz-wolffianischen Philosophie im 18. Jahrhundert - dem Jahrhundert, in dem sich ein anderer, ästhetischer Symbolbegriff entwickeln wird - ist eine Erkenntnis dann eine ‚symbolische’ Erkenntnis, wenn sie auf willkürliche Zeichen zu ihrer Darstellung angewiesen ist, im Unterschied zu einer ‚intuitiven’ Erkenntnis, die unmittelbar funktioniert, nicht den Umweg über die Zeichen, z.B. über die Sprache, gehen muss (Leibniz: 2 1985, 33, 37). Und so verwendet beispielsweise nach Platon auch Aristoteles in seiner Schrift De interpretatione den Begriff des Symbols: für frei gewählte sprachliche Zeichen, mit deren Hilfe beliebige „Vorgänge [...] im innern Bewußtsein“ eines Menschen zur Sprache kommen und auf diese Weise dargestellt und kommuniziert werden können (Aristoteles: 1998, 97 [16a]). Aber dieses Ergebnis rechtfertigt noch nicht den Aufwand einer langen Geschichte, an deren Ende die symbola als Freundschaftszeichen erscheinen. Im Kontext des platonischen Mythos sind die beiden symbola aber nun auch nicht nur konventionelle Zeichen, sondern sie sind noch mehr. Platon nimmt ihren üblichen Gebrauch als bloße Marken, Tonscherben oder Würfelhälften auf, um das Zerbrochensein einer ursprünglichen, heilen, einen Menschennatur zu veranschaulichen. Die symbola verweisen also nicht nur aufeinander, sondern sie verweisen auch auf eine ursprüngliche ungeteilte Zusammengehörigkeit, auf eine Vollkommenheit, die nun, in der Gegenwart der Erzählung, zerbrochen ist - und zerbrochen bleibt: „Daher sucht denn jeder beständig seine andere Hälfte.“ Die mythische Zusammengehörigkeit wird in Platons Erzählung nicht wiederhergestellt (dies möchte ich gegen Hans-Georg Gadamers Deutung dieses Mythos im Kontext seiner Symboltheorie festhalten, der Joachim Jacob 154 Platons Erzählung als „tiefsinnige[s] Gleichnis für Seelenfindung“ deutet, für das Wesen der „Liebe, daß sich die Erwartung, etwas sei das zum Heilen ergänzende Bruchstück, in der Begegnung erfüllt“, Gadamer 1977, 42; meine Hervorhebung, J.J.). Sondern Platons Bild der symbola soll dem Zuhörer vielmehr eine Dynamik erklären, die ungeheure Energie des Eros, mit der wir den Geliebten oder die Geliebte suchen, nach Vereinigung und schließlich nach dem Schönen streben. Das Symbol fungiert in Platons Symposion demnach als Ausdruck einer Differenz und als ein Versprechen zugleich. Es verweist, so kann man zusammenfassen, auf einen Zusammenhang und auf eine unendliche Bewegung. Die zweite Szene ist sehr viel kürzer, und sie braucht keine Einführung: „ABer am ersten tage der süssenbrot / tratten die Jünger zu Jhesu / vnd sprachen zu jm / Wo wiltu / das wir dir bereiten das Osterlamb zu essen? Er sprach / Gehet hin in die Stad / zu einem / vnd sprecht zu jm / Der Meister lesst dir sagen / meine zeit ist hie / ich wil bey dir die Ostern halten / mit meinen Jüngern. Vnd die Jünger thaten / wie jnen Jhesus befolhen hatte / vnd bereiteten das Osterlamb. [...] DA sie aber assen / Nam Jhesus das Brot / dancket / vnd brachs vnd gabs den Jüngern / vnd sprach / Nemet / esset / Das ist mein Leib. Vnd er nam den Kelch / vnd dancket / gab jnen den / vnd sprach / Trincket alle draus / Das ist mein Blut des newen Testaments / welchs vergossen wird fur viel / zur vergebung der sünden. Jch sage euch / Jch werde von nu an nicht mehr von diesem gewechs des weinstocks trincken / bis an den tag / da ichs newe trincken werde mit euch in meines Vaters Reich.“ (Mt 26,17-29; vgl. 1 Kor 11, 20-34) Die Schilderung des Abendmahls Jesu mit seinen Jüngern, das den Ritus des Sederabends des jüdischen Pessach-Fests aufnimmt, an dem im Familienkreis Lämmer und ungesäuertes Brot in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten verzehrt werden, gehört zweifellos zu den zentralen Texten der abendländischen Überlieferung. Ich enthalte mich jeder theologischen Auslegung dieser hochkomplexen Darstellung, der auch die Berichte in den anderen Evangelien und der aus Paulus’ 1. Korintherbrief an die Seite zu stellen wären (vgl. dazu den theologiegeschichtlichen Abriss in bildästhetischer Perspektive bei Gärtner: 2002, 115-265) und möchte nur noch einmal auf das zentrale Bezeichnungsgeschehen aufmerksam machen, das die Abendmahlsszene entfaltet: „Nam Jhesus das Brot / dancket / vnd brachs vnd gabs den Jüngern / vnd sprach / Nemet / esset / Das ist mein Leib. Vnd er nam den Kelch / vnd dancket / gab jnen den / vnd sprach / Trincket alle draus / Das ist mein Blut des newen Testaments / welchs vergossen wird fur viel / zur vergebung der sünden.“ (meine Hervorhebung, J.J.) Durch den Sprechakt der Identifikation stellt Jesus eine Beziehung zwischen dem Brot und seinem Leib, zwischen seinem Blut und dem Wein her, die nach Lukas 22,19 Brot und Wein zu Gedächtniszeichen erhebt: „Das thut zu meinem Gedechtnis“, und das christliche Abendmahl zu einem Symbol der Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus werden lässt. Die bekanntlich theologisch bis heute höchst umstrittene Frage ist, ob Christus und wie er während des Abendmahls bzw. während der Eucharistie in Brot und Wein gegenwärtig ist, muss nicht zur Entscheidung ge- Symboltheorie und Literatur 155 bracht werden, um zu erkennen, dass die westlich-abendländische Kultur den Einsetzungsworten Jesu und ihrer Tradierung im Christentum bis in die Gegenwart ein überaus wirkungsmächtiges Symbolverständnis verdankt, das - und darauf kommt es nun an - auf der besonderen Substanz der eingesetzten Zeichen aufruht, die nicht beliebig auszutauschen sind. Denn Brot und Wein sind mehr als bloße Konvention, sie sind Zeichen, die in ihrem sakramentalen Gebrauch als Symbole zwar über sich hinaus weisen, aber als Brot und Wein, die sie sind. So sind nach christlichem Glauben: 1. Brot und Wein in einer konkreten historischen Situation von Jesus von Nazareth als Zeichen eingesetzt, und sie sollen auch an diese historische Situation erinnern; 2. Brot und Wein auf eine konkrete, bestimmbare Gemeinschaft von Gläubigen mit dem auferstandenen Jesus Christus bezogen; 3. Brot und Wein schließlich keine willkürlich gewählten Würfelhälften, Tonscherben oder zufälligen Zeichen, sondern in ihren konkreten Eigenschaften als Brot und Wein selbst bedeutsam: sie sind nicht nur Sinnbilder des Lebens, sondern auch Lebensmittel, sie sind nicht nur Sinnbilder der Wandlung, sondern selbst aus Bearbeitung und Verwandlung von Korn und Trauben hervorgegangen. Zusammengefasst: Der symbolische Verweisungscharakter, mit dem Brot und Wein im Ritus des Abendmahls belegt werden, gibt ein Modell „realisierende[r] Zeichenhandlung“ vor (Gärtner: 2002, 117), in dem von der konkreten Realität des verweisenden Zeichens nicht zu abstrahieren ist. An dieses theologische Erbe des Symbolbegriffs hat in der Moderne Walter Benjamin nachdrücklich erinnert, wenn er sich kritisch dagegen wendet „im Kunstwerk [von der] ‚Erscheinung’ einer ‚Idee’ als ‚Symbol’“ zu sprechen, und stattdessen auf einem Verständnis des Symbols als „Einheit von sinnlichem und übersinnlichem Gegenstand“ besteht, auf der „Paradoxie des theologischen Symbols“ (Benjamin: 1991, 336). Und auf dieses theologische Erbe spielt auch Georges Steiners Essay Von realer Gegenwart und seiner Frage nach der Welthaltigkeit unseres Sprechens noch an, der im englischen Original Real Presences heißt und damit direkt an die christliche Vorstellung von der „Real Presence“, der Realpräsenz Christi im Abendmahl, anschließt (vgl. Strauß: 1990, 307f.), um sie jedoch im Plural der „Presences“ einer Umbesetzung zu öffnen, die im Falle Steiners auf Transzendenz allerdings nicht verzichten will (Steiner: 1990, 13f. und pass.). ‚Urszenen’ der Symboltheorie können Platons Mythos aus dem Symposion und die Berichte der Evangelisten vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern genannt werden, weil aus ihnen, wie ich im Weiteren wenigstens andeuten will, Argumente zu gewinnen sind, warum es jenseits von Glaubensfragen sinnvoll ist, am Begriff des Symbols (der im Neuen Testament übrigens nicht vorkommt) in der Literaturtheorie und in der literaturwissenschaftlichen Praxis festzuhalten. Denn es kommt hier auf eine Vorstellung des Symbols an, die durch das Christentum (wenn auch sicher nicht durch es allein) eine besonders wirkmächtige Verbreitung erfahren hat: eine Zeichenbeziehung zu denken, in der Zeichen und Bezeichnetes intensiver mit einander verbunden sind, als nur durch eine zufällige Verbindung, die das symbolische Zei- Joachim Jacob 156 chen mit Wirklichkeit, mit Sinnlichkeit, mit Realität auflädt. Und die zugleich, wie bei Platon zu lernen ist, Dynamik und Differenz darum nicht fahren lassen muss. Andererseits will ich aber auch deutlich zu machen versuchen, warum es m.E. nötig ist, den Symbolbegriff von einigen Hypotheken zu befreien, die sich im Laufe seiner Geschichte auf ihm angesammelt haben und die auch das ästhetische Symbol im 19. Jahrhundert nicht selten zu einer metaphysisch belegten ‚Glaubensfrage’ gemacht haben. Darum sollen nun zunächst vier besonders bedeutsame Scharnierstellen der ästhetischen Symboltheorie, die literaturtheoretisch in der hier von mir gewählten Perspektive von besonderem Belang gewesen sind, in Erinnerung gerufen werden, um dann in einem letzten, abschließenden Teil auf die eben angestellten Überlegungen noch einmal zurückzukommen. III. Positionen der ästhetischen Symboltheorie - ein Überblick Wenn es in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung über lange Zeit ein schlechter Brauch war, die Geschichte der deutschen Literatur teleologisch auf Werk und Person Johann Wolfgang Goethes auszurichten, so scheint er mir für die Geschichte der Symboltheorie tatsächlich insofern angemessen und berechtigt, als Goethes Differenzierung von ‚Allegorie’ und ‚Symbol’ in der Tat eine Wende der Theoriegeschichte darstellt, auf die sich - in Zustimmung oder Kritik - bis heute jeder und jede bezieht, die über das literarische Symbol nachdenken (auch die Beiträge im zitierten Band zur Aktualität des Symbols führen es vor Augen). Für Goethe wiederum ist ein besonders wichtiger, manchmal unterschätzter, Bezugspunkt Johann Joachim Winckelmann gewesen, der Begründer der wissenschaftlichen Kunstgeschichte, der 1755 mit seiner Erstlingsschrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst Furore machte und mit ihr auch der Reflexion der Struktur ästhetischer Darstellung wichtige Impulse gab. Denn in dieser Schrift wie in einer Reihe weiterer folgender (z.B. Von der Grazie in den Werken der Kunst, 1759; Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, 1766) beschäftigt sich Winckelmann mit der Frage, wie es gelingen kann, in den sinnlichen und in ihrer Wahrnehmung zunächst den äußeren Sinnen des Sehens und Tastens verhafteten Künsten der Malerei und der Bildhauerei dennoch geistige Gehalte zur Anschauung zu bringen, die sich eben nicht ertasten oder betrachten lassen. Es gelingt, so Winckelmanns Antwort, vermittels der Allegorie. Auf dem Wege allegorischer Darstellung ist auch der bildende Künstler in der Lage mit seinen Mitteln, mit Leinwand, Farbe oder Stein einen geistigen Gehalt zur Darstellung zu bringen: „Scheinet die Vorstellung möglich, so ist sie es nur allein durch den Weg der Allegorie, durch Bilder, die allgemeine Begriffe bedeuten.“ (Winckelmann: 1972a, 37) Mehr noch, oberstes Ziel des Künstlers müsse es sein, solche geistigen, nicht sinnlichen Gehalte in seiner Kunst zur Darstellung zu bringen, denn er hat „eine Seele [...], die denken gelernet“ (Winckelmann: 1972a, 36), und er hat, so muss man hinzufügen, auch ein aufgeklärtes Publikum, dass „denken gelernet“ und angemessen vor seiner Kunst beschäftigt sein will: „Der Pinsel, den der Künstler führet, soll in Verstand Symboltheorie und Literatur 157 getunkt seyn [...]: Er soll mehr zu denken hinterlassen als was er dem Auge gezeiget“ (Winckelmann: 1972a, 38). Darum ist es die Aufgabe des gegenwärtigen Künstlers neue geistige Gehalte für die bildende Kunst zu erschließen und nicht immer weiter fort die „Geschichte der Heiligen, die Fabeln und [die Ovid’schen] Verwandlungen“ durchzukauen, wie es die „Maler seit einigen Jahrhunderten“ einfallslos getan hätten (Winckelmann: 1972a, 36). Wenn Winckelmann in der gleichen Schrift von „Symbola“ spricht (Winckelmann: 1972a, 37), dann meint er dagegen allgemeine, abstrakte Zeichen im Sinne des damaligen, oben schon angedeuteten Sprachgebrauchs, denen er „sinnliche Bilder“ mit Anschauungskraft gegenüber stellt. Der „allegorische[...]“ Künstler, gleich ob er Maler oder Literat ist, solle und könne, so Winckelmann, allerdings sowohl mit diesen wie mit jenen operieren, um zu neuen Darstellungsmöglichkeiten und gegenständen zu kommen. Winckelmanns primäre Motivation und Argumentationsrichtung ist demnach also nicht, Geistiges nachträglich zu versinnlichen, wie es Goethe dem ‚Allegoriker’ später zuschreiben wird, sondern es geht vielmehr umgekehrt darum, die konkrete Sinnlichkeit des Materials und des mit seiner Hilfe Dargestellten mit geistiger, allgemeiner Bedeutung zu versehen. Ebenso wie nach Winckelmanns Vorstellung auch in Mythologie, Dichtung oder auf „Steinen, Münzen und Geräthen“ durch „sinnliche[...] Figuren und Bilder“ erst „allgemeine Begriffe dichterisch gebildet worden“ seien (Winckelmann: 1972a, 38). So ist Winckelmann zufolge auch nicht der Geist, sondern die Natur die Lehrerin der Allegorie, wie er in seinem späteren Versuch einer Allegorie hervorhebt: „Die Natur selbst ist der Lehrer der Allegorie gewesen, und diese Sprache scheinet ihr eigener als die nachher erfundene Zeichen unserer Gedanken“ (Winckelmann: 1972b, 42). Darum ist zuletzt vom Künstler gefordert, dass er, „seine Gedanken in Allegorien nicht zu verstecken, sondern einzukleiden“ habe (Winckelmann: 1972a, 38). Die Allegorie in Winckelmanns Sinn, die neue, nach Winckelmanns Urteil noch nicht verwirklichte, sondern anzustrebende und erst wieder zu erlernende Kunst, ist gerade kein Versteckspiel, keine Rätselaufgabe für ein gelehrtes Publikum. Sie ist eine ‚Einkleidung’, nach dem alten rhetorischen Bild des ornatus (des ‚Kleids’), ein Darstellungsmittel, das mit seinem Gehalt verschmilzt, nicht von ihm zu trennen ist, sondern ihn überhaupt erst sichtbar macht. * Meinte die Allegorie somit bei Winckelmann die innige Vermittlung von Sinnlichem und Übersinnlichem überhaupt, so differenziert Goethe diesen Zusammenhang aus. Er unterscheidet zwei Verfahren einer solchen Vermittlung und belegt sie mit verschiedenen Begriffen: Allegorie und Symbol. Goethe stellt Allegorie und Symbol kritisch gegenüber, um nun seinerseits die Darstellungsweisen der Literatur zu beschreiben. Die Bedeutungen, mit denen Goethe ‚Allegorie’ und ‚Symbol’ belegt, sind teils neu und brechen mit einem vorherrschenden Sprachgebrauch (u.a. dem Sprachgebrauch Winckelmanns), teils schließen sie an ältere Vorstellungen an - und zu diesen letzteren gehört auch ein theologisches (weitere Hinweise dazu bei Kurz: Joachim Jacob 158 5 2004, 96, Anm. 16), von konkreter Dinglichkeit ausgehendes Symbolverständnis, wie es oben entwickelt wurde. Wobei Goethes Symbolbegriff ein eigener ist und nicht einfach mit der christlichen Tradition identifiziert werden kann. So äußert sich Goethe selbst durchaus kritisch etwa zu den an „Schwärmerei grenzen[den] und mystische Gegenstände aufsuchen[den] [...] meisten Vorstellungen der katholischen Religion“ (Goethe: 1998, 443). Angesichts der Komplexität des Goethe’schen Symbolbegriffs muss ich mich im Weiteren auf wenige, thesenhafte Bemerkungen beschränken. Wie Winckelmann, das wäre die erste These, geht es Goethe um ein neues, gesteigertes Wirklichkeitsbedürfnis in der Kunst, um sinnliche Anschaulichkeit und Prägnanz, die in den Werken aller Künste zum Ausdruck kommen soll, um die Darstellung (nicht einfache Nachahmung! ) der lebendigen Natur, kurz: um die Konkretion des Besonderen in der Kunst und durch die Kunst. Genau für ein solches Darstellungsziel und -verfahren setzt Goethe den Begriff des Symbolischen ein. Die Literatur wird dabei auf die Prägnanz des unersetzbaren, einmaligen und besonderen Gegenstands gewiesen, auf Gegenstände, die für den ‚Augenmenschen’ Goethe vor allem durch das Sehen gewonnen werden (dazu näher in diesem Zusammenhang Jacob: 2005, 180ff.). Symbole sind, wie Goethe an Schiller am 16.8.1797 schreibt, „was ein glückliches Sujet dem Dichter ist, glückliche Gegenstände für den Menschen“ (zit. nach Sørensen: 1972, 127). ‚Glückliche Gegenstände für den Menschen’, das ist eine äußerst bemerkenswerte Formulierung für das, um was es hier geht. Seinen Begriff und seine Deutung der Allegorie setzt Goethe demgegenüber vor allem dazu ein, um seine Auffassung des Symbols kritisch zu profilieren. Wenn die symbolische Darstellung die ‚eigentliche’ „Natur der Poesie“ markiert (Goethe: 9 1981, 471), muss die allegorische sie in der vorhin zitierten Gegenüberstellung der Maximen und Reflexionen verfehlen, genau darum, weil sie das Besondere nur als ein „Beispiel“, als ein bloßes, austauschbares „Exempel“ für eine allgemeine, begriffliche Erkenntnis nimmt. Entsprechend aktiviert die Allegorie vor allem den Verstand (wo das Symbol über die Anschauung auch Herz und Sinn anzusprechen vermag): sei es im allegorischen und allein scharfsinnig aufzulösenden Rätselbild, sei es im Versagen der Darstellung, die statt Symbolen ‚nur noch’ Allegorien präsentieren kann. Im gleichen Jahr, 1797, aus dem auch der einschlägige Brief an Schiller datiert, in dem Goethe seine Entdeckung des Symbols formuliert, fällt Goethe in einem kleinen Aufsatz für die Propyläen: Über die Gegenstände der bildenden Kunst (1797) - in der Theorie jedenfalls - auch das endgültige Verdikt über die Allegorie: „Nun gibt es auch Kunstwerke, die durch Verstand, Witz, Galanterie brilliren, wohin wir auch alle allegorischen rechnen; von diesen läßt sich am wenigsten Gutes erwarten, weil sie gleichfalls das Interesse an der Darstellung selbst zerstören und den Geist gleichsam in sich selbst zurücktreiben und seinen Augen das, was wirklich dargestellt ist, entziehen.“ (Goethe: 1998, 443) Dem allegorischen Kunstwerk wirft Goethe demnach vor, in der einseitigen Ansprache des Verstandes und im direkten Verweis auf höhere geistige Sphären, „das Inter- Symboltheorie und Literatur 159 esse an der Darstellung selbst“ zu „zerstören“ und d.h. sowohl von der Kunst als aber auch von ihrem Gegenstand, der lebendigen Wirklichkeit, abzulenken, und stattdessen „den Geist gleichsam in sich selbst zurück[zu]treiben“. Darin liegt offensichtlich das Glück nicht. Das Glück der ‚glücklichen Gegenstände für den Menschen’, wie Goethe im Unterschied dazu das Symbol und die symbolische Darstellungsweise charakterisierte, gründet, wie man aus dieser Passage indirekt schließen kann, im Gegenteil darin, dem menschlichen Geist das Glück der sinnlichen Wahrnehmung zu erhalten: ihn in den Gegenständen der wirklichen Welt, dessen, „was wirklich dargestellt ist“, zu beheimaten. Dazu gehört schließlich auch, was man vielleicht als Glück des Geistes bezeichnen könnte, dass der ‚glückliche Gegenstand’ zugleich, wie es Goethe in seinem Brief an Schiller beschreibt, „eine gewisse Totalität in sich schließen, eine gewisse Reihe fordern“, schließlich „von außen wie von innen an eine gewisse Einheit und Allheit Anspruch [zu] machen“ scheint (Sørensen: 1972, 127). Das Glück des Symbols - im Brief schließt die doppelte Wendung des ‚glücklichen Sujets’ für den Dichter, das auch den ‚glücklichen Gegenstand’ für den Menschen ausmache, unmittelbar an diese Reihe an - scheint also darin zu bestehen, dass es in der Darstellung der wahrnehmbaren Wirklichkeit auch eine Erwartung von Totalität und Einheit in dieser Wirklichkeit stimulieren kann, die das erkennende und wahrnehmende Subjekt „von außen wie von innen“ umfasst. Die Mehrdeutigkeit des kaum ohne Grund dabei dreimal wiederholten ‚gewisse’ weist jedoch auf einen Vorbehalt hin, der uns an Platons Mythos im Symposion zurückerinnern kann. Auch dort war ja von einer Einheit, auf welche die symbola verweisen, die Rede, aber auch dort stand die Einheit unter dem Vorbehalt, dass sie nie wirklich gelingt und sich vollendet, sondern dass sie das Telos einer unendlichen Bewegung des Eros bleibt - und zugleich im unendlichen liebenden Begehren bewahrt ist. * Die nachmalige Rezeption des Goethe’schen Symbolbegriffs hat diese Behutsamkeit Goethes oft überhört und den Symbolbegriff, der schon bei Goethe viel zu tragen hat, noch weiter mit Anspruch und Bedeutung aufgeladen. Wider Willen hat sie damit zugleich die Kritik und schließlich den Verfall des Symbolbegriffs vorbereitet. Zur Illustration dieser Behauptung möchte ich abschließend noch in aller Kürze zwei sich polar gegenüberstehende Positionen aus der Rezeptionsgeschichte des goethezeitlichen Symbolbegriffs anführen: Zum einen die des Literaten, Philosophen und Ästhetikers Friedrich Theodor Vischer, der am Ende des 19. Jahrhunderts gegen die befürchtete Erosion eines wirklichkeitsgesättigten Kunstverständnisses durch eine formalistische Ästhetik (hier Johann Friedrich Herbarts und Robert Zimmermanns; vgl. Schneider 2001, bes. 271f.) die Bedeutung des ästhetischen Symbols noch einmal ausdrücklich verteidigt; zum anderen die bereits eingangs angedeutete Kritik des Symbols bei Paul de Man, die dieses als besonders sinnfälligen Ausdruck der „Ideologie des Ästhetischen“ überhaupt erweisen will. Joachim Jacob 160 Der heute weitgehend vergessene Friedrich Theodor Vischer, Verfasser einer monumentalen sechsbändigen Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (Reutlingen/ Leipzig 1846-58), unterzieht am Ende seines Lebens sein eigenes ästhetiktheoretisches Lebenswerk in einer Kritik meiner Ästhetik (1866/ 1873) einer fundamentalen Revision. Ihre Motivation kann hier beiseite bleiben (vgl. dazu Oelmüller: 1959), wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass Vischers Selbstkritik sich auch auf seinen früheren Symbolbegriff richtet, der nämlich in der Ästhetik noch ,kurz gesagt, eine unvollkommene ästhetische Darstellung meinte (wie Hegel im Rückgriff auf die ältere, vorgoethezeitliche Terminologie das Symbol definiert hatte: Hegel: 1986, Bd. 1, 393ff.; Vischer 2 1996, Teil 2, §§ 426ff.), während Vischer nun in der Kritik seiner Ästhetik dem Symbol eine gewaltige Rolle zumisst, nämlich die Einheit zwischen Form und Inhalt im Kunstwerk, dann aber vor allem auch die Einheit zwischen der menschlichen Seele und der Welt zu stiften (Vischer 2 1922, 320). In einer letzten, nun direkt Das Symbol (1887) ins Zentrum rückenden Abhandlung führt Vischer aus, wie sich im Symbol der natürliche Drang der Seele vollziehe, die Natur zu beseelen, und sich in der „Tiefe und Innigkeit“ dieses Aktes das Bewusstsein auflöse, es hier lediglich mit einer ästhetisches Fiktion zu tun zu haben (während im religiösen Symbolgebrauch, so Vischer, illusionärerweise das Symbol noch substantiell verwendet werde, Vischer: 2 1922, 425f.; vgl. Müller-Tamm: 2005, bes. 221ff.). Aber auch hinter dem nach Vischer ‚schwebenden’, halb ernsthaften, halb scherzhaften ästhetischen Gebrauch des Symbols liege die tiefere „Wahrheit aller Wahrheiten, daß das Weltall, Natur und Geist in der Wurzel eines sein muß“ (Vischer: 2 1922, 434). Die „innige Form der Symbolik“ (ebd., 456) der ästhetischen Anschauung weiß sich letztlich auf die Vorstellung einer beseelten Einheit der Welt ausgerichtet. Die Poesie kann, so die hohe Erwartung, im Symbol das vom Verstand zerrissene Weltall heilen und Geist und Natur wieder in eine ursprüngliche schöne Einheit zusammenführen, in die „Ausstrahlung von einem und demselben Grundwesen“ zurück (Vischer 3 1907, 99). Es ist genau diese, auf Einheit und Vereinigung gerichtete Symboltradition, die Paul de Man im Auge hat, wenn er dann vor allem am Beispiel von Wordsworth und Coleridge in seinem schon genannten Essay Die Rhetorik der Zeitlichkeit der vorgeblich verschleiernden Funktion des alteuropäischen Symbolbegriffs nachgeht. Die „Vormachtstellung des Symbols“ seit dem 19. Jahrhundert beruhe, so De Man, auf der irrigen Annahme einer „Einheit zwischen der darstellenden und der bedeutenden Funktion der Sprache“ (De Man: 1993b, 85), d.h. auf der Unterstellung, dass in der Literatur die sprachliche Darstellung und ihre Bedeutung zur Deckung komme, und darüber hinaus auf der Zuversicht, dass sich Erlebnisse und Erfahrungen, kurz die Wirklichkeit, in poetische Sprache umsetzen und bewahren ließen, „in einer Welt aufgehoben, die nicht mehr als eine Mannigfaltigkeit aus isolierten Einzelbedeutungen begriffen wird, sondern als ein Gefüge aus Symbolen, die einen allumfassenden, einmaligen und universalen Sinn aufscheinen lassen.“ (ebd., 84) Das Symbol, wie es Goethe, Schiller und Schelling konzipierten, behaupte, so De Man, Totalität, überzeitlichen Sinn und vor allem die innere Einheit „zwischen der sinnlichen Erscheinung und der durch diese bedeuteten übersinnlichen Ganzheit“, Symboltheorie und Literatur 161 eine Einheit zwischen Natur und Geist, die als sprachlich bruchlos vermittelbare Analogie vorgestellt werde (ebd.). Dass dem nicht so ist, dass es bestenfalls naiv ist, dem Symbol diese Vermittlungsleistungen zuzutrauen, und dass es gerade die Literatur ist, die uns von dieser Naivität heilen kann, ist die tiefe Überzeugung Paul de Mans. Weil nämlich die Literatur an Sprache gebunden ist und ihrer Rhetorizität nicht entkommen kann. So kann nach De Mans Auffassung die Sprache, der sprachliche Ausdruck, die Wirklichkeit zwar ‚bedeuten’, aber er verfehlt sie dabei auch immer. Die Sprache öffnet, aber sie verschließt auch, sie produziert immer „Blindness and Insight“, wie ein berühmter Sammelband De Mans heißt (De Man: 1971). Nicht das Symbol, sondern die Allegorie ist es, die, wie sonst nur die Figur der Ironie (De Man: 1993b, 105ff.), das wahre Wesen der Sprache und der Literatur enthüllt (und verhüllt), und damit das Symbol seiner falschen Ansprüche überführt. Der vermeintliche Anspruch des literarischen Symbols auf Ganzheit, Totalität, Anschaulichkeit und Tiefe, auf die Versöhnung von Subjekt und Objekt, Geist und Natur ist Schein. Die Sprache, auch die Sprache des Symbols kommt nicht zur Wirklichkeit, sondern kann nur allegorisch auf sie deuten. Mit erkennbarer Sympathie verweist De Man auf ein anderes theologisches Erbe, das „die beträchtliche Komplexität des intellektuellen Klimas offenbart, in dem sich in der Folge der Streit zwischen Symbol und Allegorie entwickelt hat“: auf Johann Georg Hamanns „Reflexionen über das allegorische Wesen jeder Sprache“, die der „Idee einer transzendentalen Distanz zwischen der inkarnierten Welt des Menschen und dem göttlichen Ursprung des Worts“ folgen (De Man: 1993b, 84f.). Auch wenn die De Man’sche Lesart des Symbols strategisch simplifizierend ist, was eine genauere Auseinandersetzung zeigen müsste, half De Mans Eintreten für die Allegorie zweifellos, die Überlastung des Symbolbegriffs in der Vergangenheit zu erkennen. Aber über die fällige Kritik hinaus bleibt neben dem Gebot einer historischen differenzierteren Darstellung die Frage, wie denn ein zeitgemäßer Symbolbegriff aussehen könnte? IV. „Symbols grow“ - die Gegenwärtigkeit des Symbols Zunächst einmal ist ein gegenwärtiger ästhetischer Symbolbegriff zu entlasten. Nach der Kritik, durch die er hindurch gegangen ist, muss er nicht mehr alles tragen, was ihm in der Vergangenheit auferlegt worden ist. Weder muss das Symbol von besonderer ‚Tiefe’ sein - was immer auch es sei, was sich in seinem ‚waldigen Inneren’ verberge (Benjamin: 1991, 342) -, noch muss es bildhafte Evidenzerlebnisse oder eine besondere ‚Einheit’, die Einheit der Welt oder gar die Einheit von ‚Geist’ und ‚Natur’ stiften. Goethes dreifach ‚gewisse’ Vorsicht in seinem Brief an Schiller wäre hier zu bedenken, aber auch die Frage zu stellen, ob denn überhaupt eine ‚Einheit’ im glücklichen Gegenstand des Symbols bedeutet sein muss. Aber was macht dann die besondere Differenz und Leistung des ästhetischen Symbols aus? Auf was könnte der Begriff des Symbols im Unterschied und in Abgrenzung zu anderen verwand- Joachim Jacob 162 ten literaturwissenschaftlichen Termini wie Allegorie, Metapher, Bild oder Motiv weisen? Das Symbol ist, mit Goethe, ein glücklicher Gegenstand. Ein Gegenstand, der in seiner konkreten Besonderheit, in seiner Wirklichkeit bedeutsam ist und zugleich auf etwas anderes verweist, was nicht in dieser konkreten Besonderheit zu fassen ist. Die beiden Hälften des Würfels, die symbola, vereinen sich nicht, aber sie suchen sich. Die nahe liegende Frage, ob die Literatur, ob die mit abstrakten Zeichen operierende Sprache solche Gegenstände in ihrer konkreten Gegenständlichkeit überhaupt angemessen repräsentieren kann, scheint mir in diesem Kontext ein Scheinproblem zu sein. Denn es geht hierbei - wie auch die literarische symbolische Praxis zeigt - nicht um eine tatsächliche Konkretion, sondern um den Anspruch eines Autors bzw. eines Textes einerseits und die Bereitschaft der Lesenden andererseits, literarische Formen „dargestellter Gegenständlichkeit“ (Kurz: 2004, 183) mit symbolischer Bedeutung zu identifizieren, mag sie sich auch nur an ein einziges Wort heften: ‚Rose’, ‚Grün’, ‚Brot und Wein’. D.h. das literarische Symbol ist kein Bild, auch nicht im übertragenen Sinne, sondern es ist Sprache. Ob sein intensivierter Wirklichkeitsbezug in besonderer ‚bildhafter’ Prägnanz oder Anschaulichkeit bestehen muss, scheint mir höchst fraglich und auch die literarische Praxis hält m.E. dieser Erwartung nicht stand (man denke nur an eines der häufigsten Verfahren symbolischer Markierung in Texten: die Wiederholung, die per se kaum Anschaulichkeitsgewinne erzeugt). Ähnelt das Symbol der Allegorie, insofern es auch als glücklicher Gegenstand über sich hinaus verweist, akzentuiert die Allegorie nach Goethe hierbei den Rätselcharakter, den Entzug der Sprache oder das Versagen der Vorstellung, ‚treibt den Geist in sich selbst zurück’ oder lässt ihn daran scheitern. Das Symbol dagegen weist auf die Sinnlichkeit und Wirklichkeit zurück, spielt mit der Offensichtlichkeit, ohne doch bei ihr zu bleiben, wodurch sie schließlich auch vom erzählten und erzählbaren Motiv zu unterschieden wäre. Als glücklicher Gegenstand ist das Symbol schließlich auch keine Metapher, die vielmehr ein Ausdruck sprachlicher Kreativität in der Dimension der Sprache ist, ein Sprachgeschehen beschreibt, das unsere Vorstellung der Wirklichkeit und unsere Sprachfähigkeit ihr gegenüber erweitert. Neben diesen terminologischen Abgrenzungen, die ich hier nur höchst holzschnitthaft vorgenommen habe, die aber helfen können, das Phänomen, um das es geht, besser zu begreifen (einen alternativen Definitionsvorschlag unterbreitet Kurz, demzufolge das literarische Symbol durch das Stiften eines besonderen, lebensweltlich begründeten Zusammenhangs, durch das „Merkmal einer durch analoge oder synekdochische Beziehung motivierten Bedeutung“ gekennzeichnet ist, letztlich „in einem möglichen Sinn menschlichen Seins“ gründet, siehe Kurz: 5 2004, 72f.), ist das literarische Symbol aber vor allem in seiner Geschichtlichkeit ernst und wahr zu nehmen - ein Aspekt, den das vermeintliche Hinausweisen des Symbols in die Ewigkeit oder seine Herkunft aus den Tiefen des Gemüts verstellt hat, und darum ein Thema, bei dem die neuere literaturwissenschaftliche Forschung erst am Anfang steht (Anregungen dazu wie eine Sichtung mag Butzer/ Jacob: 2008 bieten). „Symbols grow“ (Peirce: 2000, 200), notiert der große Semiotiker Charles Sanders Peirce einmal in einem Zusammenhang, in dem er genauer darüber nachdenkt, was sprachliche Zei- Symboltheorie und Literatur 163 chen von bildhaften unterscheidet, welche nämlich, so Peirce, niemals einen einzelnen, konkreten Gegenstand wirklich bezeichnen können. Peirce will mit seinem Begriff des ‚Symbols’ zu dessen „Originalbedeutung“ zurückkehren, nämlich der „eines konventionellen Zeichens oder eines Zeichens, das von einer Verhaltensgewohnheit abhängt“ (Peirce: 2000, 198), was sich auch mit der hier vorgeschlagenen Bedeutung des literarischen Symbols als eines sprachlich arbiträren Zeichens, dem ein besonderer Gegenstandsbezug zugemessen wird, vereinbaren ließe. Aber die Formel „Symbols grow“ macht auf etwas anderes, und gerade auch für die ästhetische Symbolbildung Entscheidendes, aufmerksam: „Symbole wachsen“, und Peirce fährt fort, ihre „Bedeutung wächst im Gebrauch und mit der Erfahrung“ (Peirce: 2000, 200). Übertragen auf das ästhetische Symbol heißt dies: Das literarische Symbol und die symbolische Bedeutung glücklicher Gegenstände sind keine überzeitlichen, sondern sie sind historisch-prozessuale, literarhistorische Phänomene. So hat Michail Bachtin nicht recht, wenn er die poetische Symbolbildung (unter die er in einem weiten Verständnis etwa auch die „Entfaltung einer poetischen Metapher“ fasst), aus der geschichtsgesättigten Mehrstimmigkeit des Romans ausgrenzt und „einer Sprache, einem Horizont“ zuweist, deren „Bewegung [...] die Einheit der Sprache geradezu voraus[setzt], die unmittelbar mit ihrem Gegenstand in Wechselbeziehung steht. Die soziale Redevielfalt, die in das Werk eindringt und seine Sprachen in Schichten zerlegt, würde sowohl eine normale Entwicklung als auch die Bewegung des Symbols in ihr unterbinden.“ (Bachtin: 1979, 189) Auch und gerade ästhetische Symbole sind vielmehr eingelassen in eine bisweilen überaus komplexe Geschichte von Bedeutungstradierungen, kreativer Weiterverarbeitung und Umbesetzungen, und nicht zuletzt auch von Entsymbolisierungsabsichten, wenn beispielsweise eine Rose nur wieder eine Rose, „nur Rose, nichts als Rose“ sein soll, „rose-seule, rien-que-rose“, wie in Rainer Marias Rilkes Cimetière (Rilke: 1974, 611; ich verdanke diesen Hinweis Jörg Schuster). Literarische Symbole sind Teil und in besonderer Weise Konstituens von Literaturgeschichte. So ist auch die symbolische Bedeutung von Brot und Wein - um die ‚wachsende’ Geschichtlichkeit des literarischen Symbols am Ende wenigstens an einem Beispiel anzudeuten - alles andere als fix und starr. Sie schließen als Symbole der christlichen Gemeinschaft und der Gemeinschaft der Gläubigen mit Jesus Christus bereits an etablierte Symbolgeschichten in vorchristlicher Zeit an: an den persischkleinasiatischen Mithraskult ab dem 14. Jahrhundert v. Chr. beispielsweise, in dem das Brot als Sinnbild des sich stets erneuernden Lebens erscheint, oder an die Bedeutung des Weines etwa, die er als Symbol der Lebens im Dionysos-Kult einnimmt (vgl. Hörisch: 1992). Des Weiteren nimmt das christliche Abendmahl, wie erwähnt, die vorhergehende Symbolik des alttestamentlichen Passahmahls auf, bei dem der Verzehr von ungesäuertem (‚süßem’) Brot und einem Lamm an den Auszug des jüdischen Volks aus Ägypten erinnert (Ex 12, 14ff.). Mit und seit dem Neuen Testament knüpfen sich an Brot und Wein eigene Symbolgeschichten an, die nun noch die zentrale christliche Symbolik mit verarbeiten - oder Joachim Jacob 164 sie auch kritisch unterlaufen. So zum Beispiel, wenn die literarische Anakreontik des frühen 18. Jahrhunderts Brot und Wein, natürlich in voller Kenntnis ihrer christlichen Symbolik, zu einem Symbol rein weltlicher Lebens-, Sinnen- und Liebesfreude umdeutet (Häfner: 2009), oder Goethes Werther sich in der berühmten Schlussszene des Romans Die Leiden des jungen Werthers nach dem Empfang der Pistolen, mit denen er sich kurz darauf umbringen wird, auch noch vieldeutig Brot und Wein auftragen lässt. In der ursprünglichen Fassung des Werthers von 1774 heißt es: „Er ließ sich ein Brod und Wein bringen“ (Goethe: 1999, 266). Goethe verdeckt dabei mit dem unbestimmten Artikel „ein Brod“ die christliche Symbolhaftigkeit. In der sprachlich überarbeiteten, schon um Klassizität bemühten späteren Fassung von 1787 heißt es dann dagegen: „Er ließ sich Brot und Wein bringen“ (Goethe: 1999, 267). Die Fortlassung des Artikels: „ließ sich Brot und Wein“ kehrt nun die topische christliche Formel heraus und damit auch den Symbolgehalt der letzten Mahlzeit Werthers. Am Ende des Jahrhunderts überführt Hölderlins geschichtsphilosophische Elegie Brot und Wein (entstanden um 1800) die sakramentalen Symbole und die dionysische antike Lebensfreude in einer wiederum eigenen Wendung (die anakreontische Opposition hinter sich lassend) in eine große menschheitsgeschichtliche Synthese von Dionysos und Christus, Abendmahl und Göttermahl, Antike und Neuzeit, Mythos und Christentum: „Brot ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte gesegnet, Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins. Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit, Darum singen sie auch mit Ernst die Sänger den Weingott Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob.“ (Hölderlin: 2000, 238) Und bei Georg Trakl schließlich ließe sich beobachten, wie Brot und Wein erneut als christliche Symbole des Heiligen in die Lyrik und den Erfahrungshorizont der Moderne kritisch eingeführt werden, so unter anderem in dem Gedicht Menschheit: „Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt, Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen, Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt, Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen: Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld. Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl. Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen Und jene sind versammelt zwölf an Zahl. Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen; Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.“ (Trakl: 1970, 24) Ist mit dieser Reihe, die sich fortsetzen ließe, vielleicht wenigstens angedeutet, was es heißen könnte, dass auch literarische ‚Symbole wachsen’, in ihrem Gebrauch sich mit Bedeutung und Erfahrung anreichern und schließlich noch einen eigenen literarischen Verweisungszusammenhang ausbilden können, so müssen sie aber auch darin, in komplexester symbolischer Dichte, ihre ‚glückliche Gegenständlichkeit’ nicht aufgeben. Wie auch immer sich jedoch ihre Prägnanz und ihr Verständnis im Ein- Symboltheorie und Literatur 165 zelnen gestaltet, ihr Verständnis als literarische Symbole verlangt nach einer Theorie, die eine Literatur-Theorie ist. Literaturverzeichnis: Aristoteles: De interpretatione. Übers. und hg. v. Hans Günter Zekl. Hamburg 1998. Bachtin, Michail M.: „Das Wort im Roman.“ In: ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt a. M. 1979, S. 154-300. 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[= 1972b] Gender-Performativität und theatrale Performance: As You Like It Christina Wald Performance (bisweilen eingedeutscht als ‚Performanz’) und Performativität sind zu eng verknüpften Schlüsselbegriffen in heterogenen Feldern der Geistes- und Kulturwissenschaften geworden, in denen sie unterschiedlich definiert sind, meist aber entlang der semantischen Felder Ausführung und Aufführung. 1 In meinem Beitrag möchte ich mich genauer mit der Bedeutung dieser Terminologie für die Gender Studies beschäftigen, also der interdisziplinären und internationalen Theoriebildung zu Fragen nach der kulturellen Konstitution und Interpretation von Geschlechtsidentität. Judith Butler, US-amerikanische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin, gilt seit den 1990er Jahren als eine der herausragenden Vertreterinnen der Disziplin und ist für ihr Theorem der ‚Performativität von Geschlecht’ gefeiert, aber auch stark kritisiert worden, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Feminismus und der Gender-Studien. Ihre Konzepte wurden so breit rezipiert, dass sie als die in jüngster Zeit einflussreichste Vertreterin einer interdisziplinären Auseinandersetzung mit Konzepten der Performance und Performativität gelten kann. Wie ich im folgenden erläutern werde, hat Butler ihr Konzept der Performativität von Geschlecht zunächst in enger Anlehnung an die Idee der theatralen Aufführung, also der performance, entwickelt, sich in ihren Schriften aber bald von dieser frühen Konzeption distanziert. Ein Anliegen dieses Beitrags ist es, Butlers Theorie zu ihren Ursprüngen zurückzuführen und zu untersuchen, inwieweit ihre Ideen für die Untersuchung von Dramen und theatralen Aufführungen produktiv sein können. Dieser Zugang wirft zugleich die Frage auf, inwieweit Butlers soziologisch, psychoanalytisch und philosophisch geprägte Identitätstheorie auch als Literaturtheorie betrachtet werden kann, oder zumindest als eine Theorie, die innovative Untersuchungen von bestimmten Aspekten literarischer Werke ermöglicht. Die Konzentration auf die Gattung des Dramas soll keineswegs implizieren, dass Gender-Performativität nicht auch eine Analysekategorie für andere literarische Gattungen wie Erzählprosa und Lyrik bietet. Zahlreiche Studien veranschaulichen die Popularität und Produktivität von Butlers Theoremen zur Untersuchung von Identitätskonstruktionen in literarischen Werken aller Gattungen, etwa im Bereich der englischsprachigen Gegenwarts- 1 Vgl. Pfister 2004: 516-518, hier 516. Christina Wald 170 literatur zu den Romanen und Kurzgeschichten von Angela Carter und Jeanette Winterson oder den Gedichten von Sylvia Plath. 2 Ich werde im folgenden in einem ersten Schritt die verschiedenen Kategorisierungen der Begriffe Performativität und Performance skizzieren, bevor ich genauer auf den spezifischen Gebrauch der Terminologie im Bereich der Gender Studies eingehe und die Frage diskutiere, wie das Konzept der Performativität von Geschlecht mit theatraler Performance zusammengebracht werden kann. Eine kurze Untersuchung von William Shakespeares As You Like It soll abschließend zumindest einige der vorhergehenden Überlegungen an einem literarischen Beispiel erproben. Begriffsklärung: Performance und Performativität [W]hile philosophy and theatre now share ‘performative’ as a common lexical item, the term has hardly come to mean ‘the same thing’ for each. 3 [P]erformativity is neither free play nor theatrical self-representation; nor can it be simply equated with performance. 4 [A]s soon as performativity comes to rest on a performance, questions of embodiment, of social relations, of ideological interpellations, of emotional and political effects, all become discussable. 5 Die vorangestellten Zitate öffnen das Spektrum von Definitionen zu Performativität und Performance und zeigen bereits unterschiedliche Antworten auf die strittige Frage, ob und wie theatrale Performance und Performativität zusammengedacht werden können. Wie eingangs erwähnt, sind Performance und Performativität zu Schlüsselbegriffen in unterschiedlichen Disziplinen geworden und daher schwer allgemeingültig definierbar. Aus der Perspektive der Literaturwissenschaft lassen sich allerdings zwei Hauptströmungen der Begriffsbildung identifizieren: der Bezug zur theatralen Aufführung, der Performance, und zur Sprachphilosophie und zur Linguistik, genauer gesagt zur Pragmatik, die unter performativen Sprechakten solche sprachlichen Äußerungen versteht, die zugleich Handlungen sind. Ausgehend von dem Konzept der Performance, der theatralen Aufführung, wurden Performance und Performativität zu zentralen Begriffen in verschiedenen Feldern der Geistes- oder Kulturwissenschaften. Wie weit reichend der Einfluss des Konzepts der theatralen Aufführung für die Kulturwissenschaften ist, zeigt die von verschiedenen Disziplinen geteilte Einschätzung, seit den 1960er Jahren habe sich 2 Vgl. zu Carter etwa Sage 1994, Bristow and Broughton 1997, Müller 1997, Gamble 1997, Day 1998, Tucker 1998, Easton 2000, Egger-Gajardo 2008. Vgl. zu Plath beispielsweise Britzolakis 1999, Brennan 2001, Gill 2007. Siehe auch Breen und Blumfeld 2005 für literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu Butler. 3 Sedgwick and Parker 1995: 2. 4 Butler 1993a: 95. 5 Diamond 1995: 5. Gender-Performativität und theatrale Performance 171 ein performative turn ereignet, der in den 1990er Jahren schließlich zu einem Perspektivenwechsel in den Kulturwissenschaften führte. 6 Nach der Idee eines linguistic turn, also der Annahme, kulturelle Produkte oder sogar ganze Kulturen seien als Texte lesbar, legt die performative Wende nahe, Kultur als performance, als Aufführung zu verstehen. Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte argumentiert etwa, dass wir in einer Kultur der Inszenierung leben, dass also auch Sphären wie die Politik, der Journalismus oder auch die Wissenschaft stark von inszenatorischen Vorgängen geprägt sind, und dass auch im Bereich der Kultur im engeren Sinne, als der Sphäre der ästhetischen oder künstlerischen Produktion, Inszenierungen Konjunktur haben. So erfreuen sich beispielsweise öffentliche Lesungen großer Popularität, das heißt der Akt des Lesens interessiert uns hier als öffentliche Darstellung und nicht als der private Vorgang des stillen Selbstlesens. Parallel zum steigenden Stellenwert der Performance für die Kultur lässt sich auch in der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung eine performative Wende beobachten. Die Theatermetaphorik ist für viele Theoriebildungen, so auch für Judith Butlers, vor allem aus zwei Gründen attraktiv. Theatrale Vorstellungen beruhen, erstens, auf Wiederholung, und zwar in zweifacher Hinsicht. Jede individuelle Aufführung aktualisiert ein einstudiertes Modell, eine Inszenierung; im Unterschied zur Vorführung eines Kinofilms sind theatrale Vorstellungen aber immer eine Wiederholung mit Differenz, keine Vorstellung ist identisch mit der am Abend zuvor. Darüber hinaus sind Performances, und selbst solche, die sich als spontan und improvisiert verstehen, gespeist aus einem bereits gesellschaftlich etablierten Repertoire von Bedeutungen. Wie Richard Schechner deutlich gemacht hat, besteht jede Performance aus ‚restored behaviour’, aus wiederherstellendem, wiederholendem Verhalten: „Performance means: never for the first time. It means: for the second or the nth time. Performance is ‘twice-behaved behaviour’“. 7 Darüber hinaus zeichnet sich, zweitens, die Rezeptionssituation während Theateraufführungen durch ein gespaltenes Bewusstsein der Zuschauer und Darsteller aus, die zugleich die dargestellten Ereignisse und das Ereignis des Darstellens wahrnehmen, also die innerfiktionale Handlung und den Vorgang des Theaterspielens. Theaterwissenschaftler haben diese geteilte Aufmerksamkeit des Publikums, diesen oszillierenden Blick als doppeltes Bewusstsein, als gesteigertes Bewusstsein, als doppelte Negativität und als binokulares Sehen beschrieben. 8 Im Zuge der nachträglich diagnostizierten performativen Wende eigneten sich Disziplinen wie die Ethnographie, Geschichte, Anthropologie, Soziologie, Psychologie, Theologie, Betriebswissenschaft, aber auch die Literaturwissenschaften Konzep- 6 Vgl. dazu Geertz 1973, Conquergood 1999 und Worthen 1998: 1098. In seiner Einleitung des Cambridge Companion to Postmodernism datiert Steven Connor die performative Wende in die 1970er Jahre und charakterisiert sie als Beginn der Postmoderne. Fischer-Lichte argumentiert, die performative Wende habe sich bereits in den 1960er Jahren ereignet (vgl. Fischer-Lichte 2004: 166). 7 Schechner 1985: 36. 8 Vgl. „double consciousness“ (Carlson 2004: 5), „hyperconsciousness“ (Kubiak 2002: 158), „double negativity“ (Schechner 1985) und „binocular vision“ (States 1985). Christina Wald 172 te an, die der Theaterwissenschaft oder den weiter gefassten interdisziplinären Performance Studies entstammen, und entwickelten diese weiter, beispielsweise zur Erforschung von religiösen Ritualen in der Anthropologie oder sozialen Rollen in der Soziologie. 9 Durch diese starke Interdisziplinarität haben sich die Konzepte Performance und Performativität nicht nur als sehr produktiv und vielseitig erwiesen, sondern sie entziehen sich auch zunehmend einer allgemeingültigen Definition - daher wurden die Performance Studies jüngst von führenden Vertretern wie Marvin Carlson und Richard Schechner auch als eine ‚Anti-Disziplin’ bezeichnet 10 und Elin Diamond bemerkte bereits Mitte der 1990er Jahre in ihrer Einleitung zum Sammelband Performance and Cultural Politics, dass die Begriffe Performance und Performativität den Fachdiskurs bereits bis zum Punkt der Betäubung, oder weniger elegant übersetzt, der Verdummung dominierten („to the point of stupefaction“, 1996: 2). Ähnlich heterogen sind die Zugänge zum verwandten Begriff der Performativität und dessen Verknüpfung mit dem Konzept der Performance. Im Rahmen der Performance Studies bedienen sich Theoretiker häufig Metaphern einer wechselhaften Liaison, um die Bezüge in Worte zu fassen. So gilt Performativität als der ‚neue theoretische Lebenspartner’ 11 der Performance oder gar als der ‚ruhelose Bettgenosse’. 12 In einigen Kontexten hat diese suggerierte konzeptuelle Romanze zu einer so symbiotischen Beziehung geführt, dass die Begriffe beinahe ununterscheidbar wurden; so wird Performativität bisweilen einfach als modisches Synonym für Performance gebraucht. 13 Alternativ dient Performativität als abstrakterer Begriff, der die Bedingungen, Funktionen, Formen und Effekte von individuellen Aufführungen fasst. 14 So unterscheidet beispielsweise Fischer-Lichte zwischen der referentiellen und performativen Funktion jeder theatralen Aufführung. Referentiell wären jene Aspekte einer Theateraufführung, die die Darstellung von Handlungen, Figuren etc. betreffen, performativ wären sinnlich wahrgenommenen Aspekte des Vollzugs von theatraler Handlung, beispielsweise der individuelle Körper eines Schauspielers und dessen Bewegungsart oder die Intensität und Farbnuance des Lichts. Performativ hieße hier also im weitesten Sinne ‚den Aufführungscharakter betreffend’ und ‚nichtreferentiell’. Neben dem Konzept der theatralen Performance und der theatralen Performativität ist die Sprechakttheorie, wie sie von dem englischen Sprachphilosophen John Langshaw Austin in den 1950er Jahren entwickelt wurde, ein zweiter wichtiger Einfluss auf die kultur- und literaturwissenschaftliche Theoriebildung. Austin legte die Sprechakttheorie 1955 in seinen Vorlesungen in Harvard dar, die unter dem aussagekräftigen Titel How To Do Things With Words publiziert wurden. Austin unterschied zunächst konstative und performative sprachliche Äußerungen. Während konstative 9 Vgl. zum Beispiel Schechner 1985 zu Performance and Anthropologie, Turner 1982 zu Performance und Ritual und Goffman 1955 und 1959 zu Performance und sozialen Rollen. 10 Carlson 2004: 206, Schechner 2001: 10. 11 Diamond 1996: 2. 12 Campbell 2001: 6. 13 Vgl. Solomon 1997: 3. 14 Fischer-Lichte 2005: 234. Gender-Performativität und theatrale Performance 173 Äußerungen Behauptungen aufstellen oder Dinge beschreiben, stellt die performative Äußerung selbst das her, was sie besagt, sie ist ein Sprechakt. Austin leitet den Begriff vom englischen Verb to perform ab, das natürlich mit dem Substantiv performance verwandt ist, aber hier zu verstehen wäre als ‚vollziehen’ oder auch ‚leisten’. In frühen Arbeiten sprach Austin zunächst von performatory/ performatorischen Begriffen, bevor er zu performative/ performativ überging. 15 Er versteht kulturell konventionalisierte Phrasen, die den Vollzug einer Handlung bilden, als so genannte explizite oder ursprüngliche Performativa. Beispiele sind etwa die Formel „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau“ in der Hochzeitszeremonie oder der feststehende Ausdruck im Taufritual, „Ich taufe Dich auf den Namen….“. Sprechakte, die mit individuelleren Formulierungen Handlungen vollziehen, wären beispielsweise Versprechen, Schwüre, Wetten oder Befehle, aber auch diese bedürfen formelhafter Einleitungen wie „Ich wette…“, „Ich schwöre…“. Das Besondere dieser Äußerungen ist, dass sie nicht Sachverhalte beschreiben, sondern diese durch ihre Aussprache bewirken; Sprache hat hier also keine mimetische Funktion und dient nicht in erster Linie der Kommunikation, sondern der Erschaffung von Wirklichkeit. Speziell Austins Hinweis auf diese wirklichkeitskonstituierende Kraft der performativen Äußerung bot eine Inspiration und Anknüpfungspunkte für die dekonstruktive Literaturwissenschaft und für konstruktivistische Identitätstheorien, so auch für Butlers Gendertheorie. Austin überarbeitete in den Folgejahren seine Theorie dahingehend, dass er alle sprachlichen Äußerungen als Sprechakte verstand und das binäre Modell des konstativen und performativen Sprechaktes durch eine Trias ersetzte. Er unterschied nun zwischen lokutionären Sprechakten, den ehemaligen konstativen Äußerungen, also der Handlung, dass man etwas sagt (dies kann wahr oder falsch sein), illokutionären Sprechakten, die in der Handlung das vollziehen, was sie sagen, also den ehemaligen performativen Äußerungen (diese können gelingen oder misslingen, der Befehl kann befolgt oder verweigert werden) und perlokutionären Sprechakten, die kontingente Auswirkungen auf die Zuhörerin und die Umstände haben. Diese Modifikationen wurden von der Literatur- und Kulturtheorie allerdings kaum berücksichtigt, die sich vor allem mit Austins frühem Konzept des performativen Sprechakts auseinandersetzt. Die Sprechakttheorie wurde nicht nur, wie ich im folgenden erläutern will, über deren Adaption in den Gender Studies für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht, sondern fand auch in andere Literaturtheorien Eingang. So wurde, wie Uwe Wirth in seiner umfassenden Einleitung des Sammelbandes Performanz: Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft zeigt, der literarische Text selbst als Sprechakt oder als Folge von Sprechakten verstanden. Die literaturtheoretische Grundannahme ist in diesem Zusammenhang, dass der literarische Text selbst-erzeugend, autopoietisch und daher bis zu einem gewissen Grad von der referentiellen Funktion von Sprache befreit ist: Der literarische Text führt eine Handlung aus, indem er spricht, 15 Vgl. Fischer Lichte 2005: 234-242, hier 235. Christina Wald 174 er erzeugt durch Sprache eine fiktionale Welt. 16 Aus dieser performativen Kraft der poetischen Sprache haben Literaturtheoretiker „zwei diametral entgegengesetzte Konsequenzen […] abgeleitet“ 17 , die entweder für die Dominanz der perlokutionären Kraft literarischer Rede argumentieren oder im Gegenteil die illokutionäre Kraft literarischer Rede betonen. Im ersteren Sinne argumentiert beispielsweise die von Wolfgang Iser und Richard Ohmann vertretene Rezeptionsästhetik. Sie geht davon aus, dass poetische Sprachverwendung einen Verlust an illokutionärer Kraft bedeutet, insofern sie von der referentiellen Funktion entbunden ist. Sie kann also im Sinne der frühen Sprechakttheorie nicht performativ sein, hat aber eine perlokutionäre Kraft, insofern sie Leser zur Imagination des Gesagten und zur Füllung der Leerstellen aufruft. Poststrukturalistische Theoretiker wie Roland Barthes und Jacques Derrida gehen ebenfalls von einer Reduktion der referentiellen Funktion der literarischen Sprache aus, argumentieren aber, dass an deren Stelle die performative Funktion trete. Wie Wirth deutlich macht, wird Performativität hier zu einem Synonym für ‚Nicht-Referentialität’ und für ‚Selbstbezüglichkeit’ und unterscheidet sich somit deutlich von Austins Definition, für die gerade der außersprachliche Handlungsvollzug illokutionärer Akte entscheidend ist. 18 Dieser Unterschied zu Austin erklärt sich teilweise durch das poststrukturalistische erkenntnistheoretische Axiom, dass eine außersprachliche Realität für den Menschen nicht zugänglich ist, dass Realität für uns immer schon sprachlich konfiguriert ist. Wie bereits angesprochen, haben die theaterwissenschaftliche und linguistische Konzeption von Performativität Berührungspunkte, die eine gegenseitige Nutzung der Theoreme nahe legen. Einige bedeutende Theaterwissenschaftler und Theaterwissenschaftlerinnen, darunter Ross Chambers (1980), Umberto Eco (1977), Timothy Gould (1995) und Erika Fischer-Lichte haben die Sprechakttheorie auf theatrale Aufführungen bezogen, um deren wirklichkeitsstiftende Funktion zu verdeutlichen. Diese Adaption der Sprechakttheorie für die Untersuchung von theatralen Aufführungen steht interessanterweise im Widerspruch zu Austins grundlegenden Annahmen. In einer der berühmtesten Passagen in How To Do Things With Words schließt Austin die ‚unernsten’ Sprechakte, wie sie sich auf einer Theaterbühne ereignen, nämlich explizit aus seiner Theoriebildung aus. Austin versteht diese missglückten (‚infelicitous’) Sprechakte als eine Ausnahme und eine parasitäre Version des normalen Sprachgebrauchs: a performative utterance will […] be in a peculiar way hollow or void if said by an actor on the stage or if introduced in a poem […]. Language in such circumstances is in special ways - intelligibly - used not seriously, but in ways parasitic upon its normal use - ways 16 Wirth bezieht sich hier auf Literaturtheoretiker und (Sprach-)Philosophen wie Roman Jakobson, Umberto Eco, Wolfgang Iser, Jürgen Habermas und Richard Ohmann. Vgl. Wirth 2002: 26. 17 Wirth 2002: 26. 18 Wirth 2002: 27. Gender-Performativität und theatrale Performance 175 which fall under the doctrine of the etiolations of language. All this we are excluding from consideration. 19 Wenn also ein Paar auf einer Theaterbühne vor Publikum zu Mann und Frau erklärt wird, der Sprecher aber kein geweihter Priester und keine vereidigte Standesbeamtin ist, ist der performative Sprechakt misslungen, das Paar ist nicht verheiratet. Wir werden in der Diskussion von As You Like It auf solch einen Fall einer parasitären, nicht-ernsten Eheschließung zurückkommen, denn hier wird das zentrale Paar gleich zweimal auf der Bühne verheiratet. Jacques Derrida, der Begründer der Dekonstruktion, hat diese Annahme Austins in seinem Aufsatz „Signatur Ereignis Kontext“ kritisiert und die Gegenthese vertreten, dass theatrale Sprechakte nicht die Ausnahme, sondern die Regel seien. Sie sind laut Derrida exemplarisch für den üblichen Sprachgebrauch, da auch dieser auf einer parasitären Nicht-Originalität beruht, auf Wiederholung (oder Iteration), Zitathaftigkeit und der Möglichkeit der Rekontextualisierung: „ist nicht schließlich, was Austin als Anomalie, Ausnahme, ‚unernst’“, das Zitieren (auf der Bühne, in einem Gedicht oder in einem Monolog), ausschließt, die bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit - einer allgemeinen Iterierbarkeit vielmehr -, ohne die es sogar kein ‚geglücktes’ performative gäbe? “ 20 Judith Butlers Gendertheorie ist Austins Thesen zur Performativität konzeptuell verwandt, allerdings beschäftigt sie sich nicht ausschließlich mit sprachlichen, sondern auch mit körperlichen Akten, die etwas hervorbringen und so Wirklichkeit erschaffen. Sie radikalisiert im Rahmen ihrer poststrukturalistischen Theorie Austins Annahmen in ähnlicher Weise wie Derrida, indem sie auf den grundsätzlich iterativen, wiederholenden Charakter von Geschlechtsidentität verweist. Wie eingangs erwähnt, entwickelt sie ihre Theorie zunächst allerdings durch eine Modifikation der theatrum mundi-Metapher, und auch in dieser Hinsicht ist As You Like It ein geeignetes Beispiel, findet sich doch dort eine der berühmtesten Formulierungen der Metapher: „all the world’s a stage / And all the men and women merely players / That have their exits and their entrances“ (II.7.138-140). Judith Butlers Theorie der Gender-Performativität In einer Entwicklung, die als repräsentativ betrachtet werden kann für viele postmoderne und poststrukturalistische Performativitäts-Theorien, wurde Butlers Theorie zunächst von einer Analogie zur theatralen Performance inspiriert, distanzierte sich dann aber zunehmend von dem metaphorischen Gebrauch des Theaters. Zu Beginn ihres frühen Essays „Performative Acts and Gender Constitution“ konstatiert Butler noch: „the acts by which gender is constituted bear similarities to performative acts within theatrical contexts“. 21 In ihrer fünf Jahre später erschienenen Studie Bodies that Matter macht sie hingegen deutlich: „performativity is neither free play nor theatrical 19 Austin 1962: 22. 20 Derrida 1988: 345. 21 Butler 1988: 272. Christina Wald 176 self-representation; nor can it be simply equated with performance“ 22 und erinnert am Ende des Buches noch einmal: „the reduction of performativity to performance would be a mistake“. 23 Ich möchte diese Entwicklung, die auch als ‚Performativität via Performance’ zu ‚Performativität contra Performance’ 24 beschrieben wurde, im folgenden kurz skizzieren und problematisieren. 25 Butlers Distanzierung von der Theatermetapher, so mein Argument, beruht auf einer impliziten Umdeutung der Funktionsweisen des Theaters. Nachdem Butler Theater anfänglich als ein repräsentatives Medium versteht, das zur kritischen Reflexion über Naturalisierungsprozesse in der Realität einlädt, nimmt sie in ihren späteren Schriften zunehmend einen essentialistischen Theaterbegriff an, der das Theater als Ort der Präsenz und Authentizität versteht, als einen Ort, der keine kritische Distanz zur Realität ermöglicht. 26 Butler entwickelt das Konzept Gender-Performativität in Analogie zum Theater, indem sie davon ausgeht, dass soziale Realität eine Inszenierung ist, in der Geschlecht dargestellt werden muss. Die Radikalität von Butlers Verständnis von Geschlecht liegt in dem Ausschluss einer Welt jenseits der Bühne. Die Darsteller sind immer schon auf der Bühne im Rahmen der Gender-Performativität, so Butler, und weder die Darsteller noch das Publikum entwickeln eine kritische Distanz zum Bühnengeschehen: „the appearance of substance is precisely that, a constructed identity, a performative accomplishment which the mundane social audience, including the actors themselves come to believe and to perform in the mode of belief“. 27 Butler entwirft also hier ein Verständnis von theatraler Produktion und Rezeption, das von einem vollständigen Eintauchen in das fiktive Bühnengeschehen ausgeht, also Samuel Taylor Coleridges Konzept einer ‚willing suspension of disbelief‘ auf eine ‚total suspension of disbelief‘ verkürzt und so das üblicherweise gespaltene Bewusstsein von Darstellern und Zuschauern ausschließt, die zugleich das dargestellte Geschehen und das Darstellungsgeschehen wahrnehmen. Butler bezieht sich zu Beginn ihres Artikels „Performative Acts and Gender Constitution“ kurz auf John Searle, einen Schüler Austins, theoretisiert aber erst in Bodies that Matter das Verhältnis von Sprechakttheorie und Gender-Performativität genauer. Dennoch verbindet ihr Konzept der Gender-Performativität von Beginn an die theatrale und die linguistische Dimension des Begriffs: „Consider gender […] as a corporeal style, an ‘act’ as it were, which is both intentional and performative, where ‘performative’ itself carries the double meaning of ‘dramatic’ and ‘non-referential’.“ 28 22 Butler 1993: 95. 23 Butler 1993: 234. 24 McKenzie 1998: 225. 25 Für eine ausführlichere Diskussion der Theatermetapher in Butlers Schriften siehe Wald 2007: 10-25. 26 Butlers widersprüchlicher Bezug zur theatralen Performance ist Teil eines umfassenderen poststrukturalistischen Trends. Wie Shannon Jackson zeigt, beruht die Emanzipation der poststrukturalistischen Performativitätstheorie von der Theatermetapher auf der Reduktion von Theatralität auf Intentionalität und auf der Betonung von Präsenz gegenüber Repräsentation (Jackson 2003: 206). 27 Butler 1988: 271 und Butler 1990: 179. 28 Butler 1988: 272f. Gender-Performativität und theatrale Performance 177 Retrospektiv, in der Einleitung zur zehnjährigen Jubiläumsausgabe von Gender Trouble, kommentiert Butler die Entstehung ihres Konzepts der Performativität ebenfalls als eine Synthese des theaterwissenschaftlichen und linguistischen Konzepts: „my theory sometimes waffles between understanding performativity as linguistic and casting it as theatrical. I have come to think that the two are invariably related“. 29 Butlers konstruktivistische Identitätstheorie geht von der Annahme aus, dass Geschlecht durch Zitate der geltenden Gender-Norm fabriziert und inszeniert wird. Sie schließt das ‚biologische’ - vermeintlich prädiskursive - Geschlecht in diesen kulturell-psychischen Prägungsprozess ein. Das wohl bekannteste Beispiel, das Butler zur Illustration ihrer These wählt, ist die Praxis des Drag, des Mannes in Frauenkleidern. Wenn innerhalb einer Drag-Show ein Mann eine Frau verkörpert, verweist diese Nachahmung nach Butler auf den grundsätzlichen Imitationscharakter von Weiblichkeit. Obwohl Butler sich speziell auf nordamerikanische female impersonators des späten 20. Jahrhunderts bezieht, ruft sie mit dem Transvestismus eine theatrale Praxis auf, die ebenso alt ist wie das Theater selbst. 30 Schon im antiken griechischen Theater gab es ausschließlich männliche Darsteller, im England der frühen Neuzeit übernahmen boy actors Frauenrollen, wie wir in der abschließenden Diskussion von As You Like It sehen werden, und im japanischen Kabuki-Theater sowie der chinesischen Oper werden traditionsgemäß bis heute weibliche Figuren von Männern dargestellt. Nach Butler verhalten sich die ‚echte’ Frau und der female impersonator zueinander nicht wie Original und Kopie, sondern beide kopieren die geltende Norm von Weiblichkeit. Allerdings, und dies ist ein entscheidender Punkt von Butlers Theorie, gibt es das vermeintlich imitierte Original ‚Weiblichkeit’ nicht. Nur durch den Prozess des Imitierens oder des Zitierens wird diese reglementierende Norm als scheinbares Original erschaffen und bekräftigt: The notion of gender parody defended here does not assume that there is an original which such parodic identities imitate. Indeed, the parody is of the very notion of an original; […] so gender parody reveals that the original identity after which gender fashions itself is an imitation without origin. To be more precise, it is a production which, in effect - that is, in its effect - postures as an imitation. 