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Text - Reihe - Transmission

2011
978-3-7720-5293-4
A. Francke Verlag 
Jürg Glauser
Anna Katharina Richter

Der vorliegende Band versammelt elf wissen schaftliche Beiträge der skandinavischen und deutsch sprachigen Forschung zur frühneuzeitlichen volkssprachlichen Erzählprosa Skandinaviens. Thematisch umfassen die Beiträge sowohl literatur- und transmissionstheoretische Untersuchungen zu einzelnen repräsentativen skandinavischen Historien und den frühen schwedischen Romanen des 18. Jahrhunderts als auch überblicksartige, kultur- und medienhistorisch orientierte Auseinandersetzungen mit Handschriftenkultur, Buchgeschichte und Buchmarkt in Skandinavien im Zeitraum 1500-1900. Sie widmen sich Fragestellungen nach der textuellen Unfestigkeit und unterschiedlichen Aspekten der Überlieferungsprozesse (Transmission) dieses Genres, etwa seinen medialen und diskursiven Veränderungen, seiner Positionierung auf dem skandinavischen Buchmarkt in der frühen Neuzeit, Übersetzungen und Bearbeitungen dänischer Gebetbücher des 16. Jahrhunderts, der schwedischen Übersetzung von Guido de Columnis mittelalterlichem Trojaroman oder Legitimierungs strategien schwedischer Romane im frühen 18. Jahrhundert.

A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 42 Der vorliegende Band versammelt elf wissenschaftliche Beiträge der skandinavischen und deutschsprachigen Forschung zur frühneuzeitlichen volkssprachlichen Erzählprosa Skandinaviens. Thematisch umfassen die Beiträge sowohl literatur- und transmissionstheoretische Untersuchungen zu einzelnen repräsentativen skandinavischen Historien und den frühen schwedischen Romanen des 18. Jahrhunderts als auch überblicksartige, kultur- und medienhistorisch orientierte Auseinandersetzungen mit Handschriftenkultur, Buchgeschichte und Buchmarkt in Skandinavien im Zeitraum 1500-1900. Sie widmen sich Fragestellungen nach der textuellen Unfestigkeit und unterschiedlichen Aspekten der Überlieferungsprozesse (Transmission) dieses Genres, etwa seinen medialen und diskursiven Veränderungen, seiner Positionierung auf dem skandinavischen Buchmarkt in der frühen Neuzeit, Übersetzungen und Bearbeitungen dänischer Gebetbücher des 16. Jahrhunderts, der schwedischen Übersetzung von Guido de Columnis mittelalterlichem Trojaroman oder Legitimierungsstrategien schwedischer Romane im frühen 18. Jahrhundert. Jürg Glauser, geb. 1951. Studium der Nordistik und Germanistik in Zürich, Oslo, Uppsala, Kopenhagen. Promotion und Habilitation in Zürich. 1992-94 Professor für Nordische Philologie an der Universität Tübingen, seit 1994 Professor für das gleiche Fach an den Universitäten Basel und Zürich. Hauptarbeitsgebiete: Literaturen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Skandinavien, insbesondere Sagas und Eddas, isländische Literatur, Literaturgeschichtsschreibung. Anna Katharina Richter (geb. Dömling), geb. 1972. Studium der Skandinavistik, Geschichte und Pädagogik in Kiel und Uppsala. 2000-2006 Assistentin an der Abteilung für Nordische Philologie am Deutschen Seminar der Universität Zürich, Promotion 2006 an der Universität Zürich. Oberassistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Hauptarbeitsgebiete: frühneuzeitliche Literatur Skandinaviens und färöische Literatur. Glauser / Richter (Hrsg.) Text - Reihe - Transmission Jürg Glauser / Anna Katharina Richter (Hrsg.) Text - Reihe - Transmission Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800 ISBN 978-3-7720-8293-1 105811 Nord. Phil. 42 - Glauser_Richter_105811 Nord. Phil. 42 - Glauser_Richter Umschlag 16.11.11 10: 56 Seite 1 Text - Reihe - Transmission Beiträge zur Nordischen Philologie Herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien Redaktion: Jürg Glauser, Silvia Müller, Klaus Müller-Wille, Hans-Peter Naumann, Barbara Sabel, Thomas Seiler Beirat: Michael Barnes, François-Xavier Dillmann, Stefanie Gropper, Annegret Heitmann, Andreas G. Lombnæs Band 42 · 2012 A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL Jürg Glauser / Anna Katharina Richter (Hrsg.) Text - Reihe - Transmission Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Satz: Schweizerische Gesellschaft für Skandinavische Studien Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISSN 1661-2086 ISBN 978-3-7720-8293-1 Titelbild: Bildmontage von Isabelle Ravizza unter Verwendung der Seite fol. 5v aus der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 112. Mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Heidelberg. J ÜRG G LAUSER , Z ÜRICH / B ASEL A NNA K ATHARINA R ICHTER , Z ÜRICH H ENRIK H ORSTBØLL , L UND ! " # $ % & ' ( ) A NNE M ETTE H ANSEN , K OPENHAGEN * + , & &- . / 0 $ 1 & 2 , & &- 2 "- # $ $ + # 3' S TEFANIE G ROPPER , T ÜBINGEN 4- " " 5& , 6 ) H UBERT S EELOW , E RLANGEN 5& " & + 7 P IL D AHLERUP , K OPENHAGEN 1 8 & 9 $ " : $; 9 8 9 " 6 $; ! 2 * 4 : 5& )3< ( =) A NNA K ATHARINA R ICHTER , Z ÜRICH & 1 & > ? )@'A * $ B 7 ( 3' R ETO H OFSTETTER , Z ÜRICH * " # C 1& * 0 D7 S TEPHEN M ITCHELL , H ARVARD * $ $ * ? *B# @%7A 5& $ B + EF $ $ =@ F LEMMING L UNDGREEN -N IELSEN , K OPENHAGEN $ : G 3<) M ATTHEW J AMES D RISCOLL , K OPENHAGEN H &I$ ! 4 J (I K *L " $ 3)) M ATS M ALM , G ÖTEBORG : + 1 $ " - C 3=@ C @ 1&& @ ) Der vorliegende Band geht in seinem Kern zurück auf ein vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstütztes, zwischen 1999 und 2004 an der Abteilung für Nordische Philologie des Deutschen Seminars der Universität Zürich durchgeführtes Forschungsprojekt mit dem Titel „Transmission in den skandinavischen Literaturen der Frühen Neuzeit“. Im Rahmen dieses Projekts wurden unter anderem einige internationale Symposien durchgeführt, deren Vorträge - wesentlich überarbeitet und durch weitere Aufsätze ergänzt - nun gedruckt in rascher Folge hintereinander als Bände 40, 42 und 45 der Schriftenreihe Beiträge zur Nordischen Philologie (BNPh), A. Francke Verlag, Tübingen und Basel, herauskommen. Als zweiter der drei Bände erscheint die von Jürg Glauser und Anna Katharina Richter besorgte Aufsatzsammlung Text - Reihe - Transmission. Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800. Die anderen beiden tragen die Titel Jürg Glauser (Hrsg.), Balladen-Stimmen. Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen der skandinavischen Balladentradition und Jürg Glauser / Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.), Rittersagas. Übersetzung, Überlieferung, Transmission. Während diese drei Sammelbände mit den Balladen, den Historienbüchern und den Rittersagas drei für die Transmissions-Thematik des Forschungsprojekts repräsentative, gattungsmäßig und historisch definierte Fallbeispiele behandeln, befasst sich das von Barbara Sabel und Jürg Glauser edierte Buch Text und Zeit. Wiederholung, Variante und Serie als Konstituenten literarischer Transmission, Königshausen & Neumann, Würzburg (2004), mit einigen zentralen theoretischen und methodologischen Aspekten des Projekts. Zwei unmittelbar aus dem Forschungsprojekt hervorgegangene Monographien sind die Zürcher Dissertationen von Barbara Sabel, Der kontingente Text. Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit, BNPh 36 (2003), und Anna Katharina Richter, Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit, BNPh 41 (2009). Der Band Jürg Glauser / Barbara Sabel (Hrsg.), Skandinavische Literaturen der frühen Neuzeit, BNPh 32 (2002), weist ebenfalls thematische und chronologische Bezüge zum Forschungsprojekt „Transmission in den skandinavischen Literaturen der Frühen Neuzeit“ auf. Die drei Sammelbände Balladen-Stimmen, Text - Reihe - Transmission und Rittersagas, von denen der zweite hiermit nach längerer Vorarbeit erscheint, verfolgen alle eine einheitliche Thematik, indem sie dem Phänomen von literarischer Transmission an konkreten Beispielen zeittief überlieferter Texte aus dem Spätmittelalter und der Frühneuzeit in Skandinavien nachgehen. Der vorliegende Band enthält lediglich eine kurze, auf die skandinavische Historienbuch-Tradition fokussierte Einleitung. In gleicher Weise ist die Einleitung zum ersten Band kurz gehalten. Dafür setzt sich die Einleitung zum Band über die altnordischen Rittersagas abschließend mit dem Vorwort VIII Transmissionskonzept in etwas ausführlicherer und grundsätzlicherer Weise auseinander. Finanziell wurden das Projekt „Transmission in den skandinavischen Literaturen der Frühen Neuzeit“ und die einzelnen Symposien in großzügiger Weise unterstützt von: Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Bern), Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Bern), Philosophische Fakultät der Universität Zürich, Freiwillige Akademische Gesellschaft (Basel), Max Geldner-Stiftung (Basel), Jubiläumsspende der Universität Zürich, Nordisk Ministerråd (Kopenhagen). Die Drucklegung dieses Bandes wurde durch einen Beitrag der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften ermöglicht. Allen diesen Institutionen gebührt unser ausdrücklicher Dank. - Die Herausgeberin und der Herausgeber danken zudem Miriam Bertschi, Lukas Rösli, Thomas Seiler sowie Isabelle Ravizza für die Unterstützung bei der Herstellung dieses Bandes. Zürich, September 2011 Jürg Glauser Anna Katharina Richter J ÜRG G LAUSER , Z ÜRICH / B ASEL A NNA K ATHARINA R ICHTER , Z ÜRICH Im Zentrum der Beiträge des vorliegenden Bandes stehen unterschiedliche Aspekte der Transmission von Texten und Bildern aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit in Skandinavien. In Form von Beispielanalysen gehen sie der Frage nach, wie sich die Formen und Inhalte erzählender Texte im Verlauf dieser Epoche in Prozessen von langer Überlieferung konkret veränderten. Die Aufsätze werfen auf diese Weise Licht auf eine Anzahl von Problemen und Konstellationen, die die vormoderne Literatur generell und in übergreifender Art bestimmen. Im Vordergrund steht dabei das hier als „Unfestigkeit“ umschriebene Phänomen einer sich medialen wie auch thematischen Festlegungen ständig entziehenden Textgestalt. Während sich zur Beschreibung der mittelalterlichen Manuskriptkultur und ihrer umfassenden handschriftlichen Kopiertätigkeit der Begriff der Varianz inzwischen allgemein durchgesetzt hat und diese geradezu als eine der Voraussetzungen der Text- und Schriftkultur des Mittelalters verstanden wird, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass das Oszillieren zwischen Textkonstanz und Textvarianz keineswegs an die Handschriftlichkeit gebunden ist. Vielmehr definieren Unfestigkeitsphänomene auch den frühen Buchdruck, so dass zumindest in Bezug auf die Aspekte der Textualität spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Erzählungen keineswegs von einer durch den Medienwechsel bedingten Ablösung von Varianz durch Stabilität gesprochen werden kann. Daraus ergibt sich als ein weiteres, die vormoderne Textualität in beträchtlichem Ausmaß definierendes Element der Umstand, dass ein Text sich in aller Regel nicht als ein isoliertes Werk fassen lässt. Meist steht ein konkreter Text nämlich in einer Reihe mehrerer und oft zahlreicher, älterer, gleichzeitiger und jüngerer, je spezifisch unterschiedlicher Texte, die zusammen eine Serie oder Reihe bilden und in ihrer Gesamtheit jene Größe konstituieren, die hier als Transmission bezeichnet wird. Mit einem solchen Modell eines dynamischen, in den verschiedenen Transmissionsetappen sich unterschiedlich stabil bzw. unfest verhaltenden Textes lassen sich auch Fragestellungen, die etwa die Text- und Editionsphilologie seit ihren Anfängen beschäftigt, nochmals neu aufgreifen. Das Transmissionskonzept, das sich nicht in der einfachen Überlieferung von Texten erschöpft, ist geeignet, Phänomene wie beispielsweise das Verhältnis von Original und Kopie, mit denen sich unter anderem die sogenannte Neue Philologie auseinandersetzt, in einer etwas grundsätzlicheren und übergreifenden Weise zu behandeln. Die folgenden Beiträge decken ein breites Spektrum von Textreihen und Transmissionssituationen ab und untersuchen das Phänomen der Unfestigkeit, die sich Jürg Glauser / Anna Katharina Richter 2 aus dem Verhältnis von Text, Reihe und Transmission ergibt, an verschiedenen Beispielen aus den skandinavischen Literaturen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit mit unterschiedlichen Vorgehensweisen. Den Auftakt macht der buch- und kulturhistorisch angelegte Beitrag von H ENRIK H ORSTBØLL (Lund), der sich mit dem Begriff der „små historier“ (Kleinen Historien) und ihrer Positionierung auf dem dänischen Buchmarkt vom 16. bis zum 19. Jahrhundert beschäftigt, also dem hier fokussierten Zeitraum der frühen Neuzeit. Am Beispiel der dänischen Historie von Doktor Johan Faust zeigt er insbesondere die formalen und medialen Dynamiken und Transformationen auf, die charakteristisch für die Transmissionsgeschichte dieses Historienbuchs sind, welche aber auch übergreifend für die gesamte Gattung geltend gemacht werden können. Der nächste Beitrag von A NNE M ETTE H ANSEN (Kopenhagen) widmet sich der Transmission spätmittelalterlicher dänischer Gebetbücher auf der Grundlage der Material Philology und nimmt damit auch explizit theoretische Voraussetzungen der Transmissionsforschung auf. Hansen zeigt anhand ausgewählter Beispiele dänischer Stunden- und Gebetbücher - Christiern Pedersens Vor Frue Tider, Gotfred von Ghemens Gudelige bønner sowie Marine Jespersdatters bønnebog, wichtigen Zeugnissen (weiblicher) Frömmigkeits- und Mentalitätsgeschichte im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Dänemark -, nach welchen Editionsprinzipien diese in der wissenschaftlichen Ausgabe Middelalderens danske bønnebøger im 20. Jahrhundert wiedergegeben sind und inwiefern hier auch das für das Textverständnis der Gebetbücher elementare Bildprogramm berücksichtigt ist. Mit zwei konkreten Fallbeispielen von Übersetzungs- und Überlieferungsfragen von skandinavischen Historien mit mittelalterlichen Vorlagen befassen sich die Artikel von S TEFANIE G ROPPER (Tübingen) und H UBERT S EELOW (Erlangen). G ROP- PER analysiert die Transmission der schwedischen Historia Trojana, die nach der mittelalterlichen lateinischen Vorlage Historia Destructionis Troiae des Guido de Columnis (1286) im Jahre 1529 angefertigt wurde, und damit zusammenhängend auch Fragen der Textproduktion und -rezeption, das Verhältnis von Schrift und Schriftlichkeit sowie das Erzählkonzept von Historienbüchern. S EELOW beleuchtet die besondere Transmissionsgeschichte, die das spätmittelalterliche deutsche Buch der Beispiele der alten Weisen des Anton von Pforr (1486) in seiner isländischen Übersetzung und Bearbeitung als Spekinnar bók im 17. und 18. Jahrhundert erfährt und geht der Frage nach, weshalb diese ein außergewöhnliches Beispiel für die Transmission kontinentaler Historienbücher in Island darstellt. Damit wird auch der für die Erforschung der Transmission des skandinavischen Historienbuchs wichtige Beitrag Islands in der frühen Neuzeit berücksichtigt. P IL D AHLERUP (Kopenhagen) knüpft in ihrem Artikel an Anne Mette Hansens Untersuchung spätmittelalterlicher Gebetbücher an, indem sie die intertextuellen Bezüge zwischen Martin Luthers Betbüchlein und seinen skandinavischen Übersetzungen und Bearbeitungen im 16. Jahrhundert durch Christiern Pedersen und Poul Einleitung 3 Helgesen eingehend erforscht und damit auch dezidiert Fragen konfessioneller Rhetorik nachgeht. Im Vordergrund von A NNA K ATHARINA R ICHTERS (Zürich) Beitrag steht die Analyse der textuellen und medialen Veränderungen und Bearbeitungsstufen in der dänischen und schwedischen Transmission eines ehedidaktischen Textes, des ursprünglich von Erasmus von Rotterdam verfassten Dialogs über die Ehe, Coniugium, der über eine deutsche Bearbeitung aus der Reformationszeit, Erasmus Alberus’ Ehb chlin, im 16. Jahrhundert nach Skandinavien gelangt und hier zu neuen Formen findet. Mit einem „klassischen“ Historienbuch befasst sich R ETO H OFSTETTER (Zürich); er vergleicht skandinavische und niederdeutsche Fassungen der Historie von Broder Ru(u)s/ Bruder Rauschen auf übersetzungstechnische und mediale Transformationen hin und analysiert dabei auch Text-Bild-Bezüge der verschiedenen Ausgaben. Während der Beitrag von S TEPHEN M ITCHELL (Harvard) den Blick der Transmission zur Folklore-Forschung hin erweitert, indem er das Phänomen der Transvektion mit dem Motiv der „verleumdeten Frau“ verbindet und anhand skandinavischer Text- (und Bild-)Beispiele untersucht, widmet sich F LEMMING L UNDGREEN - N IELSEN (Kopenhagen) einer prominenten Figur in der dänischen Literatur- und Kulturgeschichte, Holger Danske, und schlägt in seiner Untersuchung der verschiedenen literarischen Bearbeitungen einen weiten Bogen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. M ATTHEW J AMES D RISCOLL (Kopenhagen) lenkt abermals den Blick nach Island und beleuchtet Fragen der Textproduktion im Werk von Magnús Jónsson í Tjaldanesi (1836-1922), dessen bedeutendes Verdienst im Abschreiben zahlreicher isländischer Sagas, der Bewahrung der Texte selbst und eines speziell isländischen Erbes der Texttransmission besteht. Damit macht dieser Beitrag zugleich generell auf die Handschriftentransmission Islands im 19. und ihr Ende im frühen 20. Jahrhundert aufmerksam. Den Abschluss des vorliegenden Bandes bildet der Beitrag von M ATS M ALM (Göteborg) mit seiner Analyse ästhetischer und erzähltechnischer Grundlagen der beiden ersten schwedischen „Original-Romane“, Anders Törngrens und Jacob Mörks Adalriks och Giöthildas Äfwentyr sowie Jacob Mörks Thecla, eller Den bepröfwade Trones Dygd aus den 1740/ 50er Jahren. Malm untersucht eingehend Momente „realistischer“ Erzähltechnik in diesen Romanen vor dem Hintergrund der antiken und frühneuzeitlichen Romandebatte über Stil und Auktorität fiktionaler Texte und beleuchtet damit wichtige Fragen der Gattungsästhetik und -geschichte frühneuzeitlicher Erzählprosa in Skandinavien. Er schlägt damit auch einen Bogen zur Genese des frühen Romans in Skandinavien im 18. Jahrhundert und den (teilweise parallel verlaufenden) Phänomenen von Historienbuchtransmission und früher Romanliteratur. ! " # $ % & ' ( H ENRIK H ORSTBØLL , L UND Die „Kleinen Historien“ bildeten zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert eine eigene Gattung auf dem Buchmarkt, die weder geschlossen noch statisch war. Vielmehr zeigt sich bei einer Sichtung des gedruckten Materials, dass einige Titel, die über eine Zeit hinweg immer wieder gedruckt wurden, allmählich wegfielen, während neue hinzukamen. Einige Titel überlebten den gesamten Zeitraum, wobei die Historien jedoch eine Veränderung ihrer Form durchmachten. Die Form wiederum stellte Anforderungen an den Inhalt. Die „Kleinen Historien“ wurden in Oktav gedruckt, innerhalb dieses starren Formats jedoch veränderten sie im Laufe der Zeit ihre Form, und die Texte wurden dann der neuen Form angepasst. Wie das vonstatten ging, wird im Folgenden anhand der Ausgaben der Historie von Doktor Johan Faust untersucht. Im Kopenhagen des Jahres 1771 diskutieren in einer Flugschrift von 16 Oktavseiten ein Verleger und ein Schreiber über den veränderten zeitgenössischen literarischen Geschmack, den die neu erlangte Druckfreiheit mit sich führte: En ubetydelig Samtale imellem en Skribent og Forlægger i Anledning af den i Aviserne fremsadte Snik-Snak om Skrive-Friheden 1 (Ein unbedeutendes Gespräch zwischen einem Schreiber und einem Verleger aus Anlass des in den Zeitungen präsentierten Schnickschnack über die Schreibfreiheit). Die Pressefreiheit wurde durch den Leibarzt und Kabinettssekretär Königs Christian VII., Johann Friedrich Struensee, im September 1770 eingeführt, wobei gleichzeitig auch die Regierungsmacht durch einen Kabinettsbeschluss in seine Hände überging. Der politisch tätige Arzt wollte die Krise der absolutistischen Staatsführung mit aufgeklärten Reformen lösen, von denen die Pressefreiheit die erste war. 2 Dies brachte eine Unmenge an Pamphleten und Flugschriften mit sich; der größte Teil der gebildeten Öffentlichkeit war mit der Pressefreiheit zufrieden, gleichzeitig jedoch auch verärgert und bekümmert darüber, dass die neue Freiheit auch von neuen Skribenten in Anspruch genommen wurde, die nicht zur gebildeten Schicht gehörten: würden schlechte Schriften nicht den Absatz guter verhindern? Würde der populäre Geschmack nicht den guten verdrängen? 1 Anonym: En ubetydelig Samtale imellem en Skribent og Forlægger. København 1771. Bolle Willum Luxdorphs samling af trykkefrihedens skrifter, 1. række, Bd. 20, Nr. 13. 2 Grethe Ilsøe et al. (Hg.): Dansk forvaltningshistorie: Stat, forvaltning samfund, Bd. 1. København 2000, S. 277. Henrik Horstbøll 6 In Ein unbedeutendes Gespräch erwidert ein anonymer Verleger gegenüber einem fiktiven Schreiber, der dieses Problem zur Sprache bringt, dass die Herausgabe von Schriften als Folge der neuen Druckfreiheit in erster Linie abhängig von der Nachfrage nach Neuigkeiten und weniger eine Frage der Qualität sei. Der Verleger vertritt dabei die Ansicht, es sei nichts Neues, dass der Geschmack „bei den meisten ziemlich verdorben“ sei, so dass Verleger und Buchdrucker das publizieren müssten, von dem sie sich Absatz erwarten könnten. 3 Die Verleger und Buchdrucker, die die neuen Schriften beargwöhnten, hätten ihr gutes Einkommen mit Texten wie Finkeridderen, Jerusalems Skomager, Bonde-Practika und Sibyllæ Spaadom: Nu vil vore gamle Matroner og vore andægtige Grand-Mamaer ikke længer sukke, sørge og græde over Kiøge-Huuskors, fordi den nye Smag saaledes har indtaget dem, at de har gandske og aldeeles glemt alt andet Huuskors. 4 Jetzt werden unsere alten Matronen und unsere andächtigen Großmütter nicht mehr länger seufzen, sorgen und weinen über Kiøge-Huuskors, denn der neue Geschmack hat sie derart eingenommen, dass sie alle anderen Huuskors vollständig vergessen haben. Der Verleger fährt fort mit der Aufzählung von Kleinen Historien wie Svend Felding, Kong Appolonius, Marcolfus, Judas und Pilatus historier sowie Melusina und Magelones historie, die zusammen mit vielen anderen eine ganze Legion alter, populärer Schriften ausmachten, die „for Profittens skyld“ (des Profits wegen) herausgegeben würden. Wenn viele Texte, die jetzt wegen der neuen Druckfreiheit erscheinen, schlecht seien, so liege der Grund darin, dass die Buchdrucker und Verleger in diesem Fahrwasser fortsetzen müssten, „for selv at have lidt Levebrød, og tillige for at føie endeel af Kiøbenhavn, der nu vilde ikke have andet end Nyt, og for meste Deelen slet“ (um ein kleines Auskommen zu haben, und zugleich um einem Teil von Kopenhagen seinen Willen zu tun, der nun einmal auf Neues und meist Schlechtes versessen war). So lange der alte Sauerteig von Historien herauskomme, so lange würde der Geschmack danach riechen. 5 Der Verleger sieht nur Wiederholung und Kontinuität in der Entwicklung der alten Historien bis zum neuen Geschmack, während der Schreiber optimistischer gegenüber einer Zukunft eingestellt ist, die seiner Meinung nach mit der Druckfreiheit begonnen habe. Wenn das Volk erst am Guten seinen Geschmack gefunden habe, komme das Traum-Buch bald aus der Mode, „og da vil baade Læsere og Skribentere, Bogtrykkere og Boghandlere, komme til at leve ved en langt ædlere og ægtere Smag end til Dato.“ 6 (und dann werden sowohl Leser als auch Schreiber, Buchdrucker und Buchhändler von einem viel edleren und echteren Geschmack als bis anhin leben). 3 En ubetydelig Samtale imellem en Skribent og Forlægger. 1771, S. 4. 4 En ubetydelig Samtale imellem en Skribent og Forlægger. 1771, S. 6. „Køge Huskors“ war eine Geschichte über einige Sagen von Teufelsbesessenheit im Ort Køge bei Kopenhagen in den Jahren 1608-15, die von Johan Bruunsmand 1674 herausgegeben und auch noch im 18. Jahrhundert publiziert wurden und als Historie Absatz fanden. 5 En ubetydelig Samtale imellem en Skribent og Forlægger. 1771, S. 12-13. 6 En ubetydelig Samtale imellem en Skribent og Forlægger. 1771, S. 14-15. In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 7 Die Kontinuität in der Veränderung des populären Lesens wurde vor dem Hintergrund einer Vision von Aufklärung und Verbesserung des Geschmacks formuliert. Die Jahre der Druckfreiheit 1770 bis 1773 brachten eine neue Debatte über den populären, literarischen Markt in Gang, auf dem sich zweifellos eine Veränderung in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts vollzog. Die Verbreitung von Pamphletliteratur und der so genannte „neue Geschmack“ veränderten den Markt und die Lesekultur der Kleinen Historien, über die sich der anonyme Verleger hier ironisch äußert. Trotzdem hatte der Verleger Recht - es gab eine Kontinuität in der Veränderung populärer Lesestoffe. # "- ! : 1 & & & $ ( C + * Johan Rudolph Thiele hatte sich gerade sechs Monate vor Einführung der Druckfreiheit als selbständiger Buchdrucker etabliert; er war spezialisiert auf Lieder, Pamphlete und Satiren, die unter den neuen Verhältnissen einen in der Geschichte des dänischen Buchdrucks einzigartigen Markt erlebten. Im Oktober 1771 heiratete er Rebecca Buch, die Witwe des Buchdruckers Thomas Larsen Borup. Vor der Druckfreiheit war Borups Druckerei bekannt für populäre Drucke und Holzschnitte wie Haltefanden und Dødedansen. Das Vorwort zu seiner Ausgabe des alten Dødedans gleicht einem Programm: „Min Stands og Nærings Brug mig idelig forbinder/ At legge Skrifter op, som Smag og Biefald finder/ Jeg før den største Hob end faa behage vil/ Thi Fordeels Døren ved de sidste lukkes til“. 8 (Mein Stand verpflichtet mich, Schriften zu drucken, die Geschmack und Beifall finden. Ich will lieber der großen Menge als nur wenigen gefallen, den die Türe des Vorteils schließt sich bei letzteren). Die Zusammenlegung der Druckereien von Thiele und Borup sowie die Kombination von Material und Holzschnitt, Tradition und Erneuerung bildete den Rahmen für die größte Produktion von Flugschriften und Bilddruck in den Jahren der Druckfreiheit: Rund ein Fünftel aller Schriften dieser Zeit wurden von Johan Thiele und Rebecca Buch produziert. Nach der Einschränkung der Druckfreiheit im Jahr 1773 setzten sie ihre Tätigkeit auf dem Feld des populären Buchdrucks bis 1815 fort, als Thieles Sohn die Druckerei übernahm. Auch auf dem Gebiet der Kleinen Historien ist diese Entwicklung während der Zeit der Druckfreiheit bedeutsam. Thiele verkaufte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Historien om Doctor Faust (Die Historie von Doktor Faustus) von seiner Druckerei in Kopenhagen aus. Sie bildete zusammen mit anderen ‚Smaahistorier‘ (Kleinen Historien) das Repertoire der Dru- 7 Dieser Absatz beruht auf meiner Habilitation: Menigmands Medie. Det folkelige bogtryk i Danmark 1500-1840. En kulturhistorisk undersøgelse. København 1999, S. 465-477. 8 Harald Ilsøe: Bogtrykkerne i København og deres virksomhed ca. 1600-1810. En biobibliografisk håndbog med bidrag til bogproduktionens historie. København 1992, S. 150-51 und 172-75. Henrik Horstbøll 8 ckerei, für das Thiele auf dem letzten übrigen Blatt der Ausgabe Reklame machte. 9 Unter den 60 Kleinen Historien waren viele traditionsreiche Titel wie Griseldis, Fortunatus, Helena, Marcolfus und auch alte Lehrbücher wie Lucidarius und Bondepraktika. Jedoch vermischten sich auch neue Titel mit den traditionellen: etwa eine hochaktuelle Lebensbeschreibung von Kaiser Bonaparte, die der Katalog auf die Zeit zwischen 1804, dem Jahr der Kaiserkrönung, und 1806 datiert, als die Druckerei die Adresse wechselte. Fünf Titel der Kleinen Historien aus dem Verzeichnis in Thieles Faust-Ausgabe findet man auch in einem der ältesten Buchhändler-Kataloge über dänische Bücher überhaupt. Dort ist die Rede von einem Verlagskatalog von Lübeck Ende des 16. Jahrhunderts. Der Lübecker Buchführer Laurentz Albrecht druckte Verkaufskataloge über seinen Buchbestand und zwei von diesen von 1591 und 1599 sind erhalten. 10 Buchkataloge aus dem 16. Jahrhundert sind im Allgemeinen selten, aber bei diesen kommt noch hinzu, dass es sich um deutsche Kataloge handelt, die auch Bücher berücksichtigen, die für das dänische Sprachgebiet produziert wurden, das in jener Zeit mit einem generellen Importverbot für Bücher belegt war. Es ist also die Rede von Büchern, die trotz Absatzverbot gedruckt wurden. Dass die dänischsprachigen Bücher aus einem Duodez- und Oktavdruck bestanden, deutet darauf hin, dass der Markt für diese kleinen Bücher von einem Umfang gewesen sein musste, der bewirkte, dass die Aussicht auf Gewinn das Risiko der Beschlagnahmung und Konfiskation wert war - ein Risiko, das vielleicht gerade bei den kleinformatigen Büchern am geringsten war, die sich eines breiten und schwer kontrollierbaren Kolportagehandels bedienten. Über die Art der dänischen Bücher, die Laurentz Albrecht vertrieb, bekommen wir anhand des Katalogs von 1599 nur zu wissen, dass, abgesehen von Spangenbergs Postil, „Psalmbøger Euangel, Catechis. Bønebøger, Historier etc.“ (Gesangbücher, Evangeliare, Katechismen, Gebetbücher, Historien etc.) erwähnt wurden. Aufschlussreicher sind die Angaben über Titel und Formate im Katalog von 1591: Bücher in denischer Sprach Psalmbuch, Euangelia, Catechismus, Passio, Zerstörung Jerusalem, Betbuch, in 12. zu Lübeck gedruckt. Jesus Syrach vnd Tobiæ Buch, in 12, Lübeck. Betbüchlein auff alle Sontage Viti Dietherich, in 12. zu Lübeck gedruckt. 9 Den over hele Jorden bekjendte store Hexmester Dr. Johan Fausts saare mærkværdige Levnetsløb, Forbund med Djævelen og skrækkelige Endeligt. København. Tilkjøbs i store Helliggeiststræde No. 150 og 151. S. 31-32. 10 Der Katalog von 1591 ist im Quartformat gehalten, auf 38 Blatt gedruckt bei Asswerus Kröger in Lübeck mit dem Titel Catalogus librorum qvi reperiuntur in Bibliotheca Laurentii Alberti, civis ac bibliopolæ ciuitatis jmperialis Lubicencis, bei dem die letzten Seiten der dänischen (S. 74-75) und schwedischen (S. 76) Schriftsprache zum Druck gewidmet sind. Den Katalog von 1599 druckte Albrecht selbst im Quartformat auf 66 Blatt: Catalogus aliqvot librorum, apud Laurentium Alberti bibliopolam, Lubecæ ac Rostochij venalium. Dazu Isak Collijn: Bokföraren Laurentz Albrecht i Lübeck. Nordisk Tidskrift för Bokoch Biblioteksväsen, X, 1923, S. 171-176. In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 9 Passional mit Gebeten, Lübeck gedruckt Hettens [i.e.Hjertens] lieden Bønebog mit Leisten, Lübeck gedruckt. Nogle Merckelige Bøner, mit Leisten, Lübeck gedruckt. En Deylig Bønebog tilsammen dragne oc for Danschede aff Pet. Tideman, mit Illuminirten Figuren, in 8. Historien: Die Siu vise Mestare, in 8. Rostock anno 1591. Von König Apollonio, in 8. Vnge drengis Spiel, in 8. Blanceflor oc floris, in 8. M. Elucidarius, Lübeck in 8. Marcolphus vnd König Salomon, gedruckt zu Lübeck in 8. Von König Laurin, Lübeck in 8. Geiseldis, in 8. Von Peter Schmidt, in 8. Til Vlenspiegel, in 8. Passion Predigten Viti Theodori, in 8. Fader vor vorklaret. En liden Vandrebog M. hans Christenszøn, in 12. mit leisten. Handbog Christlicher Bøner oc Gesänge Hans Christenson. Der 51. Psalm Sauonarole. Nogle Bøner. Vergis mein nicht. Es handelt sich hier um die älteste bekannte, gesonderte Präsentation von „Historien“, die auf Dänisch gedruckt wurden, wobei nach Til Ulenspiegel und den Passionspredigten einige Gebetbücher aufgelistet sind. Die Historien aus Laurentz Albrechts Katalog finden wir in den Buchhändlerkatalogen des 19. Jahrhunderts sowie in den Katalogen der zeitgenössischen Leihbibliotheken wieder. Aber nicht nur die Titel waren konstant: Von Anfang an wurden die Kleinen Historien in Oktav gedruckt. Dieses Format zieht sich während 250 Jahren durch die Überlieferung in Buchhändlerkatalogen, Buchhändlerinventaren und Leihbibliothekskatalogen. Das Repertoire an Historien war jedoch nicht so statisch und geschlossen, wie es den Anschein macht, wenn man nur die Titel betrachtet, die während dieser Zeitspanne erschienen. Es war gekennzeichnet durch eine kumulative Ausweitung, bei der einige Titel, die jahrzehntelang immer wieder herausgegeben wurden, mit der Zeit wegfielen, während neue dazukamen, von denen einige immer wieder aufgelegt wurden. Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert waren die Historien ein leicht wiedererkennbares Produkt auf dem Buchmarkt. Was Form und Ausstattung betrifft, befanden sie sich auf derselben Ebene mit anderen klar abgegrenzten gedruckten Texten wie Gesangbücher, Gebetbücher, Stundenbücher und Almanache, die alle ihr erkennbares Format und ihre erkennbare Ausstattung hatten. Das Format stellte ein Kommunikationssystem dar, in dem die Historien eine scheinbar stabile Position in octavo besaßen, aber wie stabil waren sie eigentlich selbst? Henrik Horstbøll 10 Die älteste literarische Untersuchung des Repertoires, der Entwicklung und der Tradition der Kleinen Historien in Dänemark stammt von Rasmus Nyerup, der seine jahrzehntelangen Forschungen 1816 im Werk Almindelig Morskabslæsning i Danmark og Norge igjennem Aarhundreder (Allgemeine Unterhaltungslektüre in Dänemark und Norwegen durch die Jahrhunderte) publizierte. 11 Um das Repertoire einzugrenzen, bediente er sich eines Verlagskatalogs von Inger Vindekilde, der Witwe des Buchdruckers Joachim Wielandt, aus der Zeit zwischen 1735 und 1755. 12 Vom Repertoire des 18. Jahrhunderts arbeitete er sich zurück in die Vergangenheit. Es ging ihm vor allem darum, die Herkunft und die ursprüngliche Form der Historien zu finden und weniger darum, ihre Entwicklung zu verfolgen und die Art der Ausgaben zu untersuchen, die zu ihrer Zeit populär waren. Auch nahm Nyerup keine eigentliche Gattungsbestimmung der ausgewählten Texte vor und übernahm auch nicht Joseph Görres’ Volksbuchbegriff von 1807, 13 sondern hielt an der Bezeichnung „Unterhaltungslektüre“ fest. Auf diese Weise schloss er andere Formen populärer Lektüren wie Haushaltsbücher oder Andachtsbücher aus. Die Bezeichnung „Volksbuch“ wurde später als Titelbezeichnung einer Ausgabe von Carl Elberling (1867) übernommen, 14 den Höhepunkt jedoch erreichte der Begriff mit der großen Ausgabe Danske folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede (Dänische Volksbücher des 16. und 17. Jahrhunderts) zwischen 1915 und 1936: 15 eine texthistorische und bibliographisch gute Ausgabe, die eine Fortsetzung von Nyerups Arbeit darstellte. Ein großer Unterschied bestand jedoch trotz allem zwischen der Volksbuchtradition und Nyerups Begriff der „Unterhaltungslektüre“. Indem die Volksbücher von den internationalen Historien und den ins Dänische übersetzten „Romanen“ des 16. und 17. Jahrhunderts abgegrenzt wurden, entstand das Bild einer konstanten Tradition, gemäß der die gleichen Texte während dreier Jahrhunderte herauskamen, wobei dieser Eindruck von Kontinuität durch die Form des Projekts und die chronologische Abgrenzung gegeben war. Die Erneuerungen des Repertoires im 18. und 19. Jahrhundert wurden hier nicht berücksichtigt, weshalb beispielsweise zwei Drittel von Rasmus Nyerups Texten aufgrund der chronologischen Begrenzung aus dem privilegierten Kreis der Volksbücher herausfielen. Die kulturhistorische Volksbuchtradition war eine retrospektive Konstruktion, bei der die Kontinuität von ausschlaggebender Qualität war: Das Volkstümliche war das Ursprüngliche und das Stabile. 11 Rasmus Nyerup: Almindelig Morskabslæsning i Danmark og Norge igjennem Aarhundreder. København 1816. 12 Von Rasmus Nyerup gedruckt: Fortegnelse over den danske Almues Morskabsbøger. Maanedsskriftet Iris. Marts 1795, S. 227-229. 13 Joseph Görres: Die teutschen Volksbücher: Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetter- und Arzneybüchlein. Heidelberg 1807. 14 Carl Elberling: Danske Folkebøger. København 1867. 15 J.P. Jacobsen, Jørgen Olrik og R. Paulli (Hg): Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. 1- 13. København 1915-1936. In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 11 Im letzten Band der Ausgabe Danske Folkebøger legt der Herausgeber Richard Paulli Rechenschaft über die Überlieferungsgeschichte der ausgewählten Texte vom Mittelalter bis zur Gegenwart ab, d.h. inklusive des 18. und 19. Jahrhunderts. Demselben Prinzip folgt er auch in den Textbibliographien der Ausgabe. 16 Obwohl er den Blick dafür hatte, dass sich die Texte sich im Laufe der Zeit veränderten, zog er es doch vor, ihre Unveränderlichkeit bis ins 19. Jahrhundert hinein zu betonen: Nok saa karakteristisk som de Ændringer, Teksterne i Aarhundredernes Løb har været Genstand for, er den trofaste Vedhængen ved det overleverede, man ofte ser […]. Den Uforanderlighed, som disse Træk er Symptomer paa, har maaske været medvirkende til, at Bøgerne Aarhundreder igennem har haft et trofast Publikum i Almuen med dens konservative Smag. 17 Fast so charakteristisch wie die Änderungen, denen die Texte im Verlauf der Jahrhunderte ausgesetzt waren, ist das treue Festhalten am Überlieferten, wie man oft sieht […]. Die Unveränderlichkeit, für welche diese Züge ein Symptom sind, hat vielleicht dazu beigetragen, dass die Bücher jahrhundertelang ein treues Publikum beim gemeinen Mann mit seinem konservativen Geschmack hatte. Ein anderes Bild als diese Unveränderlichkeit, die mit der kulturhistorischen Volksbuchtradition zusammenhing, stellt sich dar, wenn man sich an Paullis Bibliographie ausgewählter Texte des 16. und 17. Jahrhunderts hält und diese mit Form und Inhalten der überlieferten Texte vergleicht. Das Bild ist eindeutig: Die Kleinen Historien durchliefen eine Formveränderung, die am markantesten im 18. und 19. Jahrhundert war. Der Prozess ereignete sich auf zwei Gebieten, durch Veränderung der Form und durch Redigieren des Wortlauts. Ein gutes Beispiel einer solchen Formveränderung liefert die Überlieferung der Historie En underlig oc dog meget skiøn Historie om den taalmodige Helena (Eine wundersame und doch sehr schöne Historie von der geduldigen Helena). Die älteste bekannte dänischsprachige Ausgabe des Textes wurde in Kopenhagen 1677 gedruckt. Es handelt sich um ein Oktav von 39 unpaginierten Blatt, das 1703 erneut herausgegeben wurde, diesmal mit Paginierung. 18 Später taucht der Text aus der Druckerei von Joachim Wielandt auf, in einer Version von 1729. 19 Joachim Wielandt wurde ein Matador auf dem literarischen Markt Dänemarks, nachdem er mit seiner Buchdrucker- und Verlagstätigkeit 1719 begann. Er erneuerte das Zeitungswesen und begann 1720 mit der Herausgabe der literarischen Wochenschrift Nye Tidender om lærde Sager, die die intellektuelle Schicht mit Rezensionen 16 Richard Paulli: Bidrag til de danske Folkebøgers Historie. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 13, 1936, S. 169-291. 17 Richard Paulli: Bidrag til de danske Folkebøgers Historie. S. 238-239. 18 En Underlig oc dog meget Skiøn Historie/ Om den Tolmodige Helena. København 1677, 39 unpag. Bl. Weiterer Druck: identischer Titel, ohne Ort 1703, 80 pag. S. 19 En Underlig oc dog meget Skiøn Historie/ Om den Tolmodige Helena. København, Trykt udi H.K.M. privileg. Bogtrykkerie, 1729, 72 pag. S. Henrik Horstbøll 12 und Neuheiten vom europäischen Literaturmarkt versorgte. 20 Um seine Geschäfte zu finanzieren, versuchte Wielandt 1721 ein exklusives Privileg auf 97 Bücher zu erhalten. Unter diesen befand sich auch die Historie von Helena. 21 Erst 1727 gelang es ihm, ein solches Privilegium auf dreißig Kleine Historien für die Dauer von zwanzig Jahren zu erhalten, aber beim Großbrand von Kopenhagen 1728 verlor Wielandt seine Druckerei im Feuer. Er begann von vorn und bekam 1729 für sich und seine Ehefrau die Privilegien erneuert und um weitere zwanzig Jahre verlängert. 22 Die Ausgabe der Helena-Historie von 1729 ist das sichtbare Resultat dieser Anstrengungen. Die Version war, im Vergleich zur Orthographie des 17. Jahrhunderts, sprachlich leicht redigiert und hatte einen Umfang von 72 Seiten mit Blocksatz oder Kolumnen auf 27 Linien, gesetzt mit einer großen leserfreundlichen Schrift, und es gab auch Platz für fortlaufende Kolumnentitel. Joachim Wielandt starb 1730, worauf seine Ehefrau Inger Vindekilde den Betrieb übernahm. Nach wenigen Monaten verlor sie jedoch das Privileg als königlich privilegierte Universitätsbuchdruckerin, setzte aber ihre Tätigkeit mit den vererbten Privilegien fort, mit denen sie zur Großproduzentin von Neuerscheinungen und populärer Literatur in allen Sparten wurde. 23 Überliefert sind vier Ausgaben der Historie von Helena unter den vielen Kleinen Historien aus ihrer Druckerei, die auf den Titelblättern anhand der Firmenbezeichnung „H.K.M. privilegerede Bogtrykkerie“ (Seiner Königlichen Majestät privilegierte Buchdruckerei) zu erkennen sind. In der Zuteilung der Privilegien war zwar ausdrücklich bestimmt, dass die Kleinen Historien kein königliches Privilegium haben sollten, aber dies galt ja nicht für die Druckerei selbst. Die Helena-Ausgaben aus der Druckerei Vindekilde haben unverändertes Oktavformat, aber ihre Form veränderte sich von Ausgabe zu Ausgabe. In der Version von 1734 beschränkte sich der Papierverbrauch auf vier Bogen, d.h. 64 Seiten. Dies wurde erreicht, indem die Kolumnentitel entfernt und zwei Extralinien auf jeder Seite eingefügt wurden, womit man sechs Seiten gewinnt. In der Version von 1754 präsentiert sich die Historie von der geduldigen Helena mit einer Kolumne auf 32 Li- 20 P.M. Stolpe: Dagspressen i Danmark, dens vilkaar og Personer indtil midten af det attende Aarhundrede. Bd. 3, 1881, S. 1-71. Jette D. Søllinge/ Niels Thomsen: De danske aviser 1634-1989. Bd. 1, 1988, S. 86-93. 21 In seinem Gesuch argumentierte Wielandt dafür, die små historier würden ein Einkommen erzielen, das für andere kostspielige Projekte verwendet werden könnte, d.h. also, dass bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Historien nicht zur gebildeten Lektüre gehörten: „Saadan Kram er det, der skal soutenere den store Hasard og de store Omkostninger, der falder ved reelle og gode Bøgers Oplag.“ (Solcher Kram ist es, der das große Hasard und die großen Kosten soutenieren soll, die bei reellen und guten Büchern anfallen). E.C. Werlauff: Historiske Antegnelser til Holbergs 18 første Lystspil. København 1858, S. 146. Wielandts Argument wurde zu einer Replik in Ludvig Holbergs Komödie Barselstuen von 1723. 22 Das Verzeichnis über die små historier, für die Wielandt und seine Nachfolger das Privileg bekamen, inklusive der Helena, wird zitiert bei E.C. Werlauff: Historiske Antegnelser til Holbergs 18 første Lystspil. København 1858, S. 145-149. 23 Harald Ilsøe: Bogtrykkerne i København ca. 1600-1810. København 1992, S. 109-111 (s. auch Anm. 12). In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 13 nien und einer kleineren, schlechteren Satzqualität, womit sie Platz auf nur drei Bogen, also 48 Seiten, findet. Gleichzeitig wurden kleinere Textkürzungen vorgenommen. Wo es z.B. in der Ausgabe von 1729 hieß: „Paven har ikke Magt at tillade det, som er mod Guds Bud, og førend jeg overtræder Guds Bud og samtykker…“ (Der Papst hat nicht die Macht zu erlauben, was gegen Gottes Gebot ist, und bevor ich Gottes Gebot übertrete und mein Einverständnis gebe…), verkürzt die Version von 1754: „Paven har ikke Magt at tillade det, som er mod Guds Bud, og førend jeg her udi samtykker…“ (Der Papst hat nicht die Macht zu erlauben, was gegen Gottes Gebot ist, und bevor ich dazu mein Einverständnis gebe…). 24 Jedes einzelne Wort zählte, denn es war wichtig, die Historie auf drei Bogen zu reduzieren, weil der Papierverbrauch ein entscheidender Kostenfaktor bei der Produktion war, die ein breites Publikum erreichen sollte. Mit einem Umfang von „drei Bogen in Oktav“ hatte Helena ihre Form auf dem Buchmarkt des kommenden Jahrhunderts gefunden. Von der „H.K.M. privilegerede Bogtrykkerie“ stammen weitere Ausgaben in diesem Format aus den Jahren 1757 und 1763, und Helena war mit anderen Historien dabei, als Inger Vindekildes Sohn die Druckerei an Hans Jensen Graae verkaufte, der sie 1765 übernahm. In der Zeit, als Graae die Helena-Historie produzierte, wurde sie 1770, im ersten Jahr der Druckerei, auch ein Teil des Repertoires von Johan Rudolph Thiele. Als dieser wiederum die Historie für eine Ausgabe aus der Zeit zwischen 1797 und 1806 redigieren und in einem modernen Dänisch schreiben ließ, wurde an den „drei Bogen Oktav“ festgehalten, und diese modernisierte Version übernahm dann der Produzent P.W. Tribler zwischen 1829 und 1835. 25 Was die Historie von Helena betraf, so wurde sie bei Wielandt und Vindekilde für einen wachsenden, populären literarischen Markt zwischen den 1720er und den 1750er Jahren zurechtgelegt. Eine vergleichbare Entwicklungslinie durchlief auch die Historie von Kaiser Octavian. En skiøn lystig Historie om Kejser Octaviano, hans Hustrue oc to Sønner (Eine schöne und lustige Historie von Kaiser Octavian, seiner Frau und seinen Söhnen) gehörte zu den umfangreichen Historientexten. Die ersten überlieferten Ausgaben, 1658 und 1697 in Kopenhagen auf Dänisch gedruckt, umfassten 135 bzw. 112 Blatt. Als Inger Vindekilde 1744 die Historie in ihr Repertoire der „H.K.M. privilegerede Bogtrykkerie“ aufnahm, modernisierte sie den Text und richtete ihn zu einem Buch von 82 Blatt resp. 164 Seiten ein, die in einer späteren Ausgabe auf 160 Seiten reduziert wurden, was 10 Bogen entsprach. Es handelte sich dabei noch immer um ein großes Buch. Am gleichen Format und Papierverbrauch wurde 1768 in einer Ausgabe von Hans Jensen Graae festgehalten, der jedoch den Text in den Ausgaben der 1780er Jahre dann auf neun Bogen (144 Seiten) reduzieren konnte. 26 Thiele hingegen nahm Kaiser Octavian nicht in sein Programm auf, vermutlich weil diese Historie zu lang 24 In der Ausgabe von 1729 S. 5, in der Ausgabe von 1754 Bl. A2. 25 Richard Paulli: Haandskriftbeskrivelse og Bibliografi. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 8, 1920, S. 216-220. 26 Richard Paulli: Bibliografi. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 4, 1919, S. 329- 345. Henrik Horstbøll 14 und damit zu teuer für sein Konzept bezüglich der Herausgabe Kleiner Historien war. Warum er selber diese Historie jedoch nicht bearbeiten und kürzen ließ, weiss man nicht, hielt er sich doch bei anderen Titeln wie Historien om den Skiønne Magelona og Peder med Sølvnøglen (Historie von der schönen Magelone und Peter mit dem Silberschlüssel) damit nicht zurück. Die Historie von Magelone gehört zu den Historien, die eine lange Überlieferung von Ausgaben vom 17. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert haben. Im Zusammenhang mit der dänischen Buchgeschichte ist sie zwangsläufig verknüpft mit der Geschichte des Pastors Johannes Rüdes vom Dienstmädchen Mette Jensdatter, die 1688 im Kirchenbuch von Vonsild festgehalten wurde. 27 Mette war auf den Markt in Kolding gegangen, um eine Historie wie Peder med Sølvnøglen zu kaufen, kam jedoch auf dem Heimweg um - eine kleine Kriminalgeschichte, die etwas von der sozialen Breite des Magelone-Publikums am Ende des 17. Jahrhunderts verrät. Die Ausgabe der Schönen Magelone, die Mette vor ihrem dramatischen Tod gekauft haben mag, umfasste 63 Blatt, was den bekannten Ausgaben des 17. Jahrhunderts (1690, 1698) entspricht, während die Ausgaben des 18. Jahrhunderts nur noch 56 Blatt bzw. 112 paginierte Seiten umfassten, so wie wir die Historie bei Hans Jensen Graae im Jahre 1783 vorfinden. 28 Als der Buchdrucker Thiele dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Magelone-Historie in sein Repertoire von Kleinen Historien aufnahm, geschah dies unter Auslassung der Kapitelüberschriften und mit einem neuen Satz, so dass sie im Format „drei Bogen Oktav“ erscheinen konnte. 29 Die Historie wurde also bei Thiele auf ein Drittel, von den ursprünglich 126 auf nunmehr 48 Seiten reduziert, eine Verkürzung, die für die Ausgaben des 19. Jahrhunderts formgebend war. Die Historien von Fortunatus und von Kong Appolonius durchliefen dieselbe Formatveränderung und kamen an der Schwelle zum 19. Jahrhundert auf einigen wenigen Bogen bei Johan Rudolph Thiele heraus. 30 Viele Kleine Historien hatten aber auch von vorneherein eine Länge, die den modernen Anforderungen des Marktes für populäre Lesestoffe entsprach, was die Anpassung erleichterte. 27 Hans H. Worsøe (Hg.): Vonsild Kirkebog 1659-1708. København 1982, S. 143-144. Charlotte Appel: Læsning og bogmarked i Danmark i 1600-tallet. Bd. 1, København 2001, S. 17-18. 28 Richard Paulli: Haandskriftbeskrivelse og Bibliografi. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 7, S. 235-242. 29 En ualmindelig smuk Historie om den skjønne Magdelone, en Kongedatter af Neapel, og Ridder Peter med sølv Nøglerne, en Grævesøn af Provence. Skreven til behagelig Morskabslæsning. København. Tilkiøbs i store Helliggejststræde No. 149 (d.h. bei Thiele nach 1806). Der Magelona-Titel wird auch in Thieles Verkaufskatalog in der Faust-Historie (s.o., Anm. 9) genannt, so dass die Verkürzung wahrscheinlich in Zeit zwischen 1797 und 1806 vorgenommen wurde. 30 Fortunatus wurde Ende des 18. Jahrhunderts bei Hans Jense Graae gedruckt in Ausgaben von neun Bogen (144 S.), während Thiele ihn auf vier Bogen reduzierte (64 S.). Kong Appolonius kam im 18. Jahrhunderts u.a. bei Inger Vindekilde und Hans Jensen Graae in Ausgaben von 6 Bogen (96 S.) heraus, aber Thiele reduzierte ihn auf nur eineinhalb Bogen (24 S.), daher gab es auf der letzten Seite Platz für eine Verkaufsliste. Sowohl Fortunatus als auch Appolonius kamen aber im 19. Jahrhundert auch wieder in längeren Versionen heraus. Vgl. Richard Paulli: Bibliografi. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 10, S. 271-287 und Bd. 3, S. 201-210 (Supplement: Bd. 13, S. 151-154). In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 15 En Lystig Samtale imellem Kong Salomon og Marcolfus (Ein lustiges Gespräch zwischen König Salomo und Marcolfus) etwa ist mit einer Ausgabe von Lübeck in Laurentz Albrechts Katalog der „Bücher in Denischer Sprach“ von 1591 repräsentiert. Diese Ausgabe ist nicht bewahrt, doch die älteste erhaltene Ausgabe von 1699 hatte von Anfang an das Format „drei Bogen Oktav“. Auch eine Ausgabe von 1711 umfasste zwanzig Blatt über zweieinhalb Bogen, während sämtliche erhaltenen Ausgaben vom Ende des 18. Jahrhunderts und die Ausgaben bis 1846 sich auf nur zwei Bogen beschränkten, also 32 Seiten. 31 Ein Bogen Papier wurde gespart, der Schrifttyp verkleinert und der Text sprachlich modernisiert (z.B. mit einem im Text fleißig gebrauchten Wort wie „ars“, das zum moderneren „røv“ (Hintern) wurde). Josephs Historie, oft Assenath genannt, weil Josephs Ehefrau offensichtlich spannender als Joseph selbst war, weist beinahe den selben Umfang wie Marcolfus und eine vergleichbare Entwicklung innerhalb des Oktavformats auf: In den Ausgaben von 1657 und bis zu derjenigen von Inger Vindekilde 1735 bestand sie aus zwei Bogen, aber in der darauffolgenden überlieferten Ausgabe von 1786 war sie verkürzt auf nur 24 Seiten. Ein halber Bogen Papier wurde gespart, und dabei blieb es. 32 Historien om Ridder Reymundt og Melusina (Die Historie von Ritter Reymundt und Melusine) wurde von 1667 bis zu Wielandts Ausgabe im Jahre 1729 ebenfalls auf zwei Bogen Papier gedruckt, während sie bei Borup und Thiele im Kopenhagen der 1770er Jahre auf 24 Seiten verkürzt wurde, also genauso wie Josephs Historie. Diese Formatierung wurde so das ganze Jahrhundert hindurch beibehalten, und erst in der Ausgabe von H.P. Møller 1858 genügten sechzehn Seiten. Dasselbe geschah mit Griseldis, die von 48 auf 24 Seiten verkürzt wurde, bevor Thiele die Historie zwischen 1797 und 1806 in der gleichen Formatierung von anderthalb Bogen Oktav modernisierte. 33 Die Historien von Judas und Pilatus waren zwar von Anfang an kurzgefasst, wurden aber doch, verglichen mit den Ausgaben des 18. Jahrhunderts, bei Thiele zwischen 1797 und 1806 um ein Drittel gekürzt. Sie wurden nun einzeln auf einem bzw. auf anderthalb Bogen gedruckt, was genau der Hälfte des Formats der älteren Ausgaben aus dem 17. Jahrhundert entsprach. 34 Nur das Oktavformat selbst war stabil. Im Laufe des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Kleinen Historien zu Kurzhistorien mit einem Umfang von einem bis vier Bogen im Oktavformat. Dieses entsprach dem übrigen Repertoire und dessen Preisniveau, und der Umfang war für den Kolportageverkauf damit gut geeignet. 35 Orthographie und Sprachgebrauch der Texte wurde im 18. Jahrhundert laufend modernisiert, während die Kürzungen aus Formatgründen vorgenommen wurden. Zwei Orte waren zentral bei 31 Richard Paulli: Bibliografi. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 13, S. 83-94. 32 Richard Paulli: Bibliografi. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 1, S. 231-240. 33 Richard Paulli: Bibliografi. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 7, S. 253-267 und Bd. 8, S. 233-250. 34 Richard Paulli: Bibliografi. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 1, S. 253-263. 35 Gerade Mathias Thiele, einer der Söhne von Johan Rudolph Thiele, hat in seinen Memoiren aus den Jahren 1795-1826 über die Kolportagetätigkeit der väterlichen Druckerei berichtet. Vgl. Mathias Thiele: Af mit Livs Aarbøger. København 1873, S. 1-60. Henrik Horstbøll 16 dieser Formatveränderung: die Wielandtsche Verlagsdruckerei, die das Privilegium auf eine Reihe von Kleinen Historien bis 1749 besaß und davon fleißig Gebrauch machte, um Literatur aus dem 17. Jahrhundert auf dem Buchmarkt des 18. Jahrhunderts wieder herauszugeben; die andere war die Verlagsdruckerei Johan Rudolph Thieles, die sich auf populäre Lesestoffe, Bilder und Lieder aus dem Jahr der Druckfreiheit 1770 spezialisierte. Doch nicht nur Formate und Textversionen durchliefen eine Veränderung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Die Formatveränderung war ein Teil der umfassenderen Kontextveränderung für die Kleinen Historien auf dem literarischen Markt, die auch das Handlungsuniversum und die Vorstellungswelt involvierte. " # $ Bereits ein Jahr, nachdem Johann Spies die Erstausgabe von Historia von D. Johann Fausten in Frankfurt am Main gedruckt hatte, kam sie 1588 in dänischer Übersetzung bei Mads Vingaard in Kopenhagen heraus, 36 auf 128 schön gedruckten Blatt mit großen Überschriften und Marginalien oder mit einem laufenden Inhaltsverzeichnis in den Marginen. Es handelte sich also um ein großes und teures Buch. Wenn auch die Faust-Historie ganz aktuell war, gab es doch andere und billigere Möglichkeiten, um vor Zauberei und ihren fatalen Folgen zu warnen. Ein Neuheitsblatt des Buchdruckers Lorenz Benedicht, der ein Konkurrent von Mads Vingaard in Kopenhagen war, setzt die Faust-Historie in Perspektive. 37 Es handelt sich hierbei um die dänische Übersetzung eines deutschen Flugblatts, das über die Zaubereiprozesse im Rheinland zwischen Trier und Köln berichtet, die sich im Vorjahr ereignet hatten. Der Buchdrucker Lorenz Benedicht kannte seinen Markt gut: Die dänischen Hexenprozesse fanden in den letzten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts statt und kulminierten in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts. Das Flugblatt von 1591 entsprach damit gemäß der Statistik dem Zeitgeist. Was für eine Vorstellungswelt präsentierte Lorenz Benedicht seinen Lesern? Eine Vorstellungswelt, bei der die Hölle - mit den Worten des Flugblatts - zu klein wurde: Teufel liefen in der ganzen weiten Welt umher und verursachten Verkrüppelung, Tod durch Ersticken, Kindstod, Lahmheit und andere Katastrophen. Die Hauptgeschichte oder Hauptfaszination war hier der stumme „Werwolf“ Peder aus Boppard, einem Ort nahe bei Köln. Die rituelle Tötung des „Werwolfs“ war auch das Thema des Holzschnitts auf dem Flugblatt, der sämtliche Phasen der Hinrichtung 36 Die deutschsprachige Publikationsgeschichte kann bibliographisch nachverfolgt werden bei Karl Dietrich Leonhard Engel: Bibliotheca Faustiana. (1884) Hildesheim 1970, S. 57-108, sowie die dänischsprachige Publikationsgeschichte bei Richard Paulli: Bibliografi. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede. Bd. 12, S. 251 ff. 37 En Forskreckelig oc Sand Bescriffuelse om mange Troldfolck: som ere forbrende for deris Misgierninger skyld fra det Aar 1589 regnendis: Først tryckt udi Colne met Caspar Schumans aff Erfurt bekostning Oc nu udi Kiøbenhaffn aff Laurents Benedicht. 1591. 6 Blatt in Quartformat. In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 17 illustriert, bis schließlich der Kopf des stummen Peder auf dem Körper einer Wolfsfigur festsaß, die aus Holz, auf einem Rad konstruiert, dargestellt ist. Im Gegensatz zur zeitgenössischen Auffassung des stummen Peder und anderer unglücklicher Angeklagten im Flugblatt von 1591 war die Faustfigur nicht unfreiwillig verhext. Faust selber hatte eine Wahl getroffen und das Böse für vorübergehenden Gewinn und ewige Verlorenheit gewählt. Diese persönliche Wahl war das Moderne an der Faust-Historie, der Kontext für die Verschreibungsgeschichte hingegen traditionell. Im Faustbuch löst die eine selbständige, kleine Zaubereiepisode die andere ab, ohne inneren Zusammenhang. Die Anzahl der Historien ergab sich allein aus der Länge des Buches. Die Faust-Versionen des 16. und 17. Jahrhunderts beinhalteten sowohl eine Kosmographie als auch eine Lebensbeschreibung. Die kosmographischen Beschreibungen von Himmel und Hölle waren deutlich von gedruckten Kosmographien, Chroniken und Topographien inspiriert, nicht zuletzt von vergleichbaren Beschreibungen in Hartmann Schedels Weltchronik von 1493, die 1497 auf Deutsch herauskam. 38 Gleichzeitig war die Faust-Historie eine protestantische Erbauungsschrift und eine Warnung vor der Verdammnis. 1635 hatte sich der Schuhmacher Christen Pedersøn in Odense mit Leib und Seele dem Teufel verschrieben „efter Fausti Eksempel, som han beraaber sig paa“ (nach dem Beispiel Fausts, auf den er sich beruft). 39 Das Konsistorium der Universität wurde in dieser Sache angehört, die Professoren empfahlen die Todesstrafe für den Schuhmacher, samt dass den kristne Øvrighed vilde af gudelig Nidkjærhed lade under Livsstraf forbyde Fausti Historie og andre saadanne bespottelige Skrifter, af hvilke de enfoldige kunne til Djævelens Tjeneste forføres die christliche Obrigkeit aus frommem Eifer die Historie von Faust unter Androhung der Todesstrafe verbieten lässt, ebenso auch andere solche verachtenswerten Schriften, durch die einfältige Personen zum Dienst am Teufel verführt werden könnten. 40 Mit dem Tod wurde die Verbreitung dieser Historie zwar nicht gestraft, aber weil die Universität als Zensurorgan waltete, besteht kein Zweifel darüber, dass die Faust- Historie nach 1635 aus Zensurgründen verboten wurde. Dies ist vielleicht der Hintergrund für die Tatsache, dass wir Faust-Ausgaben aus Schonen (dem heutigen Südschweden) aus dem 17. Jahrhundert kennen. 1674 wurde der Text in Lund wieder herausgegeben, ohne Marginalien, und zwar aus dem einfachen Grund, dass auf diese Weise Papier für eine Margin eingespart wurde. Dadurch ergaben sich nur 33 Blatt - ca. ein Viertel des ursprünglichen Buchumfangs. Von einer Prachtausgabe wurde die Historie also zu einer normalen Oktavausstattung verändert, sie wurde zu 38 Historia von D. Johann Fausten. Mit einem Nachwort von Renate Noll-Wiemann. Ludwig Erich Schmitt & Renate Noll-Wiemann (Hg.): Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken. Reihe A Band 13. Hildesheim 1981, S. 247. 39 Holger Frederi Rørdam: To mærkelige Universitetsbetænkninger. Kirkehistoriske Samlinger 5. København 1864-66. S. 451. 40 Holger Frederi Rørdam: To mærkelige Universitetsbetænkninger, S. 453. Henrik Horstbøll 18 einer Historie neben anderen Historien. Der Umfang von 95 bis 96 Blatt war dagegen der Normalfall in der Reihe überlieferter Exemplare im ausgehenden 17. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert bestand dann die Historie von Doctor Faust plötzlich nur noch aus 48 Seiten, und das ideale „drei Bogen Oktav“ wurde von den ersten überlieferten Exemplaren ab 1732 gängig für die Ausgaben des 18. Jahrhunderts. 41 Der so verkürzte Faust war eine deutsche Bearbeitung, vorgenommen von CM, „ein Christlich Meynender“, in Frankfurt und Leipzig in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. 42 Die dänische Übersetzung wurde durch den jungen Theologen N.F. Bang ausgearbeitet, der sich als Hauslehrer und Schreiber ernährte, bevor er 1734 auf die Westindischen Inseln geschickt wurde, wo er 1736 auf St. Thomas starb. 43 Joachim Wielandt hatte 1729 das Recht auf die Faust-Historie erhalten, und Doctor Fausti historie figurierte auch auf der Verkaufsliste von Inger Vindekildes Druckerei in den Jahren 1735 und 1755. 44 Dass Wielandt das Recht auf die Historie erhalten konnte, zeigt, dass diese Version nicht mehr der Zensur unterlag. Im Vorwort zur verkürzten Version des 18. Jahrhunderts sagt der anonyme Verfasser, der Hintergrund für die Redigierung sei, denjenigen nachzukommen, „som have ønsket sig at have hans Levnets Beskrivelse aleeneste paa nogle Ark“ (die seine Lebensbeschreibung auf nur wenigen Blatt gedruckt gewünscht haben). 45 Die drei Bogen Oktav reichten aus, wenn die 68 Kapitelüberschriften entfernt wurden und die Haupthandlung der Historie betont wurde, während die vielen eingeschobenen Historien auf nur einigen wenigen Zeilen referiert wurden. Gleichzeitig wurde auch die Zusammenfassung der spätmittelalterlichen Kosmologie der früheren Ausgaben aus dem 16. und 17. Jahrhundert weggelassen. Das Version des 18. Jahrhunderts war zwar der Kernhandlung des Faust aus dem 16. Jahrhundert treu, aber die protestantische Dimension und die Kritik am „Papismus“ wurden verstärkt: 41 Dend i den gandske Verden bekiendte Erts-Sort-Konstner og Trold Karl D Johan Faust Og hans med Diævelen oprættede Forbund forundringsfulde Levnet og forskreckelig endelig, beskreven af en Christelig Meenende paa nye effterseet, Og alle mutvillige Syndere til en hiertelig formaning og Advarsel til Trycken befordret, Oversat af det Tydske Sprog ved N.F.B. Ohne Ort 1732. 42 Karl Dietrich Leonhard Engel: Bibliotheca Faustiana. 1970, Nr. 226, S. 90-91 43 H. Ehrencron-Müller: Forfatterlexikon omfattende Danmark, Norge og Island indtil 1814. Bd. 1. København 1924, S. 236-37. 44 Zum Privileg: E.C. Werlauff: Historiske Antegnelser til Holbergs 18 første Lystspil. København 1858, S. 149. Zu Vindekildes Katalog: Rasmus Nyerup: Fortegnelse over den danske Almues Morskabsbøger. Maanedsskriftet Iris. Marts 1795, S. 227-229. 45 Den i den ganske Verden bekiendte Erts-Sortkonstner og Troldkarl Doctor Faust og hans med Dievelen oprettede Forbund forundringsfulde Levnet… Oversat af det Tydske Sprog ved N.F.B. Haderslev 1775. A2. Vgl. die deutschsprachige Version: „Damit ich dem Verlangen einiger, welche seine Lebens-Beschreibung nur in etlichen Bogen zu haben gewünschet, ein Genügen thun möge.“ In: Karl Dietrich Leonhard Engel: Bibliotheca Faustiana. 1970, Nr. 226, S. 90. In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 19 Nok er det, naar vi sige, at det var ham ganske let, at se Lutheri Reformation forud, eftersom der i hans Tid hørtes den største Sukken under det haarde Aag i Pavedommet, og Præsternes ugudelige, ja, sodomistiske Opførsel, havde Indseende fornøden. 46 Es genügt hier zu sagen, dass es ihm recht leicht fiel, die Reformation Luthers vorauszusehen, denn zu seiner Zeit konnte man das gewaltige Seufzen unter dem harten Joch des Papsttums vernehmen, und das widergöttliche, ja, sodomistische Betragen der Priester hatte Einsicht nötig. Als etwas Neues wurde eine kleine pietistische Wendung eingeführt: „Hvoraf vi lære at kiende Guds ubeskrivelige Barmhiertighed, at alle Creature, endogsaa Dievelen selv imod hans Villie, maae formane de affaldne Syndere til Omvendelse.“ 47 (Woraus wir Gottes unbeschreibliche Barmherzigkeit erkennen, dass alle Geschöpfe, sogar der Teufel gegen seinen Willen, die abgefallenen Sünder zur Bekehrung ermahnen sollen). Der Begriff der Bekehrung zog damit in der Version des 18. Jahrhunderts ein. Faust wurde zu einem Anti-Bild der Möglichkeit zur Bekehrung - ein Begriff, den die Version von 1588 noch nicht verwendete. Gleichzeitig mit der Herausgabe des gekürzten Faust im 18. Jahrhundert kam 1733 in Kopenhagen die Historie vom Teufelspakt des Herzogs von Luxemburg auf den Markt. Sie hatte das gleiche Format wie der gekürzte Faust, d.h. drei Bogen Oktav, von denen 44 Seiten Text waren. Hinzu kamen als Seltenheit zwei Bogen mit Bildern, die mit vier Holzschnitten den Beginn und den Schluss der Historie illustrierten. 48 Die eigentliche Historie nimmt die ersten 30 Seiten in Anspruch, worauf eine „Til-Skrift om Christian Friederich Grasshoff hands Forbund med Diævelen“ (Nachschrift über den Pakt Christian Friederich Grasshoffs mit dem Teufel) folgte, die mit „Torgau 1709“ datiert ist. Die Historie war im Kopenhagen des Jahres 1721 bekannt, wo sich ein Musketier aus Rendsburg nach dem Vorbild des Herzogs von Luxemburg angeblich dem Satan verschrieben hatte. 49 Die Paktgeschichte des Herzogs war nach einigen historischen Begebenheiten während des Niederländischen Krieges 1672-78 gestaltet. In den zeitgenössischen Zeitungen wurde über die brutale Einnahme der Städte Trier und Utrecht im Jahr 1673 durch den Herzog von Luxemburg berichtet. 50 Vor diesem Hintergrund bilde- 46 Den i den ganske Verden bekiendte Erts-Sortkonstner og Troldkarl Doctor Faust. Haderslev 1775. S. 38. 47 Den i den ganske Verden bekiendte Erts-Sortkonstner og Troldkarl Doctor Faust. Haderslev 1775. S. 17. 48 Den over heele Verden berømte Hertug af Luxenborg Forrige Kongl. Franzøske General samt Hof- Marchal Hands Pagt og Forbund med Satan, hvilken hand skal have indgaaet og sluttet, da hand Anno 1659 sad fængslet udi Bastillen til Paris… men endtes med forskrekkelse den 2. Jan. 1695. København 1733. Eine Version von 1794, ohne Ort, hat 38 S. ohne Illustrationen. 49 E.C. Werlauff: Historiske Antegnelser til Holbergs 18 første Lystspil. København 1858. S. 460- 468. Werlauff meint daher, dass die Historie auf Dänisch früher als die überlieferten Versionen herausgegeben wurde; aber der Musketier besaß vermutlich eine deutschsprachige Ausgabe. 50 „Der Herzog von Luxenburg ligt mit 13000 Mann in und um Utrecht, und erwartet noch etlich tausend, die vor Trier gewesen sind. Sie sollen nach Eroberung selbiger Stadt sehr Henrik Horstbøll 20 ten Kriegsgerüchte über die „unchristlichen und barbarischen Taten“ des Herzogs den mittleren Abschnitt der Erzählung, die einerseits vom eigentlichen Teufelspakt (in 28 Punkten) von 1653 und andererseits dem Ende des Herzogs 36 Jahre später eingerahmt wird. Die Grausamkeit und die beschriebenen Kriegsverbrechen wurden so mit dem Teufel verbunden und in einer traditionellen religiösen Vorstellungswelt verankert. Der Teufel wurde als historischer Akteur der europäischen Politik des 17. Jahrhunderts dargestellt, und im Dänemark der 1630er Jahre bestand von der Schuhmacherwerkstatt bis zum Konsistorium der Universität kein Zweifel darüber, dass ein Pakt mit dem Teufel eine juristisch belangbare Tat war, die mit dem Tod zu strafen sei. Wurden solche Teufelspakte aber immer noch in der gleichen Weise verstanden, als die Historien von Faust und vom Herzog von Luxemburg in Kopenhagen in den 1730er Jahre gedruckt wurden? Während die Hexenprozesse mit dem 17. Jahrhundert ausklangen, waren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert die Teufelsverschreibungen noch immer juristische Angelegenheiten. 51 Zwischen 1710 und 1754 wurden neunzehn Prozesse gegen Personen geführt, die sich angeblich dem Teufel verschrieben hatten, vier der Angeklagten und Verurteilten wurde hingerichtet - unter ihnen der Grenadier Johan Pistorius. 52 Ein Lied, das im Zusammenhang mit Pistorius’ Hinrichtung 1719 verkauft und bei dieser Gelegenheit sicher auch gesungen wurde, gibt einen lebendigen Eindruck davon, inwiefern der Teufel für den Liedverfasser und sein Publikum durchaus ein Akteur im täglichen Leben von 1719 war: 53 En grov Syndere Ved Nafn Johan Pistorius/ Som Ved en Haandskrifft vilde giøre Forbund med Sathan/ dog det kom icke til den Ende/ men til Frelse for denne Synders Siæl skal han paa førstkommende Søndag (da hand tilforn har giordt Poenitentse) medeelis udi Guds Huus det hellige Sacramente/ og foreenis med sin Gud/ dog skal hand henrettis med et Sverd paa Mandag d. 24. April for sin grove Synd og Guds fortørnelse/ om Legemet end lider/ saa er dog Siælen vis paa Himmerig og den ævige Salighed. Forfattet udi en Viise som siunges med den Thone: Som en Hiort med Tørst befangen etc. Tryct Aar 1719. 4 See, hvor Sathan hand er rede/ At hand dig bedrøve kand/ Hand vil dig til Ondskab lede/ Sette dig i Jammer-Stand/ …/ jämmerlich mit den Einwohnern verfahren.“ In: Nordischer Mercurius. (Hamburg) 1673, S. 567. 51 Die letzte Hinrichtung in Dänemark wegen Hexerei fand 1693 statt. Vgl. Gustav Henningsen: Hekseforfølgelser. Axel Steensberg (Hg.): Dagligliv i Danmark 1620-1720. Bd. 1. København 1981, S. 373. 52 Tyge Krogh: Oplysningstiden og det magiske. Henrettelser og korporlige straffe i 1700-tallets første halvdel. København 2000, S. 124-150. 53 Det Kongelige Bibliotek. København. Hielmstierne 1853. F Nr. 43. In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 21 5 Du vel veed hand som en Løve/ Løber om i alle Land/ At hand morderi kand øve Hvorsom helst hand treffe kand/ …/ 6 Her os møder et Exempel I en Mand som nesten laa Tegnet med den Ondis Stempel/ Og var færdig bort at gaa/ Hand opskrev en haard Contract/ Og var nær i Jammer lagt/ Dog det kom ey til den Ende/ Thi Gud ham paa Vejen vende. 7 Hand det skrifftlig vilde give Ind til den ureene Aand/ At hand Sathans skulde blive/ Skrev det med sin egen Haand/ Men til Glæde for hans Siæl Hand som var en Synde-Træl/ Sathan hand kom dog for silde Til det færdig lavet Gilde. 9 Sathan hand har dog ey kundet Fange dette Syndens Barn/ Men hand Naade haver fundet/ Og er fri for Sathans Garn/ Dog skal Straffen følge paa At hand ey skal siden gaa Til den samme Synd at drive/ Og saa verre plaget blive. 54 54 Ein schwerer Sünder namens Johan Pistorius, der mittels eines handgeschriebenen Dokuments einen Pakt mit dem Teufel schließen wollte; doch kam es nicht dazu, sondern zur Erlösung der Seele dieses Sünders, wenn er am nächsten Sonntag (nach zuvor bekannter Reue) in Gottes Haus das heilige Sakrament empfängt und mit seinem Gott vereint wird. Trotzdem wird er am Montag den 24. April hingerichtet werden mit dem Schwert wegen seiner schweren Sünde und weil er Gott erzürnt hat. Wenn der Leib auch leidet, so ist sich die Seele doch des Himmelreichs und der ewigen Seligkeit sicher. Verfasst als Lied, das gesungen wird wie: Wie ein dürstender Hirsch, etc. [ein bekanntes geistliches Lied]. Gedruckt im Jahre 1719. Strophe 4: Sieh, wie Satan bereit ist, dich zu betrüben. Er will dich zum Bösen verführen, dich in Jammer versetzen […]. / 5: Du weißt wohl, dass er wie ein Löwe überall umherstreift, Mord zu verüben, wo auch immer er zuschlagen kann […]. / 6: Hier begegnet uns ein Exempel von einem Mann, der um ein Haar mit dem Stempel des Bösen gezeichnet und auf dem Weg zum Tode war. Er unterschrieb einen strengen Vertrag und geriet beinahe in See- Henrik Horstbøll 22 Wie viel Glück kann man haben? Weil der Teufel zu spät kam, wurde der Pakt nicht geschlossen, und der bereuende Pistorius, der öffentlich seine Sünde gebeichtet und das Abendmahl erhalten hatte, war sicher vor der Verdammnis gerettet, als er geköpft wurde. Nicht nur in solchen Medien wie dem hier beschriebenen Lied war der Teufel eine juristische Person, auch für die Mehrheit der Richter, die Pistorius verurteilten, war er es. Auf juristischer Ebene jedoch vollzogen sich Veränderungen: Gegen Ende der 1720er und in den 1730er Jahren bestand Einigkeit darin, die Todesstrafe nicht auszusprechen. Erst in den 1740er Jahren kam die theoretische Zurückweisung der Möglichkeit eines Teufelspaktes aufgrund des Naturrechts bei einer neuen Generation von Juristen in Gebrauch, womit auch die juristische Grundlage für einen Prozess wegfiel. 55 Die kleinen Teufelspakthistorien kamen in den 1730er Jahren also zu einem Zeitpunkt auf den Markt, als die Obrigkeit ihre Haltung gegenüber der Zauberei änderte und diesbezügliche Belange nicht mehr mit der Todesstrafe ahndete. Die Teufelsverschreibungen wurden nun von den Behörden als Gotteslästerung oder Blasphemie angesehen, und die Faust-Historien fungierten nicht mehr als Ermahnungsschriften gegen Zauberei, sondern wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu unterhaltenden Gespensterhistorien. Als die Historie von Doctor Faust bei J.R. Thiele zu Beginn des 19. Jahrhunderts herauskam, verkürzte er die Historie von drei auf zwei Bogen Oktav und ließ sie sprachlich modernisieren- so gab es sogar noch Platz für Reklame für vergleichbare Unterhaltung, wie eingangs erwähnt wurde. Die Historie war nicht mehr länger Teil einer magisch-religiösen Vorstellungswelt, geprägt von Besessenheit, Exorzismus und Verschreibungen. Auch der Bekehrungsbegriff, der in der 1730er-Version eingeführt wurde, wurde bei Thiele fallengelassen. Die Faust-Historie hatte nicht mehr die Dimension einer Erbauungsschrift. Auch der Titel wurde verändert: Faust war kein Zauberer mehr, sondern ein Hexenmeister, so wie der Zauberkünstler in Doctor Faust´s Hexekunster, einer Anleitung für Zauberei, die 1795 erschien. 56 Die Säkularisierung der Faustfigur auf dem Buchmarkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde durch einige neu geschriebene Kleine Historien aus der Zeit der Druckfreiheit beleuchtet: Fandens Liv og Levnet første gang til Trykken befordret ved Doctor Faust (Des Teufels Lebensbeschreibung, erstmals gedruckt von Doktor lennot, doch kam es nicht zu diesem Ende, denn Gott hat ihm den rechten Weg gezeigt. / 7: Er wollte es schwarz auf weiß bekräftigen, dass er dem Bösen übergeben werden würde, so schrieb er es mit eigener Hand. Doch zur Freude für seine Seele - er, der ein sündiger Knecht war -, so kam der Teufel doch zu spät zum Schmaus. / 9: Der Teufel konnte nun doch nicht dieses Sünders habhaft werden. Vielmehr hat dieser Gnade gefunden und ist aus den Fallstricken des Teufels befreit. Doch wird die Strafe folgen, auf dass er nicht noch einmal zur selben Sünde verleitet werde und dann noch schlimmer geplagt werden würde. 55 Tyge Krogh: Oplysningstiden og det magiske. København 2000, S. 142-143. 56 Doctor Faust’s Hexekunster, en virkelig Begivenhed, som har tildraget sig i det femtende Aarhundrede af Professor Engelschal, med en fuldstændig Forklaring af den naturlige Magie… af Andreas Svendsen. København 1795. In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 23 Faust), 57 nebst En oprigtig Fortegnelse paa alle de Hexer og Troldfolk som have været til siden Doctor Faust (Eine wahrhafte Aufzählung aller Hexen und Zauberwesen, die seit Doktor Faust existieren). 58 Diese anonymen Historien wurden vom studiosus perennis Martin Brun verfasst, der für seine kleinen allegorischen Historien bekannt war, in denen er die Druckfreiheit pries und Amtsmissbrauch kritisierte. 59 Auf ähnliche Weise verwendete er auch die Faustfigur als Gegenbild zum aufgeklärten Vernunftglauben. Brun beschreibt in der ersten Historie, wie das Regime des Teufels durch die Aufklärung in die Defensive gedrängt wird; die Nachkommen Fausts waren Hofschranzen, Militärs, stupide Männer und unwissende Geistliche. Die Faustfigur wurde so zum Anlass für populäre Aufklärung im Format von „ein Bogen Oktav“. $" Der Buchdrucker J.R. Thiele passte die Kleinen Historien den Bedürfnissen des Marktes an. Er übernahm das Textrepertoire von Joachim Wielandt und Inger Vindekilde und passte es einem breiteren literarischen Markt an, der im Kielwasser der Druckfreiheit entstanden war. Thieles Verwendung der Historien im 18. Jahrhundert machte damit den Höhepunkt der Wiederverwendung der Kleinen Historien aus dem 17. Jahrhundert aus. Dieser Prozess hatte eine Parallele in einem der Texte, für die Thiele in seinem Katalog, der in der Historie von Doctor Faust mit abgedruckt war, Reklame machte. Dabei geht es nicht um eine poetische Historie, sondern um Geschichte: Alle danske Kongers levnetsbeskrivelse med deres Portrætter (Lebensbeschreibungen und Porträts aller dänischen Könige). Diesen Titel hatte Thiele aus der Druckerei Inger Vindekildes übernommen, wo er 1732 in einer Ausgabe von 28 Oktavbänden mit Holzschnitten herauskam und mehrmals gedruckt wurde. 60 Lebensbeschreibungen von Königen waren 1732 jedoch keine neue Erfindung - Vindekilde hatte ähnlich wie bei den Kleinen Historien eine frühere Version, die erstmals 1645 in Kopenhagen gedruckt wurde, wieder verwendet und ergänzt. 61 Thieles Tätigkeit zog zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch eine Veränderung der traditionellen Ausstattung solcher Texte nach sich. Der Titel wurde von En kort Levnedsbeskrivelse over Kongerne i Danmark (Eine kurze Lebensbeschreibung der Könige Dänemarks) in einen moderneren verändert: Alle danske Kongers Levneds- 57 Venedig 1771. 16 S., Oktav. Die Historie wurde anonym in Kopenhagen gedruckt. Vgl. Bolle Willum Luxdorphs samling af trykkefrihedens skrifter, 1. række, Bd. 15, Nr. 26. Luxdorph identifiziert Martin Brun als Verfasser. 58 København 1771. Trykt hos T. Larsen Borups Efterleverske. 16 S., Oktav. Vgl. Bolle Willum Luxdorphs samling af trykkefrihedens skrifter, 1. række, Bd. 15, Nr. 27. Luxdorph identifiziert Martin Brun als Verfasser. Borups Witwe wurde im selben Jahr Johan Rudolph Thieles Frau. 59 Martin Brun 1741-1774. H. Ehrencron-Müller: Forfatterlexikon omfattende Danmark, Norge og Island indtil 1814. Bd. 2, S. 114-118. 60 En kort Levnets Beskrivelse over alle Kongerne udi Dannemark. København 1732. 61 Jens Sørensen Nørnissum: En kort danske Krønicke… fra Kong Dan den første indtil denne nærværende Tid. København 1645, auch ebda. 1655. Henrik Horstbøll 24 beskriveles (Lebensbeschreibung sämtlicher dänischen Könige). Die Könige wurden nun „dänisch“, und als die Druckerei Thieles 1816 die Lebensbeschreibungen erneut herausgab, entsprach die Nationalisierung der Könige im Titel dem neuredigierten, patriotischen Inhalt der Texte. 62 Die Schlüsselperson hinter dieser Veränderung in der Tradition war Professor Rasmus Nyerup, der selber anonym diese Lebensbeschreibungen im selben Jahr abgeschlossen hatte, in dem er sein Buch Almindelig Morskabslæsning i Danmark og Norge igjennem Aarhundreder herausgab. Joachim Wielandt und Inger Vindekilde hatten mit einer privilegierten, spezialisierten Produktion der traditionellen Kleinen Historien zusammen mit anderen, neueren Historien - was eine Anpassung von Form, Ausstattung und Stil bedeutete - für den Buchmarkt des 18. Jahrhunderts eine ökonomisch attraktive Möglichkeit gesehen. Die Wielandtsche Druckerei hielt sich jedoch im Großen und Ganzen getreu an die Textüberlieferung. Ein größerer Bruch im Format der Kleinen Historien war jedoch bei Thiele zu beobachten, der gleichzeitig mit der Druckfreiheit der Jahre 1770 bis 1773 stattfand. Während dieser Zeit entstand die Pamphletliteratur in Dänemark, und das ideale Pamphlet war in Oktav und umfasste etwa einen bis drei Bogen Papier. Neuigkeitsblätter waren früher in Quartformat, neu wurden diese nun zu Zeitungen im Quartformat, während Flugschriften und Pamphlete in Oktav gedruckt wurden. Thieles Druckerei war der mit Abstand größte Produzent von Flugschriften und Pamphleten nach 1770. 63 Es ist daher naheliegend, die Formveränderung der Kleinen Historien im Zusammenhang mit Thieles übriger Produktion zu sehen: Die Historien erhielten das Format des Flugblatts und des Pamphlets und wurden dem breiten Markt angepasst, der durch die kurze Periode der Druckfreiheit entstanden war. Andere Druckereien und Provinzbuchdrucker, wie das Beispiel von Haderslev im heutigen Süddänemark zeigt, folgten mit dem gleichen Format diesem Beispiel. Die Einführung der Druckfreiheit 1770 bedeutete eine Veränderung in der Geschichte der Kommunikation, so wie dies bereits 1771 in dem eingangs erwähnten anonymen Flugblatt En ubetydelig Samtale imellem en Skribent og Forlægger i Anledning af den i Aviserne fremsadte Snik-Snak om Skrive-Friheden vorausgesehen wurde. Der Verleger der Schrift sollte jedoch nicht Recht bekommen in seiner Vermutung, die Kleinen Historien würden auf dem Buchmarkt von den modernen Flugschriften und durch die so genannte Verbesserung des Geschmacks verdrängt werden. Die Historien wurden vielmehr ein Teil auf dem Markt der Flugschriften. Sie kamen so oft wie nie zuvor heraus und hatten ihre Relevanz für die Revolution in der Geschichte des Lesens beim Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die Zeit der Druckfreiheit machte die Existenz zweier Kommunikationskreisläufe sichtbar: Im Zentrum des einen standen privilegierte Aufgaben für die Universität und die Wissenschaft, für Staat und Kirche - die gleichen Institutionen, die vorher für die Zensur verantwortlich gewesen waren. Das Zentrum des anderen 62 (Rasmus Nyerup): Danske Kongers Levnetsbeskrivelse. København 1816. 63 Henrik Horstbøll: Trykkefrihedens bogtrykkere og skribenter 1770-1773. Grafiana. Årbog for Danmarks grafiske Museum/ Dansk Pressemuseum. 2001, S. 14. In octavo: Formveränderung der „Kleinen Historien“ in Dänemark 16.-19. Jh. 25 Kreislaufs war einzig und allein der Markt. Diese Kluft zwischen Institutionen und Markt, zwischen Aufgaben und Zielgruppen wurde vor 1770 durch die einzelnen Druckereien repräsentiert. Durch die Schreib- und Druckfreiheit wurde die Arbeitsteilung der Druckereien markanter. Nach der Aufhebung der Zensur war es attraktiver, sich als Buchdrucker und Schreiber allein auf der Marktbasis zu versuchen, ein Unterschied zwischen einer elitären und einer populären Medienkultur wurde nun auf der Produzentenseite sichtbar. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das intellektuelle, literarische Interesse an den Kleinen Historien zu Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Katalogbestand von Kleinen Historien bei Geschäftsleuten wie J.R. Thiele unterstützte und dazu führte, dass mehrere von ihnen in neuem Sprachgewand erschienen. Nachdem Rasmus Nyerup 1816 Almindelig Morskabslæsning herausgegeben hatte, wurden die Kleinen Historien allmählich zu „Volksbüchern“ und erschienen in Ausgaben, die mit den alten Oktavdrucken nicht mehr vergleichbar waren. 64 Als Carl Elberling dann 1867 seine Sammlung von „Volksbüchern“ publizierte, lautete seine Begründung: „Medens de fleste af vore Folkebøger endnu bestandig kjøbes og læses af Menigmand, kjender det dannede Publicum omtrent lige saa lidt til dem, som før Nyerup og Rahbek havde virket.“ 65 (Während die meisten unserer Volksbücher von jedermann noch immer gekauft und gelesen werden, kennt sie das gebildete Publikum so wenig wie diejenigen vor Nyerup und Rahbek). Im 19. Jahrhundert erhielten die Kleinen Historien also literarisches Leben - in verschiedenen Medienformen und auf verschiedenen Buchmärkten hinsichtlich verschiedener Lesekulturen. Übersetzung: Thomas Seiler : . Den i den ganske Verden bekiendte Erts-Sortkonstner og Troldkarl Doctor Faust og hans med Dievelen oprettede Forbund forundringsfulde Levnet… Oversat af det Tydske Sprog ved N.F.B. Haderslev 1775. Den over heele Verden berømte Hertug af Luxenborg Forrige Kongl. Franzøske General samt Hof- Marchal Hands Pagt og Forbund med Satan, hvilken hand skal have indgaaet og sluttet, da hand Anno 1659 sad fængslet udi Bastillen til Paris… men endtes med forskrekkelse den 2. Jan. 1695. København 1733. Den over hele Jorden bekjendte store Hexmester Dr. Johan Fausts saare mærkværdige Levnetsløb, Forbund med Djævelen og skrækkelige Endeligt. København. Tilkjøbs i store Helliggeiststræde No. 150 og 151. 64 Knud Lyhne Rahbek und Frederik Thaarup (Hg,): Dansk og Norsk Nationalværk, eller Almindelig ældgammel Moerskabslæsning. Bde. 1-3. København 1828-1830. 65 Carl Elberling: Danske Folkebøger. København 1867, S. VII-VIII. Henrik Horstbøll 26 Dend i den gandske Verden bekiendte Erts-Sort-Konstner og Trold Karl D Johan Faust Og hans med Diævelen oprættede Forbund forundringsfulde Levnet og forskreckelig endelig, beskreven af en Christelig Meenende paa nye effterseet, Og alle mutvillige Syndere til en hiertelig formaning og Advarsel til Trycken befordret, Oversat af det Tydske Sprog ved N.F.B. Ohne Ort 1732. Doctor Faust’s Hexekunster, en virkelig Begivenhed, som har tildraget sig i det femtende Aarhundrede af Professor Engelschal, med en fuldstændig Forklaring af den naturlige Magie… af Andreas Svendsen. København 1795. En Forskreckelig oc Sand Bescriffuelse om mange Troldfolck: som ere forbrende for deris Misgierninger skyld fra det Aar 1589 regnendis: Først tryckt udi Colne met Caspar Schumans aff Erfurt bekostning Oc nu udi Kiøbenhaffn aff Laurents Benedicht. 1591. En grov Syndere Ved Nafn Johan Pistorius… 1719. Det Kongelige Bibliotek. København. Hielmstierne 1853. F Nr. 43. En kort Levnets Beskrivelse over alle Kongerne udi Dannemark. København 1732. En ubetydelig Samtale imellem en Skribent og Forlægger. København 1771. Bolle Willum Luxdorphs samling af trykkefrihedens skrifter, 1. række, Bd. 20, Nr. 13. En Underlig oc dog meget Skiøn Historie/ Om den Tolmodige Helena. København 1677, 1703. En Underlig oc dog meget Skiøn Historie/ Om den Tolmodige Helena. København, Trykt udi H.K.M. privileg. Bogtrykkerie, 1729. Historia von D. Johann Fausten. Mit einem Nachwort von Renate Noll-Wiemann. Ludwig Erich Schmitt & Renate Noll-Wiemann (Hg.): Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken. Reihe A Band 13. Hildesheim 1981. Nordischer Mercurius. (Hamburg) 1673. Nyerup, Rasmus: Danske Kongers Levnetsbeskrivelse. København 1816. Nørnissum , Jens Sørensen: En kort danske Krønicke … fra Kong Dan den første indtil denne nærværende Tid. København 1645, auch ebda. 1655. 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Die Transmission spätmittelalterlicher Gebetbücher als Primärquelle zur textkritischen Ausgabe. Zwei dänische Gebetbücher aus der Zeit der Einführung des Buchdrucks in Dänemark in materialphilologischer und transmissionstheoretischer Beleuchtung A NNE M ETTE H ANSEN , K OPENHAGEN Materialphilologie Die sich in jüngerer Zeit unter dem Begriff material philology ereigneten Neuerungen in der Philologie nahmen ihren Anfang im Jahr 1990 mit einer Themennummer der Zeitschrift Speculum: A journal of Medieval Studies, die den Titel The New Philology trug. 1 Initiant und Redakteur war der Romanist Stephen G. Nichols. Diese Publikation stellte den Auftakt zu einer grundsätzlichen Diskussion über den theoretischen Ausgangspunkt der Philologie dar, wobei zentrale texttheoretische Begriffe wie Autor, Werk, Text, Original, Fehler und Variante zur Sprache kamen. Stephen Nichols zog es einige Jahre später vor, den Zugang als material philology zu bezeichnen, ein Begriff, der seiner Ansicht nach der Bezeichnung einer materialhistorischen, philologischen Neuorientierung hin zu den physischen, texttragenden Kulturgegenständen und deren Existenz in Gegenwart und Zukunft Rechnung trage. 2 Dieser Begriff sei auch zweckdienlicher, weil er nicht zu einer Verwechslung mit dem Gegensatz zwischen Altphilologie (old philology) verleite, die sich mit antiken oder mittelalterlichen Texten beschäftigt, und der Neuphilologie oder neusprachlichen Philologie, die eine philologische Arbeit mit Texten bedeutet, die erst nach der Erfindung des Buchdrucks entstanden. Stephen Nichols charakterisiert in „Why Material Philology? “ einleitend die Bewegung folgendermaßen: Material philology takes as its point of departure the premise that one should study or theorize medieval literature by reinserting it directly into the vif of its historical context by privileging the material artifact(s) that convey this literature to us: the manuscript. This view sees the manuscript not as a passive record, but as an historical document thrusting itself into history and whose very materiality makes it a medieval event, a cultural drama. After all, manuscripts are so often the only surviving witnesses - or the 1 Nichols, Stephen G.: Introduction: Philology in a Manuscript Culture, in: The New Philology, Speculum: A Journal of Medieval Studies, Vol. 65, No. 1 (January 1990), ed. Stephen Nichols. Cambridge, Massachusetts 1990, S. 1-10. 2 Nichols, Stephen G.: Why Material Philology? Some Thoughts by Stephen G. Nichols, Baltimore, in: Philologie als Textwissenschaft: Alte und neue Horizonte, Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 116, 1997, Sonderheft. Berlin 1997, S. 10-30. Anne Mette Hansen 30 most reliable guides - to the historical moments that produced and then reproduced the literary text often in bewildering forms. 3 Die Materialphilologie beharrt auf der Redeweise von Artefakten, will sagen die physischen, texttragenden Kulturgegenstände in der Bedeutung: Ganzheit von Text(en), dekorative Elemente, additive Elemente und das texttragendene Material. Dieser Fokus auf die physische Ganzheit des Textes ist auch ein entscheidender Punkt in der gesamten materialphilologischen Theoriebildung. Ein anderer Hauptpunkt ist die Notwendigkeit einer Handschriftenphilologie und einer deskriptiven Bibliographie. 4 Die Eigenart des individuellen handgeschriebenen oder gedruckten Textträgers und Unterschiedlichkeit fordert eine Analyse des Textträgers als Artefakt und des Zusammenspiels zwischen den verschiedenen Akteuren, die in der Handschrift repräsentiert sind, d.h. das Zusammenspiel zwischen dem textlichen Inhalt und der physischen Textgestalt (die individuelle Kommunikationssituation), der Textplatzierung in den Handschriften und dem Kontext, in dem sie auftreten (die situationelle Kommunikationssituation). Ein dritter wichtiger Punkt ist schließlich der Einbezug des historischen und des sozialen Kontexts, d.h. die makrosoziale Kommunikationssituation. 5 Ein solcherart philologischer Zugang mit einem offenen und dynamischen Textbegriff, der an die mündliche Überlieferung erinnert, steht im Gegensatz zu einem autor-, werk- und archetypenzentrierten Textbegriff, in dem ein textkritisch konstituierter Text Gegenstand der Forschung ist. Indem sich das Interesse vom Artefakttext zur Artefaktganzheit verlagert, von einem Autor zu mehreren Schreibern, Bearbeitern und Verwendern und von einem Originaltext zu mehreren Überlieferungsvarianten, wird das Interesse von der internen Textinterpretation und Textgenese auf die Textüberlieferung und die historische Zeit und das soziale Milieu, in dem der handschriftliche Text produziert wurde, verlagert. Die Philologie wird damit auch zu 3 Why Material Philology? Some Thoughts, S. 10-11. 4 Eine aufschlussreiche Übersicht über die Aufgaben einer bibliographischen Beschreibung findet sich in David C. Greetham: Describing the Text: Descriptive Bibliography, in: Textual Scholarship: An Introduction, New York 1994, S. 153-168. Greetham stützt sich auf Philip Gaskell: Bibliographical Description, in: A New Introduction to Bibliography, New Castle, Del. 1995, S. 321-335, und Fredson Bowers: Principles of Bibliographical Description, Princeton NJ 1949, Newcastle, Del. 1996. 5 Die sprachwissenschaftliche Richtung ‘Integrational Linguistics’ setzt als Grundbedingungen von Texten voraus, dass sie für die Kommunikation zwischen verschiedenen Personen in verschiedenen Situationen und Kontexten geschaffen und benutzt werden. Aufgrund der Verschiedenheit von Personen, Situationen und Kontexten sind auch die Texte verschieden. Menschliche Kommunikation wird von Faktoren auf drei Ebenen gesteuert: dem historischkulturellen (makrosozialen) Faktor, d.h. Verhältnisse innerhalb einer Gesellschaft oder Gesellschaftsgruppe; dem situationellen Faktor, d.h. Verhältnisse, die konkrete Kommunikationssituationen kennzeichnen und schließlich dem individuellen (biomechanischen) Faktor, d.h. die besonderen physischen und mentalen Faktoren, die sich bei den kommunizierenden Personen bemerkbar machen. Vgl. Harris, Roy: Introduction to Integrational Linguistics, Kidlington 1998, S. 29-30 und The Semiology of Textualization, in Integrational Linguistics: A First Reader, ed. Roy Harris & George Wolf, Kidlington 1998, S. 234-235. Materialphilologie und Transmission: spätmittelalterliche Gebetbücher in Dänemark 31 einer sozial- und kulturhistorischen Disziplin. Hier kommt die Transmissionstheorie ins Spiel. Transmissionstheorie Die Transmissionstheorie ist kein geschlossenes Gebilde aus Theorien und Methoden (ein Paradigma), sondern eher ein Oberbegriff für verschiedene Annäherungen an Texte, die über einen langen Zeitraum hinweg tradiert wurden. Zentrale Begriffe der Transmission sind Kontingenz, Unstabilität und Medialität. Kontingenz beinhaltet das Konzept, dass jeder Text wiederum von einem anderen Text abhängig ist und es keinen im eigentlichen Sinne „ursprünglichen“ oder „originalen“ Text gibt. Texte sind von Menschen in einer jeweiligen historischen und sozialen Dimension geschaffen. Unstabilität bezeichnet die spät- und nachmittelalterliche Veränderlichkeit in der Überlieferung, die epische Variation (variance) und Beweglichkeit (mouvance). Der stabile Autortext ist eine Fiktion, die nicht zuletzt auch die Beobachtung der verschiedenen mitschaffenden Kräfte in der Textüberlieferung verhindert. Medialität schließlich zielt auf die materielle Präsentation und die Bedeutung des Mediums für die Textrezeption und -überlieferung, weshalb Bücherkunde und analytische Bibliographie einen Teil der Transmissionstheorie darstellen. 