31 In dieser grundlegenden Imitations- und Wiederholungsstruktur von Geschlecht sieht Butler auch das Potential zur Veränderung von Geschlechternormen. Butler versteht Normen von Männlichkeit und Weiblichkeit als kulturelle Idealvorstellungen, die der und die Einzelne zwar, zumeist unbewusst, möglichst perfekt zu verkörpern versucht, deren fehlerfreie Imitation oder exakte Iteration aber nie gelingen kann. Die Imitationen und Wiederholungen werden immer nur eine Annäherung sein, und in dieser unvermeidlichen Lücke, dieser Differenz in der Wiederholung 29 Butler 1999: xii-xxvi, hier xxv. 30 Butler knüpft an Esther Newtons anthropologische Studie Mother Camp: Female Impersonators in America (Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall, 1972) an, speziell an das Kapitel „Role Models“, S. 97-111. 31 Butler 1990: 175-176. Christina Wald 178 sieht Butler das Potential zur Innovation: Fehlerhafte Imitationen des Ideals können auf kurze Sicht zur Irritation, auf lange Sicht zu einer Änderung, einer Resignifizierung dieser Norm führen. Allerdings konzipiert Butler Performativität nicht als ganz freiwilligen und intentionalen Akt, sondern betont den Zwangscharakter, dem die beständigen, ritualhaften Inszenierungen von Geschlecht unterliegen. In ihrem frühen Essay bedient sie sich auch zur Veranschaulichung dieser These wieder der Theatermetapher und argumentiert, dass jegliches Abweichen vom Skript und spontane Improvisationen mit strengen Strafmaßnahmen belegt würden. Diese Theaterkonzeption legt nahe, dass der Schauspieler die Aufführung nicht nur erschafft, sondern dass er innerhalb der Konventionen dieser Aufführung sozusagen selbst aufgeführt wird. Butler illustriert anhand der Theatermetapher die komplexe Interaktion von Handlungsfähigkeit und Ausgeliefertsein, von Spontaneität und Fremdbestimmtheit, welche die Produktion von Geschlecht kennzeichnet: the act that one does, the act that one performs, is, in a sense, an act that has been going on before one arrived on the scene. Hence, gender is an act which has been rehearsed […]. [T]he gendered body acts its part in a culturally restricted corporeal space and enacts interpretations within the confines of already existing directives. 32 Butler nutzt die Theatermetapher auch, um kulturelle Annahmen über die Natürlichkeit von psychischer Geschlechtlichkeit zu problematisieren. Sie argumentiert, dass Geschlechtlichkeit genauso performativ hergestellt werde, wie Schauspieler den Eindruck von Gefühlen, inneren Antrieben und einer Persönlichkeit der Theaterfigur durch äußere Akte herstellen. Diese sind gerade nicht Entäußerungen eines Inneren, sondern stellen erst als äußere Zeichen die Illusion dieser Innerlichkeit her. Butler postuliert: „There is no gender identity behind the expressions of gender; [...] identity is performatively constituted by the very ‘expressions’ that are said to be its result“. 33 Hier wird deutlich, dass Butler Expressivität, also den Ausdruck von etwas Innerem, bereits Bestehendem, als das Gegenteil von Performativität versteht; Performativität erschafft erst die soziale Wirklichkeit von Geschlecht, die dann nachträglich als innerer Kern dargestellt wird. Die Parallele zu Austins Konzept der Performativität (bzw. Illokution) wird hier deutlich. Performativität und Performance oder Gendertheorie und Dramentheorie Wie bereits angesprochen, wurden Butlers Thesen nach dem breiten Erfolg von Gender Trouble häufig dahingehend verkürzt, dass Geschlechtsidentität wie eine theatrale Rolle angenommen und abgelegt, dass sie durch Mittel wie Make-up und Kleidung willentlich kreiert und verändert werden könne. In der Folge dieser Rezeption ihrer Thesen hat Butler sich nach Gender Trouble von der Theatermetapher distanziert. In ihren Folgeschriften übernimmt sie in manchen Passagen die vereinfachte 32 Butler 1990: 277. 33 Butler 1990: 33. Gender-Performativität und theatrale Performance 179 Konzeption ihrer Kritiker, die eine theatrale Darstellung als einen voll intentionalen und voluntaristischen Vorgang verstehen und so alle fremdbestimmten Zwänge des Performance-Vorgangs außer Acht lassen, wie etwa die festgelegten Repliken, Regieanweisungen durch den Text und den Regisseur, Verabredungen und Festlegungen während des Probenprozesses und Theaterkonventionen wie Schauspielstil, Bühnenbild und Theaterarchitektur, die bestimmte Darstellungen erfordern. 34 So argumentiert Butler beispielsweise in Bodies that Matter: performance as bounded “act” is distinguished from performativity insofar as the latter consists of a reiteration of norms which precede, constrain, and exceed the performer and in that sense cannot be taken as the fabrication of the performer’s “will” or “choice”; further, what is performed works to conceal, if not to disavow, what remains opaque, unconscious, un-performable. The reduction of performativity to performance would be a mistake. 35 Butlers Unterscheidung von theatraler Performance und Gender-Performativität ist hier ambivalent formuliert. Einerseits lässt sie sich dahingehend interpretieren, und von vielen Theaterwissenschaftlern ist sie so verstanden worden, 36 dass Butler hier annimmt, die Performance einer Theaterschauspielerin sei ganz von deren Willen und Kontrolle bestimmt und insofern radikal unterschiedlich von dem Zwangssystem der Gender-Performativität. Auf der anderen Seite ließe sich das Verhältnis von Performance und Performativität hier aber auch als das Verhältnis zwischen einem grundlegenden System (der Performativität) und dessen individueller Realisierung (der Performance) verstehen, und diese Definition erscheint mir sinnvoller. Dies hieße, dass die einzelnen Performances von den gleichen Grundmustern wie die Performativität gekennzeichnet wären und dass sich das System der Performativität nur durch diese einzelnen Materialisierungen erkennen und verändern ließe. Mithilfe dieser Interpretation lassen sich auch Butlers widersprüchliche Aussagen zum Stellenwert der theatralen Performance für die Performativität erklären. Denn trotz der zitierten grundlegenden Unterscheidung erkennt Butler weiterhin an, dass theatrale Performance das Potential hat, die grundsätzliche Performativität von Geschlecht in einer Weise zu inszenieren, die diese als Konstruktionsprozess sichtbar macht und somit denaturalisiert. 37 Das Theater eignet sich dazu in mancherlei Hinsicht besser als andere kulturelle Ausdrucksformen, da es in der Kulturtheorie und der populären Imagination eine ebenso widersprüchliche Rolle einnimmt wie Konzeptionen von Geschlecht. Diese These will ich im Folgenden kurz an einem konzeptuellen Widerspruch illustrieren, der die Rezeption von Theater betrifft, nämlich den Unterschied zwischen Präsenz und Repräsentation. 34 Für theaterwissenschaftliche Argumentationen in diesem Sinne siehe Lloyd 1999: 202, Aston 1999: 16, Diamond 1997: 46 und Fischer-Lichte 2004: 39. 35 Butler 1993: 234. 36 Vgl. zum Beispiel Aston 1999: 16, Diamond 1997: 46 und Kubiak 2002: 33-34. 37 Vgl. beispielsweise Butler 1993: 232. Christina Wald 180 Das Theater eignet sich wegen seines ‚flexiblen Essentialismus’ 38 in besonderem Maße zur Denaturalisierung unserer Geschlechter-Wahrnehmung, da die theatrale Aufführung je nach Kontext und Rezeptionshaltung als artifizielles Produkt oder als Sphäre des Authentischen bewertet werden kann. Während Theater als artifizielles Medium eine Rezeptionshaltung des doppelten Bewusstseins hervorrufen kann, die das Geschehen und die Darstellung von Geschlecht auf der Bühne immer schon als nicht-real wahrnimmt, berufen sich Argumente für die Authentizität der theatralen Vorstellung darauf, dass auf der Bühne ‚echte’ Körper live präsent sind, die nicht wie im Film und anderen Kunstformen technisch reproduziert sind. Wenn Zuschauer von der ‚Authentizität’ der Körper auf der Bühne ausgehen, erweitern sie die naturalisierte Alltagswahrnehmung von Geschlecht auf die theatrale Rezeption. Sie unterscheiden damit nicht zwischen dem semiologischen Körper der dargestellten Figur und dem phänomenalen Leib des Darstellers, 39 welche Zuschauer üblicherweise gleichzeitig wahrnehmen. Dieses Verständnis des Theaters als Medium der Präsenz geht davon aus, dass ein weiblicher Figurenkörper auf der Bühne nicht als solcher inszeniert, repräsentiert, durch Zeichenverwendung produziert werden muss, sondern durch die Präsenz des Körpers auf der Bühne erreicht wird: Dies würde bedeuten, dass eine Schauspielerin auf der Bühne automatisch eine weibliche Figur ist und diese nicht erst darstellen muss. Sobald eine theatrale Aufführung die unreflektierte Gleichsetzung des Geschlechts des Darstellers und des Geschlechts der dargestellten Figur verunsichert oder widerlegt, kann sie zur Hinterfragung der Wahrnehmung von Geschlecht, auch jenseits des Theaters, beitragen. Wie wir in der Diskussion von As You Like It sehen werden, kann dieses Verständnis des Theaters als Medium der Präsenz nur für ganz bestimmte Theaterkonventionen gelten, am ehesten für autobiographische Performances und für realistisches Theater. Der Einsatz von boy actors auf der elisabethanischen Bühne macht ein solches Verständnis von theatraler Darstellung unmöglich. Da männliche Darsteller sowohl weibliche als auch männliche Figuren spielen, sind Rückschlüsse von dem Geschlecht des Darstellers auf das der Figur wenig hilfreich: Beide Geschlechter auf der Bühne müssen durch Zeichenverwendung (Kostüm, Frisur, Make-Up, Stimme, Bewegungsart) inszeniert werden. William Shakespeare: As You Like It Shakespeares Komödie As You Like It handelt von einem Liebespaar, Orlando und Rosalind, die in der höfischen Gesellschaft nicht zueinander finden können. Beide fliehen unabhängig voneinander vor Rosalinds tyrannischem Onkel, dem unrechtmäßigen Herrscher, in den Ardenner Wald. Um sich und ihre Kusine Celia zu schützen, verkleidet sich Rosalind als Mann und nennt sich Ganymede. Als sie auf Orlando trifft, bietet sie ihm an, ihn von seinen Liebesqualen zu heilen, indem sie für ihn Rosalind spielt. Orlando lässt sich auf dieses Spiel ein und erkennt Rosalind erst, als 38 Jackson 2003: 189. 39 Vgl. Fischer-Lichte 2004: 130-160. Gender-Performativität und theatrale Performance 181 sie wieder Frauenkleidung anlegt. Am Ende des Stückes wird Rosalinds Vater wieder als Herrscher in sein Recht gesetzt und Orlando und Rosalind gemeinsam mit drei anderen Paaren, die sich im Ardenner Wald gefunden haben, verheiratet. Das Drama bietet also, wie so häufig in Shakespeares Werk, ein Spiel im Spiel und in diesem Fall eine Maskerade in der Maskerade. Damit ergibt sich ein komplexes Spiel mit Geschlechtsidentität und Imitation. Auf der extradiegetischen Ebene spielt ein boy actor eine Frauenfigur, Rosalind. Auf der frühneuzeitlichen Bühne werden die tragenden Frauenrollen, wie die Rosalinds, von Knaben, Mütter und Ammen von älteren Männern gespielt. Dies ist zur Zeit Shakespeares eine speziell englische Konvention, 40 denn auf dem europäischen Festland gibt es bereits Schauspielerinnen. Die gängigste Begründung hierfür, die sich auch in zeitgenössischen Quellen findet, ist die, daß die Bühne kein angemessener Ort für eine anständige Frau ist: Sie würde sich nicht derart zur Schau stellen. 41 Auf der intradiegetischen Ebene der fiktiven Handlung verkleidet sich Rosalind als Mann, als Ganymede, der dann, vermeintlich als Freundschaftsdienst, die Frau Rosalind spielt. Diese Binnenstruktur der Verkleidung, des Geschlechtsidentitätsspiels führt den Zuschauern vor, wie geschlechtliche Identität performativ und durch die Imitation einer Geschlechter-Norm hergestellt werden kann. Rosalind gelingt eine so überzeugende Imitation von Männlichkeit, dass nicht nur Orlando, sondern selbst Rosalinds Vater in ihren performativen Akten nur den Jüngling Ganymede wahrnehmen. Die Schäferin Phoebe verliebt sich in Ganymede und bringt so nicht nur die klaren Festlegungen von Geschlecht, sondern auch die der Heterosexualität ins Wanken. Rosalinds Verkleidung und Rollenspiel nehmen ihren Anfang, als Rosalind verbannt wird und in Begleitung von Celia den Hof verlassen muss. Um die Sicherheit der beiden Frauen zu gewährleisten, entschließt sie sich zur Verkleidung als Mann: Were it not better, / Because that I am more than common tall, / That I did suit me all points like a man, / A gallant curtle-axe upon my thigh, / A boar-spear in my hand, and in my heart, / Lie there what hidden woman’s fear there will. / We’ll have a swashing and a martial outside, / As many other mannish cowards have / That do outface it with their semblances. (I.3,108-116) Hier zeigt sich, dass männlicher Mut ein Ideal ist, das performativ hergestellt wird und nicht unbedingt auf dem Ausdruck einer bestehenden Charaktereigenschaft beruht; nicht nur Rosalind in ihrer Verkleidung, sondern auch unmännliche Männer, „mannish cowards“ müssen diesen Mut vorspielen und der Gesellschaft ein „martial outside“ zeigen. Sobald Rosalind die männliche Kleidung trägt, macht sie ihr klare Vorgaben für ihr Verhalten. Nach dem beschwerlichen Marsch in den Ardenner Wald klagt sie, „I could find in my heart to disgrace my man’s apparel and to cry like 40 Vgl. Orgel 1989: 7. 41 Vgl. auch Michael Shapiros Gender in Play on the Shakespearean Stage: Boy Heroines and Female Pages (Ann Arbor: University of Michigan Press, 1996) für eine Darstellung des Crossdressings als dramaturgisches Motiv, als theatrale Praxis und als soziales Phänomen im England der frühen Neuzeit. Christina Wald 182 a woman. But I must comfort the weaker vessel, as doublet and hose ought to show itself courageous to petticoat“ (II.4,3-6). Kleidung wird hier metonymisch nicht nur als pars pro toto mit Geschlechtsidentität verknüpft, sondern scheint auch eine kausale Beziehung zu haben, die in den folgenden Szenen immer deutlicher wird, in denen Celia Rosalind alias Ganymede bisweilen an ihre Weiblichkeit erinnern und in ihrem/ seinem neuem Machismo und ihrer/ seiner Misogynie zügeln muss. 42 Rosalind benimmt sich ‚männlicher’: sie schlägt Phoebe gegenüber harte Töne an, sie hat keine Angst mehr, sie stellt selbstbewusst Forderungen an Orlando. Sie entspricht nicht mehr ihrer Persönlichkeit der höfischen Dame, wie sie eingangs von ihrem Onkel Frederick beschrieben wurde: „her smoothness, / Her very silence, and her patience, / Speak to the people, and they pity her“ (I.3,71-73). Die Differenz von Rosalinds Aktionsspielraum am Hof und in Arden macht deutlich, dass die Imitationsstruktur der Performativität von Geschlecht mehr ist als ein voluntaristisches Rollenspiel: Sowohl Orlando als auch Rosalind verkörpern die Ideale von Weiblichkeit (Sanftheit, Schweigsamkeit, Duldsamkeit, Schönheit) und Männlichkeit (Kraft, Mut, Tapferkeit) ungefragt außerhalb des Waldes. Auch in Arden, der pastoralen Gegenwelt, befreien sie sich nur schrittweise, nicht immer in einem bewussten Vorgang, sondern oft wie in einer Szene psychoanalytischen Ausagierens, und nur bis zu einem gewissen Grad von diesen sozialen Konventionen. Zudem kehren die Charaktere am Ende der innerfiktionalen Handlung zu konventionelleren Geschlechtsperformances zurück: Die Hochzeit zwischen Rosalind und Orlando wird vollzogen und die Rückkehr in die Welt des Hofes angekündigt. Das Rollenspiel in Arden erlaubt Rosalind, Seiten zu zeigen, die innerhalb des Zwangssystems der Geschlechter-Performativität, der Imitation des höfischen Weiblichkeitsideals, ‚un-performable‘ bleiben mussten. Um auf Butlers Unterscheidung zwischen Performativität und Performance zurück zu kommen, können wir hier sehen, wie eine alternative Performance üblicherweise verborgen bleibende Aspekte ans Licht bringen kann. Dass am Hofe jegliches Aus-der-Rolle-Fallen mit Strafmaßnahmen belegt wird, zeigt uns schon zu Beginn der Handlung Celias Verbannung vom Hof, nachdem sie es gewagt hat, ihrem Vater öffentlich zu widersprechen, also dem Ideal der weiblichen „smoothness“, „silence“ und „patience“ zuwider zu handeln. Im Unterschied zu Rosalinds nahezu perfekter Imitation von Männlichkeit, dem versteckten Rollenspiel, ist das zweite Rollenspiel, in dem Ganymede für Orlando wiederum eine Frau spielt, für alle Charaktere als solches markiert. Hier wird in einer offen gelegten und übertreibenden Nachahmung die allgemeine Imitationsstruktur von Geschlecht kritisiert: In ihrer Darstellung eines typisch weiblichen Verhaltens im Ritual der Liebeswerbung übertreibt Rosalind derart, dass dieses Verhalten als maskenhaft, als kulturelle Konvention erkennbar wird, sowohl für die Darstellerin, Rosalind, als auch für den Adressierten, Orlando. Diese Übertreibung dekonstruiert kli- 42 Vgl. IV.1,172-174: „You have simply misused our sex in your love-prate. We must have your doublet and hose plucked over your head, and show the world what the bird hath done to her own nest.“ Gender-Performativität und theatrale Performance 183 schierte Vorstellungen von Weiblichkeit, aber auch von männlichen Posen, die dem petrarkistischen Ideal der höfischen Liebe entsprechen. Als Rosalind in den Ardenner Wald kommt, finden sie und Celia petrarkistische Lobpreisungen Rosalinds, die Orlando an die Bäume geheftet hat, etwa folgendes Gedicht: […] heaven nature charged / That one body should be filled / With all graces wideenlarged: / Nature presently distilled / Helen’s cheek, but not her heart, / Cleopatra’s majesty, / Atalanta’s better part, / Sad Lucretia’s modesty. / Thus Rosalind of many parts / By heavenly synod was devised, / Of many faces, eyes and hearts, / To have the touches dearest prized. / Heaven would that she these gifts should have, / And I to live and die her slave. (III.2,129-142) Mit Bezugnahme auf kulturelle Ikonen von idealer Weiblichkeit, wie Helenas Schönheit, Cleopatras Würde und Lucretias Keuschheit, preist Orlando seine Angebetete jenseits eines realistischen Porträts und stilisiert sich selbst in der Pose des unterwürfigen, leidenden Geliebten. Als Ganymede kann Rosalind sich über diese konventionalisierten Verse lustig machen und Orlando vorhalten, dass entgegen der poetischen Beschwörungen noch kein Mann an gebrochenem Herzen gestorben sei: „The poor world is almost six thousand years old, and in all this time there was not any man died in his own person […] in a love cause“ (IV.1,81-83). In ihrer Rolle als Rosalind übertreibt sie das petrarkistische Bild der launisch und grausam zurückweisenden Angebeteten: He was to imagine me his love, his mistress; and I set him every day to woo me: at which time would I, being but a moonish youth, grieve, be effeminate, changeable, longing and liking, proud, fantastical, apish, shallow, inconstant, full of tears, full of smiles, for every passion something and for no passion truly any thing, as boys and women are for the most part cattle of this colour; would now like him, now loathe him; then entertain him, then forswear him; now weep for him, then spit at him; that I drave my suitor from his mad humour of love to a living humour of madness. (III.2,365-75) Rosalinds übertreibendes Spiel eröffnet den jungen Liebenden (bis zu einem gewissen Grad) eine Möglichkeit der Annäherung jenseits dieser festgelegten Geschlechterrollen. Teil dieser spielerischen Annäherung ist auch eine Hochzeitszeremonie, bei der Celia alias Alinda zum Priester gemacht wird: ROSALIND Come, sister, you shall be the priest and marry us. Give me your hand, Orlando. What do you say, sister? ORLANDO Pray thee, marry us. CELIA I cannot say the words. ROSALIND You must begin, ‘Will you, Orlando--’ CELIA Go to. Will you, Orlando, have to wife this Rosalind? ORLANDO I will. ROSALIND Ay, but when? ORLANDO Why now; as fast as she can marry us. ROSALIND Then you must say ‘I take thee, Rosalind, for wife.’ ORLANDO I take thee, Rosalind, for wife. Christina Wald 184 ROSALIND I might ask you for your commission; but I do take thee, Orlando, for my husband: there’s a girl goes before the priest; and certainly a woman’s thought runs before her actions. (IV.1,106-119) Diese Szene macht deutlich, dass explizite Performativa auf der Exaktheit des Zitats beruhen; Celia schreckt zunächst vor dem parasitären, nicht-ernsthaften Gebrauch der Formel zurück, sie wird ihr dann aber von Rosalind alias Ganymede in den Mund gelegt. Auch Orlandos individuell formulierte Antwort „I will“ ist nicht ausreichend zum Gelingen dieses Sprechakts, es bedarf der genauen Iteration der Formulierung: „you must say ‘I take thee, Rosalind, for wife’“. 43 Ein Grund, warum gerade die Performativität der Hochzeitszeremonie häufig als Beispiel zur Illustration von Butlers Theorien herangezogen wird, ist die Ambivalenz der Formulierung, ‚I take thee for wife’ - impliziert diese doch auch ‚I take thee for (a) wife’, ‚Ich halte Dich für eine (Ehe)frau’ und macht so die geschlechtsidentitätsstiftende Kraft der gesellschaftlichen Wahrnehmung und der Sprache deutlich. Die deutsche Formulierung ‚Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau’ bringt dies noch klarer zum Ausdruck. Der performative Sprechakt der Eheschließung in As You Like It spielt auf beide dieser Bedeutungen an: Die Hochzeit bekräftigt zugleich Rosalinds Rollenspiel als Frau und ermöglicht den Charakteren im Spiel die Auslotung der Realität einer Hochzeit - genau wie den Zuschauern durch das Geschehen auf der Bühne ein nicht-realer Imaginationsraum eröffnet wird, der aber dennoch nicht gänzlich seiner referentiellen Funktion enthoben ist. Das Theater (wie die Literatur und andere Kunstformen) fungiert gerade durch seine Mischung von Referentialität und Nicht- Referentialität als Medium der kulturellen Selbstbetrachtung, das alternative Sichtweisen der Realität ermöglicht. Im Fall von As You Like It ist dies von besonderem Interesse, da in der frühen Neuzeit das Theater als populäres Unterhaltungsmedium die umfassendste, geschlechts- und klassenspezifisch unabhängige Verbreitungsform von Literatur bedeutete. Aus diesem Grund wurde das Theater auch heftig von puritanischen Sittenwächtern kritisiert, die befürchteten, es trage zur gesellschaftlichen Destabilisierung, insbesondere der Geschlechterhierarchie, bei. England erlebt im 16. Jahrhundert einen gesellschaftlichen Wandel: Die Bedeutung der Stadt und der Geldwirtschaft wächst, durch den Aufstieg der nichtadeligen Handelsleute kommt Bewegung in das Klassensystem. Neben diesen ökonomischen Änderungen bedeutet die kopernikanische Wende eine tief greifende Veränderung der damaligen Weltanschauung. Basierend auf einem geozentrischen Weltbild stellt man sich in der Renaissance die Welt hierarchisch gegliedert vor. Die makrokosmische Ordnung ist strukturiert durch die Ordnung der Gestirne, die vier Elemente und die chain of being, die in Stufen des Seins von der unbelebten Materie über Pflanze, Tier und Mensch bis zu den Engeln und Gott führt. Sowohl in diesem Makrokosmos als auch im Staat, der als body politic Abbild göttlich gesetzter Ordnung ist, 43 Vgl. die Kommentare von Agnes Latham zu dieser Szene, die auf die historische nichtkirchliche Praxis der Heirat per verba de praesenti, der Heiratsverabredung, hinweist. Appendix B in Latham 1975: 133-135. Gender-Performativität und theatrale Performance 185 hat jedes Lebewesen seinen genau bestimmten Platz - Dynamik ist nicht möglich. So dient der christliche Glaube zur Verherrlichung der Hierarchie der Stände als eine göttlich gewollte Rangfolge. Gesellschaftlicher degree wird also sakralisiert und legitimiert somit sowohl die bestehende Ordnung des Tudorstaats als auch die absolute Position der Monarchin als Stellvertreter Gottes. Dieses Weltbild gerät ins Wanken. In Anbetracht der sich ankündigenden Pluralisierung der Autoritäten und der beginnenden Auflösung des hierarchischen Weltbildes kommt der Mensch dazu, sich als Subjekt zu sehen, dessen Ort nicht prädestiniert, sondern disponibel ist. Diese Entwicklung bedeutet neue Freiheiten, produziert aber zugleich eine tiefgreifende Unsicherheit: Im langsamen Prozeß von einer stratifizierten zu einer funktionalen Gesellschaft, [...] im Wechsel von der Substantialität zur Arbitrarität ergibt sich zeitweilig eine umbruchstypische „Unzuverlässigkeit des Signifikanten“, in der die Lesbarkeit der Welt bedrohlich schwindet. 44 Neben progressiven Strömungen verstärken sich konservative Bewegungen, die beharrlich das alte religiöse Weltbild und die damit einhergehende fixe Gesellschaftsstruktur verteidigen. Um die Rangordnung zu sichern und zu demonstrieren, gibt es in der Renaissance unterschiedliche politische und soziale Maßnahmen. Im Rahmen unserer Diskussion von As You Like It sind die sumptuary laws (Aufwandsgesetze) von besonderer Bedeutung. Die Luxusgesetzgebung ist von der Herrschaft Edwards III bis zu der Jakobs I relevant, die Regierungszeit Elizabeths I bildet ihren Höhepunkt. In einem Erlass vom 13. August 1567 beispielsweise (dem Jahr, in dem das erste Theaterhaus in London eröffnet wird) macht Elizabeth die zügellose Übertreibung bei der Kleidung für soziale Übel verantwortlich. Die Gesetze verbieten Nichtadeligen aufwändige Kleidung und legen für jeden Stand minutiös genau die erlaubte Kleidung fest. Damit wird ein vestimentärer Code, der in fast allen Gesellschaften latent existiert, explizit gemacht und zum Regulativ. Die Aufwandsgesetze versuchen also, die eindeutige Lesbarkeit von gekleideten Körpern zu garantieren und gegen die drohende Unzuverlässigkeit des Signifikanten anzugehen. In erster Linie soll damit die Position in der sozialen Hierarchie erkennbar werden, aber die Gesetze ziehen auch eine scharfe Trennlinie zwischen männlicher und weiblicher Kleidung. Jegliche Ambivalenz, sei es im Hinblick auf Klasse oder auf Geschlecht, soll unterbunden werden. In der frühen Neuzeit gibt es nicht nur auf, sondern auch jenseits der Bühne Fälle von Crossdressing. 45 Frauen verschiedener sozialer Herkunft, die in der Öffentlichkeit Männerkleidung trugen, untergruben die Eindeutigkeit des geltenden vestimentären Codes und vergrößerten die Unsicherheit bezüglich der Beständigkeit des Subjekts, der Geschlechter-Grenzen und damit der Weltordnung. Sie werden von den Puritanern heftig kritisiert, die sich auf das Bibelwort berufen, „Eine Frau soll nicht Männerkleidung tragen, und ein Mann soll nicht Frauenkleider anziehen; denn 44 Mahler 1995: 119-120. 45 Howard 1988: 421. Christina Wald 186 wer das tut, der ist dem Herrn, Deinem Gott, ein Greuel“. 46 In der Streitschrift Hic Mulier aus dem Jahre 1620 werden die ‚Mannsfrauen’ nicht nur wegen ihrer transvestitischen Kleidung, sondern auch wegen „bold speech“ und „impudent action“ als „monstrous“ verdammt. Im Jahr der Uraufführung von As You Like It weist John Rainoldes in einer Streitschrift auch auf Gefahren des männlichen Crossdressing hin: For the apparell of women is a great provocation of men to lust and lecherie: because a woman’s garment beeing put on a man doeth vehemently touch and moue him with the remembrance and imagination of a woman; and the imagination of a thing desirable doth stirr up the desire. 47 Die Wichtigkeit geschlechtlich eindeutiger Kleidung hat einen weiteren Grund im damals geltenden medizinischen Geschlechtermodell. In der Renaissance werden die Geschlechter anders wahrgenommen, als wir es heute gewohnt sind. Grundlegende Vorstellung ist ein Ein-Geschlecht-Modell, das teleologisch männlich konzipiert ist. 48 Nach diesem medizinischen Modell ist das einzig bestehende Geschlecht männlich, Frauen werden als unvollständige Männer betrachtet. Aufgrund mangelnder Körperwärme (ein wichtiger Katalysator in der damals geltenden galenischen Theorie der Körpersäfte) sind Frauen nicht vollkommen entwickelt, das heißt ihr Geschlechtsorgan ist nicht aus dem Körper ausgetreten: Die Gebärmutter gilt als ein nach innen verkehrter Penis. Damit ist die Grenze zwischen den Geschlechtern biologisch fließender als im heute üblichen Zwei-Geschlecht-Modell, das sich seit dem 17. Jahrhundert etablierte. Weil dies nicht auf anatomischer Basis hinreichend möglich ist, müssen die Grenzen zwischen den sozialen Geschlechtern also auf andere Weise deutlich gezogen werden. Dies geschieht durch Differenzierung im Verhalten und vor allem durch die Kleidung. In dieser Hinsicht ist es also umso einleuchtender, dass das Anlegen von männlicher Kleidung und männlichem Verhalten Rosalind in den Augen ihrer Umwelt zum Mann macht, dass Kleidung also identitätsstiftende Kraft hat. In As You Like It spiegelt die Binnenstruktur der Verkleidung den theatralen Rahmen und weist auf die Verkleidung des boy actor hin; damit erweitert Shakespeare den Verkleidungs- und Maskeradenplot, wie er ihn seiner Prosaquelle, Thomas Lodges Rosalynd, entnehmen konnte, durch den Medienwechsel zur theatralen Aufführung um eine weitere Ebene. Explizite, metatheatrale Bezüge auf diese Theaterkonvention finden sich vielfach im Laufe des Dramas, besonders deutlich wird die Anerkennung der Konvention aber zum Ende der Handlung, im Epilog: Kaum trägt Rosalind wieder die ihrem Geschlecht angemessene Kleidung und erscheint damit als das was sie ‚wirklich’ ist, nämlich als Frau, weist sie im Epilog darauf hin, dass sie außerhalb der Fiktion des Stückes wieder in einer Crossdressing-Situation ist: „If I were a woman, I would kiss as many of you as had beards that pleased me, complexions that liked me, and breaths that I defied not“ (Epilogue, 14-16). 46 5 Mose 22,5. 47 Rainoldes 1599: 97. 48 Vgl. Greenblatt 1988: 88 und Laqueur 1990. Gender-Performativität und theatrale Performance 187 Indem der boy actor seine männliche Identität offenbart („If I were a woman…“) und gleichzeitig im Potentialis mit den Männern im Publikum flirtet, wird die erotische und geschlechtliche Ambivalenz, die im Stück gegenwärtig ist, im Epilog noch einmal pointiert aufgegriffen und der Verwirrung des intradiegetischen Verkleidungsspiels noch die extradiegetische Komponente hinzugefügt: Wir haben es mit einem Mann zu tun, der eine Frau spielt, die einen Mann spielt, der eine Frau spielt. Ob dieses Spiel mit Geschlechtsidentitäten den Zuschauern der Uraufführung von As You Like It im Jahre 1599 ein konstruktivistisches Verständnis von Geschlechtsidentität nahe legte und die bestehenden Normen kritisch hinterfragte, oder ob das Drama und dessen Aufführung mit boy actors den Status Quo nicht letztlich bestätigte, lässt sich natürlich kaum rekonstruieren und ist in der Forschung heftig umstritten. 49 Die komplexe Handlung und Aufführungspraxis von As You Like It gibt sicher keine eindeutigen Antworten, allerdings zeigen die zitierten zeitgenössischen Quellen, dass das Drama zentrale soziohistorische Fragen verhandelte, gerade nach der Eindeutigkeit von Geschlechtsidentität, die uns, in anderen Kontexten, bis heute beschäftigen. Rund 400 Jahre vor Butlers Formulierung ihres Theorems der Geschlechter-Performativität bringt As You Like It bereits eine konstruktivistische Lesart von Geschlecht ins Spiel und demonstriert so, wie produktiv sich Performativität und theatrale Performance zusammenbringen lassen. Literaturverzeichnis Austin, John L. 1962. How to Do Things with Words. Cambridge, MA: Harvard UP. (deutsche Übersetzung: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam, 1972). Breen, Margaret Sönser und Warren J. Blumfeld, eds. 2005. Butler Matters. Judith Butler's Impact on Feminist and Queer Studies. Aldershot: Ashgate. Brennan, Claire. 2001. The Poetry of Sylvia Plath: Essays, Articles and Reviews. New York: Columbia UP. Bristow, Joseph und Trev Lynn Broughton, eds. 1997. The Infernal Desires of Angela Carter: Fiction, Femininity, Feminism. London: Longman. Britzolakis, Christina. 1999. Sylvia Plath and the Theatre of Mourning. Oxford: Oxford UP. Butler, Judith. 1988. „Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory.“ Performing Feminisms: Feminist Critical Theory and Theatre. Ed. Sue- 49 Einschätzungen sind abhängig vom Erkenntnisinteresse des jeweiligen Wissenschaftlers/ der Wissenschaftlerin und dem zeitlichem Kontext. So betonte die feministische Forschung der 1970er Jahre stark den patriarchalischen Aspekt des elisabethanischen Theaters, während neuere Arbeiten, besonders im Bereich der Gender Studies, auch auf das subversive Potential des Rollentauschs hinweisen. Ina Schabert ist eine Vertreterin der feministischen Lesart, die die boy actors als Teil des systematischen Ausschlusses von Frauen in der Theaterproduktion der Shakespearezeit sieht. Für Robert Weimann zeigen die boy actors das weibliche Geschlecht nie naturhaft, sondern immer schon als Resultat einer sozial bedingten Konstruktion. Innerhalb der vorgegebenen patriarchalischen Zwänge ermöglichen sie damit einen Gestus der Distanz zu der (im Machtinteresse der Herrschenden konstruierten) Geschlechterrollenverteilung. Neben Weimann sind wichtige Vertreterinnen einer subversiven Lesart Jean E. Howard, Marjorie Garber, Stephen Orgel, Valerie Traub und Tracey Sedinger. Christina Wald 188 Ellen Case. Baltimore and London: The Johns Hopkins UP. 270-282 (deutsche Übersetzung: „Performative Akte und Geschlechterkonstitution.“ Performanz: Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Ed. Uwe Wirth. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002. 301-320). -----. 1990. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. Tenth Anniversary Edition. London and New York: Routledge, 1999. (deutsche Übersetzung: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991). -----. 1993. Bodies that Matter: On the Discursive Limits of „Sex“. London and New York: Routledge. (deutsche Übersetzung: Körper von Gewicht. Frankfurt a. 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Zudem sei mit einer Wiederholung „oft […] weniger oder gar nicht die bestimmte wortfolge gemeint, sondern mehr oder nur der inhalt,“ wobei sich dann eine weitere Bedeutungsspannweite des Begriffes zeigt, die von „etwas heranziehen, zitieren“ und von der „sinngemäsze[n] wiedergabe eines textes in einer anderen sprache“ bis hin zu Bedeutungsschattierungen bei solchen Belegen reicht, „denen die vorstellungen rekonstruierender erinnerung oder nachschaffender darstellung gemeinsam sind“. 1 Die Wiederholung, oder besser, die Beobachtung und die Konstruktion von Wiederholungen durchdringt unser gesamtes Leben, wie gerade auch der Blick auf die Beziehung zwischen Wiederholung und Erinnerung deutlich macht. Um zu verstehen, um zu lernen, müssen wir wiederholen - einzelne Buchstaben, Laute, Wörter, Sätze, Tätigkeiten. Jede Erfahrung in der Gegenwart setzt eine potentielle Wiederholung von Vergangenem für Zukünftiges voraus. Wiederholung ist einerseits ohne und jenseits von Zeit nicht denkbar, andererseits auch wegen des temporalen Kontinuums, in dem sie konstituiert wird, im strengen Sinne unmöglich, wie noch zu zeigen sein wird. Das hier angedeutete paradoxe Verhältnis von der Einmaligkeit eines Wortes, einer Handlung oder eines Geschehens in der Zeit und deren Vergleichbarkeit und Wiederholbarkeit berührt selbst die organische/ anorganische Makrostruktur unserer Existenz, wenn etwa die Ontogenese eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenese darstellt, da verschiedene Arten trotz phylogenetischer Differenz gerade in ihren ontogenetischen Frühstadien erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen. Auch im Bereich des Kosmischen erkennen wir Sich-Wiederholendes: Der Komet Halley zum Beispiel kehrt im Mittel alle 76 Jahre auf einer Bahn wieder, die ihrerseits die Bahnen von Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun kreuzt. Unsere kalendarischen Jahreszeiten erklären sich aus dem ein Jahr dauernden Erdenumlauf um die Sonne, wobei die Erde auf Grund der Neigung der Erdachse zur Erdbahnebene in unterschiedlicher Weise beschienen wird. Dies betrifft jahreszeitabhängig immer wieder 1 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 29 (München: dtv, 1984), 1047ff. Martin Middeke 192 sowohl die Dauer als auch den Winkel, in denen die Erde vom Sonnenlicht bestrahlt wird. Diese natürlichen Zeitrhythmen sind überhaupt existent, weil wir sie als solche wahrnehmen; weil wir sie als solche Rhythmen einteilen und strukturieren; weil wir im Verschiedenen Ähnlichkeiten ausmachen (müssen); weil wir uns erinnern; weil wir die beobachteten kosmischen Geschehnisse etwa in die synthetisierte Zeit eines Kalenders eintragen, um sie nicht nur begreifbar, sondern rekapitulierbar zu machen, um Ähnlichkeiten zu konstruieren, zu kon- und refigurieren, um unserer Existenz rationales Verstehen, Orientierung und Sinnhaftigkeit zu ermöglichen. Dies führt zurück bis zu den mythischen Grundfesten unserer Existenz, die im Mythos selbst, der keine Zeit kennt, da er vielmehr das Zeitlos-Numinose in der stetigen Wiederholung eines heiligen Urgeschehens verkörpert, und im Ritual, im Archetyp wiederholbare Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster akkumuliert. Gerade im Ritual zeigen sich für die mythische Denkweise konstituierende anthropologische Universalien wie eine in der Wiederholung gewonnene Sicherheit und Stabilität. Ebenso artikulieren sich als Archetypen solche im kollektiven Unbewussten angesiedelten Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster und Urerfahrungen der Menschheit wie etwa die Geburt, die Kindheit, die Pubertät, ein Kind zu bekommen, selbst Eltern zu sein, alt zu werden und zu sterben, die wir als sich wiederholende Lebenszyklen wahrnehmen, die uns zugleich stabilisierend wie Angst einflößend begegnen. Philosophische Ansätze haben die Wiederholung aus verschiedensten Perspektiven betrachtet, wie im Folgenden wenige Schlaglichter beleuchten sollen: Platons Urbild-Abbild Dualität trennt von der Welt des Gegenständlich-Wirklichen das Reich der Ideen ab, welches ersterem übergeordnet ist. Beschreiben die Ideen unveränderliche, unvergängliche Urbilder, so konstituieren die Gegenstände vergängliche, veränderliche Abbilder. Urbild und Abbild bleiben dennoch ineinander verschränkt. Das Abbild hat immer Teil am Urbild, das Urbild wiederum wird im Abbild gegenwärtig. Der Verstand nimmt die Gegenstände sinnlich wahr (empeiria) und wiedererinnert (anamnesis) in jedem Gegenstand die dahinter verborgene Idee (z.B. des Wahren, des Guten, des Schönen). 2 - Søren Kierkegaard betrachtet 1843 Wiederholung und Erinnerung als gleiche Bewegung, gleichwohl in entgegengesetzter Richtung verlaufend: „dasjenige, woran man sich erinnert, ist gewesen, wird rückwärts 2 Siehe, zum Beispiel, die in Platons Phaidon, 27 c-e, diskutierte Frage nach der Sichtbarkeit des Körpers und der Unsichtbarkeit der Seele im Kontext der Idee von Liebe: „Haben wir nicht auch schon lange gesagt, dass die Seele, wenn sie den Körper zur Hilfe nimmt, um etwas zu untersuchen, entweder mittels des Sehens oder des Hörens oder mittels irgendeiner anderen Wahrnehmungsart - denn das heißt »mittels des Körpers«: etwas mittels der Sinne zu untersuchen - dass sie dann vom Körper zu dem sozusagen gezogen wird, was sich niemals gleich verhält, und dann selbst irregeht und verwirrt wird und taumelt wie berauscht, weil sie derartiges berührt? […] Wenn sie aber ganz für sich etwas untersucht, dann geht sie zu dem Reinen und immer Seienden, Unsterblichen und sich immer gleich Verhaltenden, und als ihm verwandt bleibt sie immer bei ihm, so oft sie ganz für sich ist und es ihr möglich ist; und dann hat ihr Umherirren ein Ende und sie bleibt in bezug auf jenes sich selbst immer gleich, weil sie derartiges berührt.“ Platon, Phaidon. Griechisch-deutsch. Übers. und hg. Barbara Zehnpfennig. (Hamburg: Meiner, 2 2008), S. 67. Literatur und Wiederholung 193 wiederholt, während die eigentliche Wiederholung eine Erinnerung in vorwärtiger Richtung ist.“ 3 Kierkegaard bindet die Wiederholung an die Vorstellung von Glück, die Erinnerung an die Vorstellung von Unglück. Etwas zu wiederholen bedeutet, für sich Glück herzustellen; geglückte Wiederholung bindet Kierkegaard an das Gefühl und den Moment geglückter Liebe. - Karl Marx hat bekanntlich gesagt, dass große weltgeschichtliche Fakten und Personen sich zweimal ereignen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce, 4 womit er den differenten, (selbst-)parodistischen Charakter, der einer Wiederholung beiwohnen kann, betont. Friedrich Nietzsche wollte mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen gegen eine christliche Teleologie auf der einen, aber auch gegen den Nihilismus auf der anderen Seite ein Modell vorschlagen, das besagte, dass alles schon einmal da gewesen sei, jeder Moment aber auch Neues entstehen lasse. Mit diesem paradox zugleich linearen wie zirkulären Modell entsteht eine Spiralstruktur, die sowohl jeden einzelnen Moment neu, unverbraucht und unvorbelastet konzipiert als auch auf der Wiederholung und Wieder-Erinnerung des Vergangenen basiert. Nietzsche intendiert mit der Spiralstruktur der Ewigen Wiederkunft eine Verbindung der kreisförmig verlaufenden, antiken herakliteischen Lehre mit dem neuzeitlichen Zeitpfeil der modernen Physik (etwa dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik) - eine Versöhnung gleichsam von zirkulärer, mythisch-geschlossener heidnischer Kosmologie und der Linearität eines physikalischen wie säkular christlichen Fortschrittsdenkens. Diese beabsichtigte Versöhnung sollte dem Eindruck umfassender Sinnlosigkeit des Laufes von Natur und Welt den Stachel nehmen, so entgegnen die Tiere Zarathustra: »Oh, Zarathustra«, sagten sie, »nun liegst du schon sieben Tage so, mit schweren Augen: willst du dich nicht endlich wieder auf deine Füße stellen? Tritt hinaus aus deiner Höhle: die Welt wartet dein wie ein Garten. Der Wind spielt mit schweren Wohlgerüchen, die zu dir wollen; und alle Bäche möchten dir nachlaufen. Alle Dinge sehnen sich nach dir, dieweil du sieben Tage allein bliebst, - tritt hinaus aus deiner Höhle! Alle Dinge wollen deine Ärzte sein! Kam wohl eine neue Erkenntnis zu dir, eine saure, schwere? Gleich angesäuertem Teige lagst du, deine Seele ging auf und schwoll über alle ihre Ränder. -« - O meine Tiere, antwortete Zarathustra, schwätzt also weiter und laßt mich zuhören! Es erquickt mich so, daß ihr schwätzt: wo geschwätzt wird, da liegt mir schon die Welt wie ein Garten. Wie lieblich ist es, daß Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen Ewig-Geschiedenem? Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt. Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken. Für mich - wie gäbe es ein Außer-mir? Es gibt kein Außen! Aber das vergessen wir bei allen Tönen; wie lieblich ist es, daß wir vergessen! 3 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung. Übers. und hg. Hans Rochol (Hamburg: Meiner, 2000), S. 3. 4 Siehe Karl Marx, “Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte”, Studienausgabe in 4 Bänden, Bd. IV, Geschichte und Politik: Abhandlungen und Zeitungsaufsätze zur Zeitgeschichte. Hg. Iring Fetscher (Frankfurt a. M.: Fischer, 1971), S. 34. Martin Middeke 194 Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, daß der Mensch sich an den Dingen erquicke? Es ist eine schöne Narretei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge. Wie lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne! Mit Tönen tanzt unsre Liebe auf bunten Regenbögen. - - »O Zarathustra«, sagten darauf die Tiere, »solchen, die denken wie wir, tanzen alle Dinge selber: das kommt und reicht sich die Hand und lacht und flieht - und kommt zurück. Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.«“ 5 Mircea Eliade koppelt die Wirklichkeit eines Gegenstandes oder einer Handlung an die Nachahmung eines Archetyps und an Wiederholung als solche. Wirklichkeit werde, so Eliade, ausschließlich durch Wiederholung erworben: „alles was kein exemplarisches Vorbild besitzt, ist des Sinnes entblößt, das heißt, es besitzt keine Wirklichkeit. Die Menschen müssten demnach die Tendenz haben, archetypisch und paradigmatisch zu werden.“ 6 Dagegen sei, um all die Brisanz des Problems der Bewertung von Wiederholung und Wiederholbarkeit überhaupt aufzuzeigen, für einen Augenblick Walter Pater gestellt, dem es geradezu als Versagen vorkommt, im Leben Gewohnheiten herauszubilden: „for, after all, habit is relative to a stereotyped world, and meantime it is only the roughness of the eye that makes any two persons, things, situations, seem alike.“ 7 Statt nach der Identität in der Wiederholung zu suchen, statt den Menschen zum Paradigma zu machen, gilt es, aus der temporalen Differenz, die Immer-Neues hervorbringt, das Beste zu machen - fortwährend neue sinnliche Erfahrungen. - Ähnlich wie Karl Marx sieht auch Henri Bergson das komische Potential in der Wiederholung, die eine Inversion gleicher Situationen unter (notwendig, da temporal von einander getrennt) verschiedenen Umständen impliziert. „Stellen Sie sich bestimmte Personen in einer bestimmten Situation vor“, so Bergson, „dann kehren sie diese Situation um und vertauschen Sie die Rollen: das Ergebnis ist eine komische Szene.“ 8 Exakte Wiederholbarkeit - eine präzise Wiederholung ohne Differenzen - und Umkehrbarkeit sind für Bergson die Kennzeichen einer Maschine, welche uns in dem Moment zum Lachen bringen, wenn sie auf den Menschen übertragen werden: „hat sich eine komische Szene oft genug wiederholt, so […] wirkt [sie] an sich lustig, ganz unabhängig von den Ursachen, die sie bewirkt haben, dass 5 Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zarathustra, „Der Genesende“. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. VI.1. Hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Berlin: de Gruyter, 1968), S. 267- 69. 6 Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr (Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1966), S. 73. 7 Walter Pater, The Renaissance: Studies in Art and Poetry. Hg. Adam Phillips (Oxford/ New York: Oxford UP, 1986), S. 152. 8 Henri Bergson, Das Lachen: Ein Essay über die Bedeutung des Komischen (Darmstadt: Luchterhand Literaturverlag, 1988), S. 66. Literatur und Wiederholung 195 wir sie lustig fanden“. 9 - Psychoanalytisch gewendet ist es kennzeichnend für den Menschen, dass er bestimmte Erfahrungen und Handlungen immer wiederholt. Kinder wiederholen im Spiel, was sie erlebt haben. Wir lernen, indem wir bestimmte Dinge einüben und trainieren, d.h. beständig wiederholen. Wiederholung schafft Vertrautheit, Sicherheit und ein Gefühl für die eigene Identität. ‚Jenseits des Lustprinzips’ lokalisierte Sigmund Freud lokalisierte einen Wiederholungszwang und meinte damit die Tendenz eines Menschen, schmerzhafte und traumatische Erfahrungen zu wiederholen. 10 Unangenehme Situationen werden wieder und wieder herbeigeführt und wieder erlebt, ohne dass sich der Betroffene an die ursprüngliche Ausgangssituation erinnert. Dabei kann sich die Wiederholung durchaus in symbolischer Form etwa im Traum vollziehen. Fälle wie die Frau, die als Prostituierte arbeitet und die als Kind von ihrem Vater wiederholt sexuell missbraucht wurde, dokumentieren dieses Festhalten an Verhaltensmustern oder auch Beziehungsmustern, unter denen die Betroffenen gerade am stärksten leiden. Der Wiederholungstrieb erzwingt nach Freud die Wiederholung des Traumas, Freud war der Ansicht, der Wiederholungszwang sei stärker noch als das Lustprinzip und glaubte ihn vom Todestrieb gesteuert. Gewohnheiten und Automatismen des Alltags sind nicht denkbar ohne Wiederholung. Die Sprache und selbstverständlich insbesondere die künstlerische Sprache sind durchsetzt von Wiederholungen auf der Motivebene (etwa in ausgefeilten leitmotivischen Strukturen); in sich wiederholenden, rekurrierenden oder rekursiven Handlungssequenzen; Parallelismen; als rhetorisches Mittel können Klänge, Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze, Phrasen und Ideen wiederholt werden. Die Funktion dieser rhetorischen Figuren kann dabei ebenso variieren wie die Bewertung, ob eine rhetorische Figur gelungen angewendet wurde oder nicht. Hamlets Epizeuxis „words, words, words“ etwa (II, ii, 192) rekurriert auf die Bedeutungslosigkeit von Sprache überhaupt; in einer politischen Stellungnahme G. W. Bushs liest sich das für politische Reden durchaus charakteristische rhetorische Mittel der conduplicatio - „And the world said, disarm, disclose, or face serious consequences … and therefore, we worked with the world, we worked to make sure that Saddam Hussein heard the message of the world“ (Pressekonferenz des Weißen Hauses, 22. 3. 2006) - mithin eher linkisch. In der Musik ist die Wiederholung extrem produktiv: Einzelne Töne oder ganze Sequenzen werden wiederholt, wieder aufgenommen, variiert. Musikalische Bauformen wie etwa die Fuge werden durch rigide festgelegte Wiederholungs- und Variationsmuster definiert. Ganz besonders produktiv sind obsessive Widerholungen kleinster Einheiten wie Einzeltöne, Harmonien und Phrasen in Minimal Music und im Werk solcher Komponisten wie Steve Reich, Philip Glass, Terry Riley oder La Monte Young, deren Arbeiten von früheren Komponisten wie John Cage, Eric Satie oder Morton Feldman beeinflusst sind. Minimal Music - wie generell Minimal Art - 9 Bergson, Das Lachen, S. 67. 10 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Studienausgabe, Bd. III: Psychologie des Unbewußten, (Frankfurt am Main: Fischer, 1975), S. 213-272 Martin Middeke 196 ist von Abfolgen steter, monotoner, gleichförmiger Rhythmen und Formen gekennzeichnet. Es herrscht ein vordergründiges Gefühl des Statischen vor, des Unbeweglichen, ein Insistieren auf Ton- und Klangfolgen mit langsamer, minimaler Transformation. Hier überwiegt der Eindruck des Immergleichen einerseits, andererseits werden durch das scheinbar Immergleiche feinste Differenzen, Variationen, Mutationen sichtbar gemacht, welche im Wiederholten den ästhetischen Augenblick kontrahieren und das Verstreichen von Zeit nur umso mehr akzentuieren. Unerheblich von welcher Perspektive aus man das Phänomen der Wiederholung betrachtet, es beschreibt eine paradoxe coincidentia oppositorum. Die Erscheinungsformen und Funktionsweisen der Wiederholung weisen auf Kontrastfelder unterschiedlicher Anschauungen hin, die im folgenden zunächst weiter systematischliteraturtheoretisch und dann interpretierend anhand verschiedener Beispiele aus der Literatur analysiert werden sollen. II. Kontrastfelder der Wiederholung 1. Literatur zwischen Wiederholung und Wörtlichkeit/ Singularität Einen solch zentralen Kontrast stellt, wie Eckhard Lobsien auf ausgezeichnete Weise dargelegt hat, das Spannungsfeld zwischen Wörtlichkeit/ Singularität und Wiederholung dar. Lobsien beginnt mit einer paradoxen Beobachtung: Wo man behaupten kann, alles, worauf sich eine redende oder reflektierende Bezugnahme zu richten vermag, sei eine Wiederholung, (als Repräsentation eines Vorbildes oder Schemas; als Spezifikation eines Archetyps; als kontingente Variation eines Selben), da lässt sich auch die genaue Gegenmeinung darlegen: alles sei, sofern es für jemanden überhaupt etwas sei, absolute unwiederholte und unwiederholbare Singularität (etwa als unumkehrbarer Fluss ununterscheidbarer, wiewohl prägnanter Gegebenheiten in intensiver Mannigfaltigkeit; als nicht abstraktionsfähige Amalgamierung von Augenblicken; als unverwechselbare sinnliche Jeweiligkeit; als permanente Verschiebung, Differenzbildung, Uneinholbarkeit und Nicht-Definierbarkeit). 11 Eine Wiederholung stellt, so sagt Lobsien richtig, ein objektives und objektivierbares Faktum dar, das nur insofern existiert, als „sie bemerkt und in eben diesem Bemerken als Textqualität konstituiert wird“. 12 Die Wiederkehr eines Elementes A unter veränderten (temporalen) Kontextbedingungen hebt den Textfortgang auf und nimmt dem wiederholt auftretenden Element seine Singularität. Lobsien fragt zu Recht, ob wir nicht alle zwangsläufig literarische Texte so lesen, als begegneten uns 11 Eckhard Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung: Phänomenologie poetischer Sprache (München: Fink, 1995), S. 8. 12 Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 9. Literatur und Wiederholung 197 die Wörter zum ersten Mal und bezeichnet die Einmaligkeit von Lese- / Rezeptionsaugenblick als „unhintergehbare Primärerfahrung“. 13 Der Aspekt der Wörtlichkeit eines literarischen Textes und seiner Sprache ist ohne Zweifel am ästhetischen Augenblick und seiner Plötzlichkeit orientiert und beschreibt damit eine zunächst einmal de-temporalisierte Perspektive, die den Zeitfluss momentan zu kontrahieren, ihn vielleicht sogar imaginär zu suspendieren in der Lage sein mag, ihn gleichwohl nicht, wie ich anders als Lobsien meine, umzukehren in der Lage ist. 14 Dagegen bringt die Wiederholung nun dezidiert, wie auch Lobsien völlig richtig sieht, die Zeit als unhintergehbares Ordnungsprinzip von Text und auch von dessen Rezeption ins Bewusstsein: [W]enn sich in einem Text etwas wiederholt, dann kehrt es aus einer vergangenen Zeitstelle - aus einem auffindbaren Ort im schon gelesenen Text oder aus einem […] Ort im Lektüregedächtnis - zurück in die gegenwärtige Wahrnehmung. Zwei Zeitstellen, A° (der gegenwärtige Moment und das von ihm konkretisierte Textstück) und A (deren frühere Version), werden gegeneinander abgehoben, so dass die unter dem Signum der Wörtlichkeit intendierte Verschlingung, Kontraktion, Synthese, Ununterscheidbarmachung dieser Positionen sich auflöst. 15 Tatsächlich bestreitet und durchkreuzt jede gedachte Wiederholung die Möglichkeit von Wörtlichkeit und Singularität. Indes, jedes auf dem Zeitpfeil notwendig von einem zweiten nachfolgenden Ereignis getrennte Ereignis, das dem vorausgehenden zwar ähnlich, doch von ihm dennoch ewig different ist und somit eben singuläre erscheint, beschreibt paradoxerweise zugleich die Unmöglichkeit der Wiederholung. Darauf komme ich noch weiter unten zu sprechen. Es kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass das Kontrastfeld aus Wörtlichkeit und Wiederholung ein paradoxes Ineinander-Verschränktsein offenlegt, welches sowohl den literarischen Text als auch seine Lektüre charakterisiert: Erst eine Wörtlichkeit durch Wiederholung und eine Wiederholung nach vorgängiger Wörtlichkeit stiften das, was belangvollerweise als Lektüre bezeichnet werden darf. Die wechselseitige Verschränkung von Wörtlichkeit und Wiederholung, ihre sozusagen chiastische Disposition, befördert Texte in den Bereich genuiner, unverwechselbarer Erfahrung. 16 Betrachtet man nun die daraus folgenden Funktionen ästhetischer Strukturen, die auf diesem paradox-chiastischen Verhältnis von Wörtlichkeit und Wiederholung aufbauen, und - vor allem - lässt man die Existenz der Wiederholung als Fiktion und 13 Ibid. Siehe in diesem Kontext u.a. auch: Derek Attridge, The Singularity of Literature (London, Routledge, 2004). Oder viel früher Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit: Zum Augenblick des äshetischen Scheins (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981). 14 Vgl. Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 10. Die Umkehrung des linearen (thermodynamischen) Zeitpfeils mag zwar ein existentielles Desiderat darstellen, ist selbstverständlich auch im Kontext von Erzählzeit und erzählter Zeit ein zutiefst paradoxes Anliegen. Siehe dazu u. a. meine frühere Studie Die Kunst der gelebten Zeit: Zur Phänomenologie literarischer Subjektivität im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004). 15 Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 11. 16 Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 13. Martin Middeke 198 (pragmatisch sinnvolle) Arbeitshypothese gegen den Zeitstrom überhaupt gelten, dann tut sich eine Funktions- und Deutungsbandbreite auf, die von hermeneutischer Bestätigung bis hin zu dekonstruierender Offenlegung der Unmöglichkeit einer Wiederholung und der damit zusammenhängenden semiotischen Zerrüttung aller Versuche, diese Wiederholung zu konstruieren, reicht. Lobsien macht dabei ganz vorzüglich auf den Modellcharakter aufmerksam, der einem literarischen Text dabei zukommt. Jeder historische wie strukturelle Bezug zur Lebenswelt, den ein Text (re-) konfiguriert, ist immer zeichenvermittelt und somit semiotisch gebrochen. Die Auslegung des Textes nun, seine verstehende Interpretation wird zum Sonderfall, zum Muster gleichsam „der zirkulären Selbstauslegung des Daseins, die vom jeweils gegebenen Detail ausgreift auf eine vollkommene, wenn auch imaginäre Ganzheit, die sich faktisch nur in dem sukzessiven Durchgang durch den Text und also nie wirklich vollkommen erschließt“. 17 Das Spannungsfeld von Wörtlichkeit und Wiederholung weist als paradoxe présence/ absence zugleich auf die Zeitebenen unmittelbarer Präsenz, deren Entzug und nachfolgende Wiederkehr aus vergangener Absenz hin, die jeden hermeneutischen Verstehensprozess begleitet. Jeder Leseprozess lässt den Augenblick der Präsenz - dem phänomenologischen, linearen Ineinander-Übergehen von Protentionen in Impressionen und zuletzt in Retentionen in der Wahrnehmung strukturell gleich - im selben Moment zur Abwesenheit werden, derer man sich erinnert, die man vergegenwärtigen muss, um verstehen zu können. 18 Wenn ein Element als Wiederholung qualifiziert ist, dann verweist es auf ein früheres, welches in ihm als identisch, dasselbe oder doch als ein gleiches abgebildet ist. Jeder Leseprozess im Besonderen und jeder sprachliche Verstehensprozess im Allgemeinen ist überhaupt nur denkbar auf der Basis des erinnernden Reproduzierens. Die Wiederholung selbst scheint ohne dieses erinnernde Reproduzieren unmöglich: „Ohne die erinnernde Vergegenwärtigung des früheren A kann das jetzt gegebene A° nicht als dessen Wiederkehr, Abbild, Repräsentant, also nicht als A° (A) erkannt werden; die Gewärtigung einer Wiederholung impliziert eo ipso die möglichst adäquate Reproduktion des Wiederholten“. 19 So wie die Wiederholung auf ein synthetisches Gelingen dieser Vergegenwärtigung angewiesen ist, so sehr impliziert diese Vergegenwärtigung von etwas Vergangenem auch stets temporale Differenz, die die Erinnerung von dem gegenwärtigen Element abtrennt und es so trotz aller Ähnlichkeit in seiner Singularität bestärkt. Nichts wiederholt sich als etwas, das dasselbe wäre. 17 Ibid. 18 Siehe dazu auch Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik: Über die Produktion von Präsenz (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004). Gumbrecht wendet sich gegen die Ausschließlichkeit der Interpretation in den Geisteswissenschaften. Er plädiert für einen alternativen Zugang zur Welt neben der Interpretation: das ästhetische Erleben von Präsenz, d.h. von Augenblicks- und Körpererfahrung; kurz gesagt, für ‚Erleben’ statt ‚Verstehen’. 19 Siehe Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 15-16, Zitat S. 16. Literatur und Wiederholung 199 2. Literatur als Interaktionsfeld zweier Arten der Wiederholung (Platon vs. Nietzsche; realistischer vs. phänomenologischer Modus) Neben der Gegenüberstellung von Wörtlichkeit und Wiederholung ist das Feld von realistischer und phänomenologischer Betrachtungsweise der Wiederholung von Bedeutung, das Gilles Deleuze 20 und im Anschluss an ihn zentral J. Hillis Miller 21 in den Vordergrund rücken. Aus den philosophischen Denklinien Platons auf der einen und Friedrich Nietzsches auf der anderen Seite lassen sich, so Deleuze und Miller, zwei Arten der Wiederholung zu Tage fördern, die das bislang Gesagte noch einmal entscheidend präzisieren - insbesondere den Sachverhalt, dass es sich bei der Vorstellung einer wahren Wiederholung um einen konventionellen Konstruktionsakt handelt, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht als unkontrollierbaren Fluss, sondern als synthetisiertes Bezugssystem handelt, über das das wahrnehmende Subjekt existentiell und sozial verfügen kann. Die platonische Form der Wiederholung basiert auf Konsens, auf einer konventionalisierten, synthetisierten Zeit, die es gestattet, Unterschiede zwischen Dingen, Situationen, Personen, Zeichen auf der Basis einer vorgängigen bzw. vorausgehend festgesetzten Ähnlichkeit und Identität zu denken und zu deuten. Vor dem Hintergrund des Sich-selbst-Ähnlichen oder sogar Identischen werden Differenzen konstruiert. Dagegen wird von Deleuze nun die Position Nietzsches gestellt, die zeigt, dass alle Ähnlichkeit und alle Identität das Produkt fundamentaler Verschiedenheit sind und sich nur Unterschiede ähneln, d.h. vor dem Hintergrund des Immer- Verschiedenen können Ähnlichkeiten konstruiert werden. Während die Platonische Auffassung von Wiederholung die Welt als Kopien und Repräsentationen beschreibt, als ikonisch, als Produkte erinnernder Reflexion, bedeutet Nietzsches Konzeption der Wiederholung eine Welt als Simulakrum, die Welt selbst als Phantasma. 22 Was Deleuze „platonische Wiederholung“ nennt, basiert auf einem festen archetypischen Modell, das selbst von den Effekten der Wiederholung unberührt bleibt. Alle Konzeptionen von Imitation unterliegen diesem Modell, dieser Betrachtungsweise; der Wert Wiederholung, gedacht als eine mimetische Kopie, wird hergestellt durch die Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit der Korrespondenz mit dem, was kopiert wird. Dies ist bis heute die machtvolle Voraussetzung jeder realistischen Auffassung von Kunst und Literatur: Der Wert einer mimetischen Kopie wird behauptet durch die Wahrheit und Wahrhaftigkeit ihrer Referenz gegenüber dem, was kopiert, was abgebildet wird. Dieses Als-Ob des Wirklichkeitsbezugs konstituiert das realistische Grundprinzip. Auf dieser Basis allein sind kausallogisch verknüpfte Handlungsverläufe, ‚lebensechte‘ Figuren, glaubwürdige, d.h. nach-vollziehbare oder wiederholbare und somit auch konventionell zu reglementierende, ja zu normierende heteroreferentielle Wirklichkeitsbezüge überhaupt nur denkbar. Allein so, auf der Ebene dieser Art synthetisierter Zeit des Wiederholbaren ist der realistische Eindruck abrufbar, die Repräsentation (durch Sprache) sei bzw. könnte eine Abbildung (oder 20 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung (München: Fink, 1992). 21 J. Hillis Miller, Fiction and Repetition. Seven English Novels (Oxford: Blackwell, 1982). 22 Siehe J. Hillis Miller, Fiction and Repetition, S. 6-10. Martin Middeke 200 eine Wiederholung) realer Ereignisse sein, könnte Allgemein-Gültigkeit besitzen. Verschiedenes wird durch die Folie hypostasierter Ähnlichkeit/ Identität betrachtet und pragmatisch lebensweltlich umgesetzt. Der auf Nietzsches Denken basierende Modus der Wiederholung sieht dagegen eine Welt auf der Basis des Verschiedenen, des Differenten, welche jedes Ding, jedes Geschehnis, jede Person, jedes Zeichen an jeder Stelle in der Zeit zu etwas Singulärem, Einzigartigen, oder eben, wie zuvor gezeigt, „Wörtlichem“ macht. Deleuze vergleicht die „platonische“ Form der Wiederholung mit der bewussten, intendierten Erinnerung: Wiederholungen gehen hier auf einen Grundpunkt, einen Urgrund, einen Ursprung zurück, von dort aus Ähnlichkeiten abgeleitet, oder anders herum, auf die Ähnlichkeiten rückbezogen werden können. In Nietzsches Betrachtungsweise sind die Wiederholungen nicht ge-gründet, weil sie allein auf Bewusstseinseindrücken, auf das unmittelbare, augenblicksbezogene Erleben bezogen sind; Wahrheit erscheint immer als perspektivisch gebrochen: Sie entstehen aus dem Zusammenspiel zwischen für das Bewusstsein flüchtig ähnlich erscheinenden Dingen in einem Strom bloßen Erlebens, im Fluxus der Zeit, jenseits reflektierender Erinnerung. Was wir vor uns haben hat eher den Effekt eines traumgleichen Schattens in unabsichtlichem Erinnern: Es scheint so, als ob A° A wiederholte, aber tatsächlich stimmt das nicht, bzw. wenigstens nicht in dem realistischen Sinne der „platonischen Form“ eines Abbilds. Setzt die „platonische“ Erinnerung rationale, reflektierende, bewusste, beabsichtigte Erinnerung voraus, quasi als eine Tagesexistenz, konstruiert die zweite phänomenologische Form - dem Traum in der Nacht nicht unähnlich - vage Ähnlichkeiten, die Dinge, Situationen, Personen widersprüchlich und undurchschaubar ähnlich erscheinen lassen. Die zweite ist dabei nicht etwa die Verneinung der ersten Form der Wiederholung, sondern ihr ko-präsentes Gegenstück. Als Beispiel sei an Michael Henchard, den Mayor of Casterbridge in Thomas Hardys gleichnamigem Roman erinnert. Dieser glaubt, zuletzt genau an den Punkt gekommen zu sein, wo er anfangs seine Frau verkaufte, der Erzähler belehrt uns allerdings eines Besseren. Henchards Wiederholung, so realistisch sie ihm auch vorkommen mag, wird als Chimäre entlarvt - bei Hardy ein grausamer, entzaubernder Sachverhalt, in dem sich zweierlei zeigt: zum einen der Versuch jedes einzelnen, die Welt ordnend, denkend, typologisierend, wiederholend, erinnernd zu verstehen; zum anderen die Absage an die Möglichkeit, damit jemals erfolgreich sein zu können. Das Bild, das man sich von der Welt und den Dingen macht, bleibt ein Zerrbild trotz allen Heimwehs nach Zusammenhang; Walter Benjamin interpretiert Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit genau als solches Heimweh nach ganzheitlicher Welterfahrung und möglicher Wiederholung und zugleich als Einsicht in das wahre surrealistische Gesicht des Daseins. Dasein und Welt bleiben im Zustand umfassender Ähnlichkeit für immer entstellt. 23 23 Ich folge hier der Argumentation bei Miller, Fiction and Repetition, S. 10-15. Literatur und Wiederholung 201 3. Literatur und Iterabilität des Zeichens Jacques Derrida hat in einem ungemein wichtigen Aufsatz 24 gezeigt, dass das sprachliche Zeichen nicht nur das Gegenwärtigmachen eines Ur-Bildes, einer Ursprungs- Idee, sondern weit mehr als bloße Repräsentation von Ideen ist. Das Zeichen und der Zeichengebrauch in der Schrift sind charakterisiert durch die Abwesenheit eines Adressaten und eines Sprechers. Schriftliche Kommunikation muss dennoch trotz des völligen Verschwindens eines jeden Empfängers lesbar bleiben, damit sie als Schrift funktioniert. Sie muss in völliger Abwesenheit des Empfängers oder der empirisch feststellbaren Gesamtheit von Empfängern wiederholbar - iterierbar - sein. Diese Iterierbarkeit (Wiederholung mit Andersartigkeit) strukturiert das Zeichen der Schrift selbst. Eine Schrift, die nicht über den Tod des Empfängers hinaus strukturell lesbar, d. h. iterierbar ist, wäre, so Derrida, keine Schrift. Die Möglichkeit die Zeichen zu wiederholen und damit zu identifizieren, ist in jedem Code impliziert, macht diesen zu einem mitteilbaren, übermittlungsfähigen, entzifferbaren Gerüst. Anders als die Sprechakttheorie Austins und Searles sieht Derrida die Situation des Schreibers, was das Geschriebene angeht, im Grunde als dieselbe an wie die des Empfängers. Der Schrift haftet als iterativer Struktur Führungslosigkeit an. Sie ist von jeder absoluten Verantwortung und vom Bewusstsein von Intentionalität und Autorität in letzter Instanz abgeschnitten. Die Folgen dieser Kerneigenschaften der Schrift nach Derrida sind: a. der Bruch mit dem Horizont der Kommunikation als Kommunikation von Bewusstsein oder von Anwesenheiten; b. die Ablösung jeder Schrift von semantischen/ hermeneutischen Horizonten; c. Dissemination - ein Prozess, der die unreduzierbare Mannigfaltigkeit generativer Bedeutungsprozesse unterstreicht. Derridas spezifischem Zeichenbegriff entsprechend sind den sprachlichen Signifikanten keine festen Signifikate zugeordnet, vielmehr befinden sich diese in einem unabschließbaren Prozess der Differenzierung und gegenseitigen Ersetzung. Im freien Spiel der Differenzen wird Bedeutung immer wieder produziert, verschoben und ausgelöscht. Sprachliche und textuelle Bedeutung entsteht im ständigen Wechselbezug; d. die Disqualifizierung des ‚realen’ oder linguistisch-pragmatisch zementierbaren, absoluten Kontextes. 25 Iterabilität/ Wiederholbarkeit impliziert es, dass man ein schriftliches Syntagma aus der Verkettung, in der es gegeben oder eingefasst ist, immer herauslösen kann, ohne dass ihm dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens verloren gehen. Mann kann ihm neue Möglichkeiten „aufpfropfen“ (Derrida), kein Kontext kann ein Zeichen völlig einschließen. Vor allem manifestiert sich Iterabilität für Derrida in der Zitier- 24 Jacques Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, Randgänge der Philosophie. (Wien: Passagen, 1988), S. 291-314. 25 Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, S. 299. Martin Middeke 202 barkeit eines jeden Zeichens. Diese mag reichen von Beispielen unlimitierter Intertextualität in Imitation, Kopien, Parodien oder Pastiche (s. Abb. 1a und 1b) bis hin zu seriellen Wiederholungen wie Andy Warhols Marilyn Monroe Drucke (s. Abb. 2) oder Sherrie Levines Kopien der Originale (s. Abb. 3). In all diesen Beispielen liegt eine Doppelpoligkeit von Wörtlichkeit und Wiederholung vor: Einerseits rauben Parodie, Pastiche, Reproduktion und Zitat in der mehrfachen Verwendung des Wiederholten diesem seine Singularität, was eine iterative Serialität hervorbringt; 26 andererseits wird der semantische Gehalt der ursprünglichen Aussage im Zitat, in der Wiederholung mit Differenzen vervielfältigt und auf diese Weise eine neue Singularität, eine Originalität zweiter Ordnung generiert. Abb. 1a Jack Vettriano, „Purple Cat“ 26 Siehe Gilles Deleuze, Logik des Sinns. Aesthetica (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993), insb. Kap. 10, 15, 21, 26. Literatur und Wiederholung 203 Abb. 1b Sue Gillespie, “Double portrait in oils on paper after Jack Vettriano's “Purple Cat” Abb. 2 Andy Warhol, „Marilyn Monroe“ Martin Middeke 204 Abb. 3 Sherrie Levine, “Fountain (After Marcel Duchamp)” Wie die ikonischen Beispiele zeigen, kann jedes Zeichen (ob linguistisch oder nicht, gesprochen oder geschrieben) als kleine oder große Einheit zitiert, in Anführungszeichen gesetzt werden: Dadurch kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen, unendlich viele neue Kontexte auf eine absolut nicht saturierbare Weise erzeugen. Dies setzt nicht voraus, daß das Zeichen (marque) außerhalb von Kontexten gilt, sondern im Gegenteil, dass es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt. Diese Zitathaftigkeit, diese Verdoppelung oder Doppelheit, diese Iterierbarkeit des Zeichens (marque) ist kein Zufall und keine Anomalie, sondern das (Normale/ Anormale), ohne welches ein Zeichen (marque) sogar nicht mehr auf sogenannt „normale“ Weise funktionieren könnte. Was wäre ein Zeichen (marque), das man nicht zitieren könnte? Und dessen Ursprung nicht unterwegs verloren gehen könnte? 27 Die Zitathaftigkeit, die Iterierbarkeit des Zeichens ist deshalb, wie Jacques Derrida zeigt, keineswegs eine Anomalie, sondern der Normalfall: Das Zeichen kann seines Ursprungs verlustig gehen, wie man insbesondere im Spielpotential intertextueller Literatur und Kunst, die Authentizität, Autorschaft und Autorintention herausfordern, sieht. Gegenüber der Sprechakttheorie Austins und Searles lässt sich mit Derrida deswegen einwenden, dass eine geglückte performative Handlung notgedrungen eine ‚unreine’ Handlung ist, d.h. einen auf der Basis von allgemeiner Iterierbarkeit notwendig angelegten und deshalb immer unkontrollierbaren performativen Akt beschreibt. Performativität und Iterabilität gehen miteinander einher, anders als Aus- 27 Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, S. 304. Literatur und Wiederholung 205 tin sieht Derrida performative Kommunikation nicht notwendig vor dem Hintergrund eines totalen Kontextes in bewusster Anwesenheit eines intentionalen Sinns einer performativen Äußerung. Vielmehr könnte, so Derrida, keine performative Äußerung gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine „codierte“ oder iterierbare Äußerung wiederholte, mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform, wenn sie also nicht in gewisser Weise als „Zitat“ identifizierbar wäre. Die Zitathaftigkeit ist hier nicht etwa von der selben Art wie in einem Theaterstück, einer philosophischen Verweisung oder dem Rezitieren eines Gedichts. Deshalb gibt es eine relative Spezifität, wie Austin meint, eine „relative Reinheit“ von performatives. 28 Es muss an dieser Stelle betont werden, dass Derrida nicht meint, dass die Kategorie der Intention nun ganz zurückgenommen wird. Gleichwohl sieht er, dass sie nicht die totale Kontrolle über jede performative Äußerung haben kann. In einem im Prozess der Iterabilität freigelegten Wechselspiel von Zeichen und Zeichenketten begegnet man einerseits der Wiederholung von zitathaften Äußerungen, aber andererseits stößt man auf einzelne, einzigartige Äußerungsereignisse. Diese machen deutlich, dass die Struktur der Iteration verhindert, dass eine Intention, mag sie auch noch so selbst-bewusst sein, sich sowohl ihrer selbst als auch ihres Inhaltes niemals völlig gegenwärtig sein kann, vielmehr infiziert die Iterabilität des Zeichens, seine Wiederholbarkeit, unvermeidlich jeden intentionalen Akt mit einer unhintergehbaren Nicht-Präsenz. 29 III. Zur Funktionalität von Wörtlichkeit, Wiederholung, Iterabilität und Häufigkeit: Literarische Beispiele In der Literatur - ich konzentriere mich im Folgenden auf Beispiele aus der Erzählliteratur und aus dem Drama - stellt sich die Frage nach den Erscheinungsformen der bislang herausgearbeiteten Kontrastfelder der Wiederholung nochmals präziser: Wie oft erscheint ein Geschehnis, eine Handlung oder ein Motiv im Text? Wie oft nimmt der Erzähler darauf Bezug? Wie oft und mit welcher Funktion werden ein Geschehnis oder ein Motiv (leitmotivisch) wieder aufgenommen und variiert? Die Häufigkeit des Erscheinens eines Elementes impliziert Wiederholungen, und die Wiederholung wird innerhalb des von Erzählzeit und erzählter Zeit bestimmten Kontinuums ganz deutlich als geistiges Konstrukt in einer narratologisch synthetisierten Zeit erkennbar, deren Fluss momentan außer Kraft gesetzt ist, um Ähnlichkeiten (z. B. im Sinne von Pro- und Analepsen) festbzw. Zusammenhänge herzustellen. Gerade der narratologische Aspekt der Häufigkeit macht also deutlich, dass es im strengen Sinne keine ‚wahren’ Wiederholungen geben kann, weil selbst strukturelle Gleichheit und Identität der Erzählzeit nicht entkommen können und somit jedes ‚wiederholte‘ 28 Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, S. 310. 29 Siehe ibid. Martin Middeke 206 Segment an einem neuen Ort in der Zeit, an einem neuen Kontext steht und niemals einen Fluss bedeuten kann, in den man zweimal steigt. Jedes zweite Mal verschiebt die Bedeutung des Wiederholten. 30 In den folgenden Beispielen wird dieses dem Phänomen der Wiederholung eigene Spannungsverhältnis zwischen Identität und Differenz oder, wenn man will, auch zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion, immer wieder thematisiert. Dabei wird gerade die Fragestellung, ob Wiederholungen Differenzen offenlegen und damit die Texte ihrem Charakter nach eher de-konstruktiv erscheinen lassen, oder ob Wiederholungen Identitäten und Zusammenhang stiften und die Texte damit re-konstruktiv stabilisierend erscheinen lassen, die kritische Analyse von Textaussage und Funktionalität der Wiederholung bestimmen. Beispiel 1: Fasst man die Problematik für einen Moment lebensweltlich psychologisch, so ließe sie sich zum Beispiel darstellen als das psychologische (anthropologische? ) Bedürfnis nach Wiederholung, Wiederholbarkeit, Stabilität, Verlässlichkeit etc. auf der einen und - dagegen - das Bewusstsein andererseits, dass der Fluxus der Zeit keine Wiederholung zulässt, dass der Zeitstrom des Sich-Wandelns den einzelnen unaufhaltsam mit sich fortreißt. Betrachten wir dagegen zum besseren Verständnis die folgende Passage aus Charles Dickens’ Hard Times: 31 Coketown, to which Messrs Bounderby and Gradgrind now walked, was a triumph of fact; it had no greater taint of fancy in it than Mrs Gradgrind herself. Let us strike the keynote, Coketown, before pursuing our tune. It was a town of red brick, or of brick that would have been red if the smoke and ashes had allowed it; but, as matters stood it was a town of unnatural red and black like the painted face of a savage. It was a town of machinery and tall chimneys, out of which interminable serpents of smoke trailed themselves for ever and ever, and never got uncoiled. It had a black canal in it, and a river that ran purple with ill-smelling dye, and vast piles of building full of windows where there was a rattling and a trembling all day long, and where the piston of the steam-engine worked monotonously up and down, like the head of an elephant in a state of melancholy madness. It contained several large streets all very like one another, and many small streets still more like one another, inhabited by people equally like one another, who all went in and out at the same hours, with the same sound upon the same pavements, to do the same work, and to whom every day was the same as yesterday and tomorrow, and every year the counterpart of the last and the next. (65) Dickens sieht erzählerisch keine Schwierigkeit darin, Wiederholungen - und damit Ähnlichkeitsbeziehungen, Analogien, Identitäten - auszumachen, die die Darstellung der ‘key-note’ eines Erzählgegenstandes (hier: Coketown) überhaupt erst ermöglichen. Er entspricht damit dem Paradigma des realistischen Konsenses, das dem Grundprinzip eines ausgeprägten Wirklichkeitsbezuges im Sinne von Mimesis und Lebensnähe folgt. Die Raumdarstellung Dickens’ ist heteroreferentiell, die erzähleri- 30 Shlomith Rimmon-Kenan, Narrative Fiction: Contemporary Poetics (London/ New York: Methuen, 1983), S. 56-57. 31 Charles Dickens, Hard Times: For These Times, ed. David Craig (Harmondsworth: Penguin, 1985). Literatur und Wiederholung 207 sche Vermittlung bleibt transparent und unauffällig, um die Fiktionalität des Geschehens zu verschleiern. Wiederholungen sind hier - im Zeichen der Lebensnähe des Geschehens - ästhetischer Reflex des monotonen Arbeitsalltags in Coketown, der die Arbeiter nivelliert und der den Tagesablauf so gleichförmig präsentiert, als ob überhaupt keine Zeit verstreichen würde. Dickens betont einerseits sozialkritischrealistisch und dabei die fließende Zeit synthetisierend die Identität der erzählten Situation mit Hilfe der Wiederholung, statt die unabdingbare Differenz zwischen einer Textpassage und ihrer ‘Wiederholung’ offenzulegen. Jene wird andererseits doch in der alptraumhaften Symbolik der Passagen thematisiert, die als bildlicher Reflex einer von der gnadenlosen Maschinerie des Industriezeitalters geknechteten, gequälten, entzauberten, entfremdeten Psyche gedeutet werden kann. Beispiel 2: Bei Thomas Hardy lösen sich die aristotelisch-linearen Handlungsstrukturen in zirkulär-spiralartige Handlungsmodelle sowie in inverse Wiederholungsstrukturen auf. Die temporale Differenz zwischen strukturell Ähnlichem und die paradoxe présence/ absence der Wiederholung werden zum eigentlichen Protagonisten in Romanen wie Jude the Obscure, The Return of the Native, Tess of the d’Urbervilles, The Well-Beloved. Dort kann es - trotz aller Sehnsucht danach - keine ‚wahren’ Wiederholungen geben und deshalb auch kein identisches Wieder-Leben der Vergangenheit, sondern lediglich Differenzen, denen man angesichts ständigen Wandels und Neubeginns entweder verzweifelt oder zuversichtlich gegenüberstehen kann. Dem Motto ‘Ich wiederhole, also bin ich’ folgend, sucht Jude Fawley, der Protagonist in Hardys Jude the Obscure, 32 in einer obskuren Vergangenheit nach der Bestätigung für eine ihm ebenso obskur anmutenden Gegenwart, die wiederum in eine obskure, gesichtslos-ungestalte Zukunft mündet. 33 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für ein melancholisches Bewusstsein wie Judes in stagnierender Wiederholung begriffen, und nur deshalb können die Vorahnungen seiner Tante - „But, O no - poor or’nary child - there never was any sprawl on thy side of the family, and never will be! “ (16) - auf so fruchtbaren Boden treffen. Ein wichtiges Beispiel für die Wiederholung mit Differenzen ist der leitmotivisch funktionierende Ort der ‘Brown House’-Scheune, jener „weather beaten old barn“ (18). An sie lehnt Jude die Leiter, um nach Christminster zu sehen; es ist der Ort seiner Hoffnungen auf eine Karriere; zwischen dem Brown House und Marygreen steht das Häuschen, das er und Arabella bewohnen; dort steht der Meilenstein, auf den er seinen Richtungspfeil ritzt; es ist aber auch der Ort, an dem sich seine Eltern getrennt haben; es ist der Ort, an dem einer seiner Vorfahren gehenkt wurde; und es ist der Ort, an dem Jude praktisch Selbstmord begeht. There are cold spots up and down Wessex. In autumn and winter weather; but the coldest of all when a north or east wind is blowing is the crest of the down by the Brown House, 32 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die folgende Ausgabe: Thomas Hardy, Jude the Obscure, ed. Norman Page (New York/ London: W. W. Norton, 1978). 33 Johann Glatzel, Melancholie und Wahnsinn: Beiträge zur Psychopathologie und ihren Grenzgebieten (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990), S. 105. Martin Middeke 208 where the road to Alfredston crosses the old Ridgeway. Here the first winter sleets and snows fall and lie, and here the spring frost lingers last unthawed. Here in the teeth of the north-east wind and rain Jude now pursued his way, wet through, the necessary slowness of his walk from lack of his former strength being insufficient to maintain his heat. He came to the milestone, and, raining as it was, spread his blanket and lay down there to rest. Before moving on he went and felt at the back of the stone for his own carving. It was still there; but nearly obliterated by moss. He passed the spot where the gibbet of his ancestor and Sue’s had stood, and descended the hill. (310) Die Wiederholung erscheint hier als psychologisches Problem der Erfahrung von Zeit, nur so kann der Schauplatz selbst zur coincidentia oppositorum, zum Schmelztiegel gleichzeitig gegenwärtiger Erinnerungen, Eindrücke und Vorahnungen werden. Der Meilenstein ist nur scheinbar derselbe, Moos hat ihn in all den Jahren bedeckt. Faktisch trifft auch hier das zu, was Judes Partnerin Sue mit Blick auf die Lyrik der apokryphen Evangelien sagte: ‘things are the same yet not the same’, d.h. Dinge erscheinen als gleich, weil sie als solches wahrgenommen werden (müssen). Das Moos am Meilenstein zeigt jedoch, dass diese Art Identität vor der Zeit nicht besteht und sich diese wahrgenommene Gleichartigkeit vielmehr in temporale Differenzen auflöst. Jeder Wiederholung eines Motivs oder einer Handlungssequenz in Jude the Obscure liegt dieses Spannungsverhältnis zugrunde. Handlungen, die auf den ersten Blick identisch wirken, sind in Wirklichkeit lediglich variiert oder invertiert. Die Kritik hat hierbei die X-Form des Stundenglases oder die inverse Struktur der Quadrille betont. 34 Ebenso richtig ließe sich auf die Architektonik der Fuge oder den Kanon hinweisen und auf deren mit dem gleichen Tonmaterial arbeitendes Variieren und Vertauschen von Stimmverläufen in Form von Umkehrung, Krebs und Spiegelkrebs. Beispiele liegen auf der Hand - die (trügerischen) Spiegelbilder Arabellas, Judes erster Frau, die verschiedenen Variationen des Motivs der Falle oder automatisch ablaufende Verhaltensmuster wie Judes Flucht in den Alkohol nach jeweils desillusionierenden Erfahrungen. Es ließe sich verweisen auf die Inversionen von Heirat und ‘geprobter Heirat’ zwischen Jude, Arabella, Sue und Phillotson, mit denen ironischerweise auch eine Inversion von Glück und Unglück einhergeht. Das, was als momentanes Glück hypostasiert wird, ist entweder die geprobte, nicht wirkliche Hochzeit oder das intermittierende ehelose Zusammenleben Judes und Sues. Alle ‘realen’ Heiraten implizieren Unglück, wobei paradoxerweise die Figuren in den Ausgangskonstellationen (Jude/ Arabella; Sue/ Phillotson) ihre Ehen ‘wiederholen’. Auch die Variation der handlungsbestimmenden Motive von Traum/ Wirklichkeit, Agens/ Opfer, Illusion/ Desillusion sowie von Konstruktion/ Dekonstruktion lassen sich als ein inversives Prinzip beschreiben, das die Unmöglichkeit der Wiederholung auf der einen Seite zwar nachhaltig offenlegt, auf der anderen Seite den Eindruck 34 Siehe Martin Middeke, Die Kunst der gelebten Zeit. Zur Phänomenologie literarischer Subjektivität im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004), sowie William J. Scheick, „Schopenhauerian Compassion, Fictional Structure, and the Reader: The Example of Hardy and Conrad“, Twiligfht of Dawn: Studies in English Literature in Tran-sition, ed. O. M. Brack (Tuscon: University of Arizona Press, 1987). Literatur und Wiederholung 209 tiefster Determiniertheit, den (nicht nur) die Charaktere haben, damit nicht ganz entkräften kann. Beispiel 3: In Samuel Becketts Kurzdrama Krapp’s Last Tape 35 begegnen uns zwei Stimmen: Krapp, ein einsamer alter Mann, lauscht seiner Stimme auf Tonbändern, auf denen er alljährlich seine Erlebnisse im vergangenen Jahr aufgezeichnet hat, und kommentiert diese Aufzeichnungen immer von neuem - eine sinnlose Endlosschleife von längst abgeschlossenen Erfahrungen, vergangenen Beziehungen und irreparablen Fehlschlägen. Schon seit über dreißig Jahren führt Krapp, der erfolglose Schriftsteller, dieses ‚Gespräch’ mit seinem ihm fremd gewordenen Tonband-Ich - ein fruchtloser Versuch der Vergegenwärtigung eines vergangenen Lebens. Verächtlich lacht er über die Selbsteinschätzung des einstigen Krapp: “Just been listening to that stupid bastard I took myself for thirty years ago, hard to believe I was ever as bad as that. Thank God that’s all done with anyway“ (62). Allein, er ist damit eben nicht fertig, immer wieder spult er das an seinem 39. Geburtstag aufgenommene Band zurück, um einen einzigen glücklichen Augenblick zu rekapitulieren, eine Liebesbeziehung, die indes - wie man erst beim dritten Mal erfährt - von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Der Erkenntnis, dass ihm ein aktives Leben nicht mehr möglich ist, kann Krapp nicht entrinnen. Nach dem Versuch, sich eine ‚normale Existenz’ mit geordneten menschlichen Beziehungen vorzustellen, wird er ungeduldig, reißt das Band aus dem Gerät und wirft es weg. Am Schluss ist er sich bewusst, dass die Jahre, in denen noch Aussicht auf Glück bestand, unwiederbringlich vorbei sind, mehr noch: er hat aufgehört, sie zurückzuwünschen: „Here I end this reel. Box—[Pause.]— three, spool—[Pause.]—five. [Pause.] Perhaps my best years are gone. When there was a chance of happiness. But I wouldn’t want them back. Not with the fire in me now. No, I wouldn’t want them back. [Krapp motionless staring before him. The tape runs on in silence”] (63). Becketts Drama thematisiert die Irreversibilität von Leben und Erfahrung, lässt wiederholende Reflexion genauso wie die mémoire involontaire als unproduktives Graben im eigenen Lebensschutt sich selbst zersetzen. Die Gegenwart erscheint nur noch als das Zitat des Vergangenen, die Spule als die Spur der Wiederholung, die Chiffre der Iterabilität. Wirklichkeit existiert nicht nur mehr perspektivisch gebrochen, sondern auch lediglich textualisiert. Krapps sorgfältiges Ordnen, das Nummerieren der Bänder, dieses rasende, manische Synthetisieren fließender Zeit in Registern, die die Erfahrungen oder das Glück der Vergangenheit, wenn es jemals ein solches gab, aus dem Archiv gleichsam wieder-holen und wieder-holbar, d.h. buchstäblich auffindbar, machen sollen - all das erweist sich als Trugschluss, als sinnlose Handlung, als leere Wiederholung. 35 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf folgende Ausgaben: Samuel Beckett, Krapp’s Last Tape. Collected Shorter Plays of Samuel Beckett (London/ Boston: Faber & Faber, 1985), S. 53-63; Samuel Beckett, Rockaby. Collected Shorter Plays of Samuel Beckett (London/ Boston: Faber & Faber, 1985), 271-282. Martin Middeke 210 Krapps selbstkontrollierender Wiederholungsversuch scheitert zentral selbstverständlich an der Irreversibilität des Lebens und ebenso bedeutsam an der in der Iterabilität des Zeichens implizierten Unzuverlässigkeit des Signifikanten. Der zeitliche Abstand, die temporale Differenz zwischen Original und Wiederholung, zwischen Gegenwart und Vergangenheit führt zu ständigen Bedeutungsverschiebungen, die wiederum eine im Sinne von Biographie kohärent dargestellte Lebensgeschichte in Schachtelstrukturen infiniten Regresses [der Erinnerung (in der Erinnerung <in der Erinnerung «…»> ) ] wie ein mise-en-abyme dekonstruieren. Krapp hört ein 30 Jahre altes Tonband ab, auf dem er ein 10 Jahre altes Tonband abhört. Beckett zerrüttet damit auch die phonozentrisch hypostasierte Reinheit des gesprochenen Wortes gegenüber der Schrift als von temporaler Differenz und Dissemination kontaminiert und als folglich unzuverlässig - eine Unzuverlässigkeit, die dem sprachlichen Zeichen gerade im Prozess der Rekontextualisierung immer neue Bedeutungsassoziationen aufpfropft und es von Sprecherintentionen letztlich abkoppelt. Ursprung und Ende sind, wie in der Bühnenanweisung angedeutet - „The tape runs on in silence“ - suspendiert, das letzte Band ist zugleich immer das letzte vorhergehende, ad infinitum. Der konventionelle Schluss des konventionellen Dramas, überhaupt die Konvention einer Lösung, die Konvention der (hermeneutischen) Synthese wird für Beckett wie die Konvention der Wiederholung damit allenfalls nur noch als Zitat denkbar. In Becketts späten Dramen werden die traditionellen Plotelemente noch mehr verkürzt, kondensiert, kontrahiert - in Rockaby etwa auf die Situation einer frühzeitig greisen Frau (W), die im Schaukelstuhl (ihrer Mutter) sitzt. Eine Stimme aus dem Off (V) begleitet mit automatisch verlaufenden Sprachschleifen das monotone Schaukeln des Stuhls, die Wiederholungssequenzen der Stimme scheinen das Leben der Frau zu erzählen, ihr Ursprung bleibt allerdings ungewiss. Unterbrochen nur durch das wiederholte „time she stopped“, das die alte Frau mehrfach zusammen mit der Stimme spricht und damit die Schaukelbewegung für einen Moment anhält, bis W die Sequenz mit einem fast an ein behavioristisches Reiz-Reaktions-Schema erinnerndes, insistierendes „more“ aufs neue in Gang setzt. V: till in the end the day came in the end came close of a long day sitting at her window quiet at her window only window facing other windows other only windows all blinds down never one up hers alone up till the day came in the end came Literatur und Wiederholung 211 close of a long day sitting at her window quiet at her window all eyes all sides high and low for a blind up one blind up no more never mind a face behind a pane famished eyes like hers to see be seen no a blind up like hers a little like one blind up no more another creature there somewhere there behind the pane another living soul one other living soul till the day came in the end came close of a long day when she said to herself whom else time she stopped time she stopped sitting at her window quiet at her window only window facing other windows other only windows all eyes all sides high and low time she stopped time she stopped [Together: echo of ‘time she stopped’, coming to rest of rock, faint fade of light. Long pause.] W: More. [Pause. Rock and voice together.] Martin Middeke 212 V: so in the end close of a long day […] (278-80) Die Wiederholungsstruktur und die Tatsache, dass W mit jedem „more“ mehr Text aus dem Off erhält, die Wiederholungssequenzen länger werden, widerlegen einen ersten Eindruck, der Stillstand des Schaukelstuhls bedeute den Tod von W. Trotz der schockierenden Abweichung von der ansonsten automatisierten Wiederholungssequenz - da heißt es plötzlich „rock her off/ stop her eyes/ fuck life/ stop her eyes/ rock her off/ rock her off“ (282) - bleibt es offen, ob die Frau zuletzt tatsächlich stirbt, scheint sich doch die off-stimme in einer selbstreflexiven Endlosschleife zu befinden und damit jedes Ende zu suspendieren; 36 deutet man das Ende jedoch als den Tod der Frau, so ist damit charakteristischerweise auch nur gesagt, dass der Endlosschleife der Wiederholung und ihren Bedeutungsverschiebungen und -modulationen einzig durch den Tod Einhalt geboten werden kann. IV. Perspektiven Dort, wo Zeit als Fluss aufgefasst und thematisiert wird, kann es keine Wiederholung im strengen Sinne geben. 37 Etwas, das in der phänomenologischen, subjektiven Zeit erscheint, in derselben Zeit bereits wieder verschwindet, bewirkt, dass Erscheinen und Verschwinden von etwas in oder aus der Zeit immer miteinander verknüpft sind. „Die Möglichkeit eines zeitlichen Seins“, schreibt Eckard Lobsien, „ist strikt an seine Unmöglichkeit gekoppelt; es ist, um nicht wirklich sein zu können“. 38 Vergan- 36 Siehe Steven Connor, Samuel Beckett. Repetition, Theory, Text (Oxford: Blackwell, 1988), passim. 37 „Es gibt kein Subjekt, das Agent, Autor oder Herr der différance wäre […]. Das a der différance bringt daher auch zum Ausdruck, daß die Zwischenräume Verzeitlichung, Umweg, Aufschub sind, mittels derer die Intuition, die Wahrnehmung, der Konsum, mit einem Wort der Bezug zur Gegenwart, zu einer gegenwärtigen Realität, zu einem Seienden, immer differiert (différés) werden. […] An dem Punkt, wo der Begriff der différance - und alles, was mit ihm verkettet ist - ins Spiel kommt, werden alle begrifflichen Gegensätze der Metaphysik, weil sie letzten Endes immer auf die Präsenz eines Gegenwärtigen bezugnehmen (zum Beispiel in der Form der Identität des Subjekts, das bei allen seinen Tätigkeiten, in allen seinen Un- und Vorfällen gegenwärtig ist, das selbstgegenwärtig ist in seinem ‘lebendigen Sprechen’, in seinen Aussagen und seinem Aussagen, in den gegenwärtigen Objekten und Akten seiner Sprache usw.), werden also alle diese metaphysischen Gegensätze (wie Signifikant/ Signifikat, sinnlich wahrnehmbar/ intelligibel, Schrift/ Sprechen, Sprechen/ Sprache, Diachronie/ Synchronie, Raum/ Zeit, Passivität/ Aktivität usw.) unwesentlich. Sie kommen alle früher oder später darauf zurück, die Bewegung der différance der Präsenz eines Wertes oder eines Sinns unterzuordnen, der der différance vorausginge, der ursprünglicher als sie wäre und der in letzter Instanz über sie hinausgehen und sie bestimmen würde. Wir finden also das, was wir vorhin ‘transzendentales Signifikat’ genannt haben, wieder.“ Jacques Derrida, Positionen: Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta, Edition Passagen 8, Graz/ Wien: Böhlau, 1986, S. 70-71. Vgl. auch ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989, S. 422-442; ders., Grammatologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, bes. 44-45; ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen Verlag, 1988, S. 29-52. 38 Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, S. 35. Literatur und Wiederholung 213 genheit und Zukunft bezeichnen Dimensionen einer gelebten Gegenwart, und die Zeit ist, wie Gilles Deleuze rekapituliert, „die Subjektivität eines passiven Subjekts.“ 39 In dieser bereits bei Augustinus angelegten Auffassung phänomenologischer Zeit macht Wiederholung keinen Sinn. Ebenso richtig ist jedoch auch, dass sich in der Wiederholung nicht nur Zerrüttung, sondern auch Aspekte von Verknüpfung, Synthese und Relationierung verschiedener Ereignisse darstellen. Die Idee von Wiederholung entspringt somit der der Subjektivität eigenen Möglichkeit zur Verobjektivierung, mit anderen Worten, einer Art ‘retroaktiver Bewegung’ (Deleuze) zwischen unmittelbarem Erleben von Gegenwart und einem Speichern, Synthetisieren und Kontrahieren verschiedener, vergangener Momente. Zeit, so Deleuze, bildet sich nur auf der Basis solcher Synthese heraus, sukzessive Momente, die ursprünglich voneinander unabhängig sind, werden ineinander zusammengezogen passiv oder aktiv erlebt. Die (passive) Einbildungskraft des Menschen und, falls der Synthesevorgang (aktiv) bewusst, reflektiert vollzogen wird, sein Gedächtnis wirken wie ‘photographische Platten,’ auf denen Situationen festgehalten werden, vor deren Hintergrund in der Gegenwart etwas als ähnlich oder gleich interpretiert werden kann. Kunst und Literatur bilden diese Vorgänge ab, der literarische Gebrauch des sprachlichen Zeichens und seine Iterabilität bleiben damit Reflexionsmedien der paradoxen Vorgänge menschlichen Erlebens zwischen Einzigartigkeit und Wiederholung, zwischen phänomenologischer Erfahrung und realistischer Reflexion und Rekapitulation, in einer Welt, in der Bedeutung, Sinn, Zusammenhang, Kausalität, Intentionen und Kontexte nur als paradoxe Präsenz/ Absenz in Erscheinung treten. Die Literatur kann gerade durch die Reflexion und Konstruktion solcher Kippfiguren der Wiederholung 40 zwischen Wörtlichkeit/ Singularität und Reproduktion/ Rekonstruktion, zwischen Ursprung und Spur, zwischen Identität und Differenz, zwischen Erleben des Zeitflusses und seiner rationalen Bewältigung, zwischen mémoire volontaire und mémoire involontaire zum Medium der Reflexion einer Welt avancieren, ja selbst die Struktur einer solchen Welt reflektieren, die für das menschliche Bewusstsein seltsam inkommensurabel bleibt. Gerade weil sie die Wiederholung nur als Kippfigur in Kontrastfeldern denkbar macht, bleibt die Literatur unerschöpfliche Triebfeder menschlicher Imagination und damit auch Anlass für immer neue Deutung. Dies ist bei allem dekonstruierenden Potential die produktive Dimension der différance, „die irreduzible Abwesenheit der Intention oder des Beistandes in der performativen Äußerung, der ‚ereignishaftesten’ aller Äußerungsarten“. 41 39 Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 100. 40 Siehe auch den freilich anders als literaturtheoretisch akzentuierten Sammelband von Svenja Flaßpöhler, Tobias Rausch und Christina Wald (eds.), Kippfiguren der Wiederholung: Interdisziplinäre Untersuchungen zur Figur der Wiederholung in Literatur, Kunst und Wissenschaften (Berlin: Peter Lang, 2007). 41 Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, S. 311. Martin Middeke 214 Literaturverzeichnis Attridge, Derek. The Singularity of Literature (London, Routledge, 2004). Beckett, Samuel. Krapp’s Last Tape. Collected Shorter Plays of Samuel Beckett (London/ Boston: Faber & Faber), 1985. Beckett, Samuel. Rockaby. Collected Shorter Plays of Samuel Beckett (London/ Boston: Faber & Faber, 1985). Bergson, Henri. 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Barbara Zehnpfennig (Hamburg: Meiner, 2 2008). Rimmon-Kenan, Shlomith, Narrative Fiction: Contemporary Poetics London (New York: Methuen, 1983). Scheick, William J. „Schopenhauerian Compassion, Fictional Structure, and the Reader: The Example of Hardy and Conrad“, Twilight of Dawn: Studies in English Literature in Transition, ed. O. M. Brack (Tuscon; University of Arizona Press, 1987). Selbst-Bildung: Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ Günter Butzer Michel Foucault war kein Literaturtheoretiker. Egal, welche Phase seiner wissenschaftlichen Arbeit man betrachtet, man wird in keinem Werk auf eine ausformulierte Theorie der Literatur treffen. Insofern beruht jede Position, die Foucault als Begründer einer literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse beansprucht, auf einer Übertragung von der Wissenschaftsauf die Literaturgeschichte. Mit dieser Feststellung soll die Möglichkeit einer solchen Übertragung nicht kategorisch bestritten (und im Folgenden auch nicht diskutiert) werden. 1 Wendet man sich allerdings - ganz im Sinne Foucaults - den positiven Aussagen zum Gegenstand ‚Literatur’ in seinen Werken zu, die sich v.a. in den 1960er Jahren finden, 2 so erkennt man schnell, dass Literatur für Foucault kein Diskurs wie jeder andere ist, den man mit den Mitteln der Diskursanalyse, wie er sie etwa in seinem methodologischen Hauptwerk Archäologie des Wissens zur Verfügung stellt, bearbeiten könnte. Vielmehr betrachtet er Literatur als „eine Art ‚Gegendiskurs‘“ (contre-discours), der „von der repräsentativen oder bedeutenden Funktion der Sprache“ zu ihrem „rohen Sein“ zurückgeht, sich der ‚Ordnung der Dinge’ nicht fügt und auf die Bruchstellen wissenschaftlicher Ordnungsbemühungen aufmerksam macht. 3 Literatur in dieser Bedeutung wird nach Foucault möglich, wenn sich die Grundlagen wissenschaftlicher Weltkonstruktion im Umbruch befinden und eine Diskursformation von der folgenden abgelöst wird. So erscheint Cervantes Don Quijote genau in dem geschichtlichen Moment, in dem das auf einer universellen Ähnlichkeit der Zeichen und der Dinge beruhende Denken der Renaissance zerfällt und die neue Wissensordnung der Aufklärung mit ihrer strikten Trennung von Zeichen und Dingen sich zu etablieren beginnt. Don Quijote ist für Foucault mithin der letzte Vertreter eines Denkens der Ähnlichkeit, das an der neuen Weltordnung der Repräsentation scheitert und unter deren Voraussetzungen wahnsinnig genannt werden muss. 4 Das Werk Sades tritt entsprechend auf den Plan, als die Grenzen der Repräsentation 1 Vgl. dazu bspw. Bogdal, Historische Diskursanalyse der Literatur; Henke, Diskursanalyse und Literatur. 2 Von Bedeutung sind hier v.a. die Studie Les mots et les choses (dt. Die Ordnung der Dinge) aus dem Jahr 1966 und die Essays über Autoren wie Sade, Flaubert, Bataille, Blanchot und Klossowski, die auf deutsch in dem Band Schriften zur Literatur gesammelt sind. 3 Foucault, Die Ordnung der Dinge, 76. 4 Vgl. ebd., 78-82. Günter Butzer 218 sichtbar werden und deren Ordnung von den inneren Kräften der Dinge unterlaufen wird. Im Bestreben, alles Sagbare zur Sprache zu bringen, artikuliert Sade zugleich ein Begehren, das nicht mehr repräsentiert werden kann und seinen eigenen Gesetzen folgt. 5 Im Anschluss an Sade entsteht dann laut Foucault im 19. Jahrhundert erst das, was er littérature im strengen Sinn nennt und mit Autoren wie Hölderlin, Mallarmé, Bataille, Artaud und Blanchot belegt: eine Literatur, die den Schatten der modernen Episteme bildet, indem sie das im Prozess der Konstitution von Wissenschaften wie der Ökonomie, der Biologie und der Linguistik Ausgeschlossene - die Verschwendung, den Tod und die Schrift - sich zu eigen macht und so einen Raum des Nicht-Diskursiven hervorbringt, der zugleich diesseits und jenseits des Wissens situiert ist. 6 Literatur heißt somit für Foucault, ähnlich wie für einige andere ihm nahe stehende Theoretiker (Derrida, Kristeva, Deleuze), dezidiert moderne Literatur. Vor 1800 hat es sie nur in Ausnahmefällen wie bei Cervantes gegeben - eine Verallgemeinerung des Konzepts des ‚Gegen-Diskurses‘ auf die gesamte Literaturgeschichte, wie Rainer Warning sie vornimmt, 7 ist demnach prinzipiell problematisch. Damit stellt sich jedoch die Frage, in welcher Beziehung ältere Formen des Schreibens zur modernen Literatur stehen. Für die kanonischen Werke der Vormoderne hat Foucault hierauf keine Antwort versucht. Interessanterweise hat er aber in seinen späten Arbeiten zu dem, was er eine ‚Ästhetik der Existenz’ (esthétique de l’existence) nennt, 8 eine ganz andere Art von vormoderner Literatur untersucht, die jenseits aller poetologischen Diskurse und jenseits aller literarischen Kanonizität steht und die das Schreiben als Teil einer Lebenspraxis begreift. Um diese soll es in den folgenden Ausführungen vor allem gehen, bevor im letzten Abschnitt die Frage nach dem Zusammenhang dieser vormodernen écriture mit Foucaults Verständnis der modernen Literatur noch einmal aufgegriffen wird. 1. Diätetik Der griechische Arzt Diokles von Karystos beschreibt in einem fragmentarischen Text über Die gesunde Lebensweise aus der zweiten Hälfte des vierten vorchristlichen Jahrhunderts den idealen Tagesablauf eines auf seine Gesundheit bedachten Menschen: 5 Vgl. ebd., 262-264, sowie Foucault, Zum Begriff der Übertretung, 77f.; ders., Das unendliche Sprechen, 97-99. 6 Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, 365f., 369-371 u. 458f. Vgl. dazu Meister, Die Sprache, die nichts sagt und die nie schweigt. 7 Vgl. Warning, Poetische Konterdiskursivität. - Foucault selbst spricht, wie oben zitiert, tentativ und in Anführungszeichen von „eine[r] Art ‚Gegendiskurs‘“; Warning macht daraus, indem er das „Generalisierungspotential“ (318) dieses Begriffs freisetzen will, eine Funktionszuschreibung für Literatur schlechthin. 8 Vgl. Foucault, Eine Ästhetik der Existenz, sowie ders., Über sich selbst schreiben, eine Art Exposé, dem die folgende Darstellung in wesentlichen Punkten folgt. Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 219 Man soll im Morgengrauen aufstehen, sich einer sorgfältigen Toilette unterziehen und anschließend einen Spaziergang machen. Nach dem darauf folgenden Frühimbiss soll man sich sitzend um seine häuslichen Angelegenheiten kümmern, bis es Zeit wird, dass die jüngeren Leute ins Gymnasion, die Älteren ins Bad gehen. Im Gymnasion salbt man sich ein, lässt sich massieren und führt bestimmte gymnastische Übungen aus. Nach der Rückkehr gegen Mittag nimmt man ein der jeweiligen Jahreszeit angepasstes leichtes Essen ein und legt sich danach im Schatten zu einem kurzen Schlaf hin. Nach dem Erwachen kümmert man sich wieder um sein Haus, geht ein wenig spazieren und begibt sich, nachdem man sich wiederum kurz ausgeruht hat, erneut ins Gymnasion. Den Übungen, die den ganzen Nachmittag über andauern, schließen sich ein Bad oder eine Einreibung des Körpers an. Im Sommer geht man vor Sonnenuntergang nach Hause, nimmt die Hauptmahlzeit ein, macht einen abendlichen Verdauungsspaziergang und legt sich in einer bestimmten Stellung zum Schlaf hin. 9 Die medizinische Disziplin, die sich mit der gesunden Lebensweise befasst, bildet die Diätetik (als Pendant zur Therapeutik), die sich, wie man der zitierten Schilderung entnehmen kann, um weit mehr als nur um eine gesunde Ernährung kümmert. Das Zitat macht deutlich, welche Bereiche die diätetischen Regelungen umfassen: Sie reichen von der Aufsteh- und Schlafenszeit über die Speisen und Spaziergänge bis hin zu körperlichen Übungen und Bädern. Zugleich offenbart es einen weitreichenden Sachverhalt: Wer sich diesen diätetischen Vorschriften unterwirft, muss sein Leben der Gesundheit widmen, denn er hat schlechterdings keine Zeit mehr, anderen Beschäftigungen nachzugehen. Dieser Ausschließlichkeitsanspruch der frühen Diätetik schränkt nicht nur den Kreis der Praktizierenden erheblich ein, er bildet auch die Ursache für die ablehnende Haltung der Philosophen ihr gegenüber. Tatsächlich existiert im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert eine Konkurrenzsituation zwischen Diätetik und Philosophie, die sich aus der Frage ergibt, ob die Pflege des Körpers oder die Sorge um die Seele das Wichtigere sei. 10 Jenseits dieser v.a. platonischen Polemik sind aber die parallelen Bestrebungen von Philosophie und Diätetik nicht zu leugnen. So empfiehlt auch Sokrates - nicht bei Platon, aber in Xenophons Memorabilia - den regelmäßigen Besuch des Gymnasions für junge Männer, weil die körperliche Übung nicht nur zur Stärke, sondern auch zur Tapferkeit und damit zur sittlichen Tugend beitrage, ja sogar das Denken befördere, denn ein schwacher Körper führe zu Vergesslichkeit, Mutlosigkeit, schlechter Laune und sogar zu Wahnsinn, so dass er nicht nur den Erwerb neuen Wissens behindere, sondern auch bereits erlangte Kenntnisse aus der Seele vertreibe. 11 Im Laufe des Hellenismus relativiert sich dieser Gegensatz von Philosophie und Medizin weiter. Die Diätetik wird nun so weit modifiziert, dass auch berufliche, insbesondere aber geistige Tätigkeiten in das Programm einbezogen werden, welch 9 Diokles von Karystos, Die gesunde Lebensweise (Zusammenfassung nach Harig/ Kollesch, Gesellschaftliche Aspekte, 16). 10 Vgl. Platon, Politeia, III, 14-15, 405e-408b. Zur philosophischen Kritik an der Diätetik vgl. Wöhrle, Studien, 117-157. 11 Vgl. Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, III, 12. Günter Butzer 220 letztere jetzt nicht mehr, wie vordem, per se als gesundheitsschädigend gelten. In der römischen Kaiserzeit (Athenaios, Galen) bildet die Diätetik dann ein umfassendes System der Selbstbildung, das unter Berücksichtigung des Lebensalters die geistigen Anforderungen ebenso regelt wie die körperlichen Übungen; die rein somatische Bestimmung der Gesundheit ist damit endgültig durchbrochen. 12 Vergleicht man die Beschreibung des Tagesablaufes in seiner Sommervilla, die der jüngere Plinius im ersten nachchristlichen Jahrhundert in einem Brief gibt, mit der oben zitierten von Diokles, werden Kontinuität und Transformation des diätetischen Programms deutlich: 13 Er erwacht früh, und noch bevor er das Tageslicht einlässt, überdenkt er das literarische Werk, an dem er gerade arbeitet, und schreibt und korrigiert im Geist, bis er seinen Sekretär ruft, um das Resultat zu diktieren. Derselbe Vorgang („meditor et dicto“) wiederholt sich nach dem Aufstehen und noch einmal beim Spazierenfahren. Darauf folgen ein kurzer Schlaf, ein Spaziergang, eine ‚Verdauungslektüre’ („non tam vocis causa quam stomachi lego“), wiederum ein Spaziergang, anschließend Massage, Gymnastik und Bad. Der Abend beginnt mit der Hauptmahlzeit, bei der vorgelesen wird, nach Tisch folgt zur Unterhaltung eine Komödie oder Musik, und der Tag klingt aus mit einem gemeinsamen Spaziergang, der von Gesprächen ausgefüllt wird. Man sieht: Der Tag ist nicht weniger genau eingeteilt als bei Diokles, jedoch ist sein Inhalt vielfältiger. Die Absicht, körperliche und geistige Tätigkeiten zu kombinieren und sich wechselseitig ergänzen zu lassen, ist offensichtlich. Möglich wird dies, weil sie in paralleler Weise gestaltet sind: Im Zentrum stehen, unterbrochen von Zerstreuungen wie Schlaf, Massage und Bad, körperliche und geistige Übungen. Eine solche ist nicht nur die Gymnastik (exercitatio), sondern auch das Nachdenken (meditatio), die Lektüre (lectio) und potentiell auch der Spaziergang (ambulatio), welcher neben seiner Verdauungsfunktion nicht nur in der Antike, sondern noch bei Rousseau und - transformiert zur flânerie noch in der Moderne - die Basis für allerlei geistige Beschäftigungen abgibt. 14 Die Diätetik erweist sich hier nicht nur als körperliche Gesundheitslehre, sondern, so Foucault, als „fundamentale Kategorie, in der die menschliche Lebensführung gedacht werden kann; sie charakterisiert die Weise, in der man seine Existenz führt, und ermöglicht es, die Lebensführung mit Regeln auszustatten [...]. Die Diätetik ist eine ganze Lebenskunst“. 15 Das für Foucault Besondere an dieser diätetischen Lebenskunst liegt darin, dass sie, im Unterschied zur christlichen Moral, nicht darauf abzielt, abstrakte Normen allgemein verbindlich durchzusetzen, sondern dass sie, dem medizinischen Vorbild entsprechend, für jeden Einzelnen eine je eigene Lebensform unterstellt, die man nicht abstrakt bestimmen kann, sondern die jeder für sich selbst finden bzw. erfinden muss. 16 Die Lebenskunst - im Unterschied zur 12 Vgl. Edelstein, Antike Diätetik, 263. 13 Vgl. Plinius, Ep. IX, 36. 14 Vgl. Wellmann, Der Spaziergang. 15 Foucault, Der Gebrauch der Lüste, 131. 16 Foucault (ebd., 139) führt eine Stelle aus Platons Nomoi (IV, 720b-e) an, in der von den freien Ärzten die Rede ist, welche im Unterschied zu den Sklaven-Ärzten nicht einfach Vorschriften Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 221 ‚Ästhetik der Existenz’ ein genuin antiker Begriff: die Griechen nennen sie techn tou biou, die Römer ars recte vivendi -, die Lebenskunst zielt also nicht auf die Nachahmung eines abstrakten Ideals, sondern sie beinhaltet ein Moment des Individuellen und Schöpferischen (nicht mim sis, sondern poi sis), und dieses schöpferische Moment bringt Foucault überhaupt erst dazu, den modernen Begriff einer ‚Ästhetik der Existenz’ auf sie anzuwenden: Im diätetischen Leben erschafft man sich gewissermaßen selbst. Es geht demnach um die Verknüpfung von thos - was ja zunächst nichts anderes als ‚Gewohnheit‘ meint: das Selbst muss geübt werden - und poi sis zum Programm einer ‚selbstschöpferischen’ (also ‚autopoietischen’) Lebensführung. Foucault gibt die folgende Explikation: Unter ‚Künsten der Existenz’ hat man reflektierte und willentliche Praktiken zu verstehen, durch die die Menschen nicht nur Verhaltensregeln für sich festlegen, sondern sich auch selbst zu verwandeln, sich in ihrem einzigartigen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte beinhaltet und gewissen Stilkriterien genügt. 17 Zu diesem Programm gehört als genuines Element die Praxis des Schreibens - eines Schreibens, das, wie sich zeigen wird, diesseits aller literarisch-poetisch-ästhetischen Ambitionen im landläufigen Sinn steht. 2. Schreiben I ‚Schreiben’ meint zunächst einmal in einer gar nicht weit genug zu fassenden Bedeutung schlicht ‚etwas aufzeichnen’. So empfiehlt Sokrates - wiederum in Xenophons Memorabilia - seinen Schülern zur Erhaltung der Gesundheit die Selbstbeobachtung inklusive schriftlicher Notate: Jeder beobachte sich selber und notiere, welche Nahrung, welches Getränk, welche Übung ihm gut tun und wie er sie nehmen muss, um die Gesundheit am besten zu erhalten. [...] Wenn ihr euch so beobachtet, werdet ihr schwerlich einen Arzt finden, der besser als ihr entscheidet, was euch für eure Gesundheit nützt. 18 Die Aufzeichnungen dienen hier der Ausbildung eines thos, das es dem Einzelnen ermöglichen soll, seine Gesundheit selbst zu pflegen. Dazu hält er - ähnlich wie in modernen Verhaltenstherapien - seine Essenswie überhaupt seine Lebensgewohnheiten schriftlich fest, um auf der Grundlage dieser Protokolle die optimale Lebensführung für sich zu finden. Dieselbe Praxis wird in der Spätantike auf die Pflege der seelischen Gesundheit übertragen - also dem traditionellen Gegenstand der Philosophie, die Cicero als „Heilkunst der Seele“ (medicina animi) definiert. 19 So schreibt bspw. der alexandrinische Kirchenlehrer Athanasius aus dem vierten nachchristli- geben, sondern den Kranken erziehen, ermahnen und ihn mit Argumenten zur Eigenverantwortung überreden. 17 Foucault, Gebrauch der Lüste und Techniken des Selbst, 666. 18 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, IV, 7. 19 Cicero, Tusculanae disputationes, III, 6. Günter Butzer 222 chen Jahrhundert in seiner Vita Antonii (und Foucault zitiert es zu Beginn seines Essays L’écriture de soi): Ein jeder von uns merke sich seine Handlungen und die Regungen seiner Seele und verzeichne sie, als wollten wir sie einander berichten; und seid versichert, dass wir jedenfalls - wenigstens aus Scham, als würden wir so erkannt werden - vom Sündigen, ja selbst vom Sinnen nach dem Bösen, ablassen werden [...]. 20 Das Schreiben steht hier, so Foucault, in einer „komplementären Beziehung zur Anachorese“ 21 (also zum eremitischen Mönchtum eines Antonius), weil es ganz offensichtlich das Gespräch mit den gleichgesinnten Anderen (den confratres) und damit eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit ersetzt, die der Reflexion (im wörtlichen Sinn: der Widerspiegelung) des eigenen Selbst dienen könnte. Bereits auf dieser basalen Ebene stellt das Schreiben demnach eine ‚Selbsttechnik’ dar. Mit diesem Terminus belegt Foucault bestimmte Verfahrensweisen, die der aktiven Selbstformung des Menschen dienen. 22 Zu diesen Selbsttechniken gehören Übungen körperlicher Askese (Speisevorschriften, sexuelle Enthaltsamkeit) ebenso wie Verfahren der Selbstbeobachtung und Gewissensprüfung (die nicht von den Christen erfunden wurden, sondern sich bei den Pythagoreern und Epikureern ebenso finden wie z.B. bei Seneca). Zentral sind solch fundamentale Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben, ja in gewissem Sinn auch das richtige Hören und Sprechen (über das bspw. Plutarch eine Abhandlung geschrieben hat). 23 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich, Foucault darstellend und weiter führend, auf die Selbsttechnik des Schreibens und stellen ein Feld unterschiedlicher Schreibpraktiken vor, die eines gemeinsam haben: Das Schreiben dient weder der Übermittlung von Information noch dem Ausdruck von Subjektivität, sondern in erster Linie der Einwirkung auf den Schreibenden selbst - denn genau das meint der Begriff ‚Selbsttechnik’. 3. Aufzeichnungen / Tagebuch Durch die Funktionsbestimmung als écriture de soi - was man in einer einfacheren Lesart mit ‚Über sich selbst schreiben’ übersetzen kann, in einer schwierigeren Lesart jedoch mit ‚Sich selbst schreiben’ -, durch diese Funktionsbestimmung steht das Schreiben prinzipiell in einem rhetorischen Zusammenhang, da die Rhetorik stets die Wirkungsorientierung der Rede in den Vordergrund stellt - mit dem Unterschied, dass bei der Selbsttechnik des Schreibens Sender und Adressat die selbe Person bilden. Für die Rhetorik ist diese Differenz allerdings kein Problem. Bereits Cicero erklärt in seinem Dialog über den Redner (De oratore), dass es für die Regeln und die 20 Foucault, Über sich selbst schreiben, 504. 21 Ebd. 22 Vgl. Foucault, Technologien des Selbst, 26f. 23 Zu Plutarchs De audiendo vgl. Moser, Buchgestützte Subjektivität, 266-277. Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 223 Mittel der Eloquenz grundsätzlich gleichgültig sei, an wen sich die Rede richte. 24 Das heißt: Es macht keinen Unterschied, ob ich jemand anders oder mich selbst überreden will, und so ist es nicht verwunderlich, dass sich das Schreiben als Selbsttechnik aus anderen, dialogischen Genres entwickelt - denn es dient, wie oben bereits bei Athanasius erwähnt, als Substitut des abwesenden Anderen. Das soll anhand eines Beispiels erläutert werden. Der römische Kaiser Marc Aurel hat einen Text in griechischer Sprache geschrieben, der vermutlich allein deshalb überliefert wurde, weil er von höchster Stelle stammt. Vergleichbare Werke kennt man sonst nicht aus der Antike. Die Schrift trägt weder einen Titel noch wird sie einem Genre zugeordnet noch liefert sein Verfasser irgendeinen pragmatischen Kontext, der über ihre Funktion Auskunft geben würde. Der Autor selbst nennt seinen Text ‚Aufzeichnungen’ (hypomn mata) und verwendet damit einen völlig unspezifischen Begriff, der jede Art von Notizen meinen kann. Tatsächlich handelt es sich um eine Reihe von rhetorisch gestalteten moralischen Ermahnungen und Sentenzen, die der Autor offenbar an sich selbst richtet. Doch was ist der Zweck dieser Aufzeichnungen? Wollte der Kaiser, der den Text vermutlich im Feldlager verfasst hat, angesichts des drohenden Todes noch einmal über sein Leben räsonieren? Wollte er sich in Erwartung kriegerischer Auseinandersetzungen Mut zusprechen und sich die Lehren vergegenwärtigen, die er in jungen Jahren von seinen philosophischen Lehrmeistern, orthodoxen Stoikern, erhalten hatte? Wir wissen es nicht. Vieles spricht aber dafür, dass wir hier das Dokument einer alltäglichen Schreibpraxis vor uns haben, die weder literarische noch philosophische Ansprüche erhebt, sondern schlicht als Teil des eigenen Lebensvollzugs verstanden werden will - eines Lebens, das im Text nicht abgebildet, sondern durch das Schreiben mitgestaltet werden soll. Das erklärt auch, warum Marc Aurel seine Aufzeichnungen nicht publiziert hat: Sie sind ausschließlich für ihn selbst bestimmt. 25 Marc Aurel schreibt, um - wie Seneca einmal formuliert - das Geschriebene während des Schreibens zu lesen, 26 und dieses schreibende Lesen wird als moralische Übung (exercitium) verstanden: Man notiert sich Zitate und Auszüge aus literarischen Werken, die einen persönlich ansprechen, exempla aus dem Leben bekannter Personen, Anekdoten, Aphorismen, Reflexionen oder Überlegungen, die die Lebensführung betreffen. Diese Aufzeichnungen „stellten ein materielles Gedächtnis der gelesenen, gehörten oder gedachten Dinge dar; und sie machten aus diesen Dingen einen aufgehäuften Schatz für das spätere Wiederlesen und Meditieren“. 27 Das Schreiben dient also der Ausbildung eines sittlichen Habitus und damit letztlich der Selbst- 24 Cicero, De oratore III, 23: „sive ad paucos sive ad multos sive inter alienos sive cum suis sive secum, rivis est diducta oratio, non fontibus, et, quocumque ingreditur, eodem est instructu ornatuque comitata.“ 25 Zu einer solchen Lektüre von Marc Aurels Text vgl. Rutherford, The Meditations, und Hadot, Die innere Burg. 26 Vgl. Seneca, Ep. 89, 23. Dazu ausführlicher unten, Abschnitt 4. 27 Foucault, Zur Genealogie der Ethik, 768. Günter Butzer 224 Bildung. 28 Denn durch Schreiben, so eine Grundüberzeugung antiker Autoren, kann man sich selbst ermahnen, sich ermutigen oder auch sich trösten - wie dies Cicero angesichts des Todes seiner Tochter tut, indem er eine (nicht erhaltene) Trostschrift an sich selbst verfasst. 29 Aus dieser selbst-bildenden Funktion des Schreibens folgt ihr rhetorischer Charakter. Marc Aurel ermahnt, ja er bespricht sich geradezu selbst, indem er sich immer wieder moralische Lehrsätze und Handlungsmaximen in Erinnerung ruft, um dadurch sein thos zu formen und zu festigen. Dazu gehört auch das imaginative Durchspielen von Worst-case-Situationen wie des Todes von nahen Angehörigen und Freunden, des Verlusts aller weltlichen Güter etc., die typisch für die stoische Selbsttechnik der ‚Prämeditation’ sind. 30 Um den Erfolg der Selbstüberredung zu gewährleisten, bedarf es der rhetorisch-poetischen Gestaltung und Zuspitzung der Lehrsätze, da diese dann tiefer ins Innere des Selbst eindringen und dadurch den Menschen als Ganzen zu formen im Stande sind. 31 Wenn Marc Aurel sich selbst ermahnt, spricht er nicht mit eigener Stimme, sondern als ein Anderer, als eine Stimme, die sich zugleich innerhalb und außerhalb des Schreibenden befindet und von diesem ‚Nicht-Ort‘ aus die Rede determiniert. Man hat in der Forschung die Ähnlichkeit der Marc Aurelschen Aufzeichnungen mit den Diatriben, d.i. den moralphilosophischen Gesprächen Epiktets herausgestellt, in denen der Lehrer in einer an der Umgangssprache orientierten, pointierten und oftmals witzigen, z.T. vulgären Rede die falschen Meinungen seiner Schüler korrigiert. 32 Tatsächlich unterscheidet sich Marc Aurels Text nicht grundsätzlich von Epiktets Diatriben, manche Passagen sind sogar wörtlich (im Sinne der hypomn mata als Exzerpte) von Epiktet übernommen. Dies ist möglich, weil die Stimme des Anderen, die bei Marc Aurel zur Sprache kommt, diejenige des logos, der Weltvernunft, darstellt, die immer und überall gegenwärtig ist und die, so Marc Aurel mit Epiktet, bei allen Handlungen bedacht werden will. 33 Marc Aurel schreibt also in seinen Aufzeichnungen eine fremde Rede, die er sich während des Schreibens erst aneignen will. Solange dieser Prozess nicht vollendet, solange die fremde Rede nicht zur eigenen geworden ist, wird der Schreibakt in Gang gehalten. Und weil es sich um ein Tun handelt, das nicht ein für alle Mal geschehen kann, muss der Aneignungsvor- 28 Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, XII, 3, 1, wo davon die Rede ist, sich „selbst in eine Form“ zu bringen. 29 Vgl. Cicero, Tusculanae disputationes III, 76. Dazu Kumaniecki, Die verlorene ‚Consolatio’ des Cicero. 30 Vgl. Rabbow, Seelenführung, 160-171. 31 Seneca schreibt über die Wirkung solcher Sentenzen: „Praeterea ipsa quae praecipiuntur, per se multum habent ponderis, utique si aut carmini intexta sunt aut prosa oratione in sententiam coartata [...]. Aduocatum ista non quaerunt: affectus ipsos tangunt et natura uim suam exercente proficiunt“ (ep. 94, 27f.). Die quasi-natürliche Wirkung dieser sprachlichen Gebilde begründet er damit, dass sie an nicht greifbare Regungen in der Seele appellieren, „quae incipiunt in expedito esse cum dicta sunt“ (ebd., 29). Rhetorisch-poetische Gestaltung bedeutet also einen Zugewinn an Kraft, welche das Latent-Unbewusste zu aktivieren vermag und ein seelisches Potential freisetzt, das von der normalen Rede nicht berührt wird. 32 Vgl. Dalfen, Formgeschichtliche Untersuchungen, 74-160. 33 Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VIII, 40, 1-5; Epiktet, Diatriben, I, 30, 1 u. 4. Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 225 gang immer wieder aufs Neue unternommen werden. Deshalb ist das Schreiben Übung, Teil der Lebenspraxis und letztlich nur durch den Tod zu einem - auch dann immer noch zufälligen - Abschluss zu bringen. Den Kern von Marc Aurels Aufzeichnungen bildet die regelmäßig wiederkehrende Ermahnung zur ‚Sorge um sich‘, wie das Foucault im Anschluss an Platon genannt hat. 34 Diese Sorge vernachlässigt, wer die Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolgt und dadurch - davon ist Marc Aurel überzeugt - zwangsläufig unglücklich wird. Damit präfiguriert Marc Aurels Text die neuzeitliche Praxis des Tagebuchschreibens, die man bis weit ins 18. Jahrhundert hinein als legitimen Nachfolger der Marc Aurelschen ‚Ästhetik der Existenz’ begreifen kann. Wenn z.B. der berühmte englische Diarist Samuel Pepys in einem Tagebucheintrag ungefähr 1500 Jahre nach Marc Aurel ein schriftliches Gelübde ablegt „to finish my journall [...] before I kiss any woman more or drink any wine“, 35 tut er nichts anderes, als dem Tagebuch die Aufgabe der Selbstsorge anzuvertrauen, zu der er sich offenbar ohne das Schreiben nicht in der Lage sieht. Dabei geht es auch hier nicht darum, abstrakte ethische Maximen und religiöse Gebote zu befolgen - Pepys ist zwar gläubiger Christ, aber alles andere als ein moralischer Rigorist -, sondern über das Schreiben die dem Einzelnen gemäße Lebensform zu finden und zu gestalten. Das Tagebuch wird so zu einem eigenständigen Medium, in dem sich der Autor nicht einfach artikuliert, sondern in dem er mit sich selbst interagiert und sich selbst immer wieder neu definiert. Es wird zum Spiegel des Selbst, das aber nicht der narzisstischen Selbstbespiegelung dient, sondern, ganz im Gegenteil, der Veränderung des Selbst angesichts der Erkenntnis eigener Unzulänglichkeiten. 4. Brief Die Spiegel-Metapher verweist auf eine andere Form der schriftlichen Selbsttechnik, die von Foucault behandelt wird: das Schreiben von Briefen. Ähnlich wie die Aufzeichnungen Marc Aurels und das Tagebuch, das, so der bereits zitierte Athanasius, das Gespräch der abwesenden „Mitgenossen im ascetischen Streben“ ersetzen soll, wird auch der Brief auf die Form des Gesprächs bezogen: als „andere Hälfte eines Dialogs“, wie Demetrios, der prominenteste antike Brieftheoretiker, den Brief definiert. 36 Das bezieht sich jedoch nicht auf jede Art des Briefs, sondern allein auf den Freundschaftsbrief, wie wir ihn z.B. von Cicero und dem bereits erwähnten jüngeren Plinius kennen. Im Brief an den Freund, so die Vorstellung, übergibt der Schreibende eine Freundschaftsgabe, die als Spiegel der eigenen Seele fungiert. 37 Zugleich ist 34 Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, II, 6, 1; IX, 39, 2; X, 1, 1; Foucault, Die Sorge um sich; Platon, Apologie 29e; Alkibiades I, 127d. Foucault interpretiert diese Passagen in seinem Aufsatz Technologien des Selbst, 28-45. Zum Programm der Selbstsorge in Platons Alkibiades I vgl. auch ausführlich Moser, Buchgestützte Subjektivität, 79-124. 35 Pepys, The Diary, Eintrag vom 14. Januar 1666. 36 Vgl. Demetrios, Du style, 223. 37 Vgl. ebd., 227: „Man könnte sagen, dass jeder das Bild seiner Seele im Brief zeichnet. Wenn es in jeder anderen Kompositionsform möglich ist, den Charakter des Autors zu erkennen, so er- Günter Butzer 226 der Freund im Brief als einem halbierten Gespräch - die Textlinguisten würden sagen: als Rede in einer zerdehnten Kommunikationssituation - imaginär anwesend und wird regelmäßig in dialogischen Figuren der Apostrophe, der Prolepse und der Prosopopöie in die Rede integriert. So schreibt Cicero an seinen Bruder Quintus: „Während ich dich lese, scheine ich dich zu hören, und während ich dir schreibe, scheine ich mit dir zu sprechen“. 38 Der Brief gilt also als Freundschaftsbeweis (philophron sis) 39 und dem entsprechend die Freundschaft als Modellfall der Briefkommunikation. Denn die literarischen Verfahren des Briefs, die der Evokation von Präsenz und der extensiven Selbstdarstellung dienen, laufen auf die Simulation einer Intimität hinaus, die nur vor dem Hintergrund der überragenden Bedeutung der Freundschaft für den Brief erklärbar ist. Und hier liegt auch die Funktion des Briefs als Selbsttechnik begründet. Denn im Rahmen der amicitia dient der Brief nicht nur der Aufrechterhaltung des Kontaktes bei räumlicher Abwesenheit - als „amicorum colloquia absentium“ 40 -, sondern erfüllt auch eine Reihe der Aufgaben, die der sozialen Institution der Freundschaft zugeschrieben werden, 41 ja seine einzelnen Typen werden geradezu einzelnen Freundschaftsdiensten entsprechend bestimmt (wie z.B. der Trostbrief). Eine dieser Aufgaben - nämlich die Selbsterkenntnis - wird explizit als Selbsttechnik ausgewiesen. In der antiken Ethik wird von einigen Autoren das Problem der Selbsterkenntnis explizit mit der Institution der Freundschaft in Beziehung gebracht. Die Aristoteles zugeschriebenen Magna Moralia behaupten sogar, dass Selbsterkenntnis ohne den Freund schlechterdings nicht möglich sei: Ebenso nun, wie wir, wenn wir unser Gesicht sehen wollen, dieses sehen, indem wir in den Spiegel blicken, so erkennen wir uns, wenn wir uns um Selbsterkenntnis bemühen, indem wir unseren Freund ansehen. Denn der Freund ist, wie wir zu sagen pflegen, unser anderes Ich. Wenn es nun gut ist, sich selbst zu erkennen, dies aber nicht möglich ist ohne einen Freund, so benötigt also der autarke Mensch einen Freund, um sich selbst zu erkennen. 42 Verbindet man diese Freundschaftskonzeption mit der dargelegten Vorstellung vom Brief als Spiegel der Seele, ergibt sich eine quasi gedoppelte Spiegelbeziehung: Während der Schreiber im Brief dem Freund den Spiegel seiner Seele übermittelt, hält der Freund in seinem Brief wiederum dem Schreiber einen Spiegel vor. Deshalb ist der kennt man ihn doch nirgends so deutlich wie in einem Brief.“ - Vgl. zu diesem Topos Müller, Der Brief als Spiegel der Seele. 38 „sed ego quia, cum tua lego, te audire, et quia, cum ad te scribo, tecum loqui videor“ (Cicero, Ad Quintum fratrem, I, 1, 45). Vgl. Thraede, Grundzüge, 27-74. 39 Vgl. Demetrios, Du style, 231f. 40 Cicero, Phil., II, 7. 41 Die enge Beziehung von Freundschaftsdienst und Brief ist auch immer wieder Thema in den Episteln selbst. Vgl. z.B. Cicero, Ad Atticum, I, 18; Plinius, Ep. I, 10 u. 11; II, 6 u. 13; III, 11; VII, 29. 42 Aristoteles, Magna Moralia, II, 15. Vgl. Platon, Alkibiades I, 133aff. Dazu Moser, Buchgestützte Subjektivität, 183-194. Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 227 Freundschaftsbrief immer sowohl an den anderen als auch an sich selbst gerichtet. So spricht Seneca in seinen moralischen Briefen an den Freund Lucilius immer wieder mit sich selbst, doch dieses Selbstgespräch meint, wie er betont, zugleich den Freund („haec mecum loquor, sed tecum quoque me locutum puta“), 43 und umgekehrt ist die Rede an den Freund immer auch eine Form der ‚Autokommunikation’: 44 „[...] sprich zu anderen“, empfiehlt er Lucilius, „damit du es, während du sprichst, selbst hörst; schreibe, damit du es, während du schreibst, liest und dabei alles auf die Bildung deines Charakters beziehst.“ 45 Zu beachten ist jedoch, dass die Spiegel-Metapher hier zwei unterschiedliche Bedeutungen annimmt: Im einen Fall garantiert sie die Authentizität der Rede, im anderen steht sie für die Wahrheit des Subjekts. In der freundschaftlichen Korrespondenz übernimmt nun prinzipiell jeder einzelne Brief beide Funktionen: Er ist Selbstdarstellung in Bezug auf den Schreiber und Selbsterkenntnis in Bezug auf den Empfänger. Doch nachdem der Freund die Spiegel-Funktion nur wahrnehmen kann, weil er, wie es in den Magna Moralia heißt, unser alter ego ist, wird der Freundschaftsbrief zur literarischen Selbsttechnik im strengen Sinn: Indem ich mich selbst im Brief darstelle und das alter ego des Freundes imaginiere, bilde ich mich selbst. 46 5. Essai Aus dieser autokommunikativen Spiegelungsstruktur des Freundschaftsbriefes entwickelt sich in der Neuzeit ein weiteres Genre der literarischen Selbsttechnik, das typisch für die Moderne geworden ist: der Essai. An seinem literaturgeschichtlichen Ursprungsort, bei Montaigne, kann man diese genealogische Beziehung von Brief und Essai unmittelbar verfolgen. Den Freundschaftsbrief bezeichnet er als Ideal des eigenen Werkes: Am liebsten, so Montaigne, hätte er seine „verves“ (Phantasien) als Briefe an einen Freund geschrieben, einem Genre, in dem er anerkanntermaßen als besonders befähigt gelte; aber leider habe er niemanden, an den er schreiben könne. 47 (Er spielt damit auf den frühen Tod seines Freundes Étienne de la Bo ë tie an, den er wohl als idealen Adressaten seiner Texte betrachtet.) Montaigne hat also dem eigenem Bekunden nach keine Gelegenheit gehabt, sein Werk in Freundschaftsbriefen zu verfassen; die Identität von Schreiber und Adressat im Brief, die auf der dargelegten Funktion des Freundes als alter ego beruht, erlaubt es ihm jedoch, die Funktionen des Briefes auf die Essais zu übertragen, die dadurch zu Briefen an sich selbst werden. So führt Montaigne ein Gespräch mit sich selbst, das, wie das Stilideal des 43 Seneca, Ep. 26, 7. Vgl. ders., Ep. 27, 1. 44 Vgl. zu diesem Konzept Schorno, Autokommunikation. 45 „Haec aliis dic, ut dum dicis, audias ipse; scribe, ut dum scribis legas, omnia ad mores et ad sedandam rabiem adfectuum referens“ (Seneca, Ep. 89, 23). 46 Das schließt keineswegs aus, dass der Brief konkrete erzieherische Aufgaben gegenüber dem Briefpartner übernehmen kann, wie z.B. Senecas Epistulae morales an seinen Freund Lucilius oder die erwähnte Einrichtung der Trostbriefe, die von Cicero, Seneca und Plutarch überliefert sind, belegen. Zu letzteren vgl. Kassel, Untersuchungen; Johann, Trauer. 47 Montaigne, Essais, I, 39 (Considération sur Cicéron). Günter Butzer 228 Briefes, am mündlichen Gespräch (colloquium) orientiert ist. 48 Ziel dieses ungezwungenen und unordentlichen, dabei zugleich kraftvollen und kühnen sermo humilis ist es, die sprunghaften Träumereien des Verfassers festzuhalten und dadurch ein getreues Bild der Seele des Autors zu geben: „[...] tantôt je rêve“, schreibt Montaigne wie 200 Jahre nach ihm Rousseau in den Rêveries du promeneur solitaire, „tantôt j’enregistre et dicte, en me promenant, mes songes que voici“. 49 Der Topik des Freundschaftsbriefs entsprechend, kann sich Montaigne auf die authentische Wirkung dieses einfachen und naiven ‚natürlichen’ Stils berufen. Der Inhalt des Seelengemäldes erscheint indessen alles andere denn wohlgeformt. Was Montaigne in seinen Essais als Selbstbildnis präsentiert, bezeichnet er selbst als „grotesques et corps monstrueux, rapiécés de divers membres, sans certaine figure, n’ayant ordre, suite ni proportion que fortuite“. 50 Diesem monströsen Inhalt der Essais entspricht ihre groteske Form. Denn mit denselben Formulierungen, mit denen Montaigne hier die eigene Gestalt beschreibt, bezeichnet Horaz zu Beginn der Ars poetica (die selbst wiederum in Briefform abgefasst ist) das misslungene, weil heterogene und unproportionierte und daher monströse Kunstwerk: Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit et varias inducere plumas undique conlatis membris, ut turpiter atrum desinat in piscem mulier formosa superne, spectatum admissi risum teneatis, amici? credite, Pisones, isti tabulae fore librum persimilem, cuius, velut aegri somnia, vanae fingentur species, ut nec pes nec caput uni reddatur formae. 51 In diesem poetologischen Kontext erscheinen Montaignes Essais formal wie inhaltlich als Ausgeburten eines krankhaften Gehirns, als zügellose Träumereien eines Geisteskranken. Denn wer seine Phantasie nicht unter Kontrolle hat, so die Ansicht Montaignes wie seiner Zeitgenossen, der verfällt unweigerlich dem Wahnsinn. 52 Die 48 „Le parler que j’aime, c’est un parler simple et na f, tel sur le papier qu’à la bouche, un parler succulent et nerveux, court et serré, non tant délicat et peigné comme véhément et brusque [...], plutôt difficile qu’ennuyeux, éloigné d’affectation, déréglé, déconsu et hardi; chaque lopin y fasse son corps“ (Montaigne, Essais, I, 26; De l’institution des enfants). Zum Ideal mündlichen Sprechens in den Essais vgl. Kritzman, Destruction/ Découverte, 100-102. 49 Montaigne, Essais, III, 3 (De trois commerces). 50 Ebd., I, 27 (De l’amitié). Vgl. Garavini, Monstres et chimères, 9-35. 51 „Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so dass als Fisch von hässlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet, so dass nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören“ (Horaz, Ars poetica, 1-9). 52 Vgl. z.B. Gianfrancesco Picos Traktat De imaginatione oder Bovillus’ Abhandlung De sensu, aber auch Ronsard, der in der Épître au lecteur zur ersten Ausgabe der Franciade im unmittelbaren An- Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 229 auf Grund ihrer Spontaneität und Sprunghaftigkeit authentische „allure poétique“ 53 der Essais ist eben jener aus der unregulierten Einbildungskraft entspringende monströse Stil, der die Teile verselbständigt und das, was nicht zusammengehört, verknüpft; und weil Montaigne Werk und Verfasser als untrennbar betrachtet, 54 darf man folgern, dass es sich bei seiner Selbstdarstellung um ein Bildnis des Autors als alterndes Monster handelt. Doch was ist der Zweck dieses grotesken Selbstporträts? In einem modernistischen Vorurteil hat man angenommen, die Funktion der Essais erschöpfe sich in der Darstellung einer ebenso authentischen wie exzentrischen Subjektivität; Nietzsche hat Montaigne dementsprechend als ersten modernen Menschen gefeiert. Das Ziel der Essais wäre demnach die reine narzisstische Selbstbespiegelung ihres Autors. Montaigne selbst sieht dies anders. Er betrachtet es als die vornehmste Aufgabe des monströsen Selbstporträts, dem Verfasser (also sich selbst) einen Spiegel vorzuhalten, der heilsam auf ihn selbst zurückwirkt. Denn: Quel que je sois, je le veux être ailleurs qu’en papier. Mon art et mon industrie ont été employés à me faire valoir moi-même; mes études, à m’apprendre à faire, non pas à écrire. J’ai mis tous mes efforts à former ma vie. Voilà mon métier et mon ouvrage. 55 Die Aufzeichnung der eigenen monströsen, abartigen, krankhaften Phantasie ist also nicht Selbstzweck, sondern dient der Lebenskunst: Beim Lesen dieses Textes - und Lesen ist ja der vornehmste Zweck des Schreibens als Selbsttechnik - erblickt Montaigne die eigene entstellte Fratze und erhält durch diese Art des authentischen Porträts die Möglichkeit zur Selbstbildung. schluss an Horaz die „Poësie fantastique“ Ariosts verurteilt, „de laquelle les membres sont aucunement beaux, mais le corps est tellement contrefaict & monstrueux qu’il ressemble mieux aux resveries d’un malade de fievre continue qu’aux inventions d’un homme bien sain“ (Ronsard, La Franciade, 1182). In direktem Zusammenhang damit steht der medizinische, in Paracelsus und Paré kulminierende Diskurs über die verheerenden Auswirkungen der zumeist sinnlich-sexuell stimulierten Phantasie etwa auf die Föten im Mutterleib, die dadurch zu Monstern werden - ein Diskurs, der bis hin zu E.T.A. Hoffmanns Fräulein von Scudery und Mary Shelleys Frankenstein verfolgt werden kann. Vgl. Huet, Monstrous imagination. 53 Vgl. Montaigne, Essais, III, 9 (De la vanité): „J’aime l’allure poétique, à sauts et à gambades. C’est un art, comme dit Platon, léger, volage, démoniacle.“ Montaigne bezieht sich hier auf die „fantastique bigarrure“ von Platons Phaidros, der in seinem ersten Teil von der Liebe und in seinem zweiten von der Rhetorik handelt, sowie allgemein auf die Schriften Plutarchs, eines seiner literarischen Vorbilder. 54 „Ici, nous allons conformément et tout d’un train, mon livre et moi. Ailleurs, on peut recommander et accuser l’ouvrage à part de l’ouvrier; ici, non: qui touche l’un, touche l’autre“ (ebd., III, 2; Du repentir). 55 Ebd., II, 37 (De la ressemblance des enfants aux pères). Zum Zusammenhang von Foucaults Konzept der Selbstpraktik und Montaignes Essais vgl. Rieger, Ästhetik der Existenz? Günter Butzer 230 6. Selbstgespräch Das Schreiben wird von den behandelten Autoren und in den angeführten Genres - die allesamt keine poetischen Gattungen im Sinne der antiken und frühneuzeitlichen Dichtungslehren darstellen - tatsächlich als Selbsttechnik praktiziert. Nimmt man diesen Begriff Foucaults wörtlich und versteht techn als eine auf Übung basierende Kunstlehre, dann trifft er das Gemeinte - nämlich das Finden bzw. die Gestaltung einer je eigenen Lebensform - wesentlich besser als der modernistische Terminus einer ‚Ästhetik der Existenz’; denn weder der Begriff der ‚Ästhetik’ noch derjenige der ‚Existenz’ sind streng genommen antike Konzepte - auch wenn sie natürlich ihre antike Vorgeschichte haben (und die nachklassische Ästhetik z.T. wieder auf diese zurückgreift). Dass Foucault mit diesem Terminus gleichwohl ein historisches Phänomen erfasst, sollen die folgenden Bemerkungen zu Shaftesburys Soliloquy, or Advice to an Author zeigen. Die Zugehörigkeit Shaftesburys zu dem hier behandelten Konzept eines Schreibens als Selbsttechnik legen bereits die von ihm bevorzugten Genres nahe, die vom Essay über den Brief bis hin zu jener Form reichen, die er als philosophical rhapsody (so der Untertitel der Moralists) bezeichnet. Darüber hinaus hat Shaftesbury mit dem Philosophical Regimen ein Werk geschrieben, das weitgehend dem Vorbild von Marc Aurels hypomn mata folgt, und mit dem literarischen Soliloquium den Technologien des Selbst eine weitere hinzugefügt, die bereits eine lange Tradition aufweist, als er sie zum Gegenstand seiner Abhandlung macht. 56 Was ist das Ziel des Selbstgesprächs für Shaftesbury? Wie in Montaignes Essais, geht es zunächst darum, in der einsamen Rede die eigenen verborgenen Phantasien ans Licht zu locken, sie in Worte zu fassen und dadurch kenntlich zu machen. Das geschieht wie folgt: „[...] the mind apostrophises its own fancies, raises them in their proper shapes and personages, and addresses them familiarly, without the least ceremony or respect.“ 57 Die Respektlosigkeit ist dabei integrales Moment der Übung einer ‚inward rhetoric‘ und belegt, dass der privative Charakter des Selbstgesprächs zwingend ist, da nur schonungslose Offenheit den Erfolg gewährleistet. Die Phantasien müssen zum Reden gebracht werden, damit sie überhaupt erst kenntlich erscheinen. Die Beispiele, die Shaftesbury hierfür gibt, machen deutlich, dass man diese Art des Soliloquiums kaum als Gespräch bezeichnen kann; es erscheint vielmehr als Verhör, in dem es darum geht, die Vorstellungen zur Rede zu stellen, sie dingfest zu machen, ihnen alle Verkleidung und Verstellung zu nehmen, sie in ihrer Nacktheit vor Augen zu führen und dadurch zu disziplinieren. 58 Der Grundgedanke ist dabei, dass allein die Verbalisierung der Einbildungen ihre Identifikation und damit auch ihre Kontrolle ermögliche. Solange sie im Bereich des Unartikulierten verbleiben, können sie ihr Unwesen ohne Einfluss des Ich treiben und dessen Willen steuern. Sobald sie jedoch versprachlicht werden, ist ihre Macht gebrochen, und sie unterstehen der Verfügungsgewalt des Subjekts. Den geheimen 56 Vgl. Wolff, Shaftesbury; Fries, Dialog der Aufkärung, 55-64. 57 Shaftesbury, Soliloquy, 123. 58 Das Vorbild liefert hier, wie schon bei Marc Aurel, Epiktet. Vgl. Epiktet, Diatribae, II, 18, 24; III, 12, 15. Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 231 Gedanken „voice and accent“ zu geben, stellt deshalb das vornehmste Anliegen dieser Selbsttechnik dar. 59 Dem gemäß hat die Apostrophe der Vorstellungen im Selbstgespräch eine doppelte Funktion: Sie ist Rationalisierung des Sinnlichen qua Versprachlichung und zugleich affektive Verstärkung der Vernunft. Denn Herrschaft der Vernunft und Erregung der Leidenschaften sind für Shaftesbury keineswegs unvereinbar; sein Verständnis des Selbstgesprächs bleibt insofern gebunden an die rhetorische persuasio als „power of moving the affections“. 60 Das Bild, das er im Soliloquy von sich im Selbstgespräch zeichnet, gewährt hier erstaunliche Einsichten. Der Blick von innen und derjenige von außen vermitteln einen völlig verschiedenen Eindruck, denn der Kampf mit den Einbildungen erfolgt zwar im Interesse der Vernunft, erscheint aber für den Beobachter wie eine Donquichotterie - die Bezwingung der Phantasmen erhält selbst einen phantastischen Anstrich: What! am I to be thus fantastical? Must I busy myself with phantoms? fight with apparitions and chimeras? For certain, or the chimeras will be beforehand with me [...]. What! talk to myself like some madman, in different persons, and under different characters! Undoubtedly, or ’twill be soon seen who is a real madman, and changes character in earnest without knowing how to help it. 61 Der ambivalente Status des Selbstgesprächs schlägt hier voll zu Buche: Der Kampf gegen den Wahnsinn - denn nichts anderes bedeutet, wie Shaftesbury mit Montaigne betont, die Erhebung der Einbildungskraft zur Richterin über die Dinge - erscheint selbst als Wahnsinn. Nicht von ungefähr haben die Zeitgenossen Shaftesburys dem Selbstgespräch misstraut, steht doch gerade die einsame, von der Gesellschaft isolierte Unterredung mit sich selbst in der Gefahr, der Phantasie freien Lauf zu lassen und eben jene Exaltation zu provozieren, welche sie zu bekämpfen sucht. 62 Man kann Shaftesbury nicht vorhalten, ihm sei diese Ambivalenz nicht bewusst gewesen. Merkwürdig ist in diesem Zusammenhang bereits der zu Beginn des Soliloquy gegebene Rat an den „probationer“, sich für seine erste Übung des Selbstgesprächs in den Wald oder auf einen hohen Hügel zurückzuziehen, der mit einem Horaz-Zitat autorisiert wird: „Scriptorum chorus omnis amat nemus et fugit urbes“. 63 Das in seiner Isolierung harmlos scheinende Zitat erhält im engeren Kontext des Horazschen Briefs wie im Weiteren seines Werks eine deutlich enthusiastische Färbung. Denn der Dichter flieht vor der Stadt in den Hain als „cliens Bacchi“ (V. 78), und dieser ist nicht nur der Gott des Enthusiasmus schlechthin, sondern zugleich der Schutzgott der Horazschen Dichtung. In seiner Ode III, 25 (Quo me, Bacche, rapis) beschreibt er den eigenen Enthusiasmus als bacchantischen raptus, der den Dichter in die Haine, die wilden Klüfte und auf die Bergesjoche treibe. Das Erhabene („insigne“), Neue („recens“), bislang Ungesagte („adhuc indictum“), ja Unsterbliche („nil mortale“), das der vom Gott erfüllte Poet kündet, scheint mit dem vernünftigen 59 Shaftesbury, Soliloquy, 113. 60 Ebd., 155. 61 Ebd., 207. 62 Vgl. Butzer, Soliloquium, Abschnitt 11.3. 63 Horaz, Ep. II, 2, 77. Vgl. Shaftesbury, Soliloquy, 107. Günter Butzer 232 Selbstgespräch, wie es Shaftesbury propagiert, nichts gemein zu haben. Und dennoch muss man unterstellen, dass dem Horaz-Verehrer der Zusammenhang des zitierten Verses wohl bewusst ist. Der weitere Verlauf des Soliloquy bestätigt dies, in dem Shaftesbury die Exklusivität des Soliloquiums für die „great wits“ herausstellt, deren Genius genügend Kraft besitze, um sich der Erschütterung des Selbstgesprächs auszusetzen, und dies mit einem weiteren Horaz-Zitat belegt: „Aut insanit homo, aut versus facit“. 64 Shaftesbury schließt daraus: „Composing and raving must necessarily, we see, bear a resemblance.“ 65 In der positiven Umwertung der bei Montaigne wenigstens ambivalent beurteilten ‚Macht der Phantasie’ kann man bei Shaftesbury tatsächlich von einer ‚Ästhetik der Existenz’ der „great wits“ sprechen, die durch das Selbstgespräch ihren Genius in Form bringen und bilden und zugleich sein enthusiastisches Potential freisetzen. Verfügbarkeit des visionären Geists („visionary spirit“) bedeutet dessen Beherrschung und Regulation - auch in dem Sinne, dass sich der Dichter selbst in Ekstase zu versetzen vermag. Stellt demnach die Disziplinierung der Einbildungskraft das moralische Ziel des Selbstgesprächs dar, so kann sein poetisches Ziel in deren absichtsvoller Evokation im Dienste eines (wie es in den Moralists heißt) „fair and plausible enthusiasm“ bzw. einer „reasonable ecstasy“ gesehen werden. 66 Der Ursprung dieser ästhetischen Selbsttechnik in den moralischen Selbsttechniken der Antike bleibt also offensichtlich. Shaftesbury geht es nicht um den Gegensatz, sondern um die Vereinbarkeit von moralischen und ästhetischen Prinzipien, oder genauer: um die moralische Bändigung - oder besser: Bildung - ästhetischer Produktivität. 7. Schreiben II Wie Montaigne und Shaftesbury, hat auch Foucault ein zugleich ästhetisches und ethisches Ziel im Sinn, wenn er von einer ‚Ästhetik der Existenz’ spricht. Tatsächlich versteht Foucault sein Konzept als zukunftsweisend für eine postmoderne, nichtnormative Ethik. In einem Gespräch aus dem Jahr 1983 sagt er in Beantwortung der Frage, ob die antiken Selbsttechniken zum Vorbild für die Gegenwart dienen könnten: Wir haben nicht zwischen unserer Welt und der griechischen Welt zu wählen. Aber da wir beobachten können, dass einige der großen Prinzipien unserer Moral in einem bestimmten Moment mit einer Ästhetik der Existenz verbunden waren, denke ich, dass diese Art historischer Analyse nützlich sein kann. Über Jahrhunderte hatten wir die Überzeugung, dass es zwischen unserer Moral - unserer individuellen Moral -, unserem alltäglichen Leben und den großen politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen analytische Bin- 64 Horaz, Sat. II, 7, 118. 65 Shaftesbury, Soliloquy, 108. 66 Shaftesbury, The Moralists, 129. - „No poet [...] can do anything great in his own way without the imagination or suppostition of a divine presence, which may rise him to some degree of this passion we are speaking of“ (Shaftesbury, A Letter Concerning Enthusiasm, 36). - Gabriele Dürbeck bezeichnet das Enthusiasmus-Konzept Shaftesburys prägnant als „kontrollierten Gebrauch der Einbildungskraft“ (Einbildungskraft und Aufklärung, 65). Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 233 dungen gab, und dass wir nichts ändern könnten, zum Beispiel an unserem Sexual- oder unserem Familienleben, ohne unsere Ökonomie oder unsere Demokratie in Gefahr zu bringen. Ich glaube, dass wir uns von der Idee eines analytischen [i.S. Kants, G.B.] und notwendigen Bandes zwischen der Moral und den anderen sozialen, ökonomischen oder politischen Strukturen befreien müssen. 67 Die ‚Ästhetik der Existenz’ soll genau dieses Bedürfnis befriedigen: eine Moral liefern, die unabhängig von anderen sozialen Systemen funktioniert, ohne auf religiöse oder juristische Normen zurückzugreifen. Vielmehr soll sie schlicht das eigene Leben nach Maßgabe der Schönheit bilden. Ob Foucault damit das antike Ideal der Kalokagathie, also der Verknüpfung von Schönem und Gutem bis hin zu deren Identifikation, richtig interpretiert, darf bezweifelt werden. Er versteht nämlich das ‚schöne Leben’, wie eingangs erwähnt, als Produkt einer poietischen (also herstellenden) Tätigkeit, als Resultat einer techn . Der Begriff des Schönen gehört in der Antike aber nicht in den Bereich der poi sis, sondern in den der Erkenntnis und des Wissens (epist m ). Ob es also in der Antike wirklich etwas wie die Vorstellung eines ‚schönen Lebens’ gegeben hat, scheint zumindest fragwürdig. Die Beschränkung des Schönheitsbegriffs auf das Feld der Kunst stellt jedenfalls eine neuzeitliche Entwicklung dar. Im Grunde läuft daher Foucaults Konzept einer ‚Ästhetik der Existenz’ gar nicht darauf hinaus, die Moral von allen anderen sozialen Systemen loszulösen, sondern eher darauf, ihre Referenz umzustellen: von Religion, Politik oder Ökonomie auf Kunst. Foucault schließt sein Programm denn auch an ästhetizistische und avantgardistische Konzepte an, die darauf abzielen, das eigene Leben als Kunstwerk zu gestalten (explizit nennt er den Dandyismus des 19. Jahrhunderts eines Baudelaire und eines Wilde als legitimen Nachfolger der antiken ‚Ästhetik der Existenz’). 68 Deshalb scheint es auch möglich, abschließend einige Schlussfolgerungen für ein gegenwärtiges Literaturverständnis aus dem Konzept einer ‚Ästhetik der Existenz’ zu ziehen. Dabei wird sich zeigen, dass diese Konsequenzen insbesondere die moderne bzw. postmoderne Literatur betreffen, also eben jene Texte, über die Foucault selbst in den 1960er Jahren - noch aus einer scheinbar ganz anderen Perspektive - geschrieben hat. Hierzu lassen sich, mit aller Vorläufigkeit, drei Thesen formulieren: (1.) Die ‚Ästhetik der Existenz’ führt zu einer Entgrenzung der poi sis: Literarische Produktivität ist nicht mehr auf die Herstellung ‚großer Werke’ bezogen, sondern gerät zu einer alltäglichen Tätigkeit. Eine solche Entgrenzung ist aber gerade typisch für die literarische Moderne geworden, die die traditionellen poetologischen Normen und die überlieferten Gattungen hinter sich gelassen hat und damit auch kein ‚Werk’ im emphatischen Sinn mehr ansteuert. Tendenziell werden dadurch alle Produkte poetischer Tätigkeit gleich wichtig: als Zeugnisse einer poetischen Existenz. 69 Damit erweitert sich das literarische Feld insbesondere auf Bereiche, die in 67 Foucault, Zur Genealogie der Ethik, 757. 68 Vgl. ebd., 767, 773. 69 Foucault spricht vom Willen, „ein schönes Leben zu haben und den anderen die Erinnerung an eine schöne Existenz zu hinterlassen“ (ebd., 749). Im Anschluss daran fragt er: „Aber könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein? “ (ebd., 758). Günter Butzer 234 der traditionellen Poetik keine Rolle gespielt haben: Tagebücher, Briefe, Essays, neuerdings auch elektronische Literatur wie Internet-Tagebücher, E-mails und Weblogs. Letztlich läuft das auf einen neu begründeten ‚erweiterten Literaturbegriff’ hinaus, der Literatur konsequent als Kommunikation, und nicht als Produktion und Rezeption von Werken, untersucht - und sich dabei z.T. wieder mit der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse trifft. 70 Damit wird aber (2.) das Schreiben im Grunde von einer poietischen, herstellungsbezogenen, zu einer praktischen, handlungsbezogenen Tätigkeit: 71 Es wird zum Moment des Lebensvollzugs, das die Autonomie des Ästhetischen, wie sie insbesondere seit dem 18. Jahrhundert postuliert wurde, außer Kraft setzt. Foucault knüpft hier offensichtlich an die Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts und deren Programm einer Rückführung von Kunst in Lebenspraxis an; 72 er könnte sich aber auch auf die Pop-Bewegungen vor und nach der Avantgarde berufen. Auf das Kunstwerk kommt es hier weniger an als auf die Praxis permanenten Schreibens: Das Schreiben wird dadurch zu einem Gestus der Lebensführung, wie es Vilém Flusser einmal charakterisiert hat. 73 So verstanden, gerät schließlich (3.) das Schreiben zu einer nicht-diskursiven Tätigkeit, die keinen Regeln folgt und dadurch eine Energie freisetzt, die sich - so Foucault - nicht mit politischen, sozialen oder ökonomischen Normen eingrenzen lässt. In dieser Subversion geltender Diskursformationen durch die alltägliche Anarchie eines unreglementierten Schreibens läge dann letzten Endes der ethische Gehalt moderner Literatur - und hier schließt sich der Kreis zur Beschreibung der Funktion von Literatur, die Foucault in den 1960er Jahren in Les mots et les choses und den Essays gegeben hat: als ein ‚Gegen-Diskurs’ zu den Dispositiven des Wissens, der gerade nicht auf die Produktion neuen Wissens aus ist, sondern die „radikale Intransitivität“ der Sprache - also ihre Unüberschreitbarkeit hin auf einen externen Gegenstand - vor Augen führt. Diese Literatur löst sich von allen Werten, die sie im klassischen Zeitalter zirkulieren lassen konnten (der Geschmack, das Vergnügen, das Natürliche, das Wahre), und läßt in ihrem eigenen Raum alles entstehen, was dessen spielerische Verneinung sichern kann (das Skandalöse, das Häßliche, das Unmögliche). Sie bricht mit jeder Definition der „Gattungen“ als einer Ordnung von Repräsentationen angepaßten Formen und wird zur reinen und einfachen 70 Vgl. z.B. Siegert, Relais; Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. 71 Vgl. Früchtl, Was heißt es, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen? , 285f. 72 Vgl. Bürger, Theorie der Avantgarde, 67-72; Kuhnle, Die permanente Revolution der Tradition. 73 „Es gibt Leute (und ich zähle mich zu ihnen), die glauben, ohne Schreiben nicht leben zu können. [...] sie glauben, schreiben zu müssen, weil sich ihr Dasein in der Geste des Schreibens und nur darin äußert“ (Flusser, Die Schrift, 7). - Écriture, der Schlüsselbegriff postmoderner Literaturtheorie und -praxis - als eine entgrenzte literarische Produktivität, die sich nicht auf die Herstellung von Kunstwerken beschränken lässt -, sollte demnach nicht als Schrift in einem poietischen Sinn verstanden werden, sondern als Praxis des Schreibens oder, mit Foucault, als eine ‚Ästhetik der Existenz’. Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 235 Offenbarung einer Sprache, die zum Gesetz nur die Affirmation - gegen alle anderen Diskurse - ihrer schroffen Existenz hat. 74 Eine solche Literatur reduziert sich für Foucault „auf den reinen Akt des Schreibens“, 75 und hier trifft sie sich mit der Konzeption des Schreibens als Selbsttechnik (bzw. Selbstpraktik). Verändert hat sich lediglich der Modus der Selbst-Bildung, die in der Moderne immer mehr von einer Lebenskunst im Sinne der techn tou biou zu einer Überlebenskunst mutiert - gemäß der von Foucault zitierten Devise Blanchots: „Schreiben, um nicht zu sterben“. 76 Dass diesem modernen Schreiben, wie dem antiken, ein genuin ethischer Impuls innewohnt, hat nicht zuletzt Blanchot mit seinem gesamten Werk deutlich gemacht. Damit wäre auch eine neue, nicht mehr werk-, sondern schreiborientierte Perspektive auf die moderne (wie postmoderne) Literatur gewonnen. Dann gehören aber - um die eingangs gestellte Frage wieder aufzunehmen - Foucaults Konzepte der littérature aus den 1960er und der écriture aus den 1980er Jahren nicht einfach, wie Eva Erdmann postuliert, „in zwei verschiedene Phasen und Komplexe des Foucaultschen Werks“; denn ebenso wenig wie der ‚Literatur‘ der „Pragmatismus autobiographischer Tendenzen“ 77 fremd bleiben muss, geht das ‚Schreiben seiner selbst‘ im Autobiografischen auf. Das soll anhand eines letzten Beispiels gezeigt werden. Ein auch für Foucault typisch moderner Autor wie Kafka hat im Grunde kein einziges ‚Werk’ geschaffen, sondern er hat, wie wir spätestens seit der kritischen Kafka-Ausgabe wissen, in erster Linie permanent geschrieben (so dass sein Freund Max Brod weit mehr getan hat, als die handschriftlichen Texte um- und fertigzuschreiben: Er hat, genau genommen, überhaupt erst Werke aus ihnen gemacht). Kafka hat das Schreiben schlicht als Lebensvollzug und insofern auch als (Über-)Lebenskunst verstanden, und so wird für ihn nicht zufällig die ganz und gar unpoetische Form des Tagebuchs zum eigentlichen Ort des Schreibens, von dem ausgehend er zwar immer wieder ‚Werke’ in Angriff nimmt, die aber in den seltensten Fällen Autonomie gewinnen und damit publiziert werden können (Publikation schlechthin wird für Kafka, wie für viele moderne Autoren, z.B. für Proust oder Joyce, zur Qual). Stattdessen praktiziert er eine Art ‚nomadisierendes Schreiben’, indem er an verschiedenen Texten gleichzeitig arbeitet, ohne kaum je einen zu Ende zu bringen (die Kategorie des Endes ist für Kafkas Schreiben daher prinzipiell fragwürdig); so läuft bei ihm „jedes Stückchen [einer] Geschichte heimatlos herum“, 78 verläuft sich, gelangt an unerwartete Orte, um vielleicht zu etwas ganz Anderem zu werden, nur nicht zu etwas Endgültigem. Im Grunde kann man daher das Gesamtwerk Kafkas als ein großes Tagebuchprojekt verstehen, das kaum Selbstständigkeit gegenüber der Praxis des Schreibens gewinnt. 79 74 Foucault, Die Ordnung der Dinge, 365f. 75 Ebd., 365. 76 Foucault, Das unendliche Sprechen, 90. 77 Erdmann, Die Literatur und das Schreiben, 268. 78 Kafka, Tagebücher, I, 177 (Anfang Nov. 1911). 79 Vgl. Guntermann, Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben, 149-161. Günter Butzer 236 Sein Ziel sieht Kafka von Anfang an in einer „Darstellung, die von Wort zu Wort mit meinem Leben verbunden wäre“. 80 Der Akt des Schreibens bildet für ihn eine genuin körperliche Tätigkeit, die in einem ganz existentiellen Sinn zu seiner Selbst- Bildung beiträgt, ja recht eigentlich mit dieser zusammenfällt: Das Schreiben erhöht seine Sensibilität und hilft ihm in den Schlaf; es nährt und befriedigt ihn; wie die Atmung, entäußert es innere Zustände „in die Tiefe des Papiers hinein“ und dient gleichzeitig dazu, „das Geschriebene vollständig in mich einbeziehen“ 81 zu können - kurz, es hält ihn am Leben. Anfang 1912 konstatiert Kafka denn auch, dass Schreiben für ihn zur Lebensform geworden sei: Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zuallererst richteten. 82 Schreiben ist also für Kafka in einem sehr konkreten Sinn eine Ästhetik - oder vielmehr: eine Diätetik - seiner Existenz; es ist ein zutiefst physiologischer Vorgang. Daher das unerträgliche Leiden, wenn er nicht schreiben kann (egal was! ) und das unendliche Glück, wenn sich die „besondere Art meiner Inspiration“ einstellt, denn dann kann er „wahllos einen Satz hinschreibe[n] z.B. Er schaute aus dem Fenster“, und dieser Satz ist „schon vollkommen“. 83 Mit dem traditionellen Inspirationskonzept hat das nichts mehr gemein. Vielmehr geht es darum, das Schreiben als permanenten Lebensvollzug zu praktizieren, als literarisches Exerzitium, das zugleich diszipliniert und produktive Energie frei setzt. Diese tägliche Übung verläuft über weite Strecken unspektakulär, bisweilen aber, in Momenten größter Intensität, bringt sie eine Erfahrung hervor, die nicht zuletzt Selbst-Erfahrung ist und jedenfalls nicht mit einem ‚Werk’ verwechselt werden sollte („Das ist kein künstlerisches Verlangen“, heißt es im zitierten Tagebuch-Eintrag vom Dezember 1911). 84 Es ist dieses nicht auf ein Ende hin gerichtete und somit nicht werkorientierte Schreiben, das Kafka und viele moderne Autoren (z.B. Beckett), aber auch bereits Schriftsteller wie Rousseau, Sade und Montaigne mit jedem noch so banalen Weblog-Eintrag verbindet. „Im Werk schützt sich das Sprechen vor dem Tod“, schreibt Foucault in seinem Essay Das unendliche Sprechen. Im Schreiben hingegen nähert es 80 Kafka, Tagebücher, I, 115 (19.1.1911). 81 Ebd., I, 223 (Dez. 1911). 82 Ebd., I, 264. 83 Ebd., I, 27 (19.2.1911). 84 Ebd., I, 223. Inspiration bedeutet für Kafka einen Zustand „mühelose[r] Schläfrigkeit“ (II, 39; 26.2.1912), in dem Texte wie Das Urteil „in einem Zug geschrieben“ (II, 101; 23.9.1912) werden. Die mit dem Schreiben verbundene „vollständige[] Öffnung des Leibes und der Seele“ (ebd.) kann dabei als typisch für die moderne Literatur betrachtet werden und entspricht jener ‚Entregelung aller Sinne‘, die Rimbaud in seinem Brief an Georges Izambard (Briefe und Dokumente, 23) fordert und die ebenso wenig wie bei Kafka auf die Produktion von Werken beschränkt bleibt. Michel Foucaults ‚Ästhetik der Existenz‘ 237 sich unendlich seinem Ursprung [...], d.h. jenem beklemmenden Geräusch, das auf dem Grund der Sprache, sobald man nur etwas aufhorcht, das ankündigt, gegen das man sich wehrt und an das man sich zugleich wendet. Wie das Tier bei Kafka hört die Sprache in ihrem Bau diesen unbeirrbaren, anwachsenden Lärm. [...] Es muß ununterbrochen gesprochen werden, so lang und so laut, wie dieser grenzenlose und betäubende Lärm anhält -, es muß länger und lauter gesprochen werden, damit, wenn man die eigene Stimme mit hineinmischen will, es einem vielleicht zwar nicht gelingt, ihn zum Schweigen zu bringen oder ihn zu fassen, so doch wenigstens, um seine Sinnlosigkeit durch jenes endlose Murmeln zu modulieren, das man Literatur nennt. Seitdem ist kein Werk mehr möglich, das den Sinn hätte, sich in sich selbst zurückzuziehen, um nur noch den eigenen Ruhm sprechen zu lassen. 85 Seitdem, könnte man sagen, ist Schreiben zur Selbsttechnik bzw. Selbstpraktik geworden. Doch dieses ‚seitdem’ fällt eben nicht mit dem Beginn der Moderne ineins; gerade das Werk Foucaults zeigt, dass zwischen den Texten einer scheinbar esoterischen Moderne und den alltäglichen Aufzeichnungen antiker und neuzeitlicher hypomn mata eine Beziehung besteht - eine Beziehung, die er, wie missverständlich auch immer, unter den Begriff einer ‚Ästhetik der Existenz’ gefasst hat. Literaturverzeichnis Aristoteles, Magna moralia, übers. v. F. Dirlmeier, 5. Aufl. Berlin 1983. Bogdal, K.-M., Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung, Opladen, Wiesbaden 1999. Bürger, P., Theorie der Avantgarde, Frankfurt/ Main 1974. Butzer, G., Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur, München 2008. Cicero, Atticus-Briefe, lat./ dt., übers. u. hrsg. v. H. Kasten, 2. Aufl. München 1976. —, Epistulae ad Quintum fratrem et M. Brutum, hrsg. v. D.R. 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Nicht sie sind ausgewandert, sondern Du. 1 In der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) beschreibt Immanuel Kant das Dilemma der menschlichen Vernunft wie folgt: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. 2 Dass Kant hier konkret den jahrhundertealten „Kampfplatz“ der Metaphysik mit ihren Fragen nach „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ 3 im Blick hat, die schlechterdings nicht zu beantworten sind, da sie „über die Grenze aller Erfahrung hinausgehen“, 4 sei zunächst außer Acht gelassen. Nicht auf die von Kant anvisierte bestimmte „Gattung“ von „Erkenntnissen“ soll es uns ankommen, sondern auf die fast beiläufig und unbeabsichtigt mitgelieferten Auskünfte, die er uns zur Frage nach der Frage erteilt: dass wir durch Fragen belästigt werden wie durch ungebetene, uns überrumpelnde Gäste, dass wir sie nicht abweisen können, da sie offenbar unserer eigenen menschlichen Natur entspringen, wir ihnen also - auf Gedeih und Verderb - ausgeliefert sind, dass wir sie nicht beantworten können, weil sie unseren Erfahrungs- und Wissenshorizont übersteigen, dass sie uns - folgt man der Vorrede weiter - in „Verlegenheit“ stürzen, dass „die Fragen niemals aufhören“ und uns nötigen, in 1 Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. II, hrsg. v. Jost Schillemeit, München 1992, S. 88. 2 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft I, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/ M. 1974, S. 11. 3 Ebd., S. 338. 4 Ebd., S. 11. Bernadette Malinowski 242 das „Scheinwissen“ eines „wurmstichigen Dogmatismus“ oder eines „Indifferentism, die Mutter des Chaos und der Nacht“ zu flüchten oder uns in „Dunkelheit und Widersprüche[n]“ zu verlieren. Die durchaus dramatisch zu nennenden Epitheta, die Kant jenem Fragen zuweist, das die „höchsten Zwecke unseres Daseins“ umkreist, bestimmen die Frage - und mit ihr das Fragen - als etwas höchst Ambivalentes: Situiert zwischen Eigenem („durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben“) und Fremdem („sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“), zwischen Aufgabe und Gabe („der Vernunft selbst aufgegeben“ konnotiert auch das Gegebensein, die Mitgift, das Erbe), zwischen Begrenztem und Unbegrenztem, sind es gerade solche Fragen, die „die Vernunft im erfahrungsfreien Gebrauche mit sich selbst entzweiet“ hätten. 5 Kants erkenntniskritischer Rückgang auf die humane Vernunft ist bekanntlich Antwort auf die Frage „Was kann ich wissen? “ und mündet in die strikte Scheidung gesicherter Erkenntnis von bloß spekulativem Denken. Könne der Mensch nicht unterscheiden, „ob gewisse Fragen in seinem Horizont liegen, oder nicht, so ist er niemals seiner Ansprüche und seines Besitzes sicher, sondern darf sich nur auf vielfältige beschämende Zurechtweisungen Rechnung machen, wenn er die Grenzen seines Gebiets (wie es unvermeidlich ist) unaufhörlich überschreitet, und sich in Wahn und Blendwerke verirrt“. 6 Das literarische Bild, das der philosophische Meister seinen „Lehrlingen“ zur Veranschaulichung dieses Unterschieds an die Hand gibt, ist nichts weniger als die Illustration einer erkenntniskritischen Differenzierung eines Fragens, das zu einer gesicherten Antwort führt und eines Fragens, das den Menschen eben „in Wahn und Blendwerke“ verstrickt: Dieses Land aber [d.h. der Bereich, innerhalb dessen Erkenntnis möglich ist, BM] ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. 7 Mit der Kontraposition von Land und Meer bedient sich Kant wohl nicht zufällig eines jahrtausendealten, in Theologie, Philosophie und Literatur gleichermaßen beheimateten Topos, dessen maßgebliche Funktion immer schon darin bestand, die Widersprüchlichkeit der conditio humana zu charakterisieren, menschliches Begehren, Wissen und Handeln in seiner Verhältnismäßigkeit, Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu befragen und das dem Menschen Aufgetragene, ihm Mögliche, ihn Gefährdende, ihm Erlaubte und ihm Versagte auszuloten. Das Bild, das dreistellige Geographem von Land, Meer und der Grenze, die beide voneinander scheidet, setzt 5 Ebd., S. 13. 6 Ebd., S. 269. 7 Ebd., S. 267 f. Aspekte ästhetischen Fragens 243 nicht nur, wie in Kants Erkenntnisphilosophie, das ‚insularische’ Fragen gegen das ‚ozeanische’ Fragen ab, sondern kann als ein Topos der Frage und des Fragens schlechthin aufgefasst werden, als ein Topos, der, wie wir wissen, im Laufe seines kulturellen Gebrauchs vielfältige Variationen und Amplifikationen erfahren hat und an dessen Geschichte Prozesse nicht nur des theoretischen Fragens in Philosophie und Wissenschaft, sondern ebenso Prozesse des ästhetischen Fragens abgelesen werden können. 8 Dass der Mensch wissensdurstig und neugierig ist - „Der Mensch strebt von Natur aus nach Wissen“, so der erste Satz der aristotelischen Metaphysik - und ihm deshalb das Attribut animal quaerens zurecht zukommt, erscheint innerhalb der Philosophie als ein bis heute anerkanntes anthropologisches Faktum. Hingegen markiert die Frage, was der Mensch wissen kann und wissen darf, jene Grenze, an der sich die Geister streiten und scheiden und die philosophische, theologische und literarische Arbeit des Vermessens und Bewertens von Land und Ozean zu äußerst heterogenen Ergebnissen führt. I. Literarische Figurationen des animal quaerens Odysseus, der den sicheren Hafen seiner Heimat verlässt, um sich den Gefahren des stürmischen Ozeans auszusetzen, der Schiffbruch erleidet und nahe dem Ertrinken auf wundersame Weise gerettet wird, der dem verführerischen Gesang der Sirenen widersteht und am Ende des Epos in sein Vaterland zurückkehrt, dürfte eine der prominentesten Figurationen des animal quaerens sein und hat sowohl seitens der Philosophie als auch seitens der Kunst eine Vielfalt von Deutungen und Umdeutungen provoziert. Im homerischen Bild des Odysseus, den die Sirenen durch ihren Gesang und ihre Verheißung der Kenntnis aller irdischen Dinge in Versuchung führen, sieht etwa Cicero die Gefährdung des wissbegierigen Menschen paradigmatisch verkörpert. 9 Obwohl Odysseus dem Locken der Sirenen widersteht, ist allein die 8 In Kants Bild zeigt sich ganz offensichtlich auch die Abgrenzung von verstandesgeleiteter Philosophie und phantasiegelenkter Literatur. Verknüpft mit dem jeweils insinuierten Frage- und Erkenntnistypus verweisen die im Kontext des ‚ozeanischen’ Fragens eingesetzten traditionellen Metaphern unweigerlich auf den von Bachtin beschriebenen Ursprung des modernen polyphonen Romans in der menippeischen Satire, deren Erzählform u.a. das Abenteuer, die Hadeswanderung und die Schiffsfahrt sind und deren wichtigstes Kennzeichen in der Verbindung von „Kühnheit des Erdichteten und Phantastischen“ mit „außerordentlichem philosophischem Universalismus und bis zum äußersten betriebener Reflexion über die Welt“ besteht: „Die Menippee ist eine Gattung der ‚letzten Fragen’. Die letzten philosophischen Positionen werden in ihr erprobt. […] Überall unverhülltes pro und contra in den letzten Lebensfragen” (Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs [1963], aus dem Russischen v. Adelheit Schramm, München 1971, S. 129). Die „experimentelle Phantastik“ der Menippee, ihre polyphone, kontrastiv-widersprüchliche und karnevalistisch-satirische Darstellungform, dient, wie Bachtin betont, „nicht der positiven Verkörperung der Wahrheit, sondern der Suche nach ihr, ihrer Provokation und, was die Hauptsache ist, ihrer Prüfung“ (ebd., S. 128). 9 Cicero, Marcus Tullius: De finibus bonorum et malorum / Von den Grenzen im Guten und Bösen, lat.-dt., eingeleitet u. übertragen v. Karl Atzert, Zürich, Stuttgart 1964, V 18, 48-50, S. Bernadette Malinowski 244 Dauer seiner Irrfahrten für Cicero hinreichendes Indiz dafür, dass er sich im Konflikt zwischen theoretischer Begierde und Vaterland letztlich dem Falschen, nämlich dem Verlangen, alles zu wissen, hingegeben habe, anstatt seiner Bürgerpflicht nachzukommen. 10 Odysseus hat sich also letztlich dem ‚ozeanischen’ Fragen überlassen, eine Deutung, der Dante im 26. Gesang des Inferno zugleich zustimmt und widerspricht: 11 Im Unterschied zu Homer ist Dantes Odysseus nicht das Glück der Heimkehr beschieden, sondern die Katastrophe des Schiffbruchs. Odysseus passiert die Säulen des Herkules und überschreitet damit die unverrückbaren Grenzen der bekannten Welt, durchfährt weitere fünf Monate den Ozean, um, wie er seinen Gefährten erklärt, Tugend und Erkenntnis zu erlangen (per seguir virtute e conoscenza, 389 [115]), ehe er beim Anblick eines geheimnisvollen Berges, vermutlich jener Berg auf der Paradiesesinsel, „dove fu poi collocato da Cristo il Purgatorio“, Schiffbruch erleidet, zu Tode kommt und schließlich in die Hölle verbannt wird. Der Grund für diese harte Strafe ist aber bei genauem Hinsehen nicht dem tollkühnen Unternehmen (folle volo, 390 [115]) einer zügellosen curiositas geschuldet; bestraft wird vielmehr, so Blumenberg, der „betrügerische Ratgeber, der den Achill in sein tödliches Schicksal vor Troja gelockt hat und der den Untergang der Stadt durch den Trug des trojanischen Pferdes ausheckte.“ 12 Gleichwohl wird auch hier das Motiv hybriden Wissenwollens auf Umwegen ins Spiel gebracht, fiel in dieser Episode doch Odysseus selbst die Rolle der verführerischen Sirenen zu, wenn er „die Neugierde der Trojaner mit dem hölzernen Pferd geweckt und so ihren Untergang listig herbeigeführt hatte“ und er nun selbst „einem Untergang [verfällt], in den ihn seine Neugierde beim Anblick eines verhängnisvollen Ziels, des aus dem Weltmeer emporragenden dunklen Berges, hineinlockt“. 13 Zu einem Sekundärmotiv für Odysseus’ Höllendasein herabgemildert, erscheint die unbotmäßige curiositas an dieser Stelle der Divina commedia in der Tat auf eine beginnende Entdämonisierung der Neugierde zu verweisen, eine Deutung, die Dantes Odysseus allerdings nicht mitträgt. Der Autor Dante nämlich lässt die beiden Episoden von zwei verschiedenen Erzählern berichten: Während Vergil die um den betrügerischen Ratgeber Odysseus sich rankende Episode erzählt, ist es Odysseus selbst, der auf Befragen Vergils von seinem letzten Abenteuer, jener Schiffsfahrt in den Tod, berichtet: Quando / mi diparti’ da Circe […] né dolcezza di figlio, né la pièta / del vecchio padre, né ’l debito amore / lo qual dovea Penelopè far lieta, / vincer potero dentro a me l’ardore / ch’i’ ebbi a divenir del mondo esperto / e de li vizi umani e del valore; / ma misi me per l’alto mare aperto / […] / Io e’ compagni eravam vecchi e tardi / quando venimmo a 427-431. Vgl. Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, in: ders.: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt / M., S. 201-432, hier S. 258. 10 Vgl. Blumenberg: Theoretische Neugierde, S. 258 f. u. S. 277. 11 Dante Alighieri: La Divina Commedia, hrsg. v. Umberto Bosco u. Giovanni Reggio, Florenz 1983, Bd. 1: Inferno, Canto XXVI, S. 376-391; dt.: Die göttliche Komödie, in deutsche Terzinen übertragen v. Christa Renate Köhler, Berlin 1966. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgaben. 12 Blumenberg: Theoretische Neugierde, S. 333. 13 Ebd. Aspekte ästhetischen Fragens 245 quella foce stretta / dov’ Ercule segnò li suoi riguardi / acciò che l’uom più oltre non si metta […]. (387-389) 14 Sein maßloses Streben, die „entleerte Welt“ (mondo senza gente, 389 [114]), das „neue Eiland“ (nova terra, 390 [115]) erobern zu wollen, war also für seinen Untergang verantwortlich. 15 Dante unterstreicht diesen Frevel dadurch, dass er sich selbst zum Antagonisten des Odysseus stilisiert und mit sich selbst ein Gegenexempel statuiert, das seine eigene Neugier zu bändigen weiß 16 und sich - anstatt sich selbst die Legitimation zum Übertritt vom Diesseits ins Jenseits zu erteilen - der Führung seines Begleiters und damit der Obhut einer höheren Macht anvertraut. 17 Verlassen wir die Hölle und werfen einen kurzen Blick in Dantes Paradiso. 18 Bereits im siebten Gesang, der vom Sinn der Kreuzigung handelt, wird Adam - in einer Rede Beatrices - als derjenige eingeführt, der, „weil nicht erduldend, daß ein Zaum beschweret / Zum Heil die Kraft, aus der sein Wille fließet“, 19 die Menschheit in Unheil und Irrtum verstrickt habe. In Canto 26 nun begegnet Dante der Gestalt Adams leibhaftig. Drei Aspekte sind für unseren Zusammenhang bemerkenswert, wobei sich auffällige Parallelen zur Odysseus-Szene ergeben: Zum einen das episch entfaltete Motiv des Staunens, das Dante angesichts der Gegenwart Adams befällt, 20 ferner das zum Ausdruck gebrachte Begehren, Adam - Stammvater der Menschheit 14 „Als ich von Circe aufbrach […] wog / Nicht Süßigkeit des Sohns, der Sehnsucht Weh, / Des alten Vaters Ehrfurcht nicht, nicht Liebe, / Wie ich sie schuldete Penelope, / So schwer, daß sie die innere Glut der Triebe / Besiegen konnte: kundig mehr der Welt / Zu werden, daß mir nicht verborgen bliebe, / Wo mutig sich der Mensch, wo feige stellt. / Und sandte mich aufs hohe offne Meer […] Als jener Enge ich genahet mich, / Wo seine Zeichen Herkules am Wege / Gesetzt, damit der Mensch nie lüstern sei, / Nach dem zu forschen, was wohl jenseits läge” (114). 15 Treffend bezeichnet Ernst Bloch Dantes Odysseus als „Meer-Faust“ und „Kapitän der Hybris“, als den „erste[n] titanische[n] Mensch[en]“: „Er besitzt nicht nur die Ungeduld, die Welt zu sehen, sondern er ist diese Ungeduld, sie enthält ihm sein eigenes entschiedenes Da-Sein. Leben wird […] hier dasselbe wie durchgehaltene Grenzüberschreitung […]“ (Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Kap. 43-55 (= Werkausgabe Bd. 5), Frankfurt / M. 5 1998, S. 1202 f. u. 1206). 16 Die Gefahren einer ungezügelten, auf Selbstüberschätzung beruhenden curiositas werden mit Rekurs auf den Frevel des Odysseus wiederholt in der Commedia thematisiert (vgl. exemplarisch Dante: La Divina Commedia, Bd. 2: Purgatorio, Florenz 1982, 1. Gesang, vv 1-7). 17 Vgl. Dante: La Divina Commedia, S. 383 [112]. Dazu ferner Blumenberg: Theoretische Neugierde, S. 334. 18 Dante: La Divina Commedia, Bd. 3: Paradiso, Florenz 1982. 19 Dante: Die göttliche Komödie, S. 308. Vgl. Paradiso, S. 105. 20 Das erste Staunen gilt der Gegenwart des noch unbekannten Adams selbst, das zweite Staunen überfällt Dante, nachdem Beatrice ihn über Adams Identität aufgeklärt hat: „Und wie der Baum, der seinen Wipfel senkte / Bei eines mächtigen Sturms Vorübergleiten / Und dann durch eigne Kraft sich aufwärts lenkte, / So mich bei ihrer Rede Staunen bog. / Dann aber ich gerad’ mich wieder renkte, / Zu reden wünschend (Sehnen mich bewog)“ (Dante: Die göttliche Komödie, S. 385). Über das Motiv des Staunens gelingt Dante die Verknüpfung von griechischer und hebräischer Antike. Bernadette Malinowski 246 und Wurzel allen Bittens und Fragens -, möge zu ihm, Dante, sprechen, 21 woraufhin, drittens, Adam selbst die Fragen nennt, um deren Beantwortung es Dante zu tun ist. Die dritte Frage nach dem Grund für die Vertreibung aus dem Paradies beantwortet Adam zuerst, da aus ihr alle weiteren Fragen allererst hervorgegangen sind: Or, figliuol mio, non il gustar del legno / fu per sé la cagion di tanto essilio, / ma solamente il trapassar del segno. (437) 22 Nicht die vordergründige, sichtbare Tat, das Essen vom Baum der Erkenntnis war Ursache des göttlichen Zorns, sondern das diese Tat motivierende Begehren, das von Gott verfügte Verbot zu überschreiten. - Das Begehren nach Wissen ist das tertium comparationis, das die Protagonisten Dante, Odysseus und Adam vereint. Während Dante jedoch den providentiell gewiesenen Weg der Wahrheit geht, weichen letztere davon ab und beschreiten ihre eigenen Wege auf der Suche nach einer neuen Wahrheit. Sie entscheiden sich für das Unbekannte und Fremde; es drängt sie - folgt man Heideggers etymologischen Ausführungen zum Wort „fremd“ - „anderswohin vorwärts“, sie sind „anderswohin unterwegs“, 23 eine Bewegung, die nicht nur geographisch eine Neuorientierung anzeigt, sondern letztlich auch hermeneutisch auf eine potentielle Gefährdung und Subversion bestehender Sinnangebote verweist und ebenso die Gefahr der damit verbundenen Richtungs- und Sinnlosigkeit impliziert. 24 21 „O du, als einziger erwachsen / Geschaffen du, und dem das Los zuflog, / Daß Frau und Schnur dir stets als Tochter wachsen, / Antiker Ahn, von dem die Menschheit stammt, / Devotest meine Bitten [= Fragen] dir erwachsen, / Daß du mir sprichst, sieh, wie mein Wünschen flammt: Und um dich schnell zu hören nicht ich’s sag’“ (ebd.). Mit diesem rühmenden Passus feiert Dante Adam als Stammvater der Menschheit und in einem Atemzug als Stammvater seines eigenen Fragens und Begehrens. Die Tatsache, dass der Autor Dante die Deutung des Sündenfalls als eine illegitime, verwerfliche Grenzüberschreitung zuerst Beatrice (7.Gesang), sodann Adam selbst (26. Gesang) in den Mund legt, muss als doppelte Distanzierung von eben dieser Deutung interpretiert werden: In der Perspektive des Ich-Erzählers Dante erweist sich Adam als eine Gestalt, die es zu bewundern gilt. In der vielstimmigen Gesamtkomposition der Divina Commedia jedoch werden Adam und Odysseus auf der Schwelle zwischen Bewunderung und Abscheu angesiedelt oder - um in der Örtlichkeit der Divina Commedia zu bleiben - zwischen Himmel und Hölle. Dante, der die Parallelisierung der beiden Gestalten allein schon dadurch betont, dass er sie jeweils im 26. Gesang ins Zentrum rückt, positioniert damit das transgredierende Fragen selbst auf der Grenze zwischen Affirmation und Ablehnung. Zugleich kann der 26. Gesang des Paradiso als nachträgliche Antwort auf die Frage nach der religiösmoralischen Einschätzung des odysseischen Frevels - als nachträgliche Legitimierung des nachgeborenen Adam-Odysseus durch den ursprünglichen Adam - gelesen werden. 22 „O Sohn, nicht Kosten von dem Baume stellt / Für sich den Grund dir, daß ich fürder stand / Verwiesen in ein trauriges Exil, / Der Grund in meiner Schranken Bruch bestand“ (385). 23 Martin Heidegger: Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht [1952], in: Unterwegs zur Sprache (= Gesamtausgabe, Bd. 12), Frankfurt/ M. 1985, S. 31-78, hier S. 37 u. 49. 24 Vgl. ferner die von Heidegger behauptete Nähe des Fremdlings und Abgeschiedenen zum Wahnsinnigen: „wana“ bedeute „ohne“ und „sinnan“ ursprünglich „reisen, streben nach…, eine Richtung einschlagen. […] Der Abgeschiedene ist der Wahnsinnige, weil er anderswohin unterwegs ist“ (vgl. ebd., S. 49). Aspekte ästhetischen Fragens 247 Dem frevelhaften grenzüberschreitenden Verhalten der mythischen Gestalten korrespondiert das selbstdisziplinierte Verhalten Dantes, das vor allem in den Strukturen der Gesprächssituationen evident wird. In der Odysseusszene des achten Höllenkreises werden alle kommunikativen Prozesse über die dritte Instanz, nämlich Vergil, Dantes Begleiter, reguliert; es findet kein direkter Austausch zwischen Dante und Odysseus statt. In der Adamsszene des Paradiso bedarf es dieser vermittelnden Gestalt nicht länger: Dante adressiert, wenn auch im Beisein seiner Begleiter, Adam direkt - eine kommunikative Distanzverkürzung, die auf Dantes Entwicklungsfortschritte verweist. Auffällig ist jedoch, dass Dante in beiden Szenen das Recht zu fragen entweder, wie in der Hölle, verwehrt wird, oder aber, wie im Paradies, abgenommen wird. Dantes Fragebegehren mündet stets in eine Frageaskese, wird aber gleichwohl durch die Etablierung einer ihn stellvertretenden interrogativen Instanz befriedigt (sowohl Vergil als auch Adam stellen jene Fragen, die Dante zu wissen begehrt). Nicht das Reden im allgemeinen, sondern das Fragen im besonderen erweist sich als jener prekäre Modus des Begehrens, an dem sich die Zugehörigkeit zur göttlichen Ordnung oder aber deren blasphemische Transgression entscheidet. - Im biblischen Prätext ist es bekanntlich die listige Schlange, die Eva dazu verführt, vom Baum der Erkenntnis zu essen und damit Gottes Verbot zu überschreiten. Da sprach die Schlange zum Weibe: Mitnichten werdet ihr sterben; sondern Gott weiss, dass, sobald ihr davon esset, euch die Augen aufgehen werden und ihr wie Gott sein und wissen werdet, was gut und böse ist. Und das Weib sah, dass von dem Baume gut zu essen wäre und dass er lieblich anzusehen sei und begehrenswert, weil er klug machte, und sie nahm von seiner Frucht und ass und gab auch ihrem Manne neben ihr, und er ass. Da gingen den beiden die Augen auf, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren. 25 In struktureller Analogie zur Odyssee wird auch hier das Begehren nach Wissen durch den Lockruf einer äußeren zwielichtigen Macht initiiert und der Mensch durch die Verheißung der Gottgleichheit - das in Aussicht gestellte Wissen von Gut und Böse - zur ungehorsamen Grenzüberschreitung verleitet - mit all den fatalen Folgen, die die zur Strafe verhängte Vertreibung aus dem Paradies mit sich bringt. Das Recht zu fragen fällt in der Genesis zwar ausschließlich Gott zu - die an Adam gerichtete Frage „Wo bist du? “ ist die erste Frage in der Bibel überhaupt und eröffnet, so Jauß, den „Spielraum von Frage und Antwort in der christlich-abendländischen Tradition“ 26 -, doch ist zu bedenken, ob nicht bereits das von Eva empfundene Begehren - ihr Appetit nach gottgleicher Klugheit - als eine leiblich-affektive Vorstufe des Fragens aufgefasst werden kann, die, ähnlich dem griechischen Staunen, zwischen Verehrung und Verwunderung angesiedelt ist und gleichzeitig den Wunsch zu wissen mobilisiert. 27 Der lieblich anzusehende und begehrenswerte Baum der Erkenntnis, der Gesang der Sirenen, der „dunkle Berg“ - all dies sind äußere Korre- 25 Gen 3,4-7 (zitiert nach der Zürcher Bibel, Zürich 1962). 26 Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/ M. 1991, S. 378. 27 Zu den griechischen Termini „thauma“ bzw. „thaumazein“ vgl. Ernesto Grassi: Einführung in philosophische Probleme des Humanismus, Darmstadt 1986, S. 61. Bernadette Malinowski 248 late des inneren Begehrens, Zeichen für das Unbekannte und Fremde, die im Kontext des Verbotenen, Tabuisierten und Bedrohlichen einerseits, des Verlockenden, Attraktiv-Erotischen und Verheißungsvollen andererseits zu Signaturen einer ins Unheimliche, Erhabene und Dämonische gesteigerten Fragwürdigkeit des Fragens selbst werden. Dante, der Protagonist der Divina Commedia, wird am Ende vom göttlichen Blitzstrahl getroffen und in die letzten Geheimnisse der Gottheit eingeweiht, über die er sich gegenüber dem Leser allerdings ausschweigt. Dante, der Autor der Divina Commedia, aber rückt das grenzüberschreitende Fragen ins Zwielichtige und Unentschiedene. Mit ästhetischer List entdiszipliniert er das Fragen, indem er die grenzüberschreitenden Täter Odysseus und Adam nicht nur symmetrisch auf Hölle und Paradies verteilt, sondern insbesondere über die Pluralisierung der Erzählerstimmen die Monologizität der einen göttlichen Wahrheit letztlich aufsprengt und den transgredierenden Akt - das Fragen selbst - ins Offene stellt. 28 Der ästhetische Diskurs der Divina Commedia bricht auf diese Weise den theologisch-metaphysisch verankerten Plot immer wieder auf, verletzt ihn in seiner transzendent verbürgten Fraglosigkeit und stellt damit das Privileg der göttlichen Offenbarung im Sinne einer absoluten Wahrheit fragend zur Disposition. In dieser Kollision von interrogativer Ästhetik und offenbarend-responsiver Metaphysik emanzipiert sich das ästhetische Fragen aus der Zirkularität eines Fragens, das sich auf der Plot-Ebene in den Ziel- und Regelkreisen eines theologischen Dogmatismus verfängt. Das eindrücklichste Beispiel für dieses ästhetisch realisierte Aufbegehren gegen die weitgehend scholastisch geprägte theologische Ordnung ist die Begegnung Dantes mit dem ehebrecherischen Liebespaar Paolo und Francesca, die, wie sie selbst erzählen, bei der Lektüre einer Kussszene im Lanzelot-Roman ihre gegenseitige Liebe erkannten und deshalb nach ihrem Tod zum Höllendasein verurteilt wurden. Dante ist vom harten und ungerechten Schicksal der Liebenden so sehr getroffen, dass ihm „der Sinn / Vor Mitleid schwand, als ob mich Tod umnachtete, / Und fiel, wie tote Körper fallen, hin“. 29 Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des göttlichen Urteils erscheint hier in die sprachlose Geste der Ohnmacht verlagert. Ähnlich dem Begehren und dem Staunen, erweist sich Dantes überwältigendes Mitleid als eine „ordnungssprengende Grundbefindlichkeit“, 30 die in ihrer erlebten Intensität sich nun allerdings nicht mehr als explizite Frage artikulieren lässt, sondern sich nurmehr in der stummen, todesähnlichen Gebärde der Ohnmacht zu inkarnieren vermag. Gelangt in dieser extralinguistischen, rein leiblichen Gebärde des Fragens nicht die denkbar radikalste Form der Fraglich- 28 Das Epos wird zum Ort einer verbalen Interaktion, die keinem Zeichen- und Sinnzentralismus mehr unterworfen ist und die Dominanz des einen metaphysischen Wertakzents, des einen Ideologems unterläuft. Dabei ist die hier lokal inszenierte Mehrstimmigkeit - mag sie aufs Ganze betrachtet teleologisch auf eine vorgegebene, einstimmige Wahrheit, auf die Etablierung eines dominierenden Wertakzents, einer substantialisierten Bedeutung gerichtet sein - ästhetische Kritik an der Fiktion eines vereindeutigenden, sinnidentifizierenden Wortes. 29 Dante: Inferno, 5. Gesang, S. 23. „[…] sì che di pietade / io venni men così com’io morisse. / E caddi come corpo morto cade” (V, 140-142, S. 84). 30 Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt/ M. 2007, S. 175. Aspekte ästhetischen Fragens 249 keit zum Ausdruck, eine Fraglichkeit, die - weil im Augenblick äußerster Ohnmacht an nichts fraglos Gegebenes mehr anknüpfend - „vom Sein selbst her auf uns zukommt“ 31 und alle Instanzen des Wissens, auch die göttliche, in Frage stellt? Dantes Geste, die ja ihrerseits Reaktion und Antwort auf das wahrgenommene Unglück der Liebenden ist, etabliert gleichsam die „Fraglichkeit an sich […] in dem Sinne, dass die Fragestellung als Frageereignis selbst weder fraglich noch fraglos ist, weil sie genau diese Differenz einführt und fortführt“, ohne je in eine „endgültige Fraglosigkeit“ überführt werden zu können. 32 Dass Vergil, Dantes Begleiter, dieses in die äußerste Passivität der Ohnmacht zurückgedrängte Fragen in seinem interrogativen Anspruch begreift, wird deutlich in Canto 20, wenn er dem aus Mitleid für die verdammten Wahrsager in Tränen ausbrechenden Dante antwortet: „Qui vive la pietà quand’è ben morta; / chi è più scellerato che colui / che al guidico divin passion comporta? “ 33 Das Ungenügen dieser liniengetreu im Geist der Scholastik gehaltenen Replik zeigt sich schon darin, dass das soeben beschriebene gestische Frageereignis sich in der weiteren Handlung kontinuiert, so etwa, wenn Dante zu Beginn des 28. Canto die Defizite der dichterischen Sprache bei der Darstellung der infernalischen Gräuel letztlich mit seinem eigenen Unvermögen, „so Großes zu verstehen“, 34 begründet. Während der Protagonist Dante die Unbegreiflichkeit Gottes und der von ihm verhängten Strafen mit dem defizitären Status des Menschen gegenüber Gott erklärt und als Folge dieser mangelhaft intellektuell-hermeneutischen Kompetenz auch die dichterische Sprache als ungenügend charakterisiert, etabliert der Autor Dante in eben dieser poetischen Sprache einen Diskurs des ästhetischen Fragens, der die metaphysischen Prämissen selbst tangiert. Dies wird vor allem deutlich, wenn er das ins Gestische gewendete ästhetische Fragen mit der theologisch sanktionierten Fragekultur seiner Zeit, namentlich der scholastischen Praxis der quaestio kontrastiert. Vergils Antwort nämlich liest sich wie ein indirektes Zitat der Summa theologica des Thomas von Aquin. Die Frage, ob die Seligen Mitleid mit den Verdammten hätten, wird dort in der Quaestio 94 mit der Begründung verneint, dass die Bestrafung der Verdammten Ausdruck der ewigen Ordnung der göttlichen Gerechtigkeit sei und das Ver- 31 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, hrsg. u. mit einem Nachwort versehen von Claude Lefort, übers. von Regula Giuliani u. Bernhard Waldenfels, München 1986, S. 160 u. 170. 32 Waldenfels: Antwortregister, S. 176. „Ein Frageereignis“, so Waldenfels weiter, „setzt andere Ereignisse fort und führt weitere Ereignisse herbei, ohne daß es sich in eine endgültige Fraglosigkeit überführen ließe“ (ebd.). Zur Interrogativität der Gebärde vgl. Merleau-Ponty: „Die Gebärde tritt mir entgegen gleichwie eine Frage, mich verweisend auf bestimmte sinnliche Punkte der Welt und mich auffordernd, ihr dahin nachzugehen. Die Kommunikation kommt zustande, wenn mein Verhalten in der also angezeigten Richtung seinen eigenen Weg findet“ (Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, aus dem Französischen v. Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 221). 33 Dante: Inferno, V, 28-30. „Hier lebt das Mitleid, wenn ganz tot es ist. / Wer ist verbrecherischer denn als der, der gegen Gottes Urteil sich vermisst, / Mitleid zu tragen? “ (20. Gesang, S. 84). 34 Inferno, 28. Gesang, S. 120. Der volle Wortlaut: „per lo nostro sermone e per la mente / c’hanno a tanto comprender poco seno“ ( XXVIII, 1-6, S. 413 f.). Bernadette Malinowski 250 nunfturteil der Seeligen dem göttlichen Urteil nicht widerstreite. 35 Im Kontext der Divina Commedia begreift Virgil zwar den Sinn von Dantes Gesten im Sinne des darin sich bekundenden fragenden Anspruchs und sieht sich zu einer Antwort aufgefordert, doch erfolgt diese Antwort gerade nicht in der gestisch angezeigten Richtung 36 und führt entsprechend in die kommunikative Sackgasse. Wenn es mit Blick auf die weitere Entwicklung des Jenseitswanderers auch zu weit führen mag, von einer Emanzipation der Ästhetik aus den normativen Vorgaben der Theologie zu sprechen, so wird doch an Stellen wie diesen mehr als deutlich, wie sehr Dantes Ästhetik gerade über den Modus des Fragens die fraglose Gültigkeit der mittelalterlichen Scholastik punktuell aushebelt und damit auch die Möglichkeit einer autonomen und kritisch fragenden Ästhetik immer wieder ins Spiel bringt. Die unscheinbare Tatsache, dass es zwischen Paolo und Francesca unmittelbar nach der Lektüre jener Stelle des Lancelot-Romans zum ehebrecherischen Kuss kommt, wo es auch beim Liebespaar der Erzählung zum ersten Kuss kommt, lässt sich zwar negativ im Sinne des verführerischen Potentials der Literatur deuten - Franscesca bezeichnet den Roman entsprechend auch als Galeotto und verweist damit auf den Namen jenes Ritters, der in einem anderen Roman ein schuldiges Liebespaar zum ersten Kuss verleitete 37 -; umgekehrt jedoch akzentuiert das hier offensichtlich in eine potentiell endlose Wiederholungsstruktur eingebundene frevelhafte Vergehen (der Liebeskuss) gerade im Bündnis mit Dantes Schockreaktion auf das darauf verhängte göttliche Strafmaß (Hölle) die Diskrepanz zwischen einer humanen Literatur und einer als unmenschlich empfundenen göttlichen Gerichtsinstanz. Das vordergründig thematisierte verführerische Potential der Literatur, ihre - man möchte fast sagen - ästhetische Hinterlist, die sie in eine Reihe mit der paradiesischen Schlange oder dem odysseischen Sirenengesang stellt und zur causa schuldhaften Verhaltens wird, wandelt sich im Gesamtkontext dieser Szenerie zur Apologie der Liebenden und der Literatur. 