6 Die Transmission von einer handgeschriebenen oder gedruckten Primärquelle in eine wissenschaftliche Textausgabe in Buchform ist ein Teil der Medialität. Was geschieht mit einem Text, wenn er vom Originaltext in eine Ausgabe überführt wird, welche Änderungen durchläuft er, was erzählt die Art der Textausgabe und -einrichtung über den Herausgeber, und welche Bedeutung hat die Präsentationsform der Ausgabe für die Rezeption des Textes? Nach dieser Skizzierung des theoretischen Hintergrunds möchte ich nun eine Textgattung untersuchen, die in besonderer Weise für eine materialphilologische und transmissionstheoretische Betrachtungsweise geeignet ist: das private Gebetbuch, und hier besonders zwei ausgewählte Repräsentanten des Genres, ein handgeschriebenes und ein gedrucktes, die beide aus den Anfängen des 16. Jahrhunderts stammen, also der Zeit, in der die Buchdruckerkunst in Dänemark eingeführt wurde. 6 Eine Einführung in die Transmissionstheorie wurde von Jürg Glauser im PhD-Kurs Den ustabile tekst. Filologi og litterær transmissionsteori an der literaturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Doktorandenschule Georg Brandes Skolen der Universität Kopenhagen im Frühjahr 2003 gehalten. Anne Mette Hansen 32 Stunden- und Gebetbücher Das dänische Gebetbuch ist ein spätmittelalterliches Phänomen, und die Gebetbücher stellen die größte Gruppe unter den bewahrten volkssprachlichen Texten des dänischen Mittelalters dar. Es gab dabei zwei Arten, die für die private Andacht gedacht waren, das Stundenbuch und das Gebetbuch. Das Stundenbuch hat seinen Ursprung im Brevier, der offiziellen Sammlung liturgischer Gebete der Kirche, beinhaltend die Gebete, die aus biblischen Psalmen, Bitten, Hymnen und Lesungen bestehen, die zu bestimmten Betzeiten des Tages gelesen oder gebetet werden sollten, ursprünglich achtmal am Tag, vom ersten Gebet in der Nacht, zu Beginn des neuen Tages, bis zum Abendgebet. 7 Als eines für den täglichen Gebrauch und zur Zierde bevorzugtes Buch der Aristokratie war das Stundenbuch zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet, in Flandern und in Nordfrankreich auch innerhalb des wohlhabenden Bürgertums. 8 Der Inhalt eines Stundenbuchs besteht aus folgenden Elementen: ein Kalender mit den kirchlichen Festtagen, die Lesungen der Evangelien, das Kleine marianische Offizium (Officium parvum Beatae Mariae), die Stundengebete (Horen) des Heiligen Kreuzes, die Stundengebete des Heiligen Geistes (Horae de sancto spirito), zwei Mariengebete (Obsecro te und O intermerata), die sieben Bußpsalmen, die Allerheiligenlitanei sowie die Stundengebete für die Verstorbenen, das Totenoffizium (Officium defunctorum). 9 Die Stundenbücher schließen mit einer größeren oder kleineren Anzahl von Gebeten, die auch inhaltlich stark variieren. Vermutlich ist das auf verschiedene Strömungen zurückzuführen, d.h. verschiedene Heilige waren zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich populär, zum Teil hatten die einzelnen Besitzer von Stundenbüchern jedoch auch ihre persönlichen Favoriten und Schutzheiligen, die in Form von an sie gerichteten Gebeten auch in den Büchern figurieren sollten. Es gibt jedoch 7 Die klassischen Stundengebete sind: Matutin (Nachtgebet), Laudes (Morgengebet bei Tagesanbruch), Prim (zur ersten Stunde des Tages, d.h. ca. 6 Uhr), Terz (zur dritten Stunde, d.h. ca. 9 Uhr), Sext (zur sechsten Stunde, am Mittag), Non (zur neunten Stunde, also ca. 15 Uhr), Vesper (bei Einbruch der Dunkelheit), und die Komplet (am Ende des Tages, vor der Nachtruhe). 8 Horstbøll, Henrik: Menigmands medie: Det folkelige bogtryk i Danmark i 1500-1840. En kulturhistorisk undersøgelse. København 1999, S. 226, und Gerard Achten: Gebetbücher II, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. Berlin, Bd. XII, S. 107. 9 Zwei Hauptwerke über Stundenbücher sind folgende: Victor Leroquais: Les livres d'heures manuscripts de la Bibliothèque nationale, 1927, und Roger S. Wieck: Time Sanctified: The Book of Hours in Medieval Art and Life, 1988. Letzteres ist eine Einführung in die Gattung und eine gründliche Übersicht über den Inhalt des Stundenbuchs, sowohl in Text als auch in Bild. Roger Wieck ist auch Verfasser des in Kurzform ähnlich dazu informierenden Essays The Book of Hours. Kürzere orientierende Artikel finden sich in diversen Nachschlagewerken, etwa Michael Kwatera: Book of Hours, in: Dictionary of the Middle Ages, Bd. 2, S. 325-327, J. M. Plotzek: Gebetbuch, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. IV, Sp. 1159-1161, Britta Olrik Frederiksen: Prayer Books, in Medieval Scandinavia, S. 514-515 und Jarl Gallén: bönböcker, in: Kulturhistorisk Leksikon for Nordisk Middelalder, Bd. 2, Sp. 505-508. Materialphilologie und Transmission: spätmittelalterliche Gebetbücher in Dänemark 33 eine Gruppe von „Kerngebeten“, die in den meisten Stundenbüchern vorkommen, darunter Gebete beim Kreuz Jesu und in der Betrachtung von Jesu Wunden, Leiden und Tod, Gebete des Hl. Gregor zu Jesus, das Gebet für den Besitzer des Gebetbuchs (Namensgebet), die Gebete der Freuden und der Schmerzen Mariens sowie der Marienhymnus Stabat mater. 10 Innerhalb der letzten Gruppierung mit verschiedenen Gebeten gibt es eine bestimmte Reihenfolge in den Stundenbüchern: Zuerst kommen Gebete zu Gott Vater, zum Heiligen Geist und zum dreifaltigen Gott, danach die Gebete zur Passion Christi (Betrachtung von Jesu Wunden und Passionswerkzeugen, Jesu Leiden und Tod, Gebete am Kreuz Jesu). Darauf folgen Gebete zur Jungfrau Maria und zur Hl. Anna, anschließend Gebete zu den Erzengeln und anderen Engeln, zu den Aposteln und schließlich zu verschiedenen Heiligen und den vierzehn Nothelfern. Die bewahrten dänischen Stundenbücher stammen alle aus der Zeit des ausgehenden 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts und waren im Besitz von Personen der obersten Gesellschaftsschicht. 11 In den ältesten Stundenbüchern waren die Horen auf Latein, während sie in den jüngeren auf Dänisch sind. Ein Beispiel eines solchen Stundenbuchs ist Karen Ludvigsdatters tidebog aus der Zeit um 1500 vom so genannten Hortulus animae-Typus. 12 Es besteht aus einem Kalender, dem Kleinen marianischen Offizium, den Syvsalmen (der dänischen Bezeichnung für die sieben 10 „Men med al Forskjellighed er der dog, idetmindste i de gamle danske Bønnebøger der ere bevarede til vor Tid, en Grundlighed, som vel ogsaa kan hidrøre fra at de ere saa omtrent jævnaldrende. Der er mange Bønner som man vil gjenfinde næsten i dem alle.“ (Bei aller Verschiedenheit findet sich doch, zumindest in den alten dänischen Gebetbüchern, die bis in unsere Zeit bewahrt sind, eine generelle Einstimmigkeit, die wohl auch von ihrem gemeinsamen Alter herrühren kann. Viele Gebete findet man in beinahe allen Büchern wieder.) Christiern Pedersens Danske Skrifter Bd. II, Anmærkninger (Anmerkungen), S. 511; genannt werden dort Das Kreuz Unseres Herrn Jesus Christus, das Gregorianische Gebet und das Namensgebet. In Time sanctified, ‘Accessory Texts’, S. 103-110, werden mehrere der am häufigsten vorkommenden ergänzenden Gebete genannt. 11 Vgl. das Verzeichnis über Stundenbücher und ihre Besitzer in Middelalderens danske Bønnebøger Bd. I, ‘Indledning’, S. XXI-XXVIII. 12 Hortulus animae (Seelengärtlein) ist der Titel einer Gebetsanthologie, die zu den verbreitetesten (gedruckten) Andachtsbüchern im ausgehenden Mittelalter zählt. In Deutschland besaß das Buch dieselbe Bedeutung wie die Stundenbücher in Westeuropa (Frankreich, Niederlande usw.); doch im Gegensatz zu den Stundenbüchern, die bereits im 15. Jahrhundert eine feste Form in Text- und Bildgestaltung erhielten, bekam das deutsche Hortulus in Konkurrenz mit einigen ähnlichen Gebetsanthologien wie Salus animae, Horologium devotionis, Zeitglöcklein etc. erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine einigermaßen feste Form und ist von da an insbesondere als gedrucktes Buch überliefert. Die ältesten lateinischen Ausgaben stammen von 1498 (oder 1493, Basel), die erste gedruckte deutsche Übersetzung erschien 1501 in Straßburg in Grüningers Offizin. Im Hortulus animae nehmen die persönlichen Gebete eine zentrale Position ein. Es gibt hier weniger Studengebete, dafür mehr Mariengebete, Gebete beim Kreuz Jesu, Bittgebete, Beichtgebete, Gebete zur Vorbereitung vor dem Tod und Gebete am Sterbebett, dazu einen Kalender und zahlreiche illustrierte Gebete zu Heiligen. Vgl. Hortulus animae, in: Lexikon des Mittelalters Bd. V, Sp. 130, Gebetbücher, in: Theologische Realenzyklopädie XII, p. 108, sowie Middelalderens danske Bønnebøger Bd. I, S. XIII. Anne Mette Hansen 34 Bußpsalmen und die Allerheiligenlitanei) sowie einer Auswahl von Gebeten, beginnend mit einem Gebet zur Hl. Trinität. 13 Ein anderes Beispiel ist Christiern Pedersens Stundenbuch Vor Frue Tider, eines der ersten gedruckten Stundenbücher in der Volkssprache. Es wurde am Pfingstabend 1514 als drittes derjenigen Bücher Christiern Pedersens (ca. 1480-1554) herausgegeben, die er in der Druckerei von Josse Bade in Paris drucken lassen konnte. 14 Es beinhaltet einen Kalender mit anschließender Ostertafel, ‘Vor frue tider’ (marianisches Offizium), ‘De sancto spiritu. Den heliandz tiider’ (Horen des Heiligen Geistes), ‘De sancta cruce. Hellig Korssis tiider’ (Horen des Heiligen Kreuzes), ‘De Hellighe Syu Psalmer [oc Litaniet]’ (die sieben Bußpsalmen [und die Litanei]), ‘Uigilyess’ (Vigilien) und ‘Mange hellighe oc gwdelige bøner’ (viele heilige und fromme Gebete). 15 Die so bezeichnete abschließende Gebetssammlung beinhaltet dreißig Gebete, geordnet nach derselben Hierarchie wie die Anrufungen in der Allerheiligenlitanei. 16 Der Psalter, der das verbreitetste Andachtsbuch im frühen Mittelalter war, beinhaltet häufig eine Sammlung von Bildern mit ausgewählten Motiven der Evangelien von der Verkündigung über die Kindheits- und Leidensgeschichte Jesu bis zu Auferstehung und Himmelfahrt. Da das Stundenbuch im Laufe des 14. Jahrhunderts den Psalter als Andachtsbuch der Laien zu verdrängen begann, wurde dieses Bildrepertoire oft im neuen Buchtypus weitergeführt. Es ist deshalb nicht ungewöhnlich, dass die Stundengebete im wichtigsten Teil des Stundenbuchs, Vor Frues tider (marianisches Offizium), von einer Reihe Bilder begleitet werden, entweder in Form von Miniaturen oder historisierten Initialen, die die frohen Geschehnisse im Leben der Jungfrau Maria darstellen, welche zugleich Teil der Kindheitsgeschichte Jesu sind. 17 13 Digitale Faksimiles des gesamten Karen Ludvigsdatters tidebog (Medeltidshandskrift nr. 35, Lund) sind zugänglich über den elektronischen Katalog der Sammlung mittelalterlicher Handschriften in der Universitetsbibliothek Lund, St. Lauretius digital manuscript library: http: / / laurentius.ub.lu.se/ [Oktober 2010]. 14 Im Jahre 1510 wurde das Vocabularium ad usum dacorum (LN 216) herausgegeben, ein kombiniertes Lehrbuch auf Latein mit lateinisch-deutschem Wörterbuch, und 1514 Saxos dänische Chronik Danorum Regum horumque Historie (LN 240). Später im selben Jahr kamen auch das Buch über die Messfeier I denne bog leriss at Hore messe (LN 206) sowie im Jahr darauf die Postille Alle Epistler oc Euangelia som lesiss alle Sondage om aared (LN 208). 15 Titel nach der Ausgabe des Stundenbuchs in Christiern Pedersens Danske Skrifter, Bd. II, S. 275-[414]. 16 Die Reihenfolge ist diese: Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, die Gottesmutter Maria, die Erzengel, Engel, Johannes der Täufer, die Apostel, Evangelisten, männliche und weibliche Heilige. Vgl. Middelalderens danske Bønnebøger, Bd. 1 ‘Indledning’, S. XV. In Christiern Pedersens Stundenbuch ist die Reihenfolge dagegen diese: zuerst die Gebete zum dreieinigen Gott, zu Jesus am Kreuz, seinem Leib, seinen Wunden, Kreuzeswerkzeugen usw., dann Gebete zur Gottesmutter Maria, zu Marias Mutter Anna, dann je ein Gebet zu den Engeln, zu den Heiligen drei Königen, zu den Aposteln, zwei Gebete zu den Nothelfern und schließlich ein Gebet für alle christlichen Seelen. 17 Der klassische Zyklus ist dieser: zur Matutin: Verkündigung an Maria; zur Laudes: Marias Besuch bei Elisabeth; zur Prim: Geburt Christi; zur Terz: Verkündigung der Geburt Christi an die Hirten; zur Sext: Anbetung der Könige; zur Non: Darstellung im Tempel (evtl. Beschneidung Christi); zur Vesper: Flucht nach Ägypten; zur Komplet: Krönung Mariens im Himmel. Materialphilologie und Transmission: spätmittelalterliche Gebetbücher in Dänemark 35 Manchmal wird der Bilderzyklus zur Kindheit Jesu auch durch den Zyklus der Leiden Jesu ersetzt oder ergänzt. Das kommt in den Stundenbüchern des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts häufig in Nordeuropa vor. 18 Die Stundengebete Hellig Kors tidebønner und Helligånds tider wurden meist von einer Miniatur der Kreuzigung respektive des Pfingstwunders begleitet, während De syv bodssalmer und Allehelgenslitaniet mit einem thronenden Christus oder dem Jüngsten Gericht dargestellt wurden, und die Stundengebete für die Verstorbenen entsprechend mit Bildern vom Jüngsten Gericht, von Hiob oder von der Auferweckung des Lazarus. 19 Auch Christiern Pedersens Stundenbuch ist mit Bildern versehen. Man findet einige historisierte Initialen in der ersten Ausgabe des Stundenbuchs, so wird etwa das marianische Offizium mit einem lombardischen A eingeleitet, in deren oberster Etage die Verkündigung und in der untersten die Anbetung der Könige angebracht sind, und in der abschließenden Gebetssammlung befindet sich auf dem Anfangsblatt ein großes 12-zeiliges Initial H, angebracht in einem Rahmen und ausgefüllt mit dem dänischen Reichswappen, aber im Übrigen gibt es keine Bilder. In der zweiten Ausgabe des Stundenbuchs, das von Henrik Smith herausgegeben und 1517 bei Melchior Lotter in Leipzig gedruckt wurde, ist die abschließende Gebetssammlung inzwischen mit Bildern versehen worden, indem eine Reihe von Holzschnitten, angebracht in der eigentlichen Textkolumne, die Gebete illustrieren. 20 Dem anderen Typus von Gebetbuch fehlen der immerwährende Kalender des Stundenbuchs, die Stundengebete, die Bußpsalmen sowie die Litanei, ansonsten ist jedoch der Inhalt in der gleichen Weise wie in der Sammlung von Gebetstexten strukturiert, welche die Stundenbücher ergänzt, und viele dieser „Kerngebete“ findet man in den Gebetbüchern wieder. Nach der Einführung des Buchdrucks wurden weiterhin handgeschriebene Gebetbücher neben den gedruckten produziert, und auch nach der Reformation wurden die alten katholischen Gebetbücher weiterhin verwendet, indem sie durch reformierte oder evangelische Gebete ergänzt 18 Die übliche Bilderreihenfolge in der Passion Christi ist folgende: Matutin: Jesus im Garten Gethsemane; Laudes: der Verrat durch Judas; Prim: Jesus vor Pilatus; Terz: Geißelung Jesu; Sext: Jesus trägt das Kreuz; Non: Kreuzigung; Vesper: Kreuzesabnahme; Komplet: Grablegung Jesu. 19 Vgl. Wieck: Time Sanctified, S. 60, 66, 90, und The Book of Hours, S. 480-481. 20 Folgende Motive begleiten die Gebete in der abschließenden Gebetssammlung (das zugehörige Gebet ist in Klammern angegeben): h1r: Gnadenstuhl (Gebet zur Hl. Dreifaltigkeit). g4r: Darstellung der Kreuzigung mit Maria und Johannes (= h5r). g5v: Gregorsmesse (Gebete des Hl. Gregor). h1v: Pietà/ Beweinung (Gebet zu Jesus Christus). h5r: Kreuzigungsszene mit Maria und Johannes (Gebet zu Jesus Christus). h8r: Hortus conclusus/ Maria lactans (Gebet zu Maria). j2r: Die apokalyptische Maria: Maria als Himmelskönigin im Strahlenkranz mit dem Jesuskind auf dem Arm und auf der Mondsichel stehend (Gebet zu Maria). j3v: Maria im Rosenkranz mit dem Kind, von vier Engeln umgeben (Sieben Freuden Mariens). j5v: Maria mit dem Schwert gegen sich gerichtet/ Mater dolorosa (Sieben Schmerzen Mariens). j7r: Anna Selbdritt (Gebet zur Hl. Anna und Maria). j7v: Erzengel Michael (Gebet zum Hl. Michael und anderen Engeln). j8r: Anbetung der Könige (Gebet zu den Hl. drei Königen). k1r: Hl. Petrus (Gebet zu Petrus und zu den anderen Aposteln). k1v: Hl. Erasmus (Gebet zum Hl. Erasmus). k2v: Hl. Christophorus (Gebet zum Hl. Christophorus). k3v: Fegefeuer mit einem helfenden Engel, über den Seelen schwebend (Fürbitte zu Christus für alle christlichen Seelen). Anne Mette Hansen 36 wurden. 21 Die Einführung des Buchdrucks bedeutete eine Massenproduktion von Büchern, und dieselbe Ausgabe eines Gebetbuchs wurde nun in vielen Exemplaren für eine größere Lesergruppe hergestellt, was bedeutete, dass die persönliche Prägung durch den Besitzer oder Benutzer, die diesen bisher Buchtypus charakterisiert hatte, verschwand. Es war jedoch nicht so, dass das gedruckte Buch auf einen Schlag das handgeschriebene verdrängte, was etwa Abschriften von Gebeten aus Christiern Pedersens Stundenbuch Vor Frue Tider zeigen. 22 Gebetbücher eignen sich gut für materialphilologische Studien, weil es sich hierbei um Gebrauchsliteratur handelt, die darauf abzielt, in einer bestimmten Kommunikationssituation gebraucht zu werden, nämlich während der privaten Andacht, und weil es sich, was die handgeschriebenen Bücher betrifft, um verschiedene physische Artefakte handelt, die für Einzelpersonen hergestellt wurden, entweder von professionellen Schreibern oder von den Benutzern selbst. Jedes Gebetbuch muss deshalb als Primärquelle analysiert werden, beziehungsweise als Herausgabe in Faksimile, was die einzige Präsentationsart ist, bei der die Doppelseite mitsamt dem ganzen Apparat (Layout, Schrift, dekorative Elemente und evtl. bildliche Darstellungen) zu ihrem Recht kommt. Auch verschiedene Ausgaben und Auflagen gedruckter Bücher sollten als Faksimile herausgegeben werden. In der zweiten Ausgabe von Christiern Pedersens Stundenbuch wird das Gebet „Die sieben Freuden der Jungfrau Maria“ von einer Rosenkranzmadonna illustriert, die eine Kombination der Motive Maria im Strahlenkranz (Halbfigur), Maria im Rosenkranz und Maria mit dem Kind darstellt; das Gebet der sieben Schmerzen Mariens wird entsprechend von einer Darstellung der Mater dolorosa begleitet. 23 Diese Andachtsbilder sind wie erwähnt im Erstdruck des Stundenbuchs nicht vorhanden, und da sie auch nicht in der Werkausgabe von Christiern Pedersens dänischen Schriften vorkommen und die Motive in Dansk Bibliografi nicht registriert sind, gibt es auf der Grundlage der kritischen Ausgabe keine Möglichkeit, die Text-Bild-Bezüge oder das Verhältnis des 21 Ein Beispiel eines solchen Gebetbuches ist Marine Lauridsdatters bønnebog (AM 423 12mo in Den Arnamagnæanske Håndskriftsamling), eine kleine Papierhandschrift im Duodez-Format, verfasst von verschiedenen Personen; der erste Teil enthält vorreformatorische Gebete (einige davon später durchgestrichen), der letzte Teil eine Reihe Gebete, die sich auch in einem gedruckten evangelischen Gebetbuch von 1531 finden. Vgl. auch die Katalogbeschreibung in Kristian Kålund: Katalog over den Arnamagnæanske håndskriftsamling, Bd. 2, København 1894. 22 Sowohl Marine Jespersdatters bønnebog (AM 421 12mo in Den Arnamagnæanske Håndskriftsamling) als auch Marine Lauridsdatters bønnebog enthalten Gebete, die aus Vor Frue Tider stammen. Auch existieren Abschriften von Gebeten aus Vor Frue Tider in mehreren Stundenbüchern: in Ingeborg Predbjørnsdatters tidebog (Stockholm A 40) von ca. 1519, in Else Holgersdatter Rosenkrantz's tidebog (Gl. kgl. Sml. 1613 4 ) aus der Zeit nach 1514. In Knud Billes tidebog (Kalmar Läroverks bibliotek) aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert und in Karen Ludvigsdatters tidebog. Dass Privatpersoner ihre eigenen Bücher selbst geschrieben haben nach Einführung des Buchdrucks, geht u.a. aus der Karen Brahes Sammlung von handgeschriebenen Gebetbüchern aus der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts und aus dem 17. Jahrhundert hervor, vgl. dazu Katalog over Karen Brahes Bibliothek i Landsarkivet for Fyn. Håndskriftsamlingen, S. 28-33. Auch die Königliche Bibliothek in Kopenhagen besitzt eine Sammlung nachmittelalterlicher handgeschriebener Gebetbücher. 23 Ausgabe von 1517, I 3v und I 5v. Materialphilologie und Transmission: spätmittelalterliche Gebetbücher in Dänemark 37 Stundenbuchs zum traditionellen Bildprogramm der Stunden- und Gebetbücher zu untersuchen. 24 Marine Jespersdatters Gebetbuch Marine Jespersdatters bønnebog ist ein handgeschriebenes, exklusives Gebetbuch in einem tragbaren Taschenformat aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts. Es besteht aus 120 Blatt, die Maße des Einbands betragen 103 x 68 x 47 mm, die Maße der Blätter betragen ca. 95 x 65 mm. In einem dänischen Kontext ist das Buch bemerkenswert, weil es 48 kolorierte und vergoldetet Miniaturen enthält, die Teile der 47 Gebete mit Motiven aus dem Leben der Jungfrau Maria illustrieren sowie die Kindheit Jesu, sein Leben, die Passion und seine Wiederkunft. Das Buch wurde von professionellen Buchhandwerkern hergestellt und hat alle charakteristischen Züge handgefertigter Bücher der spätgotischen Periode: Der Schrifttyp ist gotisch hybrid, der Text auf den Buchseiten mit schwarz-braunem Mengentext verteilt, roten Rubriken und Finalrubriken, dekorierten und kolorierten Initialen, kolorierten Lombarden, durchgestrichenen Anfangsbuchstaben, Paragrafenzeichen, Kreuzzeichen und Zeilenfüllung. Die Herkunft des Buchs ist unbekannt, jedoch könnte Marine Jespersdatter, deren Name im Namensgebet auf Bl. 34r erwähnt wird, die erste Besitzerin des Buches gewesen sein (vgl. Abb. 1). 25 Das Buch kam früh in den Besitz eines Mannes, was daraus hervorgeht, dass an einer anderen Stelle im Buch, Bl. 103r, noch ein Gebet für einen Besitzer resp. Benutzer mit dem Namen Oluf Nielsen hinzugefügt wurde. Die Aufteilung der Gebete folgt nicht der traditionellen Ordnung der Gebetbücher, nach der die Gebete an die Dreifaltigkeit zuerst von den Gebeten an Jesus Christus gefolgt werden und anschließend von denjenigen an die Jungfrau Maria. Eine kodikologische Untersuchung von Marine Jespersdatters bønnebog hat auch gezeigt, dass zwei ursprünglich selbstständige Gebetssammlungen zu einer neuen Ganzheit zusammengeführt und zusammen eingebunden wurden. Die eine Sammlung wurde nach 1514 (1517) hergestellt, zum Gebrauch für Marine Jespersdatter, 24 [Christiern] Pedersen: Vor Frue Tider, 1514 und 1517, Nr. 212 und 213 in Lauritz Nielsen: Dansk Bibliografi 1482-1550: Med særligt Hensyn til dansk Bogtrykkerkunsts Historie, København: Gyldendal, 1919. 2. udgave med supplementbind ved Erik Dal, København 1996. 25 Über Marine Jespersdatter ist nichts bekannt, aber sie könnte aus der Familie Lunov stammen, und in dem Fall würde es sich um Maren Jespersdatter Lunov (lebte 1538) handeln, zunächst verlobt, dann verheiratet mit Busk Skenk († 1551) von Brudager und Rygård. Vgl. Landbohistorisk Selskabs Adkomstregistrering 1513-1550, in dem sämtliche Orts- und Personennamen registriert sind, die in juristischen Dokumenten der Zeit vorkommen und in einem Eigentumsverhältnis zu einem Landbesitz stehen: http: / / webarkiv.hum.ku.dk/ navneforskning/ adkomst.htm [Oktober 2010]. Auch andere Hypothesen über die Herkunft des Buches existieren, so hat etwa der Historiker Troels Dahlerup vorgeschlagen, dass es sich bei Marine auch um Mette Jespersdatter Friis († 1531) handeln könnte, Tochter des Adligen Jesper Friis von Lundby und Hesselager auf der Insel Fünen. Vgl. Troels Dahlerup: De fire stænder: 1400-1500, Gyldendal og Politikens Danmarkshistorie, Bd. 6. København 1989, S. 321. Anne Mette Hansen 38 die andere, Nogle gudelige bønner (Einige fromme Gebete) genannt, gibt keine Angaben über den Benutzer. 26 Außerdem wurde die jetzige fünfte Lage verkehrt herum geheftet, vielleicht während der späteren Umbindung, und an einigen Stellen im Buch wurden irgendwann einige Blätter herausgetrennt, die vermutlich Illustrationen enthielten. 27 Eine Analyse des Verhältnisses zwischen Text und Bild in Marine Jespersdatters bønnebog hat gezeigt, dass Text und Bilder zwei gleichwertig integrierte Akteure in einem komplexen Text- und Bildganzen waren. In einem Gebetstext kann direkt auf das dazugehörende Andachtsbild verwiesen werden, das die Mitteilung und Situation des Gebets veranschaulicht und entfaltet und dadurch zur Vertiefung und Verinnerlichung der Andacht beiträgt. Sowohl Bild als auch Text haben eine religiöse Funktion und Bedeutung, die zugleich kontemplativ und pädagogisch ist. Sie sind auch beide rhetorisch, indem sie in einer bestimmten Art und Weise und in einem bestimmten Zusammenhang einen bereits existierenden, bekannten Inhalt vermitteln: die biblische Erzählung von Leiden und Tod Jesu und die Erlösungsgeschichte. Der Gebetstext ist nach einer festen Struktur, rhetorica divina, aufgebaut und das Gebetsbild, imago pietatis, zeigt ein wohlbekanntes Motiv oder Thema in einem Andachtskontext. 28 Die ästhetische Dimension, das Schöne in den Bildern und die dekorativen Elemente im Text, ist selbst ein Glied in der „göttlichen Rhetorik“ zum Einleben, für das Verständnis und die Erkenntnis. Das Bild ist dergestalt ein Teil des Gebets - will man die Gebete erforschen und die Gebetstexte in Übereinstimmung mit dieser Erkenntnis vermitteln, muss man mehr als nur den geschriebenen Text zugänglich machen; und auch hier gilt, dass dabei die ursprüngliche Einheit von Andachtsbild und Text bewahrt bleiben muss. Bll. 44v-45r beinhalten das dritte Gebet im Rosenkranz und den Psalter der heiligen Dreifaltigkeit (vgl. Abb. 2). Auf der Versoseite befindet sich eine bildliche Darstellung vom Besuchs Mariens bei Elisabeth, auf der Rectoseite steht ein dazu passendes Mariengebet. Auf dem Bild sieht man die beiden Frauen einander an den Händen haltend. Elisabeth, die ältere, verheiratete Frau, trägt ein weißes Kopftuch und einen dunkelroten Umhang über einem roten Kleid. Die jüngere, hochschwangere Jungfrau Maria hat kein Tuch über ihrem offen getragenen goldblonden Haar und trägt einen roten Umhang über einem blauen Kleid. Links im Bild erkennt man 26 Nogle gudelige bønner beginnt auf Bl. 16r und nimmt die jetzigen 3.-4. und 6.-9. Lagen ein (Bll. 16-33 und 41-76). Im restlichen Teil des Buches, den jetzigen 1.-2., 5. und 10.-16. Lagen (Bll. 1-15, 34-40 und 77-118) sind zehn Gebete nach Vor Frue Tider abgeschrieben. 27 Eine digitale Ausgabe von Marine Jespersdatters bønnebog von Anne Mette Hansen, bestehend aus Faksimiles, diplomatarischer Transskription und Handschriftenbeschreibung ist online zugänglich: www.staff.hum.ku.dk/ amh/ AM_421_12mo.html 28 Mittelalterliche Gebetstheorie wird ausführlich behandelt bei Eckart Konrad Lutz: Rhetorica divina: Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters, Berlin: Walter de Gruyter, 1984. Das Kapitel „Rhetorik des Gebets“, S. 118-137, behandelt u.a. den Kirchenvater Origines (ca. 185-253/ 54) und Guillaume d'Auvergne (französischer Theologe, ca. 1180-1249). Guillaumes rhetorische Einteilung des Gebets besteht aus folgenden fünf resp. sechs Teilen: exordium - mit invocatio und captatio benevolentiae - narratio, petitio, confirmatio et infirmatio sowie conclusio. Materialphilologie und Transmission: spätmittelalterliche Gebetbücher in Dänemark 39 Teile einer Architektur oder einen Baum in der gleichen grünen Farbe wie das Gras (der Fußboden) und davor eine blaue Gardine mit Falten. Der Text im Schriftband lautet: „mariam ad elizabet“. Anlass zum Gebet sind Aufsuchung und Freude. Die Freude beider Frauen bei ihrem Zusammentreffen, die Freude des ungeborenen Kindes von Elisabeth, Johannes, bei seinem Treffen mit dem ungeborenen Jesuskind und die Freude, Gottes Gnade zu erhalten. Die Lobpreisung schafft eine thematische Verbindung zwischen der lobpreisenden Anrufung „benedidhet oc welsigneth ware thw“ (gebenedeit und gesegnet seist du) in der lobpreisenden Anrufung (invocatio) des Gebetstextes und dem erzählenden und begründenden Teil (narratio), in dem von Mariens Lobgesang an den Herrn „Oc thw aff stwr glædhe oc gudz nadhe dichtede then loffsang Magnificat“ (Und da dichtest du aus großer Freude und Gottes Gnade den Lobgesang Magnificat) die Rede ist. Das eigentliche Gebet (petitio) bezieht sich auf die Todesstunde des Menschen: Maria möge sich gnädig erweisen und den Sterbenden besuchen, wenn seine Zeit kommt. Die Verbindung zwischen narratio und petitio wird auf der lexikalischen Ebene hergestellt mit dem Wort „søge“ (suchen, im Sinne von „aufsuchen“ und „besuchen“): „thw som saa ytmyghelighe wylle søghe thyn ffrenkæ“ (du, die so demütig deine Verwandte besuchen wolltest) und „O werdige Jonffru Maria werdis tyl ath søghe meg“ (O würdige Jungfrau Maria, mögest du mich besuchen) . Mit den gleichen Worten wird die Verbindung zu der Rubrik geführt, wo außerdem noch direkt auf das begleitende Bild verwiesen wird: Die fünf Ave Maria sollen vor dem Bild gebetet werden, das Marias Besuch bei Elisabeth darstellt: „her skwlle i læsse .v. Aue Maria for Jonfrw M<a>ries billithe som hwn soghede syn frenke elizabeth“ (Hier sollt ihr fünf Ave Maria beten vor dem Bild der Jungfrau Maria, wo sie ihre Verwandte Elisabeth besucht). Die traditionelle Philologie wurde in erster Linie als eine rein sprachliche Disziplin betrieben, bei der das Augenmerk auf dem Text lag, während die Beschäftigung mit Bildern in Textträgern den Kunsthistorikern überlassen wurde. In einer integrierenden Philologie dagegen, die eine ganzheitliche Sicht vertritt, welche idealerweise den ganzen Text umfasst - will sagen Zeit und Ort, die Kommunikationssituation, die Personen und den Stoff - ist es hingegen nicht mehr möglich, parallele Phänomene zu separieren, weder in einer Handschriftenbeschreibung, in einer bibliographischen Beschreibung eines gedruckten Buches noch in einer sprachlichen oder literarischen Untersuchung eines Textes. Die grundlegende Annahme ist hierbei, dass ein Text in einem bestimmten Zusammenhang geschaffen und gebraucht wird, nämlich in einem materiellen Zusammenhang (im physischen Gegenstand des Buches) und in einem historisch-kulturellen Zusammenhang - der gehobenen Schicht in der spätmittelalterlichen Gesellschaft -, zudem in einem situationellen Zusammenhang, also dem praktischen Gebrauch des Gebets als Mittel der Frömmigkeit, und schließlich in einem individuellen Zusammenhang: der einzelne Mensch. Die bildlichen Darstellungen in einem Buch werden als Teil des Textes aufgefasst und umgekehrt. Text und Bild sind eine Einheit, auf die im Text zum Bild hingewiesen wird, welches eine ikonische Darstellung eines zentralen Themas des Gebets ist. Die Anne Mette Hansen 40 Gebetstexte können deshalb nicht untersucht werden, ohne gleichzeitig auch die Bilder zu berücksichtigen. Gotfred von Ghemens Gudelige bønner Gotfred von Ghemens Gudelige bønner (Fromme Gebete) ist eine Sammlung betrachtender, epischer Gebete über die Passion Jesu und den Schmerz der Jungfrau Maria, bestimmt für die Lesung und Meditation in der Karwoche. Für jeden Tag gibt es jeweils zwei Gebete, ein Abend- und ein Morgengebet. Die Gebete schildern den Lebensweg Jesu und Mariens von der Salbung in Bethanien über den Abend vor dem Einzug in Jerusalem bis hin zu Jesu Auferstehung am Ostermorgen. Die Sammlung wird mit drei Gebeten an Jesus Christus über die ewige Seligkeit und Barmherzigkeit abgeschlossen. Dem Kolophon zufolge wurde das kleine Gebetbuch im Oktavformat von Gotfred von Ghemen in Kopenhagen gedruckt, am Tage vor dem Valentinstag, dem 13. Februar 1509. 29 Diese erste Seite im Buch, Bl. a1r, erweist sich sowohl als Rubrik als auch als Titelblatt (vgl. Abb. 3). 30 Hier gibt es eine Art Titel „Thi begyndes her nogre gudelige bøner“ (Denn hier beginnen einige fromme Gebete), und wie es der Tradition entspricht, wird die Gebetssammlung präsentiert, indem eine kirchliche oder theologische Autorität als Garant für das Gebet in der Rubrik angeführt wird, die das Gebet einleitet: Doctores lære oss och siæ Ath | inthet ær mennisken nyttelighere | til sielsens bestandeligehet end i hw | at komme ihesu cristi verduge død oc | pijne Thi begyndes her nogre | gudelige bøner i huilke ther haff|uis ihwkommelse aff gudz pinelse | oc iomfrw marie drøwelser fran | palme søndag oc intil paskedag Die Doctores lehren uns, dass dem Menschen zur Beständigkeit der Seele nichts nützlicher ist, als sich an Jesu Christi würdiges Leiden und Tod zu erinnern. Denn hier beginnen einige göttliche Gebete zur erinnernden Betrachtung von Gottes Leiden und der Schmerzen der Jungfrau Maria von Palmsonntag bis zum Ostertag. Das Format ist Oktav. Der Buchblock besteht aus 28 Blättern, verteilt auf sechs Bogen mit acht Blättern auf dem ersten Bogen, vier auf dem zweiten bis zum sechsten Bogen. Der erste Bogen hat die Sekundasignatur: „aij“, die restlichen Bogen haben alle Primasignatur: „b i“, „c i“, „d i“, „e i“ und „f i“. Die Signaturen sind auf der rechten Seite der Bundmargine angebracht. Der Text ist in einer Kolumne gedruckt, eine 29 Gotfred von Ghemen, niederländisch Govert Van Ghemen, war der erste kommerzielle Buchdrucker mit festem Wohnsitz in Dänemark und der erste Buchdrucker in Kopenhagen. Man weiß von ihm, dass er in Gouda, Leiden und Kopenhagen gearbeitet hat. Auf der Basis der datierten Bücher, die in Kopenhagen hergestellt wurden, von denen ca. 25 bewahrt sind, kann man sein Wirken auf zwei Zeitperioden eingrenzen, 1493-1495 und 1505-1510. Vgl. Lotte und Wytze Hellinga: Gotfred af Ghemens færden ca. 1486-1510: en typologisk undersøgelse, in: Fund og Forskning i Det Kongelige Biblioteks samlinger XV, København 1968, S. 7-38. 30 In frühen gedruckten Büchern gibt es keine besonderen Titelblätter, die Aufschluss über den Titel, Autor, Buchdrucker, Druckort (Publikationsort) und Druckjahr geben, wie es später üblich ist; diese Angaben finden sich im Kolophon. Materialphilologie und Transmission: spätmittelalterliche Gebetbücher in Dänemark 41 Normalseite hat 18-19 Textzeilen und die Kolumnengröße beträgt 90-95 x 62 mm. Die Drucktype ist eine holländische Duitschrift. Die Initialen sind volle Lombarden, 7-8 mm hoch, teilweise mit Perlen verziert. Es gibt ganz wenige Bilder, die als eigentliche Andachtsbilder im Passionskontext fungieren, und dieselben zwei Holzschnitte, das Tragen des Kreuzes und die Szene von Maria und Johannes unter dem Kreuz, kommen auch in anderen ähnlichen Ghemen-Drucken vor, z.B. in De femten steder Vor Herre tålte sin pine på (Die fünfzehn Stationen, an denen Unser Herr sein Leiden erduldete; vgl. Abb. 3 und 4). 31 Das älteste erhaltene, gedruckte Gebetbuch auf Dänisch zeigt, wie sich das Gebetbuch-Genre in einer Form materialisieren konnte, die später mit dem Begriff „Volksbuch“ (folkebog) verbunden wurde. Die kleinen „billigen Bücher“, die Gotfred von Ghemen herstellte, konnten von vielen erworben werden, aber vielleicht war die Nachfrage größer als der Ertrag, sicher wurden jedoch auch Gudelige Bønner und andere Ghemen-Drucke abgeschrieben. 32 Gebetbücher als textkritische Ausgaben Was geschah mit den spätmittelalterlichen Gebetbüchern in dem Teil des Transmissionsprozesses, der die wissenschaftliche Zugänglichkeit und Vermittlung in Form von textkritischen Ausgaben der späteren Zeit umfasst? Welche Präsentationsform haben die Herausgeber gewählt, und was bedeuten die gewählte Form der Herausgabe und die Textpräsentation für die Rezeption der Gebetbücher? Middelalderens danske Bønnebøger (Dänische Gebetbücher des Mittelalters) ist eines der größeren Editionsprojekte von Det Danske Sprogog Litteraturselskab (DSL). Die vier Textbände kamen zwischen 1946 und 1963 heraus, der fünfte Band, der die Handschriftenbeschreibungen, den Kommentar und das Register enthält, 31 Gotfred von Ghemens Gudelige Bønner sind online zugänglich (Faksimiles und bibliographische Einführung) auf der Internetadresse der Königlichen Bibliothek Kopenhagen: e-tryk: Digitale faksimiler af sjældne bøger i Det Kongelige Bibliotek: http: / / www.kb.dk/ permalink/ 2006/ manus/ 23/ dan. Außer den Gudelige Bønner gab Gotfred von Ghemen in den Jahren 1509-1510 noch zahlreiche andere erbauliche Schriften für jedermann heraus: De femten steder som Vor Herre tålte sin pine på/ Jesu passionsvandring (LN 259) (Die fünfzehn Stationen, an denen Unser Herr Jesus sein Leiden erduldete/ Jesu Passionswanderung), De femten tegn før dommedag (LN 266) (Die fünfzehn Zeichen für das Jüngste Gericht), beide 1509, ferner Sjælens kæremål på kroppen (LN 119) (Die Anklagen der Seele an den Körper) und Lucidarius (LN 135) von 1510, vgl. dazu Lauritz Nielsen: Dansk Bibliografi 1482-1550. 32 Vgl. etwa das Gebetbuch A IV 1 in Karen Brahes Bibliotek im Landesarchiv in Odense, das Abschriften von Texten enthält, die von Gotfred von Ghemen gedruckt wurden. Das Buch wurde 1650 von der Adligen Anne Giøe geschrieben, die selbst darüber Auskunft gibt, dass „[d]enne Bog er vdskreffuit effter en gamle papistiske bog“ (dieses Buch nach einem alten papistischen [katholischen] Buch geschrieben wurde), vgl. Anne Riising: Katalog over Karen Brahes Bibliothek i Landsarkivet for Fyn. Håndskriftsamlingen, København 1956, S. 28. Anne Mette Hansen 42 wurde 1982 publiziert. 33 Bei der Herausgabe des ersten Bandes betonte DSL die Textmenge und den Wert der Texte als religionshistorische und sprachhistorische Quellen. 34 In einer säkularisierten Welt stellt das private Gebetbuch kein lebendiges Buchgenre dar, und in institutionellem Sinne besitzt ein Gebetbuch keine Bedeutung mehr als literarisches Frömmigkeitsmittel. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass man keinen Blick für die materielle Eigenart und Alterität mittelalterlicher Gebetbücher hatte. Die kritische Ausgabe, die sich von den texttragenden Artefakten entfernt hat - jedoch nicht so stark, dass sie einen modernisierten Text vorgelegt hätte - hat diese Eigenart und Alterität dem Leser vorenthalten und konnte so das mittelalterliche Gebetbuch für ein heutiges Publikum nicht aktualisieren. 35 Die Texte stammen aus einer Periode in der Geschichte der dänischen Sprache, die in sprachlich-philologischen, d.h. sprachhistorisch orientierten Kreisen, aufgrund der Sprachentwicklung und der Grundlegung einer schriftsprachlichen Norm große Aufmerksamkeit beanspruchte. In literarisch-philologischen Kreisen hat man sich jedoch mehr für die poetische Form der Gebete interessiert, also für die Psalmen, während man in theologisch-philologischen Kreisen die katechetischen und homiletischen Aspekte genauer untersuchte. Die Ausgabe Middelalderens danske Bønneboger, die, abgesehen von einer literaturhistorischen Einleitung und einer Beschreibung der Handschriften der benutzten Gebetbücher, nur Rücksicht auf den Text nimmt, konnte solche textfokussierten Erkenntnisinteressen vertreten. Die ersten Gebet- und Stundenbücher wurden als Handschriftenausgabe vollständig in den Bänden I-III herausgegeben. 36 In Band IV (1963) wird eine ergänzende Auswahl von Gebetstexten präsentiert, die man in den Handschriften der 33 Nielsen, Karl Martin (Hg.): Middelalderens danske Bønnebøger, Bde. I-V, København 1945- 1982. 34 Die Gebetbücher „udgør den mest betydende og mest omfattende del af vor religiøse litteratur på modersmålet før reformationen“ (stellen den bedeutendsten und umfassendsten Teil unserer religiösen Literatur in der Muttersprache in der Zeit vor der Reformation dar), religionshistorisch betrachtet sind sie als private Andachtsbücher „kendskab til den personlige fromhedsytring og det enkelte menneskes religiøse forestillingskreds“ (ein persönliches Frömmigkeitszeugnis und erzählen etwas von der religiösen Vorstellungswelt des einzelnen Menschen), sprachgeschichtlich schließlich stellen sie „det fyldigste og klareste materiale, vi har til belysning af senmiddelalderens klostersprog og dettes betydning for udformningen af det fællesdanske skriftsprog.“ (das schönste und deutlichste Material dar, das die spätmittelalterliche Klostersprache und ihre Bedeutung für die Ausbildung einer allgemeinen dänischen Schriftsprache erhellt). Zitiert aus dem Vorwort zu Middelalderens danske Bønnebøger, Bd. I, S. [1]. 35 Der Begriff Alterität aus Hans Robert Jauss’ Alterität und Modernität der Mittelalterlichen Literatur, 1977. 36 In Band I (1946) befinden sich Johanne Nielsdatters Munks tidebog (Stockholm A 42, Kungliga Biblioteket, Stockholm) und Karen Ludvigsdatters tidebog (Medeltidshandskrift nr. 35, universitetsbiblioteket i Lund), in Band II (1949) Anna Brades bønnebog (Thott 553 4 o , Det Kongelige Bibliotek, København) und das Gebetbuch AM 418 12mo sowie in Band III (1957) das Gebetbuch AM 75 8vo und Visdoms Spejl (AM 782 4to), eine Sammlung Gebete in der Ordnung des Kirchenjahres. Materialphilologie und Transmission: spätmittelalterliche Gebetbücher in Dänemark 43 Bände I-III nicht findet. Berücksichtigt wurden Texte von 20 handgeschriebenen Gebetbüchern, u.a. Marine Jespersdatters bønnebog sowie ein Teil aus Gotfred von Ghemens Gudelige Bønner. 37 Aus der Übersicht über den Inhalt der Handschriften in Band V (S. 75-83) geht hervor, ob eine Handschrift als Ganzes oder nur Teile von ihr publiziert wurde und welche Gebete im ergänzenden Handschriftenmaterial berücksichtigt wurden, indem eine kursive Nummer für jedes Gebet angibt, dass ein Gebetstext als Haupttext gedruckt wurde. Die Textwiedergabe ist in der Ausgabe durchgängig diplomatarisch, d.h. sie ist buchstabengetreu, jedoch nicht linien- und seitengetreu. 38 Der Haupttext, der herausgegebene Text, ist in gewöhnlicher Schrift gedruckt, die aufgelösten Abkürzungen wurden jedoch kursiv markiert und der Text wird mit einer Unziale eingeleitet. Der Rubriktext wurde in kleinerem Schriftgrad gedruckt als der Gebetstext und von diesem mit einer leeren Linie abgerückt. Jedes Gebet wurde von den Herausgebern mit einer Nummer versehen, die als Überschrift jedes Textes dient und in größerem Schriftgrad als der übrige Text gedruckt ist. Sie dienen auch als Referenz zwischen dem herausgegebenen Text und dem Register in Band V. Nach dieser Nummer sind mit kursiver Schrift die Handschriftensignatur und die Blattseitenangaben derjenigen Gebetbücher angeführt, die Varianten des Apparats enthalten. Linienzähler in den Innenrändern sind Referenzen für den Apparat. In den Linienzählern wurde außerdem ein Blattzähler eingesetzt (in halbfetter Schrift), der den Seitenwechsel des Originals angibt, während ein entsprechender Doppelstrich den geltenden Ort in der Textkolumne markiert. Über dem oberen Kolumnenstrich steht in den Bänden I-III der Name (oder die Handschriftensignatur) auf dem Gebetbuch auf den linken Seiten, auf den rechten Seiten wurde jeweils der Inhalt der Gebete angegeben, beide gedruckt mit Versalen und, in der Mitte der Textlinie, mit der Seitennummer der Ausgabe gegen die Außenränder und gegen die Innenränder mit den ergänzenden Nummern für die 37 Teile des Textes in Marine Jespersdatters bønnebog sind als Haupttext in Middelalderens danske Bønnebøger abgedruckt, Bd. IV, S. 215-241: Bll. 1r-5r, 14v-15v, 18r-19r, 22r-23r, 29r-31v, 38r- 78v, 83r-86v, 94v-100v, 103r-v, 107r-v, 110r, 116v-117v, 119r. Andere Teile erscheinen als Varianttexte, wieder andere werden gar nicht benutzt, etwa Abschriften von Gebeten aus Christiern Pedersens Stundenbuch. 