38 Mit 35 Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica, vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe, übersetzt v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschlands und Österreichs, hrsg. v. der Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln, Bd. 36, Heidelberg/ München 1961, S. 180-187. 36 Vgl. noch einmal Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 221. 37 Vgl. dazu die Erläuterungen in der deutschen Dante-Ausgabe, S. 427. 38 Diese Deutung wird durch den Subtext, der der Francesca-Paolo-Szene zugrunde liegt, erhärtet. Boccaccio zufolge basiert die Francesca-Episode auf einem Kriminalfall: Die historische Francesca war Opfer einer Täuschung. Sie glaubte, Paolo sei ihr zur Heirat versprochen, stattdessen handelte es sich um dessen Bruder. Nach der Heirat mit Gianciotto unterhielt sie eine Liebesbeziehung zu Paolo, beide wurden eines Tages vom Gatten überrascht und getötet. Gianciotto wird im 5. Gesang des Inferno indirekt genannt als ein zwar noch Lebender, der aber seine Strafe beizeiten erhalten wird (vgl. Erläuterungen in der deutschen Dante-Ausgabe, S. 427). Vorausgesetzt, Boccaccios Hinweise treffen zu, steigert sich der apologetische Charakter dieser Höllenszene zu einem ästhetischen Aufstand gegen Gott und die Scholastik gleichermaßen: Die Literatur legalisiert den vermeintlichen Frevel des Ehebruchs, indem sie - lizenziert durch die res factae der Geschichte - die Rechtmäßigkeit dieser Liebe bezeugt und beglaubigt. Über den Kunstgriff der Intertextualität würde Dante die Literatur selbst als eine Instanz installieren, die an Wahrheit und Gerechtigkeit die göttliche und theologische Autorität übertrifft. - Dass Francesca ihren tragischen Bericht ausgerechnet mit einem Zitat von Boe- Aspekte ästhetischen Fragens 251 der Kontrapositionierung von gestischem Fragen und scholastischer quaestio, ferner durch die affektive Kontextualisierung religiös schuldhafter Handlungen und nicht zuletzt durch das teils verdeckte, teils demonstrativ akzentuierte Verfahren der Intertextualität, 39 setzt Dante ästhetische Weisen des Fragens nicht nur buchstäblich in Szene, sondern etabliert darüber hinaus Ansätze zu einer interrogativen Ästhetik, die die normativen Grenzen religiös-theologischer Autoritäten zumindest lokal überschreitet und die Divina Commedia letztlich auf der Schwelle zur Renaissance verortet. 40 Im poetisch inszenierten Akt der Grenzüberschreitung kündigt sich jedoch nicht nur der Beginn einer Autonomisierung der Kunst an, sondern auch der Beginn einer Autonomisierung der Wissenschaften. Was durch die ästhetische Veranschaulichung des „trapassar del segno“ ins Blickfeld rückt, ist eine Verquickung von aisthesis in der Bedeutung des sinnlich-physiologischen Wahrnehmens und theoria in der antiken Bedeutung des geistigen Schauens und Erkennens. Odysseus’ forschendes Fragen und Suchen, das die Urgeste des adamitischen Fragens wiederholt und den Aufbruch ins Unbekannte motiviert, impliziert bereits eine epistemische und epistemologische Dimension: Der literarisch realisierte ‚trapassar del segno’ setzt auch den Übergang vom bloßen Anblick der noch unerschlossenen ‚nova terra’ zu einer theorie- und methodengelenkten, vernunftorientierten ‚nova scientia’ ins Bild. Torquato Tasso, der italienische Renaissancedichter, wird dann auch das göttlich gesetzte Grenzzeichen gegen die Gottheit selbst wenden und in der Missachtung der Grenze die eigentliche Heldentat des Odysseus erkennen: Herkules wagte sich nicht auf den hohen Ozean hinaus. Er setzte ein Zeichen und schloß in allzu enger Klause den Mut des menschlichen Geistes ein. Aber Odysseus achtete die thius einleitet: „Nessun maggior dolore / che ricordarsi del tempo felice ne la miseria“ (Es gibt kein größres Leid als sich der frohen Zeiten zu erinnern im Elend; Inferno V, 121-123, S. 82; vgl. auch die Anmerkung zu diesen Versen mit Verweis auf Boethius’ De consolatione philosophiae von 1476, hier: Cons. Phil. II iv 2; zur deutschen Übersetzung vgl. Erläuterungen, S. 427), verstärkt diesen Effekt, gehört Boethius doch gerade zu jener Literatur, die „durch die übergreifende Frage- und Antwort-Struktur wie durch die Kombination einer emanatistischen und einer viatorischen Erzählhandlung von ferne auf die menippeische Satire zurückweist“ (Jauß: Ästhetische Erfahrung, S. 406 ff.). Zur Menippee vgl. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 126-136. 39 Für Osip Mandelstam ist Dante das Paradigma des intertextuell-dialogischen Autors (vgl. Osip Mandelstam: Gespräch über Dante, Berlin 1984). 40 Mit Polyphonie und Intertextualität sind poetische Verfahrensweisen bezeichnet, die das „fremde Wort“, die Alterität fremder Rede und damit die Alternative der Andersverstehbarkeit einschleusen und auf diese Weise ein Mehr an Interrogativität ins Spiel bringen. Sofern sich Intertextualität in einer konfligierenden, sich wechselseitig kritisierenden und kommentierenden Stimmenvielfalt manifestiert (vgl. Mandelstam: „Ein Zitat ist keine Abschrift. Ein Zitat ist eine Zikade. Es läßt sich nicht zum Schweigen bringen“, Gespräch über Dante, S. 12), ist sie auf die Grundstruktur von Frage und Antwort rückführbar, erweist sich Intertextualität als Interrogativität. Bernadette Malinowski 252 vorgegebenen Zeichen gering im Drang zu sehen und zu wissen. Er überschritt die Säulen und dehnte den kühnen Flug (il volo audace) auf das offene Meer hinaus. 41 Die Schuld der Grenzüberschreitung erscheint hier in den Ruhm eines potentiell unbegrenzten Erkenntnisfortschritts gewandelt, die Substitution des göttlichen Nec plus ultra durch das aufklärerische Sapere aude bereits überdeutlich angekündigt. Francis Bacon schließlich wird Odysseus zur paradigmatischen Allegorie einer empirischen Wissenschaft krönen, die sich nicht länger durch die metaphysischen Säulen des Herkules begrenzen lässt, und er prophezeit: „Multi pertransibunt et augebitur scientia“ (Viele werden sie überschreiten, und die Wissenschaft wird sich mehren). 42 Früher begriff ich nicht, warum ich auf meine Frage keine Antwort bekam, heute begreife ich nicht, wie ich glauben konnte, fragen zu können. Aber ich glaubte ja gar nicht, ich fragte nur. 43 II. Strategien des Unbefragbarmachens Die Überschreitung des Zeichens, die bei Dante die Analogie von Sündenfall- und Odysseusmythos letztlich begründet, setzt einen fest umrissenen normativen, hier durch die göttliche Transzendenz etablierten Horizont voraus, innerhalb dessen menschliches Fragen statthaft ist. Mit Vaterland und Paradies ist der autoritär abgesteckte Raum legitimen Wissens definiert, dessen Überschreitung ins Unbekannte und Unstatthafte mit Schuld konnotiert ist und die entsprechende Strafe nach sich zieht. Die Grenze legitimen Fragens ist hier letztlich als das Autoritäre selbst zu begreifen, als Verkörperung einer absoluten Wahrheit, die jenseits der Frage liegt und sich der Möglichkeit, befragt und in Frage gestellt zu werden, radikal entzieht. 41 Torquato Tasso: Das befreite Jerusalem, hier zit. n. Blumenberg: Theoretische Neugierde, S. 335. Vgl. ferner die Weissagungen jenes Weibes, das die beiden Helden im zitierten 15. Gesang von Tassos Epos begleitet: „Die Stunde kommt, da werden Herculs Zeichen / Erfahrnen Schiffern zum verlachten Wahn; / Namlosen Meeren, unbekannten Reichen / Strahlt auch bei euch der hellste Ruhm fortan. / Der Schiffe kühnstes wird das Meer durchstreichen, / […] / Die Erde messen, und, im raschen Fliegen, / Wetteifern mit der Sonn’ und sie besiegen“ (Torquato Tasso: Befreites Jerusalem, übersetzt v. J. D. Gries, Jena 3 1819, Zweiter Theil, 15. Gesang, Abschnitt 30, S. 130). In der unmittelbar sich anschließenden Prophezeiung, dass ein mutiger Mann namens „Columb! zu neuem Pole dringen“ werde (15,31-32, S. 130), wird das historisch bereits eingetretene Faktum der Entdeckung Amerikas ästhetisch wiederholt und zelebriert. 42 Das hinter den Säulen des Herkules fahrende Schiff des Odysseus ziert das Titelblatt von Bacons Instauratio magna (1620), abgebildet in Francis Bacon: The Works of Francis Bacon, hrsg. v. James Spedding u.a., Bd. I, S. 119. Vgl. ferner die der Instauratio vorgeschaltete „Praefatio“ (ebd., S. 125) sowie die Widmungsvorrede an den König zu De dignitate et augmentis scientiarum II, ebd., S. 485 (englische Ausgabe: Francis Bacon: The Major Works, hrsg. v. Brian Vickers, Oxford 2002, S. 169: „For why should a few received authors stand up like Hercules’ Columns, beyond which there should be no sailing or discovering […]? ”). Erläuternd dazu Blumenberg: Theoretische Neugierde, S. 335. 43 Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. II, S. 52. Aspekte ästhetischen Fragens 253 Nur vor diesem Hintergrund einer fraglos gültigen und also nicht zu befragenden Macht ist auch Blumenbergs These zu verstehen, wonach Mythen nicht auf Fragen antworten, sondern unbefragbar machen. 44 Erinnert sei an dieser Stelle vor allem an das Buch Hiob, das geradezu als ‚metamythische’ Exemplifikation dieses Unbefragbarmachens gelesen werden kann, denn Hiob, ein gottesfürchtiger, frommer Mann, den Gott „ohne Ursache“ 45 dem Satan als Spielball überlässt und leidvollen Prüfungen aussetzt, begehrt schließlich auf und befragt Gott nach dem Warum. Doch anstatt ihm zu antworten, fragt Gott solange zurück, bis Hiob die Fraglosigkeit Gottes einsieht und sich in aller Aufrichtigkeit und Demut fügt: Das fragwürdige Handeln Gottes an seinem treuen Knecht endet mit der Reinstallation und Anerkennung der unbefragbaren göttlichen Autorität, und es ist eben die Einsicht in ihre Unbefragbarkeit, die Hiob letztlich zur Rettung gereicht und ihm überdies die göttliche Antwort in Gestalt einer Theophanie beschert. Die etymologische Beziehung des hebräischen Wortes für das Fragen, scha’ol, bzw. die Frage als Text, sche’ela, zu den angst- und grauenerregenden Orten der Unterwelt, scha’ol oder sche’ol, 46 findet in diesem grenzüberschreitenden, auf den fraglosen und unbefragbaren Gott selbst gerichteten Fragen, eine mögliche Erklärung. Und Augustinus wird jenen Unbekannten zitieren, der auf die brisante Frage, was Gott denn vor der Schöpfung getan habe, erwidert haben soll: ‚Er baute eine Hölle für jene, die zu tiefgründige Fragen stellen [alta scrutantibus gehennas parabat]’“. 47 Von hier aus kann es kaum verwundern, dass gerade die jüdisch-christliche Theologie immer wieder Strategien entwickelt hat, um den mensch-lichen Drang nach „zu tiefgründigen Fragen“ zu domestizieren. Der präkonzilianische Katechismus der römischkatholischen Kirche ist im Grunde die mustergültige Applikation jener göttlichen Methode des ‚Unbefragbarmachens durch Gegenfragen’, mit der Gott Hiob zur Einsicht bewegt hatte. Interessanter aber als der Katalog rhetorischer, aus den determinierten Antworten replikativ entwickelter Fragen des Katechismus, ist das im ersten Teil der Haggada kodifizierte Frageritual, mit dem am Sederabend das jüdische Pessachfest eröffnet wird. Die Haggada kodifiziert den Bericht vom Auszug aus Ägypten in einer Reihe von Gebeten, Liedern und Bibel-lesungen und liefert darüber 44 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/ M. 1979, S. 142. 45 Vgl. Hiob 2, 3. 46 „Die Sprache der Bibel bringt […] auf etymologisch eindeutige Weise den drohenden Untergrund der Erde in Beziehung zum Akt des Fragens“ (Aron Ronald Bodenheimer: Warum? Von der Obszönität des Fragens, Stuttgart 6 2004, S. 21). Beispielhaft für die unteren Regionen Ps 9,18 und Jes 14,9 (vgl. ebd., S. 21 sowie Anmerkung 4, S. 297 f.). Desweiteren verweist Bodenheimer auf den für das biblische Hebräisch charakteristischen Zusammenhang von Etymologie und Genealogie: Das Erfragte, sche’ol oder scha’ul, nennt zugleich das Entliehene, „mithin etwas, das man sich von einem andern erbittet, hoffen lassend, man werde es ihm später einmal zurückgeben (als wäre das Höllische, welches dem Leih- und Pachtwesen zugehört, mit diesem Wortstamm am besten bezeichnet). Von daher nimmt dann die Benennung des unglücklichen Königs Scha’ul (Saul), des (von Gott) Entliehenen, seine Bezüge“ (ebd., S. 22). 47 Augustinus: Confessiones, Elftes Buch, 12,14, zit. n. Giorgio Agamben: Die Beamten des Himmels. Über Engel, aus dem Italienischen übersetzt und hrsg. v. Andreas Hiepko, Frankfurt/ M. 2007, S. 64. Bernadette Malinowski 254 hinaus eine detaillierte Beschreibung des Zeremoniells mit seinen strengen Speisefolgen und rituellen Handlungen. Die Erzählung - so die wörtliche Übersetzung des hebräischen Worts Haggada - stimmt mit der Ordnung - so die wörtliche Übersetzung des hebräischen Worts Seder - nicht nur vollkommen überein, sondern ist im Kern Ausdruck derselben. 48 Entsprechend ist auch der eröffnende Fragekatalog katechetisch reguliert, wobei die Fragen - wiederum nach Vorschrift der Haggada - dem jüngsten Kind in den Mund gelegt werden. Witz und Methode dieses Fragesystems liegen nach Bodenheimer gerade in der von ihm erzielten Antezipation des Fragens mit dem Zwecke einer Vermeidung unpassender Fragen - und unpassend sind alle Fragen, für die eine Antwort nicht schon parat liegt. Unpassend, weil gefährlich, wären alle Fragen, welche von ihrem Inhalt her das System transzendieren. 49 Was Bodenheimer in seiner Deutung des Fragens als ein restringiertes, ja geradezu versklavtes Fragen allerdings unberücksichtigt lässt, ist die fundamentale Bedeutung, die dem Gebot der Erinnerung an den Exodus als einer Erfahrung der Befreiung in der jüdischen Religion zukommt. Das zweite Buch Mose berichtet detailliert, wie Gott das Passa als ein Fest der kollektiven Erinnerung einsetzt: „Und dieser Tag soll für euch ein Gedenktag werden, und ihr sollt ihn feiern als ein Fest des Herrn; von Geschlecht zu Geschlecht, als ewige Ordnung, sollt ihr ihn feiern“ (Ex. 12, 14). Die mnemonische Funktion, die das Frage-Antwort-Spiel und das Erzählen überhaupt in der Haggada erfüllt, ist dabei untrennbar mit der präventiven Funktion verknüpft, die illegitime Überschreitung der Ordnung durch die Stillegung kindlichautochthonen Fragens jetzt und künftig zu verhindern. Das Pessachfest, das das vorläufige Ende einer Passionsgeschichte besiegelt, symbolisiert die Rückkehr aus dem Exil in die Heimat und damit unter das Gebot und den Schutz der göttlichen Ordnung. Die strukturelle und semantische Einheit und Eindeutigkeit von Frage und Antwort (und damit auch die Einheit des monologischen, unifizierenden Erzählens! ) wäre demnach symbolischer Ausdruck der Einheit der Israeliten mit ihrem Gott, 50 während jedes transgredierende, diabolische Fragen (und damit auch jedes dialogische Erzählen! ) die Gefahr erneuter Entzweiung implizierte. In der Logik der biblischen Geschichte erscheint die Rückkehr zur göttlichen Ordnung, das sich Fügen in die Monologizität des göttlichen Wortes, als ein Akt der gottgegebenen Emanzipation, der Befreiung aus der Knechtschaft, während umgekehrt die Störung und Verletzung dieser gottgegebenen Ordnung in die Versklavung führt. 48 Zur Einsetzung des Passa vgl. ferner Exodus 13,9-10: „Und es soll dir sein wie ein Zeichen auf der Hand und wie ein Denkzeichen auf der Stirne, damit das Gesetz des Herrn in deinem Munde sei; denn mit starker Hand hat dich der Herr aus Ägypten herausgeführt. Darum sollst du diese Satzung halten, alljährlich zur bestimmten Zeit.“ 49 Bodenheimer: Warum? Von der Obszönität des Fragens, S. 226. 50 Das ebenfalls in die Struktur von Frage und Antwort gefügte Zahlenlied, das den Sederabend beschließt, beginnt entsprechend mit der Zahl eins: „Eins, wer kennt eins? - Ich kenne eins: Einer ist unser Gott, der im Himmel und auf der Erde ist“ (zit. n. Bodenheimer: Warum? , S. 227). Aspekte ästhetischen Fragens 255 Dass die Haggada ein systematisiertes, auf Kind und Vater verteiltes Frage- Antwort-Spiel nicht nur an ihren Beginn, sondern auch an ihr Ende setzt, Frage und Antwort folglich ihre Rahmenstruktur bilden, geschieht alles andere als zufällig. Wie Assmann in Anlehnung an Maurice Halbwachs ausführt, werden Erinnerungen bewahrt, indem sie in einen sozial-kommunikativen Sinn-Rahmen eingehängt werden. 51 Bereits im Buch Exodus ist zu lesen, dass Gott selbst, nachdem er die Regeln und Gebote für das Pessachfest erlassen hatte, die Mnemotechnik rhetorischen Fragens installiert: „Wenn eure Kinder euch dann fragen: ‚Was bedeutet denn der heilige Brauch, den ihr da übt? ’, so sollt ihr sagen: ‚Das ist das Passaopfer für den Herrn, weil er an den Häusern Israels vorüberschritt in Ägypten, als er die Ägypter schlug, und unsre Häuser verschonte’“ (Ex 12, 26f.). Das Deuteronomium, jenes Vermächtnis, das Mose seinem Volk unmittelbar vor dem Übergang ins Gelobte Land hinterlässt und das sowohl die wechselvolle Geschichte des Volkes Israels mit seinem Gott als auch die verpflichtenden Gesetze der Torah ins Gedächtnis ruft, die Gott bei der Erneuerung des Bundes am Sinai erlassen hat, deutet Jan Assmann treffend als „die Kodifikation einer Erinnerungsarbeit […], die vom Prinzip der Schuld geleitet ist. […] Die Geschichte ist die Begründung des Gesetzes.“ 52 Abermals heißt es an entsprechender Stelle im Deuteronomium: Wenn dich dann künftig dein Sohn fragt: „Was sollen denn die Verordnungen, die Satzungen und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat? “, so sollst du zu deinem Sohne sagen: „Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten. Da führte uns der Herr mit starker Hand heraus aus Ägypten. […] Und der Herr gebot uns, nach allen diesen Satzungen zu tun und den Herrn, unsern Gott, zu fürchten, auf dass es uns wohl ergehe allezeit und er uns am Leben erhalte, wie es jetzt geschieht. Und als Gerechte werden wir dastehen, wenn wir dieses ganze Gesetz getreulich erfüllen vor dem Herrn, unserm Gott, wie er uns geboten hat.“ (Deut. 6, 20-25) Gott ist es, der die von zukünftigen Generationen gestellte Frage nach Sinn und Zweck des Gesetzes antizipiert und die Antwort in der Form einer historischen Begründung ein für allemal kanonisiert. Die Forderung, das Gesetz einzuhalten, setzt die Tradierung des Gesetzes und damit auch die Tradierung der das Gesetz begründenden Geschichte voraus. Die solcherart normierte, als „normative Erinnerung“ installierte Gedächtniskultur vermittelt, wie Assmann an anderer Stelle ausführt, Identität und Zugehörigkeit 53 - Zugehörigkeit hier im doppelten Sinne des Bundes mit Gott und des kollektiven Solidargefüges ‚Volk’. Dass der von Gott fingierte fragende Sohn noch nicht in die Erinnerungsgemeinschaft des ‚Wir’ aufgenommen ist, wird durch die grammatische Form der zweiten Person Plural angezeigt: „Was sollen denn die Verordnungen […], die euch der Herr, unser Gott, geboten hat? “ 51 Jan Assmann: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik, in: A. Assmann, D. Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/ M. 1991, S. 337-355, hier S. 347. 52 Ebd., S. 338 u. 341. 53 Vgl. Jan Assmann: Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit, in: K. Platt u. M. Dabag (Hrsg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, S. 51-75, hier S. 52. Bernadette Malinowski 256 (Deut. 6, 20). Erst die Antwort spricht von einem integren ‚Wir’ und vermittelt auf diese Weise den skizzierten Zusammenhang von Geschichte, Gesetz, Erinnerung und Zugehörigkeit. Die Haggada nun greift den von Gott fingierten minimalistischen Dialog zwischen Sohn und Vater an einer späteren Stelle im ersten Teil noch einmal explizit auf, allerdings mit entscheidenden Abweichungen. Im Unterschied zur Bibel, wo der Frage-Antwort-Passus an vier verschiedenen Stellen in je leicht abgewandelter Form refrainartig erscheint, findet er sich in der Haggada auf eine einzige Stelle zentriert, allerdings auf vier Söhne unterschiedlicher charakterologischer Provenienz verteilt. Die eben zitierten Verse aus dem Deuteronomium werden dem weisen Sohn in den Mund gelegt, die simple Frage: „Was hat das zu bedeuten? “ (Ex 13, 14) werden dem einfach strukturierten Sohn zugeordnet, der Sohn, der überhaupt keine Frage stellt, weil er, so die Auskunft der Haggada, nicht zu fragen versteht, erhält die Antwort ungefragt (Ex 13,8), dem bösen Sohn schließlich wird die Frage aus Exodus 12,26 zugewiesen: „Was bedeutet denn der heilige Brauch, den ihr da übt? “ A W ICKED S ON - what does he say? “What mean ye by this service? ” (Exodus xii, 26). He infers “ye,” not himself. By shutting himself off from the general body, it is as though he denies the existence of God. Therefore thou shouldst distress him too, replying: “This is done because of that which the Lord did unto me when I came forth out of Egypt” (Ibid. xiii, 8) - unto me, not him; for if he had been there he would not have been delivered. 54 Während sich am weisen Sohn der Übergang vom ‘Euch’ zum ‘Wir’ - und damit der Übergang von der Exilin die Solidargemeinschaft von Volk und Gott - durch die fraglose Anerkennung Gottes („unser Gott“) problemlos vollzieht, wird dem bösen Sohn das Versäumnis, von „unserem Gott“ zu sprechen, als blasphemische Leugnung der göttlichen Existenz ausgelegt, ein Vergehen, das sich just in der Antwort rächt, die dem Vater in diesem Falle angeraten wird: ‚Ich, der Vater, wurde aus Ägypten herausgeführt, während dir, dem frevelnden Sohn, diese Erlösung nicht zuteil geworden wäre.’ Das bösartige, die Ordnung transzendierende Fragen ist nicht, wie es Bodenheimers verkürzte Darstellung suggeriert, das Fragen nach dem Sinn des Festes (auch der weise Sohn erkundigt sich danach), sondern die Exklusion und Exkommunikation „unseres Gottes“ aus der Fragestellung selbst. Während das weise Kind zwar nicht weiß, wozu in ferner Vergangenheit all die Regeln und Gebote erlassen wurden, dabei aber Gott als eine fraglos existierende Größe anerkennt, repräsentiert das böse Kind der Haggada das böswillige Vergessen Gottes, die Beziehungslosigkeit zu Gott und damit die Sünde schlechthin. Ungleich dem weisen Kind, das sich in einer, wenngleich noch nicht reflektierten Beziehung zu Gottes „ewiger Ordnung“ weiß, steht das böse Kind gänzlich im Abseits; ihm wird - so will es die antwortende väterliche Autorität - nicht nur die Aufnahme in die gegenwärtige Gemeinschaft verwehrt, sondern - gleichsam rückwirkend - auch die Aufnahme in den historischen Befreiungsdiskurs des Volkes Israel. Das böse Kind ist Teil der Katastrophenge- 54 The Haggadah, executed by Arthur Szyk, edited by Cecil Roth, Jerusalem/ Tel Aviv 1967, o. Seitenangaben. Aspekte ästhetischen Fragens 257 schichte, und es bleibt dauerhaft zu Exil und Versklavung - Zeichen der Trennung - verdammt. Anders als im biblischen Prätext sind in der Haggada spezifische Modi des Fragens abhängig sowohl vom moralischen als auch vom Bildungsstand der Fragenden. Die legitimen Fragen, die vom Nicht-Fragen über das einfältig-naive Fragen bis hin zum weisen und differenzierten Fragen reichen und Stufen einer gleichermaßen phylogenetisch wie ontogenetisch zu deutenden Entwicklung abzubilden scheinen, sind ordnungsgemäße Fragen, die mit einer adäquaten Erinnerung korrelieren 55 und auf Heimkehr und Integration in die „ewige Ordnung“, d.h. auf Treue, Heil und Leben zielen. Allein das bösartige Fragen fällt aus dem Rahmen, ist ordnungswidriges, illegitimes Fragen im Sinne der Überschreitung des Gesetzes; als transzendierendes Fragen korreliert es mit dem Vergessen Gottes und zielt auf Desintegration, d.h. auf Abkehr, Exil, Tod. 56 Die bisher vorgestellten Beispiele sind gemäß der dreistelligen Topographie von Insel, Ozean und der Grenze dazwischen strukturiert und durch einen Grenzübertritt gekennzeichnet, der - ganz im Sinne der Raumsemantik Lotmans - ein Ereignis konstituiert. Semantik und Wertung dieses Ereignisses sind von ihrem jeweils kulturgeschichtlichen Kontext determiniert und können die mit Insel, Ozean und Grenzüberschreitung verbundenen traditionellen Semantiken entweder affirmieren oder bis hin zu einer gegenteiligen Semantik umwerten. Das dreistellige Geographem erweist sich in diesen Beispielen als eine Topographie, die (scheinbar) Fragloses von Fraglichem scheidet bzw. legitimes, instituiertes und normiertes Fragen von einem illegitimen Fragen trennt, von einem Fragen also, das institutionell-normative Frageordnungen sprengt. Die Sprengkraft dieser illegitimen Fragen, die das Ereignis des Grenzüberschritts allererst konstituieren, ist primär darin zu sehen, dass sie jene sanktionierten Frageordnungen, aus denen sie ausscheren, der Fraglichkeit aussetzen. Dieses subversive Potential des Fragens ist letztlich auch als ein metamorphotisches Potential zu begreifen, denn indem es Fragloses in seiner Fraglosigkeit erschüttert, verschiebt es die Grenze selbst, die Fragloses von Fraglichem trennt. Es transformiert Indikativisches in Konjunktivisches, Faktisches in Potentielles, Eigenes und Identisches in Fremdes und Differentielles. Der Akt der Grenzüberschreitung - das in Handlung übersetzte und inszenierte ordnungsjenseitige Fragen - ist potentiell immer auch ein Akt der Grenzverschiebung. 55 Fasst man mit Folkers das jüdische Konzept der Erinnerung als einen „religiösen Grundakt“ auf (Horst Folkers: Die gerettete Geschichte. Ein Hinweis auf Walter Benjamins Begriff der Erinnerung, in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/ M. 1991, S. 363-377, hier S. 365), so lässt sich die an den zunehmend differenzierten Fragen der drei Kinder erkennbare Entwicklung auch als ein auf das kollektiv-soziale Erinnern selbst bezogener Lern- und Sozialisierungsprozess begreifen. 56 „Das Gedächtnis ist das positive Prinzip, ihm steht das Vergessen als negatives Prinzip gegenüber. Das Gedächtnis ist in Israel dem männlichen Pol zugeordnet, während das Vergessen dem weiblichen Pol entspricht. Sikaron, Gedächtnis, ist mit sakar = männlich, und nakab, durchlöchern, sieben, ist mit nkeba = weiblich verwandt“ (Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie, Bern 1947, S. 13). Bernadette Malinowski 258 Es gibt Fragen, über die wir nicht hinwegkommen könnten, wenn wir nicht von Natur aus von ihnen befreit wären. 57 III. Kafkas ‚anti-haggadisches’ Erzählen „Wie sich mein Leben verändert hat und wie es sich doch nicht verändert hat im Grunde“ 58 - mit diesem Satz leitet der Ich-Erzähler, ein alternder Hund, in Kafkas „Forschungen eines Hundes“ (1921/ 22) den Rückblick auf sein Leben ein. Der Text lässt sich als die fiktive Autobiographie eines animal quaerens bezeichnen, ist das beschriebene Hundeleben doch im wesentlichen als ein fragendes, forschendes und experimentierendes Leben charakterisiert. Wie sich das Leben des Ich-Erzählers verändert hat, zeigt sich in der von ihm selbst vorgenommenen Gegenüberstellung seines früheren, kindlichen Hundedaseins mit seinem jetzigen: War er damals noch ein „regelrechter Hund“ (333), der trotz seiner Sonderbarkeiten „nicht völlig aus der Art [schlug]“ (334) und „inmitten der Hundeschaft“ (333) lebte, so fristet er nun ein zurückgezogenes, einsames, nurmehr mit seinen kleinen, hoffnungslosen, aber ihm unentbehrlichen Untersuchungen beschäftigtes Dasein, dem die anderen zwar Achtung zollen, das sie aber nicht verstehen. Die Ursache für diese Veränderung, die sich als Übergang von einem integren sozialen Leben in ein isoliertes Leben manifestiert, erfährt der menschliche Leser noch im ersten Teil der Erzählung, wenn der Autobiograph ganz allgemein über die paradoxe ‚conditio canis’ philosophiert: Wir, die wir zusammenhalten wollen, - und immer wieder gelingt es uns trotz allem in überschwenglichen Augenblicken - gerade wir leben weit voneinander getrennt, in eigentümlichen, oft schon dem Nebenhund unverständlichen Berufen, festhaltend an Vorschriften, die nicht die der Hundeschaft sind; ja, eher gegen sie gerichtet. Was für schwierige Dinge das sind, Dinge, an die man lieber nicht rührt - ich verstehe auch diesen Standpunkt, verstehe ihn besser als den meinen -, und doch Dinge, denen ich ganz und gar verfallen bin. Warum tue ich es nicht wie die anderen, lebe einträchtig mit meinem Volke und nehme das, was die Eintracht stört, stillschweigend hin, vernachlässige es als kleinen Fehler in der großen Rechnung, und bleibe immer zugekehrt dem, was glücklich bindet, nicht dem, was, freilich immer wieder unwiderstehlich, uns aus dem Volkskreis zerrt. (334 f.) Die Hunde leben gleichsam sozial-asozial, im gemeinschaftlichen Verbund und zugleich „weithin zerstreut“ (334), und sie werden ganz offensichtlich durch Vorschriften und Gesetze reglementiert, die sie einhalten, obwohl sie ihrer Natur zuwiderlaufen. Der Sinn all der Vorschriften mag auch den anderen nicht unmittelbar einleuchten, sie zu befolgen, mögen „schwierige Dinge“ sein, „an die man lieber nicht rührt“, ist ihre Einhaltung doch paradoxerweise die einzige Garantie für ein glückliches und harmonisches Zusammenleben. Unser Hund hingegen, man ahnt es, gleicht dem bösen Kind der Haggada. Wohl nicht zufällig bezeichnet er sich als ein 57 Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. II, S. 59. 58 Franz Kafka: Forschungen eines Hundes, in: ders.: Die Erzählungen, Frankfurt/ M. 1961, S. 333-371, hier S. 333 (sämtliche Seitenangaben im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe). Aspekte ästhetischen Fragens 259 „unartiges Kind“ (356), das sich „durch die Reihen der Erwachsenen“ hinausgedrängt hatte. 59 Ganz ähnlich heißt es mit Blick auf seine „Urväter“, die ihm immer wieder „drohend“ (364) erscheinen, dass er „ihre Gesetze niemals geradezu überschreiten“ würde, „nur durch Gesetzeslücken, für die ich eine besondere Witterung habe, schwärme ich aus“ (ebd.). In diesem Ausscheren aus den Gepflogenheiten des hündischen Lebens, in dieser Ignoranz gegenüber der kollektiv anerkannten Norm, ist die Überschreitung eines Tabus nicht nur angekündigt, sondern bereits vollzogen. Die Abkehr markiert einen Bruch, eine Grenzüberschreitung, „il trapassar del segno“, des gesetzlichen Zeichens vor allem, damit die Trennung von der im Anonymen sich verlierenden gesetzgebenden Macht 60 ebenso wie von dem gesetzesgehorsamen Kollektiv. Unser Hund bricht aus, und er bricht auf, um auf seine vielen Fragen, die letztlich in einer einzigen „Lebensfrage“ kulminieren, eine Antwort zu finden. Unser Hund ist, noch einmal mit Heidegger, „anderswohin unterwegs“ oder wie es in Kafkas Parabel „Der Aufbruch“ heißt: „‚Weg-von-hier’, das ist mein Ziel.“ 61 Die Abenteuer, in die der Kafkasche Odysseus sich stürzt, führen mitten auf den Ozean des Fragens, seine Lebensreise ist die des Forschers, der von Frage zu Frage treibt, ohne je an ein Ziel zu gelangen. Eindrucksvoll beschreibt unser Biograph die Urerfahrung, mit der alles seinen Anfang nahm: Ich begegnete nämlich einer kleinen Hundegesellschaft, vielmehr, ich begegnete ihr nicht, sie kam auf mich zu. Ich war damals lange durch die Finsternis gelaufen, in Vorahnung großer Dinge […], war lange durch die Finsternis gelaufen, kreuz und quer, blind und taub für alles, geführt von nichts als dem unbestimmten Verlangen, machte plötzlich halt in dem Gefühl, hier sei ich am rechten Ort, sah auf und es war überheller Tag, nur ein wenig dunstig, alles voll durcheinander wogender, berauschender Gerüche, ich begrüßte den Morgen mit wirren Lauten, da - als hätte ich sie heraufbeschworen - traten aus irgendwelcher Finsternis unter Hervorbringung eines entsetzlichen Lärms, wie ich ihn noch nie gehört hatte, sieben Hunde ans Licht. Hätte ich nicht deutlich gesehen, daß es Hunde waren und daß sie selbst diesen Lärm mitbrachten, obwohl ich nicht erkennen konnte, wie sie ihn erzeugten - ich wäre sofort weggelaufen, so aber blieb ich. (335 f.) Dieses Erlebnis, das im wesentlichen als ein passives Erleiden, ein Pathos, 62 geschildert ist und dessen Außerordentlichkeit sich im späteren Rückblick als „an sich […] nichts Außerordentliches“ (335) erweist, markiert eine Initiation, die in das Fragen hineinführt. Es konstituiert eine Unterbrechung und nachhaltige Störung des bis dahin erlebten Einverständnisses mit sich selbst und seiner Umwelt und impliziert die Aufforderung zur Befragung seiner selbst und der Welt: „War die Welt verkehrt? Wo war ich? Was war denn geschehen? “ (339). Es sei, so der Hund, sein „eingeborenes Wesen, das hier wirkt und das sich gewiß, wenn das Konzert nicht gewesen 59 Der grenzüberschreitende Drang ist auch den Erwachsenen zueigen, „die ja ebenso hinauswollen wie ich, und an denen mich nur ihr Verstand beirrt, der ihnen sagt, daß niemand hinauskommt und daß alles Drängen töricht ist“ (356). 60 Wissen und Gesetze der Urväter kamen „aus Quellen, die wir nicht mehr kennen“ (364). 61 Franz Kafka: Der Aufbruch, in: ders.: Die Erzählungen, S. 329. 62 Zum Ursprung der Frage im Leiden vgl. Grassi: Einführung in die philosophischen Probleme des Humanismus, S. 146-148. Bernadette Malinowski 260 wäre, eine andere Gelegenheit gesucht hätte, um durchzubrechen“ (341). Nicht das äußere Geschehen - konkret das Konzert der Hunde - ist von Belang, sondern die innere Struktur des Ereignisses, das die Erfahrung der Frage selbst, die Genese der Frage und die Erweckung des animal quaerens cur als Ermöglichung des Fragens abbildet. Das Ereignis kam auf den Hund zu und ist zugleich als Durchbruch seines innersten Wesens gekennzeichnet, es geschieht in einem Augenblick „unbestimmten Verlangens“ (335), ist begleitet von Emotionen der Verwunderung, Verwirrung und Befremdung, ereignet sich im Ekstatischen - „bei völligem Außer-sich-sein“ (369) - und zugleich im Innersten seiner selbst, es ist ein „Außerordentliches“ und enthält doch „nichts Außerordentliches“; es ist verortet im Nahen und zugleich Fernen, im Licht und in der Finsternis, ehe es in ein Fragen-Wollen übergeht und sich schließlich in der sprachlichen Gestalt von Fragen artikuliert, für die es buchstäblich kein Durchkommen gibt und die im Leeren, im Schweigen und Antwortlosen verhallen. Das Ereignis - Figuration einer Frage - bleibt eingekapselt in diese Ambivalenzen, verstrickt in seine unenträtselbare Hintergründigkeit, gleichwohl im Medium der poetischen Sprache in seiner paradoxen ‚außerordentlichen Normalität’ bildhaft gezeigt. Der nachhaltige Effekt, den das Ereignis zeitigt, ist der nicht stillzulegende Drang zu fragen und den „lästigen“ Vorfall „restlos durch Untersuchung auflösen“ zu wollen, um, wie es heißt, „den Blick endlich wieder freizubekommen für das gewöhnliche, ruhige, glückliche Leben des Tages“ (341). Aber diese Rückkehr auf die Insel der Glückseligen wird dem Hund nicht beschert sein. Stattdessen treiben ihn seine Forschungen nur immer tiefer in das Labyrinth eines Fragens, dessen paradoxe Struktur, ja, dessen innere Dramatik gerade darin gipfelt, dass es einerseits zwar teleologisch auf Lösungen und Antworten gerichtet ist - jede Frage impliziert gleichsam diese Verheißung von Sinn und Aufhebung ihrer selbst in einer sinnfälligen Antwort -, sich andererseits jedoch ins Richtungslose zerstreut und offenbar jede denkbar mögliche Antwort immer schon fragend überschießt. 63 Aber ist das nicht der ‚außergewöhnliche Normalfall’? Dass jede Antwort auf eine Frage nur tausend neue Fragen hervorbringt, ja dass die jedem Wort eingeschriebene differentielle Struktur die implizite Interrogativität der Sprache selbst ist (man denke an Bachtins „halbfremdes Wort“)? Die philosophische Hermeneutik weiß um die Produktivität dieser interrogativen Differenz. So gründet die Priorität, die sie dem Fragen innerhalb des Verstehensprozesses einräumt, in der Leistung des „Offenlegens und Offenhaltens von Möglichkeiten“. 64 Ohne diese Offenheit, die ihre radikale Negativität im Wissen des Nicht-Wissens hat, wäre die hermeneutische Erfahrung im Sinne einer Erkenntnis dessen, was man noch nicht weiß oder anders weiß, nicht möglich. 65 Aber diese hermeneutische Priorität des Fragens scheint mir 63 Die Finsternis, in die die lärmenden, tanzenden Hunde zurückkehren, antizipiert bildhaft die Spur, in die das Fragen des forschenden Hundes hineinführt: nicht in das philosophiegeschichtlich seit Sokrates verheißene Licht der Wahrheit, sondern in die dunkle Unterwelt eines Fragens in Permanenz. 64 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 6 1990, S. 304. 65 Vgl. ebd., S. 368; 359. Aspekte ästhetischen Fragens 261 lediglich auf die methodisch-heuristische Funktion des Fragens reduziert zu sein, während die erkenntnistheoretische Priorität der Antwort zufällt: „Verstehen heißt, etwas als Antwort verstehen.“ Die philosophische Hermeneutik ist - sind die Prozesse des Verstehens auch unabschließbar - auf das Telos gerichtet, die interrogative Differenz in dem, was Gadamer die „Horizontverschmelzung“ 66 nennt, aufzuheben. Was auch immer mit dieser Formulierung gemeint ist: Sie beschreibt die Möglichkeit, sich dem Anderen (dem Gesprächspartner, der Vergangenheit, dem Text) eben in seiner Andersheit zu nähern, die Möglichkeit eines Sich-in-der-Sache-Verstehens oder eines Sich-selbst-durch-den-Anderen-Verstehens. Kafkas Text indessen inszeniert die Gegenläufigkeit dieses hermeneutischen Prozesses: Das Fragen führt jede ihm innewohnende Verheißung auf eine Antwort und damit auf Schließung der interrogativen Differenz ad absurdum. Es führt nicht zum Zweck einer Erkenntnis oder eines Verstehens, sondern in einer Art negativen Teleologie ins zunehmend Unerklärliche und Unverstehbare; es führt letztlich in die Frage nach dem Fragen selbst hinein, immer wieder zurück in den dunklen Grund der Urszene des Fragens, gleichsam an das andere Ende des hermeneutischen Prozesses: das Schweigen. Im Ausgang seiner Untersuchungen steht die elementare Frage nach der Herkunft der Nahrung, die unser Protagonist zunächst im Dialog mit seinen Artgenossen zu klären versucht. Doch die Gemeinschaft verhält sich gegenüber dem Fragenden in höchst merkwürdiger Weise: „man wollte zwar meine Fragen nicht hören, aber gerade wegen meiner Fragen wollte man mich nicht verjagen“ (344). Die Fragen des kleinen Hundes, die, weil sie über das wissenschaftlich längst Erwiesene hinausgehen und an Grundsätzlicheres rühren, scheinen die Gesellschaft zu befremden. Tolerierte man ihn etwa, so die Frage, die sich der Hund selbst stellt, weil man ihn „von einem falschen Weg abbringen [wollte]“ (344)? Die Fragen des Hundekinds scheinen exakt auf jener Schwelle angesiedelt zu sein, an der sich legitimes und illegitimes Fragen sondern und - darin liegt ihre soziale Dimension - sie scheinen exakt jene „kleine Bruchstelle“ (333) zu bezeichnen, die der Hund seit jeher zwischen sich und der Gemeinschaft vorhanden sieht. Die pädagogisch motivierte Duldung der Fragen geschieht mit der Intention, den kleinen Hund von seinem noch unentschiedenen Schwellendasein zu erretten und ihn in die Sozietät und den in dieser geltenden sensus communis einzugliedern, aber ebenso mit der Intention, die von seinen Fragen ausgehenden Gefahren für die Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung abzuwenden. 67 Das Fragen, elementarer Bestandteil und Ermöglichungsbedingung der sozial-kommunikativen Kontaktnahme, führt hier zu keiner Verbindung mit der Gesellschaft, sondern im Gegenteil zu einem fortschreitenden Prozess der Entfremdung und des Rückzugs. - Entsprechend verändern die Fragen des Hundes im Lauf der Erzählung ihre Richtung: Waren sie anfangs noch sozial- und erkenntnisgerichtet und als adressierte und semantisch gehaltvolle Fragen Teil einer dialogischen Situati- 66 Vgl. ebd., S. 311; zur Horizontverschmelzung als „die eigentliche Leistung der Sprache“, vgl. ebd., S. 383. 67 „Es stellte sich sogar heraus, daß ich es war, der die andern verlocken wollte, und daß mir tatsächlich die Verlockung bis zu einem gewissen Grad gelang“ (344). Bernadette Malinowski 262 on, so kehren sie jetzt - zunehmend ihres sachlichen Gegenstandsbezugs entledigt - zum Fragenden selbst zurück und entfalten in ihm ihre destruktive Energie: Mit meinen Fragen hetze ich nur noch mich selbst, will mich anfeuern durch das Schweigen, das allein ringsum mir noch antwortet. Wie lange wirst du es ertragen, daß die Hundeschaft, wie du dir durch deine Forschungen immer mehr zu Bewußtsein bringst, schweigt und immer schweigen wird? Wie lange wirst du es ertragen, so lautet über allen Einzelfragen meine eigentliche Lebensfrage: sie ist nur an mich selbst gestellt und belästigt keinen andern. Leider kann ich sie leichter beantworten als die Einzelfragen: Ich werde es voraussichtlich aushalten bis zu meinem natürlichen Ende, den unruhigen Fragen widersteht immer mehr die Ruhe des Alters. Ich werde wahrscheinlich schweigend vom Schweigen umgeben, nahezu friedlich, sterben und ich sehe dem gefaßt entgegen. (346 f.) Die Zeit setzt nicht die Fragen selbst, sehr wohl aber das Fragen einem gleichsam natürlichen Erosionsprozess aus, an dessen Ende das Schweigen und schließlich der Tod stehen. Was die Zeit verändert, sind nicht die Fragen, sondern die individuelle Haltung, die diesen gegenüber eingenommen wird. Die Fragen werden an diesem Punkt selbst noch vom Fragenden, dem Fragesubjekt abgelöst und damit selbst noch aus seiner Rückbezüglichkeit befreit. Doch indem die Zeit das Fragen ‚zerreibt’, wird dieses nicht einfach vernichtet, sondern auf das Unerklärliche als seinen Wahrheitsgrund zurückgeführt. Das Fragen zielt nicht auf Antworten, Lösungen und Erklärungen, sondern gelangt in immer neuen Aspekten zur Darstellung seiner selbst als eines zugleich Selbstverständlichen und Unerklärlichen. Kafka abstrahiert das Fragen aus seinen herkömmlichen Bezügen und Funktionen, löst es ab vom Adressaten des Anderen wie vom Subjekt des Fragenden, löst es ab von spezifischen Frageformen, Fragegehalten und fraglosen Fragevoraussetzungen, entlässt es aus seinen kommunikativen und hermeneutischen Zwecksetzungen und beraubt es jeglicher Verheißung auf ein sinnhaftes Telos. Dieser Vorgang der radikalen Dekontextualisierung und Defunktionalisierung des Fragens wird als ein zeitlicher Vorgang beschrieben, der sich im Medium des Narrativen artikuliert und letztlich, wie noch zu zeigen ist, das Narrative selbst tangieren wird. 68 Die abenteuerliche Reise des Hundes, die sich als Erprobung und Provokation der leitenden Paradigmen der Welterklärung, namentlich der Wissenschaft und der Religion, erweist und von deren widersprüchlichen Antworten und Methoden er ausgeht, um das Problem der Herkunft der Nahrung zu untersuchen, ist zugleich ein Parcours durch tradierte Muster des Fragens und manchmal auch des Antwortens. Dabei sieht sich der Ich-Erzähler weder in eine wissenschaftshistorische Kontinuität gestellt noch in ein religiös-theologisches Überlieferungsgeschehen integriert. 69 So 68 Zur Zeitlichkeit als dem letzten und notwendigen Referenten der Erzählung vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. I: Zeit und historische Erzählung, München 1988, S. 87. 69 Die Versprechen der philosophischen Hermeneutik werden durch diese Auflösung der überlieferungsgeschichtlichen Zugehörigkeit ein weiteres Mal in ihr Gegenteil verkehrt: Kafkas Protagonisten ist die Möglichkeit des „Einrücken[s] in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln“ (Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 295) ebenso verwehrt wie eine „Teilhabe am gemeinsamen Sinn“ (ebd., S. 297). Vielmehr zeigen die Forschungen eines Hundes, wie der „Sinn der Zugehörigkeit, d.h. das Moment der Aspekte ästhetischen Fragens 263 grenzt er seine Forschungen wiederholt von denen der Wissenschaft ab, deren Methode, „nämlich die Arbeiten der Vorgänger zu benützen und mit den zeitgenössischen Forschern mich zu verbinden“ (347), er nicht befolgen kann; ebenso fühlt er sich von seinen Stammvätern durch „das Vergessen eines vor tausend Nächten geträumten und tausendmal vergessenen Traumes“ (355) getrennt. Die Wissenschaft vermag die Wahrheit ebenso wenig aufzudecken wie die Religion. Ihre Antworten enthüllen im Grunde nur „etwas von der tiefen Verwirrung der Lüge“ (349) und dienen - das sei der „teuflische Witz“ - letztlich nur dazu, „um sich gegen peinliche Fragen zu schützen“ (349 f.). 70 In einer großartigen Persiflage auf Wissenschaft und Gesetzesreligion führt Kafka vor, wie es ihnen gelingt, Antworten zu konditionieren und zu institutionalisieren, die darauf zielen, den Drang nach „allzu hartnäckigen“ (350) Fragen lahmzulegen. Das Fragen erweist sich als sinnlose Strategie, das Leben in seiner Absurdität zu ertragen; weder ermöglicht es eine Form des sozialen Zusammenlebens (Artgenossenschaft) noch ein Vordringen zur Wahrheit, zum „wahren Wort“. Das „wahre Wort“ (354) selbst nämlich sieht der Ich-Erzähler der zeitlichen Erosion ausgesetzt, wenn er im Rückblick auf die Urväter konstatiert: Tradition“, der sich durch die „Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile“ (ebd., S. 300) erfüllt, sukzessive der Erosion anheimfällt. 70 Wissenschaft und Religion werden, wie hier deutlich wird, implizit als Formen der Sublimierung und Verdeckung der eigentlichen, peinigenden Daseinsfragen gedeutet. Im weiteren Verlauf der Erzählung greift dieser Vorwurf jedoch auf das Fragen im Allgemeinen über: „Und überhaupt, das Fragen ist ja eine Eigentümlichkeit der Hundeschaft, alle fragen durcheinander, es ist, als sollte damit die Spur der richtigen Fragen verwischt werden. […] Aber was sollen denn die Fragen, ich bin ja mit ihnen gescheitert, wahrscheinlich sind meine Genossen viel klüger als ich und wenden ganz vortreffliche Mittel an, um dieses Leben zu ertragen“ (352). Der von Cicero beschriebene rhetorische „Gebrauch der quaestio als ‚peinliche Frage’, als Befragung unter der Folter, der die Situation vor Gericht noch stärker in den Vordergrund stellt“ (Walter F. Veit: Art. „Frage“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Tübingen, Bd. 3, 1996, Sp. 420-445, hier Sp. 428), wird hier auf die anthropologische Situation übertragen: Das Leben selbst erweist sich als jener Richter, dessen peinigendem Verhör sich der einzelne zu unterziehen hat, ein lebenslängliches Verhör, bei dem es wahre Antworten schlechterdings nicht geben kann. Das Fragen selbst wird entlarvt als Instrument einer Folter, die nicht zur Wahrheit führt, sondern das Bewusstsein einer Schuld erzeugt, deren Gründe im Dunkel bleiben. - Bei Francis Bacon erscheint diese Gerichtssituation gleichsam ins Epistemologische transponiert: Das Experiment im Sinne der peinigenden Befragung der Natur soll gleichermaßen zur Wahrheit der Natur als auch zu deren Beherrschung durch den Menschen führen. Noch Kant spricht davon, “dass die Vernunft […] die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten […]. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien […] und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu warden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt” (Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XIII/ XIV). Bei Kafka ist das Fragen nicht länger Privileg eines vernunftbegabten Wesens und Mittel zur Bezwingung der Physis, sondern als unhintergehbarer und destruktiver Bestandteil des Naturnotwendigen selbst ausgewiesen (alle Hunde haben, so heißt es, den „Drang zu fragen”). Bernadette Malinowski 264 [J]enes Wort war da, war zumindest nahe, schwebte auf der Zungenspitze, jeder konnte es erfahren; wo ist es heute hingekommen, heute könnte man schon ins Gekröse greifen und würde es nicht finden. (354) Das „wahre Wort“ ist hier, wie in Kafkas Erzählen überhaupt, auf das engste verknüpft mit der Frage nach der väterlichen Autorität in ihrer primären Funktion als Ursprung und Gewähr der Gültigkeit des göttlichen Gesetzes und seiner Tradierung. Das Verschwinden des „wahren Wortes“, das, wie der Text an anderer Stelle in einer ironisch überlagerten Dekonstruktion der kommentatorisch-exegetischen Wissenschaft deutlich macht, 71 ist nicht abzulösen von der Unmöglichkeit seiner Tradierbarkeit. In diesem Sinne ist Gershom Scholem zuzustimmen, wenn er die für Kafkas Werk zentrale „Krise des Gesetzes“ zugleich als eine „Krise der Tradition und ihrer Werte“ beschreibt. Das Gesetz ist nicht Antwort der göttlich-väterlichen Autorität auf ein kindliches Fragen, sondern erweist sich als semantisch entleert, als „Nichts der Offenbarung“, 72 ohne allerdings seinen Anspruch auf absolute Geltung einzubüßen. Der Zersetzungsprozess, den das „wahre Wort“ im Laufe seiner Tradierung erfahren hat, wird in den „Forschungen eines Hundes“ als ein Prozess zunehmender Bedeutungszerstreuung geschildert, als ein - wenn man so möchte - Prozess der Ästhetisierung im Sinne der ‚Vervieldeutigung’ einer einst eindeutigen Wahrheit. Die Pluralisierung der Antworten, die das Gesetz im Verlauf seiner Überlieferungs- und Deutungsgeschichte erfährt, demontiert die autoritäre Logik und Fraglosigkeit des Gesetzes und führt zugleich die Möglichkeit seiner richtigen Auslegung und Tradierung ad absurdum. Das eigentliche vom Hund erfahrene Paradox ist darin zu sehen, dass die potentiell endlosen Deutungsmöglichkeiten des Gesetzes dessen substantiellen Gehalt zwar aushebeln, das Gesetz als ein rein formales sich aber gleichwohl in seiner „obsessiven Gewalt“ behauptet und das Individuum weder von der Pflicht entlastet, sein Handeln vor eben dieser Autorität zu prüfen noch von der Möglichkeit befreit, dem Gesetz zuwider zu handeln und entsprechend Schuld auf sich zu laden. Im Gegenteil: Die Vervielfältigung der Gesetzesdeutungen korreliert im Kontext der Erzählung mit einer Vervielfältigung der Schuld, einer Schuld freilich, die analog dem gehaltlosen Gesetz ohne Referenz auf ein Vergehen bleibt und sich in der Konsequenz als ein rein psychisch wirksamer Mechanismus manifestiert und erhält. 73 Die Überschreitung des Zeichens meint hier die Überschreitung eines 71 Vgl. Kafka: Forschungen, S. 363-365. 72 Zu dieser Formulierung vgl. Scholems Briefe an Walter Benjamin vom 17.7. und 20.9.1934, in: Gershom Scholem (Hrsg.): Walter Benjamin/ Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940, Frankfurt/ M. 1980, S. 157 u. 175. 73 Entsprechend ist auch die Schuld, beschrieben als das Vergessen eines bereits tausendfach Vergessenen, dem zeitlichen Verfall, einer zunehmenden Entkernung des Schuldgehalts, ausgesetzt: „Unsere Generation ist vielleicht verloren, aber sie ist unschuldiger als die damalige. Das Zögern meiner Generation kann ich verstehen, es ist ja auch gar kein Zögern mehr, es ist das Vergessen eines vor tausend Nächten geträumten und tausendmal vergessenen Traumes, wer will uns gerade wegen des tausendsten Vergessens zürnen? […] Wohl uns, daß nicht wir es waren, die die Schuld auf uns laden mußten, daß wir vielmehr in einer schon von anderen verfinsterten Welt in fast schuldlosem Schweigen dem Tode zueilen dürfen. Als unsere Urväter abirrten, dachten sie wohl kaum an ein endloses Irren, sie sahen ja förmlich noch den Kreuz- Aspekte ästhetischen Fragens 265 Leerzeichens, die nichtsdestotrotz jenen in den biblischen Frage-Antwort-Dialog von Beginn an eingelagerten Schuld-Strafe-Diskurs und das damit erwachende Bewusstsein von der Exzentrizität des Menschen (Hundes) perpetuiert. Die Erosion des Gesetzesgehalts, die Fragwürdigkeit jeglicher autoritärer, das heißt: antwortender Instanzen, steht in einer unauflöslichen Kausalverknüpfung mit dem erodierenden Prozess des Erzählens und Deutens als den eigentlichen Verfahren des Tradierens und Erinnerns. Der Angriff des Hundes auf die „kommentatorische Wissenschaft“ der Gesetzesauslegung impliziert den Angriff auf ein Erzählen, das nicht mehr, wie noch in der Pessach-Haggada, als Medium der Wahrheit fungiert, sondern als deren Zerstörer. Die Krise des Gesetzes, der Wahrheit und der Tradition erweist sich letzt-lich als eine Krise des Erzählens, namentlich eines haggadischen Erzählens als Ausdruck einer unverrückbaren, Erlösung und Heil versprechenden Ordnung, die in der katechetisch regulierten Frage-Antwort-Struktur ihre sinnfällige Veranschaulichung findet. Die autobiographischen Aufzeichnungen des Hundes erzählen letztlich die Krise des Erzählens selbst, den Verlust der „Wahrheit in ihrer hagadischen Konsistenz“. 74 Das haggadische Erzählen erscheint dabei als der heimliche Fluchtpunkt der „Forschungen“: eine entleerte Utopie, die gleichwohl ihre Wirkungsmacht im Schatten der Erzählung entfaltet. Kafkas nicht-haggadischem - gleichsam unordentlichem, diabolischem - Erzählen korreliert der Zustand einer immer schon fragend transzendierten Ordnung. Zugleich aber bleibt es rückgebunden an - oder vielmehr: beziehungslos bezogen auf - den zwar gehaltlosen, gleichwohl aber gewaltsam wirkenden haggadischen Kontext von Gesetz und Geschichte, Schuld und Strafe, Gehorsam und Erlösung. Damit wird das Erzählen zur Metonymie für die Exzentrizität, die Desintegration und die Exiliertheit des Narrativen selbst und ist hineingenommen in den Prozess der peinigenden Selbstbefragung. Im Rückgang auf die vor allem theologische und wissenschaftliche Tradition werden etablierte Muster von Frage und Antwort zwar ironisiert und aporetisch aufgehoben und ineins damit die theoriebildende und lebenspraktische Relevanz von Glaubens- und Wissensfragen ad absurdum geführt, doch dieses Durchspielen der Tradition markiert innerhalb der Erzählung lediglich ein Durchgangsstadium, innerhalb dessen sich die ästhetische Funktion des Fragens als eine ausgezeichnete Möglichkeit der „Arbeit am Abbau des Absolutismus“ 75 weg, es war leicht, wann immer zurückzukehren, und wenn sie zurückzukehren zögerten, so nur deshalb, weil sie noch eine kurze Zeit sich des Hundelebens freuen wollten, es war noch gar kein eigentümliches Hundeleben und schon schien es ihnen berauschend schön, wie mußte es erst später werden, wenigstens noch ein kleines Weilchen später, und so irrten sie weiter“ (355). 74 Benjamin/ Scholem: Briefwechsel, S. 272; vgl. ferner Walter Benjamin: Der Erzähler, in: Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ M. 1977, S. 438-465, bes. S. 442. Von der hagadischen Weisheit seien bei Kafka nur „ihre Zerfallsprodukte“ geblieben, nämlich „einmal das Gerücht von den wahren Dingen (eine Art von theologischer Flüsterzeitung, in der es um Verrufenes und Obsoletes geht)“, zum anderen „die Torheit, welche zwar den Gehalt, der der Weisheit zueigen ist, restlos vertan hat, aber dafür das Gefällige und Gelassene wahrt, das dem Gerücht allerwegs abgeht“ (Briefwechsel, S. 272). 75 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 13. Bernadette Malinowski 266 erweist. 76 Letztlich aber wird die Literatur selbst ins Extrem einer radikalen Fraglichkeit getrieben und damit auch die ästhetische Funktion des Fragens - nämlich Selbstverständlichkeiten aufzubrechen und auf ihre Verschiedenverstehbarkeit hin zu orientieren, konventionelle Antworten zu zersetzen und unerwartete Spielräume zwischen interrogatio und responsio zu eröffnen - suspendiert und das Erzählen selbst fragend in eine Aporie getrieben. 77 76 Gesetz und Literatur erscheinen in den „Forschungen eines Hundes“ einander angenähert und gleichermaßen ins Zwielichtige gerückt. Die vom Hund ausgemachten Defizite des Gesetzes - seine „Lücken“, seine Polyphonie und Polyvalenz, seine verlustig gegangene Antwortfunktion - weisen es als einen ästhetischen Text aus, der als endlose Interpretationsaufgabe an den Protagonisten ergeht. Ziel dieser Bemühungen ist letztlich die Gewinnung von Antworten, das Auffinden der Gesetzesinhalte, die allein seine Wirkungsmacht legitimieren könnten. In der permanenten Verfehlung dieses Ziels wird sich das Fragen letztlich aber selbst zur Frage. Die Defizite des Gesetzes - eben seine ihm implizite Ästhetik, konkreter: die es kennzeichnende Abweichungsästhetik, die den Hund zunehmend vom rechten Weg abbringt und immer tiefer ins Labyrinth des Fragens hineintreibt - verweisen im Kontext der Erzählung zugleich auf den defizienten Status der Literatur selbst: Kunst und Literatur sind hier alles andere als das geheiligte Andere zum Gesetz! Insofern ist auch Mosès Deutung der Benjaminschen Kafkasicht zuzustimmen, wonach Kafka von der „bodenlosen Leere“ und „Hoffnungslosigkeit des Erzählens“ selbst erzählt (Stéphane Mosès: Zur Frage des Gesetzes: Gershom Scholems Kafka-Bild, in: Kafka und das Judentum, hrsg. v. Karl Erich Grözinger u.a., Frankfurt/ M. 1987, S. 13-34, hier S. 29). 77 Parallelen zu den sokratischen Dialogen drängen sich auf: Dort ist das fragende Hineinführen in die Aporie elementarer Bestandteil des Erkenntnisprozesses. Der Zustand der Aporie ist gekennzeichnet als gleichermaßen wirkungsästhetischer wie wirkungskognitiver Effekt des sokratischen Fragens: Das Wissen des Nicht-Wissens - die kognitive Seite - geht einher mit den Affekten der Verwirrung, Enttäuschung und Erstarrung. Wenn Menon den Gesprächstaktiker Sokrates als Hexer und Zauberer tituliert, der mit seinen verwirrenden Fragen seinen Partner in die Irre führt (vgl. Platon: Menon, 13 a-b), dann charakterisiert er zugleich das sokratische, in die Aporie hineinführende Fragen selbst in seiner primär ästhetischen Funktion, nämlich das vermeintliche Wissen des Gesprächspartners als bloßes Meinen (doxa) zu entlarven und die selbstverständliche Gewissheit von einer Sache in seiner Fragwürdigkeit zu erweisen. Erst im Zustand der Aporie kann dann das richtige - das philosophische - Fragen einsetzen und die Einsicht in das wahre Wesen der Sache - die eigentliche theoria - durch anamnesis erfolgen. Vielleicht, so unser Hund, komme es ja darauf an, „aus den vielen Fragen die richtigen heraus[zu]finden“ (325), doch wird die hier angedachte Möglichkeit eines Fragens, das zur Wahrheit führt, unmittelbar danach zurückgenommen: „Aber was wollen denn die Fragen, ich bin ja mit ihnen gescheitert“ (ebd.). Über weite Strecken lässt sich Kafkas Erzählung als Persiflage der sokratischen Fragetechnik lesen; die Aporie, in die das Erzählen das philosophische Fragen und schließlich sich selbst und den Leser hineinmanövriert, ist allerdings nicht Voraussetzung der eigentlichen Wahrheitserinnerung, sondern negatives Telos selbst. Anders als in der sokratisch-platonischen Philosophie ist die Kafkasche Aporie nicht überwölbt von einer latent vorgegebenen Wahrheit, zu der das aus der Aporie befreiende Fragen führen würde. Erst Recht erweisen sich Erzähler und Autor nicht als maieutische Instanzen, die den Prozess der Wahrheitssuche des Lesers durch ausgeklügelte Fragemechanismen regulieren und auf eine gegebene Wahrheit hin orientieren könnten: Das den sokratischen Dialog kennzeichnende hierarchische Verhältnis zwischen den Gesprächspartnern ist hier gekappt, Leser und Erzähler sind den andrängenden Fragen im gleichen Maß ausgeliefert. Im Grunde erscheint in Kafkas Text die autoritäre Instanz der Wahrheit substituiert durch die Frage selbst: Sie ist nicht, wie in der Philosophie, Instrument der Erkenntnisgewinnung, sondern die eigentliche, Struktur gewordene Aspekte ästhetischen Fragens 267 Das insistierende Fragen, die unaufhörliche Suche des Hundes, erweist sich somit auch als das zentrale Formprinzip des Textes. 78 Die Struktur der Parabel ist hier im ursprünglichen Wortsinn der Parabole als das „Daneben-Gehende“ umgesetzt: Beschnitten um das tertium comparationis, d.h. um die Wahrheit oder Lehre, die aus der Vergleichung des hündischen mit dem menschlichen Leben, der Wissenschaft und Religion mit der Dichtung hervorgehen könnte, erweist sich Kafkas Parabel als eine literarische Form des „Daneben-Gehens“ von Frage und Antwort. Die Logik von Frage und Antwort, das Bedingungsverhältnis, in dem sie zueinander stehen - „Wer suchet, der findet“ - ist hier gänzlich außer Kraft gesetzt. Desgleichen gilt für den durchgängig ironischen Erzählduktus: Die Ironie als rhetorische Trope erscheint hier als eine letztlich kupierte Ironie: Zwar ist sie anfänglich auf ein vermeintlich stabiles Wertesystem bezogen (das Gesetz in seinen religiösen, staatlich-rechtlichen, moralischen, wissenschaftlichen Ausprägungen, traditionelle Strategien des Forschens und Fragens etc.), von dem sich das Erzählte kritischdistanzierend abhebt, doch erscheint sie zunehmend entleert, d.h. das Gesagte verweist auf kein identifizierbares gegenteiliges Gemeintes mehr, bleibt ohne positive oder negative Gegenbildlichkeit, vermittelt auch nicht die Ahnung einer unaussprechlichen Wahrheit oder Idee, kurz: sie indiziert keine wie auch immer geartete semantisch angereicherte Antwort. Diese Poetik einer in Frage gestellten Beziehung von Frage und Antwort, ihr auf das Fragen und Suchen selbst reduziertes Verhältnis, 79 das Ausdruck ihrer Beziehungslosigkeit, ihres permanenten einander Verfehlens ist, spiegelt ein Prosafragment aus dem Nachlass wider, mit dem ich meine Ausführungen auch beschließen möchte: Dieses Gefühl: »hier ankere ich nicht« - und gleich die wogende, tragende Flut um sich fühlen! Ein Umschwung. Lauernd, ängstlich, hoffend umschleicht die Antwort die Frage, sucht verzweifelt in ihrem unzugänglichen Gesicht, folgt ihr auf den sinnlosesten, das heißt von der Antwort möglichst wegstrebenden Wegen. 80 Protagonistin eines Geschehens, dem Erzähler und Leser gleichermaßen unterliegen. - Die Frage des Hundes nach dem Auffinden der richtigen Frage verweist aber nicht nur auf das philosophisch ‚richtige’ Fragen, sondern ebenso auf die Bereiche der Rhetorik und der Topik. Die Funktion der inventio, nämlich die „Eröffnung des Fragebereichs selbst“, fällt in der aristotelischen Topik der dialektischen Beweisführung zu. Im Gegensatz zu Platon erkennt Aristoteles die philosophische Dimension der Frage in Rhetorik, Topik und Poetik an, womit, so Veit, die Einsicht einhergeht, „dass die dialektische, rhetorische Beweisführung im Gegensatz zur apodiktischen Beweisführung tatsächlich den Zugang zu den archaí beherrscht“ (Veit: Art. „Frage“, Sp. 429). Die Kunst der Auffindung eröffnender Fragen und wahrscheinlicher Argumente in Rhetorik, Topik und Poetik geht ihrer logischen Analyse und Prüfung auf Wahrheit voraus, ein Zusammenhang, den Kafkas Hund mit seiner Frage nach der richtigen Frage zwar implizit aufwirft, aber mit dem Eingeständnis seines Scheiterns an und mit allen Fragen zugleich verwirft. 78 Vgl. Mosès: Zur Frage des Gesetzes, S. 32. 79 Ein Verhältnis, in dem Frage und Antwort nur noch in einer Suchbewegung einander berühren, jede logische, semantisch fassbare Kontiguität jedoch aufgekündigt ist. 80 Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. II, S. 129 f.. Bernadette Malinowski 268 Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio: Die Beamten des Himmels. Über Engel, aus dem Italienischen übersetzt und hrsg. v. Andreas Hiepko, Frankfurt/ M. 2007. Aquin, Thomas von: Summa Theologica, vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe, übersetzt v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschlands und Österreichs, hrsg. v. der Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln, Bd. 36, Heidelberg / München 1961. Assmann, Jan: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik, in: A. Assmann, D. Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt / M. 1991, S. 337-355. Assmann, Jan: Erinnern, um dazuzugehören. 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Kuhnle Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten (Eine der Grundideen der Kabbalistik) Novalis 1. „ 13 Da kam Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi und fragte seine Jünger und sprach: Wer sagen die Leute, daß der Menschensohn sei? 14 Sie sprachen: Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten. 15 Er fragte sie: Wer sagt denn ihr, daß ich sei? 16 Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! 17 Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. 18 Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen […]“ (Mat. 16.13-18). Allen wohl bekannt ist diese Passage aus dem Matthäus-Evangelium, schildert sie doch den Gründungsakt der ältesten bestehenden Institution der Menschheitsgeschichte. Drei Worte stechen dabei ins Auge, die in dieser Verbindung vertraut sind, in deren theologische Bedeutung man vertraut, auch ohne gläubig zu sein, auch ohne sie erklären zu können. Die mit kindlicher Unschuld aufgeworfene Frage nach der innigen Verbindung der Worte „Vater“, „Sohn“ und „Fels“ mag nichtsdestoweniger den einen oder anderen in Verlegenheit stürzen, erst recht, wenn er auf keine christliche Erziehung zurückblickt. Dieser Verlegenheit begegnet der Psychoanalytiker und jüdische Essayist Gérard Haddad, indem er den in griechischer Sprache verfassten Text des Evangeliums ins Hebräische übersetzt, um ihn im Sinne des Midrasch, der traditionellen Form jüdischer Bibelauslegung, zu deuten: 1 „Vater“ heißt Ab: Bet, Aleph - „Sohn“ heißt Ben: Nun, Bet - Setzt man nun die drei Buchstaben - die hebräische Schrift kennt keine Vokale - in dieser Folge hintereinander und streicht das zweite Bet, dann erhält man das hebräische Wort für Fels: „Fels“ heißt Eben: Nun, Bet, Aleph - Gérard Haddads Spiel mit der Übersetzung des Evangeliums aus dem Altgriechischen ins Hebräische basiert auf dem Umstand, dass dessen Alphabet keine 1 Gérard Haddad: Les Folies millénaristes. Les biblioclastes, Paris: Grasset/ Le Livre de poche (biblio/ essais) 2002. NB: Die hebräischen Wörter sind von rechts nach links zu lesen! Till R. Kuhnle 272 Vokalzeichen kennt - wobei der Buchstabe Aleph eine Sonderstellung einnimmt, auf die noch eingegangen wird. Der Lektüre des Evangeliums durch Haddad geht ein fundamentaler Eingriff in die schriftliche Überlieferung voraus: Der exoterische Text des Evangeliums wird in einen esoterischen verwandelt. Die für ein großes Publikum, für die Öffentlichkeit der antiken Welt bestimmte gute Botschaft ( o ) wird zum Gegenstand einer Gelehrsamkeit mit der ihr eigenen Form der Kommunikation, die nur die auserwählten Mitglieder einer verschworenen Gemeinschaft beherrschen. Mit anderen Worten: Haddad konfrontiert den Leser mit einem Spiel, dem dieser ohne zu zögern das Attribut kabbalistisch anheften würde - ein Adjektiv, das mit dem kryptischen Gebaren einer geheimnisvollen Gruppe oder Sekte assoziiert wird, ein Adjektiv, das in der Alltagssprache auch schlicht das Abstruse und Unverständliche bezeichnen kann. Kabbala - - heißt „mündliche Überlieferung“ und bedeutet im engeren Sinne das „Weiterreichen von Wissen um die Heilige Schrift“. Indes war dem Terminus Kabbala eine eigentümliche Wandlung beschieden: Zunächst bezog er sich auf eine ausschließlich mündlich tradierte Form der Bibelauslegung; im Anschluss an Isaac den Blinden und seine Schüler (um 1200) setzte er sich zur Bezeichnung einer esoterischen Lehre innerhalb des Judentums durch. 