38 Eine diplomatarische Ausgabe gibt mit großer Genauigkeit einen geschriebenen oder gedruckten Text in Form einer Texttranskription wieder. Eine diplomatarische Wiedergabe eines Textes kann den Quellentext auf verschiedenen Transkriptionsniveaus wiedergeben, nämlich als Faksimiledruck, als streng diplomatarisch, diplomatarisch und halbdiplomatarisch (leicht normalisiert). Auf dem Niveau des Faksimiledrucks werden alle Schriftzeichen, inklusive Abbreviaturen, genau wie in der Quelle wiedergegeben. Auch das Textlayout auf der konkreten Buchseite wird wie im Original wiedergegeben. In einer diplomatarischen Textwiedergabe werden Abkürzungszeichen aufgelöst und die aufgelösten Abkürzungen selbst durch Kursiva gekennzeichnet. Ein diplomatarischer Text reproduziert in der Regel keine graphischen Varianten in Schriftzeichen, wie die Verteilung von kurzem oder langem s oder r und r-rotunda. In einer halbdiplomatarischen Textwiedergabe werden die aufgelösten Abkürzungen nicht mit Kursiva gekennzeichnet. Anne Mette Hansen 44 Gebete versehen. In Band IV macht der Handschriftenname beide Kolumnentitel aus. Unter dem unteren Kolumnenstrich befindet sich der kritische Apparat, der aus zwei Ebenen bestehen kann. Zuoberst werden Konjekturen vermerkt, z.B. wenn der Herausgeber ein Initial U zu einem O veränderte, und es werden Erklärungen über die abweichende Schrift des Originals geliefert, z.B. rote Schrift einzelner Wörter oder Wortverbindungen. Zuunterst werden variierende Lesarten in anderen Handschriften aufgelistet. Eine Variante zum gedruckten Haupttext wird in der traditionellen Art und Weise angeführt: Die Linienzahl des Haupttextes ist in halbfetter Schrift gedruckt, gefolgt von Lemma in gewöhnlicher und in kleinerer Punktgröße als der Haupttext. Ein Lemmazeichen (]) trennt das Lemma von dem, was nachher folgt, das eine Variante sein kann, Herausgebertext in kursiv, das angeführte Siegel der Quelle des Varianttextes kursiv, sowie bei Textberichtigungen auch die Lesart der berichtigten Textquelle. Eine solche „Übersetzung“ der Schrift der Primärquelle und Texteinrichtung für ein textkritisches Ausgabelayout führt dazu, dass materielle Aspekte des Textträgers verloren gehen und dass das einzelne Gebetbuch nicht als ganzes Buch untersucht werden kann. Die Repräsentation des Textträgers des Textes: Die Aufstellung auf den Doppelseiten und die Rubrizierung und Dekoration werden nicht überliefert wie sie sind, sondern zugunsten der Konventionen einer wissenschaftlichen Ausgabe verändert. Abbildung 7 zeigt das Gebet zu Maria anlässlich des Besuchs der Muttergottes bei Elisabeth in Marine Jespersdatters bønnebog, wie sie in der textkritischen Ausgabe wiedergegeben wurde. In der Ausgabe findet man keine Wiedergabe des bildlichen Teils des Gebets, weshalb sie ausschließlich für enge textliche Untersuchungen dienlich ist. Der Rosenkranz und der Psalter der heiligen Dreifaltigkeit sind mit einer entsprechenden narrativen Reihe von Bildern mit meditativen Elementen illustriert. Die einleitenden Lobpreisungen der Trinität und der Jungfrau Maria sind mit dem Bild des Gnadenstuhls versehen, und jedes der zyklischen Rosenkranzgebete ist illustriert mit einem Bild, das auch das aktuelle Geschehnis (Geheimnis) darstellt. Diese Ganzheit von Bild und Text ist auf einer Doppelseite platziert, so dass der Gebetstext jeweils auf der Rectoseite steht und ein Gebetsbild auf der Versoseite. Jedes Geschehnis existiert dergestalt in einer doppelten Repräsentation, als bildliche Darstellung und als Gebetstext. Der Rubriktext verweist entweder direkt auf das Bild: „for(an) den hellige Treenigheds billede“ (vor dem Bild der heiligen Dreifaltigkeit) auf Bl. 43r, „for(an) Jomfru maria billede“ (vor dem Bild der Jungfrau Maria) auf Bl. 45r, oder auf das Bildmotiv: „vor Herre Jesu Kristi omskærelse til lov“ (zum Lob der Beschneidung unseres Herrn Jesu Christi) auf Bl. 47r. Text und Bild ergänzen demnach einander, sie bilden ein organisches Ganzes, und man kann sich mit den Gebetstexten nicht ohne diese Erkenntnis beschäftigen, weder sie als das lesen, was sie sind, noch sie wissenschaftlich als Textsorte studieren. Materialphilologie und Transmission: spätmittelalterliche Gebetbücher in Dänemark 45 Die Abbildungen 3-4 und 5a-6b, die die beiden ersten Doppelseiten in Gotfred von Ghemens Gudelige Bønner und die beiden entsprechenden Doppelseiten in Middelalderens danske Bønnebøger (wo der Ghemen-Text als Variantentext vorkommt) zeigen, illustrieren den materiellen Unterschied des Textes in der Primärquelle und dessen Repräsentation in der Ausgabe. Die erste Seite in Gudelige Bønner, a1r, dient sowohl für die Rubrik als auch für das Titelblatt und auf der Rectoseite des nächsten Aufschlags beginnt das Gebet „Jesu Kristi pine død og opstandelse“ (Jesu Christi Leiden, Tod und Auferstehung), das insgesamt aus siebzehn betrachtenden Gebeten für die Karwoche besteht. Da der Text der Primärquelle in Gudelige Bønner als Variantentext genutzt wurde, befindet er sich unter dem Strich. In einem traditionellen Variantenapparat werden Inhaltsvarianten angegeben, d.h. bedeutungstragende variierende Lesarten, die in dieser Ausgabe lexikalische und grammatische Varianten sind, wie z.B. der Imperativ „læs“ (lies) anstatt einer Konstruktion mittels Modalverb „skal læse“ (soll lesen). Der Text auf Rubrik/ Titelblatt ist vollumfänglich wiedergegeben, aber da die Herausgeber traditionellen ostnordischen philologischen Textwiedergabeprinzipien folgen, bedeutet dies, dass die Textwiedergabe nicht linien- und seitentreu ist und dass die Wiedergabe der Schriftzeichen normalisiert ist, indem nicht zwischen den graphischen Varianten „s“ und „langes s“ sowie „r“ und „r-rotunda“ unterschieden wird. Initialen und Paragraphenzeichen werden im Text über dem Strich wiedergegeben, aber nicht im Text unter dem Strich. Damit kann eine solche Textausgabe für Studien der Typographie und der Texteinrichtung nicht gebraucht werden. 39 Es wird nicht explizit Rechenschaft über die Prinzipien der Textausgabe abgelegt, aber nach der Reihenfolge der Ausgaben zu urteilen, werden die frühesten Repräsentanten von Stundenbüchern bevorzugt, anschließend folgen andere Gebetbücher, die der ältesten Gruppe angehören und die ein Kalendarium und Texte auf Latein beinhalten. Die Konsequenz der Ausgabe ist, dass die Restgruppe, nämlich die zwanzig Gebetbücher, die nicht unter den Handschriften sind, die in den ersten drei Bänden vollständig herausgegeben wurden, dem Publikum als sekundäre Textträger präsentiert werden, die Ergänzungs- und Variantentexte zu den bevorzugten Handschriften enthalten. Variierende Lesarten (Inhaltsvarianten) in diesen sekundären Textträgern werden in einem negativen Variantenapparat angeführt, was bedeutet, dass kein Text des sekundären Textes angeführt wird, wenn der sekundäre und der primäre Text bezüglich des Inhalts gleich sind. Will man eine Textvariante unter 39 Der Herausgeber erkannte die Grenzen des Layouts der Ausgabe bezüglich einer quellengetreuen Wiedergabe graphischer Darstellungen wie des Kalendariums, das eine der vollständig publizierten Primärquellen einleitet, Anna Brades bønnebog. „[D]a en transskriberet tekst ikke vilde give det rette billede af originalen“ (weil ein transkribierter Text nicht das richtige Bild des Originals geben würde), sind das gesamte Kalendarium sowie die nachfolgende seitenfüllende Miniaturen in schwarz-weißem Faksimile wiedergegeben, der Text auf den betreffenden Blättern, jedoch nicht die Tafel sind transskribiert und abgedruckt in Band V. So die Herausgeber auf der Rückseite des Titelblatts zur Ausgabe von Anna Brades bønnebog in Middelalderens danske Bønnebøger, Bd. II. Anne Mette Hansen 46 dem Strich auf der Grundlage der Repräsentation des Textes der Ausgabe untersuchen, muss man demnach zuerst den Text rekonstruieren, so dass er ein zusammenhängender, lesbarer Text wird. Es ist jedoch nicht möglich, den ganzen Text zu rekonstruieren und auch nicht den Text in seinem Kontext. Die Benutzer der Ausgabe können deshalb nur in begrenztem Umfang das sprachliche Äußere einer Textvariante untersuchen, nicht etwa die Orthographie und die orthographischen Varianten/ Konstanten in Gudelige Bønner untersuchen, einer Textquelle, die zu den ältesten gedruckten Büchern auf Dänisch gehört. Das Originalitätsdenken und das eklektische Prinzip, wonach ein bestimmter Text besser oder ursprünglicher als ein anderer sei und wonach einige Texte deshalb einen sekundären Status haben, auch innerhalb des gleichen Textträgers, kann noch ernstere Konsequenzen für die Repräsentation des Primärquellentextes haben - dieser kann nämlich ganz aus der Ausgabe verschwinden. Die Abschriften in Marine Jespersdatters bønnebog von Gebeten aus Christiern Pedersens Stundenbuch sind beispielsweise so sekundär, dass sie in der Ausgabe von Christiern Pedersens Danske Skrifter gelesen werden müssen, was für Marine Jespersdatters Version des Kerngebets Die sieben Freuden der Jungfrau Maria gilt. Schlussfolgerung Im Lichte einer materialphilologischen Theorie der Herausgabe von texttragenden Artefakten zeigt die Analyse einer textkritischen Ausgabe von Gebetbüchern, die in diesem Artikel vorgenommen wurde, dass eine traditionelle, textfokussierte Ausgabe, die auf eklektischen Prinzipien basiert und die vom ästhetischen Geschmack des Herausgebers abhängig ist, nicht die Primärquellentexte und die texttragenden Artefakte vermittelt, sondern „neue“, edierte Texte. Diese Transmission einer handgeschriebenen oder gedruckten Primärquelle in einen nach wissenschaftlichen Prinzipien herausgegebenen Text in Buchform formt den Text um, und die Präsentation des Textträgers durch die Ausgabe hat Bedeutung für die Rezeption des Textes. Die Praxis traditioneller Philologie handelt sich besonders unglückliche Konsequenzen bei der Edition von anonymen Gebrauchstexten ein, die sich durch eine reiche und variantenreiche Überlieferung auszeichnen. Ein Beispiel hierfür ist das private, spätmittelalterliche Gebetbuch, dessen Repräsentation in der wissenschaftlichen Ausgabe weit entfernt ist vom originalen texttragenden Artefakt. Der Text wird diplomatarisch und in der traditionellen Einrichtung kritischer Ausgaben vermittelt, aber das Gebetbuch, der Gebrauchsgegenstand, ist verschwunden; das einzige, was vom „Sitz im Leben“ und vom Kulturgegenstand übrig bleibt, ist ein spätmittelalterlicher Gebetstext in einem neuzeitlichen nordisch-philologischen Editionszusammenhang. Ähnliches kann von anderen Gattungen wie Gesetzesbüchern, Liederbüchern, Volksbüchern und so genannten Mischhandschriften gesagt werden, die ebenfalls als Bruchstücke und nicht als ganze Bücher herausgegeben wurden. Materialphilologie und Transmission: spätmittelalterliche Gebetbücher in Dänemark 47 Ein materialphilologisches Motto könnte folgendermaßen lauten: „alle Texte, Text im Kontext, Texte als Gegenstände“. „Alle Texte“ meint, dass alle Textversionen Primärstatus haben und deshalb in extenso vorgelegt werden sollten. Kein Text hat Sekundärstatus, welches nämlich gleichbedeutend mit einer fragmentarischen Textpräsentation wie eine Textvariante in einem Variantenapparat ist. „Text im Kontext“ bedeutet sowohl, dass die Texte eines Textträgers in ihrer Ganzheit vorgelegt werden sollten - nicht in Auswahl diktiert vom Textstatus anderer Textträger - als auch in demjenigen physischen Zustand, in dem sie sich im Textträger befinden. „Texte als Gegenstände“ will sagen, dass Texte in einer Form repräsentiert werden sollten, die deren materieller Erscheinungsform und dem Gebrauch dieser Form entspricht. Ein materialphilologischer Zugang hat deshalb folgende Konsequenzen hinsichtlich der Textedition: Ein texttragendes Artefakt soll als digitale Ausgabe mit Faksimiles des gesamten texttragenden Gegenstands samt einer diplomatarischen Wiedergabe des Textes herausgegeben werden. Ein Buch soll als Buch präsentiert werden, also als Doppelseite wiedergegeben werden, nicht Seite für Seite. Eine bibliographische Analyse des Textträgers, die Informationen über den Textträger liefert, welche, ohne dass man den physischen Gegenstand in der Hand hat, nicht erworben werden können, darf in einer materialphilologischen Ausgabe nicht fehlen. Sieht man die Mission der Philologie in einer größeren Perspektive als Kulturvermittlung und Kulturbewahrung an, lässt sie sich kaum mit einem traditionellen philologischen Zugang vereinen, der rein normativ ist, weil er auf einer Norm aufbaut, der genealogischen Textkritik, die für Fragen der Texteinrichtung und Textrepräsentation bestimmend ist. Im Gegensatz dazu ist die Materialphilologie deskriptiv und verhält sich beobachtend und beschreibend im Verhältnis zum texttragenden Artefakt; sie betrachtet diesen als historischen Zeugen einer Kommunikationssituation. Die neue Philologie hat bis zu einem gewissen Grad mit dem materiellen Fokus Erfolg gehabt: Sie insistiert darauf, dass es eine hermeneutische Verbindung zwischen der materiellen Erscheinungsform und dem textlichen Inhalt gibt und dass Beobachtungen und Analysen der materiellen Aspekte sowohl das Textverständnis in sich bereichern können als auch das Verständnis für die jeweilige historische Situation, in der der Text zustande kam. Solange jedoch der Originalitätsgedanke noch dominiert und der Textbegriff um Ursprung und Werk zentriert ist, wird die editorische Konsequenz die sein, dass Philologen - in dem Maß, wie das vorhandene texttragende Material es zulässt - die ursprünglich (best)mögliche Version eines Werks etablieren wollen und versuchen, mit Hilfe der genealogischen Methode die Transmission der Texte zu verstehen. Es ist dann nicht die Rede davon, Texte im Zusammenhang und als soziale und kulturelle Zusammenhänge zu sehen, so wie der Begriff Transmission von der Transmissionstheorie aufgefasst wird. Übersetzung: Thomas Seiler Anne Mette Hansen 48 Literaturverzeichnis Primärquellen Handschriften Marine Jespersdatters bønnebog (AM 421 12mo in Den Arnamagnæanske Håndskriftsamling). Drucke Christiern Pedersen: Vor Frue Tider, Paris: Josse Bade, 3. Juni 1514 (LN 212). Zweite Auflage von Henrik Smith, Leipzig 1517 (LN 213). Gudelige Bønner, gedruckt bei Gotfred von Ghemen, Kopenhagen, 13. Februar 1509 (LN 37). Textausgaben Brandt, C.J. og R.Th. Fenger (ed.): Christiern Pedersens Danske Skrifter, Bd. II, København 1851. Vor Frue Tider ist gedruckt auf den S. 271-414. Nielsen, Karl Martin (ed.): Middelalderens danske Bønnebøger I-V, København 1945-1982. Digitale Ausgaben AM 412 12mo: Marine Jespersdatters bønnebog. Elektronische Textausgabe von Anne Mette Hansen: www.staff.hum.ku.dk/ amh/ AM_421_12mo.html [Oktober 2010]. Gotfred von Ghemens Gudelige Bønner. Elektronischer Druck: digitale Faksimileausgaben seltener Bücher in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen: http: / / www.kb.dk/ permalink/ 2006/ manus/ 23/ dan [Oktober 2010]. Sekundärliteratur Bowers, Fredson: Principles of Bibliographical Description, Princeton N.J. 1949 & New Castle, Del. 1996. Dahlerup, Troels: De fire stænder: 1400-1500, Gyldendal og Politikens Danmarkshistorie Bd. 6. København 1989. Dictionary of the Middle Ages, ed. Joseph R. Strayer, Bde. 1-13, New York 1982-1989. Gaskell, Philip: A New Introduction to Bibliography, Oxford 1972, und New Castle, Del. 1995. Greetham, David C.: Textual Scholarship: An Introduction. New York 1994. Harris, Roy: Introduction to Integrational Linguistics, Language and Communication Library, vol. 17, Kidlington 1998. 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Erst dann stellte Robert Geete in seiner grundlegenden Untersuchung fest, dass es sich bei dem schwedischen Text um die Übersetzung einer lateinischen Vorlage handelt, nämlich der Historia Destructionis Troiae des Guido de Columnis. 1 Wann diese Übersetzung entstand, wird in der Handschrift selbst sehr genau angegeben: […] thenna bok omwändhe och lyktade sancti olauj dag arom äpter gudz byrd mdxxix rät meddagx tid som kålfated stod oppa bordet om en torsdag [Ed. Geete, S. 316] 2 … [der] dieses Buch übersetzte und es abschloss am St. Olafs-Tag im Jahr 1529 nach Christi Geburt genau um die Mittagszeit, als die Kohlschüssel auf dem Tisch stand, an einem Donnerstag. Diese durchgehend von einer Hand geschriebene Handschrift ist das einzige erhaltene Zeugnis der Historia Trojana. Da das Manuskript nicht viel später als die Übersetzung selbst entstanden ist, wurde in der Forschung das Verhältnis von erhaltenem Text und Original intensiv diskutiert. 3 Aufgrund von Schreibfehlern ist es so gut wie ausgeschlossen, dass es sich dabei um das Original des Übersetzers handelt, aber es ist immerhin wahrscheinlich, dass es sich um die Reinschrift einer vom Übersetzer autorisierten Fassung handelt. Damit stellt aber die Historia Trojana unter den mittelalterlichen Übersetzungen einen Sonderfall dar, weil in der Regel die erhaltenen Handschriften die ursprüngliche Übersetzung nur in mehr oder weniger stark bearbeiteter Form überliefern und zeitlich zum Teil beträchtlich später als die Übersetzungen selbst angefertigt wurden. 1 Geete, Robert, „En svensk Trojasaga från 1529“, ANF 5 (1893), S. 31-49. 2 Historia Trojana: en Medeltidsroman om Trojanska Kriget från latinet öfversatt till svenska året 1529 efter den enda kända Handskriften utgiven af Robert Geete. Stockholm 1992 [= SFSS 29]. Im Folgenden wird der Titel abgekürzt zitiert als HT. Die Übersetzung der Zitate stammt von mir, S.G. 3 Vgl. hierzu Fortelius, Bertel, Historia Trojana eller Troya Borgdzs Chröneca: Studier över språk och stil i en svensk 1500-talstext. Borgå 1965, S. 19-29 sowie Ronge, Hans, „Den svenska Trojasagan“, Nysvenska Studier 45 (1965), S. 193-230; hier. S. 202f. Stefanie Gropper 52 Trotz dieser günstigen Überlieferungssituation fehlen uns im Hinblick auf die Entstehung der Historia Trojana wesentliche Informationen. Denn auch wenn die Handschrift die Zeit der Übersetzung sehr genau angibt, so enthält sie weder die Angabe, wer der Übersetzer war noch dass es sich um eine Übersetzung von Guidos Text handelt oder wo und in wessen Auftrag sie entstand. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die schwedische Übersetzung nicht von der isländischen Trójumanna saga, deren Übersetzer ebenfalls anonym ist und die das Verhältnis zu ihrer lateinischen Vorlage nicht reflektiert. 4 Obwohl sich die schwedische Historia Trojana nicht über ihre Vorlage äußert, so ist doch inzwischen gesichert, dass sie auf Guido de Columnis’ Werk basiert. Dies ist nicht nur ersichtlich aus der Übereinstimmung im Handlungsablauf und der Argumentationsstruktur des Textes, sondern auch aus fast wörtlich übersetzten Passagen. Bertil Fortelius versuchte, unter der großen Anzahl erhaltener Handschriften und Drucke von Guidos Text die direkte Vorlage der schwedischen Übersetzung so genau wie möglich zu bestimmen und kam zu dem Ergebnis, dass es sich wohl um eine in Straßburg gedruckte Inkunabel gehandelt haben muss. 5 Dieses Ergebnis wurde jedoch von Hans Ronge in Zweifel gezogen, der die Ansicht vertritt, bei der Vorlage habe es sich um eine verlorene Handschrift gehandelt, die der Straßburg-Inkunabel nahe gestanden habe. 6 Diese Frage ist speziell dann wichtig, wenn - wie teilweise auch im Folgenden - der lateinische und der schwedische Text miteinander verglichen werden sollen, weil ein solcher Vergleich eine möglichst genaue Kenntnis der unmittelbaren Vorlage voraussetzt, um dem Übersetzer nicht irgendeine Veränderung zuzuschreiben, die eventuell bereits in seinem individuellen Textexemplar vorhanden war. Für die zentrale Frage des vorliegenden Beitrags ist jedoch die Frage der direkten Vorlage nur von sekundärer Bedeutung, weil es hier um eher allgemeine, wenn auch kontextgebundene, literarische Entwicklungen im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit gehen soll. Aus diesem Grund spielt auch eine weitere Frage, die in der Forschung heftig diskutiert wurde, nur eine periphere Rolle: kam der Übersetzer der Historia Trojana tatsächlich aus dem Umkreis des Klosters Vadstena, wie von Fortelius angenommen, was aber von Ronge wiederum mit einem Fragezeichen versehen wurde. 7 Mit der im Jahr 1286 verfassten Historia Destructionis Troiae des italienischen Juristen Guido de Columnis wurde Anfang des 16. Jahrhunderts in Schweden ein Werk übersetzt, von dessen Beliebtheit eine große Zahl von Übersetzungen, Nachdichtungen und Bearbeitungen zeugen, die im Spätmittelalter und der frühen Neu- 4 Vgl. hierzu Würth, Stefanie: Der „Antikenroman“ in der isländischen Literatur des Mittelalters. Eine Untersuchung zur Übersetzung und Rezeption lateinischer Literatur im Norden. Basel und Frankfurt/ M. 1998, S. 244. 5 Fortelius widmet Kapitel 3 und 4 seiner Untersuchung der handschriftlichen Vorlage. 6 Ronge, S. 208 und S. 210. 7 Ronge, S. 217. Mündliches und schriftliches Verfassen: „Historia Trojana“ 53 zeit in ganz Europa entstanden. 8 Offensichtlich entsprach Guido mit seinem Werk genau den Erwartungen, die seine Zeitgenossen an eine Darstellung der Trojageschichte stellten. Wie auch andere mittelalterliche Autoren leitet Guido seine Darstellung mit der Argonautensage ein: Jason und Hercules, die auf ihrer Rückreise von Kolchis die Stadt Troja zerstören und Laomedons Tochter Hesiona rauben, gelten somit als die eigentlichen Verursacher des Trojanischen Krieges. Es folgt die Geschichte von der Jugend des Paris und der Entführung Helenas. In Buch 14 beginnt der Bericht von der Belagerung Trojas und damit der Hauptteil des Werkes, der in Buch 31 nach dem Verrat des Aeneas mit der Einnahme der Stadt endet. Die verbleibenden vier Bücher erzählen vom Schicksal der Griechen nach dem Ende des Krieges. Die Historia Destructionis Troiae schließt mit einem Epilog, indem sich Guido als Verfasser vorstellt, Auskunft über seine Quellen gibt und den Anlass für sein Werk erläutert. Er behauptet, er habe sich im Wesentlichen auf Dares Phrygius gestützt und dort, wo dessen Angaben nicht ausreichten, Dictys Cretensis zur Ergänzung herangezogen: Et in hoc loco Dares presenti operi finem fecit, sic et Cornelius. Reliqua ergo sunt de libri Ditis. Licet Dares Troyanus in capcione Troye suo operi finem fecerit, qui postea in libro suo ulterius non processit, reliqua uero sunt de libro Ditis ipsius usque ad finem, qui integre facere uoluit opus suum. In this place Dares brought the work at hand to an end, and so did Cornelius. The rest accordingly is from the book of Dictys. It may be allowed that Dares the Trojan will have brought his work to the end with the capture of Troy, and did not afterward proceed further in his book; the rest, up to the end, is from the book of Dictys, who wished to make Dares’ work complete. 9 Auch in dieser Hinsicht stimmt Guido mit anderen mittelalterlichen Autoren überein, die in der Regel Dares und Dictys als Hauptquellen für den Trojanischen Krieg benutzten, meist mit dem Topos als Begründung, dass es sich dabei um Augenzeugen und somit um verlässliche Gewährsleute handele. Da Dares als auf Seiten der im Mittelalter favorisierten Trojaner betrachtet wurde, erhielt er den Vorzug vor Dictys, der als griechenfreundlich galt. So plausibel somit aus mittelalterlicher Perspektive Guidos Quellenangabe ist, so ist es doch für unser heutiges Verständnis von Quellenkritik höchst interessant, dass er zwar mit Dares und Dictys seine indirekten Informanten, nicht aber seine direkte schriftliche Vorlage nennt. Denn auch wenn er Dares und Dictys sowie auch andere im Verlauf seines Werkes genannten Werke und Autoren wohl tatsächlich gekannt 8 Zu den spätmittelalterlichen deutschen Übersetzungen vgl. Schneider, Karin, Der „Trojanische Krieg“ im späten Mittelalter. Deutsche Trojaromane des 15. Jahrhunderts. Berlin 1968 [= Philologische Studien und Quellen, hg. v. W. Binder, H. Mohr und K. Stackmann, Heft 40]. 9 Im Folgenden stammen alle Zitate aus: Guido de Columnis Historia Destructionis Troiae, ed. Nathaniel Edward Griffin, Cambridge, Massachusetts 1936, reprint 1970; hier: S. 273. Die englische Übersetzung stammt aus: Historia Destructionis Troiae Guido delle Colonne, translated with an introduction and notes by Mary Elizabeth Meek, Bloomington, London 1974, hier: S. 262. Stefanie Gropper 54 hat, basiert sein Werk doch eigentlich auf dem von ihm nicht erwähnten Roman de Troie von Benoît de Sainte-More. Mit seinem um 1165 verfassten Werk folgte Benoît dem Beispiel der Antikenromane, die wie der Roman d’Alexandre, der Roman de Thèbes oder der Roman d’Énéas, die zentrale Ereignisse der antiken Geschichte in eine zeitgenössische höfische Umgebung versetzten. Als Quelle für seinen Trojaroman benutzte Benoît nun tatsächlich Dares und Dictys, die er aber durch andere Werke um eine Fülle von historischem, geographischem und kosmologischem Wissen ergänzte. Entsprechend der Tradition des Antikenromans legte Benoît großen Wert auf ausführliche Deskriptionen und auf eine emotional geprägte Darstellung der beteiligten Personen. Aufgrund dieser Detailgenauigkeit und dieser nicht auf die eigentliche Handlung bezogenen Erweiterungen traten die historiographischen Informationen bei ihm weitgehend in den Hintergrund zugunsten der Themen Bildung, Kampf und Liebe. Benoîts Roman weist damit inhaltlich und stilistisch wesentliche Charakteristika des höfischen Romans auf. Seine Kampfbeschreibungen sind sehr ausführlich, und er löst die großen Schlachten in zahlreiche, detailliert beschriebene Einzelkämpfe auf. Auch die Liebesbeziehungen, die unter dem Aspekt höfische Minne geschildert werden, nehmen großen Raum ein, so dass der Eindruck entsteht, als bilde der Trojanische Krieg nur die Kulisse und den zeitlichen Rahmen für eine eigentlich intendierte Schilderung ritterlichen und höfischen Lebens. Die 30 erhaltenen Handschriften wie auch die zahlreichen Bearbeitungen und Übersetzungen deuten darauf hin, dass Benoîts Werk im Mittelalter sehr beliebt und verbreitet war. Doch die Darstellung des Trojanischen Krieges vor zeitgenössischer Kulisse befriedigte zwar das mittelalterliche Interesse an gelehrter Unterhaltung, erfüllte aber ein Jahrhundert später nicht mehr die Bedürfnisse eines stärker historisch interessierten Publikums. Vermutlich aus diesem Grund versuchte Guido de Columnis den Roman de Troie wieder zu re-historisieren und die nicht eigentlich historiographischen Elemente zu eliminieren, so dass der Krieg selbst, dessen Auslöser und Konsequenzen wieder stärker in den Vordergrund traten. Wie Guido in seinem Epilog schreibt, verfolgte er mit seiner lateinischen Übersetzung die Intention, die Wahrheit über die Trojanische Geschichte zu vermitteln und damit die Fehler zu korrigieren, die in den Werken der antiken Klassiker zu finden sind: Nonnulli enim iam eius ystorie poetice alludendo ueritatem ipsius in figurata commenta quibusque fictionibus transsumpserunt, vt non uera que scripserunt uiderentur audientibus perscripsisse sed pocius fabulosa. Inter quos suis diebus maxime auctoritatis Homerus apud Grecos eius ystorie puram et simplicem ueritatem in uersuta uestigia uariauit, fingens multa que non fuerunt et que fuerunt aliter transformando. [Ed. Griffin, S. 3f.] Certain persons, indeed, have already transcribed the truth of this very history, dealing with it lightly as poets do, in fanciful inventions by means of certain fictions, so that what they wrote seemed to their audiences to have recorded not the true things, but the fictitious ones instead. Among them Homer, of greatest authority among the Greeks in his day, turned the pure and simple truth of his story into deceiving paths, inventing many things which did not happen and altering those which did happen. [Ed. Meek, S. 1] Mündliches und schriftliches Verfassen: „Historia Trojana“ 55 Ebenso negativ wie Homer werden auch Ovid, Vergil und Homer beurteilt, 10 während die Berichte von Dares und Dictys als Augenzeugen verlässlicher seien: Sed ut fidelium ipsius ystorie uera scribentium scripta apud occidentales omni tempore futuro uigeant successe, in vtilitatem eorum precipue qui gramaticam legunt, ut separare sciant uerum a falso de hiis que de dicta ystoria in libris gramaticalibus sunt descripta, es que per Dytem Grecum et Frigium Daretem, qui tempore Troyani belli continue i eorum exercitibus fuere presentes et horum que uiderunt fuerunt fidelissimi relatores, in presentem libellum per me iudicem Guidonem de Columpna de Messana transsumpta legentur, prout in duobus libris eorum inscriptum quasi una uocis consonantia inuentum est in Athenis. [Ed. Griffin, S. 4] However, so that the true accounts of the reliable writers of this history may endure for all future time hereafter among western peoples, chiefly for the use of those who read Latin, so that they may know how to separate the true from the false among the things which were written of the said history in Latin books, those things which [were related] by Dictys the Greek and Dares the Phrygian, who were at the time of the Trojan War continually present in their armies and were the most trustworthy reporters of those things which they saw, will be read in this little book, having been transcribed by me, Judge Guido delle Colonne of Messina, just as it was found written with a agreement as of one voice in their two books in Athens. [Ed. Meek, S. 2] 11 Wie die Rezeptionsgeschichte der Historia Destructionis Troiae zeigt, wurde das Werk tatsächlich in der von Guido intendierten Weise aufgenommen. In relativ kurzer Zeit entstanden zahlreiche Abschriften und Übersetzungen, und erst im 18. Jahrhundert scheint das Werk seine historische Glaubwürdigkeit eingebüßt zu haben. 12 Die Historia galt bald als das Hauptinformationsmittel für die Geschichte des Trojanischen Krieges und wird von Elizabeth Meek sogar als der Höhepunkt in der Entwicklung der Trojageschichte bezeichnet. 13 10 Vgl. dazu auch den Epilog: „Consideraui tamen defectum magnorum auctorum, Virgilii, Ouidii, et Homeri, qui in exprimenda ueritate Troyani casus nimium defecerunt, quamuis eorum opera conteyuerint siue tractauerint secundum fabulas antiquorum siue secundum apologos in stilo nimium glorioso, et specialiterille summus poetarum Virgilius, quem nichil latuit.“ [Ed. Griffin, S. 276; I considered, however, the failure of the great authors, Virgil, Ovid, and Homer, who were very deficient in describing the truth about the fall of Troy, although they composed their works in an exceedingly glorious style, whether they treated them according to the stories of the ancients or according to fables, and especially that highest of poets, Vergil, whom nothing obscures. Ed. Meek, S. 265] 11 Vgl. dazu auch den Epilog: „Verum tamen Dares et Ditis, qui tempore ipsius Troyani belli in ipso belle fuere presentes, in composicione operum eorum inuenti sunt pro maiori parte concordes et in paucis inuenti sunt discordantes.“ [Ed. Griffin, S. 273; Nevertheless, Dares and Dictys, who were present in the war at the time of the Trojan War, are found to agree for the most part in the material of their works and are found to disagree in few things. Ed. Meek, S. 262] 12 Es sind ca. 150 Handschriften erhalten, und im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden acht gedruckte Editionen. Im 15. und 16. Jahrhundert wurde die Historia ins Deutsche, Französische, Englische und in zahlreiche andere Sprachen übersetzt. Vgl. Meek, Elizabeth, Guido delle Colonne. Historia Destructionis Troiae, translated with an introduction and notes, Bloomington / London 1974, S. xi. 13 Meek, S. xi-xii. Stefanie Gropper 56 Sowohl formal als auch inhaltlich und intentional entspricht Guidos Werk weitgehend der Definition Jan-Dirk Müllers für das frühneuzeitliche Historienbuch. 14 Die wichtigste Übereinstimmung besteht darin, dass Guidos Werk in Prosa verfasst ist im Gegensatz zu Benoîts Roman, der damit ein für das europäische Mittelalter typisches volkssprachiges Werk repräsentiert. Die Entscheidung eines Autors für die Prosa und gegen den Vers bedeutet jedoch weit mehr als nur eine ästhetische Wahl: Insgesamt verweist der Übergang vom Vers zur Prosa auf fundamentale Veränderungen im volkssprachigen literarischen System, das im Spätmittelalter das ganze schriftliche Wissen umgreift. Die Entstehung des Prosaromans ist also kein isoliertes Phänomen, sondern steht im Zusammenhang dieses Prozesses, der seit dem 3. Jahrhundert Historiographie, sog. Fachschrifttum, geistliche Texte, Legendendichtung und schließlich auch fiktionale Texte umfasst. 15 Die Entscheidung für einen Prosatext hat auch sprachliche, stilistische und inhaltliche Konsequenzen. Ein Charakteristikum der frühneuzeitlichen Prosatexte ist ihre Tendenz zur brevitas, die sowohl auf veränderte Lesererwartungen als auch auf einen stärkeren lebensweltlichen Bezug der Texte schließen lässt. Darüber hinaus betrachtet Müller die Prosa als Symptom eines allgemeinen Verschriftlichungsprozesses, während dessen der Vers als Repräsentant einer mündlichen Literatursituation seine Bedeutung verliert. 16 Auch wenn die mittelalterlichen Versromane bereits weitgehend in schriftgestützter Umgebung entstanden, so kamen sie doch durch Rhythmus, Reim und der damit verbundenen leichteren Memorierbarkeit einer im Mittelalter vorherrschenden auditiven Rezeption entgegen. Aus diesem Grund ist es für die frühneuzeitlichen Prosatexte charakteristisch, dass in ihnen der Aufführungscharakter der Literatur zurücktritt: Textelemente, die ihre Wirkung vornehmlich akustisch entfalten, wie z.B. Reime, oder die eine Kommunikationssituation simulieren, wie z.B. Dialoge mit kurzen, schnell erfolgenden Repliken, werden damit entbehrlich. In der Form der literarischen Texte spiegeln sich somit die Umstände für Produktion und Rezeption, die sich im Spätmittelalter zunehmend verändern und deren Entwicklung von mündlich konzipierten, verschriftlichten Texten für ein hörendes Publikumskollektiv zu schriftlich konzipierten Texten für die stille Einzellektüre führt. 17 Typisch für die frühen Prosaromane des europäischen Kontinents ist 14 Müller, Jan-Dirk, „Volksbuch/ Prosaroman im 15./ 16. Jahrhundert. Perspektiven der Forschung“, IASL, 1. Sonderheft, Tübingen 1985, S. 1-128. 15 Müller, S. 16. 16 Müller, S. 20. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die von Müller aufgezählten Charakteristika des Verses und damit eines für eine auditive Rezeption besonders geeigneten Textes auch in mittelalterlichen isländischen Prosatexten bzw. in prosimetrischen Texten auftauchen. Darüber hinaus wird auch deutlich, dass das von Müller festgestellte Verhältnis von Vers und Prosa nicht für ganz Europa galt. Während die Situation in Dänemark und Schweden durchaus mit der im mittelhochdeutschen Raum vergleichbar gewesen zu sein scheint, herrschten in der mittelalterlichen isländischen und norwegischen Literatur offenbar andere Verhältnisse. 17 Vgl. zu der Skala von mündlicher Textkonzeption für eine auditive Rezeption bis hin zu rein schriftlicher Textkonzeption für ein lesendes Publikum auch Koch, Peter / Wulf Oesterreicher: „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Span- Mündliches und schriftliches Verfassen: „Historia Trojana“ 57 die anonyme Überlieferung, die jedoch ein „ausgeprägtes Autorbewusstsein“ nicht ausschließt, 18 das sich auch implizit in verschiedenen Formen des Weiterschreibens bzw. der produktiven Aneignung einer Vorlage, wie z.B. der Übersetzung, Bearbeitung oder einer anderen Form der Adaption, bemerkbar macht. 19 Im Folgenden sollen Guidos Historia Destructionis Troiae, die anonyme isländische Trójumanna saga und die ebenfalls anonym überlieferte schwedische Historia Trojana unter dem Aspekt dieser sich in der Schreibweise manifestierenden impliziten Autorenrolle miteinander verglichen werden. Das Ziel wird es dabei sein, in drei Texten, die in zeitlicher Nähe, aber in großer geographischer Distanz und unter völlig unterschiedlichen Bedingungen entstanden, der skizzierten Entwicklung hin zu einer schriftlichen Textkonzeption für ein lesendes Publikum nachzuspüren. 3 Auf den ersten Blick scheint die Trójumanna saga, wie auch viele andere Texte der mittelalterlichen isländischen Sagaliteratur, dem kontinentalen Prosaroman bzw. den Historienbüchern sehr ähnlich zu sein: Es handelt sich bei den Sagas um volkssprachige Prosatexte, die zum Teil auf - allerdings in der Regel fremdsprachigen - Versvorlagen basieren. Speziell die übersetzten Texte fokussieren den historiographischen Gehalt der Texte mit einer Tendenz zur brevitas, erzählen linear und sind zum größten Teil anonym überliefert. Als Gewährsmann für die Richtigkeit der Aussagen fungiert entweder der Autor der Vorlage oder auch Augenzeugen der berichteten Ereignisse, während der isländische Übersetzer bzw. Bearbeiter im Hintergrund bleibt. Bei einem Vergleich mit der kontinentaleuropäischen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur ist jedoch zu beachten, dass in Island Literatur von Anfang an in der Volkssprache entstand, dass nur ganz wenige Textfragmente in lateinischer Sprache erhalten sind und dass es keine den kontinentalen Versepen vergleichbaren Werke gibt. Die Trójumanna saga ist eine auf Anfang des 13. Jahrhunderts datierte Übersetzung von Dares Phyrgius’ De excidio belli Troiani, die somit ca. 50 Jahre später als Benoîts Roman de Troie entstand; da in Skandinavien das „Mittelalter“ etwas später beginnt als in den anderen europäischen Ländern, sind somit diese beiden Texte in ihrer Entstehungszeit durchaus als gleichzeitig zu betrachten. Allerdings ist die Trójumanna saga nur in Handschriften überliefert, die wesentlich später, d.h. sogar nach Guidos Übersetzung des Roman de Troie entstanden. Heute existieren zwei Versionen der Trójumanna saga: 20 Die ältesten erhaltenen Handschriften der Saga stammen aus dem 14. Jahrhundert, enthalten aber eine stark bearbeitete und durch nungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“, Romanistisches Jahrbuch, 36 (1985 [1986]), S. 15-43. 18 Müller, S. 26. 19 Ebd. S. 34. 20 Version α: Trójumanna saga. The Dares Phrygius Version hg. v. Jonna Louis-Jensen (1981). Version β: Trójumanna saga hg. v. Jonna Louis-Jensen (1963). Stefanie Gropper 58 Zusätze aus Ilias Latina und Aeneis interpolierte Version, die als β bezeichnet wird. Die der ursprünglichen Übersetzung näher stehende Version α liegt dagegen nur in relativ jungen Handschriften des 17. und 18. Jahrhunderts vor. In beiden Versionen der Trójumanna saga fehlt der fiktive Brief des Cornelius Nepos, den die lateinischen Dares-Handschriften als Einleitung enthalten. Dennoch kommt die darin geäußerte anti-homerische Einstellung implizit auch im isländischen Text zum Ausdruck, indem die Version β die Zuverlässigkeit des Dares rühmt: „Þat er sögn vitra manna at sú þykir saga sannligust frá Trojumanna bardaga sem at Dares hefr sagt“. [Das ist die Aussage kluger Männer, dass diejenige Geschichte vom Trojanischen Krieg als wahrscheinlichste gilt, die Dares erzählt hat] 21 An einer anderen Stelle entschuldigt sich der Erzähler in Version β, dass er nun zu einer unzuverlässigeren Quelle übergeht: fellr þar nú sú frásögn niðr er Dares sagði ok vilja margir menn þat tala at sú frásögn þyki sannlig vera þui at þat var líklegt at hann mundi nær komast þessum tiðindum þui at hann var þar landsmaðr ok ok þar með bæði vitr ok minnugr. Enn þeir spekingar sem at annann veg hafa þessa sögu sagt voru meir Rómverja ættar ok komnir frá Enea ok hafa þeir fyrir þui borit af honum ok þeim er i borginni voru öll svikræði um þeirra mál ok mun sú sögn þykia ecki líklig sem þeir segia… hier endet die Erzählung, die Dares berichtete. Viele wollen dafür eintreten, dass diese Erzählung wahrhaftig scheine, denn es war wahrscheinlich, dass er nahe bei den Ereignissen war, denn er war ein Landsmann und dazu klug und besaß ein gutes Gedächtnis. Diejenigen Gelehrten aber, die diese Geschichte auf andere Weise erzählten, waren eher aus römischem Geschlecht und stammten von Aeneas ab. Deshalb haben sie ihn und diejenigen, die in der Stadt waren, von jeglichen Verrat in dieser Angelegenheit entlastet, und die Geschichte, die sie erzählen, wird nicht wahrhaftig sein… 22 Trotz der hier dezidiert geübten Quellenkritik tritt doch keine Instanz in Erscheinung, die als der isländische Übersetzer oder Redaktor identifiziert werden könnte, denn sobald es um die Saga selbst und nicht mehr um die Vorlage geht, verwendet er entweder eine unpersönliche Satzkonstruktion oder den Text selbst als Subjekt des Satzes. Darüber hinaus fällt auf, dass er ausschließlich das Verb segja [„sagen“, „erzählen“] benutzt. Dieses semantisch sehr umfangreiche Verb kann im altisländischen Kontext auch als Bezeichnung für die Produktion schriftlich fixierter Texte gebraucht werden, so dass daraus nicht eindeutig zu erkennen ist, ob damit eine schriftliche oder eine mündliche Textkonzeption bzw. eine hörende oder ein lesende Textrezeption gemeint ist. Im Sinne Jan-Dirk Müllers erweist sich damit der Text als polyfunktional, d.h. er ist für verschiedene Formen der Rezeption offen. Dennoch fällt - gerade im Vergleich zu Guido und zur schwedischen Historia Trojana - auf, wie sparsam die isländische Saga mit expliziten Hinweisen auf die Schriftlichkeit ist. Nur ganz vereinzelt wird tatsächlich das Verb rita [„schreiben“] eingesetzt: 21 Wortlaut Ormsbók; Trójumanna saga (1963), S. 233, Z. 11-12; da die Edition den Wortlaut diplomatisch wiedergibt, wurden die Zitate von mir normalisiert. 22 Wortlaut Ormsbók; Trójumanna saga (1963), S. 215, Z. 7-13 und S. 216, Z. 1-2. Mündliches und schriftliches Verfassen: „Historia Trojana“ 59 Þat er skjótara at sjá i einum stað ritat fyrir augum sér sem áðr er í sögunni sagt hvat hverr kappa hefr til þrekvirkja unnit í þeim bardögum sem nú áðr um tíma hefr verit af sagt. Es geht schneller, wenn man an einem einzigen Ort das vor seinen Augen geschrieben sieht, was zuvor in der Erzählung berichtet wurde, welcher Held welche Großtaten vollbrachte in denjenigen Schlachten, von denen nun die ganze Zeit erzählt wurde. 23 Doch trotz dieses expliziten Verweises auf die Schriftlichkeit des Textes entsteht nicht der Eindruck, dass damit gleichzeitig ein lesendes Publikum angesprochen wird, denn das Verb rita bezeichnet ja das, was vorher in der Saga erzählt wurde [sem sagt er „ was gesagt wurde“]. 24 Darüber hinaus wird auch hier keine schreibende Instanz sichtbar, weil der Satz erneut unpersönlich konstruiert ist. Der Text verweist somit weniger auf seine Schriftlichkeit im Sinne einer schriftlichen Konzeption als vielmehr auf seinen materiellen Status der Geschriebenheit, wodurch das Gesagte dauerhaft fixiert wird und gesehen werden kann. Für die Konzeption des Textes steht dagegen das unspezifische Verb segja, das zunächst im selben Satz wie rita verwendet wird und gleich darauf noch einmal vorkommt. 25 Der Fokus des Satzes liegt vielmehr auf der Funktion der Zusammenfassung, durch die das Berichtete für das Publikum schneller zu rezipieren ist. Wie dieses Zitat, enthalten ganz allgemein intratextuelle Verweise in der Saga oder sonstige den Text strukturierende Wendungen immer das Verb segja in einer unpersönlichen bzw. subjektlosen grammatischen Konstruktion, wie z.B. sem sagt var áðr [„wie zuvor gesagt worden war“] oder nú er að segja frá [„nun ist davon zu erzählen“]. Das heißt, auch wenn die Trójumanna saga natürlich eine Erzählerstimme hat, die sich zwar häufig genug kommentierend meldet, so bleibt diese Erzählerstimme, die sich nie als „ich“ im Text bemerkbar macht, doch stets im Hintergrund. Sie wird nicht personalisiert, nicht einmal, indem nachträglich am Ende des Textes von einem späteren Schreiber der Name des Übersetzers genannt wird, sondern es scheint, als wende sich der Text selbst an sein Publikum, egal ob dieses den Text lesend oder hörend rezipiert. Beim vorgelesenen Text übernimmt automatisch der Vorleser die Rolle der Erzählerstimme, während beim Lesen der implizite Autor ergänzt werden muss. Die fehlenden Hinweise auf eine schriftliche Fixierung des Textes bedeuten jedoch nicht, dass die Trójumanna saga vollständig dem Bereich der Oralität zuzurechnen ist. Denn schon aufgrund der Tatsache, dass hier eine schriftliche Vorlage übersetzt wurde, handelt sich eindeutig um einen schriftlich konzipierten Text, dem ja auch nach eigener Aussage schriftliche Quellen [bækr, „Bücher“] zu Grunde liegen. Die Saga hat somit Anteil an der Schriftlichkeit, und die erzählende Instanz ist sich dessen auch bewusst. Da schriftliche Konzeption eine 23 Wortlaut Ormsbók; Trójumanna saga (1963), S. 214, Z. 7-9. 24 das Substantiv saga ist ebenfalls vom Verb segja abgeleitet. 