2 Erst ab dem 14. Jahrhundert begann man Kabbala als Oberbegriff für eine Gruppe von Lehrsystemen zu verwenden, die einer auf das Mittelalter zurückgehenden Strömung neuzeitlicher jüdischen Mystik zugrunde liegen; mitunter steht Kabbala gar für die jüdische Mystik überhaupt. 3 Für Gershom Scholem ist Kabbala folgerichtig „nicht etwa der Name eines Lehrsystems, sondern begreift eine ganze religiöse Bewegung“. 4 Die kabbalistischen Rabbiner haben sich dem Studium des „unberührten“ Originaltextes der Thora des ersten Teils 5 der hebräischen Bibel, des Tanach, verschrieben: der Auslegung des mosaischen Gesetzes. Vehement lehnen sie sich gegen die seit dem Mittelalter bestehenden vokalisierten und mit einem ‚philologischen’ Apparat 2 Vgl. u.a. Gerschom Scholem: La Kabbale, Paris: Gallimard/ folio (folio essais) 2007, 47f. Der Band vereint die von Scholem für die Encyclopedia Judaica verfassten Artikel. 3 Zur enzyklopädischen Überschau: Kaufmann Kohler/ Luis Ginzberg: „Cabala“, in: Jewish Encyclopedia (1901-1906); repr. <http: / / www.jewishencyclopedia.com>; „Kabbala“, in: Rudolf Eisler: Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker, Berlin: Mittler, 1912. Eine umfassende Erläuterung von Begriffen aus der jüdischen Kultur bietet die Encyclopedia Judaica. Deren Herausgeber, Geoffrey Wiggoder, hat auch das von Sylvie Anne Goldberg ins Französische übertragene Dictionnaire encyclopédique du Judaïsme, Paris: Cerf/ Laffont (Bouquins) 1996, betreut. Die enzyklopädischen Sachinformationen im vorliegenden Text wurden meist anhand dieser Nachschlagewerke überprüft. Ferner wurden folgende Studien konsultiert: Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (stw) 7 1992; Gerschom Scholem: Ursprung und Anfänge der Kabbala, Berlin/ New York: de Gruyter 2 2002; Moshe Idel: Kabbalah. New Perspectives, New Haven/ London: Yale University Press 1988; Scholem: La Kabbale, op. cit. Die Schreibweise von Eigennamen und hebräischen Begriffen folgt - falls dort vermerkt - den deutschsprachigen Fassungen von Scholems Arbeiten. 4 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (stw) 1980, 20. 5 Altgr. Pentateuch: die ersten fünf Bücher Mose. Kabbala und Literaturtheorie 273 versehenen Abschriften bzw. Editionen der hebräischen bzw. aramäischen Bibel auf. 6 Ihr Traditionalismus, so die einhellige Meinung der Forschung, rückte die Kabbala an die Spitze der Gegenbewegungen zur Reformtheologie des Maimonides (1138-1204), deren Anhänger seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert Offenbarungsreligion mit Philosophie und Naturwissenschaften zu vereinbaren suchen. Die Kabbala im engeren Sinne hat demnach im Mittelalter ihren Ausgang genommen, und zwar in Spanien. Die in den beiden großen Büchern der Kabbala, dem Sefer Jezirah und dem Sohar/ Zohar, niedergeschriebenen „Überlieferungen“ dürften in der Hauptsache auf mündliche und schriftliche Quellen aus der Zeit zwischen dem ausgehenden 9. und dem beginnenden 13. Jahrhundert, also weitgehend aus dem Hochmittelalter, zurückgehen. 7 Eine der frühesten erhaltenen Schriften der Kabbala stammt indes aus Südfrankreich: Das unsystematisch edierte Buch Bahir. 8 Unverdrossen behaupten die kabbalistischen Rabbiner noch heute, dass ihre Tradition weiter zurückreiche, nämlich in das 2. oder 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Gegen diese zum Mythos geronnene Annahme spricht unter anderem das für die Kabbala charakteristische Zusammenspiel von Einflüssen aus Neuplatonismus und Gnosis, das im Christentum durchaus seine Entsprechung findet. Ungeachtet dieser offensichtlich notwendigen Korrektur am ‚Mythos’ Kabbala kann letztlich nicht abschließend entschieden werden, welche der beiden Kulturen, die jüdische oder die christliche, von Fall zu Fall den größeren Anteil an den gemeinsamen Elementen hat. Den ersten groß angelegten Versuch der Neuzeit zu einer systematischen philosophischen Standortbestimmung der Kabbala zwischen heidnischantikem, jüdischem und christlichem Denken unternimmt die Schrift De arte cabalistica eines humanistischen Gelehrten der italienischen Renaissance: Pico della Mirandola (1463-1494). 9 Zweifelsohne stehen die in der Folgezeit von vielen christlichen Mystikern rezipierten Systeme, die der Kabbala zugerechnet werden, am Schnittpunkt der Kulturen. Allein schon dieser Umstand verweist jede Rede von einer reinen Lehre wiederum in den Bereich des Mythos und die meisten Geschichten um die Genese dieser Geheimlehre(n) auf den Rang von Legenden. So entwickelte etwa der - wie die Hauptströmung der Kabbala - aus Spanien stammende christliche Universalgelehrte Raymondus Lullus (1235-1315) mit seiner Ars generalis eine Kombinatorik, die viele Parallelen zur Kabbala aufweist. Heinrich Graetz, Verfasser der heute noch vielfach 6 Die Vokalisierung ist Ergebnis Generationen von Gelehrten übergreifender Arbeit. Diese sogenannten Masoreten ergänzten die Vokallaute mittels diakritischer Zeichen und sicherten durch kommentierende textkritische Randglossen den Bestand des Textes selbst. Die Masoreten gelang es schließlich ab dem ausgehenden ersten Jahrtausend, zugänglichere - um nicht zu sagen: exoterische - Fassungen des Tanach zu ermöglichen. 7 Scholem neigt zu der Annahme, dass der Sefer Jezirah bereits im 4. Jahrhundert n.u.Z. verfasst worden sei. Fakt scheint indes, dass die Kommentare zu einem Buch dieses Titels älter sind als die überlieferten Abschriften (vgl. Scholem, La Kabbale, 72-82). 8 Scholem: Zur Kabbala, 121. 9 Giovanni Pico della Mirandola: De arte cabalistica, in: Opera Omnia Tomus I, Basel 1557 (repr. Hildesheim: Olms 1969). Auf die unterschiedlichen christlichen Beiträge aus dem Mittelalter kann hier aus Raumgründen nicht eingegangen werden. Till R. Kuhnle 274 konsultierten Geschichte des Judentums, stellte gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedenfalls fest: „Die Kabbala in ihrem ersten systematischen Auftreten ist ein Kind des ersten Viertels des dreizehnten Jahrhunderts“. 10 Mit ihrer die Grenze von jüdischer und christlicher Kultur oft überschreitenden Verbreitung trug sie mit einiger Sicherheit dazu bei, den „Herbst des Mittelalters“ einzuläuten. 11 Die Kabbala entfaltete indes ihre volle Wirkungsmacht in jener Epoche der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte, die unter der Bezeichnung „Neuzeit“ den Übergang zu der von rationalistischem bzw. szientifischem Denken geprägten Moderne markieren sollte. Nach der Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) fand die Kabbala in Sefad auf dem Gebiet des heutigen Israel eine neue Hochburg, deren spirituelles Haupt Moses ben Jacob Cordovero, genannt Remak (1522-1570), wurde. Unter dem Einfluss von Sefad, obwohl dort nur wenige Jahre wirkend, stand Isaac Luria Ashkenazi, genannt Ari (1534-1572), dessen System, die lurianische Kabbala, schließlich den von ihm und seinen Anhängern kommentierten Sohar an Bedeutung zu überflügeln begann. 12 Im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert erlebte der Sabbatinismus seine Blüte; die Anhänger des Sabbatai Zwi (1626-1680) verbanden ihren Messianismus mit Visionen vom nahen Ende der Zeiten. 13 Berühmtester bzw. berüchtigter Anhänger des Sabbatianismus war der in Polen wirkende Sektirer Jakob Frank (1726-1791), der sich selbst zum Messias hypostasierte und schließlich sogar die Taufe empfing. 14 Um sein ,libertinistisches’ Wirken rankten sich zahlreiche Legenden, 15 wollte er doch den Sohar und das darin verherrlichte Hohelied noch über die Thora stellen. Gegen die verschiedenen Ausprägungen eines messianischen Radikalismus standen in Osteuropa die Chassidim. Für diese auf den galizischen Rabbiner Israel ben Eliezer (1698- 1760) zurückgehende Strömung der jüdischen Mystik besitzt die lurianische Kabbala einen hohen Stellenwert. 16 10 Heinrich Graetz: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen neu bearbeitet von Dr. H. Graetz, Siebenter Band, Erste Hälfte: Geschichte der Juden von Maimunis Tod (1205) bis zur Verbannung der Juden aus Spanien und Portugal, bearbeitet von J. Guttmann, Leipzig: Oskar Leiner, 4 1897, 60. 11 Erstaunlicherweise findet die Kabbala in dem Standardwerk, das diesen Begriff geprägt hat, keine Erwähnung - was wohl nicht zuletzt an der für den Gegenstand nicht ganz überzeugenden geographischen Einschränkung liegen dürfte: Johan Huizinga: Der Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, hg. von Kurt Köster (nach der niederländischen Ausgabe letzter Hand von 1941), Stuttgart: Kröner 11 1975. 12 Scholem: La Kabbale, 136-153. 13 Scholem: La Kabbale, 154 u. 377-436. 14 Scholem: La Kabbale, 437-568. 15 Vgl. den Eintrag „Erotik der Kabbala“ , in: Institut für Sexualforschung in Wien (Hg): Ergänzungsband zum Bilder-Lexikon. Kulturgeschichte - Literatur und Kunst - Sexualwissenschaft. Text- und Bildnachträge zum Nachschlagewerk für alle Gebiete medizinischer, juridischer, soziologischer, literaturhistorischer, kunstgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Sexualforschung (= Bilder-Lexikon der Erotik, Band 4), Wien/ Leipzig: Verlag für Kulturforschung, 1931. 16 Gershom Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (stw) 1977 (Nachdr. 2001), 237-247. Kabbala und Literaturtheorie 275 Gegenstand heftiger Kontroversen wurde die Kabbala für das um seine Identität ringende Judentum des 19. Jahrhunderts. Scholem sieht in der Kabbala das „wichtigste Opfer“, das erbracht worden sei, als die westeuropäischen Juden „um die Jahrhundertwende [zum 20. Jahrhundert] den Weg zur europäischen Kultur mit so viel Entschiedenheit einschlugen“. 17 Die Auseinandersetzung mit der Kabbala könne jedoch einen herausragenden Beitrag „zum Verständnis der ‚historischen Psychologie’ des Judentums“ leisten. Von daher stehe die Aktualität der Kabbala außer Frage: „In einer Zeit, in der die jüdische Geschichte eine ungeheure Krise durchmachte, ist die Vorstellungswelt dieser alten jüdischen Esoteriker nicht mehr so befremdend“. 18 Insgesamt deuten seit dem 19. Jahrhundert viele Studien - ob apologetisch oder kritisch - zur Kabbala diese als einen Indikator für eine Krise innerhalb der jeweiligen jüdischen Gemeinschaft. Im Zentrum der historischen Kabbala steht zweifelsohne das zweite große Buch, der Sohar/ Zohar ) ( , was in der Übersetzung „Glanz“ bedeutet. Es wurde vermutlich um 1300 von Moshe ben Sehm Tob de Leon in Spanien verfasst bzw. kompiliert. Kommentare und Ergänzungen ließen in den folgenden drei Jahrhunderten aus dem in mittelalterlichem Aramäisch abgefassten Buch ein ganzes System entstehen, das, wie bereits erwähnt, die Grundlage für weitere Systeme bilden sollte. 19 Die ersten Druckfassungen des Buchs Sohar erschienen um 1568 in Mantua, zahlreiche weitere folgten; die erste lateinische Fassung stammt aus dem Jahr 1684. Das angeblich von dem legendären Rabbiner Akiba ben Josef im 2. Jahrhundert n.u.Z. verfasste Buch des Sefer Jezirah ) ( - der „Weise Jezirah“ - wurde übrigens ebenfalls im 16. Jahrhundert erstmals ediert (1562, lateinisch 1642, deutsch 1894). Etz Haim ) ( - „Der Baum des Lebens“ -, das auf Aris Schriften basierende Hauptwerk der lurianischen Kabbala, wurde 1780 erstmals vollständig in hebräischer Sprache gedruckt. 20 Der Sohar ist eine Sammlung von Gesprächen des Rabbiners Simon ben Jochaï, Schüler des Akiba ben Josef, mit seinen Anhängern. Lange wurde das Buch für ein von Simon nach göttlicher Eingebung selbst niedergeschriebenes Werk gehalten; schließlich einigte sich die Forschung weitgehend auf Moses (Moshe ben Shem Tov) de Leon als Autor, ohne indes alle Zweifel endgültig auszuräumen; mitunter wurden die Aufzeichnungen ganz oder in Teilen dem mystischen Schwärmer Abraham Abulafia zugeschrieben. Die Quellenlage veranlasste Heinrich Graetz zu der lapidaren Schlussfolgerung, dass die Geschichte des Buches Sohar schlicht die Geschichte einer Fälschung sei. 21 17 Scholem: Zur Kabbala, 8. 18 Scholem: Zur Kabbala, 9. 19 Vgl. dazu die Einführung (Introduction) zu Eliahu Klein: Kabbalah of Creation. The Mysticism of Isaac Luria, Founder of the Modern Kabbalah [a translation and commentary of „The Gate of Principles“ section of The Tree of Life (Shaar Ha-Klalim shel Sefer Etz Haim)], Berkeley: North Atlantic Books 2 2005. 20 Klein: Kabbalah of Creation, xlvi-xlvii. 21 Vgl. das Kapitel „Die Geschichte des Sohar“ in Graetz: Geschichte der Juden, 430-448. Eine scharfe Erwiderung formulierte Scholem in der Einleitung zu der von ihm besorgten Ausgabe Till R. Kuhnle 276 Die Lehre der Kabbala ist eine emanatistische; am Anfang steht das Unendliche, das En-Sof ) ( , das unbegrenzte, eigenschaftslose Nichts, jenes Ur-Licht, das anfangs alles war. Die Ausstrahlungen des göttlichen Einen bringen die geistige und die sinnliche Welt hervor. Die Vermittlung zwischen Gott und der sinnlichen Welt - die Voraussetzung aller Offenbarung also - leisten die geistigen Kräfte, die von Gott ausstrahlen bzw. aus dem Adam Kadmon ) ( , dem himmlischen Urmenschen, nach dessen Bild der Mensch geschaffen wurde. Es gibt zehn solcher Kräfte - sie werden Sefiroth ) ( (sing. Sefira: wörtl. „Ziffer“) genannt, die hierarchisch angeordnet sind: Die drei ersten Sefiroth sind „Krone“, „Weisheit“ und „Verstand“. 22 Die Sefiroth bilden zusammen die Welt Aziluth ) ( , die auch als der Körper des Adam Kadmon bezeichnet wird. Die Welt indes ist nach der gnostischen Lehre der lurianischen Kabbala aus dem Unendlichen des göttlichen Lichts durch „Verdichtung“ bzw. „Kontraktion“ in Gott - Zimzum - geschaffene Vorstellung eines endlichen Raums. 23 Die Grundfrage aller kabbalistischen Lehren ist in den ersten Versen der Thora enthalten: Bereschit bara’Elohim ) ( - „Am Anfang schuf Gott“. Die kabbalistische Deutung dieser Passage kann mit Scholem wie folgt resümiert werden: „Bereschit, durch das Medium des Anfangs, das heißt jener Wesenheit, die wir als Gottes Sophia kennengelernt haben, hara, schuf, das heißt emanierte oder entfaltete sich, jenes verborgene Nichts, das als grammatisches Subjekt im Worte bara steckt, und zwar entfaltete es sich zu Elohim“. 24 An dieser Stelle kommen nun die Sefiroth als mystische Größe ins Spiel. Als die zehn „cosmic energy centers“ ‚strukturieren’ die Sefiroth die kosmischen Einheiten, „the cosmic archetypes“ (Klein), 25 das Ineinandergreifen der göttlichen Kräfte, wobei die einzig wahre (Ur-)Kraft, das En-Sof ) ( , verborgen bleibt. 26 Die Sefiroth bezeichnen folglich die mystischen Qualitäten, die dem Kabbalisten den Weg zu einer Vollkommenheit in effigie weisen. Mit der Wendung „Vollkommenheit in effigie“ sei hier die symbolische Totalität benannt, welche die (Tradition) ausmacht. Die Kabbala betont damit das geistige Wesen der Erlösung, mit dem sie es über die Vorstellung von einer realen Überwindung des äußeren Exils (in der Geschichte) hebt. 27 Die kabbalistische Emanationslehre wird im Anschluss an das Buch Sefer Jezirah und den Sohar als Der Lebensbaum der Kabbala graphisch umgesetzt. Die ‚Äste’ des Baumes bezeichnen die archetypischen Konstellationen, die „mystischen Attribute Gottes“ mit Textauszügen aus dem Sohar: Zohar. The Book of Splendor. Basic Readings from the Kabbalah, New York: Shocken 1995, xii-xxi. 22 Die Bestimmung der meisten Sefirot geht auf das 1. Buch der Chronik zurück. 23 Klein: Kabbalah of Creation, xxx und 277; Scholem: Die jüdische Mystik, 241ff. 24 Scholem: Die jüdische Mystik, 241. 25 Klein: Kabbalah of Creation, xliii-xlv. 26 Zur einführenden Lektüre sei das Kapitel „The ten sefirot“ in: [Scholem, Hg.] Zohar. The Book of Splendor, 51-55, empfohlen. 27 Scholem: Die jüdische Mystik, 334. Kabbala und Literaturtheorie 277 (Scholem) mit ihren Kraftlinien. Das En-Sof ist die verborgene Wurzel und der Saft dieses Baumes. 28 Der Lebensbaum steht im Zentrum der lurianischen Kabbala, deren Lehre und Praxis, so ein kabbalistischer Rabbiner unserer Zeit, auf zwei einander widerstreitenden Grundtendenzen beruhe: „Even though the Lurianic system is mechanistic in the description of its fundamental structures, nevertheless, the way everything moves within the system is relativistic“. 29 Damit ist auch das Grundprinzip der kabbalistischen Hermeneutik umschrieben: Auf der einen Seite steht das deskriptive Erfassen jener scheinbar „mechanischen“ Gesetze, welche die Schrift und schließlich die verschiedenen Ebenen des heiligen Textes strukturieren, auf der anderen indes steht jene Bewegung, an der jeder Versuch scheitert, eine Bedeutung, einen Sinn zu fixieren. Diese Bewegung nimmt im einzelnen Schriftzeichen ihren Ausgang: Der Buchstabe verweist immer nur auf einen Laut, ohne ihn endgültig in einer Lautfolge zu verorten, über die sich erst Bedeutung konstituiert. Mit anderen Worten: Lange vor de Saussure hatten die Kabbalisten die Differentialität des sprachlichen Zeichens erkannt. Hinter ihr verbirgt sich für den Rabbiner das unauflösliche ‚Rätsel’ Bereschit bara’Elohim ( ). Die 10 sefiroth im kabbalistischen Baum des Lebens: 30 28 Scholem: Die jüdische Mystik, 234. 29 Klein: Kabbalah of Creation, xliii. 30 Da es keine verbindlichen Transkriptionsregeln gibt, kann die Schreibweise von Quelle zu Quelle oft erheblich variieren. Die Graphik wurde der deutschsprachigen Fassung der Online- Enzyklopädie Wikipedia (Eintrag „Sefiroth“, Stand: 15.12.2007) entnommen. Zu älteren Darstellungen vgl. etwa Cesare Evola: De divinis attributis, quae Sephirot an Hebraeis nuncupantur, Venedig 1589. Die hier vorgetragene Zusammenfassung orientiert sich hauptsächlich an Scholem: Die jüdische Mystik, 232-235. Kether (höchste) Krone Chochmah Weisheit Binah Verstand Chessed Liebe (auch Gedulah - Geduld) Geburah/ Din Stärke (des Gerechten), Macht Gottes Tifereth/ Rachamin Schönheit Nezach Beständigkeit Hod Majestät Jesod (Ur-) Grund Malchuth (königliche) Herrschaft, Herrlichkeit Till R. Kuhnle 278 2. Die 22 Buchstaben oder die Maschine der heiligen Kabbala und der Tradition (Il pendulo di Foucault) Im Sefer Jezirah wird das Grundprinzip kabbalistischer Hermeneutik formuliert, der allein die unverfälschte hebräische Bibel als ‚Material’ zugrunde liegt: „Zweiundzwanzig Buchstaben: Stanze sie aus, schneide sie zurecht, wiege sie, vertausche sie und verändere sie - und erfasse mit ihnen die Seele von allem Geformten und von alle dem, was in Zukunft geformt werden wird.“ 31 Der überlieferten Schrift gehe eine von Gott gegebene Urschrift voraus, deren Buchstaben einst er höchstselbst durcheinander gewirbelt habe. Aufgabe des Weisen sei es nun, über die Heilige Schrift in ihrer vorliegenden Form der ursprünglichen Anordnung der Lettern nachzuspüren. Daher galt für den/ die Verfasser des Sefer Jezirah - wie für alle Kabbalisten - jede Vokalisierung des Tanach und insbesondere des ersten Buches, der Thora, als verwerflicher Eingriff, durch den das tradierte Schriftgut weiter verfälscht werde. Mit klaren Worten verteidigte der Rabbiner und Kabbalist Bachja ben Asher (ausgehendes 13. Jahrhundert) die Vieldeutigkeit der Thora in ihrer überlieferten Gestalt: „This is the reason why we do not write the vowels of the scroll of the Torah, for the significance of each word is in accordance with its vocalization, but when it is vocalized it has but one single significance; but without vowels man may interpret in [extrapolating from it] several [different] things, many, marvellous and sublime.“ 32 Das Akrostichon und Notarikon gehören in der jüdischen Tradition zu den fundamentalen Formen der Bibelauslegung und der theologischen Begriffsbildung: Aus den Anfangsbuchstaben von Wörtern der Heiligen Schrift werden weitere, diese erklärende Wörter, Texte oder Textverknüpfungen gebildet. 33 Ein weiteres Verfahren der Bibelexegese ist die ebenfalls seit langem im Hebräischen, aber auch in anderen Kulturen des Altertums mit alphabetischer Schrift verbreitete Gematrie, eine Form der Zahlenmystik, die im Judentum auf die haggadischen Regeln der Thora-Deutung zurückgeht und zu den bekanntesten Verfahren der Kabbalistik gehört: Sie basiert auf dem Zahlenwert den jeder Buchstabe bzw. Buchstabenkombination des hebräischen 31 Deutsche Fassung nach der englischen Übertragung: „Twenty-two letters: Engrave them, carve them, weight them, permute them, and transform them, and with them depict the soul of all that was formed and all that will be formed in the future“ (The Sepher Yetzirah - Short Version: Aryeh Kaplan translation). Quelle: <http: / / www.psyche.com/ psyche/ txt/ scholem_sy.html> 32 Zit. n. Idel: Kabbalah. New Perspectives, 214. 33 Akrostichon: Die nacheinander gelesenen Anfangsbuchstaben von Verszeilen ergeben einen Namen, einen Begriff oder eine Sentenz. Anders als das Akronym, das auf dieselbe Weise einen aus mehreren Wörtern zusammengesetzten Begriff (bzw. Kompositum) oder Eigennamen verkürzt wiedergibt (wie z.B. Stasi für „Staatssicherheitsdienst“) und häufig sogar lexikalisiert ist, schafft das Akrostichon neue Texte oder Begriffe bzw. verleiht den vorhandenen eine neue Bedeutung (zu Beispielen vgl. etwa Ulrich Brand: Art. „Akrostichon“ im HWdR). Das Notarikon ist so etwas wie das komplexere hebräische Äquivalent von Akrostichon und Akronym: Jeder Anfangs- und Ausgangsbuchstabe kann im Ausgang einer Wort- oder Satzbildung stehen. Kabbala und Literaturtheorie 279 Alphabets annehmen kann. 34 Temora („Tausch“) steht schließlich für verschiedene Systeme, nach denen Umstellungen (Permutationen) im Text erfolgen; nach anderen Quellen ist Temora auch so etwas wie der Oberbegriff für alle kabbalistischen Permutationssysteme. 35 Auch werden die hebräischen Buchstaben als Piktogramme semiotisiert. Der nach oben hin wellenförmige Abschluss des Buchstaben Mem etwa, den es in offener und geschlossener Form gibt - (offen: ) oder (geschlossen: ) -, evoziert insbesondere in der offenen Schreibung „Meer“ und „Wasser“. Auf diesen Buchstaben wird im Folgenden noch zurückzukommen sein. So ist bereits die hebräische Bezeichnung für jenes Textkorpus, das weitgehend dem Alten Testament des christlichen Kanons entspricht, ein Akronym: Tanach . ) " ( Die hebräische Bibel umfasst drei Hauptteile. Aus den Anfangsbuchstaben der Titel ihrer drei Hauptteile wurde ihr Name gebildet: Taw ( ), Nun ( ) und Kaph ( ) - diese stehen für Thora ) ( , Nevi’im ) ( und Ketuvim ) ( . Thora bedeutet „Weisung“ oder „Gesetz“; sie vereint die fünf Bücher Mose (gr. Pentateuch) und bildet das Fundament der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Die Kabbalisten beharren auf der Tradition, wonach die beiden anderen Teile des Tanach - die „Propheten“ (Nevim) und insbesondere die „Schriften“ (Ketuvim) - als Auslegungen des mosaischen Gesetzes zu deuten seien. Eine literarische Persiflage des Sefer Jerzirah mag mehr als jede langatmige Erläuterung in die kabbalistische Praxis einzuführen. Umberto Ecos Kabbala-Roman Il pendulo di Foucault greift das Welträtsel des Sefer Jezirah auf: „Le lettere fondamentali sono ventidue e con quelle, e solo con quelle, Dio formò tutto il creato“. 36 Nun droht der Computer an die Stelle des Schöpfers zu treten, weshalb man dem Rechner mit Misstrauen begegnet. Er könne schließlich die Ordnung der Buchstaben so verändern, dass ein Text sein eigenes Gegenteil erzeuge und dunkle Seherworte verheiße - „Aveva sentito dire che ci poteva alterare l’ordine delle lettere, così che un testo avrebbe potuto generare il contrario e promettere oscuri vaticini“. Dieser Gefahr stehe indes eine weitaus größere Verheißung entgegen, denn es handle sich hier wohl um jene Permutationsspiele („giochi di permutazione“), die man „Temora“ heiße und die den frommen Rabbiner zu den Pforten göttlichen Glanzes geleite: „non si chiama Temurah? Non è così che procede il rabbino devoto per ascendere alle porte dello Splendore? “ 37 Dem Computer fällt in Ecos Roman eine widersprüchliche Rolle zu: Erst tritt er an die Stelle des Kabbalisten (wenn nicht vielleicht sogar des die Schrift verschlüsselnden Schöpfers selbst); dann soll er die Aufgabe des Erlösers übernehmen, des Messias. Die kabbalistische Praxis wird getrieben vom Drang nach Erlösung, ihrer Selbst- Aufhebung. So jedenfalls kann ein Topos der Science-Fiction-Literatur verstanden werden, der unter der Feder eines Umberto Eco wieder auflebt. Der Computer soll 34 Mit ausführlichen Beispielen: Scholem: La Kabbale, 511-519. 35 NB: Der Begriff Temora ist in Midrasch und Talmud belegt zur Bezeichnung verschiedener Praktiken des Opfertausches (vgl. Art. „Temourah“, in: Dictionnaire encyclopédique du Judaïsme). 36 Umberto Eco: Il pendolo di Foucault, Mailand: Bompiani 1988, 35. 37 Eco: Il pendolo di Foucault, 33. Till R. Kuhnle 280 die Arbeit eines Kabbalisten wie Abraham Abulafia erledigen und das in der Schrift - genauer: in den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets - verborgene Welt- Rätsel lösen, doch dieses sei von einer viel gigantischeren Maschine codiert worden, nämlich von der Kabbala genannten Tradition: „La Macchina esiste, certo, ma non è stata prodotta nella tua valle de silicone, è la santa Cabbale o Tradizione, e i rabbini stanno facendo da secoli quello che nessuna macchina potrà mai fare e speriamo non faccia mai. Perché quando la combinatoria fosse esaurita, il risultato dovrebbe rimanere segreto e in ogni caso l’universo avrebbe cessato il suo ciclo - e noi sfolgoreremmo immemori nella gloria del grande Metatron.“ 38 Der Hinweis auf den großen Metatron, 39 den Engel, der einst das Volk Israel führte, verweist schließlich auf den Dreh- und Angelpunkt der jüdischen Kabbalistik: ein Messianismus, der eine mystische Apokalyptik zum Fundament hat. Zu den wichtigsten Referenztexten kabbalistischer Apokalyptik zählen die Prophezeiungen des Jesaja. Der Messianismus der kabbalistischen Mystik wird jedoch nicht auf der Bühne der Weltgeschichte gedacht, sondern hat seinen Ort in einer der Welt abgewandten und einzig der Schrift zugewandten Spiritualität: Das System der Kabbala strebt nach seiner Selbstaufhebung, die dereinst mit dem Hereinbrechen des messianischen Zeitalters erfolgen werde. Oder anders formuliert: Es ist der Messias, der den Worten der Thora ihre letztgültige Ordnung geben und das Licht der reinen Erkenntnis zum Strahlen bringen wird. Man könnte - allerdings mutatis mutandis - mit Walter Benjamin von der „reinen Sprache“ sprechen. 40 Jedenfalls steht die Kabbala mit am Ausgang der Suche nach der vollkommenen Sprache, über die Eco eine durchaus lesenswerte, wenn auch an vielen Stellen noch unbefriedigende Abhandlung verfasst hat. 41 Mit Sicherheit hat die Kabbala Anteil an dem zu Beginn der Neuzeit einsetzenden Aufleben des eschatologischen Mythos um ein das Ende der Zeiten verkündendes Buch, das in der christlichen Johannesoffenbarung das Ewige Evangelium genannt wird. Dieser Mythos steht im Zentrum der Prophetien von Joachim von Fiore, 42 findet sich bei Lessing und später bei den Romantikern - von New-Age-Phantastereien, denen die lange Tradition der Kabbala mitunter als Legitimationsgrund gilt, ganz zu schweigen. Das viel beschworene Geheimnis Kabbala geht einher mit einer tiefgreifenden Skepsis am Hier und Jetzt, einer Skepsis, die sich schließlich gegen das eigene 38 Eco: Il pendolo di Foucault, 36. 39 Vgl. Scholem: La Kabbale, 567-572. 40 Allerdings wird auch darauf hingewiesen, dass Benjamins Aufsatz über die Sprache zu einem Zeitpunkt entstand, als er sich noch nicht mit der Kabbala befasste (Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, 189). Indes ist für die hier vorgeschlagene Lesart keinesfalls eine direkte Rezeption erforderlich. Zu diesem Themenkomplex cf. auch Stephanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache: Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg, München: Fink 2006. 41 Umberto Eco: La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea, Rom: Laterza (Fare l’Europa) 1993. 42 Joachim von Fiore wird oft im Kontext der Kabbala genannt: Vgl. z.B. Scholem: Zur Kabbala, 83. Kabbala und Literaturtheorie 281 Fundament richtet, einer Skepsis, die offensichtlich Ausdruck jener Krisen ist, die chiliastische bzw. messianische Endzeitvisionen unterschiedlicher weltanschaulicher Provenienz hervorbringen. 43 Manche Kabbalisten gehen schließlich so weit, dass sie sogar die Authentizität der in der Thora überlieferten Worte in Zweifel ziehen - es war ja schließlich Gott selbst, der dem sündigen Menschen die große Buchstabensuppe eingebrockt hat. Mit der tief greifenden Skepsis an der ‚alten’ Überlieferung ist in der genannten, ‚neuen’ Überlieferung ein Wiederaufleben des Mythischen verknüpft, durch das die Kabbala erst zu einer religiösen Bewegung werden konnte - mit einer eigenen, nunmehr in die unterschiedlichsten Diskurse hineinwirkenden traditio. 3. Wo Beth war, soll Aleph werden: Sohar, Dante und Pico della Mirandola Der Buchstabe (Aleph), der einzige Nicht-Konsonant im hebräischen Alphabet, dem jedoch kein fester Vokallaut zugeordnet ist, nimmt für den Kabbalisten eine besondere Stellung ein. Daher sei hier der weiteren Erörterung der Kabbala eine längere Passage aus Gershom Scholems Buch Zur Kabbala und ihrer Symbolik vorangestellt, in der einige der wichtigsten Funktionen des ‚Unlautes’ im hebräischen Alphabet und deren Bedeutung für die jüdische Kulturgeschichte hervorgehoben werden: „Alles was ihnen offenbart wurde, was Israel hörte, war nichts als jenes Aleph, mit dem im hebräischen Text der Bibel das erste Gebot beginnt, das Aleph des Wortes anochi, ‚Ich’. Dies scheint mir in der Tat ein überaus bemerkenswerter und nachdenklich stimmender Satz. Der Konsonant Aleph stellt nämlich im Hebräischen nichts anderes dar als den laryngalen Stimmeinsatz (entsprechend dem griechischen spiritus lenis); der einem Vokal am Wortanfang vorausgeht. Das Aleph stellt also gleichsam das Element dar, aus dem jeder artikulierte Laut stammt, und in der Tat haben die Kabbalisten den Konsonanten Aleph stets als die geistige Wurzel aller anderen Buchstaben aufgefaßt, der in seiner Wesenheit das ganze Alphabet und damit alle Elemente menschlicher Rede umfaßt. Das Aleph zu hören, ist eigentlich so gut wie nichts, es stellt den Übergang zu allen vernehmbaren Sprachen dar, und gewiß läßt sich nicht von ihm sagen, daß es in sich einen spezifischen Sinn klar umrissenen Charakters vermittelt.“ 44 Das Besondere an dieser Feststellung nun ist, dass der göttliche Un-Laut (um nicht zu sagen: ou-logos) Aleph jede Deutung einer Aussage als das Ergebnis des endlichen menschlichen Vorstellungsvermögens zu erkennen gibt, das ohne die erlösende Macht des Messianischen niemals die Unendlichkeit des göttlichen Lichts und somit 43 Im Zuge seines Vergleichs zwischen chiliastischen Bewegungen des Christentums und den Formen eines radikalen jüdischen Messianismus gelangt Haddad zu einer wichtigen Feststellung: „Sur tous les points essentiels le millénarisme chrétien converge avec le millénarisme juif. Il s’en distingue par ce fait concret mais d’importance, à savoir le milieu où il naît et se développe. Les mouvements apocalyptiques juifs se forment toujours, jusqu’à l’avènement récent de l’État d’Israël, dans des sociétés chrétiennes ou musulmanes. Même dans le sabbataïsme, il n’agite que des masses limitées d’hommes“ (Haddad: Les Folies millénaristes, 95). 44 Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 47. Till R. Kuhnle 282 die Wahrheit begreifen wird. Mit dem Nicht-Buchstaben beginnen im Hebräischen die Wörter Adam, Ohr, Elohim und Ayin: Adam Mensch Ohr Licht Elohim Gott Ayin Nichts Ayin heißt: Gott erscheint als reine Negativität in Bezug auf die von ihm geschaffene Welt. Die Schrift als solche kann daher die letzte Wahrheit nicht offenbaren. Somit stellt die - nach verbreiteter kabbalistischer Erfahrung von Gottes Hand um ihre Eindeutigkeit gebrachte - Schrift für den Menschen Strafe und Herausforderung dar. Gott steht am Anfang und am Ende des in der Schrift enthaltenen Welträtsels. Mit dieser Vorstellung hat sich zur Zeit der Renaissance Pico della Mirandola in De arte cabalistica auseinandergesetzt. Dort kommt das kabbalistische Buch Bahir ) ( zu Wort, dem zufolge die Weisheit allem vorauseile - „Nihil est principium nisi sapientia“. Das Aleph verkörpert in Picos Lektüre die Einheit der unvereinbaren Gegensätze. Aufgabe des Weisen sei es, das Aleph der Finsternis in das Aleph des Lichts zu führen - „Aleph tenebrosum in Aleph lucidum convertitur“, denn nur auf dem Weg über das „Aleph magnum“ erhalte das Beth seinen Sinn: „ pater omnis generationis & productionis“. 45 Der Weg zum Aleph des Lichts führt nach der gängigen kabbalistischen Auffassung über vier Stufen. In der kabbalistischen Emanationslehre bilden die zehn Sefiroth genannten Lichtströme, deren Inbegriff der Urmensch Adam Kadmon ist, vier Welten heraus: Auf die vollkommene und unveränderliche (Aziluth) Welt folgen die veränderliche (Beriah), die geformte (Jezirah) und schließlich die lebende (Asiah). Entsprechend durchmisst das Studium der Thora mehrere Stufen und Schichten, weshalb im Sohar zwischen „Kleid und Wesen der Thora“ unterschieden wird, um auf das eigentliche Anliegen der Kabbala zu verweisen. Wohlgemerkt kommt dabei mitunter der heilige Text selbst - ganz im Sinne kabbalistischer Skepsis an jeder Schrift - geradezu schlecht weg. So steht in dem kulturgeschichtlich wohl wirkungsmächtigsten Buch der Kabbala geschrieben: „Rabbi Schim’on sprach: ‚Wehe dem Menschen, welcher meint, daß die Thora uns Erzählungen der Welt, törichte Geschichten erzählen will. Denn wäre dem so, dann vermöchten wir eine andere Thora zu verfassen mit mehr solchen törichten Geschichten. Ginge es nur um Dinge der Welt, dann gibt es selbst in den profanen Büchern schönere Dinge, dann gehen wir in ihren Spuren und machen aus ihnen eine ähnliche Thora. Vielmehr sind alle Worte der Thora höhere Worte, höhere Geheimnisse“. 46 45 Pico della Mirandola: De arte cabalistica Lib. III, 858f. 46 Der Sohar. Das heilige Buch der Kabbala, übertragen von Ernst Müller, München: Hugendubel (Diedrichs Gelbe Reihe) 2007 (der Text wurde auf Grundlage der Ausgabe Wien 1932 neu ediert), 39f. Kabbala und Literaturtheorie 283 Das Durchmessen der verschiedenen Bedeutungsebenen beim Studium der Thora markiert den Weg kabbalistischer Initiation, einer Initiation an der Schrift und durch die Schrift: „So hat auch die Thora einen Körper, das sind die Gesetze, welche der Leib der Thora genannt werden. Dieser Leib der Thora umkleidet sich mit den Hüllen, welche die Erzählungen aus dieser Welt bilden. Toren, welche nur das Gewand betrachten, das von der Erzählung der Thora gebildet wird, wissen nicht, was unter dieser Hülle wohnt! Diejenigen aber, welche mehr wissen, betrachten nicht die Hülle, sondern den Leib unter ihr. Die Weisen, die Diener des oberen Königs, jene, welche auf dem Berg Sinai gestanden haben, betrachten die Seele, die der Kern von allem ist, die ureigentliche Thora. Und in der Zukunft werden sie an der Thora die Seele der Seele schauen“. 47 Die hier bezeichneten Schritte - von der Hülle über den Leib und schließlich die Seele zur Seele der Seele - bezeichnen die vier Schritte der Interpretation, für die die hebräischen Begriffe pschat, remes, drash und sod stehen. Pschat heißt „Geschichte, Erzählung“ und bezeichnet hier die „wörtliche Bedeutung“; remes kann mit „Hinweis“ übersetzt werden und meint hier die „übertragene Bedeutung“; drash steht für Predigt und damit für die ethisch-moralische Aussage; sod - das „Geheime“ - verweist auf das nur dem fortgeschrittenen Kabbalisten Zugängliche. Daraus ergibt sich nachstehendes Schema: 1. pschat ) ( wörtliche Bedeutung 2. remes ) ( übertragene Bedeutung 3. drasch ) ( moralische Bedeutung 4. sod ) ( mystische Bedeutung Ordnet man nun die hebräischen Anfangsbuchstaben dieser vier Wörter hintereinander (und zwar nach der hebräischen Schreibweise von rechts nach links), so ergibt sich folgendes Wort: (samech) (daleth) (resch) (pe) PaRDeS - vom einfachen „Obstgarten“ (so die wörtliche Bedeutung) zum „Paradies“: Nach talmudischer Überlieferung sind im zweiten Jahrhundert vier Bibelgelehrte über ihren Studien „ins Paradies gegangen“ - will heißen, dass sie sich in ihren Studien verloren haben. 48 Dem aufmerksamen Leser wird dieses hermeneutische Konstrukt mit den vier Schichten durchaus bekannt vorkommen, 49 erinnert es doch an die Allegorese nach der Annahme eines vierfachen Schriftsinns, also an eine seit dem Beginn des christlichen Hochmittelalters verbreitete Praxis der Deutung und auch Gestaltung von Texten - und die Dante (1261-1321) in der dreizehnten seiner Epistolae, dem be- 47 Der Sohar, 40 (Hervorhebungen im Original). 48 Scholem: Zur Kabbala, 80. 49 NB: Vier ‚Schichten’ bezeichnen schließlich auch die genannten Termini, die mit dem Buchstaben Aleph beginnen: Adam, Ohr, Elohim und Ayin - s.o. Till R. Kuhnle 284 rühmten Brief an Cangrande della Scala, zu einer für Generationen verbindlichen Methode der Exegese erhoben hat: 50 „Ad evidentiam itaque dicendorum sciendum est quod istius operis non est simplex sensus, ymo dici potest polysemos, hoc est plurium sensuum; nam primus sensus est qui habetur per litteram, alius est qui habetur per significata per litteram. Et primus dicitur litteralis, secundus vero allegoricus sive moralis sive anagogicus“ (Dante: Epistolae XIII. 7/ 20). 51 Das Werk, gemeint hier das Augenhöhe mit der Bibel vindizierende Hauptwerk Dantes, La (divina) Commedia (vgl. auch Convivio II.1), verfüge nicht nur über eine einfache Bedeutung, sondern sei mehrdeutig (polysemos, hoc est plurium sensuum). Er unterscheidet daher zwischen (1.) dem Wortsinn (sensus litteralis), (2.) der übertragenen Bedeutung (sensus allegoricus), (3.) einer ethisch-moralischen Aussage (sensus moralis) und schließlich (4.) einer geheimnisvollen, in die Regionen des (wahren) Glaubens weisende Dimension (sensus anagogicus). Als Beispiel dient Dante ein berühmter Psalm: „Als Israel aus Ägypten auszog, Jakobs Haus aus dem Volk mit fremder Sprache, da wurde Juda Gottes Heiligtum, Israel das Gebiet seiner Herrschaft” (Ps 114, 1-2). Mit der nachstehenden Lesart des Psalmverses verleiht Dante der Allegorese nach der Lehre vom vierfachen Schriftsinn die Autorität der traditio, über die er ein breites Spektrum nicht kanonisierter, literarischer Schriften - allen voran seine göttliche Commedia - legitimiert: „Qui modus tractandi, ut melius pateat, potest considerari in hiis versibus: ‚In exitu Israel de Egipto, domus Iacob de populo barbaro, facta est Iudea sanctificatio eius, Israel potestas eius’. Nam si ad litteram solam inspiciamus, significatur nobis exitus filiorum Israel de Egipto, tempore Moysis; si ad allegoriam, nobis significatur nostra redemptio facta per Christum; si ad moralem sensum, significatur nobis conversio anime de luctu et miseria peccati ad statum gratie; si ad anagogicum, significatur exitus anime sancte ab huius corruptionis servitute ad eterne glorie libertatem“ (Dante: Epistolae XIII. 7/ 21). Nach Scholem ist die Vorstellung vom vierfachen Schriftsinn gegen Ende des 13. Jahrhunderts bei drei kabbalistischen Autoren belegt, die zwar demselben Zirkel zuzurechnen sind, deren Definitionen von den „Schichten“ des Textes jedoch stark voneinander abweichen. 52 Die von Scholem vorgenommenen Datierungen der kabbalistischen Schriften, die ihrerseits eine Tradition für sich vindizieren, helfen indes auch nicht weiter in der Beantwortung der noch immer offenen Frage, ob die Allegorese nach der Lehre vom vierfachen Schriftsinn nun jüdisch-kabbalistischen oder christlich-esoterischen Ursprungs ist. 50 Vgl. dazu die Abhandlung von Umberto Eco: „L’Epistola XIII, l’allegorismo medievale, il simbolismo moderno“, in: Sugli specchi e altri saggi. Il segno, la rappresentazione, l’illusione, l’immagine, Milano: Tascabili Bompiani 2001, 215-245. 51 Dante Alighieri: Epistole (bearbeitet v. Fredi Chiapelli u. Enrico Fenzi), in: Opere minore II, Turin: Unione Tipografico 1986, 444 (it. 445). 52 Scholem: Zur Kabbala, 80-83. Kabbala und Literaturtheorie 285 Über kabbalistische Momente im Werk Dantes - insbesondere in der (divina) Commedìa und im Convivio - ist schon viel spekuliert worden. 53 Eco etwa versucht eine Annäherung von Dante und Abulafia - vor allem in der gemeinsamen Suche nach der idealen Ursprache. 54 In der Tat boten die Kulturräume Italien und Spanien mehrere Möglichkeiten der Berührung zwischen christlicher und jüdischer Theologie. Dennoch bleiben die Vektoren der gegenseitigen Beeinflussung von christlichem Denken des Mittelalters und der Kabbala nach wie vor im Dunkeln - und die Forschung gelangt noch immer nicht über die Schlussfolgerung des sorgfältiger philologischer Arbeit eher unverdächtigen Eco hinaus, die sich in einem vagen „Irgendwie“ verliert. 55 Die Renaissance erlebte ein großes Interesse an der Kabbala - und zwar sowohl in Kreisen jüdischer als auch christlicher Gelehrter. Erste Übersetzungen kabbalistischer Schriften in lateinischer Sprache folgten. Eine christliche Annäherung an die kabbalistische Mystik stützte sich auf Zeugnisse wie die im Korintherbrief des Apostel Paulus geschilderte höchste Offenbarung Jesu, „der ward entzückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann“ (2. Kor. 12, 4). Indes drohte mit der neuzeitlichen Entwicklung der kabbalistischen Hermeneutik im Spannungsfeld von jüdischer und christlicher Theologie das genuin jüdische Erbe oder, wie Mosche Idel schreibt, der „theurgical aspect“ - das Moment der Erkenntnis göttlichen Wirkens - verloren zu gehen. 56 Die Kabbala-Studien der Renaissance-Denker folgten überwiegend einem philosophischen Interesse, wobei oft der Akzent auf der Annäherung von Kabbala und neuplatonischer Hermeneutik lag. 57 Anders als noch bei Dante und manch anderen Autoren des Mittelalters ist für die frühe Neuzeit nunmehr die Beschäftigung christlicher Denker mit der Kabbala umfangreich belegt. Als einer der Ersten hat Pico della Mirandola 1487 in seiner Apologia die Parallele zwischen christlicher und jüdisch-kabbalistischer Bibelexegese hervorgehoben und systematisch aufgearbeitet: 58 „[…] sicut enim apud nos est quadruplex modus exponendi Bibliam, litteralis, mysticus sive allegoricus, tropologicus & anagogicus. Ita est & apud Hebraeos, literalis apud eos dicitur Pesat […], allegoricus Midras […]. Tropologicus dicitur Sechel […] Anagogicus dicitur 53 So etwa bei Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 261. 54 Vgl. das Kapitel „Dante e Abulafia“, in: Umberto Eco: La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea, Rom: Laterza (Fare l’Europa) 1993, 54-59. Zur aktuelleren Forschung: Franz Kampers: Dantes Beziehungen zur Gnosis und Kabbala, hg. und bearb. von Detlef Weigt, Leipzig: Superbia- Verlag (Kleine Hefte zu Mythologie und Philosophie) 2005; Mark Mirsky: Dante, Eros, & Kabbalah, Syracuse/ New York: Syracuse University Press, 2003. 55 Eco: La ricerca, 59. 56 Idel: Kabbalah, 262. 57 Idel: Kabbalah, 257. 58 Wenn es im folgenden Zitat zu terminologischen Abweichungen kommt, dann liegt es darin begründet, dass Pico offensichtlich andere kabbalistische Quellen herangezogen hatte. Überdies sei darauf hingewiesen, dass auch in christlichen Kreisen die Terminologie keineswegs endgültig fixiert war und es daher zu oft widersprüchlichen Zuordnungen kommen konnte. Till R. Kuhnle 286 Cabala […] Anagogicus, qui etiam inter omnes est sublimior & divinior“ [Hervorhebung: TRK]. 59 Es sei daran erinnert, dass die Lehre vom vierfachen Schriftsinn in der typologischen Lektüre der Heiligen Schrift ihren Ausgang genommen hatte: Der Text des Evangeliums sollte in den Schriften des Alten Testaments seine Bekräftigung finden; dabei galt es, diese Schriften dem Diskurs der „guten Botschaft“ unterzuordnen. Erst mit Dante erfuhr die (jetzt als solcher ausformulierte) Lehre vom vierfachen Schriftsinn dann eine Wendung, in der sich das Anliegen neuzeitlicher Philologie ankündigte, weshalb an dieser Stelle noch einmal der Blick auf den Verfasser der (Divina) Commedìa gerichtet sei. Mit den Ausführungen in seinem Brief an Cangrande della Scala wollte Dante einen Schlüssel zum Verständnis der Commedia reichen. Dabei gerät dieser Brief zum Dokument einer ideologischen Taktik, denn über die Lehre vom vierfachen Schriftsinn situiert Dante sein eigenes Werk innerhalb eines Kanons, der Virgil und die Heilige Schrift einschließt. Man ist geneigt zu behaupten, er hätte sich die Erkenntnis des Sohar eigen gemacht, dass „es selbst in den profanen Büchern schönere Dinge“ gebe. Mit einem entscheidenden Unterschied: Nunmehr rückt ein profanes Werk auf Augenhöhe mit den Heiligen Schriften. Von daher seien auch Zweifel angemeldet an der etwa von Eco vorgetragenen These, im Convivio (II.1) und in der Epistola lägen möglicherweise zwei verschiedene Allegorie-Konzeptionen vor, weil in letzterer nicht zwischen „allegoria dei poeti“ und „allegoria dei teologi“ unterschieden werde. 60 Letztlich stehen beide Schriften im Zeichen der Rechtfertigungsstrategie eines selbstbewussten - und damit durchaus modernen - Autors, der über seine eigene Dichtung schrieb, sie sei sowohl wörtlich als auch allegorisch zu deuten. Seine Ausführungen legen den Schluss nahe, dass alle Schriften auf ihre vier (möglichen) Bedeutungsdimensionen hin zu befragen sind: „Dico che, sì come nel primo capitolo è narrato, questa esposizione conviene essere litterale ed allegorica. E a ciò dare a intendere, si vuol sapere che le scritture si possono intendere e deonsi esponere massimamente per quattro sensi“ (Convivio II.1.2). 61 59 Giovanni Pico della Mirandola: Apologia adversus eos qui aliquot propositiones Theologicas carpebant, in: Opera Omnia Tomus I, Basel 1557 (repr. Hildesheim: Olms 1969), 178. Bei Scholem findet sich folgende, den Originaltext raffende Übertragung: „So wie es bei uns einen vierfachen Weg der Bibelerklärung gibt, den wörtlichen, den mystischen oder allegorischen, den tropischen und den anagogischen Weg, so auch bei den Hebräern. Den wörtlichen Sinn nennen sie peshat, den allegorischen midrasch, den tropischen sechel und den anagogischen, den erhabensten und göttlichsten von allen, kabbala“ (zit. n. Scholem, Zur Kabbala, 270; vgl. ebd. die Erläuterungen Scholems zu den terminologischen Abweichungen). Auf den Seiten vor und nach dem Zitat nennt Pico della Mirandola zahlreiche Namen von Kabbalisten, die genauere Rückschlüsse auf seine - hier nicht zu erörternden - Quellenkenntnisse zulassen. 60 Eco: „Epistola XIII…“, 216. In: Boccaccios Dante-Lektüre. In Boccaccios Dante-Lektüre übrigens gehen diese beiden Formen der Allegorese ineinander über: Giovanni Boccaccio: Il comento alla Divina Commedìa e gli altri scritti intorno a Dante , hg. von Domenico Guerri, Bari: Laterza (Opere volgari/ Scrittori d’Italia) 1918, 22ff. 61 Dante Alighieri: Convivio (bearbeitet v. Angelo Jacomuzzi), in: Opere minore II, Turin: Unione Tipografico 1986, 103. Kabbala und Literaturtheorie 287 In seiner Commedia hat Dante an manchen Stellen einen Bilderreigen entfacht, der an das kabbalistische Spiel der Zeichen gemahnt - und damit das poetische Potential einer solchen Praxis freisetzt. Man denke an die Vision, in der von Jupiters Fackel geleitet die Natur sich in Schrift verwandelt - „Io vidi in quella giovïal facella / lo sfavillar de l’amor che lì era / segnare a li occhi miei nostra favella“ (Paradiso XVIII. 70-72) 62 -, um vor dem Auge des Dichters eine Botschaft aufscheinen zu lassen: „ DILIGITE IUSTITIAM […] QUI IUDICATIS TERRAM “ (Paradiso XVIII. 91-93). Der ethische Imperativ des lateinischen Satzes erhält Gewicht, indem sein letzter Buchstabe noch eigens hervorgehoben wird: „Poscia ne l’ M del vocabol quinto / rimasero ordinate; sì che Giove / pareva argento lì d’oro distinto. / E vidi scendere altre luci dove / era il colmo de l’ M , e lì quetârsi / cantando, credo, il ben ch’a sé le move“ (Paradiso XVIII. 94-95). Wohl in Anlehnung an das hebräische Mem - (offen) oder (geschlossen) - wird hier die Gestalt selbst des Buchstaben M semiotisiert. Schließlich beginnt „emme“ als allegorische Figur, die offensichtlich Herrscherembleme evozieren soll (die Form des Buchstabens erinnert an den kaiserlichen Adler), zu agieren. In diesem Kontext verwandelt sich das ‚Kabbalistische’ von einer Denkfigur der Exegese in ein poetologisches Prinzip, in ein intertextuelles Spiel mit der Tradition. Allerdings bleibt letztlich die Frage offen, ob Theorie und Praxis der Allegorese bei Dante wirklich von der Kabbala herrühren oder etwa auf andere verschollene oder lange verschollen geglaubte Quellen zurückgehen. An die Kabbala wiederum erinnert indessen der Wahrheitsbegriff, mit dem Dante sich im Convivio aus dem theologisch unsicheren Fahrwasser zu retten sucht: Kein ‚Prätext’ bestimme die tiefere Wahrheit, die unabhängig von dem Text bestehe, vielmehr verweise die allegorische Ebene immerfort auf den sensus literalis - „Onde, con ciò sia cosa che la litterale sentenza sempre sia subietto e materia dell’altre, massimamente dell’allegorica, impossibile è prima venire alla conoscenza dell’altre che alla sua” (Convivio II.1.11). 63 Die christliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn in der auch noch von Dante vertretenen typologischen Tradition steht dagegen im Widerspruch zur kabbalistischen Auffassung von einer Hermeneutik, welche die Bedeutung einer abwesenden ‚Ur- Thora’ immerfort einkreist, ohne zu ihr vorzustoßen. Auch hier mag, wenn auch um ein Jahrhundert später, Pico della Mirandola wieder als zuverlässiger Gewährsmann dienen, dessen Schriften einer neuzeitlichrationalistischen Annährung an die Kabbala und ihrer Hermeneutik den Weg bahnten: „Non potest operari per puram Cabalam, qui non est rationaliter intellectualis“ (Conclusiones Cabalistice N°. 12). 64 Im Vergleich zwischen jüdischen und christlichen 62 Dante Alighieri: La Commedìa. Nuovo testo critico secondo i più antichi manoscritti fiorentini, hg. v. Antonio Lanza, Anzio: De Rubeis 1995. 63 Dante: Convivio, 105. 64 Giovanni Pico della Mirandola: „Conclusiones cabalistice“, in: Opera Omnia Tomus I, Basel 1557 (repr. Hildesheim: Olms 1969), 107-113. Till R. Kuhnle 288 Ansätzen zur Kabbala wird meist schlicht übersehen, dass die Christenheit ihren Messias bereits kennt. Dieses Problems war sich Pico dagegen bewusst. Ein Beispiel aus seinen Conclusiones zeigt anschaulich, mit welchen Brücken der Renaissancephilosoph die Kluft zwischen den beiden Traditionen zu überwinden suchte. Mit dem Sakrament der Taufe galt ihm die Öffnung des als Piktogramm für Wasser und Meer verstandenen hebräischen Buchstabens Mem ( ) als definitiv überwunden: „Hoc habent inevitabiliter concedere Cabalistae, quod verus Messias per aquam purgavit“/ „Sciri potest in Cabala per mysterium Mem clausi, cur post se Christus miserit paralectum“ (Conclusiones Cabalistice N° 40/ 41) - Mem ( ). Pico della Mirandola unterstreicht hier eine christliche Lesart des hebräischen Buchstabens, die wie folgt zu verstehen ist: Das Hebräische Wort für „Wasser“ lautet Mayim, das im Anlaut über ein offenes Mem ( ) und im Auslaut über ein geschlossenes Mem ( ) verfügt; das geschriebene hebräische Wort ( ) steht nunmehr für eine ‚Totalität’, die das Sakrament der Taufe vollendet. Diese Bedeutungsdimension des hebräischen Buchstabens Mem lässt sich - post festum - auch an das mysteriöse M Dantes herantragen. Von daher sind das humanistische Interesse an der Kabbala wie auch die jetzt mehr und mehr in eine philologische Arbeitshypothese umgewandelte Lehre vom vierfachen Schriftsinn durchaus als Prolegomena einer wissenschaftlichen Theorie der Interpretation zu verstehen, die sich auf alle Texte anwenden lässt. Der genuin kabbalistische Beitrag hierzu wäre in der Hinwendung zum ‚Material’ des Textes zu sehen, nämlich zur Sprache selbst. Dass hingegen dieser philologische oder wissenschaftliche Anspruch in der eigentlichen Kabbala fehlt, ergibt sich schon aus der - hier eingangs grob skizzierten - Entstehungsgeschichte. Scholem weist darauf hin, dass - anders als die christlich-mittelalterliche und christlich-humanistische Allegorese - die kabbalistische Auslegung keineswegs auf einen klar formulierbaren abstrakten Gedanken hinauslaufe, dass es vielmehr in den hebräischen Entsprechungen der Attribute „allegorisch“ und „anagogisch“ häufig zu einem quid pro quo komme. Von daher, so sein Vorschlag, wäre es möglicherweise angebrachter, den Begriff des „Symbols“ zu verwenden und nicht von „Allegorie“ zu sprechen. Sein Vorschlag steht im Zeichen dessen, was er selbst die „Re- Mythisierung der Tora“ durch die Kabbala genannt hat: „Nicht minder gewaltig und für die Geschichte des Judentums folgenreich war die Re- Mythisierung der Tora. Was machte im rabbinischen Judentum den unmythischen Charakter des Judentums aus? Die Antwort ist klar: es ist die Ablösung des Gesetzes von allem kosmischen Vollzug“. 65 Das Problem mag Maurice Blanchot mit seiner Unterscheidung zwischen Allegorie und Symbol verdeutlichen: „L’allégorie a un sens, beaucoup de sens, une plus grande ambiguïté de sens. Le symbole ne signifie rien, n’exprime rien. Il rend seulement présente - en nous y rendant présents - 65 Scholem: Zur Kabbala, 127. Kabbala und Literaturtheorie 289 une réalité qui échappe à toute autre saisie et semble surgir, là, prodigieusement proche et prodigieusement lointaine, comme une présence étrangère“. 66 Die Allegorie sei von großer Ambiguität, weil sie „viel Sinn“ produziere, während das Symbol das Unsagbare vergegenwärtige. Seine Unterscheidung zwischen Allegorie und Symbol findet für ihn in den mit den Begriffen Talmud und Kabbala verbundenen Auslegungen der Heiligen Schrift ihre Entsprechung. Die eine Lesart - die allegorische - habe zu den „riches commentaires du Talmud“ geführt, die andere - die symbolische - zu den „expériences extatiques du kabbalisme prophétique liées à la contemplation et à la manipulation des lettres“. 67 Mit anderen Worten: Blanchot resümiert hier die beiden Pole einer Hermeneutik, die die jüdische Tradition der Diaspora prägte. Innerhalb dieser Tradition konnte eine eigene Mythologie entstehen, die vor allem im 18. und 19. Jahrhundert mit ihren Gestalten die jüdische Gemeinschaft prägen sollte - wie etwa dem Golem, dem Borges ein Gedicht widmete. Aus diesem seien die folgenden Verse zitiert, die einem der großen Rabbiner der Kabbala gewidmet sind: „Sediento de saber lo que Dios sabe, / Juda León se dio a permutaciones / de letras y a complejas variaciones / Y al fin pronunció el Nombre que es la Clave, / La Puerta, el Eco, el Huésped y el Palacio, / Sobre un muñeco con torpes manos / labró, para enseñarle los arcanos / De las Letras, del Tiempo y del Espacio“. 68 4. Alles ? Seit Goethes Verdikt gegen die Allegorie und deren Rehabilitierung durch Walter Benjamin ist die Diskussion um Symbol und Allegorie für die Literaturtheorie ein Fass ohne Boden geworden. Nichtsdestoweniger wäre es ein spannendes Unternehmen, nun diese Diskussion vor dem Hintergrund des kabbalistischen Beitrags zu Hermeneutik und Literaturtheorie noch einmal aufzurollen - was an dieser Stelle allerdings nicht zu leisten ist. Es sei daher folgender Ausweg vorgeschlagen: Da die Kabbala eindeutig ein auf unbegrenzter Semiose basierendes Verfahren der Hermeneutik ist, aus der nur der Meschiach herausführen kann, darf man wohl mit Fug und Recht zumindest die zweite Ebene kabbalistischer Hermeneutik, remes, mit „Dekonstruktion“ umschreiben. Denn es gilt hier das Grundprinzip dekonstruktivistischer Praxis, wie es Jonathan Culler auf eine knappe und griffige Formel gebracht hat: „The practitioner of deconstruction works within the terms of the system but in 66 Maurice Blanchot: Le Livre à venir, Paris: Gallimard/ folio (folio essais) 1986 (Erstv. 1959), 121f. Die Passage fordert übrigens zu einem Vergleich mit dem Benjaminschen Konzept der Aura heraus. 67 Blanchot: Le Livre à venir, 123. 68 Jorge Luis Borges: „El Golem“ (aus: El otro, el mismo), in: ders.: Obras completas II. 1952-1972, Barcelona: Emecé 1989, 263; teilweise zitiert in: Eco: Il pendolo di Foucault, 41. Till R. Kuhnle 290 order to breach it“. 69 Die weitere Begründung für die Wahl dieser Terminologie sei indes noch für einen Augenblick aufgeschoben - französisch: différée… Zusammen mit der als PaRDeS umschriebenen Lehre vom vierfachen Schriftsinn zählen das Entdecken und Bilden von Akronymen oder Anagrammen sowie die Praxis der Gematrie, der Zahlenmystik also, zu den Kennzeichen kabbalistischer Hermeneutik. Die Verfahrensweisen als solche sind durchaus auch der griechischen und lateinischen Antike geläufig. Die Kabbala verdankt ihre Entstehung und Ausbreitung eines in Zeiten der Krise und der Bedrohung um seine Identität ringenden Judentums; ihre neuzeitliche Rezeption durch christlich geprägte Denker geht auf eine tief greifende Erschütterung des theologischen Fundaments durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zurück. So kann zumindest für die christliche Kabbalistik festgestellt werden, dass sie zu den großen Krisendiskursen der Neuzeit zählt: Rationale Analytik - rational insofern als sie sich auf das faktisch gegebene philologische Material stützt - vereint sich mit der Sehnsucht nach einem geschlossenen Universum, die nunmehr in der Sphäre mystischer Diskurse nach Erfüllung strebt. Selbst das (Sprach-) Spiel der Renaissancekultur drängt danach, der Sprache den Ernst des Universalen zu verleihen. Mit dem wachsenden Ernst ihrer Anhänger verliert jedoch die kabbalistische Praxis ihren dekonstruktivistischen Zug, durch den sie mitunter kulturelle Gräben zu überwinden schien, und gerät zu einem Selbstläufer, zu einer Form „hermetischer Abdrift“ (deriva ermetica) - um einen Begriff Ecos zu gebrauchen 70 -, die einer kleinen esoterischen Gruppe zur Sicherung ihres Bestands dient. Im 19. Jahrhundert rührte die Kabbala das Interesse von Literatur und Forschung, 71 die in ihr zum einen eine spezifische Ausprägung jüdischen Denkens, zum anderen eine Praxis am Schnittpunkt der Kulturen sehen wollten. 72 Allerdings bauen sich in dieser Zeit auch große Widerstände in nicht-jüdischen wie jüdischen Kreisen auf. Der bereits genannte Historiker Heinrich Graetz etwa erkennt in der Kabbala eine direkte Folge der maimonidischen Reformtheologie, die das Judentum nachhaltig gespalten habe, und verurteilt die Kabbala als eine für die ganze Gemeinschaft schädliche Strömung. Auf der anderen Seite steht ein Urteil wie das Hegels, das - vorgetragen mit einem deutlichen antisemitischen Unterton - in der Kabbala einen entscheidenden Schritt zur Stiftung einer jüdischen Identität erkennt: „Die Juden fangen hier erst an, ihre Gedanken über ihre Wirklichkeit hinauszutragen, eine Geistes- oder wenigstens Geisterwelt sich ihnen aufzuschließen, da vorher sie, diese Ju- 69 Jonathan Culler: On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism, London u.a.: Routledge & Kegan Paul 1983, 86. 70 Vgl. das Kapitel „Semiosi illimitate e deriva ermetica“, in: Umberto Eco: I limiti dell’ interpretazione, Mailand: Bompiani 1990, 325-338. 71 Das Forschungsinteresse belegen etwa die Bibliographien zu den einschlägigen Einträgen in der Jewish Encyclopedia (1901-1906). 72 Geradezu paradigmatisch dargelegt ist dies in dem kurzen Kapitel „Jüdische Philosophie“ im ersten Band zu Karl Vorländers 1903 erstmals erschienener Geschichte der Philosophie: Leipzig 5 1919, 259-261. Kabbala und Literaturtheorie 291 den, allein sich galten, in den Schmutz und den Eigendünkel ihres Daseins und der Erhaltung ihres Volkes und ihrer Geschlechter versenkt waren“. 73 Vernichtend fiel auch das Urteil des französischen Historikers, Intellektuellen und Hebraisten Ernest Renan aus. Die Kabbala sei nichts anderes als jüdischer Gnostizismus. Und mit dem spöttischen Unterton des Aufklärers stellte er mit Blick auf die Sefiroth fest, der Monotheismus kenne nur ein Verfahren, sich eine Mythologie zu verschaffen: Er müsse die Abstraktionen beleben, die er gewöhnlich als Attribute um den Thron des Ewigen schare. 74 Indes rekurrierten Geheimgesellschaften auf Symbole der Kabbala, so etwa einige Richtungen der Freimaurerei; in frühsozialistischen Schriften finden sich Anklänge an die Kabbalistik - und nicht zuletzt in der Literatur der Romantik, so etwa bei Nerval. Schon 1799 hatte Novalis zum Stichwort „Magie“ folgendes notiert: „Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten (Eine der Grundideen der Kabbalistik)“. 75 Das 19. Jahrhundert zeigte sich durchaus fasziniert von Geheimlehren, so dass man mitunter überall Kabbala vermutete. Auch widersinnige Annahmen wie die von der kabbalistischen Inspiration im Werk Rimbauds gelangten in die Diskussion. 76 Und die Erwähnung der Kabbala in Zusammenhang mit Mallarmés poetischen Reflexionen über den Zufall und das Livre à venir dürfen wohl als Koketterie angesehen werden. Nichtsdestoweniger übten die Kabbala und die mit ihr - ob fälschlich oder zu Recht - assoziierten mystischen Motive eine große Faszination auf jüdische wie nichtjüdische Schriftsteller aus; und sie tun dies noch immer. Eine besonders subtile Bearbeitung von kabbalistischen Motiven findet sich etwa in den Erzählungen des jüdischen Schriftstellers und Philologen Marcel Schwob - der übrigens die ersten substantiellen sprachwissenschaftlichen Abhandlungen zum Argot verfasste. In der Zeit zwischen den Weltkriegen begann Gershom Scholem mit der Arbeit an seinen wegen ihrer vielschichtigen Rezeption für die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts so wichtigen Kabbala-Studien. Scholem versuchte sich schließlich auch an einer ‚kabbalistischen’ Deutung des Werks von Franz Kafka. 77 Nicht unterschätzt werden darf schließlich der Beitrag der kabbalistischen Tradition zur Herausbildung neuer 73 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II (= Werke 19), Franfurt a. M.: Suhrkamp (stw) 1986, 427. 74 „La Cabale n'est pas autre chose que le gnosticisme des juifs. Les sephiroth sont les ‘perfections’ de Valentin. Le monothéisme, pour se créer une mythologie, n'a qu'un procédé, c'est d'animer les abstractions qu'il a coutume de ranger comme des attributs autour du trône de l'éternel. Le monde, fatigué d'un polythéisme épuisé, demandait à l'Orient, et surtout à la Judée, des noms divins, moins usés que ceux de la mythologie courante“ (Ernest Renan: Histoire du christianisme VII: Marc Aurèle ou la fin du monde antique, Paris: Calmann Levy 1882, 111). 75 Novalis: „Das allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädie)“, in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Band 2. Das philosophisch-theoretische Werk, 473-720, 499 (Hervorhebungen im Original). 76 Vgl. z.B. die Haltung von Benjamin Fondane, referiert bei Monique Jutrin: „Sur les traces de ‚Rimbaud le voyou’“, in: Cahiers Benjamin Fondane 9, 2007, 7-18, 17. 77 Vgl. dazu den dritten Teil - „Gerschom Scholem. L’Histoire secrète“ - in: Stéphane Mosès: L’Ange de l’Histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Paris: Gallimard/ folio (folio essais) 2006. Till R. Kuhnle 292 humanwissenschaftlicher Methoden in jüdischen wie nichtjüdischen Gelehrtenkreisen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reflektiert ein berühmter Schweizer Gelehrter über Entstehung und Verbreitung von Legenden: „Den Adel der Sprache wie der Legenden macht es aus, dass sie […] nur Elemente zur Verfügung stellen, welche von ihnen beigebracht wurden und einen beliebigen Sinn haben, diese vereinen und beständig einen neuen Sinn daraus ableiten. Es herrscht ein gewichtiges Gesetz, das man wohl bedenken sollte, bevor man auf die Falschheit dieser Konzeption von der Legende schließt: Nirgends sehen wir etwas aufblühen, das nicht eine Kombination aus inerten Elementen wäre, und nirgends sehen wir, dass die Materie etwas anderes wäre als die beständige Nahrung, die vom Denken verdaut, geordnet und beherrscht wird, welches sich jedoch ihrer nicht entledigen kann“. 78 Mit dieser Erkenntnis machte sich Ferdinand de Saussure auf die Suche - wie es bei Jean Starobinski heißt - nach mots sous les mots, nach Wörtern unter Wörtern, um schließlich klassische Texte mittels Anagrammen und „Hypogrammen“ (eine Wortschöpfung de Saussures) neu zu deuten. Diese in nicht zur Veröffentlichung bestimmten Aufzeichnungen und Briefen formulierte Anagramm-Theorie wurde in den 1960er und 1970er Jahren durch Jean Starobinski und Peter Wunderli zutage gefördert; 79 sie stieß auf das Interesse von Roman Jakobson und über die Arbeiten Julia Kristevas sollte sie Eingang in die poststrukturalistische Theoriendiskussion im Umkreis der Gruppe Tel quel finden. 