25 Das Verb segja wird - sogar noch in den erst im 17. und 18. Jahrhundert entstandenen Handschriften der Saga - auch verwendet in unspezifischen Verweisen auf zusätzlich benutzte schriftliche Quellen, wie z.B. bei der Angabe auf die Abstammung Castors und Pollux’: „það segir í fornum bókum“ [Trójumanna saga. The Dares Phrygius Version (1981), S. 4, Z. 21]. Stefanie Gropper 60 hörende Rezeption nicht ausschließt, sondern da die Wortwahl diese ausdrücklich zulässt, bleibt der Status der Saga zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Schwebe. Wir haben es somit bei der Trójumanna saga mit einem Text zu tun, für dessen Autor schriftliche Produktion zwar bereits eine Selbstverständlichkeit war, während die Rezeption vermutlich aber in der Regel kollektiv und eher hörend als lesend erfolgte. @ Obwohl die die ältesten erhaltenen Handschriften der Trójumanna saga erst aus dem 14. Jahrhundert stammen, so entstanden sie doch in einer Zeit, die innerhalb der isländischen bzw. skandinavischen Literaturgeschichte zweifellos noch zum Mittelalter zählt. Diese Handschriften sind mehr als 100 Jahre nach Guidos Historia entstanden, die 1286 fertig gestellt wurde und die innerhalb der italienischen Literatur als mindestens spätmittelalterliches, wenn nicht sogar frühneuzeitliches Werk zu betrachten ist. Da Guidos Text eine ähnliche Intentionalität aufweist wie die ältere Version der Trójumanna saga, 26 hätte sicherlich auch der isländische Übersetzer gerne Guidos Text als Vorlage genommen - wäre dieser bereits knapp 100 Jahre früher vorgelegen. Guidos oben bereits zitierte kritische Haltung gegenüber den antiken Autoren kommt nicht nur im Epilog, sondern auch an anderen Stellen immer wieder zum Ausdruck. Damit will Guido zum Ausdruck bringen, dass er eine wahre und verlässliche historiographische Darstellung anstrebt. Im Prolog weist er darauf hin, dass man sich an wichtige Ereignisse der Vergangenheit nur dann zuverlässig erinnern kann, wenn sie ohne Unterbrechung tradiert werden: Vigent enim in illis pro gestorum magnitudine continuata recordia dum preteritorum in posteros sermo dirigitur. [Ed. Griffin, S. 3] In their case, uninterrupted records flourish on account of the greatness of the events, as long as the tale of what is pst is handed down to psoterity. [Ed. Meek, S. 1] Während für Guido die griechischen und trojanischen Helden reale, d.h. historische Personen, waren, an deren Existenz nicht zu zweifeln ist, so sind jedoch Zweifel an der Art der Darstellung der Ereignisse um diese Helden möglich. Daher bezieht sich die Kritik an seinen Quellen auch vor allem auf Übertreibungen in der Darstellung oder auf falsche Parteinahme, nicht jedoch am Wahrheitsgehalt der berichteten Ereignisse. Mit Guidos erklärtem Ziel, seinem Publikum eine wahre historiographische Darstellung zu bieten, lassen sich auch die Veränderungen gegenüber seiner direkten Vorlage Benoît erklären: Guido ist bestrebt, die fiktionalen Elemente seiner Quelle herauszufiltern und sich auf die historischen Fakten bzw. solche Fakten, die für ihn historisch akzeptabel sind, zu konzentrieren. Daher reduziert er Deskriptionen auf diejenigen Informationen, die er als Hintergrundwissen für notwendig er- 26 Zur Intentionalität der isländischen Trójumanna saga vgl. Würth, Stefanie: Der „Antikenroman“, S. 46 ff. Mündliches und schriftliches Verfassen: „Historia Trojana“ 61 achtet. Er fügt Erklärungen oder Begründungen für Ereignisse hinzu und kommentiert verschiedene Angaben seiner Quellen im Hinblick auf ihre Wahrscheinlichkeit. Die bei Benoît umfangreich geschilderten Liebesgeschichten enthalten zwar ebenfalls historiographisch auswertbare Informationen, aber die mit der Liebe verbundenen Gefühle treten bei Guido stark in den Hintergrund zugunsten von moralischen Reflexionen, die sich in der Regel auf die Konsequenzen dieser zwischenmenschlichen Beziehungen für das Gesamtgeschehen beziehen. Obwohl in der Trójumanna saga ähnliche Änderungen gegenüber der lateinischen Vorlage festzustellen sind, so besteht doch ein gravierender Unterschied darin, dass für Guido Zuverlässigkeit und Wahrheit in der Darstellung eindeutig mit schriftlicher Konzeption verbunden ist und dass sich sein Werk vorwiegend an ein lesendes Publikum richtet. Offensichtlich war in Guidos Umgebung das Verhältnis zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit ein anderes als in dem Milieu, in dem die Trójumanna saga entstand. So unterscheidet Guido in seiner Quellenkritik, welche Autoren seiner Quellen schreiben [scribere] und welche etwas sagen [dicere]. Während in der Regel die poetae ihre von ihm als fiktional kritisierten Angaben dicunt [„sagen“ oder „erzählen“], bezeichnet er die von ihm als wahr betrachteten Fakten der auctores meist als scripsit [„geschrieben“]: Sicut de eis [= die Mirmidonen] testatur Ouidius, eorum originem fabulose commentans. Dixit enim hos Mirmodones in viio Metamorphoseos … [Ed. Griffin, S. 5] Likewise Ovid mentions them, giving a legendary account of their origin. For he said in Book VII of the Metamorphoses … [Ed. Meek, S. 3] Aber auch auctores „sagen“ oder „erzählen“, sofern Guido Zweifel an ihren Aussagen hegt. Von dieser Skepsis bleibt auch Isidor von Sevilla nicht verschont: Cuius socios narrauit Ouidius Circem, Solis filiam, in volucres transformasse, in calabriam a Dyomede delatas. De quarum auium genere dicit Ysidorus multas fuisse productas que aues Diomedee sunt dicte … [Ed. Griffin, S. 12] Ovid writes (wörtlich: narrates) that Circe, daughter of the sun, transformed his companions into birds which were brought by Diomedes into Calabria. Isidore of Seville says that many birds were produced from this race which are called Diomedian … [Ed. Meek, S. 10] Verweist Guido hingegen auf Dares oder Dictys, deren Werke ja angeblich die Grundlage der Historia bilden und die er als besonders glaubwürdig beurteilt, so verwendet er ausschließlich das Verb scribere [„schreiben“]: De illis autem qui fuerunt in Troia idem Dares formas suo stilo descripsit. Scripsit enim regem Priamum longe fuisse stature, … [Ed. Griffin, S. 85] Dares also describes with his pen those who were in Troy. For he writes that King Priam was tall in stature… [Ed. Meek, S. 84] Dieses Beispiel ist besonders interessant, weil Guido hier mit den Verben scribere und describere spielt; aus der Gegenüberstellung der beiden Verben wird deutlich, Stefanie Gropper 62 dass „beschreiben“ auch etwas mit „schreiben“ zu tun hat, und somit letztlich auch mit von Guidos Forderung nach objektiver bzw. wahrhafter Darstellung. Da Guido keinen Zweifel daran lässt, dass ihm sowohl die Werke auctores als auch der von ihm kritisch betrachteten poetae in schriftlicher Form vorlagen - so erwähnt er ja z.B. genau, welchem Buch von Ovids Metamorphosen er seine Aussagen entnommen hat - kann sich die Unterscheidung „schreiben“ versus „sagen“ nicht auf die Medialität der Texte beziehen. Vielmehr muss es sich um eine Unterscheidung im Hinblick auf die Zuverlässigkeit bzw. den Wahrheitsgehalt der Aussagen handeln. Damit rücken alle Informationen, die „gesagt“ werden, in die Nähe von Gerüchten, während diejenigen Informationen, die „geschrieben“ wurden, wahr sind und damit auch dauerhaft in ihrer Gültigkeit. In diesem Zusammenhang stellt sich dann natürlich die Frage, wo Guido auf dieser Skala sein eigenes Werk positioniert. Explizit äußert er sich interessanterweise nicht, ob er seinen Bericht schreibt oder sagt, aber er erwähnt mehrmals, dass sein Werk gelesen wird und verweist damit zumindest implizit auf dessen schriftlichen Status - obgleich dieser ja, wie aus dem oben angeführten Beispiel von den Büchern des Ovid zu ersehen ist, keine Auskunft über den Wahrheitsgehalt eines Werkes gibt: Sciant igitur presentis hystorie lectores ab ipsa mundi institucione nunquam tot nauigia insimul confluxisse, tanto plena milite nec tantorum cumulo pugnatorum, que ut descriptibili sermone patefacta, legentur. [Ed. Griffin, S. 88] Let the readers of the present history know therefore, that never, from the creation of the world, had so many ships come together, filled with so many knights nor with a company of so many warriors, as what they will read about, revealed by a descriptive account. [Ed. Meek, S. 86] Einen Hinweis darauf, dass Guido sich selbst eher auf der Seite der „schreibenden“ denn der „erzählenden“ Autoren sieht, kann vielleicht darin gesehen werden, dass er seine Darstellung als descriptibilis [„beschreibend] bezeichnet. auch wenn es um seine eigene Stellung als auctor oder poeta unter den Historiographen geht, vermeidet Guido eine klare Festlegung, indem er in der Regel neutrale Verben verwendet, d.h. solche, die sich nicht so leicht auf die Dichotomie „sagen“ versus „schreiben“ beziehen lassen, wie z.B. „enthüllen“, „berichten“, „auslassen“ bzw. „nicht auslassen“, etc. Aber Guido verwendet häufig Metaphern, um die Textproduktion zu umschreiben: Ad cuius et quorum narrandos euentus suo ordine sigillatim dirigitur stilus noster. [Ed. Griffin, S. 44] Our pen is directed to telling the things that happened to her and to them, one at a time and in their order. [Ed. Meek, S. 43] De narranda igitur morte Vlixis, obmissis ad presens aliis, presentis hystorie stilus acuitur. Quare narrat etdicit quod… [Ed. Griffin, S. 269] The pen of the present history, omitting other matters for the present, is now sharpened to tell about the death of Ulysses. For this reason it tells and narrates that… [Ed. Meek, S. 259]. Mündliches und schriftliches Verfassen: „Historia Trojana“ 63 Die Ereignisse werden „erzählt“, aber für die Erzählung selbst wird der „Stift dirigiert“. Hier wie an vielen anderen Stellen vermeidet es Guido, explizit auf den Akt des Niederschreibens zu verweisen. Damit befindet sich auch seine Historia in einer Art „Schwebezustand“, nicht aber wie die Trójumanna saga in einem medialen Schwebezustand zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern in einen Schwebezustand zwischen der historischen Zuverlässigkeit der auctores und der Fiktionalität der poetae. Eventuell wollte Guido damit auch elegant das Problem umgehen, dass er selbst danach strebt, einen wahrhaftigen und historiographisch zuverlässigen Bericht zu verfassen, dass er aber seine eigene direkte Quelle nicht angibt - vielleicht weil er Benoît seinen eigenen Kriterien zufolge als poeta hätte bezeichnen müssen. Vielleicht ist daher das Ende des Prologs auch nicht nur unter dem Aspekt des Bescheidenheitstopos zu sehen: Ne eius ueritas incognita remaneret ad presentis operis perfeccionem efficiter laboraui. [Ed. Griffin, S. 276] And lest the truth remain unknown, I have laboured for the effective completion of this present work. [Ed. Meek, S. 265] Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass Guido zwar ebenso wie der Redaktor der Trójumanna saga zwischen „sagen“ und „schreiben“ unterscheidet, dass sich diese Unterscheidung aber weder auf die Produktion noch auf die Medialität des Textes bezieht. Für Guido war es offenbar bereits ebenso undenkbar, dass ein Text nicht in geschriebener Form tradiert wird wie dass ein Publikum einen Text nicht lesend rezipiert. Es stellt sich nun die Frage, ob dies in der schwedischen Übersetzung von Guidos Historia ebenso deutlich zum Ausdruck kommt. Hat der schwedische Übersetzer Guidos Konzeption erkannt, und wenn ja, wie ging er damit um? D Ein Vergleich zwischen lateinischer Vorlage und schwedischem Text zeigt zunächst, dass hier immer noch die mittelalterliche Konzeption der Übersetzung zu Grunde liegt. Das bedeutet, dass der Übersetzer bzw. Bearbeiter nicht nach für heutige Übersetzungen gültigen Äquivalenzprinzipien arbeitete, 27 sondern dass er in seine Vorlage eingreifen und sie für seine eigenen Zwecke bzw. entsprechend den Erwartungen seines Publikums adaptieren konnte. Genau wie Guido verschweigt der schwedische Übersetzer seine direkte Vorlage - d.h. er verschweigt, dass er als Vorlage den Text Guidos benutzt wie er natürlich auch nicht erwähnt, dass die Vorlage Guidos der Text Benoîts war - und gibt als seine Quellen Dares und Dictys an bzw. impliziert, dass er Dares und Dictys benutzt habe, wie z.B.: 27 Zum Äquivalenzprinzip heutiger Übersetzungen vgl. z.B. Koller, Werner: „Der Begriff der Äquivalenz in der Übersetzungswissenschaft“, in: Übersetzung. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, hg. v. Harald Kittel et al. Berlin / New York 2004, S. 343-354. Stefanie Gropper 64 Dares oc ditis skriffwo båden om troyaborgs striid äpter ath the waro tha baden wiid hand j then tiden, oc the fölias mästa dels åth j syn scriffwelse oc seya baden eth, fam stadom athskildzs thera taall. Dares und Dictys schrieben beide über den Trojanischen Krieg, nachdem beide in dieser Zeit anwesend gewesen waren, und sie stimmen zum größten Teil in ihren Schriften überein und sagen dasselbe, an wenigen Stellen weichen ihre Aussagen voneinander ab. [Ed. Geete, S. 311] Inhaltlich und stilistisch unterscheidet sich die schwedische Historia Trojana sowohl von der isländischen Trójumanna saga als auch von Guidos Historia durch ihre stärkere Höfisierung: die trojanischen und griechischen Helden sind als zeitgenössische Ritter beschrieben, die sich in stark befestigten Burgen oder lieblichen Landschaften aufhalten, die sich höffwisk benehmen und die sich in der direkten Rede des sogenannten „höfischen Stils“ bedienen. Aber auch die narrativen Teile der Historia Trojana erinnern sprachlich an höfische Prosatexte der westnordischen Überlieferung: 28 So fällt vor allem die hohe Zahl von Präsenspartizipien auf, die vor allem als Markierung für direkte Rede, aber durchaus auch in anderem Zusammenhang eingesetzt werden: Paris den andra sonen gaff siith rad seyande… [Ed. Geete, S. 51] Paris, der zweite Sohn, riet sagend … Kom thetta gräseliga rykted farande tiill honom… [Ed. Geete, S. 36] Dieses grauenhafte Gerücht gelangte fahrend zu ihm… Manga qwinnor loppo forfärande hiit och tiith bärande syn smaa barn skälffwande j synom fangne, ynga pygor loppo oc wilfarande hiit oc tiith skälffwande sökiande sig rwm [Ed. Geete, S. 33] Erschreckend liefen viele Frauen hierin und dorthin, ihre kleinen Kinder tragend, Platz suchend Auch der gehäufte Einsatz der Alliteration bei Personenbeschreibungen oder bei narrativen Höhepunkten, wie z.B. einer Kampfbeschreibung stimmt mit dem „höfischen Stil“ der altwestnordischen Texte überein: The rände hvar j moth annan mäd syn glaffwen stor bwller oc gny gik aff them glaffwonen brwsto och stumpeno flwgo j wädered sköllar och hjälmar söndergyngo oc ryktes aff hwar annars hoffwod swärden skanglade och syngade j wädered stridzfolkid störtthe somliga sare oc somliga dödhe till markena, tha bleff stort drapeliget mord, bloden stod alla stadz a markena oc offwertäkt mäd döda män oc saara, … [Ed. Geete, S. 28] 28 Zum höfischen Stil der altwestnordischen Prosaliteratur vgl. z.B. Åstas, Reidar: „Lærd stil, høvisk stil og florissant stil i norrøn prosa.“ In: Maal og minne (1987), S. 24-38 sowie Kalinke, Marianne: King Arthur North-by-Northwest: The matière de Bretagne in Old Norse-Icelandic Romances. [Bibliotheca Arnamagnæana 37]. København 1981. Mündliches und schriftliches Verfassen: „Historia Trojana“ 65 Sie stürmten mit ihren Lanzen auf einander zu; großes Getöse und Lärm ging von ihnen aus; die Lanzen barsten, und die Teile flogen in die Luft; Schilde und Helme gingen entzwei und wurden von ihren Köpfen gerissen; die Schwerter sausten und sangen in der Luft; die Krieger stürzten - manche verwundet, manche tot - auf das Feld; das war ein tödlicher Kampf; das Blut stand überall auf dem Feld, das bedeckte war von toten und verwundeten Männern… In diesem Beispiel ist bereits zu erkennen, was in anderen Textstellen noch deutlicher wird, dass die Alliteration häufig mit anderen lautlichen Mitteln kombiniert wird, wie z.B. mit Assonanz oder mit Binnen- und Endreimen. Darüber hinaus verwendet die Historia Trojana zahlreiche Latinismen. Diese erwecken hier jedoch weniger den Eindruck rhetorischen Schmucks, der die sprachliche Gewandtheit des Übersetzers demonstrieren soll, wie es in altwestnordischen Texten häufig der Fall ist. Vielmehr werden die Latinismen eingesetzt, um entweder das Fremdartige und Vornehme des höfischen Schauplatzes hervorheben oder um den Status des Sprechers zu unterstreichen, wie z.B. in Jasons Dialog mit König Oetes: Högburdog nadoge herrä konwung ey är myn dristoghet wtan radzens dispensering … [Ed. Geete, S. 19] Hochwohlgeborener, gnädiger Herr König, meine Dreistigkeit ist nicht ohne des Rates Dispensierung… Auch wenn die Historia Trojana in diesem Punkt von den altwestnordischen Gepflogenheiten abweicht, so stimmt sie doch mit ihnen bei der Übersetzung lateinischer Texte in der Tendenz überein, die häufig recht umfangreichen Digressionen Guidos mit moralischen Reflexionen oder gelehrtem Hintergrundwissen zu kürzen. Insbesondere Guidos Ausfälle gegenüber dem weiblichen Geschlecht und gegenüber der Geistlichkeit wurden in der schwedischen Übersetzung entweder ganz ausgelassen oder stark gekürzt. Dadurch konzentriert sich die Historia Trojana noch stärker als Guido auf die historischen Ereignisse in direktem Zusammenhang mit dem Trojanischen Krieg. All diese Charakteristika belegen zum einen die Selbständigkeit des schwedischen Übersetzers gegenüber seiner Vorlage und implizieren zum anderen Nähe zur altwestnordischen Übersetzungstradition. Vermutlich waren es eben diese inhaltlichen und stilistischen Gemeinsamkeiten mit altwestnordischen Texten, die vor Geetes Untersuchung Anlass für die Vermutung gaben, es handele sich bei der schwedischen Historia Trojana um die Übersetzung einer altwestnordischen Vorlage. Ein wesentlicher Unterschied zur altisländischen Trójumanna saga besteht jedoch in der Rolle, die Schrift und Schriftlichkeit in der Historia Trojana spielen. Genau wie Guidos Historia legt die schwedische Historia Trojana Wert darauf, „richtig“ zu berichten: … bleeff thenna Hystoria forwänd aff latina oc oppa swänsca for them som losth haffwa ther till ath höra henne oc forwetha sig hwro then striden rättheliga tilgik. [Ed. Geete, S. 315] Stefanie Gropper 66 … wurde diese Geschichte aus dem Lateinischen ins Schwedische übersetzt für diejenigen, die Lust haben, sie zu hören und zu erfahren, wie dieser Krieg richtig verlief Im Unterschied zu Guido werden jedoch alle zitierten Autoritäten gleich behandelt und nicht hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes unterschieden. Allerdings wird in der Historia Trojana nicht nach „gesagter“ Unwahrheit oder Fiktion und „geschriebener“ Wahrheit unterschieden, sondern Information ist hier grundsätzlich nur als geschrieben denkbar, egal ob sie von poetae oder von auctores stammt: J bland them war thenne starkaste kämpe Hercules ath nampne som poete scriffwo föddan wara aff Jupiter oc alcmena amphitrions hwstru Hwlken drap otaliga kämpar oc aff honom myket wnder scriffwet är, ther langtt ware aff seya, … [Ed. Geete, S. 4] Unter ihnen war der stärkste Kämpe namens Herkules, von dem die Poetae schreiben, er sei geboren von Jupiter und Alkmene, der Gattin Amphitrions. Er tötete unzählige Kämpen und von ihm sind viele großartige Wundertaten geschrieben, die zu erzählen jedoch lang dauern würde… som virgilius scriffwar… [Ed. Geete, S. 18] wie Vergil schreibt… som ysidorus scriffwer… [Ed. Geete, S. 22] wie Isidor schreibt… Hans [Hectors] gerningar oc bedriffwelse staa scriffna til langa amynnelse… [Ed. Geete, S. 35] Seine Taten und Werke stehen geschrieben zur langen Erinnerung…. Dares frigius scriffwar… [Ed. Geete, S. 76] Dares Phrygius schreibt… Ob eine Aussage wahr oder falsch ist, steht somit in keinerlei Zusammenhang mit deren medialer Repräsentation, sondern historische Informationen werden grundsätzlich schriftlich weitergegeben, zunächst einmal unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Es geht dabei um das Festhalten von „denkwürdigen“ Ereignissen der Vergangenheit, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen, sondern lange erinnert werden sollen. Die hieraus zu spürende Distanz sowohl zu den Ereignissen wie auch zu den Quellen schlägt sich auch in der Erzählhaltung nieder. Im Gegensatz zu den altwestnordischen Sagas, hier speziell der Trójumanna saga, die sehr häufig das historische Präsens verwenden, erzählt die Historia Trojana - ebenso wie Guido - das gesamte Geschehen im Präteritum. Damit werden vom Erzähler die Ereignisse als der historischen Vergangenheit zugehörig ausgewiesen, auch wenn die Personen selbst von ihrer äußeren Erscheinung her als Zeitgenossen wirken. Während die Trójumanna saga zwar häufig das Präsens verwendet und somit die Ereignisse einem hörenden Publikum gegenüber sehr lebendig vermittelt, besteht jedoch aufgrund Mündliches und schriftliches Verfassen: „Historia Trojana“ 67 diverser Zusätze kein Zweifel daran, dass es sich um Ereignisse einer weit zurückliegenden Vergangenheit handelt. 29 Da in der Historia Trojana die Medialität eines Textes offensichtlich kein Kriterium für dessen Wahrheitsgehalt darstellt, kann der schwedische Übersetzer - im Unterschied zu Guido auch auf seinen eigenen Text als ein geschriebenes Produkt verweisen. Wie die Trójumanna saga enthält auch die Historia Trojana zahlreiche intratextuelle Verweise, die sich sowohl auf bereits Berichtetes wie auch auf noch zu Berichtendes beziehen. In der Saga wird für sämtliche Formulierungen dieser Art ganz generell das medial unspezifische Verb segja verwendet, wie z.B. „sem sagt er“ [Wie gesagt wurde] oder „sem sagt var“ [Wie gesagt worden war]. In der Historia Trojana wird für diejenigen Verweise, die sich auf zurückliegende Textstellen beziehen, in der Regel die Floskel „som forscriffwit staar“ [wie geschrieben steht] benutzt. 30 Im Gegensatz dazu enthalten Verweise auf Textstellen, die für den Leser in der Zukunft liegen, Verben „sagen“ oder „berichten“, wie z.B: „som här epter skal seyas…“ [„wie später noch berichtet werden soll“ Ed. Geete, S. 80]. Diese doch überraschend klare Unterscheidung, die sich durch den ganzen Text hindurch verfolgen lässt und konsequent durchgehalten ist, deutet auf eine klare Konzeption von Schriftlichkeit hin: Schrift heißt Festhalten / Fixieren; das Geschriebene ist das, was von Dauer ist und was auch im Gedächtnis gespeichert ist. Das noch zu Berichtende hingegen existiert erst in Gedanken, ist noch nicht formuliert, noch nicht gesagt. Es ist noch flüchtig und kann daher auch noch nicht aufgeschrieben werden. Es ist vorläufig erst eine Möglichkeit, von der noch gar nicht sicher ist, ob sie auch tatsächlich festgehalten, d.h. schriftlich fixiert wird. Der deutlich erkennbar schriftlichen Medialität auf der Produktionsseite des Textes entspricht die erwartete Rezeption durch ein lesendes Publikum. Wie auch für Guido ist offenbar für den schwedischen Übersetzer nur ein lesendes Publikum undenkbar: Aldrig läses sedan wärden begyntes at… [Ed. Geete, S. 103] Noch niemals hat man seit dem Beginn der Welt gelesen, … Här maa hwar oc en akta som lääs thenna Hystorian… [Ed. Geete, S. 104] Hierauf muss ein jeder achten, der diese Historie liest, … Aldrig läses ath nogon tolken stor häär kom mz tolken fare… [Ed. Geete, S. 107f.] Noch niemals hat man gelesen, dass ein so großes Heer mit so großer Bedrohung gekommen sei… 29 So verweisen z.B. alle Handschriften der Version ß darauf, es stehe in „alten Büchern“ [„fornar bækur“ bzw. „í fornum frásögnum“, Trójumanna saga (1963), S. 186], dass Hektors Tod der großartigste Heldentod gewesen sei. 30 Z.B. Ed. Geete, S. 79, 122, 164. Stefanie Gropper 68 Auch wenn diese Stellen nicht ausschließen lassen, dass ein gelesener Text auch vorgelesen wird und somit hörend rezipiert wird, 31 so wird doch deutlich, dass die Grundlage für jede Art von literarischer Rezeption ein geschriebener Text bildet. Damit aber ist die Historia Trojana kein polyfunktionaler Text im Sinne von Jan- Dirks Müller Charakterisierung der Historienbücher, mehr, sondern er zielt eindeutig darauf ab, Denkwürdiges für die Nachwelt nach bestem Wissen und Gewissen festzuhalten als eine Art von Wissensspeicher. Damit ist zwar für den Verfasser der Historia Trojana zwar eine Rezeption durch das Zuhören nach wie vor denkbar, aber das Zuhören ist für ihn eine andere Form des Lesens, d.h. der asynchronen Rezeption und damit auch eine Form der Textproduktion als Aktualisierung des Geschriebenen Textes. Während beim mündlichen Erzählen der Text produzierender Verfasser/ Erzähler und rezipierendes Publikum durch unterschiedliche Personen repräsentiert werden, die aber synchron agieren, sind beim schriftlichen, zum Lesen bestimmten Text der Textproduzent und Textrezipient zeitlich unter Umständen weit von einander entfernt. Die schriftliche Fixierung macht den Text, unabhängig vom Verfasser, zeitlos und dauerhaft; er kann jederzeit abgerufen werden. Darauf deutet auch die konsequente Verwendung des Präsens für die Hinweise auf die Lektüre des Textes hin: Durch das Lesen, sei es Vorlesen oder stille Selbstlektüre, ist der Text präsent, aber die synchrone Textproduktion und -rezeption fallen nun nicht mehr in der Person des Erzählers, sondern in der Person des Lesers zusammen. Auch wenn somit die Historia Trojana aus stilistischer Sicht auf den ersten Blick an die mittelalterliche skandinavische Erzähltradition anzuknüpfen scheint, so unterscheidet sie sich davon doch im Bewusstsein ihrer dezidiert schriftlichen Konzeption und Medialität, die sich nicht nur auf die Textproduktion, sondern auch auf die Textrezeption erstreckt. Das Publikum ist sich sowohl der Medialität des Textes bewusst als auch dessen, dass es selbst in der Rezeption die erzählten Ereignisse aktualisiert. : . Guido de Columnis Historia Destructionis Troiae, ed. Nathaniel Edward Griffin, Cambridge, Massachusetts 1936, reprint 1970. Historia Destructionis Troiae Guido delle Colonne, translated with an introduction and notes by Mary Elizabeth Meek, Bloomington, London 1974. Historia Trojana: en Medeltidsroman om Trojanska Kriget från latinet öfversatt till svenska året 1529 efter den enda kända Handskriften utgiven af Robert Geete. Stockholm 1992 [= SFSS 29]. 31 Auf die Möglichkeit des Vorlesens und der kollektiven Rezeption wird am Ende des Textes verwiesen: „Ther kann oc mera gangn atwara än skade. Hoo henne lääs heller lather läsa j kompenscap nar lostogdt folk forsamnad är.“ [Ed. Geete, S. 315; das kann auch mehr Nutzen als Schaden sein, wenn man sie liest oder in Gesellschaft lesen lässt, wenn interessierte Leute zusammen sind.“] Mündliches und schriftliches Verfassen: „Historia Trojana“ 69 Trójumanna saga. The Dares Phrygius Version hg. v. Jonna Louis-Jensen. Kopenhagen 1981 [= Editiones Arnamagnæanæ. A / vol. 9]. Trójumanna saga hg. v. Jonna Louis-Jensen. Kopenhagen 1963 [= Editiones Arnamagnæanæ. Series A ; 8]. B $ Fortelius, Bertel, Historia Trojana eller Troya Borgdzs Chröneca: Studier över språk och stil i en svensk 1500-talstext. Borgå 1965, S. 19-29. Geete, Robert, „En svensk Trojasaga från 1529“, ANF 5 (1893), S. 31-49. Kalinke, Marianne: King Arthur North-by-Northwest: The matière de Bretagne in Old Norse- Icelandic Romances. [Bibliotheca Arnamagnæana 37]. København 1981. Koch, Peter / Wulf Oesterreicher: „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“, Romanistisches Jahrbuch, 36 (1985 [1986]), S. 15-43. Koller, Werner: „Der Begriff der Äquivalenz in der Übersetzungswissenschaft“, in: Übersetzung. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, hg. v. Harald Kittel et al. Berlin / New York 2004. Müller, Jan-Dirk, „Volksbuch/ Prosaroman im 15./ 16. Jahrhundert. Perspektiven der Forschung“, IASL, 1. Sonderheft, Tübingen 1985, S. 1-128. 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Als erste greifbare Fassung gilt das altindische Pañcatantra - ein aus fünf Teilen oder „Büchern“ bestehendes Werk, dessen Rahmenerzählungen mit Tierfabeln und anderen Geschichten, die Lebensweisheit vermitteln sollen, gefüllt sind. Die Entstehung dieses Werkes wird etwas vage auf die Zeit zwischen 200 und 300/ 400 unserer Zeitrechnung datiert, was nicht weiter verwundern kann, da seine Urfassung nicht erhalten ist. 1 Von seinem Ursprungsland Indien aus verbreitete sich das Werk in seiner Gesamtheit oder in Teilen praktisch über die ganze Alte Welt, d.h. es gelangte in andere Regionen Asiens, nach Afrika und nach Europa. Johannes Hertel, der 1914 eine umfangreiche Arbeit über die Geschichte und Verbreitung des Pañcatantra publizierte, zählte mehr als 200 Fassungen des Stoffes in über 60 Sprachen. 2 Für das deutsche Buch der Beispiele der alten Weisen bedeutsam wurde die persische Fassung, die um die Mitte des 6. Jahrhunderts entstanden sein soll. 3 Diese persische Version ist nicht erhalten. Sie diente aber als Vorlage für eine 570 angefertigte syrische Fassung, sowie für eine im 8. Jahrhundert entstandene arabische Bearbeitung. Von dieser arabischen Fassung wiederum, die übrigens in ihrem Titel schon die beiden Schakale Kalila und Dimna nennt, stammen sowohl weitere arabische und vorderasiatische Bearbeitungen, als auch eine griechische Fassung („Stephanites und Ichnilates“) aus dem 11. Jahrhundert ab; außerdem eine lateinische Prosaübersetzung, aus der im 12. Jahrhundert ein gereimter „Novus Esopus“ hervorging; die hebräische Übersetzung eines Rabbi Joel aus dem frühen 12. Jahrhundert; eine zwei- 1 Siehe den Sammelartikel Kalila wa-dimna in Rudolf Radler und Walter Jens (Hg.): Kindlers neues Literatur-Lexikon Bd. 18, München 1992, S. 851-861. 2 Johannes Hertel: Das Pañcatantra. Seine Geschichte und seine Verbreitung, Leipzig 1914. Die Nennung der isländischen Übersetzung findet sich auf S. 398. 3 Eine Übersicht über den Überlieferungszweig, zu dem auch die deutsche Fassung gehört, findet sich bei Friedmar Geissler: Anton von Pforr. Das Buch der Beispiele der alten Weisen I-II, Berlin 1964-1974, Bd. II, S. 3-6. Hubert Seelow 72 te hebräische Version aus dem 13. Jahrhundert; sowie eine spanische Übersetzung, die vor 1251 entstanden sein muß. Die ältere hebräische Version vom Anfang des 12. Jahrhunderts diente zwischen 1263 und 1278 dem getauften Juden Johannes von Capua als Vorlage für seine lateinische Version, die unter dem Titel „Directorium vitæ humanæ alias parabolæ antiquorum sapientium“ bekannt ist. 4 Die deutsche Übersetzung, die auf Veranlassung von Graf Eberhard im Bart von Württemberg (1445-1496) oder dessen Mutter Mechthild von der Pfalz (1419- 1482) entstanden sein dürfte, wurde von dem aus einer Breisacher Patrizierfamilie stammenden Anton von Pforr in den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts angefertigt, und zwar nach einem nicht bekannten Manuskript oder Druck des Directorium vitæ humanæ. Es wird angenommen, daß Anton von Pforr verhältnismäßig frei mit dem Text seiner Vorlage umging und eher eine Bearbeitung denn eine wortwörtliche Übersetzung des lateinischen Textes lieferte. Friedmar Geissler charakterisiert dies so: Die deutsche Übersetzung Antons [von Pforr] deckt sich mit den bekannten lateinischen Varianten des D[irectorium] v[itæ] h[umanæ], die man vielleicht treffender als lateinische „Parallelüberlieferungen“ betrachtete, an vielen Stellen nur geringfügig oder gar nicht. Anton fühlte sich in seine Vorlage mit feinem Empfinden ein und blieb nicht sklavisch an ihr haften. Er verlieh seiner Übersetzung eine ganz und gar eigene Note und schrieb zwar im Stile seiner Zeit, aber dennoch nicht in dem poetisierenden Ton, den die meisten seiner Zeitgenossen anschlugen […]. 5 Wenn man die Zahl der Auflagen als Gradmesser der Beliebtheit eines Textes gelten lassen kann, dann war das Buch der Beispiele der alten Weisen einer der beliebtesten Texte der Frühdruckzeit. Schon Heitz und Ritters Volksbücherkatalog, der zugegebenermaßen weder als besonders zuverlässig, noch als vollständig gelten kann, führt für die Zeit von 1483 bis 1592 vierundzwanzig verschiedene deutsche Drucke des Werkes auf. 6 Geissler beschreibt in seiner bereits zitierten Einleitung siebzehn verschiedene Ausgaben für die Zeit zwischen 1480/ 81 und 1592. 7 Als Tatsache gilt, daß das Buch der Beispiele der alten Weisen das einzige der vor 1514 erschienenen Volks- 4 Einen kurzen Abriss der Forschung zum Buch der Beispiele der alten Weisen bietet die Einleitung der Habilitationsschrift von Sabine Obermaier: Das Fabelbuch als Rahmenerzählung. Intertextualität und Intratextualität als Wege zur Interpretation des Buchs der Beispiele der alten Weisen Antons von Pforr, Heidelberg 2004, S. 1-5. 5 Friedmar Geissler: Anton von Pforr. Das Buch der Beispiele der alten Weisen, Bd. II, S. 10. 6 Paul Heitz und Fr. Ritter: Versuch einer Zusammenstellung der Deutschen Volksbücher des 15. und 16. Jahrhunderts nebst deren späteren Ausgaben und Literatur, Straßburg 1924, S. 14-17, Nr. 44-67 „Buch der Weisheit“. 7 Geissler: Anton von Pforr, Bd. II, S. 43-105. - Siehe auch die Aufstellung bei Obermaier: Das Fabelbuch als Rahmenerzählung, S. 37. „Spekinnar bók“ als Überlieferungsbeispiel 73 bücher ist, in dessen Druckgeschichte keine sogenannte „lutherische Pause“, d.h. keine durch die Reformation verursachte Unterbrechung festzustellen ist. 8 Der deutsche Text, der in zahlreichen Drucken so weite Verbreitung fand, war Vorlage für weitere Übersetzungen. So unter anderem auch für die dänische Version, die von Christen Nielssen angefertigt wurde und erstmals 1618 unter dem Titel De Gamle Vijses Exempler oc Hoffsprock in Kopenhagen erschien. Dieser Text liegt in einer von Laurits Bødker besorgten modernen Edition vor. 9 3 Daß das Buch der Beispiele der alten Weisen auch nach Island gelangte, wird in der einschlägigen Literatur schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder erwähnt. Diese Hinweise gehen - direkt oder indirekt - letztlich alle auf Hálfdan Einarsson (1732-1785) zurück, der in seiner Sciagraphia 10 von einem „Liber pervetustus, qvi Dimna inscribitur“ spricht, wobei zur Verbreitung dieses Hinweises vor allem seine Erwähnung durch Theodor Benfey in einem Aufsatz in Orient und Occident I (1862) beigetragen hat. 11 Friedmar Geissler, der 1962 in der Zeitschrift Fabula einen Aufsatz über die isländischen Handschriften des Buches der Beispiele der alten Weisen publiziert hat, verfolgt vor allem die auf Benfey zurückgehenden Hinweise. 12 Er hatte offensichtlich 8 Siehe Hans Joachim Kreutzer: Buchmarkt und Roman in der Frühdruckzeit. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (= Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), S. 197-211, insbesondere die Tabelle auf S. 200. 9 Laurits Bødker (Hg.): Christen Nielssen. De Gamle Vijses Exempler oc Hoffsprock (1618) I-II, København 1951-53. 10 Hálfdan Einarsson: Sciagraphia historiæ literariæ Islandicæ, Kopenhagen 1777, zweite Auflage, mit dem Titel Historia literaria Islandiæ, Kopenhagen und Leipzig1786. 11 Theodor Benfey: Die alte spanische Uebersetzung des Kalîlah und Dimnah. In: Orient und Occident insbesondere in ihren gegenseitigen Beziehungen I, Göttingen 1862, S. 497-507. Dort heißt es (auf S. 507): „Hiermit diese Anzeige der alten spanischen Uebersetzung abschliessend, erlaube ich mir bei dieser Gelegenheit anzumerken, dass sich, worauf Hr. Dr. Gödecke die Güte hatte mich aufmerksam zu machen, in Historia literaria Islandiae etc. auctore Halfdano Einari Havniae 1786, Sect. IV. §. 10, S. 178 folgende Notiz findet: superest quoque Liber pervetustus qui Dimna inscribitur, sed a quo translatus sit, aeque mihi incertum, ac num idem sit ac ille in Oriente decantatissimus liber fabularis Kelile wa Dimne. Dazu die Anmerkung: Contenta libri ex ipso utcunque apparent titulo, qui sic habet: ‚Veterum Doctorum liber Sapientiae, sive pulchra exempla et gnomae, selectis parabolis illustratae, in quibus variarum nationum mores et artes et ingenia sistuntur’. Continet liber iste Colloquinum (sic! ) inter Principem quendam et Indum et ejus Magistrum, de Sapientia, et praecautelis contra varias mundi strophas, tum in pace, tum bello, aliisque negotiis. Conf. Joh. Finnaei Dissert. Historico-Literariam de Speculo Regali §. 4 ubi agit de versione Libri Humajum Nameh Nota 9. Wer diese Uebersetzung einzusehen Gelegenheit hat, würde durch eine genauere Mittheilung über dieselbe sich den Dank aller derer erwerben, die sich für dieses einst so weit verbreitete und so hochgeschätzte Werk interessiren.“ 12 Friedmar Geissler: Die isländischen Handschriften des „Buches der Beispiele der alten Weisen“. In: Fabula 5 (1962), S. 15-47. Hubert Seelow 74 keine Kenntnis davon, daß sich schon in Einar Ólafur Sveinssons Verzeichnis isländischer Märchenvarianten von 1929 eine zwar kurze, aber sehr informative Passage über die isländischen Fassungen des Kalila-und-Dimna-Stoffes findet, in der nicht nur die meisten Handschriften benannt werden, sondern auch die Vermutung geäußert wird, daß die Übersetzung ins Isländische nach einer deutschen Vorlage erfolgt sei: Von Kalila und Dimna gibt es eine Übersetzung aus dem 17. Jahrh. Sie ist in drei Handschriften erhalten, nämlich Lbs. 549, 4to, J. Sig. 86, 4to, AM 94, 8vo (hier fehlt der Anfang), (ausserdem ein kleiner Abschnitt: König Cedras Fragen, in Lbs. 261, 8vo, J. Sig. 392, 8vo (rímur Lbs. 517, 8vo)). Die Übersetzung scheint von einem deutschen Original zu stammen, das der Strassburgerausgabe von 1545 (folio) (s. Holland: Das Buch der Beispiele der alten Weisen, S. 213) sehr ähnlich gewesen sein muss. 13 Diese Vermutung wird durch die Untersuchungen Geisslers bestätigt und insofern präzisiert, als er feststellen kann, daß die Prosafassung der isländischen Übersetzung, wie sie in den vier Manuskripten AM 94 8vo, JS 86 4to, Lbs 549 4to 14 und ÍB 259 4to überliefert ist, tatsächlich nach einer gedruckten deutschen Vorlage angefertigt wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach war diese deutsche Vorlage ein Exemplar des 1578 bei Bassee in Frankfurt am Main erschienenen Druckes. 15 Dies läßt sich nicht nur daraus schließen, daß die Übereinstimmungen - sowohl was Umfang und Anordnung des Textes, als auch was einzelne Lesarten betrifft - zu diesem Druck am größten sind, sondern auch aus dem Umstand, daß eine Reihe von Lakunen im isländischen Text auf Beschädigungen in der gedruckten deutschen Vorlage zurückgehen müssen, und daß einige dieser Textstellen im Basseeschen Druck von 1578 an derselben Stelle des Blattes auf der Rectobzw. Versoseite stehen, so daß sich jeweils zwei Lakunen in der isländischen Übersetzung durch ein- und dieselbe Beschädigung der gedruckten Vorlage erklären lassen. 16 Das Erscheinungsdatum der Vorlage - 1578 - liefert naturgemäß das Datum post quem für die Entstehung der Übersetzung. Die älteste erhaltene Handschrift der Prosafassung, AM 94 8vo, stammt aus dem 17. Jahrhundert. Sie geht vermutlich auf dieselbe nicht erhaltene Vorlage zurück, von der zwei andere Handschriften der Prosafassung abstammen (JS 86 4to und Lbs 549 4to). Diese nicht erhaltene gemeinsame Vorlage soll 1656 geschrieben worden sein. Das heißt, die isländische Prosafassung kann nicht später als um die Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden sein. 17 13 Einar Ól. Sveinsson: Verzeichnis isländischer Märchenvarianten. Mit einer einleitenden Untersuchung, Helsinki 1929 (= FF Communications 83), S. lxix-lxx. 14 Der Text in der Handschrift Lbs 549 4to wurde ediert von Susanne M. Fahn: Spekinnar bók nach der Handschrift Lbs 549 4to in der isländischen Nationalbibliothek. Magisterarbeit Universität Erlangen-Nürnberg 2004. 15 Geissler: Anton von Pforr, Bd. II, S. 98-101 („Druck p“). 16 Geissler: Die isländischen Handschriften, S. 22-27. 17 Siehe die Beschreibung der Manuskripte in den einschlägigen Handschriftenkatalogen sowie bei Hubert Seelow: Die isländischen Übersetzungen der deutschen Volksbücher. Hand- „Spekinnar bók“ als Überlieferungsbeispiel 75 Eine weitere Handschrift mit einer isländischen Prosafassung des Gesamttextes ist das bereits genannte Manuskript ÍB 259 4to aus dem Jahr 1742. Auch dieser Text geht auf die spätestens 1656 angefertigte Übersetzung nach dem Frankfurter Druck von 1578 zurück. Allerdings wurde er, wie der Schreiber, der Pfarrer Þorsteinn Pétursson (1710-1785) 18 in seinem Nachwort darlegt, stilistisch überarbeitet und ergänzt. Über dieses Nachwort des Abschreibers bzw. Bearbeiters wird noch zu sprechen sein. Die Vorlage, aus der sr. Þorsteinn Pétursson den Text übernahm, muß in sehr schlechtem Zustand gewesen sein, und ein Blatt fehlte ganz, wie er in einer Notiz vor dem Beginn des ersten Kapitels bemerkt: I þetta Rotna og Ranga exscriptum sem eg nu under hóndum hefe, vyrdest mier vanta Eitt blad, ä hvoriu vera ætte upp haf bökarinnar, og fyrer sógn þ eß fyrsta Capitula, og so upp biriun Berosiæ til Efnesinns hvad Eg kann nu Ecke ad fa, Enn þad mä setiast jnn ä og hiä Effter filgiande blad sydu, ef þad kinne ad berast i bætur seirna meir, sem eg villde med þeßum ordum hafa Lesaranum til athuga semis under vÿsad. In dieser verrotteten und fehlerhaften Abschrift, die ich jetzt in Händen habe, scheint mir ein Blatt zu fehlen, auf welchem der Anfang des Buches stehen müßte, und die Überschrift des ersten Kapitels, und dann der Beginn der Geschichte von Berosia, den ich nun nicht bekommen kann, doch kann man ihn einfügen und auf die nachfolgende Seite schreiben, wenn er später einmal auftauchen sollte, worauf ich den Leser mit diesen Worten hingewiesen haben möchte. Offensichtlich gelang es dem Schreiber jedoch nicht, ein anderes Manuskript ausfindig zu machen, denn vor dem später ergänzten Anfang des ersten Kapitels bemerkt er: Med þ[v]i eg fæ ej uppspurt upphaf þezarar Bökar, þa vil eg lata þetta vera jnngäng hennar … Da ich den Anfang dieses Buches nicht ausfindig machen kann, möchte ich es folgendermaßen beginnen lassen … Eine Gruppe von drei Handschriften aus dem 19. Jahrhundert 19 enthält jeweils ein Dutzend Fragen und Antworten, die zum überwiegenden Teil aus dem zehnten Kapitel des Buches der Beispiele der alten Weisen stammen und dem König Cedras und seinem Ratgeber Billero in den Mund gelegt sind. Alle drei Handschriften enthalten dieselben Fragen und Antworten. Zehn der Fragen gehen unmittelbar auf das Buch der Beispiele zurück, zwei Nummern haben dort keine direkten Vorbilder. Ein Textvergleich zeigt, daß die Fragen und Antworten in den drei Handschriften auf eine gemeinsame, nicht erhaltene Quelle zurückgehen müssen. Diese Quelle war von der isländischen Version des Gesamttextes, die nach dem Frankfurter Druck schriftenstudien zur Rezeption und Überlieferung ausländischer unterhaltender Literatur in Island in der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung, Reykjavík 1989 (= Rit 35), S. 222 ff. 18 Siehe Páll Eggert Ólason: Íslenzkar æviskrár frá landnámstímum til ársloka 1940, Bd. V, Reykjavík 1952, S. 226. 19 Es handelt sich um die Manuskripte Lbs 261 8vo, Lbs 1744 8vo und Lbs 579 b 8vo. Hubert Seelow 76 von 1578 angefertigt wurde, abhängig. Das heißt, die Fragen und Antworten wurden nicht neu übersetzt, sondern der bereits existierenden isländischen Version des Buches der Beispiele der alten Weisen entnommen. Wann diese Übernahme erfolgte, läßt sich nicht genau feststellen. Die älteste erhaltene Handschrift der Fragen und Antworten stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert. Es ist durchaus denkbar und sogar eher wahrscheinlich, daß die Sammlung schon im 18. Jahrhundert entstanden ist. @ Ganz sicher schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind dagegen die Cedras rímur entstanden, die ebenfalls auf dem zehnten Kapitel des Buches der Beispiele basieren. Von den fünf Rímur des Zyklus stammen die ersten drei von Jón Eggertsson (um 1643-1689), 20 die Ríma 4 und die Ríma 5 dagegen von dessen Freund sr. Eiríkur Hallsson (1614-1698). 21 Am Ende der dritten Ríma fordert Jón Eggertsson seinen Freund sr. Eiríkur auf, den Zyklus weiterzuführen, und erwähnt dabei, daß er eine Vorlage in deutscher Sprache verwende: Ljóðagjörð mér leiðist senn, líka gjörist þýzkan myrk, finna verð því fróða menn og fala af þeim nokkurn styrk. 22 Allmählich habe ich genug vom Dichten, auch wird das Deutsche unverständlich, deshalb muß ich kundige Leute finden, um von ihnen Unterstützung zu erbitten. Schon am Anfang der ersten Ríma hat sich der Dichter Jón Eggertsson folgendermaßen über seine Vorlage geäußert: Eitt mióg lytted æfenntir eg hefe nú firer hende … Vppa heimsins hatta lag hefur þad prentad vered … 23 Ein ganz kleines ævintýr (= Historienbüchlein? ) habe ich mir jetzt vorgenommen … 20 Siehe Páll Eggert Ólason: Íslenzkar æviskrár, Bd. III, Reykjavík 1950, S. 85-87. 21 Siehe Páll Eggert Ólason: Íslenzkar æviskrár, Bd. I, Reykjavík 1948, S. 408-409. 22 Einige Strophen aus den Cedras rímur sind in der Einleitung zur Ausgabe der Hrólfs rímur kraka (die ebenfalls teilweise von sr. Eiríkur Hallsson stammen) abgedruckt: Finnur Sigmundsson (Hg.): Hrólfs rímur kraka eftir Eirík Hallsson og Þorvald Magnússon, Reykjavík 1950 (= Rit Rímnafélagsins IV), S. xxii-xxiv. 23 Wortlaut nach der Handschrift ÍB 390 8vo. „Spekinnar bók“ als Überlieferungsbeispiel 77 Wie in der (großen) Welt üblich war es gedruckt worden … Die Cedras rímur von Jón Eggertsson und sr. Eiríkur Hallsson sind in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden; aus dieser Zeit stammt auch die älteste erhaltene Handschrift, das Manuskript Sth papp 4to nr 28. Außerdem existieren noch fünf weitere Handschriften des Rímur-Zyklus, die im 18. und 19. Jahrhundert entstanden. 24 Schließlich gibt es noch eine weitere Version desselben Stoffes in Island, nämlich eine Prosaumschreibung der Cedras rímur. Sie ist nur in einer Handschrift, Lbs 1657 8vo, aus den Jahren 1822-23 überliefert. Der Titel der Cedras-Geschichte lautet Sagann af Sedras kóngi, und der Kolophon gibt Auskunft darüber woher der Text stammt: Snúinn úr Rímum med samann burdi vid Söguna í dönsku hvör þ ó var Fiórfaldt ordfleiri. Übertragen aus den Rímur, unter Heranziehung der Geschichte auf dänisch, die jedoch viermal so lang war. D So weit die dürren Fakten. Zwischen der Fülle von Details - wie Jahreszahlen, Schreibernamen und Handschriftensiglen - geht leicht der Überblick verloren. Deshalb scheint es sinnvoll, die Geschichte der Überlieferung von Spekinnar bók und Teilen des Stoffes in Island noch einmal im Zusammenhang zu rekapitulieren: Das Buch der Beispiele der alten Weisen gelangt in Form eines Exemplars des Basseeschen Druckes, Frankfurt am Main 1578, nach Island und wird dort spätestens im Jahre 1656, vermutlich schon etwas früher, aus dem Deutschen ins Isländische übersetzt. Diese Übersetzung ist sehr genau, fast wörtlich. Noch im 17. Jahrhundert entstehen vermutlich mindestens drei verschiedene Handschriften dieser Version; eine davon ist in der Arnamagnäanischen Sammlung erhalten (AM 94 8vo). Ebenfalls im 17. Jahrhundert, wohl in den sechziger, siebziger oder achtziger Jahren, verfassen zwei namentlich bekannte Rímur-Dichter (Jón Eggertsson und sr. Eiríkur Hallsson) einen Rímur-Zyklus über das zehnte Kapitel des Buches der Beispiele der alten Weisen. Auch hier ist die Vorlage eine gedruckte deutsche Ausgabe. Ob dieser deutsche Text mit dem Exemplar identisch war, das vor 1656 als Vorlage für die Prosaübersetzung des Gesamttextes diente, läßt sich nicht feststellen; auszuschließen ist es aber nicht. Die älteste erhaltene Handschrift dieses Rímur-Zyklus, der unter dem Titel Cedras-Rímur bekannt ist, entstand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Weitere bewahrte Handschriften stammen aus dem 18. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 24 ÍB 390 8vo (1726 und später), Lbs 989 4to (1791-94), Lbs 517 8vo (1813), Lbs 2527 8vo (1826-42) und Lbs 853 8vo (1832-43). Siehe Finnur Sigmundsson: Rímnatal I, Reykjavík 1966, S. 99, und Seelow: Die isländischen Übersetzungen, S. 227-228. Hubert Seelow 78 Wohl schon im 18. Jahrhundert werden Teile des Gesprächs zwischen König Cedras und Billero im zehnten Kapitel des Buches der Beispiele aus der isländischen Version des Gesamttextes herausgelöst und (zusammen mit zwei Fragen und Antworten anderer Herkunft) separat handschriftlich tradiert. Die drei erhaltenen Handschriften dieses Textes stammen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus dem frühen 19. Jahrhundert stammt eine Handschrift, die eine Prosaumschreibung der Cedras-Rímur enthält. Bei der Anfertigung dieser Prosaversion wurde ein - vermutlich gedruckter - dänischer Text mitverwendet. Dieses Überlieferungsbild der isländischen Manifestationen des Buches der Beispiele der alten Weisen kann in vieler Hinsicht als typisch gelten für die Rezeption und Tradierung ausländischer Erzählstoffe im Island der nachreformatorischen Zeit. Zum ersten paßt es recht gut in das Bild, welches wird von diesem Rezeptionsprozeß haben, daß die Quelle, die aus dem Ausland nach Island gelangte, ein deutscher Druck war. Aufs ganze gesehen wurden zwischen Reformation und Aufklärung zwar weitaus mehr unterhaltende Texte aus dem Dänischen als aus dem Deutschen ins Isländische übersetzt, doch unter den bereits im 17. Jahrhundert rezipierten Stoffen gibt es eine ältere Schicht, die direkt auf deutsche Drucke zurückgeht. 25 Die wahrscheinlichste Erklärung für dieses Phänomen ist, daß in dieser frühen Zeit die dänischen Druckereien noch nicht so leistungsfähig waren, daß ihre Erzeugnisse eine ernsthafte Konkurrenz sein konnten für die deutschen Bücher, die den Buchmarkt im Norden überschwemmten. Die dänischen Drucke entstanden ja sozusagen erst als Antwort auf die Geschäftstüchtigkeit der deutschen Buchhändler. 26 Im Falle des Buches der Beispiele der alten Weisen war das deutsche Exemplar, das nach Island gelangte, 1578 gedruckt worden. Die Übersetzung des Gesamttextes muß aber spätestens 1656 entstanden sein - es bleibt also ein Zeitraum von fast achtzig Jahren, in dem der deutsche Druck von Frankfurt am Main nach Island gelangt sein mußte. Die dänische Übersetzung des Textes, De Gamle Vijses Exempler, erschien 1618, also etwa in der Mitte dieses Zeitfensters. Es ist durchaus denkbar, daß die isländische Übersetzung nach der deutschen Vorlage vor dem Jahr 1618, d.h. vor Erscheinen der dänischen Ausgabe entstand. Genauso gut kann sie aber auch nach 1618 angefertigt worden sein, d.h. zu einer Zeit, als der dänische Druck bereits vorlag. Buchhandel und Buchvertrieb waren zu dieser Zeit im ganzen Norden noch sehr unterentwickelt, und für einen irgendwie systematischen oder professionellen Import von Büchern weltlichen Inhalts nach Island in der damaligen Zeit gibt es keine Anzeichen. Zum zweiten kann als typisch gelten, daß die Übersetzung des Gesamttextes des Buches der Beispiele der alten Weisen sorgfältig und sozusagen wortgetreu angefertigt wurde. Die isländische Spekinnar bók ist ein genaueres Abbild der deutschen Vorlage als etwa die dänische Version Christen Nielssens. 