80 In den romanischen Literaturen nach dem Zweiten Weltkrieg begann man sich für mathematische Kombinatorik und Mystik zu interessieren, wobei die Kabbala oft in einem Atemzug mit Tarot und diversen östlichen „Mystiken“ genannt wird. Maurice Blanchot, ein Freund des französischen Philosophen und Talmudexegeten Lévinas, gab in einer Besprechung von Borges’ Novellenbändchen El Aleph (1949) eine ebenso einfache wie einleuchtende Erklärung für diese „Mode“: die Faszination, die von den Möglichkeiten unendlicher Kombinationen und damit auch unendlicher Semiosen auf der Basis eines endlichen Materialbestandes ausgehe. Kurz: das Endliche, das das Unendliche generiert. 81 In den poetologischen Diskursen im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre ist der Einfluss von kabbalistischen Versatzstücken omnipräsent. So etwa in der Gruppe Oulipo, die sich Ende 1960 nach einer Reihe von informellen Schreibwerkstätten um den Schriftsteller Raymond Queneau und den Mathematiker François Le Lionnais konstituierte. Zum Kreis aktiven oder wegen Dahinscheidens beurlaubten Mitg- 78 Zitiert nach Jean Starobinski: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, Frankfurt a. M.: Ullstein (Ullstein Materialien) 1980, 13. 79 Peter Wunderli: Ferdinand de Saussure und die Anagramme, Tübingen: Niemeyer (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft) 1972. 80 Eine konzise Zusammenfassung zu den Anagrammstudien und ihrer späteren Rezeption findet sich in Thomas M. Scheerer: Ferdinand de Saussure, Darmstadt: wbg (Erträge der Forschung) 1980, 157-176. 81 Blanchot: Le Livre à venir, 130-134, inbes. 133. Blanchot nimmt sich in demselben Buch auch des Golem-Mythos an: op. cit., 120-129. Kabbala und Literaturtheorie 293 lieder der noch immer bestehenden Gruppe gehör(t)en neben ihren führenden Köpfen Georges Pérec und Raymond Queneau auch Italo Calvino, Marcel Duchamp, Marcel Bénabou und viele andere berühmte Autoren, Wissenschaftler und Künstler. Ziel der Gruppe war - und ist - eine Erneuerung und Befreiung der Literatursprache durch mathematische Kombinatorik, wie man sie auch in der Musik vorfindet. Oulipo ist ein Akronym und steht für Ouvroir de littérature potentielle. Die ersten Schreibwerkstätten fanden indes unter dem Kürzel Ou-X-Po statt, wobei es nach den oben gemachten Ausführungen schwer fällt, in dem X, das als Platzhalter für die unterschiedlichen „Werkstätten“ der Gruppe steht - Musik, Literatur, Comic, Theater usw. - nicht ein hebräisches Aleph zu erkennen: Ou- -Po. Zumal wenn Marcel Bénabou, ein unverdrossener Mitstreiter und Chronist der Bewegung Oulipo, bekennt: „Nous voulions libérer la littérature de ce carcan de ‘Grande littérature’ et de grandiloquence; montrer qu’aussi bien la littérature que le langage sont partout. C’est une idée oulipienne, mallarméenne, mais aussi cabalistique, puisque dans le Zohar, comme dans la Kabbale, l’alphabet est la matière du monde. Voilà deux textes qui m’ont beaucoup marqué, non de manière religieuse mais du fait de la manipulation des lettres et des mots“. 82 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte auch in den Humanwissenschaften eine ausführliche Würdigung der kulturellen Leistung kabbalistischer Tradition ein, wobei zunächst vor allem die Arbeiten des inzwischen in Israel lehrenden Gershom Scholem und der von ihm gebildeten Schule hervortraten. Im Vorwort zu seinem Buch Zur Kabbala und Ihrer Symbolik nannte Scholem diese mystische Tradition als eines der Identität stiftenden Momente des Judentums. Die Erklärung für eine Renaissance der nicht zuletzt von der zionistischen Bewegung geschmähten Kabbala gründet für ihn also in der jüngeren Geschichte. 83 Gérard Haddad konstatiert für das jüdische Denken im Frankreich des 20. Jahrhunderts eine Abkehr von der Tradition des Maimonides: „La pensée kabbalistique, plus au moins authentique, domine aujourd’hui sans contrepoids le judaïsme français.“ 84 82 Marcel Bénabou: „Bénabou et Perec: l’histoire d’une amitié [Interview mit Guadalupe Nettel]“, auf <http: / / pagesperso-orange.fr/ mexiqueculture/ nouvelles6-benaboufr.htm>. 83 Die einschlägigen Passagen aus Scholems Buch wurden bereits im ersten Kapitel vorliegender Untersuchung zitiert. In den letzten Jahren tritt vor allem der - ebenfalls schon angesprochene - rumänisch-israelische Gelehrte Mosche Idel mit Anhängerschaft als Sachwalter der Kabbala auf. Von seinem Lehrer unterscheidet er sich darin, dass er den Messianismus, den Scholem nicht zuletzt politisch verstanden wissen wollte, wieder ins Spirituelle wendet, den Weg der Erlösung also vorrangig in der Einkehr sucht. Seine Arbeiten werden in Israel vor allem von rechtslastigen Kreisen gewürdigt. Unter dem Eindruck der Idelschen Forschung stehen übrigens die Betrachtungen Ecos zum jüdischen Sprachverständnis und zur Kabbala. So hat Eco das Vorwort zu dem für diese Tendenz geradezu paradigmatischen Buch geschrieben: Moshe Idel: Mystiques messianiques: De la kabbale au hassidisme. XIIIe-XIXe siècle, Paris: Calmann-Lévy (Essais judaïsme) 2005. 84 G. Haddad: „Lacan et le judaïsme“, in: ders.: L’Enfant illégitime. Sources talmudiques de la psychanalyse - suivi de Lacan et le judaïsme, Paris: Desclée et Brouwer (Midrash) 2 1990, 339. NB: Haddad stellt hier auf die talmudischen und kabbalistischen Einflüsse in der Psychoanalyse ab. Letztere unterstellt er - wenn auch eher implizit - vor allem bei Jacques Lacan. Till R. Kuhnle 294 Nicht wegzudenken aus der jüngeren französischen Geistesgeschichte ist der selten offen eingestandene Einfluss kabbalistischer Hermeneutik in den sciences humaines: Dem Text zugewandt begreift sie sich als eine Tradition der Auslegung, die mit dem kommentierenden Erschließen des biblischen Textes diesem immer auch neue Bedeutungsdimensionen und damit neue Texte hinzufügt - weil die Thora die Offenbarung der endgültigen Wahrheit verweigere. Die Wahrheit wird als Gegenstand einer unzugänglichen Ur-Schrift gesehen. An diese kabbalistische Praxis erinnern die Prämissen von Foucaults Archéologie du savoir. Die „Archäologie“ wird hier als eine Methode geisteswissenschaftlicher Arbeit eingeführt, die sich nicht darauf beschränke, das in den Quellen Gesagte als unumstößliche Aussage anzunehmen; vielmehr eigne sie sich diese Quellen in einer Form der réécriture an, die das Geschriebene nach bestimmten Regeln verändere und somit statt dem „Geheimnis“ auf den Grund zu gehen nunmehr den (diese Regeln stiftenden) discours selbst zum Gegenstand systematischer Betrachtung mache: „En d’autres termes elle [l’archéologie] n’essaie pas de répéter ce qui a été dit en le rejoignant dans son identité même. […] Elle n’est rien de plus et rien d’autre qu’une réécriture: c’est-à-dire dans la forme maintenue de l’extériorité, une transformation réglée de ce qui a été déjà écrit. Ce n’est pas le retour au secret même de l’origine; c’est la description systématique d’un discours-objet.“ 85 5. Der Kritiker als Bastler und Kabbalist: ars poetica cabbalistica De Saussures Anagrammtheorie hat sicher dazu beigetragen, dass sich die strukturalistische Theorienbildung auf das Terrain kabbalistischer Hermeneutik wagte, deren Wirkung auch dort noch festzustellen ist, wo nicht ausdrücklich von Kabbala die Rede ist - so etwa in La Pensée sauvage (1962) von Claude Lévi-Strauss, wo das mythische Denken als „eine Art intellektuelles Basteln“ (une sorte de bricolage intellectuel) bezeichnet wird. Das mythische Denken verfahre wie der Bastler (bricoleur), der das vorgefundene Material kombiniere und auf diese Weise sein Universum konstituiere, das er fortan durchmesse. Dies Form der Mythopoesis charakterisiere das ‚primitive’ Denken, la pensée sauvage. In der zivilisierten Welt stehe dem Bastler der Ingenieur gegenüber, der einen transzendentalen Standpunkt einnehme, von dem aus er einen neuen Sinnhorizont stifte - man könnte auch vereinfacht sagen, dass der Ingenieur ein neues System einrichtet. „Le bricoleur est apte à exécuter un grand nombre de tâches diversifiées; mais à la différence de l’ingénieur, il ne subordonne pas chacune d’elles à l’obtention de matières pre- 85 Michel Foucault: L’Archéologie du savoir, Paris: Gallimard (nrf) 1969, 183; vgl. dazu auch Till R. Kuhnle: „Die archäologischen Spuren einer epiphany: La Bataille de Pharsale von Claude Simon“, in: Frick, Werner/ Lampart, Fabian/ Malinowski, Bernadette (Hg.): Literatur im Spiel der Zeichen. Festschrift für Hans Vilmar Geppert, Tübingen: A. Francke 2006, 269-287. Kabbala und Literaturtheorie 295 mières et d’outils conçus et procurés à la mesure de son projet: son univers instrumental est clos, et la règle de son jeu est toujours s’arranger avec les ‘moyens du bord’“. 86 Anders als der Bastler schaffe sich der Ingenieur das Werkzeug, das er benötige, um seine Ziele zu verwirklichen, er überschreite somit das geschlossene Universum (l’univers clos) des Bastlers, der sich mit den verfügbaren Mitteln (moyens du bord) bescheide. Und mit Blick auf die nachstehende Passage kann man hinter der Tätigkeit des Bastelns (bricolage), die bei Lévi-Strauss über die Mythopoesis hinausgehend Züge einer Mystik annimmt, durchaus die Bemühung des Kabbalisten erkennen, der mit seiner Praxis niemals an ein endgültiges Ziel gelangt: „[…] les signifiés se changent en signifiants, et inversement. Cette formule, qui pourrait servir de définition au bricolage, explique que, pour la réflexion mythique, la totalité des moyens disponibles doive aussi implicitement inventoriée ou conçue, pour que puisse se définir un résultat qui sera toujours un compromis entre la structure de l’ensemble instrumental et celle du projet. Une fois réalisé, celui-ci sera donc inévitablement décalé par rapport à l’intention initiale (d’ailleurs simple schème), effet que les surréalistes ont nommé avec bonheur ‘hasard objectif’. Mais il y a plus: la poésie du bricolage lui vient aussi, et surtout, de ce qu’il ne se borne pas à accomplir ou exécuter; il ‘parle’, non seulement avec les choses […], mais aussi au moyen des choses: racontant, par le choix qu’il opère entre des possibles limités, le caractère et la vie de son auteur. Sans jamais remplir son projet, le bricoleur y met toujours quelque chose de soi“. 87 Gérard Genette greift in seinem Aufsatz Le Structuralisme en littérature diesen Gedanken auf und vergleicht die critique littéraire (im weitesten Sinne Literaturkritik und wissenschaft) mit dem bricolage bei Lévi-Strauss. Mit diesem Vergleich nun rückt der Terminus der strukturalen Anthropologie definitiv in den Horizont der Kabbala. Bei Genette wird die pensée critique (mit „Kritikerdenken“ oder „kritischem Denken“ nur unzureichend übersetzt) zu einer Geisteshaltung, die sich in dem Werk der schöpferischen Schriftsteller, dem Kanon also, verschrieben hat - wie der Kabbalist der Heiligen Schrift. Doch sei hier Gérard Genette das Wort erteilt, der - Lévi-Strauss paraphrasierend - über die pensée critique schreibt: „La pensée critique, peut-on dire en paraphrasant Lévi-Strauss, édifie des ensembles structurés au moyen d’un ensemble structuré qui est l’œuvre; mais ce n’est pas au niveau de la structure qu’elle s’en empare; elle bâtit ses palais idéologiques avec les gravats d’un discours littéraire ancien“. 88 Der Text des Werkes und der Schöpfungsakt des Dichters bei Genette fordern den Vergleich mit dem kabbalistischen Verständnis von der Heiligen Schrift geradezu heraus. Dabei nimmt der critique die Position des initiierten Kabbalisten ein; indessen steht hier nicht mehr die Schrift im Zentrum allein, sondern die Schriften: Die Dekons- 86 Claude Lévi-Strauss: La Pensée sauvage, Paris: Presses Pocket 1990 [Erstv. 1962], 31. 87 Lévi-Strauss: La Pensée sauvage, 35. 88 Gérard Genette: „Structuralisme et critique littéraire“, in: Figures I, Paris: Seuil (points) 1976, 145-170, 147 (Hervorhebungen im Original). Till R. Kuhnle 296 truktion kündigt sich als Methode der Literaturkritik an - ebenso die von Kristeva und Barthes vertretene Theorie der „Intertextualität“. Diesen Weg vom Strukturalismus zu einem Poststrukturalismus, der bald unverbrüchlich mit dem Begriff der Dekonstruktion verbunden sein wird, sieht Derrida in Lévi-Strauss’ Begriff des bricolage angelegt. Die Vorgehensweise, die der Bastler mit einer pensée sauvage verbinde, belege augenscheinlich, dass eine totalisierende Zusammenschau - vereinfacht gesprochen: die Festlegung eines Systems - auch im Endlichen nicht möglich sei. „Si la totalisation alors n’a plus de sens, ce n’est pas parce que l’infinité d’un champ ne peut être couverte par un regard ou un discours finis, mais parce que la nature du champ - à savoir le langage et un langage fini - exclut la totalisation: ce champ est en effet celui d’un jeu, c’est-à-dire de substitutions infinies dans la clôture d’un ensemble fini“. 89 Mit anderen Worten: Kabbala nahezu in Reinkultur! Derrida gehörte in den ausgehenden 1960ern und beginnenden 1970ern mit zur Gruppe um die Zeitschrift Tel quel, in der Julia Kristeva an die Anagrammtheorie de Saussures anzuknüpfen suchte, in der Barthes zu seiner Semiologie veröffentlichte, in der die sprachlichen Zeichen bei Mallarmé und Proust nach dem im Verborgenen Anwesenden befragt wurden; zu Tel quel gehörten - zumindest zeitweise - auch viele Romanciers wie Jean Ricardou, der eigentliche Kopf der Gruppe, der junge Philippe Sollers und - anfänglich - auch der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Sprachjongleur Claude Simon. Von einer wahrhaften ars poetica cabbalistica, die den Autor in einen luziden Leser verwandelt bzw. diesen zum Autor macht, kann man indes bei dem jüdischen Autor Edmond Jabès sprechen, der in einem Interview erklärt hat: „Qu’est-ce que le point? En hébreu, le point est la voyelle. Il permet au mot d’être lu, entendu. Si le point vient à manquer, il y a risque de contresens grossier. En fait, il n’y a pas de mot. Il y a des consonnes en attente de devenir vocable. L’absence de points, dans les grands textes juifs traditionnels, continue de requérir une attention particulière du lecteur qui doit, de lui-même, recréer le mot, ce qui implique, plus qu’une profonde compréhension du texte, une véritable intuition de celui-ci“. 90 6. Derrid Vor allem ist es Derridas Œuvre, das in einem ständigen Dialog mit der jüdischen Tradition und - quasi en contrebande - mit der Kabbala steht: von den in L’Écriture et la différence (1967) gesammelten Aufsätzen bis hin zur Marx-Lektüre seiner letzten Jahre. Derrida der Dekonstruktivist, der Kabbalist, war allerdings mit Sicherheit kein Leser im Sinne des Genetteschen critique, der sich mit einer gegenüber der kommentierten Literatur zweitrangigen Position zu bescheiden wusste. 89 Jacques Derrida: L’Écriture et la différence, Paris: Seuil (points) 1979 (Erstv. 1967), 423. 90 Edmond Jabès: Du Désert au livre. Entretiens avec Marcel Cohen, Paris: Pierre Belfond 1981, 118. Kabbala und Literaturtheorie 297 Insbesondere zu einem jüdischen Autor suchte Derrida die gleiche Augenhöhe: Mit dem Zyklus Livre des questions (1963-1973), 91 der das Schicksal der Juden im Bann des Holocaust indirekt durch das Gegenüberstellen von Dialogen, Sentenzen, poetischen Textfragmenten und Zitaten thematisiert, rückte die écriture von Edmond Jabès zur „Vorstellungswelt“ der „alten jüdischen Esoteriker“ (Scholem) auf. Diese écriture bekräftigt - mutatis mutandis - die Auffassung des Kabbala-Forschers Scholem, wonach in einem solchen Rekurs die direkte, wenn nicht gar zwingende Antwort auf die „ungeheure Krise“ in der jüdischen Geschichte zu sehen sei. Bekannt geworden ist das Werk Jabès’ vor allem durch die in L’Écriture et la différence abgedruckte Besprechung Derridas. Jabès’ écriture nimmt in dieser lecture die Gestalt einer Deckerinnerung (im Sinne Freuds - frz. souvenir écran) an: Für den hartnäckigen Frager nach der Question du livre, der sein Judentum erst spät erkannt habe, finde sich der Jude - so der philosophische Leser der Question - auf die Situation einer „leidenden Allegorie“ („allégorie souffrante“) verwiesen. In dieser lecture gewinnt Jabès’ Umgang mit dem jüdischen Schicksal eine mystische Qualität. Die Kabbala 92 - wie auch das gespaltene Verhältnis zu derselben - avanciert bei Derrida zum Sinnbild der conditio judaica, wobei er den Juden zwischen sensus literalis und sensus allegoricus des Schrift-Zeichens hin und her gerissen sieht: „Le Juif est brisé et il l’est d’abord entre ces deux dimensions de la lettre: l’allégorie et la littéralité“. 93 Diese Zerrissenheit gehöre zur Geschichte des Juden, einer Geschichte, die Identität im herkömmlichen Sinne verweigere; doch dürfe deshalb jüdische Identität noch lange nicht in einer abstrakten Universalität aufgelöst gedacht werden. Die conscience malheureuse - das „unglückliche Bewusstseins“ 94 - des Judentums beruhe darauf, dass es immer auf die Differenz zwischen dem gesprochenen Wort Gottes und dem Geschriebenen verwiesen werde: „La différence entre la parole et l’écriture, c’est la faute, la colère de Dieu qui sort de soi, l’immédiateté perdue et le travail hors du Jardin“ / „Die Differenz zwischen dem gesprochenen Wort - parole - und der Schrift - écriture - markiert den Sündenfall, die Wut eines außer sich geratenen Gottes, die verlorene Unmittelbarkeit, die Arbeit außerhalb des Gartens“. 95 Zugespitzt formuliert heißt dies: Der Schein ontologischer Gewissheit ist für immer zerstört. Diese ‚Wahrheit’ avanciert hier zur eigentlichen ‚Botschaft’ des mosaischen Gesetztes, das wiederum der Bewegung hinter der materiellen Oberfläche seiner Signifikanten (genauer: hinter den Buchstaben) unterworfen sei, einer Bewegung, die jede Offenbarung eines letzten Sinns verwehre. Verweigert wird somit, folgt man dieser Argumentation, ein transzendentales Obdach, das über einen geo- 91 Die Titel lauten: I. Le Livre des questions, II. Le Livre de Yukel, III. Le Retour au livre, Yaël, Elya, Aely und El, ou dernier des livres (die Bücher 4-7 wurden vom Autor nicht mehr numeriert) - alle Titel erschienen bei Gallimard (nrf). 92 Dieser kurz zuvor von Derrida selbst gebrauchte Begriff wird hier unterstellt. 93 Derrida: L’Écriture et la différence, 112. 94 „Das unglückliche Bewusstsein ist das Bewusstsein seiner als des gedoppelten, nur widersprechenden Wesens“ (G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes (= Werke 3), Frankfurt a. M.: Suhrkamp (stw) 2 1989, 163). 95 Derrida, L’Écriture et la différence, 104. Till R. Kuhnle 298 graphischen und historischen Ort verfügt; verweigert wird ein System endlicher Semiose. Mit anderen Worten: Die conditio judaica heißt Dekonstruktion - um jenen Begriff zu verwendenn den Derrida in einer anderen Schrift (De la Grammatologie, 1967) für die postmodernen Humanwissenschaften besetzt hat. 96 Derridas Lektüre der Texte von Jabès vereint sich mit dessen écriture zu EINER lecture bzw ré-écriture (im Sinne von Foucaults archéologie) der conditio judaica - sie liefert damit ein Paradebeispiel für das Fortwirken der Kabbala in der Praxis dekonstruktivistischen Lesens. Derridas sentenziös daherkommende Aussagen zu den Juden sind Kommentare, Interpretationen zu Sätzen aus dem Werk von Edmond Jabès, insbesondere aber aus Le Livre des questions, so dass dem Leser nunmehr zwei Schriften zur Verfügung stehen, die es weiter zu deuten gilt. Man lese daher Derrida über Jabès, dessen Worte zu seinen - Derridas - Worten werden: „Die Negativität in und an Gott - la négativité en Dieu -, das Exil als Schrift - l’exil comme écriture - das Leben des Buchstabens schließlich - la lettre enfin -, bedeutet schon Kabbala - c’est déjà la Cabbale. Dies bedeutet die Tradition höchstselbst - Qui veut dire la Tradition elle-même“. 97 Im Anschluss daran hebt Derrida zu einer Verteidigung dieses Rekurses auf die jüdische Tradition an, der nicht mit Orthodoxie zu verwechseln sei. An der Position von Jabès zur Kabbala kristallisiert sich deren Position innerhalb des Judentums heraus: Als unverbrüchlicher Teil des Judentums droht die Kabbala dieses zu teilen, in dem sie ihm eine Identität verheißt. Der Jude einer im Zeichen von Auschwitz stehenden Moderne könne daher, so Derridas Schlussfolgerung, weder mit ihr noch ohne sie. Jabès suche die Annäherung an die jüdische Gemeinschaft über die Tradition - und in dem Maße wie er diese Annäherung vollziehe, entferne er sich von dieser. Wenn Derrida schreibt, le Juif n’est que l’allégorie de la souffrante, dann entzieht er - darin Jabès durchaus folgend - dem in der Geschichte erfahrenen Leid die Rechtfertigung durch jedwede Theodizee: Weder Auschwitz noch die Orthodoxie taugen zur Bestimmung einer jüdischen Identität. Anders formuliert: Der für Identität zu zahlende Preis hieße Theodizee; der Verzicht auf eine solche macht den Juden zur allégorie souffrante. 98 Derrida geht an die Grenze existentieller Fragestellungen, um von dort aus sich wieder der am Ausgang aller Semiose stehenden Schrift zuzuwenden. NB: Die ständige, um nicht zu sagen anaphorische Wiederholung des Terminus écriture ohne erläuternde Attribution in den Texten Derridas, fordert eine assoziative Verknüpfung mit l’Écriture - der Heiligen Schrift -heraus. Jabès ist Derrida willkommener Anlass, eine innerhalb des Judentums umstrittene Tradition wieder ins Gedächtnis zu rufen, die weniger ihrer konkreten Inhalte, sondern der von ihr ausgelösten Kontroversen wegen integrativer Teil der jüdischen 96 Vgl. J. Derrida: Unterkapitel „brisure“, in: De la Grammatologie, Paris: Minuit (coll. Critique) 1967, 96-108. Viele kabbalistische Elemente enthalten auch die folgenden Unterkapitel zu algèbre: arcanum et transparence und zum rébus. 97 Derrida: L’Écriture et la différence, 111f. 98 Von dieser Bestimmung des Juden ausgehend wäre - konsequenterweise - auch die Position des Zionismus zu dekonstruieren. Kabbala und Literaturtheorie 299 Gemeinschaft auf dem Weg in die Neuzeit und die Moderne darstelle - so jedenfalls die Auffassung von Jabès-Derrida. Und darin liegt ein Paradox begründet: Diese Funktion erfüllt die Tradition, weil sie sich dereinst revolutionär gegen das Neue richtete. Derrida nennt die Kabbala nur beiläufig in seiner Besprechung zu Jabès, beiläufig deshalb, weil ihr Name heute nicht mehr für das stehen kann, was sie (mit-) hervorgebracht hat: die Praxis der Dekonstruktion. Dreh- und Angelpunkt in den frühen Schriften Derridas bildet ein Begriff, der schon mehrfach gefallen ist: die Differenz - oder richtiger la différence. Zunächst liegt diesem der von de Saussure formulierte Ansatz zugrunde, dass Laute keinen Wert an sich haben, sondern erst in Opposition zu anderen Zeichen Bedeutung erzeugen. Dieses ‚System’ von Differenzen bereichert Derrida um eine diachronische Dimension, womit er das im Prinzip endliche System aufbricht ohne es aufzuheben: Es werden nicht nur synchrone Beziehungen betrachtet, sondern das sich entwickelnde Sinnpotential, das in den einzelnen aktuellen sprachlichen Realisierungen (als Akte des Sprechens wie des Schreibens) aufgeschoben wird (französisch différé). Dabei befindet sich jede dieser sprachlichen Realisierungen ihrerseits in einer Position der „Nachträglichkeit“ (Derrida verweist auf die Freudsche Besetzung des Terminus - frz. après coup) in Bezug auf die ihr vorausgegangenen Realisierungen, so dass Zeichen und Sinn niemals zur Deckung gelangen können, wesensmäßig einander immer fremd bleiben - und doch nicht voneinander zu trennen sind. Daraus resultiert (und dies ist die entscheidende Neuerung Derridas gegenüber de Saussure) ein Verzeitlichen der Differenzbeziehungen. Der Prozess der Zeichenproduktion und Semiose strebe, so Derrida, nach der Verwirklichung eines Ursprungs, doch der autoritative Akt des Sprechens suspendiere immerfort diese Bewegung, weshalb man vom Primat der écriture auszugehen habe. Hier wird der kabbalistische Widerstand gegen die Vokalisation der heiligen Schrift in Erinnerung gerufen: Bei Derrida gerät dieser Widerstand zum Inbegriff der Auflehnung gegen jede Form ideologischer Setzung. Folglich wendet sich Derrida der écriture (Schrift) zu, jener Spur der Spur, hinter der so etwas wie die unerreichbare Urspur (die archi-trace einer archi-écriture) stehe. An der Schrift entsteht und wirkt nun jene Bewegung, die Derrida die Differenz nennt und die sich in die Beziehungen unter allen an der Sprache Beteiligten einschreibt - z.B. in die von Jabès zur jüdischen Tradition, in die von Derrida zu Jabès, in die von Jabès zu Derrida usw. Allen diesen Beziehungen eignet nicht die Dialektik des Dialogs mit Rede und Gegenrede, sondern sie sind Teil eines Prozesses wechselseitigen Durchdringens, der selbst die Vorstellung von der Differenz/ différence als eine ontologische Fiktion erscheinen lässt: Die différence Derridas meint immer „Unterscheidung“ und „Aufschub“, womit sie auch jeder Setzung von Funktionen innerhalb eines Gefüges widerspricht. Deshalb steht hinter Derridas Rede von der différence nunmehr die Transkription différance: Der Neologismus ist in seiner französischen Aussprache nicht von différence zu unterscheiden. Der für das e eingewechselte erste Buchstabe des Alphabets markiert den Einspruch gegen eine begriffliche Fixierung; er verweist auf den verlorenen Ursprung, auf eine archi-écriture, an der die Hoffnung auf Erlösung aufscheint. Till R. Kuhnle 300 El, ou le dernier livre (1973), das letzte Buch seines siebenbändigen Zyklus Le Livre des questions, eröffnet Jabès mit einer Wendung, die den Leser auf das Aleph - den Buchstaben des göttlichen Hauches, auf die ‚Metonymie’ Gottes - El [ ] - zurückverweist: „Dieu, El [ ], pour se révéler, Se manifesta par un point. La Kabbale.“ 99 Und seine erstmals bei Tel Quel veröffentlichte Schrift La Différance beginnt Derrida mit den Worten: „Je parlerai, donc, d’une lettre. De la première, s’il faut en croire l’alphabet et la plupart des spéculations qui s’y sont aventurées“. 100 Für Jürgen Habermas ist das Aleph der Kabbalisten „dem tonlosen, nur schriftlich diskriminierten ‘a’ der ‘différance’ darin verwandt, dass in der Unbestimmtheit dieses gebrechlichen und vieldeutigen Zeichens die ganze Fülle der Verheißung konzentriert ist.“ 101 Der Derrida der Jahrtausendwende wurde nicht müde, sich in die Tradition jüdischen Messianismus ein- und hineinzuschreiben, ihn zu einer messianicité - zu einem Messianismus ohne Messias fortzuschreiben, einem dekonstruktivistischen und somit kabbalistischen Messianismus, der den Utopismus zu überwinden sucht ohne die politische Bühne verlassen zu müssen. 102 Er hat definitiv in die Rolle des Reb Rida gefunden, der sich dem Rätsel der Schrift stellt, das eigentlich kein Rätsel - und somit unauflösbar - ist: 103 différ- -nce. 99 Edmond Jabès: El, ou le dernier livre, Paris: Gallimard (nrf) 1973, 7 (die Transkription nach dem hebräischen Alphabet wurde von uns hinzugefügt). Vgl. dazu auch das Gedicht „El“ von Borges (aus El otro, el mismo, in: Obras completas II, 276), das weitaus mehr meint als das Spiel mit dem spanischen Personalpronomen. 100 Jacques Derrida: „La différance“, in: Marges de la philosophie, Paris: Minuit 1972, 1-29, 1. Auch abgedruckt in Tel Quel (Hg.): Théorie d’ensemble, Paris: Seuil 1968. 101 Jürgen Habermas: „Überbietung der temporalisierten Ursprungsphilosophie. Derridas Kritik am Phonozentrismus“, in: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, 191-247, 216.Vgl. auch die Literaturangaben in der Anmerkung zu op.cit., 217f. 102 Jacques Derrida: Spectres de Marx. L’État de la dette, le travail du deuil et la nouvelle internationale, Paris: Galilée 1993 - zum Messianismus im Zeichen der Dekonstruktion vgl, z.B. op. cit., 125f; zur messianicité vgl.: Jacques Derrida: Marx & Sons, Paris: P.U.F./ Galilée (Actuel Marx Confrontation) 2002. 103 In E. Jabès: Le Livre des Questions, Paris: Gallimard (nrf) 1963, findet sich folgende Passage, mit der Derrida seinen Aufsatz „Edmond Jabès ou la question du livre“ abschließt: „Il y a le Livre de Dieu par lequel Dieu s’interoge et il y a le livre de l’homme qui est à la taille de celui de Dieu“ (Jabès, op.cit., 19; Derrida: L’Écriture et la différance, 117). Winfried Wehle ist im Kontext seiner Jabès-Interpretation ausführlich auf das Wiederaufleben der mit der Kabbala assoziierten jüdischen Hermeneutik bei Tel Quel eingegangen: „Im Zeichen des Schweigens. Durch die Sprachwüste von Edmond Jabès; in: Klaus Ley (Hg): Text und Tradition. Gedenkschrift E. Leube, Frankfurt a. M. u.a.: Peter Lang 1995, 435-457. Zum Verhältnis des Dekonstruktivismus zur jüdischen Tradition vgl. u.a. weiter: Allan Magill: Prophets of Extremity. Nietzsche, Heidegger, Foucault, Derrida, Berkeley: University of California Press, 1985, 319f. Joseph G. 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Peirce: „Jede dreistellige Relation ist ein Zeichen“, ich würde vorsichtiger formulieren, „lässt sich als Zeichen lesen“, 3 bildet als Vorschlag einer erzähltheoretischen Orientierung den Gegenstand meines Vortrags. Wie lassen sich dreistellig konstruierte Begriffe von Literatur zusammen sehen? Wie fruchtbar sind sie für die Erzähltheorie? Von den fünf Beispielen, auf die ich mich konzentrieren werde, wollte ich das dritte und vierte schon lange einmal untersuchen, das fünfte dient vor allem der abschließenden Anschaulichkeit. Das erste und zweite befanden sich gerade auf meinem Schreibtisch, als ich begann diesen Vortrag auszuarbeiten. I. Geschichte, Stimmen, Werte LISTEN BILLY PILGRIM has come unstuck in time. Billy has gone to sleep a senile widower and awakened on his wedding day. He has walked through a door in 1955 and come out another in 1941. He has gone back through that door to find himself in 1963. [...] He says. 1 Die klassische Definition: „SIGN: Anything which determines something else (its interpretant) to refer to an object to which itself refers (its object) in the same way, the interpretant becoming in turn a sign and so on ad infinitum“ (Charles S. Peirce, Collected Papers, Bd. 1-6 hrsg. von C. Hartshorne u. P. Weiss, Bd. 7-8 hrsg. von A. W. Burks, Cambridge/ Mass., 1931-1960, 2.203; vgl. auch Charles S. Peirce, Semiotische Schriften, hrsg. u. übersetzt von Christian J. W. Kloesel u. Helmut Pape, 3 Bde., Frankfurt 2000, Bd. 1, S. 375). Die Prozessualität der Semiose, so der eigentliche Grundbegriff, ist untrennbar mit der Dreistelligkeit des Zeichens verbunden, im Sinne dieses Vortrags wäre dies die epische Struktur des Zeichens. 2 Vgl. die „Synopse der triadischen Zeichenmodelle“ bei Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, 2. Aufl., Stuttgart 2000, S. 141, sowie ebd. S. 61 ff. u. 136 ff. 3 „A Third is something which brings a first into relation to a second. A sign is a sort of Third. How shall we characterize it? “ (C. S. Peirce, Collected Papers, 8.332) Hans Vilmar Geppert 306 Billy is spastic in time, has no control over where he is going next, and the trips arent’t necessarily fun. [Kurt Vonnegut: Slaughterhouse 5, 1969] 4 Auswendig gelernt, die äussere Kruste des Gewesenen, gezwängt in die Kette der Jahre, die zurückrasselt in den Brunnen. Statt der Wahrheit Wünsche an sie, auch Gaben von der Katze Erinnerung, dem Gewesenen hinterher schon durch die Verspätung der Worte, nicht wie es war, bloss was ich davon finden konnte, 1888, 1938, 1968. Damals. Jetzt. [Uwe Johnson: Heute neunzig Jahr, 1996] 5 Was haben solche Texte gemeinsam? Das ist die Alltagsfrage des Komparatisten. Und seine Arbeitshypothese ist: Treibt man solche Vergleiche weit genug, lassen sich allgemeine, theoriewertige Ergebnisse finden - sofern deren Kohärenz in einem eigenen Reflexionsprozess begründet werden kann. Wir erkennen auf den ersten Blick, auf alle Fälle bei der Zweitlektüre, die, so Roland Barthes, eine Analyse überhaupt erst sinnvoll macht, 6 wie sich hier mehrere Diskurse in verschiedenen Dimensionen spiralig umkreisen: - Wir lesen einen fiktional-phantastischen, später auf ein Science Fiction-Modell verdichteten Diskurs bei Vonnegut (der Romanheld lebt, von grünen Männchen gekidnappt, zeitgleich-zeitversetzt in den USA, in Deutschland und auf einem fernen Stern); wir lesen den weit gefassten Entwurf einer ganz persönlichen Familiengeschichte bei Johnson, die aber - Stichworte „widower“, „wedding day“ - auch bei Vonnegut von Anfang an skizziert wird. - Dann aber gibt es viele zeigend-nennende Hinweise, die einen historischen Diskurs ansprechen, z. B. die Jahreszahlen, die, kennt man die Romane, einen sehr relevanten, traumatisch-historischen Zeitraum eröffnen: „The firebombing of Dresden“, „World War II“ stehen bei Vonnegut im Untertitel, und für Johnson- Leser war 1938 z. B. das Jahr der für die deutsche Geschichte prägenden, traumatisch prägenden „Pogromnacht“, in der Gesines Mutter Selbstmord beging, um nur zwei wichtige Stichworte zu nennen. Der historische Diskurs hat offensichtlich eine eigene Form. Wir werden hier später Roland Barthes Begriff eines „diakritischen Parameters“ verwenden. - Wir erkennen mehrere „Stimmen“: „Listen“ („hört zu! “), „he says“ sind ganz offen zu differenzieren nach einem Modell mündlicher Kommunikation; mittelbarer, aber doch erkennbar artikulieren sich verschiedene Stimmen aber auch bei 4 London (= Vintage) 1991, S. 17 (der eigentliche Beginn des Romans nach dem langen Vorwort). 5 Aus dem Nachlass hrsg. von Norbert Mecklenburg, Frankfurt 1996, S. 7 u. 156; hier wird also der Schluss nach der ersten Niederschrift von 1975 zitiert, vgl. ebd. 147 ff. u. 153 ff. Heute neunzig Jahr ist eine Art Disposition des Romans Jahrestage (1970-1983). 6 Es kommt darauf an, „den Text so zu lesen als wäre er schon gelesen worden“; so lesen heute zwar nur „Randgruppen [...] Kinder, Greise und Lehrer“ (im Original „Professoren“), aber nur so kann „der plurale Text erreicht werden: immer gleich und neu (même et nouveau“, also besser: „immer neu“), den es zu entdecken gilt (Roland Barthes, S/ Z, Paris 1970, S. 22/ 23; S/ Z, dt. von Jürgen Hoch, Frankfurt [= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 687] 1987, S. 20/ 21). Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 307 Johnson. So antwortet etwa der Hilflosigkeit eines sprechenden Ich: „nicht wie es war, bloß was ich davon finden konnte“, die Sicherheit eines erzählenden, ja die eines auktorial konfigurierenden Ich, z. B. in der produktiven Zeitschichtung von „Damals. Jetzt.“. In beiden Romanen treten „the author of this book“ bzw. „der Genosse Schriftsteller“ ja auch ganz plastisch selbst auf. - Und beide Texte reflektieren und modellieren auch metapoetisch und metahistorisch, was sie erzählen. Ist nicht die „Katze Erinnerung“ bei Johnson auf ihre Weise auch unberechenbar, „unstuck in time“? Und hat nicht umgekehrt auch das schnelle Durchqueren mehrerer Zeitschichten bei Vonnegut viel gemeinsam mit dem Zeitmodell einer Erinnerung, die wie ein Sturz, ein Fallen im „Brunnen der Erinnerung“ vorgestellt wird? Wird nicht in diesen Erzählspielen den Lesern gegenüber den Zeitzwängen, ja durchaus Zeitaporien der Romanhelden ein wesentlich höheres Maß an Freiheit zugestanden und an Reflexion zugemutet? Suchen dann die beiden Diskurse nicht von Anfang an alternative Verhaltensmöglichkeiten zu den traumatischen Geschichten, die in beiden Romanen - wer sie kennt, weiß es - geradezu schmerzhaft vergegenwärtigt werden? Fordert nicht die „all-time“ bei Vonnegut 7 und auf andere, aber vergleichbare Weise auch die Zeit-Hermeneutik „Damals. Jetzt“ bei Johnson, fordern nicht beide den Entwurf von etwas Neuem gegenüber den erzählten Geschichten? Die Metapoetik übersetzt das Erzählverfahren in einen „Wertediskurs“, z. B. den über den Umgang mit leidvoll traumatischer Geschichte, ein Wertediskurs (das „Interpretans“ des Erzählens), der sich zwischen Autor und Leser entwickelt. So könnte man weiter vergleichen. Ich komme als Zwischenergebnis auf diese Beispiele noch zurück und wende mich zunächst einem anderen und auf seine Weise ebenfalls sehr sprechenden Beispiel der Weltliteratur zu. II. Wie entstehen Erzählzeichen? 8 7 Auf dem Planeten „Tralfamadore“, auf dem der Romanheld ein paralleles Leben führt (als Insasse eines Zoos), sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stets gleich gegenwärtig. 8 Bildnachweis für dieses Kapitel: Charles M. Schulz, Peanuts. In: COMICS - Weltbekannte Zeichenserien, hrsg. von Axel Brück, Kopenhagen 1970, S. 3/ 4. Hans Vilmar Geppert 308 Niemand wird bestreiten: Bei den Kästchen bzw. „panels“ handelt es sich um für das Medium Comic spezifische narrative Einheiten, „Lexien“, „Sequenzen“, „Funktionen“ (z. B. nach Propp 9 oder dem frühen Roland Barthes) 10 bzw. eben um medialzeichnerisch generierte Erzählzeichen. Auch sonst scheint Snoopy französische Literaturtheorie studiert zu haben. Achten Sie auf Panel 1 und 2: „Es war eine dunkle und stürmische Nacht.“ Es ist wichtig, dass Snoopy sich dann umdreht. Er wartet auf die Interpretation seines ersten Satzes. Claude Brémond, Algirdas Greimas u. a. haben das die „logique à rebours“, die retrospektive bzw. replikative Logik des Erzählens genannt. 11 Die Folge interpretiert die Voraussetzung. (Man könnte ja auch fortfahren: „Der goldene Retriever [Snoopys Traum-Ich] begann zu bellen“, oder „drei dunkle Gestalten umkreisten Charly Browns Haus“.) Wenn es nun weiter geht: „Da fällt ein Schuss“, dann wird das Ganze sofort dreistellig: Die Erzählzeichen (die erste Relation) bauen zweitens eine singulare, z. B. von anderen unterscheidbare Geschichte bzw. Handlung auf und drittens werden „Nacht und Schuss“ („usual“ bzw. „üblich“ würde Peirce sagen) 12 im Sinne dieses Erzählens als etwas „Gefährliches“, „Aggressives“ zu interpretieren sein. In der Tat: „Die Spannung steigt.“ Und so geht es weiter: 9 Zu Vladimir Propps „Morphologie des Erzählens“ u. a. vgl. z. B. Matthias Bauer, Romantheorie, Stuttgart/ Weimar 1997, S. 164 ff. 10 Roland Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (frz. 1966). In: Ders., Das semiotische Abenteuer, dt. von Dieter Hornig, Frankfurt 1988, S. 102-142, vgl. S. 109 ff. 11 Algirdas Julien Greimas/ Joseph Courtés: Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Paris 1979, S. 245: Die Folge der „Funktionen“, genauer die Beurteilung dieser Folge („épreuve“, „test“, Interpretation) hat die Form eines „ordre de présupposition logique à rebours, [...] régie par une intentionalité reconnaissable a posteriori“, eine umgekehrte logische Implikation (bzw. Replikation, „nur wenn p dann q“), so dass die Folge, die „Absicht“ der Aussage, das Eintreten der Folge, immer erst im Nachhinein erkennbar ist. Dieses „enchaînement à rebours“ (ebd. S. 131, eine „Verkettung gegen den Strich“) lässt immer kontrafaktische Folgen zu. Man kennt sie erst, wenn sie eingetreten sind (vgl. auch Anm. 63). 12 The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, hrsg. von Nathan Houser u. a., 2 Bde., Bloomington and Indianapolis 1998, Bd. 2, S. 490, vgl. S. 477 ff.; ders., Semiotische Schriften, Bd. 3, S. 228. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 309 „Das Mädchen schrie“ (hilflos), „eine Tür schlug zu“ (gefangen), „da... ein Piratenschiff“ - (Entführung? , Freiheit? ), auf alle Fälle eine neue („hypothetische“ und „schockierende“) 13 Interpretation. Denn wer die „logique à rebours“ zu nutzen versteht, wird die Leser immer wieder verblüffen. Sie sehen wie die Erzählzeichen eine Folge bilden, die eine Geschichte so konstruiert, dass Interpretationen bei Erzähler und Autor und v. a. bei möglichen Lesern abgerufen werden. Man kann noch mehr sehen. Denn im Comic von Charles M. Schulz wird durchaus zwischen Schreiben, Sprechen und innerem Monolog unterschieden (was Gérard Genette die Erzähl-Distanz nennt) 14 und damit eine weitere Erzähldimension (nach Peirce die Differenzierung von „immediate“ und „actualdynamic interpretant“) eröffnet. Und nicht zuletzt verstärkt hier z. B. - ein Bachtin’scher Gedanke 15 - die lachende Distanz zwischen den Sprechern diese Differenzierung. Denn Snoopy war ja keineswegs ungestört zum Schreiben gekommen: 13 Es handelt sich um die Kategorien des „Immediate Interpretant“: „Hypothetic [...] Categorical [...] Relative“ und des „Dynamical Interpretant“: „Sympathetic or Congruentive [...] Shocking or Percussive [...] Usual“, The Essential Peirce, Bd. 2, S. 489/ 499. 14 Gérard Genette, Die Erzählung (Discours du récit, 1972), dt. von Andreas Knop, hrsg. von Jochen Vogt, München 1994, S. 116. 15 „Das Verlachen [...] eines fremden diskreten Wortes“ ist die poetisch-immanente Entsprechung der „Vielsprachigkeit [als] wechselseitige Erhellung der Sprachen“, und beides ermöglicht erst auf „neuer künstlerisch-ideologischer Ebene [die] Romangattung“ (Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, dt. von Rainer Grübel u. Sabine Reese, hrsg. von Rainer Grübel, Frankfurt 1979, S. 310). Hans Vilmar Geppert 310 Wir sehen wie Leser, hier also Linus und Lucy, von Anfang an mit- und dazwischenreden. Überhaupt ist Stimmendifferenzierung (Redevielfalt nach Bachtin) untrennbar mit dem Auf- und Abbauen von Geschichten verbunden, aber immer klar davon zu unterscheiden. 16 Und achten Sie bitte einmal auf Panel 8 und 14! Snoopy 16 „Der Roman orchestriert seine Themen, seine gesamte abzubildende und auszudrückende Welt der Gegenstände und Bedeutungen [in] individueller Stimmenvielfalt“ (Bachtin, ebd., S. 157). Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 311 stellt sich genau das vor (die Comic-Sprache ist völlig klar, man kann auch sagen, er erzählt den Lesern), was Lucy, die ihm gar nicht mehr zuhören kann, sie rennt ja sofort weg, gleich gezeichnet haben wird. Beide verfügen über identische Baupläne für Geschichten, einen standardisierten oder eben „codierten“ virtuellen Speicher, ein Repertoire bzw. Paradigma möglicher Erzählzeichen, bis hin zu ganzen Geschichten. Diese Erzählsprache ist offensichtlich dem je einzelnen Zeichengebrauch vorgegeben, so wie sie ihrerseits aus erzählten Zeichen hervorgegangen sein muss. Und offensichtlich besteht zwischen der „Codierung“ einer Geschichte und dem darin involvierten, den „Code“ (der Leser) virtuell verändernden „Wertediskurs“ ein Zusammenhang. Das hatte ich am Beispiel von „unstuck in time“ und der „Katze Erinnerung“ zu skizzieren versucht. Snoopy sieht das auch so. Denn wie geht dieses „work in progress“ weiter? Man kann sehen wie Erzählzeichen sich aus Erzählzeichen generieren. Snoopy zieht ganze Romane zu einzelnen Erzählentwürfen zusammen und bedient sich immer neuer „Codes“ bzw. typisierter, standardisierter Schemata, die immer zu Wertungen herausfordern: Hans Vilmar Geppert 312 - „das kleine Mädchen hatte noch keinen Blumenstrauß verkauft (Interpretans: schluchz, schluchz! ) - „währenddessen wuchs auf einer Farm in Kansas ein kleiner Junge auf“ (implizierte Folge: aus dem wird mal was! ) - „Während das Volk hungerte, lebte der König in Saus und Braus“ (pfui! ). Nun achten Sie bitte auf den ersten Panel der letzten Reihe: Die Geschichte verselbstständigt sich „als ob“ sie real wäre. Es geht nicht um etwas bloß Mögliches. Die Geschichte behauptet ihren eigenen fiktiven Status. Sie ist nach Peirce ein „really efficient (although) altogether fictive [...] dynamic object“. 17 Sie tritt Lesern, Personen, auch dem Autor als etwas eigenständig Lebendiges entgegen (sie dreht sich um und antwortet, hatte Bachtin gesagt), 18 etwas, zu dem man sich aktuell gegenständlich in Beziehung setzen kann und soll. Was sagen uns schließlich die letzten beiden Panels? 17 Dies ist eine gezielt auswählende Zitatkollage aus C. S. Peirce, Collected Papers, 8.343 u. 8.314; an anderer Stelle definiert Peirce das „dynamische Objekt“ sehr klar als „Objekt, dessen Sein nicht von dem Zeichen abgeleitet ist, das aber das Zeichen beeinflusst, es darzustellen“ (Semiotische Schriften , Bd. 1, S. 284). Snoopy dramatisiert diesen Zusammenhang. 18 Vgl. zu dieser „kopernikanischen Wende“ (S. 55) in der Erzähltheorie, die freilich ein Freilegen strukturaler Möglichkeiten war, v. a. Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, dt. von Adelheid Schramm, Frankfurt a. M./ Berlin/ Wien 1985, S. 53 ff. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 313 Linus erwartet nicht nur, dass die Geschichte weitergeht, sondern dass der böse König (qua Wertediskurs) seine Strafe bekommt. Dann spricht das letzte Kästchen eine tiefe pragmatisch-semiotische Wahrheit aus, in der Snoopy sozusagen mit Peirce und Nietzsche diskutiert: Wo das Erzählen im weitesten und fundamentalen Sinn aufhört, wo der Fluss der Zeichen nicht oder nicht mehr auf eine Wahrheit gerichtet ist, da herrscht nackte Gewalt. So müssen Scheherezade, wenn sie aufhört zu erzählen, oder Don Quijotte, wenn der „Spiegelritter“ ihm verbietet, fortan in seinen Erzählungen zu leben, beide sterben. In James Joyce Ulysses besiegt erst die Sprache, überwindet das Erzählen den mythischen Tod des Helden. 19 Am Ende von Uwe Johnsons Jahrestagen weiß das 19 Zur Polarität von Re-Archaisierung und „Heimkehr in die Sprache“ vgl. Marion Lausberg/ Verf., Homer „Odyssee“ - James Joyce „Ulysses“. In: Verf. (Hrsg.), Große Werke der Literatur, Bd. 7, Tübingen/ Basel 2001, S. 119-151, v. a. S. 129 ff. u. 145 ff. Hans Vilmar Geppert 314 Erzählmedium Gesine ausdrücklich auch um „den Ort wo die Toten sind“. 20 So gibt es noch viele Beispiele. Roland Barthes entwickelt in seinem Modell „S/ Z“ ähnliche Gedanken, bzw. folgt ihnen in frühen Teilen von Balzacs Comédie humaine. 21 Snoopy argumentiert nicht so radikal. Aber dass das Erzählen eine tief vitale Sache ist, das weiß auch er. III. Warum dreistellig-semiotische Erzähltheorie? Dreistellige Zeichentheorie lässt sich so charakterisieren, dass wir uns Wirklichkeit erzählen. Zeichen haben für sie eine epische Struktur. Wir erinnern uns: 22 Jedes Zeichen ist eine dreistellige Relation. Jede dreistellige Relation ist ein Zeichen. Alle Erkenntnis geschieht durch Zeichen. Die Bedeutung eines Zeichens ist ein anderes Zeichen und so fort ad infinitum. „Zeichen wachsen“. Ein Fluss, ein Prozess von Zeichen konstruiert jede Wirklichkeit und kann sie wieder auflösen. Wenn das „in the long run“ nicht auf einen Zweck zwangfrei gemeinsamer Wahrheit gerichtet sein „könnte“, könnte nichts ein Zeichen sein. Wie immer Philosophen, Theologen, Mathematiker, Linguisten, oder andere -isten, -iker, -ophen und -ogen, die es nicht zuletzt auch unter den Studierenden gibt, mit dieser Theorie zurecht kommen mögen oder nicht, für eine Erzähltheorie bietet sie einen (meiner Überzeugung nach unübertroffen) fruchtbaren Ansatz. Allerdings, wenn jede Bedeutung eines Zeichens ein anderes Zeichen ist, dann hat das etwas produktiv „Vages“ („logic of vagueness“). Für die Erzähltheorie stellt die dreistellige Semiotik eine „Metasemiotik“ dar, eine „meta-analytische“ Theorie. Sie gibt keine Inhalte vor (religiöse, psychische, soziale, gender-spezifische, kulturelle etc.), denen die Analyse zuzuarbeiten hätte. Sie hilft Fragen zu stellen, Methoden zu klären und sozusagen zu „programmieren“, und insbesondere bietet sie einen Ansatz, mehrere, verschiedene, aber jeweils plausible Theorien, z. B. Erzähltheorien ineinander zu übersetzen. Ja, sie ist auf „Fachsprachen“ und spezifische Konstruktions- und Analyseverfahren angewiesen, hier vor allem eben die der verschiedenen Erzählmedien. Nur über den Dialog mit anderen und fortschreitend immer genaue- 20 Uwe Johnson: Jahrestage 4. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Frankfurt 1983, S. 1891. 21 Deren der Entstehung nach erste Szene (Le dernier Napoléon, 1830: das historische Genie zur Geldmünze im Glücksspiel verkommen) hatte mit einem „suicide retardé“ (Bd. 10, S. 88) geendet, so dass das gesamte Erzählwerk als dieser „verzögerte Selbstmord“ gelesen werden kann (vgl. Honoré de Balzac, La Comédie humaine, hrsg. von P. C. Castex, 12 Bde., Paris 1976- 1981, Bd. 10, S. 57 ff. u. 1211 ff.). 22 Dieser Vortrag schließt an an Verf., Bedeutung als unendlicher Prozess. C. S. Peirces Semiotik und ihre literatur- und medienwissenschaftlichen Perspektiven. In: Verf./ Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur, Bd. 1, Tübingen/ Basel 2003, S. 141-164. Die Grundbegriffe dieser Semiotik erläutert jede Einführung, z. B. Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 59 ff.; oder Daniel Chandler, Semiotics. The Basics, London 2002, S. 32 ff.; eine sehr gute erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Einführung gibt Helmut Pape, Einleitung zu C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 1, S. 9-83, Bd. 2, S. 7-79, Bd. 3, S. 9-72. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 315 ren Erzähltheorien kommt die dreistellige (Meta-)Semiotik zur „Sache“, anders gesagt, kann sie uns lehren, immer besser zu lesen. So sind viele dreistellige Literaturtheorien als Erzähltheorien darstellbar. Aber interessanterweise - daher der „metasemiotische“ Ansatz - sind sie fast nie deckungsgleich. Es ist, als kreise der dreistellige Zeichen- und Erzählraum um wechselnde Achsen und als zeige er dabei immer wieder andere, aber immer auf triadische Begriffe rückführbare Schnittflächen. 23 Sicher z. B. kann man aus Aristoteles’ Poetik (etwa 335 v. Chr.) eine dreistellige Relation heraus„schneiden“ bzw. sie in sie hinein„konstruieren“: zwischen Erzählentwurf bzw. literarischem „Machen“ (poiesis), anschaulicher Handlung als „Darstellung handelnder Menschen“ (mimountai prattontas) und jenem interpretierenden Zuordnen allgemeiner Bedeutungen (katholou legein), das erst ein Ganzes schafft, den mythos, 24 den „plot“, wie nicht zuletzt die Aristoteles-Rezeption des 20. Jahrhunderts formulierte. 25 Und all das ist dynamisch bzw. „energisch“ prozessual aufzufassen, durchaus als eine mehrdimensionale Spirale. Denn diese „Mimesis“ ist Teil der Geschichte (z. B. der Polis, die sich mit dem Mythos identifizieren kann), aber sie bedeutet immer auch eine Bewegung im Denken, in einem denkenden Bearbeiten von Wirklichkeit, und in beidem eine zirkelhafte Veränderung der sprachlichen und literarischen Formen, die eben Formen dieser denkenden Wirklichkeitsbearbeitung sind. Dem Zirkel von vorformulierender praefiguratio (vergleichbar den „kulturellen Codierungen“ bei Roland Barthes, dazu gleich), jeweiliger literarischer configuratio und retro-summierender, wieder in Kultur und Geschichte sich einschreibender refiguratio, den Paul Ricœur in der aristotelischen Mimesis herausgearbeitet hat, 26 entsprechen dann v. a. und völlig kohärent die drei Kategorien des „Interpretans“ bei Peirce (immediate, zeichenunmittelbar bzw. „direkt“, actual, der jeweilige Interpreations-Akt, und final, immer nur ein vorläufiger, insbesondere kritisch zu klärender, 27 insofern ein zuletzt futurische 28 , also „retrospektive“ bzw. „refigurierende“ Finalität 29 beans- 23 Diese Metapher verdankt sich André Gides Programm, das erzählte „Stück Leben“ („une tranche de la vie“) nicht nur, wie die „als ob“-Mimesis es nahe legt, in die Richtung der Handlungs-Zeit zu „schneiden“ - „toujours dans le même sens; dans le sens du temps, en longueur. Pourquoi pas en largeur? ou en profondeur? “ -, sondern auch in die Breite, die Tiefe, in alle Richtungen (André Gide, Les faux-monnayeurs, Paris 1925, S. 184). 24 Aristoteles, Poetik. Griechisch/ Deutsch, übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 4/ 5, 6/ 7, 20/ 21 (der „Mythos“ als „Zusammenfügung der Geschehnisse“), 28/ 29 (über Geschichtsschreibung und Dichtung, die „mehr zum Allgemeinen redet“). 25 Vgl. Bauer, Romantheorie, S. 168 ff., v. a. S. 188 ff. 26 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, dt. von Rainer Rochlitz, 3 Bde., Bd. 3, München 1988, S. 87 ff., vgl. S. 54 ff. 27 „The final interpretant does not consist in the way in which any mind does act but in the way in which every mind would act“ (C. S. Peirce, Collected Papers, 8.315). 28 „Die Art der futurischen Zeitform des logischen (eine der vielen Umformulierungen für „gedacht final“, H. V. G.) Interpretanten [ist] die konditionale Aussageform [...], das würde - sein’“ (C. S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3, S. 254). 29 „The deliberately formed, self analyzing habit - self analyzing because formed by the aid of analyzis of the exercises that nourished it - is [...] the veritable and final interpretant“, anders Hans Vilmar Geppert 316 pruchender Wahrheitsbezug). Und zusammengenommen sehen wir das, was hier die Dynamik des Wertediskurses heißen soll. Nicht nur viele Kategorien dreistelliger Semiotik, auch viele Literaturtheorien sind aus den Systemen der Rhetorik hervorgegangen. Das Interesse an den Medien hat auch das an Rhetorik erneuert. Und deren klassisches System hat immer die narratio, die Erzählung (des Sachverhalts nach dem Modell der Gerichtsrede) vorgesehen. Aber eine linear (nach dem Modell der tractatio, der Arbeitsschritte) aufgelöste Darstellung der Rhetorik 30 verdeckt deren innere Relationen. Es ist klar, dass nicht nur die argumentatio, die Beweis- und Überredungsstrategie (das „Herzstück“) auch die narratio prägt (obwohl sie ihr in der dispositio, der Anordnug der Redeteile folgt; aber hier herrscht eben eine deutliche „replikative“ Logik: Der Täter wird den Hergang anders erzählen als das Opfer, erst recht der jeweilige Anwalt etc.), sondern dass die Topik einerseits (das Repertoire rhetorischer Muster), das aptum andererseits (die Zweckmäßigkeit der Rede schlechthin) den ganzen rhetorischen Prozess durchdringen: Es gibt keine voraussetzungslos argumentierende Rede, und diese ist kein Argument, wenn sie nicht das Ziel hat, Entscheidungen herbeizuführen. Dann ließe sich das seit je dreistellig aufgefasste Schema der Argumentation (adsumptio, der gesetzte „Fall“, propositio, die vorgeschlagene „Regel“, und complexio, das „Resultat“) konsequent erweitern: Denn die complexio ist bzw. enthält eine argumentativ geklärte narratio / adsumptio, also eine besser und entscheidbarer erzählte Geschichte, so wie die Topik eine Sammlung exemplarischer Fälle, also früherer „Rechts-Geschichten“ darstellt und wie das aptum darauf zielt, die latente Topik in den Köpfen des Gerichts oder der Volksversamm- gesagt: „a Sign of itself, containing its own explanation and those of all its significant parts“ (C. S. Peirce, Collected Papers, 5.491 u. 2.231). 30 So etwa die Übersicht in Karl-Heinz Göttert, Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe - Geschichte - Rezeption, 2. Aufl., München 1994, S. 230, die lateinischen Begriffe finden sich in den einzelnen Kapiteln, v. a. S. 25 ff.; eine knappe, literarisch orientierte Einführung gibt Verf., Rhetorik und Literaturtheorie, in: Verf./ Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur, Bd. 2, Tübingen/ Basel 2005, S. 49-83, vgl. dort auch zur Argumentationstheorie S. 74 ff. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 317 lung etc. zu aktivieren und auch zu verändern. Es geht darum, selbst Geschichte zu „machen“, was für Grundsatzentscheidungen beispielsweise ja ganz wörtlich gilt. Die Rhetorik hat, erzähltheoretisch „vage“ formuliert, schon immer Geschichten aus Geschichten für Geschichten konstruiert, natürlich auch negiert, als überholt und ungültig erwiesen und so fort. Sie wird immer von verschiedenen Parteien, bzw. „Stimmen“ für andere Parteien (v. a. die Entscheidungsträger) ausagiert, bzw. eben „aktualisiert“. Und v. a. involviert sie immer „Werte“, wie eben die Geltung von Gesetzen oder Überzeugungen oder moralischen Maßstäben aber etwa auch Gefühlen. Eine „rhetoric of fiction“ ist nach wie vor ein fruchtbarer Ansatz, und eine dreistellig semiotische Erzähltheorie kann sich auf die klassische wie die „neue Rhetorik“ berufen und von ihr lernen. Allerdings handelt es sich hier bei den rhetorisch „zweckmäßigen“ Reden um „Erzählungen“ spezifischer Form und spezifischen Interesses. Es zeigt sich immer wieder, dass keines der triadischen Zeichen-, Sprach- und Literaturmodelle mit anderen genau deckungsgleich ist. Nur abstrakt und „vage“ lassen sie sich verbinden, aber genau das ist produktiv für die Erkenntnis. Roman Jakobsons Kommunikations- und Poetik-Modell beispielsweise ist inzwischen selbst „klassisch“ geworden. 31 Es hat linguistische, rhetorische (die Universalität von Metonymie und Metapher) 32 und philosophische Wurzeln und wurde nicht zuletzt auch von Peirce angeregt (die Dialektik von Code und Message, Bedeutung als Prozess). 33 Auf alle Fälle kann man sich das für seine Poetik zentrale Kommunikationsmodell leicht dreidimensional vorstellen und entsprechend erzähltheoretisch erweitern: Der „Referent“ würde jetzt als „Geschichte“ identifizierbar (nicht „deckungsgleich“, aber relational gleichwertig), „Sender“ und „Empfänger“ bildeten die beiden, nun freilich weiter, viel weiter zu differenzierenden Pole der „Stimmenvielfalt“, der „Code“, in der Dialektik zur „Message“ und damit in Wechselwirkung zu allen Funktionen zu sehen, wäre - den Begriff „Wert“ weit genug gefasst, von Lautwerten bis zu solchen der Ethik beispielsweise - als Werteparadigma oder -system wiederzuerkennen, das man sich freilich im Erzählen noch mehr als in der Sprache (vgl. dazu gleich z. B. Roland Barthes‘ Begriff von „Code“) nur prozessual und dynamisch, eben als „Wertediskurs“ vorstellen darf. Interessant wäre es, den Ansatz der „Äquivalenz-Projektion“ 34 als dreifach wechselwirkende Dynamik zwischen diesen Dimensionen des Erzählens zu begreifen, so 31 Roman Jacobson, Linguistik und Poetik (1960), in: Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hrsg. von Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert, Frankfurt 1979, S. 83-121, vgl. v. a. S. 88-96. 32 Vgl. ebd. S. 192 ff. 33 Das Problem der „Zeit in der Systematik der Zeichen“ sah Jakobson z. B. wie Peirce („der größte amerikanische Denker“) wesentlich im Sinne einer Theorie, die Bedeutung als ein „esse in futuro“ auffasst (Roman Jakobson/ Krystyna Pomerska, Poesie und Grammaik. Dialoge, dt. von Horst Brühmann, Frankfurt 1982, S. 82/ 83, vgl. ebd. S. 53 ff.); vgl. auch ders., Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982, hrsg. von Elmar Holenstein, Frankfurt 1992, z. B. S. 99 ff. („Peirce, Bahnbrecher in der Sprachwissenschaft“). 34 „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ (Roman Jakobson, Poetik, S. 94). Hans Vilmar Geppert 318 dass etwa Wert-Muster selektiv-kombinatorisch von Stimmen-Konstellationen vertreten, aber auch verändert werden, die wiederum mit der Segmentierung, Verkettung aber auch selektiven Verkürzung von Geschichten (der „semantische Code“ und der „proaïretische“ nach Roland Barthes) kommunizieren, und das so, dass deren Kombinations-Muster zumindest selektiv wieder in den „Code“ übernommen („refiguriert“ nach Ricœur) werden. Auch wenn das jetzt nicht ausdifferenziert werden kann, fruchtbar könnte es sein. Dass der Erzähltheorie Michail Bachtins dreistellige, prozessuale Entwürfe zugrunde liegen (Wort - Gegenstand - andere Worte; die Triade von: Lachen / Karneval, Dialog und Monolog), dass sie vor allem immer in der Relation von Sprache, Wirklichkeit und wertender Interpretation dieser Relation (was Bachtin „Ideologie“ nennt) gesehen werden muss, habe ich an dieser Stelle vor zwei Jahren gezeigt. 35 Erlauben Sie zum Abschluss dieser bewusst „klassischen“ Orientierung an der Tradition einen Blick auf ein weiteres dynamisch-plural konzipiertes und inzwischen ebenfalls „klassisches“ Erzählmodell. IV. Wie entstehen Erzählzeichen (2)? Roland Barthes‘ Modell „S/ Z“, gelesen als Entwurf dreistelliger Erzählanalyse und -interpretation Viele der (1968/ 69 erarbeiteten, französisch 1970, 36 deutsch 1976 37 veröffentlichten) Thesen Roland Barthes‘ werden heute weitestgehend akzeptiert. Ich nenne nur die Stichworte: der plurale Text (14), der Realitätseffekt - hier ist leider gleich ein Übersetzungsfehler anzumerken: „Code sur code, dit le réalisme“ 38 heißt „Code über Code, genannt Realismus“, nicht „sagt der Realismus“ (59); es geht um eine Theorie, nicht um ein Programm, ein Konstrukt, „ein Code erzählt von einem anderen“ (ebd.), nicht um Illusion; weitere inzwischen breit akzeptierte Stichworte wären: die Konstruktion des Erzählten aus dem „schon Gelesenen“, die Ersetzung der Struktur durch die Strukturierung, überhaupt die Verabschiedung der Semiologie (einer Zeichentheorie nach dem Modell der Sprache) und damit die Kündigung jener Tradition, dass wir, wir analytischen Leser, „dem Prestige der Linguistik unterworfen“ bleiben sollten (15); schließlich zu nennen wäre die Priorität der Konnotation und die Auffassung von „Code“ als Prozess - was mit anderer Formulierung und v. a. anderem Interesse (dazu gleich) der Vorstellung „unendlicher Semiose“ bei Peirce und seinen Nachfolgern zumindest nahe kommt: Was hier Code genannt wird, ist also keine Liste, kein Paradigma, das es, gleich wie, zu rekonstruieren gälte. Der Code ist eine Perspektive [...]. Von ihm kennt man nur Weggehen 35 Verf., Vom Erzählen, vom Lachen und von der Zeit. Eine Einführung in Michail Bachtins Erzähltheorie. In: Verf./ Hubert Zapf (Hrsg.), Theorien der Literatur, Bd. 3, Tübingen/ Basel 2007, S. 61-79. 36 Roland Barthes, S/ Z, Paris (= Collection Tel Quel, Éditions du Seuil) 1970. 37 Roland Barthes, S/ Z, dt. von Jürgen Hoch, Frankfurt (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 687) 1987. Diese Ausgabe wird im Text dieses Kapitels zitiert. 38 Roland Barthes, S/ Z (1970), S. 61. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 319 und Rückkehr. 39 Die aus ihm hervorgegangenen Einheiten (die in der Inventur auftauchen) sind selber immer wieder Textausgänge, Markierung, Merkpunkt einer virtuellen Abschweifung auf den übrigen Katalog hin [und] ebensoviele aufleuchtende Splitter von [...] Etwas, das immer schon gelesen, gesehen, getan, gelebt war: der Code ist die Pflugspur von diesem Schon. 40 Wenn er auf das verweist, was geschrieben worden war, das heißt auf das große Buch 41 (der Kultur, des Lebens, des Lebens als Kultur), macht er aus dem Text den Prospekt dieses Buches. [25] Das entspricht schon auch jener „logique of vagueness“, die Peirce für seine Semiotik reklamierte. Man muss sich allerdings vor Augen halten, dass es Roland Barthes hier nicht um eine allgemeine Zeichen- oder Sprach-, sondern um eine Erzähltheorie geht. Er fasst das Erzählen und Lesen „des Lesbaren“ auf als mehrdimensionalen Prozess, als „Pluralität und [...] Kreisbewegung der Codes“ (81), ein „Kreis von Verbundenem [...] in dem alles zusammenhängt“ (156). 42 Und er sucht diesen Erzählraum mehrfach progressiv und regressiv, fortschreitend und zurückgreifend zu linearisieren und dann zu vernetzen. Was er die „codierten“, wie offen immer ausgegrenzten Einheiten eines „virtuellen Katalogs“ einerseits, einer im Lesen erstellten „Inventur“ andererseits nennt - man kann das dynamisierte, kreativ aufgelöste Begriffspaar von Paradigma und Syntagma erkennen (argumentischem legi- und dicentischem sin- Zeichen) - darf man aus Erzählzeichen (narrativen „Einheiten“) sich aufbauende und abbauende „Geschichten“ nennen: „Sequenzen“, deren „Sinn [ein] ständiges Flechten ist“ (24), aber auch ein immer neues „Zusammenfalten“, also Verkürzen „von Namen zu Namen“, die über diese Sequenzen geschrieben werden - wir denken an Snoopy -, ein Lesen von „Erscheinungen [...] als diskontinuierliche Gebilde“ (86), wobei dieses retrospektive („retentionale“) 43 Verkürzen und Zusammenfalten eben auch Weglassungen enthalten muss, denn „gerade weil ich vergesse, lese ich“ (16). Wenn Roland Barthes den Begriff Paradigma durch den des „Schon-Gelesenen“ ersetzt, man kann genauso sagen, des Schon-Erzählten (Geschichten aus Geschichten, wie ebenfalls schon Snoopy wusste), dann wird auch der von Barthes, allerdings implizit, aber darin doch recht klar angeführte Hinweis wichtig, dass das Forterzäh- 39 „Des départs et des retours“ (ebd. S. 27), wörtlich: „Verabschiedungen und Rückkehren“, also je singulare Markierungen, die eine offene Menge im Plural bilden. 40 „le sillon de ce déjà“ (ebd. S. 28), „Pflugspur“ ist eine dynamischere Vorstellung als etwa „Furche“; die Übersetzung ist treffender als das Original. 41 „le Livre“ (ebd.), das singulare Buch. 42 „Le lisible [...]: ‘tout se tient’ / “Das Lesbare [...]: Alles hängt zusammen“ lautet bereits die Überschrift dieses Kapitels (ebd. S. 161, vgl. S. 162); indem Barthes diese berühmte Definition de Saussures für die „langue/ Sprache“ bewusst zweimal aufnimmt, macht er erneut klar, dass der Zeichen- und Interpretationsprozess an die Stelle eines Sprachsystems treten soll. 43 „Jeder Augenblick der Lektüre ist eine Dialektik von Protention und Retention, indem sich ein noch leerer, aber zu füllender Zukunftshorizont mit einem gesättigten, aber kontinuierlich ausbleichenden Vergangenheitshorizont [...] vermittelt“ (Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, München, 4. Aufl. 1994, S. 182). Hans Vilmar Geppert 320 len dieses „Schon“ auch dessen Umerzählen, auf alle Fälle ein „Verändern“ 44 ist. Eine „Pflugspur“ setzt eben einen Prozess des „Umbrechens“ voraus. So wird im Erzählen auf „das große Buch [...] des Lebens als Kultur“ nicht nur verwiesen, die Texte, genauer, die Spiralen der Diskurse sind nicht nur unilateral „Prospekt dieses Buches“, seine endlos perspektivierte Projektion - zeigt sich hier immer noch der Strukturalist in Barthes? 45 Auf alle Fälle ist Peirce‘s Begriff des unendlich-finalen Interpretanten wesentlich näher am hermeneutischen Zirkel zu sehen, als Barthes‘ „Stimme des Wissens“. Das große Buch der „kulturellen Codes“, die zusammen „den Diskurs der Anderen“ bilden (des Praefigurierten, der direkten Interpretanten) wird im Erzählen auch immer, zumindest virtuell verändert, da es eben lediglich eine „endoxale Wahrheit“ (183), eine Wahrheit des Meinens vertritt. Nichts „Schon Gelesenes“ bleibt wieder gelesen dasselbe. Das schließt viel mehr lesende Kritik, Rejektion, retrospektive Neufassung ein als Barthes ausformuliert. (Methodisch praktiziert er es unablässig.) Denn leben kann ein „kultureller Code“ nur, wenn er praktiziert wird, und das setzt Überzeugungen („beliefs“) und Stellungnahmen voraus, eben das was ich - allerdings orientiert am Programm How to Make Our Ideas Clear 46 - den „Wertediskurs“ nenne. Was man auf dem Weg von der dreistelligen, gezielt abstrakten Meta-Semiotik zu einer methodologisch fruchtbaren Erzählanalyse von Roland Barthes‘ „S/ Z“-Modell vor allem lernen kann - anregend ist alles, was er geschrieben hat immer -, ist der konsequent durchdachte Entwurf einer Genese von Erzählzeichen: Barthes geht davon aus, dass sie nicht wie Worte einer Sprache vorweg codiert, ja, dass sie überhaupt nicht so codierbar sind. Die Sprache ist für die Narrativik ein Medium, so wie Linien, Flächen, evtl. Farben für den Comic, Schauspieler, Lichtverhältnisse, „set“ etc. für den Film und so fort. Die Erzählung, genauer die Leser - das Erzählen spricht „zur Aktivität des Lesers“ (95) - formen daraus selegierend und kombinierend, was ihnen bequem ist („eine Sache der Bequemlichkeit“, „affaire de commodité“, 47 „es genügt, wenn [es] der bestmögliche Raum ist, in dem man die Bedeutungen 44 Die „in den Text eingezogene Welt“ (das Schon-Gesehene, -Gewusste, -Gelesene) erfährt in dessen Perspektivismus „eine Veränderung“, die ihre Themen „als bloße Positionen noch nicht besitzen können“ (Wolfgang Iser, ebd., S. 166/ 167). 45 Er sucht, wenn ich recht sehe, die Struktur nicht zu „dekonstruieren“ (was immer nur eine Metapher ist), sondern indem er ihre „Spuren“ pluralisiert, sie auszuhalten: „Nur das Schreiben kann sich, indem es das möglichst weite Plurale in seine Arbeit aufnimmt, ohne Handstreich dem Imperialismus jeder Sprache entgegensetzen“ (S/ Z, 1987, S. 204). Dies wird in seinem Vortrag Leçon vom 7. Januar 1977 noch klarer: „Die Sprache [...] ist ganz einfach faschistisch“, die „Kräfte der Literatur [...] Mathesis, Mimesis, Semiosis [...]“ sollen als „Arbeit des Verschiebens“ („travail de déplacement“) gegenüber der „Sprache“ begriffen werden, v. a. die „semiotische Kraft“ der Literatur besteht darin, „die Zeichen eher zu spielen als sie zu zerstören“ („jouer les signes plutôt que de les détruire“) und so fort (Roland Barthes, Leçon/ Lektion: Französisch und Deutsch. Antrittsvorlesung im Collège de France, dt. von Helmut Scheffel, Frankfurt 1980, S. 18/ 19, 24/ 25, 40/ 41). 46 The Essential Peirce, Bd. 1, S. 124, vgl. ebd. ff. (es handelt sich um den Titel einer Aufklärungsschrift von 1878). 47 Roland Barthes, S/ Z (1970), S. 20. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 321 beobachten kann“, 18). Barthes nennt das eine „Lexie“, eine narrative Einheit, die semantisch interessant ist. Und man muss sie sich sogleich mindestens dreistellig vorstellen. Denn es wird aus dem Strom medialer Zeichen ein Teil einer(Handlungs-) Sequenz herausgetrennt und unter einem, mindestens einem „Sem“ zusammengefasst, bzw. so Barthes, ganz einfach „benannt“: Der „Name stellt die Sequenz auf“ (24). 48 Man kann diese Semantisierung auch Interpretation nennen. Ein solches dreistelliges Erzählzeichen kann ein Satz sein: (Der Satz als „Repräsentamen“ entwirft ein fiktives „Objekt“, die in vielen Zeitfragmenten lebende Romanperson, unter dem „Interpretans“, der Bedeutungs- Zuordnung: „zeit-krank“, „unkontrollierbar diachron“ etc., was weiter zu deuten, bzw. eben zu erzählen wäre.) Ein solches Erzählzeichen kann eine Satzgruppe, ein Abschnitt, aber z. B. auch ein ganzes Buch sein, das sich zusammenfassen lässt: Es kann eine Metapher sein wie die „Katze Erinnerung“, also ein multipel benennbares, mehrfach interpretierbares, aber in jedem Fall lesbares Erzählzeichen. Hier können aber auch medial-semantische Einheiten narrativ für eine ganze Novelle oder einen Roman relevant werden, die lediglich ein Morphem umfassen oder noch kleiner sind. So liest Roland Barthes (vgl. 22 ff.) den kleinen phonologischen - für Schwaben gleich gar nicht vorhandenen - Unterschied von „S/ Z“, stimmlosem und stimmhaftem „s“ als Interpretation des für französische Ohren weiblich klingenden Suffixes „-ine“ im Novellentitel Sarrasine, einer Novelle von Balzac von 1830. (Denn es geht um die leidenschaftliche Liebe des Helden mit diesem Namen zu einer schönen Sängerin und um das grausame, für ihn zuletzt tödliche Spiel der Gesellschaft mit ihm, sofern die Schöne sich schließlich als Kastrat erweist.) Barthes liest dieses 48 „C’est ce nom qui fait la séquence“ (ebd. 26); auch jetzt, da es sich ja sozusagen um eine „gebastelte“ Konstruktion handelt, ist die Übersetzung anschaulicher als das Original. Hans Vilmar Geppert 322 minimale Erzählzeichen (letztlich noch ganz strukturalistisch) als (dichotomisches) System von „männlich - weiblich“ und „Leben - Tod“, „aktiv - passiv“, v. a. „kastrierend - kastriert“ (40/ 41). Aber es gibt natürlich auch anders zu semantisierende bzw. zu „benennende“, v. a. viel deutlichere Mikro-Erzählzeichen, z. B. das Phonem „ R“ in Charlotte Brontës Jane Eyre (1837), das je nach sprachlich verschiedener Codierung gelesen und - was entscheidend ist - im Text als narrativ relevant nachgewiesen werden kann: englisch „air“ als „Luft“ (und Freiheit), „Miene“ (und gesellschaftliche Maskierung), „Musikstück“ (die emanzipatorische Bedeutung von Kunst), phonematisch gleich „heir“ als „Erbe“ (um ihr Erbteil wird Jane betrogen), französisch auch als „ère“, „Zeitalter“ (für das Janes Schicksal repräsentativ ist), als Stammsilbe von „airain“, also „aus Erz“ (das Selbstbewusstsein von Currer Bell, so Charlotte Brontës Pseudonym, eine „Glocke“ mit einer „Stimme von Erz“, Offenbarung 1. 10 u. 14), durchaus auch deutsch als „er“ (männliches Personalpronomen - der erste weibliche Bildungsroman der Weltliteratur), 49 als Graphem auch als „Eire“, „Irland“ (im 19. Jahrhundert ein Synonym für „Armut“). Werden so nicht in der Tat große Teile des Romans durch ein minimales Erzählzeichen „benannt“? 50 Man sieht: „Code sur Code“, eine Bedeutung über die andere gelegt, ein Zeichen, viele Erzählungen, „dit le réalisme“, das wird (zu Recht) realistisch genannt. Anders gesagt, und jetzt spricht der Semiotiker, wenn aus Sprachzeichen, Comic-, Film- oder anderen medialen Zeichen Erzählzeichen generiert werden und aus denen wieder weitere Erzählzeichen und so fort, dann gilt prinzipiell dasselbe Prinzip unendlicher Semiose wie bei jener „Pflugspur des Schon“, die das Verhältnis von Paradigma und Syntagma dynamisiert hatte. Die Folge - ich erinnere an die replikative „logique à rebours“ - verändert die Voraussetzung und so fort. Bestimmte Handlungssequenzen oder Sequenzteile oder Geschichts-Momente werden ausgewählt, indem sie „benannt“ bzw. interpretiert werden, andere nicht, bzw. „vergessen“, es wird gesammelt, artikuliert, „zusammengefaltet“ (eine sehr anschauliche Formulierung), überschrieben, aber auch (Beispiel „S/ Z“) unterschritten. Der Aufbau von Erzählzeichen ist immer auch der Abbau, das auswählende Zerlegen anderer. Strukturierung und Dekonstruktion setzen einander voraus. So ist etwa der Satz „Billy is spastic in time“ eine „bennennende [...] Zusammenfaltung“ des ersten Abschnittes. Man könnte ihn nach der Lektüre des ersten Abschnitts schräg oder fett darüber schreiben, aber auch alle Worte, die nicht mehr gebraucht werden durch- 49 Bei Vorträgen und manchen Rezensenten gab es an dieser Stelle oft energisches Kopfschütteln. 50 Vergleichbar lässt sich das „Rot“ und „Schwarz“ in Stendhals Le rouge et le noir (1830) lesen: Militär und Kirche, die Felder im Roulette, Liebe und Tod, oder das „grün“ in Kellers Der grüne Heinrich (1849-1855): unreif, Jacke aus dem Nachlass des Vaters, Außenseiter (qua eigenwilliger Kleidung), „Natur“ suchend, ein „grüner Narr“ auf einen „zypressendunklen“ Tod zu lebend, auf Heinrichs „grünende Dornenkrone“ anspielend, in den „grünen Pfaden der Erinnerung“ reflektiert und aufgehoben usw. Die Polysemie des Erzählzeichens Romantitel wird von einer zur Folge von Metonymien geordneten Kette ausgewählter Text-Lexien interpretiert (vgl. Verf., Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1994, S. 81-90). Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 323 streichen und sie einzig durch „spastic“ neu verbinden - alles wohlgemerkt erst retrospektiv so gelesen (und vielleicht so, dass alles Durchgestrichen-Gelesene, wenn man will, lesbar bleibt). Wie auch immer, und wie viele Fragen hier natürlich noch offen bleiben mögen, Roland Barthes‘ Modell „S/ Z“ stimmt darin mit einer dreistelligen „epischen“ Semiotik überein, dass dieser erzählende Fluss und immer neue Umbruch („Pflugspur“) von Zeichen keinesfalls beliebig verläuft. Obwohl er sicher der Chance des Chaos bedarf. 51 Denn nichts kann auch nach Roland Barthes ein Erzählzeichen sein, nichts kann narrativ „markiert“, segmentiert, benannt bzw. interpretiert werden - in der kreativen Aktivität des Lesens -, das nicht dem mobilen Raum aller „fünf Codes“, wie er sie nennt, also einer Spielart des vollständigen Zeichens zugeordnet wird. Wie wären Barthes‘ „fünf Codes“ (eingeführt 23-26) dreistellig zu lesen? - Was Barthes den „semantischen Code“ nennt, umschreibt den medialen, hier sprachlichen Entwurf von Erzählzeichen, sofern diese immer erst als interpretierte gesetzt („gemacht“, „aufgerichtet“) werden können. Snoopy‘s Beispiel „Das kleine Mädchen im dünnen Schal“ erhielte nach Barthes das SEM „Armut“. Der semantische Code ist die Voraussetzung aller anderen, er erfasst immer wieder die mediale Genese des Erzählens. (Auch wenn etwa ein Kind mit einem Schuh und einem Tennisball spielt, werden diese zu Zeichen: Auf einmal sitzt der Ball im Schuh und „brrr“ fährt das [iconisch modellhaft entworfene] Auto los.) Dreistellig gesehen muss freilich zum „immediate“ bzw. „direkten“, „unbzw. immittelbaren“ Interpretans (in diesem Fall dem hypothetischen, „usual“ replizierten Begriff „Armut“) ein „immediate object“ hinzu entworfen werden, z. B. eine Vorstellung von etwa „Auto mit Fahrer“ für den kleinen Jungen oder etwa für Snoopy ein „insert“ im Comic-Panel, das eben dieses kleine Mädchen zeigt. (Ganz entsprechend, die Semiose ausformulierend, sagten Hörer des Vortrags, sie stellten sich jetzt eine berühmte Einstellung aus Charly Chaplins Film Modern 51 Und Roland Barthes ist zudem daran interessiert, das Schreiben von jeder Dominanz eines Systems, eines „kulturellen Codes“, einer Ideologie etc. zu befreien - gerade weil er wie wenige andere, deren Macht kennt (vgl. z. B. Roland Barthes, Mythen des Alltags, dt. von Helmut Scheffel, Frankfurt 1970). Wenn es lange einen „eisernen Vorhang“ zwischen dem zweistelligen Zeichenmodell des Strukturalismus bzw. der Semiologie und der dreistelligen Semiotik gab, so versucht Barthes diesen von seiner Seite aufzubrechen, bleibt aber dyadischen Konzeptionen verhaftet und gelangt nicht sozusagen auf die dreistellige Seite - deren impliziten Pragmatismus eines finalen Konsensund/ als Wahrheitszweck lehnt er auf alle Fälle ab. Die „Stimme der Wahrheit“, der „hermeneutische Code“ ist nur eine Zeichen-Interpretations-Relation unter anderen, und z. B. gegenüber dem Anspruch jeder hermeneutischen Philosophie sehr viel enger, letztlich auf ein gelenktes Rätsel-Spiel reduziert. Aber es wird diese Erzähldimension angesprochen, und sofern Barthes‘ „hermeneutischer Code“ dem Peirce‘schen Argument der „Abduction“ - dem Erfinden und Durchspielen möglicher (hypothetisch-problematischer) Problemlösungen auffallend nahe kommt (vgl. z. B. Charles Sanders Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. u. übers. von Helmut Pape, Frankfurt 1983, S. 89 ff.), kann man sehen, wie Barthes in der Tat selektiv die Dimensionen des Erzählens anspricht, die wir dreistellig zu entwickeln suchen. Hans Vilmar Geppert 324 Times vor oder etwa Audrey Hepburn in My Fair Lady: andere Interpretanten, die ein fiktives „Objekt“ umkreisen.) - Der Sache nach sieht das auch Barthes so, sofern die „Codes“ zwar zu unterscheiden, keinesfalls aber zu trennen sind. So bezeichnet Barthes den „semantischen Code“ auch als „Stimme der Person“. Diese Relation ist die in „S/ Z“ am engsten und genauesten herausgearbeitete („Person und Diskurs sind einander Komplizen“, 178). Hier, also im Prinzip: Stimmenvielfalt verschiedener Autor-, Erzähler-, Personen- und Leser-Stimmen, trifft sich Barthes im Prinzip (allerdings nur im Prinzip) etwa mit Bachtin (und vielen anderen). Nach Peirce entspricht dem der (pragmatische) Grundsatz, dass erst „actual interpretants“, z. B. als Frage, Behauptung, Imperativ und Antwort etc. das „immediate Interpretant“ (den semantischen Code) zum Sprechen bringen. - Und so wie sich dieses interpretierend-konstituierende „Benennen“ immer auf „dynamic objects“, im Erzählen also auf „Geschichten“ bezieht - das „dynamic object“ kann auch „altogether fictive“ sein oder „a written narrative of any series of events“, merkt Peirce selbst in wichtigen Schriften an -, 52 so ist auch bei Barthes die „Stimme der Person“ immer auf „Lexien“ bzw. „Sequenzen“ von Handlungen etc. bezogen, die einander folgen, einander auf- und abbauen, überlagern, „zusammenfalten“ und so fort. Man könnte ganz wörtlich von Geschichten- Dynamik sprechen. Den Übergang vom „direkten“ zum „dynamischen Objekt“ des Erzählens kannte schon Snoopy: 53 Sie kennen aber natürlich auch noch klassischere Beispiele: Angenommen (die beiden Menschen auf der Straße) würden Arnheim und Ermelinde Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt, denn Frau Tuzzi befand sich im August in Begleitung ihres Gatten in Bad Aussee und Dr. Arnheim noch in Konstantinopel, so steht man vor dem Rätsel, wer sie seien. Lebhafte Menschen empfinden solche Rätsel sehr oft in den Straßen. 54 Man hört mittelbar den impliziten Autor, der die beiden fiktiven Personen leicht genau hier hätte platzieren können, der aber die Fiktion sich gegen den Erzähler 52 Collected Papers, 8.314, The Essential Peirce, Bd. 2, S. 480. 53 Bildnachweis: Charles M. Schulz, It was a Dark and Stormy Night, Snoopy, West Sussex 2006, S. 85. 54 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. In: Robert Musil, Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. von Adolf Frisé, Hamburg 1978, Bd. 1, S. 10. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 325 umkehren lässt. So wie Snoopy staunt, wie seine Geschichte „zusammenpasst“, muss der Erzähler hier seine Annahme korrigieren. Doch genau dies ermöglicht den Übergang zu einer allgemeinen Wahrheit. Jeder Mensch ist für den anderen ein Rätsel bzw. eben eine Fiktion, die forterzählt werden muss. - Barthes‘ (betont vorläufiger) Analyse-Ansatz für diese dynamisch fortschreitenden (und „really effective“, „wirksamen“) „Referenten“ des Erzählens, die sich auf- und abbauenden Geschichten, wäre der „proaïretische Code“, die „Stimme der Empirie“, der (lesenden) Erfahrung, ein segmentierbares Nacheinander der Gelenkstellen (vgl. z. B. anschaulich 130-133), die minimale bis größte Handlungsänderungen markieren. - Und so wie diese nur „benannt“ werden können - für Barthes ein immer wieder betonter, zentraler Aspekt der Genese von Erzählzeichen (die „Chance“ ihrer Genese „ist an die Möglichkeit eines Meta-Namens gebunden“, 86) -, wenn sie (replikativ interpretatorisch) wiedererkannt werden, und so wie natürlich auch Personen und ihre „Stimmen“ Teile von Geschichten sind, so kann diese sich verräumlichende Erzähldynamik nicht gedacht werden ohne das, was Barthes die „kulturellen Codes“ nennt: die „oberen Prämissen [der] Syllogismen der Erzählung“, „eine endoxale Wahrheit [...] der Diskurs der Anderen“ (183). In der dreistelligen Semiotik entsprächen dem, freilich noch viel weiter und abstrakter gefasst, damit aber auch produktiv „vage“, die „types“ des „immediate interpretant“, Verhaltensgewohnheiten und Konventionen, theoretisch vergleichbar den „topoi“ der Rhetorik, der „langue“ und dem „Paradigma“ der strukturellen Linguistik und so fort. Gerade Roland Barthes‘ „S/ Z“-Modell legt nahe, hier den Begriff „Wert“ zu verwenden. (Da das Wort „science“ im Französischen einen weiten Bedeutungsumfang hat - man denke an das unübersetzbare Wort „conscience“ -, wäre es richtiger gewesen, für „Voix de la Science“ 55 im Deutschen „Stimme des Wissens“ statt „der Wissenschaft“ (26) zu übersetzen.) Auf alle Fälle reichen Werte-Paradigmen von einfachen z. B. phonologischen Laut- und Tonwerten über Lichtwerte, beispielsweise auch Laborwerte, Börsenwerte, dann wieder etwa die Wahrheitswerte der Logik, natürlich auch Gebrauchs-, Waren-, Mehrwert etc., bis zu Gefühlswerten, ideologischen Wertordnungen (die nach Bachtin zu jedem „Wort“ gehören) bis zu ethischen Wertsetzungen, metaphysischen Hierarchien oder theologischen Letztbegründungen. „Wert“ kann in der Erzähltheorie alles heißen, was etwas anderes zu beurteilen erlaubt, das narrative Interpretans eines Zeichens für dessen erzähltes Objekt. (Denn nach dem Ansatz dreistelliger Semiotik bedeutet auch eine gefühlsmäßige Interpretation wie eine Schmerzempfindung oder eine basal sprachliche Funktion, wie die Unterscheidung von „s/ z“ eine Stellungnahme - wie nicht zuletzt Barthes ausführt: Das stimmhafte „z“ ist für ihn das weibliche, lebendige etc.). Roland Barthes untersucht sorgfältig, oft kritisch, wie diese „kulturellen Codes“ bzw. „Werte“ funktionieren. Und es ist klar, dass ohne sie letztlich auch keine „Seme“ zu nutzen, keine „Stimmen“ bzw. „Personen“ zu differenzie- 55 Roland Barthes, S/ Z, 1970, S. 28. Hans Vilmar Geppert 326 ren und zu konturieren wären, und erst recht gäbe es keine Artikulation von Erzählsequenzen, also keinen „proaïretischen Code“, aber es interessiert Barthes zumindest in dieser Schrift lediglich am Rande und implizit, inwiefern die Erzählung solches kulturelles (im weitesten Sinn) Vor-Wissen und Vor-Urteilen auch verändern kann. Sie hören vielleicht, wie ich ganz von selbst in die Sprache der Hermeneutik gerate. (Was Barthes den „hermeneutischen Code“ nennt, ist ein Vermutungs-Findungs-Programm des lesenden Weiterfragens, verblüffend ähnlich dem, was Peirce das Argument der „Abduktion“ nennt.) Auf alle Fälle würde erst eine volle Dialektik zwischen „kulturellen Codes“ bzw. Werte-Paradigmen und deren Aktualisierung in „Stimmen“ und „Geschichten“ dem gerade erzähltheoretisch so fruchtbaren Prinzip „signs grow“ und „a sign is something by knowing which we know something more“ 56 gerecht, was auch eine kohärente Verbindung von Narrativik und Hermeneutik ermöglicht, ja einfordert. Ich nenne diesen spiraligen Zirkel der Interpretanten des Erzählens 57 den „Wertediskurs“. - Eine vergleichbare Verengung wie beim „hermeneutischen Code“ einerseits, der Gewinn, dass diese Perspektive überhaupt eingeführt und kohärent mit allen anderen verbunden wird, zeigt sich in dem, was Barthes „das symbolische Feld“ nennt. Ich möchte dies aber jetzt nur nennen und später, bei meinem fünften Beispiel, darauf zurückkommen - warum wird Ihnen dann sicher einleuchten; zunächst soll es anhand meiner beiden Anfangsbeispiele um ein Zwischenergebnis gehen. V. Die Spirale von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort Wenn wir das, was wir bis jetzt von Peirce, Roland Barthes, Snoopy und anderen gelernt haben auf die Beispieltexte von Vonnegut und Johnson anwenden, was können wir weiter lernen? Ich rekapituliere: 1.) Wir lasen einen betont fiktionalen und einen betont historisierenden Diskurs, die bedeutsam zusammenwirken. 2.) Wir erkannten „Stimmen“, die dazu auffordern, das Erzählte kritisch zu differenzieren. Und ich erinnere an die sehr eindrücklichen metapoetischen Modellierungen: „spastic in time“, „die Katze Erinnerung“, der „Brunnen“ der Erinnerung, in den der „Eimer“ des Erzählens immer wieder hineinfallen, „hinabrasseln“ muss, wenn er etwas - vielleicht auch etwas Neues? - schöpfen will. Beide Romane reflektieren 3.) ihre Erzählformen auf eine Weise, die die Leser zu einem freieren Umgang mit diesen traumatischen Geschichten auffordert, virtuell zu einem anderen Wertediskurs 56 C. S. Peirce, Collected Papers, 2.302 u. 8.332. 57 „Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist, sein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, der ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende“ (C. S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. u. übers. von Helmut Pape, Frankfurt 1983, S. 64). Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 327 als dem, der zu diesen Geschichten geführt hat. Wie baut sich das auf? Was geht da narrativisch vor? Ein funktionierendes Medium ist die Voraussetzung allen Erzählens. Und wegen seiner direkten, „immediate“ (nach Peirce) Medialität 58 hat, was beide Romananfänge intensiv nutzen, der fiktionale Diskurs immer die Priorität, den Primat, gegenüber dem historischen. Ein funktionierender „semantischer Code“, so Roland Barthes, ist die Voraussetzung aller Fiktion. Und eine funktionierende Fiktion ist die Voraussetzung funktionierender Historie - wie nicht zuletzt die Geschichtstheorie, prominent z. B. Hayden White, seit langem weiß. 59 Aber sie ist nur deren notwendige, nicht ihre hinreichende Voraussetzung. Anders gesagt, die replikative „nur wenn - dann / dann nicht“-Logik, „la logique à rebours“ nach Brémond, Greimas u. a. - deutlich auch nach Snoopy -, bestimmt auch das Verhältnis von fiktionalem und historischem Diskurs. Alle Historie ist auch und primär Fiktion. Aber sie ist nicht nur das. Sie entsteht durch postfiktionale (indexikalische), historisierende Zeichen (Daten, Namen, Quellenangaben etc., „Zeichen für das, was war, aber nicht mehr ist“). 60 Und nicht alle Fiktion ist Historie. Reinhard Kosellek hat die Aussageform, dass hier die Folge ihre Voraussetzung richtig stellt, sehr genau formuliert: Ein z. B. durch „Quellenkontrolle“ funktionierender historischer Diskurs „schließt aus, was nicht gesagt werden darf. Nicht aber schreibt [er] vor, was gesagt werden kann“. 61 Das Datum 1941 legt vieles fest: Auch im Kontext der fiktiven Zeitsprünge Billy Pilgrims kann man es, und wenn man genau liest, erst recht in der Zweitlektüre, muss man es auf den Kriegseintritt der USA (7. Dezember 1941 Pearl Harbour) beziehen. Und hat man diesen Konnex 62 einmal hergestellt, kann man ihn nicht mehr beliebig verändern. Das ist nun „ausgeschlossen“. Aber was Billy Pilgrims Erfahrungen zum Thema: „Zweiter Weltkrieg“ zu sagen haben, z. B. seine Abenteuer in einer fernen Galaxie, bleibt davon unberührt bzw. auf seine Weise relevant. „Ex vero sequitur quidvis“, wie die alten Logiker sagten. 63 Snoopy sah das auch so. Jede „wahre“ His- 58 „It is necessary to distinguish the Immediate Object, or the Object as the Sign represents it, from the Dynamic Object, or really efficient but not immediately present Object. It is likewise requisite to distinguish the Immediate Interpretant, i. e. the Interpretant represented or signified in the Sign, from the Dynamic Interpretant, or effect actually produced on the mind by the Sign“ (The Essential Peirce, S. 482). Das Medium ist Voraussetzung für den Zugang zur Dynamischen Aktualität und Realität, auch der der Fiktion, die ihrerseits Voraussetzung für die Wirksamkeit des Mediums sind. 59 Vgl. z. B. Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktionen des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, dt. von Brigitte Brinkmann-Siepmann u. Thomas Siepmann, Stuttgart 1991, v. a. S. 7 ff., 36 ff. u. 145 ff.; daraus folgt aber keineswegs, dass Fiktion und Historie einfach dasselbe seien, vgl. z. B. sehr klar ebd. S. 145. 60 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 3, S. 11. 61 Reinhard Kosellek, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1989, S. 153. 62 Eine sehr klar indexikalische Semiose; noch im Lexikon oder auf einer CD-ROM ist diese Datumsangabe eine Folge des historischen Ereignisses: „An Index is a sign which refers to the Object that it denotes by virtue of being really affected by that Object“ (C. S. Peirce, Collected Papers, 2.248). 63 Albert Menne, Einführung in die Logik, 2. Aufl., München 1973, S. 37 („p q“, wie Snoopy, oder „p q“, oder „p q“, je nach Schreibweise). Hans Vilmar Geppert 328 torie kann fiktional so kühn „wie du willst“ fortgesetzt werden. Und jede Fiktion, eine fliegende Untertasse, eine Katze bei einer Wassertonne, kann dann wieder etwas zur Historie sagen. Offensichtlich setzt sich diese Erzähllogik auch in immer größere Sequenzen, Zeichen aus Zeichen bzw. eben Diskurse fort. Für Roland Barthes, und das würde auch die Geschichtstheorie bestätigen, handelt es sich beim Erzählen von Historie um bestimmte (erlernbare, veränderbare) „kulturelle Codes“. (Man spricht z. B. von „Gedächtniskultur“, von der kulturellen Fertigkeit, intersubjektive Geschichts-Zeiten zu konstruieren usw.). Das Zusammenspiel von Fiktion und Historie - die letzte wohlgemerkt eine Teilmenge, eine weitergehende Determination der ersteren - scheint einer jener Fälle zu sein, in denen „zwei Codes gleichzeitig, aber auf verschiedener Wellenlänge funktionieren“; es entsteht eine Art „diakritischer Parameter“. 64 Muss man nicht die Jahreszahlen im ersten Absatz von Heute neunzig Jahr mit solch „diakritischem Parameter“ im Kopf lesen? 1888, einerseits der Regierungsantritt Wilhelms II, das sogenannte „Dreikaiserjahr“, andererseits das Geburtsjahr Heinrich Cresspahls - in den Jahrestagen hatten wir die Konstellation 1933: „Machtergreifung“ der Nazis / Gesines Geburt -, 1938 haben wir schon genannt (Pogromnacht / Suizid von Lisbeth Cresspahl). Interessant ist das Datum „1968“. Die Jahrestage waren von Anfang an daraufhin geplant. Aber sie enden am Nachmittag des zwanzigsten August ohne jeden Hinweis darauf, dass an diesem Tag der Einmarsch der Warschauer Pakt-Staaten den „Prager Frühling“ beendet hat. Nicht nur setzt Johnson ganz einfach voraus, dass seine Leser über einen fiktional-historischen „diakritischen Parameter“ verfügen. Deutlich sagt dieser offene Schluss auch, dass wir „statt der (historischen) Wahrheit (auch) Wünsche an sie“ anmelden sollen. „Geschichte ist ein Entwurf“ hatte es am Ende der Jahrestage geheißen. 65 Dieselbe „diakritische“, produktive Differnz prägt auch die „verschiedene Wellenlänge“ der Zeitrhythmen und Zeitmuster zwischen „1968“, „heute neunzig Jahr“ und „damals. jetzt“. Denn nicht 1968 markiert ein Datum „neunzig Jahre“ später als 1888. Was bedeutsam verschwiegen wird, ist z. B. das Jahr, auf alle Fälle der Zeitraum von Johnsons Schreibkrise, also 1978, so dass der letzte Band der Jahrestage erst 1983 erscheinen konnte. 66 Aber weicht nicht das „Jetzt“ des impliziten Autors ebenso wie das der fiktiven Erzählerin - was mit Gesine zehn Jahre nach den Jahrestagen geschehen ist, hat ja nie jemand erfahren -, weichen sie nicht auch produktiv, „diakritisch“ ab, von dem „jetzt“, auf das die Leser immer wieder dieses „Schon Gelesene“, das Fiktive wie das Historische beziehen müssen, nicht zuletzt im Sinne immer neuer „Entwürfe“ und „Wünsche“, wie Geschichte gemacht werden könnte und sollte? Verblüffend vergleichbar formuliert auch die Science Fiction der „all-time“ in Kurt Vonneguts Slaughterhouse Five einen „Parameter“ von „Damals. Jetzt - und 64 Roland Barthes, S/ Z, 1987, S. 65. 65 Uwe Johnson, Jahrestage, Bd. 4, S. 1891. 66 Die Arbeit an Heute neunzig Jahr war vielleicht „in erster Linie eine Übergangs- und Notlösung [...], um in schwerer Krise das Schreiben am Cresspahl-Projekt nicht ganz aufzugeben“, Norbert Mecklenburg, Nachwort zu Uwe Johnson, Heute neunzig Jahr, Frankfurt 1996, S. 129-193, S. 164. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 329 Einst“, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (ja, ja, wir wissen: Augustinus und so fort), der in der Tat „diakritisch“ an aktuelle und vergangene Zeiterfahrungen und an Entwürfe möglicher Zukunft gehalten werden kann und soll. Die aufgebrochene und versetzte Zeitordnung des Erzählens - inzwischen ein filmisch sehr erfolgreiches Verfahren 67 - legt ja unweigerlich immer, mit Roland Barthes gesprochen, einen „Code-Wechsel“ nahe. Der „proairetische Code“, der Auf- und Abbau von Geschichten wird immer wieder suspendiert. Interessant dabei: Da man nicht weiß, wie es weitergeht, darf man auch nicht vergessen. Der „hermeneutische Code“ sagt: „Rätsel“, der „semantisch-personale“ Befund muss „kulturell“ immer neu „codiert“ und „umcodiert“ werden. Denn man ist immer neu gezwungen zu fragen: „What makes them tick? “ Warum verhalten die sich so und so? So erfährt man z. B. von Billy Pilgrims frühkindlichem Trauma („the hairy father and the fear of death in the swimming pool“) präzise nachdem man erfahren hat, wie Billy und andere später blind gehorsam in den Krieg gehen. 68 Nicht nur die Frage: Was geschieht da? stellt sich, sondern immer auch die: Warum geschieht das so und so, gäbe es Alternativen, musste das so geschehen? Die Leser drehen sich nicht nur, wie Snoopy, in die Richtung der erwarteten weiteren Geschichte(n), sie „drehen“ sich auch den verschiedenen Stimmen von Autor, Erzähler, Personen und sich selbst zu, und ebenso auch den „kulturellen Codierungen“ bzw. eben den Werteparadigmen, dazu gehören auch die der Psyche, die dieses Reden, Urteilen und Handeln bedingen und die - ich erinnere an die Selbstreflexion des Erzählens - gerade für die Leser nicht denselben Zwang, dasselbe Trauma bedeuten, wie für Personen und/ oder Autor. Anders gesagt: Das „intelligible Werden“ des Diskurses - eine schöne Formulierung von Roland Barthes 69 - involviert immer zumindest die Möglichkeit der Veränderung von dessen Voraussetzungen. Ich muss das Beispiel bzw. das „Zwischenergebnis“ hier abbrechen. Haltbar würde es ohnehin erst auf breiterer Textgrundlage. Auf alle Fälle aber erwies sich das Zusammenspiel von Fiktion und Historie als eine pro- und regressive Spirale, ein Auf- und Abbauen, Fortsetzen und Korrigieren von Fiktion, Historie, Fiktion und so fort, das alle Dimensionen des Erzählens, alle Codes nach Barthes, das ganze Zeichen nach Peirce, die ganze Mimesis nach Artistoteles/ Ricœur usw. erfasst und prägt. Anders gesagt und noch einmal zur Frage: Wie entstehen Erzählzeichen? zurückkehrend, so wie der „semantische Code“ mit allen anderen untrennbar zusammenhängt, so ist es zwar „der Name, der die Sequenz aufrichtet“, sie „bastelt“ könnte man sagen, aber dies nur in dem Sinne, dass darin der ganze Erzählraum („ein Kreis von Verbundenem, in dem alles zusammenhängt“) immer schon involviert ist. Die alte hermeneutische Wahrheit („das Ganze im Teil, der Teil im Ganzen“) schafft letztlich auch hier, so sehr das Lesen ein „Basteln“ und ein „Vergessen“ ist, von Fall zu Fall niemals endgültig, aber auch nicht heillos beliebig, jene Stabilität, die Zei- 67 Z. B. in den Filmen von Alejandro Gonzáles Jñárritu: 21 Gramm (2003) und Babel (2006). 68 Kurt Vonnegut, Slaughterhouse 5, S. 31, vgl. S. 22 ff. sowie z. B. S. 72 ff. 69 Roland Barthes, S/ Z, 1987, S. 33, „un devenir intelligible“, ders., S/ Z, 1970, S. 36. Hans Vilmar Geppert 330 chen-Interpretationen eben erreichen können. Das gilt nun gerade auch für den letzten hier vorzustellenden „Code“ aus dem Modell S/ Z. VI. Roland Barthes‘ „symbolisches Feld“, das dreistellige Zeichen und The Da Vinci Code So wichtig es ist, diesen Aspekt überhaupt in die Erzähltheorie einzubeziehen, Roland Barthes‘ Begriff des „symbolischen Feldes“ ist der am engsten gefasste seines S/ Z-Modells, und so auch der, der am konsequentesten eine dreistellig semiotische „Übersetzung“, also Interpretation fordert. (Wer eine Theorie lediglich reproduziert, 70 nicht sie in andere Theorien „übersetzt“, erfasst sie nicht wirklich; noch viel schlimmer allerdings ist die Methode, Fiktionen einfach wie „als ob“-Realitäten zu behandeln.) Zunächst bedarf jeder Symbol-Begriff ohnehin sofort weiterer Interpretation bzw. „Übersetzung“. Der von Barthes ist der de Saussures: 71 Ein „nicht arbitrarisches“, „motiviertes“, modell- oder bildhaft entwerfendes Zeichen, recht genau das, was in der Peirce-Tradition ein „icon“ genannt wird. 72 Das „symbol“ in dieser „dreistelligen“ Theorie, das ist auch der Sprachgebrauch der Logik (nicht aber der etwa der Mythologie oder auch der der Germanistik, sofern sie sich auf Goethe beruft), ist das, was de Saussure „signe“ nennt: ein lediglich aufgrund von Konventionen funktionierendes (deshalb noch keineswegs beliebig entstandenes) Zeichen, was z. B. weitestgehend für Sprachzeichen gilt. Interessant ist, dass Roland Barthes, allerdings bei vertauschtem Wortgebrauch, durchaus die gesamte Triade von „icon“, „index“, „symbol“ (nach Peirce) bei der Genese seiner „codierten“ Erzählzeichen funktionieren sieht. 73 (Darin und noch mehr in der Annahme: „Strukturierung“ geht über „Struktur“, also in der Annahme im Erzählen ad hoc generierter „legi“-Zeichen, kommt er der Semiotik erneut sehr nahe: „Alles signifiziert“. 74 ). So ist für ihn die Indexikalisierung des „semantischen Codes“ die entscheidende Funktion zur Entstehung einer „Stimme der Person“. 75 Auch beim Aufbau des symbolischen Feldes in 70 Dieses schnell zu erlernende, bloße Zuordnen von „Lexien“ zu „Codes“ war in Lehrveranstaltungen immer wieder zu beobachten, wenn es um S/ Z ging. 71 Vgl. den Abschnitt „Symbol als ikonisches Zeichen“ in Winfried Nöth, Handbuch der Semiotik, S. 181 ff. 72 Roland Barthes‘ „symbolisches Feld“ entsteht primär, also aus dem Repräsentamen: „S/ Z“, geradezu rein aus der Zeichenfunktion des „Icon [...] by virtue of characters of its own“ (C. S. Peirce, Collected Papers, 2.247); aber natürlich bleibt die Semiose nicht dabei stehen. 73 Vgl. z. B. sehr klar und erhellend das Kapitel „Indiz, Zeichen, Geld [...] eine metonymische Störung“ (S/ Z, 1978, S. 44 ff.), was so in der Tat für Balzac, aber auch für Fonante gilt, nicht jedoch für Zola (der das Geld nicht als „störenden Haufen“ oder als „Loch“ etc., sondern als „System“ begreift). 74 Ebd. S. 55 („tout signifie“, S/ Z, 1970, S. 58). 75 „Wenn identische Seme wiederholt denselben Eigennamen durchqueren und sich in ihm festzusetzen scheinen, entsteht eine Person. Die Person ist also ein Produkt der Kombinatorik [...]. Der Eigenname funktioniert wie das Magnetfeld der Seme“ (ebd. S. 71). Kann man das nicht als Projektion von „Aequivalenzen“ von der „Achse“ des Wertediskurses auf die der „Stimmen“ lesen bzw. „übersetzen“? Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 331 Sarrasine - ein Feld v. a. der Differenzierung und der Schwellen von „männlich“ und „weiblich“ und von „Leben und Tod“ - sind alle Zeichenformen Voraussetzung: konventionelle Zuordnungen (nicht in allen Sprachen ist z. B. wie im Französischen der Tod weiblich) und v. a. auch indexikalischen Vernetzungen, also Verweisungen auf eben diese Erzählung von Balzac. In La peau de Chagrin (1831), beispielsweise, einem Schlüsselroman der Comédie humaine, in dessen Umkreis auch Sarrasine gehört, zeigt sich das „symbolische Feld“ von „Leben und Tod“ als eines, das nicht „zerschnitten“ wird, sondern eines, in dem ein Leben sich immer mehr verengt; andererseits, um die Dichotomie „männlich/ weiblich“ aufzunehmen, gibt es gerade in Balzacs Œuvre z. B. viele hermaphroditische Wesen, v. a. mädchenhaft schöne Männer, was z. B. Prousts Baron Charlus sehr genau zu lesen verstand, und so ließe sich noch vieles anfügen. Das „symbolische Feld“ nach Roland Barthes ist ein von allen Codes, also von dem gesamten Erzählraum interpretiertes „icon“, es übersetzt komplexe Erzählvorgänge bzw. „Semiosen“ in ein anschauliches Bild. Und dieses kann immer nur ein Zwischenresultat weiterer Erzähl- und Leseprozesse sein. Nur so lässt sich diese Novelle Balzacs in dessen „œuvre toujours recommencée“, 76 ein „immer neu begonnenes“ ausgesprochenes „work in progress“ der Comédie humaine angemessen einschreiben. Und nur so würde man beispielsweise auch dem „symbolischen Feld“ - um an unsere Anfangsbeispiele zu erinnern - der Vorstellung: „spastic in time“ bei Vonnegut gerecht. Was für die Person hier ein Zwang ist, wie eine Krankheit, bedeutet narrativisch-appellativ für die Leser ein Spiel, ein Kaleidoskop von „Zeiten“, tendenziell also eine Befreiung des Urteils. Auch das zweite Anfangsbeispiel, die erzählerisch kunstvoll aufgebauten Zeitschichten des „Brunnens der Erinnerung“ bei Johnson bilden ein „symbolisches Feld“, das sich nur dann dem Verständnis erschließt, wenn man es immer wieder anschauenddenkend, die Zeitschichten immer neu (indexikalisch) vernetzend, begrifflich reflektierend und so fort durchquert. Methodisch Vergleichbares, allerdings im Sinne einer Trennung von „symbolischem Feld“ und „hermeneutischem Code“ (hier noch spezieller: von iconischer und indexikalischer Semiose) gilt nun auch für mein letztes Beispiel, das für viel Aufregung und Polemik gesorgt hat. Wenn man es mit an Barthes oder der dreistelligen Semiotik geschultem Verständnis liest, wird die Kontroverse vollständig an den Wertediskurs der Leser zurückverwiesen. Das Buch stößt an, schlägt vor, will aber nichts beweisen. Dan Brown, The Da Vinci Code (2003), das ist mein letztes Beispiel, zeigt jenen „Takt“ vieler großer Bestseller, dass der „Code“ sich diskursiv zurücknimmt, sozusagen auflöst und selbst auslöscht. (Der deutsche Titel Sakrileg scheint mir auf kalkulierte Weise dumm; und die Polemik, bis hin zur Bücherverbrennung, hat eben etwas von institutionalisiertem Nicht-Lesen-Können, bzw. von „als ob“-Verständnis; und auf alle Fälle beweist sie, dass ein „Nerv“ im Wertediskurs getroffen wurde - historische Exaktheit hin oder her.) 76 Nicole Mozet, Balzac ou le texte toujours recommencé. La Comédie humaine est-elle encore un roman? In: Jahrbuch für internationale Germanistik 19 (1987), S. 32-44. Hans Vilmar Geppert 332 Es geht um - im weitesten Sinne: postmoderne - Zeichenspiele mit der und gegen die Geschichte. Wie ist dieser „Code“ zu entschlüsseln? Ein Zeichen-Bündel steht gleich am Anfang, freilich ein ausgesprochen hybrides und sehr kunstvoll im mehrfachen Sinn aufgebautes: Der Direktor des Louvre wurde ermordet und hinterlässt eine rätselhafte Botschaft (dazu gleich). Ein Harvard-Professor für Symbolik und die Enkelin des Ermordeten entziffern die Nachrichten, die auf ein wertvolles Geheimnis weisen, einen „Gral“. Sie folgen diesen Spuren von Paris über Versailles nach London und Schottland und zurück, geraten dabei selbst unter Mordverdacht, werden von der Polizei und einem Killer verfolgt usw. Die Auflösung der immer neuen Rätsel bedeutet zugleich ihre eigene Sicherheit. Ihr Suchweg ist eine fortschreitende Initiation in eine alternative Deutung nicht des Christentums, durchaus nicht, wohl aber der Gralslegende: Der „wahre Gral“ ist Maria Magdalena, die mit dem biblischen, bzw. eher einem nichtbiblischen Jesus verheiratet war, nach dessen Tod nach Frankreich floh und deren Nachkommen noch heute leben. Geheimorganisationen wie die Templer, vor allem aber die „Prieurié de Sion“ tradieren dieses Wissen und beschützen die Nachkommen Jesu und Magdalenas („le Sangral“, kann man, wenn man will, als „le sang réal“ und le „san [saint] Gral“ lesen, königliches Blut und heiliger Gral, eines der vielen im Französischen möglichen Wortspiele - meinem Sprachverständnis nach kann man es allerdings nicht verwechseln): „Mary Magdalene was the Holy Vessel. She was the chalice that bore the royal Bloodline of Jesus Christ“. 77 Die katholische Organisation Opus Dei („God’s Mafia“) hat den fanatisch gläubigen Killer losgeschickt, die römische Kirche finanziert ihn insgeheim, denn sie fürchtet diese „Wahrheit“. (Erst zuletzt werden beide Instanzen freigesprochen.) Man sieht, wie eine spannende, rätselhafte, mit viel Atmosphäre präsentierte Handlung, breites kulturhistorisches und zumindest in Teilen gesichertes Wissen sowie eine Idee, die zur Identifikation einlädt, die Idee von der Weiblichkeit des Göttlichen („the goddes“, „mother Earth“, „the sacred feminine“), zusammen mit einer heute breit zustimmungsfähigen Kritik am Traditionalismus der römischen Amtskirche sich wechselseitig bestätigen und zusammen so etwas wie eine „historische Wahrheit“ entwerfen: eine „wahre Geschichte“ („the true story“, „the true nature“, das wird immer neu wiederholt) des heiligen Gral. Doch es sind Zeichenspiele, die diese Konstruktion tragen. Insofern führt bereits das Anfangsrätsel als ein Bündel von Zeichen 78 alle später nach und nach freigelegten Bedeutungen ein: - Dass es sich um eine chiffrierte Nachricht handelt, aktiviert die beiden „Detektive“, weist aber auch allgemein auf geheimes Wissen hin. - Noch vor seinem Tod hat sich das Opfer nackt ausgezogen und die Form des „Vitruvischen Mannes“”, einer anatomischen Studie Leonardo Da Vincis, ange- 77 Dan Brown, The Da Vinci Code, London (= Corgi) 2004, S. 336 78 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 69 ff. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 333 nommen. 79 Das weist (indexikalisch) auf dessen Gesamtwerk und entwirft zugleich (ikonisch) ein Modell, eine Idee humaner Schönheit und kosmischer Harmonie (und man sieht zugleich, dass auch Roland Barthes‘ „symbolisches Feld“ hier prozessual interpretiert werden muss); das Pentagramm, das das Opfer sich auf den Leib gezeichnet hat, nimmt dieses Harmonie-Modell auf. Als Vereinigung von stehendem und liegendem Dreieck (ikonische legi-Zeichen, die auf mathematische Gesetze rekurrieren) kann man dieses Zeichen - freilich, dies ist jetzt eine von vielen möglichen (rhematisch offenen, immer problematischen) Lesarten -, sofern man einer bestimmten (dicentischen, also lediglich behauptbaren) Tradition folgt, als Vereinigung von männlichem und weiblichem Prinzip deuten: ein erster Hinweis auf „the sacred feminine“, zu dem sich auch Da Vinci bekannt haben soll. - Die Zahlenreihe, die der Sterbende neben sich geschrieben hat, die Fibonacci- Sequenz, ist wie der Vitruvische Mann und das Pentagramm, die ihr in ihren Proportionen entsprechen, ein Modell mathematischer Schönheit, ihr Quotient nähert sich der Zahl phi („the most beautiful number in the universe“), dem Prinzip des „Goldenen Schnitts“, zugleich einem chaostheoretischen Schlüssel zum Verständnis der Evolution. Später öffnen diese Zahlen als Pin-Nummer ein Schließfach, in dem ein „Cryptex“ (ein von Da Vinci entworfener, tragbarer, codierbarer Safe) weitere Nachrichten enthält. Aber jetzt ist diese Zahlenreihe willkürlich verändert; einerseits ist dies natürlich eine Aufforderung, überhaupt auf Verschlüsselungen zu achten, andererseits aber, und das scheint mir sehr wichtig, wird mit diesem Schritt in der Handlung der bisherige „Code“ blind. Der „hermeneutische Code“ und hier dann auch der „proairetische Code“ nach Roland Barthes „vergessen“ den „kulturellen“, der sie angestoßen hat. Denn die Zahlen bedeuten von jetzt an selbst nichts mehr (z. B. Stellen in einem anderen System, etwa dem von Buchstaben, Bibliothekssignaturen etc.), schon gar nicht beweist ihre formale Harmonie etwas für ihre Verwendung jetzt und hier, allein ihre willkürliche Anordnung signalisiert (per analogiam), dass auch die verbale Nachricht umgestellt werden kann: - „O, Draconian devil! Oh, lame saint! “ enthält wörtlich eine vage Kritik am drakonisch-dogmatischen und „teuflischen“ (der Papst als Antichrist) römischen Katholizismus; die Tatsache, dass die Nachricht von einem Franzosen auf Englisch verfasst wurde, so auch alle seine weiteren sprachlichen Rätsel, vermittelt vielleicht, ebenso wie die spätere Handlung des Romans, eine international aufklärerische, grenzüberschreitende Perspektive und bezieht, was erst recht für die Aktivierung durch Rätsel überhaupt gilt, die Leser ein: Sie werden direkt angesprochen, rätseln mit und identifizieren sich. Vor allem aber ist dies ein Anagramm von „Leonardo da Vinci! The Mona Lisa“, was im Kontext der Gemäldesammlung des Louvre einen Hinweis bedeutet, im Raum, wo das entsprechende Gemälde hängt, weitere Rätsel und Hinweise (vor allem einen Laser-codierten Safeschlüssel) zu suchen. Und diese werden ja auch vielfältig gefunden. 79 Vgl. z. B. Dan Brown, The Da Vinci Code. Special Illustrated Edition, London/ Toronto/ Sydney/ Auckland/ Johannesburg 2004, S. 51. Hans Vilmar Geppert 334 - Der Schluss der Nachricht schließlich ist nicht verschlüsselt, sondern lediglich mehrdeutig: „P. S. Find Robert Langdon.“ Der Schreiber appelliert an die Deutungskompetenz des Romanhelden. Die Polizei liest einen Hinweis auf den Täter heraus. „P. S.“ heißt allgemein „post scriptum“, für einen kleinen Kreis von Eingeweihten „Prieurié de Sion“, für das Opfer und seine Enkelin (eine „getarnte“ Nachricht, 1 x 1 vereinbart) „Princesse Sophie“, was die Handlung vorantreibt. Man sieht, es gibt zwei „Codes“, besser „Semiosen“, also hybrid verbundene Zeichen-Konnexe (die ihrerseits verschiedene Repertoires und Texte, Sprachen und Reden involvieren, bzw. das, was Roland Barthes die „kulturellen Codes“ nennt): Auf der einen Seite stehen vielfältige mythologische, künstlerische, kulturgeschichtliche, wissenschaftliche, mathematische usw. Zeichenzusammenhänge, die hier immer münden in ikonische (modellhaft entwerfende), sehr oft metaphorische (analoge) Zeichen, von den ägyptischen Pyramiden und Göttern bis zu Walt Disney-Cartoons. Ihr Bedeutungsspektrum, ihr „Interpretans“, ist seiner kategorialen „Modalität“ nach („rhematisch“) offen, vielfältig lesbar (man vergleiche etwa die Bedeutung der „Rose“ hier und bei Eco, der genau diese Offenheit betont). Hier aber werden diese Zeichen, so wie ein sie einrahmendes umfangreiches historisches Wissen, benutzt, um singulare räumliche Hinweise zu transportieren, die die Handlung vorantreiben. So entsteht der zweite „Code“, der aus Rätseln und Spuren besteht und indexikalisch funktioniert. Doch so hören die Mythen, Kunstwerke, Modelle und Geschichten streng genommen auf, für sich selbst noch etwas zu bedeuten. Die Fibonacci- Sequenz hätte, um auf ein Anagramm aufmerksam zu machen, durch die übliche numerische Zahlenreihe oder die Sequenz von Primzahlen oder die von Potenzen usw. ersetzt werden können. Die Anspielungen auf Da Vinci oder Newton könnten genauso auch irgendeinen anderen Maler im Louvre voraussetzen, hinter dessen Gemälde ein Schlüssel versteckt ist, oder ein anderes Rätsel, das auf „apple“ endet. Natürlich sind die Da Vinci-Semiosen (der erste „Code“) nicht beliebig. Es entsteht, um mit Roland Barthes zu sprechen, ein umfassendes, sich immer wieder, qua „kultureller Codierung“ erneuerndes „symbolisches Feld“. Aber eben dessen hier ganz explizite und auserzählte „Semantisierung“ zum „Weiblich-Göttlichen“ zeigt seine Grenze an. Es bestätigt sich in der Tat Barthes‘ These, dass der „semantische Code“ die „Stimme der Person“ 80 sei. Denn all dies hat seine Bedeutung nur für die, die das so lesen wollen; und der Ver- und Entschlüsselungs-Erfolg der indexikalischen Spur (der zweite, eigentliche „Code“), der behauptete Initiations-Weg zum Gral, beweist nur die Absichten und Überzeugungen der, wohlgemerkt fiktiven, handelnden Personen. Irgendeine Wahrheit irgendeiner Idee, die die vielen Anspielungen des „ersten Code“ umkreisen, die Idee einer weiblichen Gottheit, wird durch das Aufgehen, den Entschlüsselungserfolg des „zweiten Code“ in nichts bewiesen. Das „weibliche Göttliche“ bleibt eine allgemeine Möglichkeit, eine lange schon bekannte historischmythologische Tradition, ein Glaube oder eine Forderung. Die Suche nach ihrer individuellen, raum-zeitlichen Verkörperung dagegen ist von Anfang bis Ende ein 80 Roland Barthes, S/ Z, 1987, S. 26. Dreistellig-semiotische Erzähltheorie 335 zwar in sich schlüssiges, in seinem Wirklichkeitsbezug aber im Prinzip beliebiges Zeichen-Spiel. So löst sich ja auch der von den Romanpersonen behauptete Schnittpunkt der beiden „Codes“, die (fiktiv-)historische „Wahrheit“: „Maria Magdalena ist der heilige Gral, in ihren Nachkommen lebt Jesus Christus fort“ („direct descendants of Mary Magdalene and Jesus Christ“), 81 der fiktiv-historische Fokus des Romans löst sich genau in dem Maße auf, in dem die Suche nach ihm erfolgreich ist. Es entsteht ein „diakritischer Parameter“ (noch einmal Roland Barthes), 82 in dem der fiktive „plot“ den historischen Diskurs beliebig macht. Spätestens vom Romanende her wird alles als bloßes postmodernes Spiel von Zeichen gegen die Geschichte durchsichtig, das nicht mehr zu sein beansprucht, als eben das. Die Fundstelle des „Gral“, die Templer-Kirche Rosslyn in Schottland, „often called the Cathedral of Codes“, ist „far too obvious a location“, um noch ein Geheimnis zu bergen; ihre Zeichen-Dichte ist ganz explizit zentrifugal offen, enthält viele mögliche, aber nun keinen lesbaren Code mehr. Die „Blutlinie“ wird in ihrem Anfang zum Mythos (göttliche Herkunft von Königsgeschlechtern gab es oft), und an ihrem Ende wird sie zu einer beliebigen Familien- und zuletzt noch beliebigeren Liebesgeschichte: „a date (in) a room (in) Florence“, das ist alles, was die Romanhelden erwarten. Maria Magdalenas „true story“ wird von allen Beteiligten in ihr „Geheimnis“ („a secret“) und ihre Legende zurückgewiesen - im Film sieht ihre Nachkommin ihre „göttliche Herkunft“ als Spaß (auf dem Wasser kann ich noch nicht wandeln, vielleicht probiere ich es mal mit Wasser und Wein) -, die Idee des Weiblich-Göttlichen enthüllt sich für die Gegenwart als eben das, eine Idee, eine Forderung, ein Glaube und eine Dichtung: „We are beginning to sense the need to restore the sacred feminine [...]. Sing her song“. Und ihre letzte im Roman vorgestellte Manifestation, das Gegeneinander der gläsernen Pyramiden am Eingang des Louvre, 83 ist ein abstrakt ästhetisches (selbstreferentielles) Objekt: Zeichen seiner selbst und zugleich Zeichen seiner spielerisch offenen Bedeutungsfülle. The Da Vinci Code löst sich auf in das Spiel der Möglichkeiten irgendetwas und alles zu bezeichnen, zu „codieren“, aus Zeichen Zeichen zu generieren - und dann auch zu erzählen. Literaturverzeichnis Aristoteles, Poetik. Griechisch/ Deutsch, übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Bachtin, Michail M., Die Ästhetik des Wortes. Dt. von Rainer Grübel u. Sabine Reese, hrsg. von Rainer Rainer Grübel, Frankfurt 1979. Bachtin, Michail M., Probleme der Poetik Dostojevskijs. Dt. von Adelheid Schramm, Frankfurt/ Berlin/ Wien 1985. Balzac, Honoré de, La Comédie humaine. Hrsg. Von P. C. Castex, 12 Bde., Paris 1976-1981. 81 Dan Brown, The Da Vinci Code, S. 579, vgl. zum Folgenden ebd., S. 564 ff. 82 also immer wieder „ein Sinn mehr“ (Roland Barthes, S/ Z 1987, S. 65). 83 Dan Brown, The Da Vinci Code. Special Illustrated Edition, S. 455 Hans Vilmar Geppert 336 Barthes, Roland, Leçon / Lektion. Französisch/ Deutsch, dt. von Helmut Scheffel, Frankfurt 1980. Barthes, Roland, „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen.“ In: Ders., Das semiotische Abenteuer. Dt. von Dieter Hornig, Frankfurt 1988, S. 102-142. Barthes, Roland, Mythen des Alltags. Dt. von Helmut Scheffel, Frankfurt 1970. Barthes, Roland, S/ Z. Dt. Von Jürgen Hoch, Frankfurt 1987. Bauer, Matthias, Romantheorie. Stuttgart/ Weimar 1997. Brown, Dan, The Da Vinci Code. London 2004. Brown, Dan, The Da Vinci Code. Special Illustrate Edition. London/ Toronto/ Sydney/ Auckland/ Johannesburg 2004. Chandler, Daniel, Semiotics. The Basics. London 2002. Genette, Gérard, Die Erzählung. 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Verfahren epischen Erinnerns in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 1998; (Hg., mit Manuela Günter) Kulturelles Vergessen: Medien - Rituale - Orte, Göttingen 2004; (Hg., mit Bettina Bannasch) Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses, Berlin, New York 2007; Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur, München 2008. Ottmar Ette ist seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für französisch- und spanischsprachige Literaturen an der Universität Potsdam. Er unterrichtete von 1987 - 1995 an der Katholischen Universität Eichstätt. Studium in Freiburg und Madrid, 1990 Promotion über José Martì, 1995 Habilitation über Roland Barthes. Mehrfache Gastdozenturen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas als auch in den USA. 2004-2005 Fellow am Wissenschaftskolleg. Mitantragssteller des DFG-Graduiertenkollegs „lebensformen + lebenswissen“, Mitbegründer des ForLaBB (Forschungsverbund Lateinamerika Berlin-Brandenburg), Mitherausgeber der Zeitschrift Iberoamericana und der internationalen elektronischen Zeitschrift HiN - Alexander von Humboldt in the Net. 1987 erhielt er den Heinz Maier Leibnitz-Preis, 1998 den Hugo Friedrich und Erich Köhler-Preis. Zahlreiche Publikationen über Kulturtheorie und französische, frankophone, spanische und lateinamerikanische Literatur des 18. bis zum 21. Jahrhundert. Veröffentlichungen (Auswahl): Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen (2008); Caribbean(s) on the Move - Archipiélagos literarios del Caribe - Les Antilles en mouvement (Potsdam 2006); ZwischenWeltenScheiben (2005); ÜberLebenswissen (2004); Weltbewußtsein (2002), Literatur in Bewegung (2001). Hans Vilmar Geppert, Studium, Promotion und Habilitation in Tübingen. 1984 bis 2006 Inhaber des Lehrstuhls „Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Vergleichende Literaturwissenschaft“ in Augsburg. Wichtigste Publikationen: Der „andere“ historische Roman (Tübingen 1976), Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronenwächter“ (Tübingen 1979), Hg. Große Werke der Literatur Bd. 1ff. (Tübingen und Basel 1990ff.), Der realistische Weg (Tübingen 1994), Hg. Theorien der Literatur Bd. 1ff. (Tübingen und Basel 2003 - 2007), Literatur im Mediendialog (München 2007), Der historische Roman. Traditionen, Strukturen, Vergleiche (Tübingen und Basel, im Druck), Aufsätze zum deutschen, englischen, französischen Roman des 19. und 20. Jahrhunderts, zu Literatur und Medien, Literatur und Werbung, Literatursemiotik, wiederholt zu Brechts Lyrik. Die Beiträgerinnen und Beiträger 340 Joachim Jacob, ist seit 2006 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg. Er studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Heidelberg, Frankfurt a.M. und Konstanz. 1996 promovierte er über das Thema Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Wieland und Klopstock und habilitierte 2005 über Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik und Literatur; Medialität der Literatur und Medienkonkurrenzen; Literatur, Philosophie und Theologie der Aufklärung/ Frühen Neuzeit; Literarische Symbolbildung. Neben zahlreichen Aufsätzen veröffentlichte er (Auswahl): Palimpseste. Zur Erinnerung an Norbert Altenhofer (zus. Mit Pascal Nicklas, 2004); Populäre Konstruktionen von Erinnerung im deutschen Judentum und nach der Emigration (zus. Mit Yotam Hotam, 2004). Till R. Kuhnle, Privatdozent für Romanische Literaturwissenschaft (Universität Augsburg). Universitäre Lehre: Université Charles-de-Gaulle (Lille III), Universität Augsburg, Université du Littoral/ Boulogne-sur-Mer, Universität Erfurt, KU Eichstätt und Westfälische Wilhelms-Universität Münster (seit WS 2008). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: politische Theologie in den romanischen Literaturen des XVII. Jahrhunderts, Moralistik, Utopien des XVIII. und XIX. Jahrhunderts, SF in den romanischsprachigen Ländern, Existenzialismus, jüdische Literatur und Philosophie im Frankreich des XX. Jahrhunderts, französischsprachige Gegenwartsliteratur und Populärkultur (Film/ Comic). Veröffentlichungen: Chronos und Thanatos: Zum Existentialismus des Nouveau Romanciers Claude Simon (ausgezeichnet mit dem Preis der Universität Augsburg), Tübingen: Niemeyer 1995; Das Forschrittstrauma. Vier Studien zur Pathogenese literarischer Diskurse (gefördert von der DFG), Tübingen: Stauffenburg 2005; (Mit-) Herausgeberschaft von Sammelbänden und Zeitschriftensondernummern; zahlreiche Aufsätze und Handbuchbeiträge zur französischen, italienischen und deutschsprachigen Literatur, Begriffsgeschichte, Rhetorik und Ästhetik. Durchführung von Tagungen und Tagungssektionen im In- und Ausland - u.a. Mitglied des comité scientifique am Centre d’Études et de Recherches sur les Civilisations et les Littératures Européennes (CERCLE) der Université du Littoral/ Boulognesur-Mer. Homepage: http: / / www.tillkuhnle.homepage.t-online.de Freimut Löser ist seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Augsburg. Als Mittelaltergermanist war er Mitglied der „Würzburger Forschergruppe für geistliche Prosa des deutschen Mittelalters“ (Edition der ‚Rechtssumme‘ Bruder Bertholds), Mitarbeiter der kritischen Ausgabe der Werke Meister Eckharts an der Universität Eichstätt, Leiter der Forschungsstelle „Repertorium der deutschsprachigen geistlichen Literatur des Mittelalters in Ostmitteleuropa“ (Universität Heidelberg) und zuletzt Mitglied der Forschergruppe „Bild des Krieges“ in Würzburg. In den Jahren 1994-1998 als Hochschulassistent in der Amerikanistik tätig, hat er auch mehrere Semester in den USA (University of Texas at Austin; State University of New York, Albany) unterrichtet. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte: Editionspraxis und -theorie („New Philology und Überlieferungsgeschichte“); mittelalterliche geistliche Prosa („Öster- Die Beiträgerinnen und Beiträger 341 reichischer Bibelübersetzer“, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Werke aus dem deutschen Orden); Minnesang und Sangspruchdichtung (Walther von der Vogelweide); regionale Ansätze der Literaturgeschichtsschreibung; Augsburger Literatur im Mittelalter. Wichtigste Publikationen auf der Homepage der Universität Augsburg. Bernadette Malinowski ist Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Vergleichende Literaturwissenschaft / Europäische Literaturen; Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie und Italienischen Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg; Promotion 2001 im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft über das Thema „Das Heilige sei mein Wort“ - Paradigmen prophetischer Dichter von Klopstock bis Whitman, Habilitation 2008 für die Fächer Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg, Thema der Habilitationsschrift: Scientia Poetica. Literarische Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie. Bisher publizierte Aufsätze setzen sich mit kulturanthropologischen (Erinnern und Vergessen, Bekennen, Krankheit) und literaturtheoretischen Fragen (das Imaginäre, literarische Inszenierungen wissenschaftlicher Diskurse) auseinander. Ihr derzeitiges Forschungsinteresse gilt den theoretischen und poetischliterarischen Möglichkeiten einer interrogativen Ästhetik. Martin Middeke lehrt als Ordentlicher Professor seit 2001 Englische Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Seine wichtigsten Publikationen sind: Stephen Poliakoff: Drama und Dramaturgie in der abstrakten Gesellschaft (1994); Anthropological Perspectives (Hg. mit W. Huber, 1998); Biofictions: The Re-Writing of Romantic Lives in Contemporary Fiction and Drama (Hg. mit W. Huber, 1999); Zeit und Roman: Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne (Hg., 2002); Die Kunst der gelebten Zeit: Studien zur Phänomenologie literarischer Subjektivität im englischen Roman des ausgehenden 19., Jahrhunderts (2004); Self-Reflexivity in Literature (Hg. mit W. Huber und H. Zapf, 2006); Drama and/ after Postmodernism (Hg. mit Ch. Henke, 2007), sowie zahlreiche Aufsätze zu Literaturtheorie, englischem Drama und Roman des 19. und 20. Jahrhunderts. Klaus-Detlef Müller, Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Köln, Tübingen und Clermont-Ferrand. 1975 - 1987 Professor am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Kiel und 1987 - 2003 ordentlicher Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen. 2001 Visiting professor an der Washington University, St. Louis (USA). Visiting professor an der Washington University, St. Louis (USA). 2003-2007 Mitglied des Vorstands der Goethe-Gesellschaft Weimar. Herausgeber (u.a.) der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Bertolt Brechts und Mitherausgeber der Goethe-Gesamtausgabe des Deutschen Klassiker-Verlages sowie der Reihe HERMAEA. Wichtigste Publikationen: Die Funktion der Geschichte im Werk Bertolt Brechts (Tübingen 1967, ²1972), Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit (Tübingen 1976), Bertolt Brecht-Kommentar zur erzählenden Prosa (München 1980), Hg. Die Beiträgerinnen und Beiträger 342 Bürgerlicher Realismus (Königstein 1981), Hg. Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung (München 1985), Franz Kafka, Romane (Berlin 2007). Zahlreiche Aufsätze zu Brecht. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. Jahrhunderts und der Goethezeit, Realismus, Literatur des 20. Jahrhunderts, Brecht, Film- und Medienphilologie. Kaspar H. Spinner, Studium in Zürich und Berlin, Promotion bei Emil Staiger, 1968-1972 Assistent an der Universität Genf, 1972-1979 (Assistenz-)Professor an der Gesamthochschule Kassel, 1980-1988 Professor an der RWTH Aachen, 1988 - 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur an der Universität Augsburg. Wichtigste Publikationen: Umgang mit Lyrik in der Sekundarstufe I (4. Aufl. 2000); Kreativer Deutschunterricht. Identität - Imagination - Kognition (2001); Hg. SynÄsthetische Bildung in der Grundschule (2002); Hg. Lesekompetenz erwerben, Literatur erfahren (2006); Hg. Augsburger Studien zur Deutschdidaktik (seit 1998). Stefanie Stockhorst ist Privadozentin für Germanistik und Europäische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg. Sie studierte Germanistik, Soziologie, Politologie, Pädagogik, Philosophie und Medizingeschichte in Göttingen, wurde 2001 im Fach Deutsche Philologie (Göttingen) promoviert und habilitierte sich im Jahr 2005 (Augsburg). Sie übernahm mehrere Gastdozenturen an der University of London, war Visiting Scholar an der University of Cambridge und A. Bartlett Giamatti Fellow an der Yale University. Zur Zeit vertritt sie einen Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Rostock. Seit 2008 ist sie Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (DGEJ). Besondere Schwerpunkte ihrer Forschung liegen in den Bereichen Poetik und Ästhetik, Medizingeschichte und literarische Anthropologie, Literaturbeziehungen sowie Literatur- und Kulturtheorie. Neben zahlreichen Aufsätzen publizierte sie mehrere Bücher (Auswahl): Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten (2008), Zeitkonzepte. Zur Pluralisierung des Zeitdiskurses im langen 18. Jahrhundert (2006), Einführung in die Europäische Kulturgeschichte (mit Achim Landwehr, 2004), Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungsgeschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof (2002). Christina Wald ist seit 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft der Universität Augsburg. Studium der Anglistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und Germanistik an der Universität zu Köln und University of Warwick im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (Drama, English Literature und Film). Regieassistentin von Ola Mafalaanis Inszenierung von Le Bal am Schauspielhaus Köln, Regieassistentin und Inspizientin von Enrico Lübbes Inszenierung von Thomas Bernhard: Vor dem Ruhestand am Schauspielhaus Köln sowie Inszenierung von Gesine Danckwart/ Jean Genet: Girlsnightout: Die Zofen an der Studiobühne Köln. 2002 - 2006 Lehrbeauftragte am Englischen Seminar der Universität zu Köln und Redakteurin von gender forum. 2003 - 2006 Promotionsstudium an der Universität zu Köln. Promotionsprojekt Hysteria, Trauma, and Melancholia - Performative Maladies in Contemporary Anglophone Die Beiträgerinnen und Beiträger 343 Drama, gefördert vom Cusanuswerk und der Studienstiftung des deutschen Volkes. 2005 Visiting Research Fellow am Birkbeck College, London. Doren Wohlleben ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des interuniversitären Studiengangs „Ethik der Textkulturen“ (Elitenetzwerk Bayern) an der Universität Augsburg und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Studium der Germanistik und Klassischen Philologie (wissenschaftliche Hilfskraft bei Prof. Dr. Michael von Albrecht) in Heidelberg und Pisa (Abschluss: Erstes Staatsexamen in Germanistik und Latein an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg). Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seit 2005 Postdoc- Stipendiatin des Hochschul- und Wissenschaftsprogramms der Universität Augsburg mit einem Forschungsprojekt zu Hannah Arendts Denktagebuch. 2004 Promotion bei Prof. Dr. Mathias Mayer im Rahmen des Graduiertenkollegs „Kulturen der Lüge“ an der Universität Regensburg (Promotionsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft): Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in Poetik-Vorlesungen und Romanen der Gegenwart.