25 Siehe Seelow: Die isländischen Übersetzungen, S. 271-276. 26 Vgl. etwa Richard Paulli: Bidrag til de danske Folkebøgers Historie. Danske Folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede XIII, København 1936, S. 169-291. „Spekinnar bók“ als Überlieferungsbeispiel 79 Eine Erklärung hierfür mag in der literarischen Tradition Islands zu suchen sein, wo seit dem Mittelalter immer wieder auch erzählende weltliche Prosatexte abgeschrieben wurden. Ein anderer Faktor dürfte gewesen sein, daß das Deutsche durch die Einführung der Reformation auch in Island Auftrieb erhielt und Deutschkenntnisse verhältnismäßig weit verbreitet waren. Die Rezeption und Übersetzung deutschsprachiger Reformationsschriften dürfte nicht nur den Weg geebnet haben für die Rezeption deutschsprachiger unterhaltender Literatur, sondern hatte möglicherweise auch Einfluß auf den eigentlichen Übersetzungsprozeß. Die Texttreue und philologische Sorgfalt, zu der man sich gegenüber den Werken Martin Luthers und seiner Mitstreiter verpflichtet fühlte, hat sich vielleicht auch bei der Übersetzung deutscher Historienbücher ausgewirkt. Zum dritten ist für das Überlieferungsbild von Spekinnar bók typisch, daß schon verhältnismäßig früh Rímur nach dem Stoff verfaßt wurden. Ein Nebeneinander von Prosaversionen und Rímur-Fassungen ist ganz charakteristisch für die Geschichte der Rezeption und Tradierung ausländischer Erzählstoffe in Island nach der Reformation. 27 Das älteste Beispiel dafür, daß ein Rímur-Zyklus nach einem Stoff verfaßt wurde, der als deutsch gedrucktes Historienbuch nach Island gelangt war, sind die Pontus rímur des Magnús Jónsson prúði, die bereits 1564-1566 entstanden. 28 Zum vierten ist auch typisch, daß durch die Rímur das Interesse an einer Prosaversion des Stoffes, den sie behandeln, geweckt wird. Im vorliegenden Fall werden - unabhängig voneinander - zwei Wege beschritten, um diesem Interesse Rechnung zu tragen: Man entnimmt dem Gesamttext der Prosafassung den Teil, den die Rímur behandeln, oder, genauer gesagt, eine ganz besonders charakteristische Passage, nämlich die Fragen und Antworten von König Cedras und Billero, und überliefert diese dann separat; das ist der eine Weg - manifestiert in den Handschriften Lbs 261 8vo, Lbs 1744 8vo und Lbs 579 b 8vo. Der andere Weg besteht darin, daß man nach dem Rímur-Text wieder eine Prosa-Umschreibung anfertigt, wobei der Verfasser dieser sekundären Prosaversion offensichtlich keine Kenntnis vom Gesamttext der isländischen Prosaversion hatte, sondern zur Ergänzung und Korrektur auf einen dänischen Text zurückgriff - manifestiert im Manuskript Lbs 1657 8vo. Das Überlieferungsbild von Spekinnar bók hat jedoch auch Züge, die nicht typisch sind, sondern eher außergewöhnlich erscheinen. An erster Stelle zu nennen wäre hier die Tatsache, daß nicht nur die Übersetzung des Gesamttextes, sondern auch der Rímur-Zyklus über das zehnte Kapitel nach einer deutschen gedrucken Vorlage angefertigt wurde. Dies muß umso ungewöhnlicher erscheinen, als die Rímur erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ver- 27 Siehe Seelow: Die isländischen Übersetzungen, S. 276-278. 28 Grímur M. Helgason (Hg.): Pontus rímur eftir Magnús Jónsson prúða, Pétur Einarsson og síra Ólaf Halldórsson, Reykjavík 1961 (= Rit Rímnafélagsins X). - Siehe auch Seelow: Die isländischen Übersetzungen, S. 250-252. Hubert Seelow 80 faßt wurden, also etwa ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des ersten dänischen Drucks, und mindestens ein Jahrzehnt nach Entstehung der ältesten verbürgten Handschrift der isländischen Prosafassung des Stoffes. 29 Als untypisch muß auch gelten, daß die Überlieferung des Gesamttextes der isländischen Version in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abbricht. Von den meisten übersetzten unterhaltenden Stoffen wurden um und nach 1800 und teilweise bis ins frühe 20. Jahrhundert immer wieder neue Handschriften angefertigt - nicht so bei Spekinnar bók. Dies könnte damit zusammenhängen, daß man Fabeln zunehmend als Literatur für Kinder und Jugendliche auffaßte und einem Werk wie Spekinnar bók deshalb eher skeptisch gegenüberstand. Wenn man jedoch sieht, welche unglaublichen Texte die großen Saga-Sammlungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts enthalten, so kann man sich kaum vorstellen, daß sich ein sammelwütiger isländischer Schreiber dieser Zeit durch Zweifel an der literarischen Qualität oder Aktualität eines Textes hätte davon abhalten lassen, diesen in seine Sammlung aufzunehmen. Plausibler scheint da die Erklärung, daß Spekinnar bók in späterer Zeit deshalb nicht weiter abgeschrieben wurde, weil der Text zu wenig Verbreitung gefunden hatte und für die Abschreiber des 19. und 20. Jahrhunderts nicht greifbar war. Von den insgesamt vier erhaltenen Manuskripten des isländischen Gesamttextes war eines schon im frühen 18. Jahrhundert nach Kopenhagen verbracht worden und stand damit der einheimischen Überlieferungstradition nicht mehr zur Verfügung. Die drei im 18. Jahrhundert in Island entstandenen Handschriften reichten ganz offensichtlich nicht aus, um die handschriftliche Überlieferung lebendig zu erhalten. 30 Ganz ungewöhnlich - und vielleicht fast so etwas wie ein Unikum in der isländischen Überlieferung - ist schließlich die Handschrift ÍB 259 4to aus dem Jahre 1742, in der neben dem Text von Spekinnar bók auch ein Nachwort des Pfarrers Þorsteinn Pétursson zu dieser seiner Abschrift überliefert ist. Daß ein Abschreiber vom Text seiner Vorlage abweicht und den Text nach eigenem Gutdünken abändert, ist nicht Ungewöhnliches, doch daß er seine Gedanken zu dem kopierten Text und die Gründe für seine Abänderungen darlegt, wie dies sr. Þorsteinn Pétursson tut, ist eine seltene Ausnahme - sozusagen ein Glücksfall für die Forschung. Diese Nachrede beginnt folgendermaßen: An den Leser. 29 Daß Rímur fast ausschließlich nach schriftlich vorliegenden Prosavorlagen verfertigt wurden, ist hinlänglich bekannt. Ob und wann diese Prosavorlagen auch fremdsprachliche Texte sein konnten, ist eine heikle Frage, die z.B. im Fall der schon erwähnten Pontus rímur des Magnús prúði heftig und - soweit ich sehe - bisher ergebnislos diskutiert wurde. 30 Es scheint so, als ob die Spekinnar bók nur im norwestlichen Teil Islands bekannt gewesen sei; auch die beiden Verfasser der Rímur lebten dort. Möglicherweise hat sich diese geographische Beschränkung hemmend auf die Verbreitung ausgewirkt. „Spekinnar bók“ als Überlieferungsbeispiel 81 Wundere Dich nicht, freundlicher Leser, wenn dieses Buch, das meiner Ansicht nach zu Recht die Indische Edda genannt werden kann, etwas anders eingerichtet ist als andere Bücher dieser Art, die Du bisher gelesen hast. Das kommt primo daher, daß das Exemplar, nach welchem ich meine Abschrift angefertigt habe, sowohl defekt war, als auch weithin einen schlechten Text enthielt, ich aber nirgends ein anderes bekommen konnte, weil dieses Buch selten ist und nicht in jedem Hause anzutreffen. Secundo war es nachlässig übersetzt, nach dem Vorbild fremder Sprachen, mit dem Verb immer am Ende, was nicht gut zu unserem Isländisch paßt, und in vieler Hinsicht schien mir der Stil sehr ungelenk. Ich habe mich bemüht, all dies zu verbessern, die Wörter in ihre natürliche Reihenfolge zu bringen und den Stil geschmeidiger zu machen, wie es die nordische Sprache erfordert. Sooft es mir jetzt mitten im Winter mein Amt erlaubte, habe ich mich an diese Schreibarbeit gemacht. Darüberhinaus habe ich jene Überschriften, die innerhalb der Kapitel standen, herausgenommen und an anderer Stelle wieder eingesetzt, so, wie es mir besser zum Inhalt zu passen schien, und damit aus manchem einen fortlaufenden Text gemacht, manch anderes aber, das vorher nicht unterteilt war, aufgeteilt. Die Sentenzen habe ich zusammengefaßt und in die Form gereimter Strophen gebracht, damit sie demjenigen leichter im Gedächtnis haften bleiben, der lernbegierig ist und sie auswendig lernen möchte, weil er vielleicht der Ansicht ist, daß solche Verse Lehrsätze sind, aus denen man Weltweisheit und Lebensklugheit lernen kann, so wie aus Hávamál, Hugsvinnsmál, Heilræði und anderen alten Überlieferungen der Menschen aus früheren Zeiten, selbst wenn sie aus dem Heidentum stammen. 31 Dann fährt sr. Þorsteinn Pétursson sinngemäß folgendermaßen fort: Schon in alter Zeit habe man in Asien Wissen und Weisheit in Versen und in Fabeln oder Gleichnissen vermittelt. Als ältestes bekanntes Gleichnis nennt er das 9. Buch der Richter aus der Bibel (Jotha und die Bürger von Sichem). Diese Methode der moralischen Unterweisung sei dann bei den Juden so verbreitet geworden, daß auch Jesus sie immer wieder verwendet habe. Auch andere Völker in Asien hätten sich ihrer bedient: Aesopus in Phrygien, dessen Fabeln in aller Welt bekannt geworden und in die Werke anderer antiker Autoren eingegangen seien; und Philipp Melanchthon, der Helfer Luthers, der sie allen Lehrenden empfehle und ihre Vorzüge und wohltuende Wirkung preise. Diese Aussagen Melanchthons finde man im Vorwort zu der lateinischen Ausgabe der Aesopschen Fabeln von Joachim Camerarius, Kopenhagen 1694. Daraus könne man ersehen, daß die gottesfürchtigen und hochgelehrten Reformatoren diese Lehrmethode nicht für ungeeignet hielten. Tatsächlich gebe es eine Unzahl von Spruchsammlungen dieser Art, und manche Verfasser hätten ihre moralische Unterweisung in Dialogform gekleidet, was nach dem Urheber dieses Verfahrens Methodus Socratica genannt werde. Viele seien diesem Weg gefolgt, bis hin zum modernen Katechismus für Kirche und Heim. Die Griechen hätten darüber hinaus eine Art des Schreibens gepflegt, die man heute „Romane“ nenne, wie man an Achilles Tatius und Heliodor sehen könne. Die Metamorphosen des Apuleius seien der bekannteste Roman aus der römischen An- 31 Der Text des ganzen Nachworts im isländischen Original ist abgedruckt bei Seelow: Die isländischen Übersetzungen, S. 283-286. Hubert Seelow 82 tike, und [John] Barclays Argenis aus jüngster Zeit. Die Franzosen und Engländer verfaßten viel dieser Art. Erdichtete Reisebeschreibungen über fremde Länder, Briefe und „Spectateurs“ würden aus demselben Grund verfaßt. Desgleichen: Satiren, Komödien und Epigramme, wie im Falle von Holberg. Im Isländischen gebe es keine solchen Bücher, außer diesem einen, das für gewöhnlich Dimna genannt werde. Es stamme von den alten Weisen Indiens und sei sicher sehr nützlich für die Isländer, denn auch wenn es etwas Vergleichbares in der Edda oder anderen alten nordischen Werken gebe, so sei doch kaum jemand in der Lage, diese alten Nüsse zu knacken, um sich am Kern gütlich zu tun. Und sr. Þorsteinn Pétursson beschließt sein Nachwort mit den besten Wünschen für die zukünftigen Leser seines Textes - und in der Hoffnung, daß diese sich als gelehrig erweisen möchten: Lestu, Vinur, lærdu med, líka giættu Skilníngsins, Óskum bestu eg þig qved, í Eptirtektum Lærdómsins. Lies, mein Freund, und lern dabei, achte auch auf das Verständnis, ich verabschiede mich von dir mit den besten Wünschen für das Aufmerken beim Lernen. : Benfey, Theodor: Die alte spanische Uebersetzung des Kalîlah und Dimnah. In: Orient und Occident insbesondere in ihren gegenseitigen Beziehungen. I, Göttingen 1862, S. 497-507. Bødker, Lauritz (Hg.): Christen Nielssen. De Gamle Vijses Exempler oc Hoffsprock (1618). 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Nichtsdestotrotz ist gerade dieses Gebiet literaturhistorisch wichtig, insbesondere aus einer transmissionshistorischen Perspektive. Der vorliegende Artikel befasst sich mit der ersten Gruppe von Gebetbüchern, die Krister Gierow untersucht, den dänischen Übersetzungen von Martin Luthers Betbüchlein (1522). 5& Die erste Transmission, von der in diesem Artikel die Rede sein soll, ist hermeneutischer Natur. Luthers Betbüchlein ist eine religiöse Schrift, wird im Folgenden jedoch nicht mit den Prinzipien einer theologischen Hermeneutik gelesen. Das Ziel einer solchen Hermeneutik könnte folgendermaßen formuliert werden: „It aims at understanding this universe as God´s universe“ (Jeanrond, S. 8). Diese Perspektive kann der Literaturwissenschaftler nicht zum Maßstab nehmen. Von einem theologischen Standpunkt aus kann behauptet werden, dass die literaturhistorische Lektüre einer religiösen Schrift von vornherein eine Fehllektüre darstellt. Man kann es jedoch auch so formulieren, dass es sich prinzipiell um eine andere Lektüre handelt. Eine übergeordnete makro-hermeneutische Zielsetzung für eine literarische Hermeneutik könnte darum so beschrieben werden: „Ihr Ziel ist es, die kulturelle Bedeutung der ästhetischen Sprache zu verstehen.“ Auf einer mikro-hermeneutischen Ebene bedeutet die literarische Lektüre eines religiösen Textes eine formbewusste Lektüre. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auf die formgebenden Elemente mit Hilfe von Methoden aus der Literaturanalyse. Dahinter steht die Auffassung, dass der Inhalt eines Textes immer ein vermittelter und eine rein thematische Lektüre folglich verfehlt ist. Die mikro-hermeneutischen Probleme sind zahlreich und komplex. Hier wurde die Vorgehensweise gewählt, dass das Betbüchlein zuerst aufgrund der inhärenten Prämissen des Textes selbst verstanden werden soll, bevor es in einem zweiten Pil Dahlerup 86 Schritt unter einer ideologischen und ästhetischen Perspektive untersucht wird. Meine Analyse wird jedoch von einem übergeordneten Ziel gelenkt. Die Absicht ist nicht primär, theologisch nuancierte Ebenen im Betbüchlein aufzuspüren, vielmehr sollen in einem ersten Schritt die religiösen Hauptprinzipien erläutert werden, um von dort aus in einem zweiten Schritt zu den ideologischen und ästhetischen Perspektiven überzuleiten. Die erste Vorgehensweise fordert einen kundigen Leser, und das hermeneutische Problem liegt darin, dass ein Literaturhistoriker theologisch niemals genug wissen kann. Eine Lösung für dieses Problem wäre die Form einer akademischer Diskussion, bei der die „kundigeren Leser“ die Lücken schließen könnten. Die ideologische Perspektive ist schon in sich problematisch. Warum soll man den Text nicht in Frieden lassen? Die Antwort darauf wäre, dass ein Leser der Gegenwart das Recht hat, sowohl kritisch zu sein als auch dem Bewusstsein seiner eigenen Zeit eine Stimme zu verleihen. Damit verbunden ist eine Aktualisierung des Textes, die Möglichkeit, ihn in eine gegenwärtige intellektuelle Debatte einzubeziehen. Außerdem kann ein moderner Kommentar zu den ideologischen Hauptaspekten des Textes auch zeitgenössische, bisher übersehene Perspektiven sichtbar werden lassen. Eine ideologische Lektüre erfordert zuallererst Schliff und Sinn für die Proportionen. Das Ziel einer solchen Lektüre ist nicht zu zeigen, dass Luther anders dachte als wir und ihm das vorzuwerfen. Die Absicht besteht vielmehr darin, in einer zivilisierten Art und Weise ideologische Energiefelder aufzudecken. Auch diesbezüglich kann eine akademische Diskussion eventuelle Fehlschlüsse korrigieren. 4 : ? )33A # & Eine neutrale Beschreibung von Luthers Betbüchlein kann ohne spezielle Voraussetzungen gegeben werden. Es wurde 1522 publiziert und besteht aus einem Vorwort, in dem Luther für eine „starke und gute Reformation“ der katholischen Gebetstradition argumentiert. Anschließend gibt er eine Auslegung der Zehn Gebote, des Glaubensbekenntnisses sowie des Vaterunser. Darauf folgt ein Kommentar zum Ave Maria und zu den Passionsgebeten sowie eine Übersetzung zweier Davidspsalmen. Jede Form von eigentlicher Analyse und historischer Perspektivierung dieses Textes beinhaltet jedoch eine Reihe hermeneutischer Konsequenzen. : & Luther unternahm verschiedene Anläufe, bevor er 1522 das Betbüchlein herausgab. Zuvor hatte er 1520 Eine kurtz Form publiziert, das seine Auslegung der Zehn Gebote, des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunser enthält. Schon vor dieser Schrift hatte er in verschiedenen Predigten 1516 und 1517 die Zehn Gebote und das Vaterunser behandelt. Das Betbüchlein kam in unzähligen Auflagen heraus, wobei es Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 87 jedes Mal erweitert und revidiert wurde. Es wurde in eine Reihe von Volkssprachen übersetzt und 1529 ins Lateinische. , Luther nannte sein Buch Betbüchlein und polemisiert in seinem Vorwort gegen die katholische Gebetstradition. Er hat es selbst so formuliert, dass der Text primär als Gebetbuch oder als Buch über das Gebet aufzufassen sei. Dabei ist es eigentlich weder das eine noch das andere - es ist keine Sammlung von Gebeten, und es handelt auch nicht primär vom Gebet, obwohl Krister Gierow es „en bønnebog uden bønner“ (ein Gebetbuch ohne Gebete) (Gierow, S. 10) nennt und die dänischen Übersetzungen des Betbüchleins im ersten Abschnitt seines eigenen Buches über die evangelische Gebetsliteratur in Dänemark behandelt. Die Herausgeber der Weimarer Ausgabe des Betbüchleins verbinden es ebenfalls mit dem Gebet, indem sie es mit den beiden Repräsentanten für die katholische Gebetstradition vergleichen, gegen die Luther im Vorwort vornehmlich polemisiert, nämlich Hortulus animae und die Birgitta-Gebete. Die Herausgeber betonen dabei die zahlreichen Aufzählungen der Sünden und Tugenden in der katholischen Tradition, wie die Sieben Gaben des Heiligen Geistes, die drei göttlichen und die vier evangelischen Tugenden, die acht Seligpreisungen usw. und erwähnen die vielen verschiedenen Mariengebete, Heiligengebete und Ablassversprechungen, die besonders zahlreich in den Birgittagebeten auftreten. Dies stellt zwar eine vernünftige Vergleichsgrundlage dar, doch genügt diese nicht. Luthers Buch ist eine Abrechnung mit der katholischen Gebetstradition, und um hier eine „Reformation“ durchzuführen, macht er den Umweg über die Zehn Gebote, das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis. Man kann dies so verstehen, dass er zunächst die Grundlagen der christlichen Lehre verdeutlichen will, bevor er erklären kann, wie man sich dem Gebet gegenüber verhalten soll. Deshalb platziert er sich in einer anderen Tradition, nämlich in der christlichen Katechismustradition. Die Herausgeber der Weimarer Ausgabe erwähnen, dass man im Betbüchlein „eine Art Katechismus“ (WA 10.2, S. 336) sehen kann, aber sie vergleichen es nicht mit der Katechismustradition vor Luther. Diese wiederum wird im einleitenden Abschnitt von Josef Jungmanns Katechetik (1953) kurz beschrieben. Unter dem Begriff „Katechismus“ (das Wort wurde damals noch nicht gebraucht) kann eine kirchliche Erziehung von Erwachsenen oder Kindern hinsichtlich der grundlegenden Elemente des Christentums verstanden werden. Das Wort Erziehung signalisiert, dass es um mehr als um ein Schulfach geht; es handelt sich eher um eine Art von Lebenslehre, die auch den Teil der Moral umfassen soll, für den die Kirche die Verantwortung trägt. Im Spätmittelalter wurde die Kenntnis dieser Katechismuserziehung durch die Eltern und die Paten vermittelt, indem diese am Gottesdienst teilnahmen, und insbesondere auch im Zusammenhang mit der Beichte, wo der Beichtvater durch verschiedene Fragen kontrollieren konnte, ob der Beichtende die zentrale christliche Lehre kannte, etwa: „Glaubst du an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist? “, Pil Dahlerup 88 „Glaubst du, dass diese drei sowohl drei Personen als auch eine sind? “ Mit der Erfindung des Buchdrucks entwickelten sich diese Fragen zu kleinen Beichtbüchlein, die der Vorbereitung auf die Beichte dienen sollten. Diese Bücher, von denen einige für Laien, andere für Priester bestimmt waren, hatten gewöhnlich die Zehn Gebote und die Auslegung derselben als Hauptteil und waren ausgeprägt moralisierend. Sie trugen charakteristische Titel wie: Christenspiegel, Seelenwurzgärtlein, Der Seele Trost, Die himmlische Fundgrube oder Die Himmelsstrasse. Diese enorm verbreitete Gattung wurde von Thomas N. Tentler in seinem Buch Sin and Confession on the Eve of the Reformation (1977) gründlich untersucht. Der erste gedruckte deutsche Katechismus war Dietrich Koldes Christenspiegel, der 1470 in Köln erschien. Kolde (1435-1515) war zunächst Augustinermönch, trat jedoch später dem Franziskanerorden bei. Er wurde an der Universität zu Köln ausgebildet, hielt sich 1485-1490 in Brüssel auf und kehrte dann nach Köln zurück, wo er bis zu seinem Tod als Priester wirkte. Sein Katechismus wurde von der Theologischen Fakultät der Universität zu Köln anerkannt. Die Schrift kam vor 1500 in neunzehn und nach 1500 in einundzwanzig Ausgaben heraus (vgl. Janz, S. 7f.). Sein Katechismus wurde in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt, weshalb er als repräsentativ für den spätmittelalterlichen Katechismus angesehen werden kann. Er wendet sich an die gewöhnlichen Menschen; alle, die lesen können, werden hierin aufgefordert, laut zu lesen für die des Lesens Unkundigen, etwa die Eltern für ihre Kinder. Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: - Vorwort. Einleitung zum Glaubensbekenntnis (Kap. 1) - Glaubensbekenntnis (Kap. 2-3) - Gebet über den Glauben (Kap. 4) - Die Zehn Gebote (Kap. 5-12) - Die fünf Gebote der Kirche (Kap. 12) - Die sieben Todsünden (Kap. 13) - Die neun fremden Sünden (Kap. 14) - Offene und stumme Sünden (Kap. 15) - Die sechs Sünden gegen den Heiligen Geist (Kap. 16) - Die Sünden der Zunge (Kap. 17) - Sechs Bedingungen für Gottes Vergebung (Kap. 18) - Sieben Punkte, die sagen können, ob sich ein Mensch in der Gnade befindet oder nicht (Kap. 19) - Instruktionen die Reue betreffend (Kap. 20) - Beichte (Kap. 21) - Buße (Kap. 22) - Morgengebet (Kap. 23) - Über das Hören der Messe (Kap. 24) - Über das innerliche Beten (Kap. 25) - Vaterunser, Ave Maria und Stundengebete (Kap. 26) - Gebet für die Heiligen Sakramente (Abendmahl, Kap. 27) Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 89 - Gebete des Hl. Gregor (Kap. 28) - Mariengebet (Kap. 29) - Gebet mit Dank für den Tag (Kap. 30) - Tischgebet (Kap. 31) - Gebet, wenn der Glockenschlag erklingt (Kap. 32) - Gebet zur Schlafenszeit (Kap. 33) - Die sieben Werke der Barmherzigkeit (Kap. 34) - Die sieben Gaben des Heiligen Geistes (Kap. 35) - Die acht Seligpreisungen (Kap. 36) - Sieben tägliche Dinge zu erinnern (Kap. 37) - Neun Dinge, die zur Sünde verleiten (Kap. 38) - Wie schwangere Frauen sich selbst und das Kind beschützen sollen (Kap. 39) - Wie Eltern ihre Kinder erziehen sollen, so dass diese erlöst werden (Kap. 40) - Wie man Maria zu einem Mantel der Barmherzigkeit machen kann (Kap. 41) - St. Salvators Brudergesellschaft (Kap. 42) - Marienpsalter, Rosenkranz und Rosenkranzgesellschaft (Kap. 43) - Vom rechten Sterben (Kap. 44) - Die drei Ratschläge des Hl. Bernhard gegen den Teufel (Kap. 45) - Fünf Zeichen, an denen man einen guten Christen erkennt (Kap. 46). Ein solcher Katechismus ist eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis von Luthers Betbüchlein, weshalb es verwunderlich ist, dass Luther nicht selbst auf diese spätmittelalterlichen Katechismen hinweist. Gottfried von Ghemen gab ca. 1500 ein spätmittelalterliches Beichtbuch auf Dänisch heraus, Modus confitendi (nur der Titel ist lateinisch). Das Buch ging verloren, sein Inhalt existiert jedoch in Abschrift. Es stellt leichtverständliche Fragen zum Glaubensbekenntnis, zu den Geboten und zum Vaterunser und erläutert die gängige Liste der aufzählbaren Tugenden und Sünden. (Es handelt sich möglicherweise bei diesem Buch um eine dänische Übersetzung von Andreas de Escobars sehr verbreiteter Schrift Modus confitendi, welche im 15. Jahrhundert in 86 verschiedenen Ausgaben in dreiundzwanzig Ländern herausgegeben wurde [vgl. Tentler, S. 39ff.]). Luther beginnt mit der Formel „Gnad und frid allen meynen lieben herrn und brudern ynn Christo“. Anschließend bezeichnet er die vorhandenen Gebetbücher - „Die bettbuchlin, darynnen ßo mancherley iamer von beychten und sunde tzelen, Szo unchristliche narheyt ynn den gepettling tzu gott unnd seynen heyligen, […].“ (WA 10.2, S. 375) - als etwas vom Schädlichsten, Teuflischsten und Betrügerischsten, dem christliche Menschen ausgesetzt seien. Eine „starke, gute Reformation“ dieser Gattung sei notwendig, er habe jedoch nicht die Zeit, eine solche gründlich durchzuführen, weshalb er als Beginn nur „diße eynfeltige Christliche form und spiegel die sund tzuerkennen unnd tzu beten“ (WA 10.2, S. 375) sende. Nachher Pil Dahlerup 90 folgt ein Abschnitt, den er „Vorrede“ nennt und worin er die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser als das einzige bezeichnet, was ein gewöhnlicher des Lesens unkundiger Mensch für seine Seligkeit wissen müsse. Luther sagt über diese drei Texte, dass die Zehn Gebote angeben, was ein Mensch tun und unterlassen solle, das Glaubensbekenntnis zeige, woher der Mensch die Kraft bekommt, wenn er einsieht, dass er die Gebote von selbst nicht einhalten kann, und das Vaterunser schließlich zeige, wie ein Mensch dennoch versuchen soll, die Gebote einzuhalten. Luther benutzt eine medizinische Metapher: Die Zehn Gebote lehren den Menschen, seine Krankheit (Sünde) zu erkennen, das Glaubensbekenntnis gibt das Heilmittel an (Gnade), und das Vaterunser lehrt den Menschen, wie er durch demütiges und innerliches Gebet sich die Gnade und das Einhalten der Gebote wünschen soll. „Das sind die drey dingk yn der gantzen schrifft“ (WA 10.2, S. 377). Wie man sieht, ist das, was Luther hier präsentiert, in hohem Maße ein Katechismusprogramm. Er benutzt sogar den Ausdruck „Spiegel“, womit er indirekt auf Koldes Christenspiegel verweisen kann, ganz sicher jedoch auf die verbreitete „Spiegelgattung“, deren Absicht in der Regel war, dem Menschen entweder vorzuführen, was er sein könnte oder das, was er gerade nicht sein sollte. Bereits die Vorrede zeigt Neues, enthält jedoch auch einige traditionelle Elemente wie etwa die „Spiegelgattung“ mit ihrer Spiegelmetaphorik oder die medizinische Metaphorik, welche beide in der Beichtliteratur weit zurückverfolgt werden können (Mc Guire, S. 461). Auch von den Humanisten wurden sie oft gebraucht, z.B. von Erasmus von Rotterdam in seinem Fürstenspiegel Institutio principis christiani (1516), der 1522 von Poul Helgesen ins Dänische übersetzt wurde. 1 Die erzählende Stimme in Luthers Vorwort spricht mit absoluter Autorität. Sie bezeichnet sich mit „Ich“ und hat es nicht nötig, sich gegenüber den Adressaten, adelige Sympathisanten („liebe Herren“) und reformatorische Geistliche („Brüder in Christus“), vorzustellen. „Ich“ verweist ohne jeden Zweifel auf Luther selbst, dessen Name auf dem Titelblatt steht. Dieses „Ich“ braucht für seine Behauptungen nicht zu argumentieren. Es kann ohne weiteres mit gleichgesinnten Lesern rechnen, wenn von den „teuflisch inspirierten“ katholischen Gebetbüchern die Rede ist, die es zu vernichten oder zu reformieren gelte. Luthers absolute Autorität zeigt sich auch darin, dass er sich nicht vorstellen kann, andere könnten die Arbeit für ihn ausführen. Er hat die Zeit nicht, um die Gebetbücher wirklich zu reformieren, aber dies an andere zu delegieren, kommt nicht in Betracht. Stattdessen müssen sich die Adressaten des Betbüchleins mit einer vorläufigen Ermahnung begnügen. Der Sprechende zieht keine anderen Autoritäten herbei außer Jesus, der das Vaterunser begründete (Matth. 6.5-15), und Gott selbst, der über die Zeit des Ichs verfügt. An späterer Stelle im Betbüchlein, wenn Luther ein „Ich“ oder ein „Wir“ sich im Gebet aussprechen lässt (es gibt wirklich Gebete im Buch), fallen diese Stimmen mit derjenigen Luthers Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 91 zusammen. In Bachtins Terminologie kann Luthers Stimmführung „monologisch“ genannt werden. Diese Stimmführung kann man mit Luthers Selbstbewusstsein erklären, sie kann jedoch auch als Ausdruck für seine übergeordnete Hermeneutik verstanden werden. Diese lässt sich als radikalen Bruch mit der Verpflichtung zur Einbeziehung der „Tradition“ sehen, also das, was wir als „Forschungslage“ bezeichnen würden. Luther führte eine neue Auslegungspraxis ein, eine grundlegend andere Auffassung des Auslegenden (Interpreten) und eine andere Sichtweise bezüglich der Autorität und Legitimierung des Textverständnisses. Für ihn war Gottes Wort, so wie es vom einzelnen Leser nach wiederholter und akribischer Lektüre verstanden wird, das einzige Kriterium (Jeanrond, S. 30f.). Trotzdem war Luther der Auffassung, es brauche einen theologisch geschulten Leser zur Anleitung des gewöhnlichen Lesers. Einen solchen theologischen Leser, der nur Gott gegenüber verantwortlich ist, stellt im Betbüchlein Luther selbst dar. Man kann das mit Dietrich Koldes Autorstimme im Christenspiegel vergleichen. Er versichert sich der Tradition zur Legitimierung seines Textes: Dieser ist „zusammengesetzt aus vielen Heiligen Werken“ (Janz, S. 31), und über Kolde selbst heisst es: „Dieser Bruder ist derjenige, der das Werk zugänglich gemacht hat“. Er wünscht, die Leser mögen für ihn beten. Kolde weist überall auf andere Autoritäten hin; den Abschnitt über das Glaubensbekenntnis etwa leitet er mit folgenden Worten ein: „Because Saint Augustine once says that the creed is a foundation of all virtue and an origin of human blessedness …“ (zitiert bei Janz, S. 33). Der dänische Modus confitendi empfiehlt dem Priester, sich auf das Niveau des Büßers zu begeben mit Worten wie: „Broder, blues ikk at kendes [vedkende dig] dine synder, thi at jeg er og en syndere.“ (S. 1; Bruder, schäme dich nicht, deine Sünden einzusehen, denn auch ich bin ein Sünder.) 1 "& Luthers „Spiegel“ beginnt mit dem Negativen und verändert damit den traditionellen Aufbau mittelalterlicher Katechismen, die die Reihenfolge Glaubensbekenntnis - Vaterunser - Zehn Gebote aufweisen (der Christenspiegel hat dagegen die Reihenfolge Glaubensbekenntnis - Zehn Gebote - Vaterunser). Der Gedankengang hinter diesem Aufbau ist, dass der Glaube den Empfang der Gnade ermöglicht, welche wiederum die Einhaltung der Zehn Gebote bewirkt (Janz, S. 17). Luther verändert die Reihenfolge in Übereinstimmung mit seiner Auffassung vom Menschen. Die Zehn Gebote, die der Mensch nicht einhalten kann, lassen ihn seine grundsätzlich sündige Existenz (Jungmann, S. 20) und sein Glaubensbedürfnis erkennen. Hieraus wird ersichtlich, dass ein scheinbar so gleichgültiger Faktor wie der Aufbau mit Bedeutung aufgeladen ist und dass Luthers Transformation des mittelalterlichen Katechismus sich bereits darin zeigt, dass er im Betbüchlein die Zehn Gebote als Erstes anführt. Pil Dahlerup 92 Luthers Aufbau ist im Übrigen gekennzeichnet durch eine durchgreifende Vereinfachung. In Eine kurtz Form findet man nur noch die drei grundlegenden Texte: die Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Alles andere wurde entweder weggelassen oder in die Haupttexte hineingenommen (etwa einige Sündenaufrechnungen, die sich bei den Geboten befinden). Im Betbüchlein hat Luther die Taktik geändert. Anstatt einfach stillschweigend die gesamte Marienverehrung auszulassen, argumentiert er nun gegen diese, und ähnlich verfährt er auch mit den Passionsgebeten und einigen Psalmen. 2 , & Die Zehn Gebote stehen im Alten Testament (2. Buch Mose, Kap. 20). Luthers übergeordnete hermeneutische Vorgehensweise ist hier - wie auch in seinen anderen Bibelauslegungen - die Einnahme einer christologischen Perspektive. Die Zehn Gebote, meint Luther, sagen das gleiche wie Jesus: „Du sollst deinen Herrn Gott lieben und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Matth. 22. 37-40). Man könnte meinen, Luthers Sichtweise der Zehn Gebote mit dieser christologischen Hermeneutik sei seine eigene reformatorische Erfindung. Es zeigt sich jedoch, dass sich die Reduktion auf zwei grundsätzliche Gebote schon im Christenspiegel (S. 48f.) findet, wo nicht auf Jesus verwiesen wird, sondern auf das sechste Kapitel im 5. Buch Mose. Luther findet also die zwei grundlegenden Gebote im Neuen, Kolde dagegen im Alten Testament. Der grundsätzliche Unterschied ist wie gesagt die Platzierung der Zehn Gebote bei Luther an erster Stelle im Katechismus. Eine tausendjährige Tradition ist damit gebrochen. Nicht mehr der Glaube ist Ausgangspunkt, sondern die Sünde. Die Zehn Gebote zeigen dem Menschen, wie sündig er ist, denn er muss einsehen, dass er sie nicht einhalten kann. Der Hauptzweck der Zehn Gebote ist es, den Menschen zu dieser Erkenntnis zu führen. In der Auslegung der Zehn Gebote folgt Luther in mancherlei Hinsicht der spätmittelalterlichen Tradition. Wie der Christenspiegel kommentiert er die Zehn Gebote sehr ausführlich und verwendet auch den dreifachen Aufbau mit der Auslegung der Gebote, dem Verweis auf die Konsequenzen einer Verfehlung und schließlich diejenigen des Einhaltens. Darüber hinaus gibt es auch große Übereinstimmung bezüglich des Gewichts der Morallehre und in der Auslegung der einzelnen Gebote. Selbst in Luthers späterer Schrift Der kleine Katechismus von 1529 findet der Jesuit Jungmann: „Inhaltlich hielt sich Luther ziemlich treu an die alten Formeln“ (Jungmann, S. 19). Luther teilt die Zehn Gebote in drei Hauptgruppen ein, wobei die Gebote eins bis drei vom Verhältnis des Menschen zu Gott handeln, die Gebote vier bis acht vom Verhältnis der Menschen untereinander und die Gebote neun bis zehn von der übergeordneten Erkenntnis der Sündhaftigkeit des Menschen. In der Auslegung des ersten Gebots („Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“) legt Luther den Akzent auf das Verbot jeder Form von Zauberei und führt Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 93 ausführliche Beispiele verwerflichen Aberglaubens an. In der Sicht auf Zauberei liegt Luther ganz auf der Linie mit dem Christenspiegel und dem Modus confitendi. Man kann sagen, dass der Christenspiegel pädagogischer vorgeht, indem die Auslegung des ersten Gebots mit einer Erklärung beginnt, wonach der Mensch Gott über alle Dinge lieben soll (wie auch die Heiligen, Maria und die Engel), erst danach wird dazu übergegangen, vor Zauberei zu warnen. Luther geht gleich zur Zauberei über, womit er sozusagen die elementare, schlichte Auslegung des Gebots auslässt. Nach dem Abschnitt über die Zauberei erklärt Luther das erste Gebot als Pflicht des Menschen, sich Gottes Willen zu unterziehen und geduldig alle Schicksalsfügungen zu tragen. Die Auslegung der anderen Gebote folgt dem gleichen Muster. Der Christenspiegel dagegen beginnt mit einer Erklärung der einfachen Bedeutungen des Gebots, um anschließend zu den davon abgeleiteten Bedeutungen überzuleiten. Luther hingegen geht direkt zu den abgeleiteten Bedeutungen. Beim fünften Gebot („Du sollst nicht töten“) ergibt sich daraus die absurde Konsequenz, dass Luther das Verbot des Tötens selbst überhaupt nicht kommentiert, hingegen alle möglichen Formen von Zorn gegenüber dem Nächsten. Der Unterschied der Rezipienten kann vermutlich diese Divergenz erklären: Luther schreibt für Gleichgesinnte und meint vermutlich, die einfache Bedeutung sei keines Kommentars wert. Das vierte Gebot wird in beiden Büchern als Gehorsamspflicht gegenüber jeder Obrigkeit ausgelegt. Die Auslegung des sechsten Gebots, das die Sexualmoral behandelt, erheischt besonderes Interesse. Luther unterscheidet sich auch hier nicht von seinem Vorgänger, und dieser ist wiederum deutlicher als Luther. Kolde vertritt u.a. klar die Ansicht, jede Form von sexuellem Lustgefühl (wie es die Tiere haben) streite gegen das sechste Gebot (Janz, S. 59). Kolde ist zudem deutlicher im Ausmalen der verschiedenen Übertretungen. Zusammenfassend kann über das sechste Gebot gesagt werden, dass es Ermahnungen enthält, nur mit seinem Ehepartner Geschlechtsverkehr zu haben und nur mit der Absicht, Kinder zu zeugen. Außerdem enthält das Gebot Vorschriften, mit wem man keinen Beischlaf haben darf und Vorschriften bezüglich der Art des sexuellen Umgangs. Darüber hinaus verbietet das Gebot den Umgang mit sowie das Vermieten von Zimmern an unzüchtige Personen, desweiteren unzüchtige Bücher und Bilder, begehrliche Blicke, übermäßiges Essen und Trinken, Nichtstun, überflüssigen Schmuck sowie alle Formen von Kuppelei. Die verschiedenen Verbote bezüglich sexuellen Verhaltens können Philippe Ariès zufolge auf Paulus zurückgeführt werden (1. Kor. 6. 9-10 und 1. Tim. 1. 9-10). Dort wird zwischen vier sexuellen Hauptsünden unterschieden. Die Vulgata nennt sie fornicari, adulteri, molles und mascularum concubitores. Luther bezeichnet sie wie folgt in seiner Bibelübersetzung: „Hurer“, „Ehebrecher“, „Weichlinge“ und „Knabenschänder“ (die dänische Bibelübersetzung von 1992 hat „molles“ weggelassen). Philippe Ariès erklärt die Gruppen folgendermaßen: fornicari bezeichnet diejenigen, die Umgang mit Prostituierten haben oder sich selbst prostituieren, adulteri sind Männer, die mit der Ehefrau eines anderen Beischlaf haben oder Ehefrauen, die sich von einem anderen Mann beschlafen lassen. Molles bedeutet Passivität, Schwachheit oder Demütigung und bezeichnet eine passive sexuelle Rolle, Masturbation, Hinaus- Pil Dahlerup 94 zögern des Höhepunktes etc. Homosexualität bezieht sich nur auf Männer. Ariès zufolge sind mit Paulus die drei Säulen etabliert, die die westliche Sexualmoral konstituierten, nämlich die Einstellung zur Ehe, zu demütigenden sexuellen Praktiken und zur Homosexualität. Luther folgt wie seine mittelalterlichen Vorgänger Paulus’ Sicht auf die Sexualmoral. Ariès verweist in einer historischen Perspektive auf Paul Veynes Untersuchungen der Sexualmoral im antiken Rom. Dort war es für einen typischen römischen Aristokraten akzeptiert, mit seiner Ehefrau Beischlaf zu haben, ebenso auch mit seinen weiblichen Sklaven, seinen persönlichen Sklavenjungen sowie mit anderen Knaben. Das einzige, was er unterlassen sollte, waren molles, Sklavenattitüden, die eines freien Mannes unwürdig waren. Dieser römische Blick auf sexuell demütigende Praktiken ist in die christliche Sexualmoral eingeflossen. Luther brach mit Vielem, jedoch nicht mit der Sexualmoral (dass er nicht an das katholische Keuschheitsideal glaubte, ist etwas anderes). Hingegen brach er mit der Vorstellung, wonach missgestaltete Kinder, Sturmfluten und andere Unglücke einer Übertretung des sechsten Gebots zu schulden seien. Im Gegensatz zu Kolde (z.B. Janz, S. 59) erwähnt er keine solchen Folgen. Er kommt auch nicht auf die Pflicht des Beichtvaters zu sprechen, die Beichtenden über ihre sexuellen Sünden auszufragen. Jean Gersons De arte audiendi confessiones von ca. 1406 ist diesbezüglich ein Hauptwerk. Von Luthers Auslegungen der anderen Gebote kann diejenige des siebten Gebots („Du sollst nicht stehlen“) erwähnt werden. Luther versteht es als Verbot jeglicher Form von Betrug im Handel und in finanziellen Dingen, wobei besonderes Gewicht auf die Sündhaftigkeit von Zinsen und Wucher gelegt wird. Auch in diesem Punkt folgt Luther der christlichen Tradition, die dem Gedanken, dass etwas aus nichts erschaffen werden kann, nichts abgewinnen kann, weil das nur Gott vorbehalten ist. Die beiden letzten Gebote des Dekalogs sieht Luther als Ausdruck der grundlegenden Begehrlichkeit des Menschen an, weshalb es notwendig sei, dagegen Gesetze zu erlassen. Besonders diese beiden Gebote könnten den Menschen über seine angeborene Sündigkeit belehren, die er aus eigener Kraft nicht überwinden kann. Die Auslegung der Zehn Gebote, will sagen die christliche Morallehre, nimmt bei Luther wie schon bei seinen Vorgängern den größten Raum ein. , & & $ Während die Zehn Gebote ein alttestamentlicher Text sind, handelt es sich beim Glaubensbekenntnis um eine Zusammenfassung verschiedener neutestamentlicher Textstellen, etwa Philipp. 2. 5-11. Das nicäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis wurde auf den Konzilen in Nicäa 325 und in Konstantinopel 381 formuliert. Man kann ein wenig bissig bemerken, dass Luther hier also sehr wohl eine kirchliche Tradition übernimmt. Das Glaubensbekenntnis beansprucht im Christenspiegel nur knapp fünf Seiten, gegenüber fünfundzwanzig Seiten für die Zehn Gebote. Es steht zuvorderst im Buch und wird mit einer kurzen Einleitung eröffnet, in der auf die Worte Augustins hin- Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 95 gewiesen wird, wonach der Glaube die Grundlage für die Tugend und die menschliche Glückseligkeit sei. Es wird jedem Menschen empfohlen, das Glaubensbekenntnis oft mit dem Mund auszusprechen und es im Herzen zu bedenken. Es wird unterstrichen, dass „we are obliged to believe not only the twelve articles and points, but also everything that is proclaimed in the Bible for our belief, and everything that the holy Church commands us to believe.” (Janz, S. 33). Nach der Wortfolge des Glaubensbekenntnisses steht seine Auslegung. Das Credo wird so eingeleitet: I believe that there is but one God. I believe that he is almighty, the one who knows all things, and that he is distinguished in three persons, namely in the Father, the Son, and the Holy Spirit. I believe that God made all things from nothing, and that he governs the world in all things, and that he gave to all men a beautiful and noble soul that he graciously formed according to his own image and likeness. I believe that he intends to give eternal life to those who keep his commandments and eternal damnation with the evil angels to those who do not keep his commandments - -. (Janz, S. 35) Nach der Auslegung steht ein Gebet zu Gott mit der Bitte um einen starken Glauben: „O my God and my Lord, O compassionate God, I, a poor human, confess before you and all your dear saints that I want to live and die as a good Christian in this most holy faith with your aid and mercy; […].“ (Janz, S. 38) Im Vergleich zu seinen mittelalterlichen Vorgängern vereinfacht Luther auch hier erheblich. Traditionell gab es zwölf Glaubensartikel, Luther reduziert sie auf drei: Der Glaube an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Außerdem stellt er das Glaubensbekenntnis von der ersten Stelle an die zweite der grundlegenden christlichen Texte. Er beginnt, indem er seine Einteilung in drei Artikel begründet, und erklärt anschließend das Wort „Glaube“: Es kann bedeuten, dass wir glauben, dass das, was über Gott, über „den Türken [im Sinne von „Heide“], den Teufel und die Hölle“ gesagt wird, richtig ist. Aber an Gott zu glauben bedeute, dass wir uns ihm voll und ganz hingeben „in seine Hände und seinen göttlichen Willen“. Luther leitet das Glaubensbekenntnis folgendermaßen ein: ICh glawb ynn Gott den vatter allmechtigen schöpffer hymels und der erden. Das ist: Ich versag dem bößen geyst, aller abgötterey, aller tzeuberey und mißglawben. Ich setz meyn trawen auff keyn menschen auff erden, auch nit auff mich selbs noch auff meyn gewalt, kunst, gutt, frumkeyt odder was ich haben mag. Ich setz meyn traw auff keyn creatur, sie sind ym hymel odder auff erden. Ich erwege und setz meyn trew alleyn auff den blossen, unsichtlichen unbegreyfflichen eynigen gott, der hymel und erden erschaffen hatt und alleyn ubir alle creatur ist. Widderumb entsetze ich mich nit fur aller boßheyt des teuffels und seyner geselschafft, denn meyn gott ubir sie alle ist. Ich glaub nichts deste weniger ynn gott, ob ich von allen menschen verlassen odder verfolget were. Ich glawb nichts deste weninger, ob ich arm, unuerstendig, ungeleret, veracht byn odder alles dings mangell. Pil Dahlerup 96 Ich glawbe nichts deste weniger, […]. (Betbüchlein, WA 10.2, S. 389f). Offensichtlich sind in den Formulierungen Koldes und Luthers Unterschiede auszumachen. Koldes Gott ist ein allmächtiger Schöpfergott, der „jedes Ding aus Nichts“ erschaffen hat und den Menschen in seinem Bilde als „eine schöne und edle Seele“ geformt hat. Luthers Gott ist vor allem ein Bollwerk gegen den Teufel, der Mensch zeichnet sich durch seinen unbedingten Glauben aus. Luthers Text ist im Unterschied zu Koldes deutlich rhetorisch gestaltet. Die Aussage wird durch anaphorische Satzkonstruktionen unterstützt, deren typographische Gestaltung die Wiederholungsstruktur unterstreicht. In seiner weiteren Auslegung des ersten Glaubensartikels betont Luther, dass nichts an diesem Glauben rühren kann, weder Krankheit, Armut noch Verfolgung. Er hebt auch hervor, dass der Glaube kein Zeichen benötige. Für Luther ist der Jesus des Glaubensbekenntnisses Teil des Schöpfers, er ist der einzige Vermittler zu Gott, wurde von einer Jungfrau geboren, hat die Menschheit durch sein Leiden und seinen Tod erlöst, hat den Tod überwunden und wird als Richter über die ewige Erlösung oder Verdammnis des Menschen wieder kommen. Im Gegensatz zu Kolde lässt Luther die Doppelnatur Jesu als wahrer Gott und wahrer Mensch weg, er übergeht auch die Wunder, die Einsetzung des Abendmahls sowie die Hervorhebung, dass Jesus sich gefangen nehmen ließ durch „seinen eigenen freien Willen“. Kolde erwähnt in seiner Auslegung den Heiligen Geist nicht, aber nach der Auslegung des Glaubens an Jesu folgt ein Abschnitt über den Glauben daran, dass die Freuden des Himmels unbeschreiblich groß, die Höllenqualen vielfältig und die Schmerzen des Fegefeuers bitterer seien als aller Schmerz der Welt. Es wird der Glaube ausgesprochen, dass Gott gegenüber den Gläubigen barmherzig, gegenüber den Bösen jedoch ein strenger Richter sei. Luther unterstreicht, der Glaube an den Heiligen Geist beinhalte, dass niemand zu Gott oder Jesus gelangen könne, außer durch den Heiligen Geist. Luther sagt auch, dass es auf der ganzen Erde nur eine Kirche gebe, die von der „Gemeinschaft der Heiligen“ gebildet werde, außerhalb davon gebe es keine Erlösung, ausdrücklich auch nicht für die „Juden oder Heiden“. Alles ist gemeinsam, auch die Güter, und keine guten Werke, die außerhalb dieser Gemeinschaft getan würden, könnten zur Erlösung führen. Im Kommentar zum Glaubensbekenntnis besteht in mehreren Punkten Übereinstimmung zwischen Kolde und Luther. Es gibt von Luthers Seite einige Anpassungen, der größte Unterschied besteht jedoch in Luthers Auffassung der Relation zwischen Gott und Mensch. „Glaube“ bedeutet hier für Luther, den eigenen Willen aufzugeben und sich ganz und gar Gottes Willen zu unterwerfen. Dies ist eine markante Veränderung gegenüber Koldes Auffassung des Verhältnisses zwischen dem Schöpfergott und dem Menschen, der nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde. Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 97 Koldes Kommentar zum Vaterunser wird mit einem Kapitel, wie man beten soll, eingeleitet. Er beginnt mit der Forderung, das Herz in Innerlichkeit und Demut vorzubereiten, anschließend folgt die Empfehlung einer privaten Betstätte und verschiedener Betstellungen, z.B. auf die Knie fallen wie Salomon, die Arme ausstrecken wie Jesus am Kreuz, die Augen zum Himmel zu erheben wie Maria und die Apostel. Am Schluss werden die drei Arten, wie zu beten sei, angeführt: wie ein Verbrecher gegenüber dem Richter, wie ein Armer gegenüber einem reichen Herrn und endlich wie ein geliebtes Kind gegenüber seinem lieben Vater. Im darauffolgenden Kapitel wird der Wortlaut des Vaterunser angeführt, des Ave Maria (die erste Hälfte) und eines Gebets zu jeder kanonischen Betzeit. Eine eigentliche Auslegung des Vaterunser findet sich nicht, ihm wird auch keine Sonderstellung eingeräumt. Zeremonien, wie etwa verschiedene Betstellungen, wird Bedeutung verliehen, aber es wird vor allem die Teilnahme des Herzens gefordert. Vor der Herausgabe des Betbüchleins verfasste Luther verschiedene kleine Schriften über das Vaterunser. Dies zeigt, wie zentral dieses Gebet in seinem Denken war - und auch wie sehr er an dem Gottesbegriff gearbeitet hat, den seine Auslegung dieses Gebets beinhaltet. Luthers Auslegung des Vaterunser im Betbüchlein ist von derjenigen Koldes sehr verschieden. Zentral ist dabei, dass Luther keine anderen Gebete erläutert: das Vaterunser ist das einzige Gebet. Luther wählte dieses Gebet ohne jegliche Polemik gegen die vielen anderen katholischen Gebete aus. Er begründet auch nicht, weshalb das Vaterunser das einzige Gebet ist. Er führt schlicht und einfach keine anderen an. Luther teilt den Text des Vaterunser in zwei Teile: Den Satz „Vater unser, der du bist im Himmel“ sieht er als Vorbereitung für das eigentliche Gebet an, als eine Art Einleitung, und insbesondere an dieser Stelle entfaltet er seinen Gottesbegriff. Den Rest des Vaterunser begreift er als sieben verschiedene Einzelgebete zu Gott. Luther gestaltet seine Auslegung des Satzes „Vatter unßer der du bist ym hymell“ als Hinwendung zu Gott. Die ersten Zeilen dieser Hinwendung lauten folgendermaßen: Die meynung: O almechtiger gott, die weyll du durch deyn grundlössz barmhertzickeyt unß nitt alleyn tzu gelassen, ßondernn auch gepotten und geleret hast durch deynen eynigen lieben ßohn unßern herrn Jhesum Christum, das wyr durch seyn vordienst und mittell dich eynen vatter achten und nennen sollen, so du doch billich nach aller gerechtickeyt eyn gestrenger richter seynn möchtist uber unß sunder die wyr ßo viel und schwerlich widder deynen gottlichen aller besten willen gethan und dich ertzurnet haben, Szo gib unß durch die selb barmhertickeyt ynn unßer hertz eyn tröstliche tzuvorsicht deyner vetterlichen lieb unnd lassz unß empfindenn den aller lieblichsten schmack und süssickeyt der kindlichen sicherheyt, das wyr mit freuden dich eynen vater nennen, kennen, lieben und anruffen mügen ynn allen unßern nödten. behütt unß, das wyr deyn kinder bleyben und nit vorschulden, das wyr auß dyr aller liebsten vatter eynen erschrecklichen richter unnd unß selb auß kindern tzu feynden machen. (Betbüchlein, WA 10.2, S. 395f) Pil Dahlerup 98 Luthers Gottesbegriff ist aus den beiden Polen „Vater“ und „Richter“ zusammengesetzt, das Gottesverhältnis des Menschen bewegt sich zwischen diesen Polen. Der Mensch ist dem Zitat zufolge prinzipiell sündhaft und verdient Gott nur als Richtergestalt, aber durch den Versöhnungstod Jesu hat er die Möglichkeit erhalten, Gott auch als Vater zu begreifen. Sprachlich gesehen ist das Zitat - im Gegensatz zur Sprache allgemein im Betbüchlein - gedrechselt mit langen Satzkonstruktionen und tautologischen Ausdrücken bis zu vier Gliedern: „nennen, kennen, lieben und anrufen“. Weiter unten in seiner Auslegung von „Vater unser, der du bist im Himmel“ vergleicht Luther den himmlischen mit dem irdischen Vater: Auch die weyll du nicht eyn leyplicher vatter bist, der auff der erden ist, ßondernn der du ym hymell bist eyn geystlicher vatter der nit stirbt unnd ungewissz ist unnd yhm selb nit helffen mag wie der yrdenisch und leypliche vater, damit du unß antzeygist, wie ubermessig du eynn besser vatter bist und lerest tzeytlich vatterschafft, vatterland, freund, gutt, fleysch und blutt fur dyr vorachten, Szo gib unß, o vatter, das wyr auch deyn hymlisch kind seyn mügen, lere unß der seelen unnd des hymlischen erbteylls alleynn warnehmen, das unß das tzeyttliche vatter land unnd yrdische erbgut nit betriege, umbfange, hyndere unnd gantz tzu yrdischenn kyndernn mache, das wyr mit rechtem waren grund mügen sagen: O hymelischer vatter unßer und wyr warhafftig deyn hymlische kinder sind. (Betbüchlein, WA 10.2, S. 396) Das Zitat macht deutlich, dass Luther seinen Gottesbegriff explizit mit dem irdischen Vaterbegriff zusammen denkt und dass seine Auffassung von Gott als Idealisierung und Vergeistigung der irdischen Vaterfigur verstanden werden kann. Die beiden Vaterfiguren werden in Luthers prinzipiellen Gegensatz von himmlisch und irdisch eingeschrieben, der auch eine generell positive Einschätzung des ersten gegenüber einer generell negativen des zweiten beinhaltet. Das Zitat zeigt, dass Luthers antithetisches Denken durch seine Fähigkeit zur antithetischen Formgebung unterstrichen wird: Diß elend leben ist eyn reych aller sund und bößheyt, darynne eyn herre ist der böß geyst aller bößheytt und sund eyn anfang und hawbtschalck. Deyn reych aber ist eyn reych aller gnaden und tugent, Darynne eyn herr ist Jhesus Christus deyn lieber Sohn, aller gnaden und tugent eyn haubt und anfang. Darumb ßo hilff und gnade unß lieber vater. (Betbüchlein, WA 10.2, S. 398) Aus dieser Perspektive folgt, dass alles Menschliche prinzipiell dem Bösen unterworfen ist und Verdammnis verdient. Als Konsequenz davon begreift Luther daher alle sieben Bitten im Vaterunser als eine einzige Bitte darum, dass „Dein Reich komme“ und „Dein Wille geschehe“. Luthers Auslegung dieser sieben einzelnen Bitten können in seiner Belehrung des Menschen zusammengefasst werden, den Eigenwillen aufzugeben wie auch das Begehren, das an Körper, Welt und Teufel geknüpft ist, welche unter dieser Optik ein und dasselbe sind: Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 99 Hilff das wyr. alle unßer glid, augen, tzungen, hertzen, hend und fueß nit yhrer begirden noch willen gelassen werden, ßondern ynn deynen willen gefangen, gestöckt und geprochen werden. (Betbüchlein, WA 10.2, S. 401 Über Luthers Auslegung der drei Grundtexte des Christentums kann gesagt werden, dass sein Aufbau des Betbüchleins konsequent ist. Er beginnt mit dem sündigen Menschen, gibt diesem den Glauben mit auf den Weg und endet mit dem Vatergott. Luthers Grunderzählung lautet: Der Mensch ist böse und verdient durch den Richtergott nur Strafe, aber Jesus tritt dazwischen und verändert das Verhältnis Sünder- Richter zu Kind-Vater. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, diese Erlösungserzählung zu erkennen. Abschließend lässt sich sagen, dass Luther gegenüber Kolde das Verhältnis der drei Grundtexte entscheidend dahin verschiebt, dass er in allen dreien mit klaren reformatorischen Auslegungen kommt, gleichzeitig jedoch einen Teil der Tradition bewahrt. Der Unterschied in den konkreten Auslegungen ist bei den Zehn Geboten am kleinsten und beim Vaterunser am größten. In Eine kurtz Form sind es nur diese drei Texte, die behandelt werden, indem er abgesehen vom Vorwort diejenigen Gebete verschweigt, die er nicht akzeptieren kann. Im Betbüchlein hat er die Taktik verändert und greift das Ave Maria, die Passionsgebete und den traditionellen Gebrauch der Psalmen an. ! " Luthers Hauptpunkt ist, dass das Ave Maria nicht mehr ein Gebet zu Maria sein sollte: „HIe ist czu mercken, daß yhe niemand seyn trawenn unnd tzuuersicht stelle auff die mutter gottis odder yhr verdienst, denn solch tzuvorsicht gepürt alleyne gott als der einige hohe gotis dienst, […]“ (WA 10.2, S. 407). Hingegen kann man beim Betrachten Marias Gott danken, weil er einen Menschen wie sie geschaffen hat, so wie man Gott auch dafür danken kann, den Himmel, die Sonne und alle Geschöpfe geschaffen zu haben: „Ach gott, wilch eyn eddel mensch hastu hie geschaffen“ (ebd.). In diesem Zusammenhang untersucht Luther den ursprünglichen Teil des Ave Maria, der aus dem Gruß des Erzengels und Elisabeths an die Mutter Jesu besteht: „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir.“(Luk. 1, 28) und „Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.“ (Luk. 1, 42). Aus diesen Zeilen sollte man kein Gebet machen, sondern eine Betrachtung über Maria, meint Luther, und man kann den Wunsch vorbringen, dass sie von allen in der rechten Weise erkannt werde. Luther unterteilt die rechte Betrachtung Marias in vier Punkte: 1. Maria ist voll von Gnade, „das ist eyn hoch groß ding“ (WA 10.2, S. 408). Gott hat sie durch seine Gnade mit allem Guten angefüllt und alles Böse von ihr genommen. 2. Gott ist mit ihr, d.h. all ihr Handeln ist göttlich und geschieht durch Gott, welcher sie auch beschützt und bewahrt. Pil Dahlerup 100 3. Maria ist vor allen anderen Frauen „gebenedeyet“, denn sie hat ohne Schmerzen geboren und wurde ohne Sünde schwanger, d.h. ohne Sexualität, vom Heiligen Geist. 4. Marias „Frucht“ (das göttliche Kind) ist auch „gebenedeyet“ und im Gegensatz zu allen Kindern Evas nicht in Sünde geboren und nicht dem Tod und der Verdammnis anheim gefallen. Will man schließlich ein Gebet zu diesen Sätzen hinzufügen, so Luther, kann man um Schutz bitten vor denjenigen, die diese Frau und ihr Kind verunglimpfen („vermaledeyen“). Wer verunglimpfe sie jedoch am meisten? Das seien „die Juden und Papisten“, und besonders alle diejenigen, die Rosenkränze bäten und immer ein Ave Maria auf den Lippen hätten. Deshalb rät Luther kurz und bündig, alle Mariengebete fallen zu lassen. . & Den Protestanten fiel es offenkundig schwer, die Passionsgebete (via dolorosa-Gebete) zu verbieten, also die Gebete und Betrachtungen an jeder der fünfzehn Stationen auf dem Leidensweg Jesu bis zum Kreuz. In Dänemark gibt es einen solchen via dolorosa-Text auf Dänisch, gedruckt 1509 von Gotfred von Ghemen: De femten steder, Vorherre tålte sine pine (Die fünfzehn Stationen, an denen unser Herr sein Leiden erduldete). Da der Gebrauch dieser Gebete nicht verboten werden konnte, gab es für Luther nichts anderes zu tun als zu lehren, sie „richtig“ zu beten, was er im Betbüchlein vorführt. Ursprünglich war es eine Predigt, die er 1521 hielt: Sermon von der Betrachtung den heiligen Leiden Christi. Die Hauptbotschaft ist deutlich: Wenn man sich in die Leidensgeschichte Jesu vertieft, soll man einzig und allein daran denken, dass man selbst ein Sünder ist, der von ihm losgekauft wurde, und einzig und allen darum bitten, zu ebendieser Erkenntnis zu gelangen. Das ist die Botschaft an jeder der fünfzehn Stationen, die eine nach der anderen durchgegangen wird. Gleichzeitig hebt Luther hervor, woran man nicht denken soll und wofür man nicht beten soll: Man soll sich nicht auf den Übergriff der Juden gegenüber Jesus konzentrieren, nicht auf Marias Sorge und nicht auf die Schmerzen Jesu. Man soll auch nicht den Herrn beweinen, sondern sich selbst. Insofern handelt es sich hierbei um eine deutliche Revolte gegen das spätmittelalterliche Ausmalen der Leiden Jesu samt der dazugehörenden sehr langen Tradition des Mitleidens mit Maria (man denke nur an das „Stabat mater“) sowie des Ausfalls gegen die Juden. Luther selbst war, wie bekannt, sonst nicht zurückhaltend mit antijüdischen Aussagen, von denen man auch einige in diesem Text findet. Alles muss jedoch unter dem Hauptaspekt gesehen werden: „Mensch, beweine dich selbst“. Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 101 . Luther polemisiert nicht direkt gegen das Stundengebet und gegen die dortige Verwendung der Psalmen Davids. Hingegen übersetzt er einige der Psalmen ins Deutsche und schreibt unter die Nummer des Psalms, in welcher Situation er jeweils gebetet werden soll: im Zusammenhang mit der Lektüre des Evangeliums oder des Glaubensbekenntnisses, des Dankes an Gott für alle Wohltaten, dem Gebet zu Gott und die weltliche Obrigkeit usw. Dieser Abschnitt kann als Versuch verstanden werden, das Stundengebet aufzuheben und die Psalmen als Gebete bei anderen Gelegenheiten (im Gottesdienst und im häuslichen privaten Gebet) einzusetzen. . + $ Oben wurde versucht, eine einigermaßen angemessene Beschreibung der Transformation einer mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Religion zu geben, wie sie von Luther unternommen wurde. Ein moderner, kritischer Leser kann hier jedoch nicht enden, sondern muss einige ideologische Perspektiven in den Blick nehmen, die Luther selbst vermutlich so nicht bewusst waren. . , & Setzt man voraus, dass die biblischen Texte die Möglichkeit eröffnen, Gott als Wesen zu betrachten, das jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens liegt, jenseits jeder physischen Form und jenseits menschlichen Ausdrucksvermögens, dann ist jede Benennung Gottes mit großen Problemen verbunden. Thomas von Aquin machte darauf aufmerksam in demjenigen Band der Summa theologiae, der in der englischen Übersetzung den Titel Knowing and Naming God trägt. Eine konsequente Bezeichnung Gottes als „Vater“ ist so gesehen bereits eine beträchtliche Einschränkung der Möglichkeiten des Gottesbegriffs. Im Folgenden wird behauptet, dass Luthers Gottesauffassung einer solchen Einschränkung unterliegt und dass diese Einschränkung seine eigene ist. Sie kann weder biblisch belegt werden, noch steht sie im Konsens mit seiner Zeit. Der Gottesbegriff des Alten Testaments wurde von Meir Sternberg in The Poetics of Biblical Narrative (1985) untersucht. Seine Absicht ist es, wie der Titel angibt, die narrative Strategie biblischen Erzählens zu untersuchen. Hierbei soll bemerkt werden, dass „die Bibel“ für Sternberg die hebräische Bibel ist, in der christlichen Tradition das Alte Testament. Über den Gott dieser Bibel schreibt er: The most startling thing about the Bible’s opening words, “When God began to create heaven and earth,” is that God comes on stage with a complete absence of preliminaries. Who is God? What is God? Where does he hail from? How does he differ from other deities? […] The complex of features making up God’s portrait emerges only by degrees and only through the action itself, starting with the creation of light by terse fiat. (Sternberg, S. 322) Pil Dahlerup 102 Gott erscheint ohne jegliche Form einer Ankündigung. Nichts „Materielles“ wird über ihn erzählt. Der Leser der Bibel macht sich seine Vorstellungen von Allmacht, Allwissenheit, Unergründlichkeit, Zorn, Strafe und sogar Selbstwidersprüchlichkeit allein aufgrund von Gottes Taten. Sternbergs Pointe besteht darin, dass der biblische Erzähler reveals enough to make the divine order intelligible and impressive while concealing enough to leave it mysterious, transcendent, irreducible to terms other than itself. (Sternberg, S. 323) Im Neuen Testament kommt der Begriff des Vaters stärker zum Ausdruck. Das ist vor allem Jesus geschuldet, der als Kind seiner Zeit sein Verhältnis zu Gott als ein Vater-Sohn Verhältnis ausdrückte (McBrien, S. 350). Jesu Vaterbegriff kann jedoch bedeutend modifiziert werden. Feministische Theologen haben gezeigt, dass Jesus noch ganz andere Bilder für Gott verwendete, etwa in seinen Gleichnissen. Auch wurde Jesu Gebrauch des Wortes „Vater“ gezählt, wobei sich ein markanter Unterschied zwischen den vier Evangelien ergibt: Im Markusevangelium wird das Wort viermal gebraucht, fünfzehnmal bei Lukas, 49-mal bei Matthäus und sogar 109-mal im Johannesevangelium (Johnson, S. 81). Daraus folgt, dass es eher die Evangelisten sind, die das Wort „Vater“ benutzen, als Jesus selbst. Wenn man mit Dietrich Koldes Christenspiegel vergleicht, sieht man, dass Gott durchgehend „Herr“ genannt wird und es keine Ausmalung des Vaterbegriffs in seinem Kommentar zum Vaterunser gibt. Hinzu kommt, dass das von Luther gezeichnete Vaterbild ein einschränkendes Vaterbild ist, das sozusagen nur Platz hat für die Komponenten „Vater ist zornig - Vater ist gut“. Man kann es mit der Auslegung des Vaterunsers im Tridentinischen Katechismus, ausgearbeitet vom Tridentinischen Konzil 1564, vergleichen. Der Zweck dieses Katechismus war unter anderem, ein Gegengewicht zu Luther zu schaffen, auch wenn sein Name nicht genannt wird („da sie [die Teilnehmer des Konzils von Trient] gegen ein so grosses und verderbliches Übel eine heilsame Arznei anzuwenden sehnlichst wünschten“, Der römische Katechismus, S. 8). Im Artikel zum Vaterunser wird folgende Auslegung des Wortes „Vater“ gegeben: Und zwar ist das erste Wort, dessen wir uns auf Gottes Befehl und Anleitung bedienen, in diesem Gebete „Vater“. Denn obschon unser Erlöser dieses göttliche Gebet mit irgend einem Worte, das mehr Erhabenheit in sich enthielte, z. B. Schöpfer oder Herr, hätte einleiten können, hat er diese doch beiseite gelassen, weil sie und zugleich hätten in Furcht setzen können; hat vielmehr jenes angewendet, welches den Betenden und von Gott etwas Begehrenden Liebe und Vertrauen einflösst. Denn was gibt es Lieblicheres, als den Namen Vater, in dem Versöhnung und Liebe erklingt? Aus welchen Gründen aber Gott der Name Vater zukommt, wird man dem gläubigen Volke hinlänglich aus den Lehrstücken von der Schöpfung, Weltregierung und Erlösung zeigen können. (Römischer Katechismus, S. 371). Drei Dinge fallen in diesem Zitat auf, wenn man es mit Luthers Einleitung zum Vaterunser vergleicht: Es wird eine Reflexion über Jesu Wahl der Gottesanrede einge- Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 103 fügt, der Begriff „Vater“ besitzt ausschließlich positive und liebevolle Züge (von Luthers Richter-Gott und anderen Angstelementen ist nichts vorhanden), und schließlich hat der Vaterbegriff noch einen größeren Bedeutungsrahmen, der über das Verhältnis zum Kind, das hier als Geschöpf bezeichnet wird, hinausgeht, nämlich Vorsehung und Erlösung. All dies wird in den anschließenden Artikeln zum Vaterunser im Tridentinischen Katechismus ausgelegt: […] 2. Der erste Grund, warum Menschen Gott mit Recht hier Vater nennen [Gott als Schöpfer] 3. Der zweite Grund, warum Gott der Vater der Menschen genannt wird [väterliche Sorgfalt und Vorhersehung] 4. Durch Gottes Vorhersehung ist den Engeln der Auftrag gegeben, das Menschengeschlecht zu beschützen 5. Aus welchen Beweisen wir deutlich die Grösse des Nutzens einsehen, welcher den Menschen aus dem Schutze der Engel zufliesst […] 10. Welches der dritte Grund ist, durch welchen Gott die Wohltat seiner Vaterliebe zum menschlichen Geschlecht in reichlichem Masse zeigt 11. Vermöge einer ausgezeichneten Wohltat sind wir durch die Erlösung Kinder Gottes geworden 12. Was die Christen, die bereits zu Söhnen Gottes gemacht worden sind, nach so vielen empfangenen Erweisen der väterlichen Liebe dem Vater dagegen leisten sollen […] 14. Warum uns hier befohlen wird, Gott in der Mehrzahl unseren Vater zu nennen […] 16. Wie wir füreinander beten und uns alle gegenseitig als Brüder achten müssen (Römischer Katechismus, S. 371-377). Dieses Vaterbild zeigt keinen Richter, hingegen einen Schöpfer, eine Vorsehung und einen Erlöser. Das Verhältnis des Menschen zu Gott wird auch anders beschrieben: beim Beten „nicht wie ein Sklave zu seinem Herrn ungern und furchtsam hinzutreten, sondern wie ein Kind zu seinem Vater freiwillig und furchtlos seine Zuflucht zu nehmen.“ (Römischer Katechismus, S. 378) Während Luthers Mensch primär ein Sünder ist, sind die Menschen im Tridentischen Katechismus zwar auch sündig, jedoch auch mit Paulus Wort zu den Thessalonichern: „Kinder des Lichts und des Tages“ (1. Thes. 5. 5). Zusammenfassend kann man sagen, dass Luthers Vatergott einer bedeutenden Einschränkung des Potentials des Gottesbegriffs, so wie ihn die biblischen Texte beinhalten, gleichkommt. Diese Einschränkung wird zudem deutlich im Vergleich mit der zeitgenössischen katholischen Gottesauffassung. Als Ursache kann auf Luthers persönlichen und gut dokumentierten Vaterkomplex verwiesen werden. Sein Gottesbild jedoch wurde populär und musste daher auch einen breiteren Appell gehabt haben. Man kann auf Max Webers Theorie hinweisen, nach der die protestantische (calvinistische) Moral eine Voraussetzung für den Kapitalismus darstellt. Pil Dahlerup 104 Insofern ließe sich auch sagen, dass ein autoritäres System und ein gehorchender Mensch eine implizite ökonomische Forderung der Zeit war. Die Vatermetaphorik hat eine doppelte Konsequenz: Sie verringert das Göttliche und vergrößert zugleich den irdischen Vater. Diese Dualität kann folgendermaßen ausgedrückt werden: If God is symbolized as “Father”, he is brought down to the human relationship of father and child. But at the same time this human relationship is consecrated into a pattern of the divine-human relationship. If “Father” is employed as a symbol for God, fatherhood is seen in its theonomous, sacramental depth. (Paul Tillich, zitiert bei Johnson, S. 37). Es gibt insofern sowohl religiöse als auch soziologische Konsequenzen von Luthers Vatermetaphorik, die sich nicht zuletzt auch zahlreich in der Dethronisierung Marias feststellen lassen. 0 4 Aus Luthers und generell aus der protestantischen Sichtweise sieht der historische Verlauf so aus: Das Alte Testament konzentriert sich auf Gott, das Neue Testament durch Jesus auf Gott. Die katholische mittelalterliche Tradition hat diesen Verlauf um verschiedene Marienandachten ergänzt, die die Aufmerksamkeit von Gott und Jesus ablenken und sogar den Charakter von Götzenverehrung annehmen können. Die Herausgeber der Weimarer Ausgabe des Betbüchleins formulieren es so: „ […] immer mehr hatte er [Luther] erkannt, daß der Kultus der Maria Gott und dem Herrn der Gemeinde die Anbetung raube“ (WA 10.2, S. 338). In einer feministischen Hermeneutik nimmt sich die Geschichte anders aus. Hier beginnt man nicht mit dem Alten und dem Neuen Testament, sondern mit den vorderorientalischen und orientalischen Fruchtbarkeits- und Muttergöttinnen Astarte, Ishtar, Maat und Isis. Da das Alte Testament das Göttliche in einem Gott, Jahwe, zusammenfasste, wurden die früheren weiblichen Gottheiten in der Figur der Sophia gesammelt, der Weisheit im alttestamentlichen Buch der Weisheit, die sozusagen zum weiblichen Prinzip im einzigen Gott wurde. Was im Judaismus über Sophia gesagt wurde, wurde im Neuen Testament über Jesus gesagt und zwar so, dass Jesus gewissermaßen die weiblichen Elemente der Gottheit in sich aufnahm (Johnson, S. 92ff.). Die Maria des Mittelalters verkörpert das, was von den großen alten Göttinnen übrig blieb. Aus dieser Perspektive stellt Luthers Verabschiedung Marias als Heilige den vorläufigen Schlusspunkt eines langen Patriarchalisierungsprozesses dar, worin der Vatergott die früheren weiblichen Gottheiten überflüssig macht. (Man kann hinzufügen, dass Luther das Buch der Weisheit in seiner Bibelübersetzung wegließ, indem er diesen Text als apokryph beurteilte.) Luthers Maria ist jedoch eine interessante Schöpfung. Der Heiligenstatus wird ihr aberkannt, im Betbüchlein ist sie jedoch (noch) kein gewöhnlicher Mensch. Luther lässt sie ihren vollen Gnadenstand behalten, befreit sie von aller Sünde und Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 105 allen Geburtsschmerzen, wie er auch ihr Kind von der Erbsünde befreit. In Marias Degradierung schwingt damit also immer noch ein besonderer Status mit. Mit der Reformation kommt die europäische Religion zum ersten Mal seit historischer Zeitrechnung ohne weibliche Gottheiten (Heilige) aus. Nicht nur konzentriert Luther sein Gottesbild auf einen bestimmten Typus Vaterfigur, er schließt auch einen weiblichen Teil darin aus. Die Religion wird so nicht nur patriarchalisiert, sondern auch eindeutig maskulinisiert. Das religiöse Gefühl soll von jetzt an in den protestantischen Ländern in ein Maskulinitätsmonopol kanalisiert werden. Es versteht sich von selbst, dass dies eine Transformation von enormen Dimensionen ist. Als soziokultureller Aspekt bedeutet dies, wenn man sich Tillichs weiter oben formulierten Gedankengang zu eigen macht, dass die irdischen Frauen die religiöse Überhöhung der Mutterschaft verlieren, wie sie bisher durch Maria repräsentiert wurde. 4 & Im Europa des 16. Jahrhunderts lassen sich unterschiedliche Menschenbilder ausmachen, darunter die des Humanismus und der Renaissance. Wenn man dabei unter „Renaissance“ eine Richtung versteht, in der der „natürliche Mensch“ „wiedergeboren“ und anstelle Gottes im Zentrum des Weltbildes steht, ist es offensichtlich, dass Luthers Menschenbild nicht demjenigen der Renaissance entspricht. Wenn es um die Auffassung des Menschen geht, steht Luther sogar weniger der Renaissance als vielmehr dem katholischen Mittelalter näher, wo der Mensch - mit der Hilfe der Gnade - einen aktiven Part in seiner eigenen Erlösung spielen kann. Luthers Schrift Der sklavengebundene Willen (1525), die er als Entgegnung auf das Werk Der freie Wille (1524) des Humanisten Erasmus von Rotterdam schrieb, ist charakteristisch für seine Auffassung vom Menschen. Luthers Mensch ist zutiefst sündig und schlecht (weil er die Zehn Gebote nicht einhalten kann). Das Idealbild des Menschen, wenn er versucht, die Gebote einzuhalten, ist der Gott ergebene, gehorchende, selbstverneinende, geduldige und unsinnliche Mensch. Hält man diesen Menschen gegen Michelangelos (fast gleichzeitige) Skulptur des David, sieht man den Unterschied. Jan Lindhardt vertritt hierzu die Auffassung, der „empfangende Mensch“ - so charakterisiert er Luthers Menschenbild - könne als Renaissancemensch aufgefasst werden, weil er strukturell dem „rhetorischen Menschen“ gleiche, welcher Lindhardt zufolge die Renaissance repräsentiert, denn Rhetorik setzt einen Empfänger voraus (Lindhardt, S. x). Dieser Sichtweise wird hier jedoch nicht gefolgt. ] $ Für die mittelalterliche katholische Auffassung setzen religiöse und ästhetische Erfahrung einander voraus. Umberto Eco hat für das Mittelalter drei ästhetische Niveaus aufgezeigt: sinnliche Schönheit, psychische Schönheit und transzendentale Schönheit. Gott ist das transzendentale Gute, weil er die Welt erschaffen hat, und er Pil Dahlerup 106 ist zugleich die transzendentale Schönheit, weil er die Welt harmonisch geordnet hat. Luthers Gott ist ein moralischer Gott. Darum gebe es nur äußerst wenige Naturbilder in Luthers Universum, keine aufgehende Sonne, keine blinkenden Sterne, keine überwältigenden Berge, kein grünendes Gras und keine singenden Vögel. Der Sinnesapparat des Menschen ist dem Bösen zugeordnet. Falls er doch etwas Schönes sieht (vgl. oben Maria und der Himmel), dient es ausschließlich dazu, Gott anzubeten. Man findet in Luthers Universum den letzten Rest mittelalterlicher (und allgemeiner katholischer) Sakramentalität, der zufolge die Welt heilig ist, weil Gott aktiv wirksam darin ist. Um Luthers Welt ist es übel bestellt. Der Begriff „Lust“ hat keine Existenzberechtigung bei Luther. Ein Zitat aus dem Betbüchlein: Hilff ßo wyr sehen ein schon mensch, bild oder andere creature, das das nit eyn anfechtung ßondern uns eyn ursach sey keuscheyt tzu lieben und dich ynn deynen creaturen tzu loben. (Betbüchlein, Kommentar zum 6. Gebot, WA 10.2, dort kursiv: S. 405) Diesem Zitat zufolge ist es dem Menschen erlaubt, seine Sinne zu gebrauchen und etwas Schönes zu betrachten, die Absicht jedoch ist eindeutig religiös und ethisch: „… eyn ursach sey keuscheyt tz lieben und dich ynn deynen creaturen tzu loben“. Dass keine Form von Lust an dieser Betrachtung beteiligt ist, wird zur expliziten Voraussetzung gemacht. Die Ästhetik, verstanden sowohl als Schönheit wie als Sinnlichkeit, spielt in Luthers Protestantismus eine geringe Rolle. Das hängt mit seinem Gottesbild zusammen: Luthers Gott ist ein moralischer Vatergott. Der göttliche Schöpferaspekt wird, wie in der Analyse des Betbüchleins gezeigt wurde, kaum betont. Ein typisches Beispiel sind die einleitenden Sätze zu Luthers Auslegung des Glaubensbekenntnisses: „Ich glawb ynn Gott den vatter allmechtigen schöpffer hymels und der erden“, die wie erwähnt mit folgenden Worten anschließen: „Das ist: Ich versag dem bößen geyst, aller abgötterey, aller tzeuberey und mißglawben.“ (Betbüchlein, WA 10.2, S. 389) Zum Vergleich kann die entsprechende Auslegung im Tridentischen Katechismus herangezogen werden. Auf die Erläuterung des Wortes „allmächtig“ folgt die Auslegung des Begriffs „Schöpfer Himmels und der Erde“: Wie notwendig es war, den Gläubigen im Vorstehenden die Kenntnis von Gottes Allmacht beizubringen, lässt sich aus dem, was nun von der Erschaffung des Weltalls zu erklären sein wird, schliessen. Denn das Wunder eines so grossen Werkes wird leichter geglaubt, wenn über die unermessliche Macht des Schöpfers keinem Zweifel mehr Raum gelassen ist. Denn Gott hat nicht aus irgendeinem Stoffe die Welt gemacht, sondern sie aus nichts geschaffen; und dies tat er durch keine Gewalt oder Notwendigkeit gezwungen, sondern aus seinem eigenen freien Willen. Aber es war kein anderer Grund, der ihn zum Werke der Schöpfung antrieb, als den um den von ihm geschaffenen Dingen seine Güte mitzuteilen. Denn Gottes Natur, in sich selbst höchst selig, bedarf keines Dinges, wie David gesagt hat: „Ich sprach zu dem Herrn: Mein Gott bist Du; denn meiner Güter bedarfst Du nicht.“ Wie er aber von seiner Güte angetrieben „gemacht hat was er wollte: so folgte er auch, als er das All gründete, keinem Muster oder Vorbild, das ausser ihm bestandern hätte; vielmehr, da das Urbild aller Dinge in der göttlichen Erkenntnis enthalten ist, hat der göttliche Künstler, dasselbe in sich an- Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 107 schauend und gleichsam nachahmend, mit höchster Weisheit und Macht, wie sie ihm eigen ist, die Gesamtheit der Dinge im Anfang hervorgebracht. „Denn er sprach und sie sind geworden; er befahl, und sie wurden erschaffen.“ (Römischer Katechismus, S. 23-24). Eine Hauptpointe in dieser Passage ist der Zusammenhang von Allmacht und Schöpferkraft, so wie der Glaubenssatz ja auch lautet: „der Allmächtige, Schöpfer des Himmels und der Erde“. Gott ist allmächtig und deshalb in keiner Form an Notwendigkeit gebunden. Er hätte die Erde nicht zu erschaffen brauchen, er tat dies aber aufgrund eines inneren Überschusses („in sich selbst höchst selig“). Zentral ist auch die Formulierung „erschaffen aus Nichts“; Gott war nicht auf irgendein Material oder eine Zeichnung angewiesen. Das Modell entsprang seiner eigenen sublimen Intelligenz. Gott ist der Mega-Architekt. Daraus folgt, dass seine Schöpfung ein derart überwältigendes Werk ist („eines so grossen Werkes“). +" $ - Der Kampf gegen verschiedene Formen von „Aberglauben“ kann als Kampf der Geistlichkeit gegen die Volkskultur auf allen Ebenen angesehen werden, gegen die Glaubensvorstellungen und religiösen Gebräuche des Volks, seine Kultur sowie gegen seine täglichen Gewohnheiten. In diesem Punkt unterscheiden sich Katholiken und Protestanten nicht voneinander. Ideologiekritisch lässt sich dies so ausdrücken, dass die Geistlichkeit um ihr eigenes Monopol auf das Transzendente kämpfte. Lange Passagen im Betbüchlein schildern etwa den „Missbrauch“ des Volks so ausführlich, dass sie zu kleinen Bildern des täglichen Lebens des Volks werden. Einige Passagen sind so unlogisch platziert, dass dies zum Nachdenken anregt. So ist es nicht unmittelbar einleuchtend, dass die Auslegung von „Schöpfer des Himmels und der Erde“ die folgende Erklärung auslöst: „Ich versag dem bößen geyst, aller abgötterey, aller tzeuberey und mißglawben“ (Betbüchlein WA 10.2, S. 389), worauf ein paar Beispiele folgen. Der Gedankengang müsste eigentlich folgender sein: Weil Gott der Schöpfer ist, braucht niemand andere „Kräfte“ anzurufen. Luther „vergisst“ jedoch rundweg zu erklären, wie und warum Gott der Schöpfer ist. : / Die Reformation hatte weitreichende Konsequenzen für die verschiedenen Kunstarten, nicht zuletzt natürlich auch für die Literatur. Ich werde diese komplexe Frage hier nicht vollumfänglich erläutern, sondern mich nur auf die besonderen literarischen Konsequenzen eines Buches wie das Betbüchlein konzentrieren. Hier soll zunächst untersucht werden, was die Dichter mit dem Gottesbild taten, das Luther ihnen zur Anbetung gab. Was machten die Dichter in einem ent-ästhetisierten Universum, mit einer Gottheit, die ihre Schöpferperspektive verloren hatte? Was taten sie, wenn die Sinne keine Analogien liefern konnten, um das übersinnlich göttliche Universum zu begreifen und wenn die Natur nicht länger geheiligt war und als metaphorischer Durchgang zum Göttlichen diente? Pil Dahlerup 108 Als zweites kann man sich fragen, was die Dichter mit der übrig gebliebenen Weiblichkeit machten: Konzentrierten sich darauf, das Göttliche väterlich zu machen? Oder fanden sie Alternativen, um für ein weibliches göttliches Element Ausdruck zu finden? Die feministische Theologie hat hier verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, etwa in der Zuschreibung traditionell weiblicher Eigenschaften, wie z.B. Fürsorge und Zärtlichkeit, für die männliche Gottheit; und es wurde auch der häufige Gebrauch der Muttermetaphorik im Alten Testament konstatiert. Gottes Verhältnis zur Welt wird oft in Bildern von Schwangerschaft, Geburt, Stillen und Fürsorge ausgedrückt, etwa in Jesaja 49. 14-15: Zion sprach: „Verlassen hat mich Gott, der Herr hat meiner vergessen.“ Wird auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarmte über den Sohn ihres Leibes? (Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments) Im Neuen Testament ist die Mutterschaftsmetaphorik begrenzt; es können jedoch einige Beispiele gefunden werden, so im Brief des Apostels Paulus an die Thessaloniker: „… wie eine stillende Mutter ihre Kinder hegt; so waren wir voll herzlicher Zuneigung zu euch willig, euch nicht allein am Evangelium Gottes teilhaben zu lassen, sondern auch an unseren eigenen Seelen …“ (1. Thess. 2. 7-8). In ihrem Buch Jesus as Mother hat Caroline Walker Bynum gezeigt, dass die Muttermetaphorik in einem religiösen Zusammenhang unter den Zisterziensern im 13. Jahrhundert gängig war. Bernhard von Clairvaux verwendete die Muttermetaphorik für Moses, Jesus, Paulus, die Priester und Äbte (Bynum, S. 115). Über säumende Seelsorger schreibt Bernhard: They are certainly devoid of the maternal instinct (…) There is no pretense about a true mother, the breasts that she displays are full for the taking. She knows how to rejoice those who rejoice, and to be sad with those who sorrow, pressing the milk of encouragement without intermission from the breast of joyful sympathy, the milk of consolation from the breast of compassion. (Bernhard von Clairvaux, zitiert nach Bynum S. 117f.) Um das Weibliche in der Gottheit zu berücksichtigen, kann man feministischer Theologie zufolge außerdem den Heiligen Geist als das weibliche Prinzip der Gottheit auffassen oder sich das Göttliche selbst komplett weiblich vorstellen (wie in Johnson, She who is) oder wünschen, die irdischen Geschlechtsvorstellungen zu überschreiten und das Göttliche (die Gottheit) sowohl „er“ als auch „sie“ zu nennen, z.B. „Vater, Mutter, im Himmel“. Solche literarischen Konsequenzen von Luthers Betbüchlein und anderen katechetischen Schriften sollen hier wie gesagt nicht genauer untersucht werden. Es soll nur erwähnt werden, was Billeskov Jansen bisher als Einziger ganz kurz aufgezeigt hat, dass nämlich das erste protestantische Psalmenbuch, Thomissøns salmebog (1569), einen großen ästhetischen Mangel besaß, weil darin die Natur und die Frau fehlten: Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 109 Den katolske Salmedigter øste Billeder af Skolastikken (Anders Sunesen), af Kvindedyrkelsen (Per Ræv) og Naturbetragtningen (Dagvisen). Vor protestantiske Digtning blev lukket sammen om Troen; Sindet er stærkt nok, men finder ikke sine poesiforløsende Symboler. Følelsen forbliver æstetisk ufortolket. (Billeskov Jansen, S. 164) Der katholische Psalmendichter machte üppig Gebrauch von Bildern der Scholastik (Anders Sunesen), der Verehrung der Frau (Per Ræv) und der Naturbetrachtung (Dagvisen). Unsere protestantische Dichtung verblieb auf den Glauben allein konzentriert; der Sinn ist zwar stark genug, findet jedoch nicht zu seinen dichtungserlösenden Symbolen. Das Gefühl bleibt ästhetisch unübersetzt. 3 5& Krister Gierow erwähnt in seiner primär quellenkritischen Untersuchung Poul Helgesens Übersetzung des Betbüchleins als das erste Buch in der Reihe protestantischer Gebetbücher. Hier sollen die Übersetzungen von Poul Helgesen und Christiern Pedersen untersucht werden, und zwar insbesondere im Hinblick auf deren Umgang mit den oben ausgeführten ideologischen Hauptaspekten. Für die Textzitate wird im Folgenden auf die Ausgaben Skrifter af Paulus Helie, Band I und auf Christiern Pedersens Danske Skrifter, Band IV verwiesen. 3 . # ! $% & # ? )3%A + ; + 1 Um Luthers Betbüchlein zu bekämpfen, wurde es von Poul Helgesen übersetzt, der wichtigsten Figur der dänischen Katholiken im Kampf gegen die Protestanten in den 1520er Jahren. Im Vorwort legt er die Argumente für seine eigenwillige Logik beim Übersetzen des Betbüchleins dar und verweist auf die vielen Auflagen und Exemplare, die er gesehen habe. Luthers Schrift, sagt er, sei wie gewöhnlich eine Mischung von Wahrem und Falschem, Gutem und Schlechtem, einiges von anderen Autoren und einiges von Luther selbst, „at hand kwnde theß bæder sette oss glarøgne paa næse“ (I, S. 187). Diese Formulierung muss wohl so verstanden werden: „damit er uns umso besser dazu bringt, mit seiner Brille zu lesen“. Poul Helgesens erklärte Absicht mit der Übersetzung sei es, sckelne thet gode fraa thet onde, oc huede fraa then wrenæ sæd, oc thet lade wdgaa paa Danske at theris synd kunde ther medt dragis fraa the tydske bøger, ther hwer mand tha leste saare gierne (I, S. 187f) das Gute vom Bösen zu scheiden und den Weizen vom Unkraut und es auf Dänisch herauszugeben, auf dass ihre [der Leute] Aufmerksamkeit damit von den deutschen Büchern abgelenkt werden, welche alle so gern lesen Poul Helgesen trifft bei seiner Übersetzung also eine Auswahl. Er verteidigt sein Vorgehen damit, dass Luther das gleiche mache - „er nimmt sich, was er brauchen Pil Dahlerup 110 kann, wo er es findet“. Luther hat, Poul Helgesen zufolge, Passagen von Augustinus, Cyprianus und Bernhard von Clairvaux übernommen. „Tha motte ieg oc saa røffue hannum thet fraa, ther hand haffde ingen ret till“ (I, S. 188) (Da musste ich ihm auch dasjenige stehlen, auf das er kein Recht hatte). Was Luther (nur) gut abschreibt, gehört also nach Helgesen nicht Luther, weshalb es sein, Helgesens, gutes Recht sei, es selber auch zu benutzen. Was Luther über Geiz, Hochmut, Unkeuschheit und „andere große und grobe Sünden“ schreibt, kann Poul Helgesen deshalb weitergeben, „icke forthi at Luter saa schriffuer, men ath ieg less thet samme wdtij Hieronimi, oc Bernhardi, bøge. Oc y Sancte Birgitte obenbarelsse“ (I, S. 188) (nicht weil Luther es schreibt, sondern weil ich dasselbe bei Hieronymus, in den Büchern Bernhards und in den Offenbarungen der Heiligen Birgitta gelesen habe). Die genannten „richtigen“ Passagen betreffen offenkundig die Auslegung der Zehn Gebote. Hingegen distanziert sich Poul Helgesen entschieden von anderen Aspekten Luthers: „ther findis tha ingen støre løghen“ (I, S. 189) (es gibt keine größere Lügen); dies betrifft u.a. die Sakramente, die Kirche, die Heiligen und „al ære oc dygd“ (ebd.) (jegliche Ehre und Tugend). Poul Helgesen verteidigt sich in seinem Vorwort gegenüber dem Vorwurf, früher habe er Luther unterstützt und würde ihn nun bekämpfen: „Men ther som ieg haffde noghen tijdt wærid aff Luthers meningh, tha wilde iegh tacke gud, at hand haffde migh forløst aff then dieffuels snare“ (I, S. 188) (Sollte ich eine Zeit lang Luthers Ansicht geteilt haben, da wollte ich Gott dafür danken, dass er mich aus dieser Falle des Teufels befreit hat). Er verteidigt sich auch gegenüber Behauptungen, wonach er sich nicht an die Bibel halte. Sollte dies bewiesen werden können, „giffue thet Gud at meg offuer gaar, Gutz plage alle mand till aa sywn“ (I, S. 189) (möge Gott mich mit Plagen vor aller Augen strafen). Im Gegensatz zu Luthers monologischer Stimmführung kann in Poul Helgesens Übersetzung eine polyphone Stimme wahrgenommen werden. Es handelt sich zunächst um Luthers Stimme, denn dieser hat das Buch (Betbüchlein) verfasst, aber wir haben es mit einem Luther zu tun, den der Übersetzer anerkennen kann, indem er mit der Schere an Luthers Buch ging und seine Aussagen manipulierte. Insofern spricht auch Poul Helgesens Stimme. Hinzu kommt, dass dieser die Ansicht vertritt, die gesamte Tradition spreche mit, denn „das Richtige“ bei Luther sei bloß dasjenige, was Hieronymus, Bernhard von Clairvaux und die Heilige Birgitta vor ihm gesagt haben. Was Poul Helgesen in seiner Übersetztung präsentiert, ist eine seltsame Konstruktion. Katholiken und Protestanten sprechen für ihn mit einer Stimme. Man kann sagen, dass Poul Helgesen in seinem Text außer dem Kampf gegen Luther auch seine eigene Utopie einer Bewahrung der christlichen Einheitskirche präsentiert. So gesehen geht eine direkte Linie von der Übersetzung des Betbüchleins zu Poul Helgesens 1534 erschienener Übersetzung Een kortt Vnderwiisning til een christelig foreening och forligilse (Kurze Unterweisung einer christlichen Einigung) nach einer Schrift von Erasmus von Rotterdam. Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 111 Was mag sich Poul Helgesen bei einer solchen Mehrstimmigkeit vorgestellt haben? Wen hat er als seine Leser vor sich gesehen? Das Buch hat er Oluf Nielsen von Vallø gewidmet, dessen Familie angeblich in Katholiken und Protestanten aufgeteilt war. Wollte der Autor damit zeigen, dass kein Grund zur Uneinigkeit bestand, wenn nur das Schlimmste bei Luther ausradiert würde? Wir wissen es nicht. . ] Da es unzählige Ausgaben des Betbüchleins gibt, ist es schwierig, präzise zu entscheiden, welche Ausgabe Poul Helgesen bei seiner Übersetzung benutzte. Alfred Th. Jørgensen vertritt die Ansicht, dass es sich um eine Ausgabe von 1523 handeln müsse. Entscheidend ist jedoch, dass Poul Helgesen aus dem Betbüchlein und nicht aus Eine kurtz Form übersetzt, was aufgrund verschiedener Details belegt werden kann. In der Vorrede wird als Vorlage explizit das Betbüchlein erwähnt: „Thet er nu paa tredie aar, om megh rettelige drages til mynde, kiære Her Olwff Nielsen strenge ridder, at her kom til lande, een aff Morthen Lutherß bøger, som kalledis een bede bogh“ (I, S. 187) (Es ist nun im dritten Jahr, wenn ich mich richtig erinnere, lieber Herr Oluf Nielsen mächtiger Ritter, dass eines von Martins Luthers Büchern hierzulande ankam, welches ein Betbuch genannt wird). Der dänische Titel lautet in voller Länge: Een cristelig vnderwyszningh/ Paa the thy Gudz budord,/ Then menige cristen kirkis tro ock loffue,/ Wor Herris bønn Pater Noster,/ Oc huore Jesu Christi død oc pyne schulle rettelige begaas oc tracteris (I, S. 185) Eine christliche Unterweisung. Auf dass Gottes zehn Gebote, der Glaube und die Gesetze der allgemeinen christlichen Kirche, das Gebet des Herrn, das Pater Noster, sowie Tod und Leiden unseres Herrn Jesus Christus in rechter Weise befolgt und begangen werden mögen Poul Helgesen hat demnach den Titel von Betbüchlein in „christliche Unterweisung“ verändert. Gemessen am Inhalt des Buches ist die Veränderung konsequent. Er hat zudem Texte ausgewählt, so etwa die Gebote, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser und die Passionsbitten, jedoch das Ave Maria und die beiden Psalmen ausgelassen. Die ausgelassenen Stücke erwähnt er nicht, es heisst nur: Og forthi gaff ieg sompt macth, oc sompt icke macth. Tha ieg betencthe medt migh, at mange skulle fare wilt aff samme lerdom, om hant bleffue till hobe, fald thet megh y synde, at ieg wille sckelne thet gode fraa thet onde, oc huede fraa then wrenæ sæd, oc thet lade wdgaa paa Danske at theris synd kunde ther medt dragis fraa the tydske bøger, ther hwer mand tha leste saare gierne (I, S. 187f) Und deshalb war ich mit manchem einverstanden, mit anderem nicht. Da bei mir dachte, dass viele diese Lehre missverstehen würden, wenn der gesamte Text zusammenbliebe, kam es mir in den Sinn, dass ich das Gute vom Bösen und den Weizen vom Unkraut scheiden wolle und es auf Dänisch herausgeben, auf dass ihre [der Leute] Pil Dahlerup 112 Aufmerksamkeit damit von den deutschen Büchern abgelenkt würden, welche alle so gerne lesen. Dänische Leser erfahren hier nur, dass ausgewählt, jedoch nicht, was weggelassen wurde. Poul Helgesen entschied sich, Luthers Polemik gegen das Ave Maria sowie seine Auslegung zweier Psalmen zu verschweigen; er verzichtet jedoch darauf, diese Texte anzuführen und seinerseits gegen Luther zu polemisieren oder eine andere Auslegung zu bieten. Zu den Änderungen in der Textauswahl gehört etwa, dass Helgesen einen eigenen Text einfügt, eine Versifizierung des Vaterunser, ohne darauf aufmerksam zu machen, dass diese Passage nicht von Luther stammt. Auch in den ausgewählten Texten bringt Poul Helgesen einige Änderungen an. Alfred Th. Jørgensen behandelt den veränderten Titel und schreibt, dass einige Änderungen Luthers Text in eine katholischere Richtung zögen. So führt Poul Helgesen bei den Versündigungen gegen das dritte Gebot Folgendes an: „Om wy icke bekende wore synder for Gudt, met then acht at wy wille thennom bædre […] Om wy icke søge till messe oc almennelig bøn og tieniste“ (I, S. 200) (Wenn wir nicht unsere Sünden vor Gott bekennen in der Absicht, sie wieder gut zu machen […] Wenn wir nicht die Messe besuchen und das allgemeine Gebet und Werke verrichten). Jørgensen macht auch darauf aufmerksam, dass Poul Helgesen ein Zitat von Bernhard von Clairvaux ausgeweitet hat. Darüber hinaus fallen ihm vor allem die stilistischen Veränderungen auf, weil Luther kurze, Poul Helgesen hingegen lange Sätze bilde. Jørgensen findet jedoch, Poul Helgesen könne aufgrund der vorgegebenen Aufgabe sein Talent als Schreiber nicht ganz entfalten. Krister Gierow ist der Meinung, Poul Helgesen folge, abgesehen von der Textauswahl, Luther recht genau, nahezu wörtlich (Gierow, S. 20). Die Änderungen, die in der Wortwahl vorgenommen wurden, befinden sich Gierow zufolge in Übereinstimmung mit Luthers Auffassung. Auch er notiert Stilunterschiede. P. Severinsen zählt in seiner Ausgabe von Poul Helgesens Schriften eine (nicht vollständige) Reihe von Änderungen gegenüber dem Betbüchlein auf, ohne diese jedoch zu kommentieren. , & Einige Stichproben sollen angeführt werden, um zu sehen, bis zu welchem Grad Poul Helgesen Luthers Gottesbild gefolgt ist. Hier soll zuerst die Auslegung des Satzes „Vaterunser, der du bist im Himmel“ erwähnt werden. Luthers Auslegung im Betbüchlein wurde bereits zitiert. Bei Poul Helgesen heisst es: O Almegtiste Gud. Sidhen at thu aff thin vbegribelighe miskund oc gode willie haffuer icke alsom eniste vnt oss, men och saa budhet och lært oss, met thin eniste oc kæriste Søn wor Herre Jesu Christo, at wy sckule icke all ene tro teg at wære wor Fader, aff thijn eenbaarne søns detthingen oc werdsckyld, men oc saa, at wy ma triggelige kalde teg wor fader, dog at tw aff tilbørlig ret motte wære oss arme sindere, en streng, oc en hard dommere, thi at wy haffue saa offte, och saa swarlighe syndhet mod thijn Guddommelige oc allerbeste willie Tha beder ieg teg at tu aff then samme miskund oc gode willie, giffuer vdtij wort hierte een stadig loffue till thijn fæderlige kerlighed. Oc at thu lader oss fornymme wdi wort Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 113 hiærthe aff then Helliands insckud, thenne behaffuelige glede, ther oss giffuer een vskyllidig oc eenfoldig tryghed, saa ath vwy maa neffene teg Fader, elscke, bekende, oc paa kalde vdi all fare, och nød, thet aff een glede fuld hw, oc hiærthe Jeg beder thu wilt oss saa bewaare at wy altid motte bliffue thijne søner oc thet aldrig forsckylde, ath thu wor kiæristhe Fader, sckalt bliffue oss een streng, oc een hard Herre, saa at wy, icke heller bliffue thyne vwenner, ther nw ere thyne fry sønner, oc arffuinge. (I, S. 225f., Poul Helgesens Änderungen kursiviert) O allmächtigster Gott. Weil du aufgrund deiner unbegreiflichen Barmherzigkeit und deines guten Willens nicht nur uns allein vergönnt hast, sondern auch mit deinem einzigen und liebsten Sohn Unserem Herrn Jesus Christus gelehrt hast, dass wir nicht nur allein dir glauben sollen, unser Vater zu sein wegen deines eigengeborenen Sohnes Einigung und Verdienst, sondern auch, dass wir dich gewiss unseren Vater nennen sollen, doch dass du aufgrund gebührlichen Rechts uns armen Sündern ein strenger und harter Richter sein musst, denn wir haben so oft und so schwer uns gegen deinen göttlichen und allerbesten Willen versündigt. So bitte ich dich, dass du aufgrund derselben Barmherzigkeit und desselben guten Willens unseren Herzen ein festes Vertrauen auf deine väterliche Liebe schenken mögest, und dass du in unseren Herzen das Wirken des Heiligen Geistes vernehmen lässt, diese behagliche Freude, die uns eine unschuldige und einfältige Sicherheit gibt, so dass wir dich Vater nennen sollen, dich lieben, bekennen und anrufen in aller Gefahr und Not, und dies mit einem frohen Sinn und Herzen. Ich bitte, du mögest uns bewahren, dass wir immer deine Söhne bleiben mögen, und es nie verschulden, dass du, unser liebster Vater, uns ein strenger und harter Herr werden musst, so dass wir auch nicht deine Unfreunde werden, wir, die wir nun deine freien Söhne und Erben sind. Die Kursivierungen zeigen, dass einige Berichtigungen vorgenommen wurden, die im Kommentarband der Skrifter af Paulus Helie nicht angeführt werden. Einige Veränderungen können als überwiegend stilistisch charakterisiert werden, so die Superlativformen und einige tautologische Adjektive. Andere Veränderungen scheinen ideologischer Natur zu sein. Die zweimalige Erwähnung von Gottes „gutem Willen“ kann an die Vorstellungen von Gott geknüpft werden, wonach dieser von jeglicher Notwendigkeit befreit ist und deshalb radikal frei handelt. In gleicher Weise wird der freie Wille des Menschen in der Schlusspassage angedeutet „thyne fry sønner“ (deine freien Söhne). Das Gottesbild scheint etwas aufgeweicht zu sein, indem der „Richter“ das eine Mal mit „Herr“ ersetzt wurde, und die Menschen in Ungnade „vwenner“ (Unfreunde) genannt werden und nicht mehr „Feinde“. Der Heilige Geist wurde im Zitat von Poul Helgesen ergänzt; dies aufgrund seines generellen Standpunkts, demzufolge Gott sich außerhalb der Bibel offenbarte, sowohl vor als auch ihrer Niederschrift. Wenn das nicht so war, was sollten wir da mit dem Heiligen Geist? Andere Stichproben haben ergeben, dass keine ideologischen Veränderungen gezeigt werden können. So liegt Poul Helgesen auf der gleichen Linie wie Luther in seiner Ablehnung einer „syndig lyst“ (sündigen Lust) beim Anblick von Schönheit (vgl. I, S. 238f.), auch wirft er keinen größeren Blick auf Gott in seiner Eigenschaft Pil Dahlerup 114 als Schöpfer als Luther (vgl. I, S. 217f.). Das mag erstaunen, weil Poul Helgesen generell gegenüber Kunst offener als Luther ist. ^ ! Die weitgehende Übereinstimmung in den Texten von Luther und Poul Helgesen entsteht auch deshalb, weil Luther, wie gezeigt wurde, in vielen Punkten der mittelalterlichen christlichen Tradition folgt, etwa in der Auslegung der Zehn Gebote. Luther verbleibt Anhänger der „Schlüsselmacht“, er betont, die Erlösung sei nur durch die Kirche zu haben und hält an der Aufteilung der Sünden in verschiedene Kategorien fest. Poul Helgesen muss sich seinerseits dafür entschieden haben, einige „Kröten“ zu schlucken. So übersetzt er, ohne mit der Wimper zu zucken, die Polemik gegen die Pilgerreisen oder den Ablass (vielleicht weil er Reformkatholik war); bei verschiedenen Gelegenheiten lässt er den gebundenen Willen des Menschen durchgehen, ja, er fügt sogar das markante Bild für die totale Hingabe an Gottes Wille hinzu, indem er sagt, des Menschen eigener Wille sei schwach: „Ligerwijß som wy waare døde, eller wfødde“ (I, S. 208) (so als wären wir tot oder ungeboren). Luther und Poul Helgesen sind sich darin einig, dass gute Werke ohne die Gnade Gottes wertlos sind. Die Auffassung, wonach gute Werke allein bereits zur Erlösung führen können, findet man bei Poul Helgesen nicht. & * Aus dem Gesagten kann geschlossen werden, dass Poul Helgesens Übersetzung von Luthers Betbüchlein einen besonderen Fall von Transmission darstellt. Die Übersetzung ist Ausdruck katholischer Polemik und zugleich des Versuchs des Katholizismus, an der christlichen Einheit festzuhalten. Es erscheint verfehlt, die Übersetzung als die erste in der Reihe dänischer „evangelischer Gebetbücher“ anzuführen, da es sich nicht um ein Gebetbuch handelt und auch nicht besonders evangelisch ist. 3 3 6 . Christiern Pedersen übersetzte oder bearbeitete das Betbüchlein nicht weniger als drei Mal: Den rette vey till Hiemmerigis Rige (Der rechte Weg zum Himmelreich), Om vaar Herris død oc pine (Vom Leiden und Sterben unseres Herrn) und Huorledis huert menniske skal betencke vor Herris død oc pine (Wie jeder Mensch das Leiden und Sterben unseres Herrn bedenken soll), alle 1531 erschienen und herausgegeben in Band IV der Ausgabe Christiern Pedersens Danske Skrifter, aus dem hier zitiert wird. Mit Christiern Pedersen taucht ein Protestant als Luther-Übersetzer auf. Was geschieht dann? Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 115 3 3 ! % '' # ( # ? )@ A * 0 B Der Titel deutet vielleicht eine Zugehörigkeit zur Tradition an, auf jeden Fall liegt er nahe beim deutschen Die Himmelsstraße, wie weiter oben erwähnt wurde. Aber es kann sich auch um einen Protest gegen die Tradition handeln, weil der Ausdruck den „rette“ (richtige) Weg andeutet, dass es auch einen „falschen“ Weg geben müsse. Auf bildlichen Darstellungen kann man sehen, dass die Himmelstraße ihren Ausgangspunkt beim Beichtstuhl nimmt, wie in Stephan Lanzkrannas Himmelstrass 1510 (wiedergegeben bei Tentler, Sin and Confession). Christiern Pedersens Textauswahl umfasst die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, das Ave Maria und einen Kommentar zu einem Psalm. Die Stimmenführung ist ein Kapitel für sich. Christiern Pedersen erwähnt nicht, weder auf dem Titelblatt noch im eigentlichen Text, dass es sich um eine Übersetzung von Luthers Betbüchlein handelt. Stattdessen spricht er deutlich in eigenem Namen und beklagt in Einschüben seine katholische Vergangenheit, z.B. „Jeg holdt oc før meget aff samme bønner i min forblindelse“ (IV, S. 214) (Ich habe früher in meiner Verblendung die gleichen Gebete auch sehr geschätzt). Christiern Pedersen hat noch andere Einfälle, über die er den Leser auch nicht aufklärt. Die Kenntnis darüber verdankt man dem Herausgeber C.J. Brandt. Pedersen weitet den Text aus, indem er zwei frühere Schriften Luthers und außerdem eine Schrift eines weiteren Autors, Urbanus Rhegius (1490-1541), einfügt, ohne dies genau kenntlich zu machen. Er weist unermüdlich auf die Bibel als „Beweis“ für seine Standpunkte hin. Die sprechende Stimme gibt vor, der bekehrte Christiern Pedersen mit allen seinen Bibelstellen zu sein. Aber gleichzeitig fließt auch Luthers Stimme des Betbüchleins mit ein wie einige jüngere Stimmen Luthers. Hinzu kommt eine ganz andere Stimme. Wahrhaft eine Vielstimmigkeit, die sich als Einstimmigkeit ausgibt. Luthers Vorwort zum Betbüchlein beansprucht eine halbe, Christiern Pedersens Vorwort dreieinviertel Seiten. Das ist symptomatisch für die gesamte Schrift. Diese Ausweitung ist Pedersens Stil zuzuschreiben, seiner Volksverbundenheit und seinem Interesse an Verdeutlichung. Viel Raum nimmt die Polemik gegen die bis dahin verwendeten katholischen Gebetbücher ein: I blant mange andre skadelige bøger og falske lerdomme/ Meth huilcke christne menniske haffue før vered skadelige bedragne i mange aar och ille oc wrettelige lærde oc vnderuisde (Aff huilke megen vantro/ oc stor vildfarelse er kommen i cristendommen) Da ære de bøger icke de minste der i blant/ som man før pleyede mest ath bruge […] (IV, S. 213) Unter manchen anderen schädlichen Büchern und falschen Lehren, mit welchen christliche Menschen früher während vieler Jahre aufs Schädlichste betrogen und schlecht und unrichtig gelehrt und unterrichtet worden waren (wovon viel Aberglaube Pil Dahlerup 116 und großer Irrtum ins Christentum kam), sind vor allem diejenigen Bücher, die man früher am meisten benutzte […]. Das Zitat zeigt den tautologischen Stil „lærde og vnderuiste“ (gelehrt und unterrichtet), „vantro og vildfarelse“ (Aberglauben und Irrtum). Rhetorisch vorherrschend ist eine Dämonisierung der traditionellen Gattungen. Es wird eine Unmenge verschiedener Arten von Gebetbüchern aufgezählt, viel mehr als bei Luther, vor allem mit der Absicht, diese als religiös gefährlich zu brandmarken. Eine Reihe dieser Bücher kursierten in Dänemark zu Beginn des 16. Jahrhunderts und sollten nun ausgemerzt werden. 2 , & Christiern Pedersen folgt hier im großen Ganzen Luther. Der größte Unterschied liegt in der Umständlichkeit, in Pedersens konkreterer Einsicht in die Alltagsfrömmigkeit des Volks und in seinem Bestreben zur Verdeutlichung. Zusammen bewirken diese Züge, dass seine Schilderungen der Zustände, die es zu verbessern gelte, zu kleinen Skizzen des Volkslebens werden. Die Ausführungen zur Versündigung gegen das erste Gebot („Du sollst keine anderen Gottheiten neben mir haben“) beginnen folgendermaßen: Den synder mod det føste Gudz bud som bruger troldom/ den sorte konst/ eller atspør dem som bruge saadan dieffuelens konst/ som er troldkoner/ och troldkarle/ spaamend oc tryller Oc hvu som brwger swerd breff eller andre breff mod nogen liffuis fare vand/ vær storm/ eller i anden nød/ Eller vrter/ eller ord tegen signelser/ eller anden saadan ting De som brwge sticker/ staall kors kristall/ spegel/ bøger/ ord oc serdelis naffn oc lesninger till ath tage liggende fæ/ oc penninge op aff iorden meth Oc de som tage milk oc smør med troldom fra andre folk (IV, S. 222) Derjenige sündigt gegen das erste Gebot Gottes, der Zauberei benutzt, die schwarze Kunst, oder nach ihr fragt, der, der solche Teufelskunst braucht, wie dies Zauberfrauen und Zaubermänner, Wahrsager und Zauberer tun. Und wer Schwertbriefe und andere Briefe gegen Lebensgefahr, Wasser, Unwetter, Sturm oder in anderer Not braucht. Oder Kräuter oder Worte, Zeichen, Weihehandlungen oder andere solche Dinge. Diejenigen, die Nadeln, Stahl, Kreuze, Kristall, Spiegel, Bücher und besonders Namen und Sprüche benutzen, um Vieh und Geld, das auf der Erde liegt, hoch zu nehmen. Und diejenigen, die mit Zauberei Milch und Butter von andern Leuten nehmen. Passagen wie diese und ähnliche können wie erwähnt später als Schilderungen des Volkslebens gelesen werden. Man soll jedoch nicht die Dämonisierung und die Bereitschaft gegenüber Zauberei übersehen, die hier aufgebaut wird und die in späteren Jahrhunderten in den Hexenverbrennungen resultierte. Der Kampf der Geistlichkeit gegen das Volkstümliche war nicht unschuldig. In der Auslegung der Zehn Gebote finden sich bei Christiern Pedersen stets ausführliche Beispiele von Recht und Unrecht. Beim vierten Gebot erwähnt er alle diejenigen, denen man außer Vater und Mutter gehorchen soll: Könige, Herren, Fürsten, Bürgermeister, Ratsleute, Prediger, Schulmeister „og alle andere gode Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 117 læremestere och twctmestere“ (IV, S. 220) (und alle anderen guten Lehr- und Zuchtmeister). Bei der Auslegung zum fünften Gebot „Du sollst nicht töten“ bringt er Beispiele für Flüche, die zu unterlassen sind, sowie Zeichen mit dem Mund und den Fingern, die man nicht machen darf. Beim sechsten Gebot verdeutlicht er all die Formen von Unzucht, die man nicht betreiben soll, darüber hinaus sind noch Homosexualität und „molles“ eingefügt: Hwo som bruger eller gør nogen wkyskhed med vtilbørlige personer emod naturen/ eller i wbequemmelige maade som kallis de stwme synder (IV, S. 227) Wer Unkeuschheit mit unziemlichen Personen, wider die Natur, oder in unangebrachter Weise betreibt, was die stummen Sünden genannt werden […]. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich Christiern Pedersen als ein protestantischer Genrewächter, indem er die „unzüchtige Lektüre“ aufzählt, Bücher also, die man nicht lesen soll: Hwo som opuecker nogen ond begerring eller løst til wkyskhed i sig selff eller i nogen anden med viser/ sang/ ord/ løse tale/ historier Krønicker ewentyr/ sendsager eller met andre saadanne sticke/ eller met billede oc malning (IV, S. 227) Wer böse Begierde oder Lust zur Unkeuschheit in sich selbst oder bei jemand anderem erweckt mit Hilfe von Liedern, Gesang, Worten, lockerem Gerede, Historien, Chroniken, Fabeln, Wahrsagerei oder anderen solchen Dingen, oder mit Hilfe von Bildern. In der Auslegung zu „Du sollst nicht stehlen“ zählt er verschiedene Formen von Sünde in wirtschaftlichen Zusammenhang auf, zum achten und neunten Gebot werden aus Luthers halber Seite bei Pedersen zweieinhalb Seiten, unter anderem deswegen, weil er hier sein eigenes Zugpferd einbringt, die Polemik gegen die guten Werke. Vereinzelt können einige kleinere Veränderungen im Gottesbild festgestellt werden. Luther schreibt „Vater und guter Freund“ (WA 10.2, S. 377), Christiern Pedersen dagegen „kere fader/ og alder beste ven“ (IV, S. 219) (lieber Vater und allerbester Freund). Christiern Pedersen verwendet auch die Mutterschaftsmetaphorik: „at wi fødis igen paa ny i den anden tilkommende verden“ (IV, S. 230) (auf dass wir wiedergeboren werden in der anderen, kommenden Welt). Luther schreibt: „dass das Fleisch zu Pulver und wieder erschaffen wird“ (WA 10.2, S. 385). , & & $ In der Übersetzung dieses Abschnitts aus dem Betbüchlein entfaltet sich Christiern Pedersen ungemein, er begnügt sich hier nicht mehr nur mit populären und tautologischen Erweiterungen, sondern bringt auch markante ideologische Ergänzungen an. Wie Luther beginnt er im Kleinen, indem er zwischen zwei Bedeutungen des Wortes „Glauben“ unterscheidet. Die alltägliche Bedeutung ist diejenige, von etwas überzeugt zu sein, dass es existiert, z.B. „Türken, Teufel und Hölle“ (Luther). Das Pil Dahlerup 118 wird bei Pedersen zu „Paffue/ en twrker eller en keyser […] dieffuelen och helffuede“ (IV, S. 239 (Papst, ein Türke oder ein Kaiser […], der Teufel und die Hölle). Die Hinzufügungen müssen als Ausweitung einer Negativliste gesehen werden. Darauf folgt eine bedeutende Änderung: 45 Seiten eines ganz anderen Verfassers als Luther werden eingefügt, wohl verstanden ohne jegliche Form von Markierung. Urbanus Rhegius (1489-1541) war deutscher Pfarrer und Reformator, der während dieser Zeit mit Luther zusammen arbeitete. Ab 1524 war er evangelischer Pfarrer in Augsburg, 1530 trug er zur Ausgestaltung der Confessio Augustana bei und war ab 1530 verantwortlich für die Pfarrerausbildung in Celle. Er verfasste zahlreiche reformatorische Schriften. Die Seiten, die in Den rette vey till Hiemmerigis Rige eingehen, stammen aus seiner Schrift Die zwölf Artikel unseres Christlichen Glaubens (1523). C.J. Brandt erwähnt nur, dass Rhegius das Glaubensbekenntnis in zwölf Artikel einteilt, während Luther drei habe. Rhegius’ Werk wurde 1528 ins Dänische übersetzt. Rhegius benutzt seine lange Auslegung des Glaubensbekenntnisses zu einer eingehenden Darlegung des Begriffs „Glauben“. Alles ist in einem freundlichen und erklärenden Ton gehalten. Ein Hauptpunkt ist dabei die Trennung von Glauben und Vernunft. Die Glaubensartikel können von der menschlichen Vernunft nicht verstanden werden, sie müssen geglaubt werden. Rhegius gibt sich große Mühe zu erklären, dass man mit dem Herzen glauben soll und erteilt auch gute Ratschläge demjenigen, der nicht glauben kann. Das Gottesbild bei Rhegius ist anders und viel weitgefasster als bei Luther. In seiner Auslegung des Glaubensbekenntnisses betont er im Gegensatz zu Luther ausdrücklich sowohl Gott als „Schöpfer“ als auch als „Allmächtigen“. Im Kommentar zu „Som skabte hiemmel oc iørd“ (IV, S. 248) (der Himmel und Erde erschaffen hat) heißt es: Det staar screffuit Genesis i det første capittel Ath Gud skabte hiemmel oc iord i begyndelsen/ Esaias scriffuer oc meget der om i sit xxxvii/ xl/ oc xlv/ cap/ Oc den hellige scrifft er fuld der aff Ath Gud skabte hiemmel oc iord/ Dette kan mennisken ikke see eller forstaa aff sin egen nature Thi ath naturen kan icke forstaa skabelsens store vnderlige ting og gerning/ Naturen kan icke heller begribe oc forstaa huorledes det kan noget skabis aff inted Men Troens lius oc forstand kan vel merke/ besinde/ oc forstaa huorledis alle ting ere skabte og kunde skabis aff Gud/ som S Pouil siger til de hebreer i det xi c (IV, S. 248) Im ersten Kapitel der Genesis steht geschrieben, dass Gott im Anfang Himmel und Erde erschuf. Jesajas schreibt auch viel darüber in seinem 37., 40. und 45. Kapitel, und die Heilige Schrift ist voll davon. Dass Gott Himmel und Erde erschuf, können die Menschen nicht sehen oder verstehen kraft ihrer eigenen Natur, denn die Natur kann die großen und wunderbaren Dinge und Werke der Schöpfung nicht verstehen. Die Natur kann auch nicht verstehen, wie etwas aus nichts erschaffen werden kann. Aber das Licht des Glaubens und der Verstand können wohl merken, besinnen und verstehen, wie alle Dinge geschaffen sind und geschaffen werden konnten durch Gott, wie es auch der Heilige Paulus den Hebräern im 11. Kapitel sagt. Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 119 In dieser Textpassage finden sich einige zentrale Gedankengänge von Rhegius, etwa das Schöpfungswunder, das in seine Gottesauffassung mit hineinspielt. Er legt Wert darauf, dass Gott aus nichts geschaffen habe, und in der Verlängerung des angeführten Zitats trennt er zwischen Heidentum und Christentum, indem er genau von diesem Punkt ausgeht. Die Heiden bestreiten die Möglichkeit einer Erschaffung aus dem Nichts, deshalb ist das kleinste christliche Mädchen klüger als der große heidnische Philosoph Aristoteles, denn es glaubt, dass Gott aus dem Nichts erschaffen habe. Wesentlich im Zitat ist die wiederholte Hervorhebung, dass die „Natur“ in Glaubenssachen zu kurz komme. Mit „Natur“ muss der natürliche Mensch verstanden werden, der sich an seine Vernunft hält wie die „Heiden“. Rhegius’ Gottesbild umfasst auch die „Allmacht“, die er auslegt. In seinen Erläuterungen von „Vater“ hat das Wort „Richter“ keinen Platz; es ist ausschließlich „en trøstelig ting/ Thi ath han er vor fader/ Da ere wii oc hans børn og arffuinge“ (IV, S. 247) (eine tröstliche Sache. Denn ist er unser Vater, so sind wir seine Kinder und Erben). Auch Rhegius’ Bild von Jesus ist vielfältig: Er ist die ewige Weisheit (vgl. die feministischen Theologen über Sophia), er ist der Messias, der Erlöser, Gottes Sohn, die Hoffnung und Erlösung, Gesalbter und König (vgl. IV, S. 250). Der lange Einschub des Textes von Rhegius kann als eine Form von Kritik an Luther aufgefasst werden. Wäre Christiern Pedersen mit dem Betbüchlein zufrieden gewesen, hätte er sich an diese Schrift halten können. Es ist interessant zu sehen, dass die Textpassage von Rhegius ein ganz anderes Gottesbild als Luthers beinhaltet. Es ist demnach nicht nur so, dass Luthers Gottesbild enger als dasjenige in den katholischen Katechismen vor und nach ihm ist; es ist auch begrenzter als dasjenige eines zeitgenössischen Protestanten. Die Selbständigkeit der Übersetzung Christiern Pedersens im Verhältnis zu Luther ist bemerkenswert. Das sieht man auch daran, dass er dagegen protestiert, Maria als Magd zu bezeichnen (was Luther tat): „Det er en vng pige (dog icke en tieniste pige“ (IV, S. 256) (Es ist ein junges Mädchen, doch keine Dienstmagd). Christiern Pedersen fügt außerdem eine Strophe von „Christ erstand von den Toten“ ein (IV, S. 262). Man muss sich jedoch hüten, Pedersen zu früh ideologisch zu vereinnahmen. Das zeigt sich, wenn man das Vaterunser in seiner Übersetzung des Betbüchleins betrachtet. Das Mittelstück in Christiern Pedersens dänischer Übertragung folgt Luther ziemlich genau. Der Wortreichtum und einige vorzugsweise benutzten Adjektive und positive Substantive zur Bezeichnung des Vatergottes machen den größten Unterschied aus. Luther schreibt etwa: „Szo gib unß durch die selb barmhertzickeyt ynn unßer hertz eyn tröstliche tzuvorsicht deyner vetterlichen lieb …“ (WA 10.2, S. 395). Das wird bei Christiern Pedersen zu: Thi giff oss Alder keriste Fader for din wsigelige miskundhed skyld en fast tro oc haab til dig i vore hierte/ At wi mwe aldelis for vden alt twill forlade oss til din faderlige kerlighed miskundhed oc naade Pil Dahlerup 120 (IV, S. 307, Hinzufügungen kursiviert) So gib uns, allerliebster Vater, um deines unsagbar großen Erbarmens willen einen festen Glauben und Hoffnung auf dich in unsere Herzen ein, auf dass wir uns ohne jeden Zweifel auf deine väterliche Liebe, dein Erbarmen und deine Gnade verlassen mögen. Indem Christiern Pedersen zwei andere Texte Luthers in seine Übersetzung des Betbüchleins hineinnimmt, vergrößert er die ursprüngliche Textmasse. Das betrifft die Einleitung der Schrift Auslegung des Vaters unsers für die einfaltigen Layen (1518), wo die Abschnitte „Wie sollen wir beten“ und „Mit welchen Worten sollen wir beten“erläutert werden. Der Hauptpunkt in dieser Schrift betrifft den Unterschied zwischen „äußerlichem Gebet“ und „Gebet des Herzens“. Es wird zwischen drei Arten von „äußerlichem Gebet“ unterschieden: Pflichtgebete, die von Pfarrern, Mönchen und Nonnen verrichtet werden, das bezahlte Gebet, das von Pfarrern vorgenommen wird sowie schließlich das äußerliche Gebet, das mit einem innerlichen Gebet einhergehen kann. Das Gebet des Herzens ohne äußerliche, sichtbare Zeichen wird jedoch als ideales Gebet angesehen: Ath bede i aanden/ eller at bede aandelige/ Det sigis emod den legemelige bøn oc vduertis bøn Oc at bede i sandhed Det sigis emod den bøn som skeer lige som ith skin eller syn Thi at hun sker i skined oc synen legemelige og vduertis till Det er ath mand lader munden/ leberne/ oc tungen fast gaa/ oc bruger dem vduertis oc murler oc brumler meget for vden hiertens grwnd oc mening/ (IV, S. 303f.) Im Geist oder geistig zu beten, widerspricht dem körperlichen und äußerlichen Gebet. Und in der Wahrheit zu beten, widerspricht dem Gebet, das gleichsam wie ein Schein vor sich geht, denn dies geschieht im Schein und scheint körperlich und äußerlich zu sein. Bei diesem lässt man den Mund, die Lippen und die Zunge sich bewegen und braucht diese Teile [nur] äußerlich und mummelt und brummelt viel ohne Grund und Sinn des Herzens. Für eine theoretische Betrachtung bietet der Abschnitt „Hworledis wij skulle bede“ (IV, S. 303-305) (Wie wir beten sollen) viel. Übergeordnet sieht man eines der äußersten Glieder in Luthers semiotischem Bruch mit dem Katholizismus. Wie er auf der obersten Stufe in diesem Bruch jegliche Vermittlung zwischen Gott und dem Menschen (abgesehen von Jesus) abweist, weist er auch auf allen anderen Ebenen Zeichen ab, die das Irdische und das Himmlische verbinden könnten. Deshalb verwirft er alle äußeren Zeichen der Andacht, wobei er jedoch die Möglichkeit offen lässt, dass das äußere Gebet in eine innere Wahrheit „gewendet“ werden kann. Die klösterlichen Gebete der Mönche und der Nonnen rangieren tief, werden aber als Pflichtarbeit auf derselben Ebene wie andere Pflichtarbeiten anerkannt. (Später sollte die Polemik gegen „unnütze“ Klosterarbeit zum Hauptbestandteil protestantischer Polemik werden). In den Gegensatz zwischen „äußerlich“ und „innerlich“ fließt deutlich die Antithese „fleischlich“ versus „geistig“ hinein. Luthers Reformeinsatz stellt hier primär einen Protest gegen die Vorstellung dar, wonach die Anzahl von Gebeten in sich selbst bereits eine Qualität besitze, und gegen den Ablasshandel im Zusammenhang mit dem Gebet. Aber im Protest gegen diese „Äußerlichkeit“ Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 121 übersieht Luther das pädagogische Potential der Zeremonien, d.h., deren Möglichkeit, durch die äußere Ehrfurchtshaltung auch eine innere Ehrfurcht zu erzeugen. Es lässt sich hierbei auch feststellen, inwiefern versucht wird, das volkstümliche Andachtsleben zu kontrollieren, wenn nicht nur der Gebetsinhalt, sondern auch die Art, wie gebetet wird, reguliert werden soll. Im Abschnitt „Meth hwad ord/ och hwad wij skulle bede“ (IV, S. 305-307) (Mit welchen Worten und wie wir beten sollen) wird die Meinung vertreten, das Vaterunser allein reiche als Gebet; allen anderen Gebeten, die in der kirchlichen Tradition allmählich das Vaterunser verdrängt haben, wird der Kampf angesagt. Man kann sagen, dass Christiern Pedersen mit diesem eingesetzten Textstück dazu beitrug, das Betbüchlein statt zu einem Gebetbuch zu einem Buch über das Gebet zu machen. 9 Christiern Pedersen übernimmt noch einen weiteren Luther-Text in seine Bearbeitung des Betbüchleins, und zwar handelt es sich um eine Passage aus Luthers Kurzer Begriff und Ordnung aller vorgeschriebende Bitten (1520). Es ist das Vaterunser als Dialog zwischen der Seele und Gott. Pedersen gab dem Text die Überschrift: „En stacked vdtydning paa Pater noster mellem Gud oc Sielen“ (IV, S. 321-325) (Eine kurze Ausdeutung des Pater noster zwischen Gott und der Seele). Dies ist ein bemerkenswerter Text. Zunächst fällt auf, dass Luther das Vaterunser in Form einer Fiktion auslegt. Zwar bestehen die Repliken Gottes zumeist aus Bibelzitaten, jedoch ist religiöse Fiktion eine Textform, die von den Reformatoren normalerweise als durch den Menschen geschaffene „Dichtung“ und „Fabel“ verworfen wird. Im Weiteren eröffnet die Analyse dieses Textes interessante hermeneutische Probleme. Es muss davon ausgegangen werden, dass Luther selbst diesen Text verfasste und Christiern Pedersen ihn übersetzte, um dem Gläubigen eine Möglichkeit zu geben, das zentrale Gebet der Christenheit zu verstehen. Es muss auch vorausgesetzt werden, dass beide ihre Arbeit in Ehrfurcht vor Gott gemacht haben. Der Text sieht im Lichte einer modernen Analyse anders aus. Er gibt einen erschreckenden Einblick in ein Verhältnis, bei welchem der eine Part, das Kind, fleht und seine Unwürdigkeit eingesteht, wohingegen der andere Part, der Vater, bei seinen Vorwürfen bleibt und die Bitten der Seele abweist. Der erste Teil dieses Dialogs lautet folgendermaßen: Sielen siger/ Vor fader som est i hiemmelen/ wij ere dine arme børn her paa iorden/ och skilde fra dig her i denne store elende/ O hwilket ith suart hinder og skilsmaal er der mellem oss oc dig/ Hvuorledis skulle wi nogen tid komme hiem til dig i vort federne rige Gud suarer som Malachias siger i det første ca/ Ith barn elsker sin fader oc en swend hedrer sin herre Er ieg eders fader/ Huor er da den kerlighed som I skulle haffue til mig/ Er ieg eder herre/ Huor er da den tieneste/ frøct oc ære som I skulle gøre mig/ Thi mit hellige naffn bliffuer daglige lastet bespottet oc vanæred aff eder oc hoss eder/ som Esaias siger i det lii capit/ (IV, S. 321) Pil Dahlerup 122 Die Seele sagt: Unser Vater, der du bist im Himmel, wir sind deine armen Kinder hier auf Erden und getrennt von dir hier in diesem großen Elend. Oh, welches schwere Hindernis und Trennung befindet sich zwischen uns und dir. Wie sollen wir jemals zu dir nach Hause gelangen in das Reich unserer Väter? Gott antwortet wie Malachias im ersten Kapitel sagt: Ein Kind liebt seinen Vater, und ein Knecht ehrt seinen Herrn. Bin ich euer Vater, wo ist denn die Liebe, die ihr mir gegenüber haben solltet? Bin ich euer Herr, wo ist da der Dienst, die Furcht und Ehre, die ihr mir erweisen sollten? Denn mein heiliger Name wird täglich gelästert, bespottet und entehrt von euch und bei euch, wie Jesaja im 52. Kapitel sagt. Die Analyse dieses Wortwechsels zeigt eine Kinderfigur, die eine Frage stellt („wann können wir zu Dir nach Hause kommen“), und einen Vater, der auf diese Frage nicht antwortet , sondern stattdessen mit Vorwürfen reagiert. Diese entsprechen nicht dem Verhalten des Kindes, das liebevoll spricht; „der Vater“ jedoch hört es nicht. Stattdessen wirft er dem Kind mangelnde Liebe vor. Der Dialog setzt sich gleicher Weise in allen sieben Gebeten des Vaterunser fort. Das „Kind“ räumt alles ein, löst dadurch jedoch nur weitere Vorwürfe aus. Das psychologische Textverfahren ist diese Struktur von Bitte und Abweisung, das folgerichtig damit endet, dass der Vater überhaupt nicht mehr auf die letzte Bitte des Kindes antwortet. Die Anrufung verhallt unbeantwortet in der Leere. Es gibt keine Gnade in diesem Text, nicht einmal Gerechtigkeit. Man könnte das Vorhandensein dieses Textes in Luthers und Christiern Pedersens katechetischen Schriften damit erklären, dass die psychologische Struktur, die für einen modernen Leser augenfällig ist, für die damaligen Autoren nicht sichtbar war. ! " Wie oben erwähnt, hat Maria in Luthers Betbüchlein einen besonderen Status; sie verliert ihren Heiligenstatus, wird jedoch aufgrund ihres vollumfänglichen Gnadenzustands auf einem anderen Niveau als die übrige Menschheit platziert. Christiern Pedersen folgt Luther, schärft jedoch die protestantische Sichtweise. So merkt er an, Maria sei „vden al sin fortieniste“ (IV, S. 326) (ohne eigenen Verdienst) in den Gnadenstand gekommen. Er übernimmt auch den Aspekt aus Luthers Artikel über das Magnificat (1527), Maria rühme sich nicht ihrer Demut wegen. Man kann sagen, dass Christiern Pedersen gewissermaßen Luthers Sicht auf Maria aktualisiert. Im Gegenzug hat er immer noch Engel und Heilige, und wo Luther Maria mit dem „Himmel, der Sonne und allen Kreaturen“ vergleicht, denkt Pedersen an „Soll Maane eller stierner oc andre deylige dyrebare creature“ (IV, S. 326) (Sonne, Mond oder Sterne und andere kostbare Geschöpfe). Er weitet den Schluss des Textes mit Betrachtungen über die Gebete der Lippen und des Herzens aus und vergisst nicht zu erwähnen, „ath alle menniskis hierte ere onde aff deris egen nature“ (IV, S. 329) (dass die Herzen aller Menschen schlecht sind aufgrund der menschlichen Natur). Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 123 ^ " . Mit seinem Kommentar zum zwölften Psalm Davids demonstriert Pedersen eine spezielle Rhetorik, die besonders für ihn ist, nämlich den Kommentar, der mit dem kommentierten Text selbst gar nichts zu tun hat. Ein einziger Vers aus dem zwölften Psalm ist erkennbar: „Die Reden des Herrn sind lautere Reden, / sind Silber, im Tiegel zu Boden geschmolzen, / siebenfach geläutert.“ Der Rest ist protestantisches Allgemeingut über die falsche Lehre des Papstes und über den verwerflichen Glauben an gute Werke. 3 3 3 )' ! * + ) ' ? )@ A ? : B & # A , " ^ , "& Diese Schrift Christiern Pedersens (vgl. IV, S. 161-187) weist einige interessante Entwicklungen der Reformationszeit im Kampf um die Andacht auf. Luther sah ein, dass er die via dolorosa-Gebete weiterführen musste und war auch selbst überzeugt vom großen pädagogischen Wert der Bilder. Deshalb fügte er im Nachhinein ein illustriertes Passional in sein Betbüchlein ein. Die Schrift war so eingerichtet, dass jedem Bild einige Bibelzitate zugeordnet waren. Luthers Passional beinhaltete 49 Bilder, elf mit einem Motiv sowie dazugehörendem Text aus dem Alten Testament und 38 mit Motiv und Text aus dem Neuen Testament. Christiern Pedersen benutzte vermutlich eine Ausgabe von 1530. Wie im Betbüchlein gehört die Gattungsauflösung zu Luthers indirekten polemischen Wirkungsmitteln. Er kümmerte sich nicht um die Tradition mit den Bitten oder Betrachtungen zu den verschiedenen Stationen von Jesu Leidensweg. Er löste das Genre von innen her auf, indem er zwar Texte und Bilder aus der Passionsgeschichte entnahm, diesen jedoch zahlreiche andere Bilder und Texte aus dem Schöpfungsbericht und anderen Bibelstellen hinzufügte. In Wirklichkeit schrieb er auf diese Weise eine Mini-Bibelgeschichte. „Det er i højere grad en „lægmandsbibel“ end et passionale“ (Jensen, S. 151) (Es handelt sich eher um eine „Laienbibel“ als um ein Passional). Christiern Pedersen verändert wie immer den Text, den er übersetzt. Die größte Änderung ist dabei, dass er den Text zur Leidensgeschichte zurückführt. Auf Gattungsniveau unterminiert er auf diese Weise Luther in dessen Kritik der Passionstradition. # " Luther betrachtete die Bilder als religiös gleichgültig (adiaphoron); sie sind in sittlicher Hinsicht neutral. Nur das Wort vermag Gott auszudrücken. Luther sah aber auch den pädagogischen Effekt der Bilder und war gegen einen Bildersturm. Christiern Pedersen weitet in seinem Passional die Verteidigung der Bilder aus. Er empfiehlt ohne Umschweife, die Menschen sollten biblische Bilder an die Wände ihrer Häuser malen. In seinem charakteristischen tautologischen Stil schreibt er u.a.: Pil Dahlerup 124 Thi er det endelige nøtteligt oc tilbørligt at huert menniske læser taler/ maler hører/ merker/ besinder oc i hwkommer aff alt sit hierte Gudz vnderlige velgerninger oc hans ord oc lerdom (IV, S. 162) Denn es ist schließlich nützlich und angemessen, dass ein jeder Mensch von ganzem Herzen von Gottes wunderbare Taten, seine Worte und seine Lehren liest, spricht, sie bildlich darstellt, hört, diese bedenkt und erinnert. Die Aussage ist religiös korrekt. „Erinnern“ drückt Luthers Auffassung aus, wonach Bilder das Göttliche nicht selbst repräsentieren können, sondern nur daran „erinnern“, was das Wort darüber ausgesagt hat. Pedersen gibt auch eine nüchterne Gebrauchsanweisung: man müsse nicht zehn oder zwölf Bilder täglich betrachten, ein bis zwei würden vollauf genügen. Außerdem soll man sich natürlich nicht damit begnügen, zu sehen und zu lesen, vielmehr soll man das Passional nachleben. Deshalb nennt er das Buch auch einen „Spiegel“ und ein „Beispiel“. Johan Jensen hat in seinem Artikel einige der Passionsbilder aus Pedersens Passional abgebildet. Das Interessante bei diesem Bildmaterial Pedersens ist, dass ein Teil davon aus der katholischen Tradition stammt. Einiges davon mag der Zufälligkeit der Bildbeschaffung geschuldet sein. Da jedoch auch der Text selbst katholische Züge aufweist, muss eher von einer Einarbeitung gewisser katholischer Traditionen in das Buch ausgegangen werden, das eigentlich mit eben dieser Tradition brechen wollte. # 0 Christiern Pedersens Passional ist um die Bilder herum aufgebaut; jedes Bild hat seinen eigenen Text, der aus Bibelzitaten mit oder ohne Hinzufügungen durch den Autor besteht. Nach dem Bibeltext folgt jeweils ein Gebet, das von Pedersen selbst verfasst wurde. Die Gebete fungieren im Prinzip so, dass die konkrete Situation des Bilds und Bibeltexts zu einer überführten Bedeutung im Gebet umgeformt wird, etwa: O Leffuende Gudz Søn som lost dig omskere effter Mosi low/ […] Verdis till for din miskundhed/ at omskere vaare hierte hw och sind fra alle onde begerelser/ (IV, S. 167) O du lebendiger Sohn Gottes, der du dich nach dem Gesetz Mose beschneiden ließest […] Sei verehrt für deine Barmherzigkeit, auch in uns Herz und Sinn von allen bösen Begierden zu beschneiden. Mit dem Alten Testament ist Pedersen bald fertig; nur zwei Bilder mit dazugehörendem Text stammen daraus (elf dagegen bei Luther). Darauf folgen 45 Bilder, die das Neue Testament illustrieren. Christiern Pedersen ist an mehreren Stellen religiös korrekt. Im Gebet zur Verkündigung sorgt er dafür, dass die Hinwendung zu Jesus geschieht: „O leffuende Gudz søn“ (IV, S. 165) (O lebendiger Sohn Gottes), nicht zu Maria. Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 125 Seine protestantisch „unkorrekten“ Bildtexte konzentrieren sich, wie von Johan Jensen bemerkt wurde, um die Passion. Er hat Mühe, die spätmittelalterliche Passionstradition mit ihrem Ausmalen der Leiden fallen zu lassen: […] sex karle hudstruge Jesum/ to sloge hannem met bremle riss oc hyben torn/ oc to met riss og suøber och to med smaa iern lencker saa ath der vaar inted helt pa hans hellige legeme fra hans taap/ oc til hans taa (IV, S. 177) […] sechs Knechte geißelten Jesus, zwei schlugen ihn mit Dornenruten und Dornen von der Heckenrose, zwei mit Ruten und Peitschen und zwei mit kleinen Eisenketten, so dass an seinem heiligen Leib nichts mehr ganz war vom Scheitel bis zu den Zehen. Diese Sätze findet man weder bei Luther noch im Neuen Testament. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Stellen seiner Passionserzählung, z.B. die Blöße Jesu, die Maria zudeckt, Details bei der Kreuzigung, Maria mit dem toten Leib Jesu oder die Höllenfahrt. Christiern Pedersen beschließt diese Schrift mit einer wörtlichen Übersetzung der Psalmen 67, 51 und 136. B " Es kann nicht in Zweifel gezogen werden, dass Pedersen Protestant war. Wie gewöhnlich ist er heftig in seiner Polemik gegen die Katholiken: „Saadanne/ løsactige lerdomme“ (IV, S. 195) (Solche unzüchtigen Lehren), „saadan løssactig betenckelse“ (IV, S. 196) (solche unzüchtigen Überlegungen). Er bittet Jesus um „dine sande ord oc evangelia“ (IV, S. 186) (dein wahres Wort und Evangelium) und wünscht, „al menniskens dict løgn/ fabel/ exempel/ oc squalder som de haffue selff opdictet oc drømit effter deris egne hoffuit oc gode tøcke“ (IV, S. 186) (jede menschliche Erdichtung, Lüge, Fabeln, Exempel und solches Geplapper, das sie selbst erdichtet und erträumt nach ihrem eigen Kopf und Belieben) zurück zu lassen - anscheinend ohne zu sehen, dass auch er selbst dichtet und träumt, etwa in allen Gebeten. In seiner Verdammung der Volksbräuche entwirft er selbst lebendige Bilder des Volkslebens, z.B. dass man „Schwertbriefe“ und „Kreuzesbilder“ trägt als Schutz gegen allerhand böse Anfechtungen (vgl. IV, S. 195f.) Trotz all seiner protestantischen Absichten führt Christiern Pedersen eine Reihe katholischer Passionstraditionen weiter. Er steht deshalb für einen Übergang zum Protestantismus, der sich als gleitender präsentiert als das von ihm übersetzte Lutherbuch. 3 3 @ ' ! * ? )@ A Diese Schrift ist noch ein Kommentar zur Passionstradition. Pedersen folgt Luther, jedoch wie immer wortreicher. Die protestantische Gattungssprengung erreicht hier ihre Grenze. Die fünfzehn konkreten Krezwegstationen sind aufgehoben, der Text bleibt jedoch in fünfzehn Teile eingeteilt. Diese unterscheiden sich nicht voneinander, sondern stellen fünfzehn Variationen dar über das Thema: „Weine nicht über Pil Dahlerup 126 Jesus, sondern bedenke, dass du selbst ein Sünder bist, der durch ihn losgekauft wurde“. Hinzu kommt eine Polemik gegen gute Werke und eine Betonung der Machtlosigkeit und der bösen Natur des Menschen. Für einen Leser der Gegenwart ist es eine langweilige Lektüre, Seite auf Seite mit im Grossen und Ganzen denselben Worten. Die einzigen Aufmunterungen sind ein (schlechter) Vergleich (vgl. IV, S. 201) und ein Sprichwort (vgl. IV, S. 200). Die protestantische Rhetorik hebt sich hier selbst auf. Einer der polemischen Ausfälle gegen die Katholiken ist, dass man in seinen Gebeten oder seinen göttlichen Betrachtungen nicht viele Worte gebrauchen soll (vgl. IV, S. 201). Um das zu verkünden, brauchen die Protestanten unsagbar viele Worte. B & Die Geschichte von Luthers Betbüchlein in Dänemark ist noch sehr viel länger. Aber die Beispiele, die erwähnt wurden, ergeben bereits eine interessante Transmissionsgeschichte. Das Betbüchlein selbst ist schon eine Transmission einer mittelalterlichen katholischen Tradition zu einer protestantischen des 16. Jahrhunderts. Die Transmission hat viele Nuancen, zentral darin ist das von Luther entworfene Gottesbild; aus diesem kann gelernt werden, dass jede Epoche Gott in ihrem eigenen Bild entwirft. Luthers strenger Vatergott hatte auch zu seiner Zeit keine allgemeine Gültigkeit, sondern galt nur für die Protestanten und nicht einmal für alle von ihnen. Bemerkenswert ist auch Luthers Abschwächung Gottes in seiner Eigenschaft als Schöpfer der Welt. Die fehlenden kreativen Aspekte in seinem Gottesbild können die Skepsis des Protestantismus gegenüber Kunst erklären. Mit dem Luthertum verschwinden auch die weiblichen Elemente der Gottheit. All dies hat religiöse, soziale und ästhetische Konsequenzen. Es soll hier nur auf die enormen Herausforderungen verwiesen werden, denen die neuen protestantischen Autoren begegneten, wenn sie über das Göttliche schreiben wollten, das derart markant verändert wurde. In der dänischen Transmission von Luthers Betbüchlein können eine Reihe Nuancen im Übergang von katholischer zu protestantischer Religiosität festgestellt werden. Poul Helgesen und Christiern Pedersen entwerfen jeder in seiner Weise ein komplexes Bild aus Gegensatz und Übereinstimmung mit Luthers Reformation. Die Verhältnisse waren bedeutend komplizierter - und spannender -, als eindeutige Darstellungen des Übergangs glauben machen wollen. Übersetzung: Lukas Rösli und Thomas Seiler : . Bibliorum Sacrorum. Iuxta Vulgatam Clementinam. Vatikan 1913. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Zwingli-Bibel, 1966. Zur dänischen Transmission von Martin Luthers „Betbüchlein“ 127 Gerson, Jean: De arte audiendi confessiones (On the Art of Hearing Confessions). In: Brian Patrick McGuire (Hg.): Jean Gerson. Early Works. New York, Mahwah 1998. Helgesen, Povl: Een cristelig vnderwyszning. In: Skrifter af Paulus Helie, Band I. Hg. von Det Danske Sprogog Litteraturselskab. København 1932. Römischer Katechismus nach dem Beschlusse des Konzils von Trient für die Pfarrer. Übersetzt nach der zu Rom 1855 veröffentlichten Ausgabe mit Sachregister. 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Ein gesprech zweyer weiber, 2 welches wiederum auf dem lateinischen Dialog des Erasmus von Rotterdam basiert: Uxor μεμψίγαμος sive coniugium (Coniugium, „Die Ehe“). 1523 in Basel im Rahmen der lateinischen Familiarum Colloquiorum formulae gedruckt und bereits 1524 ins Deutsche übersetzt, entwickelte er sich bald zu einem der beliebtesten unter den meist Fragen der Moral umkreisenden Colloquia-Dialogen des Erasmus. 3 Die 1 Dieser Beitrag basiert auf Ergebnissen meiner Dissertation Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit (Beiträge zur Nordischen Philologie; 41), die 2009 im Francke Verlag, Tübingen, erschienen ist. - Ecteskabs Samtale, eller Dialogus, imellem Tuende Quinder/ lystig oc nyttelig/ alle dem som ere indgangne/ eller indgaa ville/ det hellige Ecteskab/ etc. Giort aff Erasmo Albero/ Oc fordansket/ Aff H.V. [Hans Vindekilde]. Prentet i Kiøbenhaffn/ Aar 1619. (Ehegespräch oder Dialog zwischen zwei jungen Frauen, lustig und nützlich für alle, die verheiratet sind oder in den heiligen Stand der Ehe treten wollen, etc. Von Erasmus Alberus geschrieben und von H.V. ins Dänische übersetzt. Gedruckt in Kopenhagen im Jahre 1619). KB Kopenhagen, Sign. 4,-76 8°. 2 Erasmus Alberus: Das Ehb chlin. Ein gesprech zweyer weiber/ mit namen Agatha vnd Barbara/ vnd sunst mancherley vom Ehestand/ Eheleuten/ vnnd jederman nützlich zulesen/ An die Durchleuchtige Hochgeborne F rstin/ Fraw Catharina geborne Hertzogin von Braunschweig/ Marggr fin zu Brandenburg etc. Durch Erasmum Alberum. o.O. 1539. Zentralbibliothek Zürich, Sign. Z 18.291. 3 Erasmus von Rotterdam: Coniugium, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterdami. Recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata. Ordinis primi tomus tertius. Colloquia. Hg. von L.-E. Halkin, F. Bierlaire und R. Hoven. Amsterdam 1972, S. 301-313 (im Folgenden als Erasmus, Coniugium zitiert). - Vgl. auch Erasmus von Rotterdam: Vertrauliche Gespräche. Aus dem Lateinischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Kurt Steinmann. Zürich 2000 („Die Gattin, die über die Ehe lästert oder Die Ehe“, S. 47-71), S. 24-30 und S. 320-322, S. 351. Als Zielpublikum der Colloquia Familiaria oder Colloquia, wie sie meist genannt werden, sind nicht nur die (männlichen) Lateinschüler im Rahmen des Schulunterrichts oder ein engerer Gelehrtenkreis anvisiert, sondern ein breiteres häusliches Publikum, die gesamten familiares, Angehörige der Anna Katharina Richter 130 Transmission verläuft hier also von einem katholischen lateinischen Ausgangstext über eine deutsche reformatorische Übersetzung und Bearbeitung zu einer dänischen Adaption. 1680, sechzig Jahre nach Vindekildes Übersetzung, wird eine weitere, diesmal anonyme Fassung des Dialogs auf Dänisch gedruckt: En Kortvillig Dialogus eller Samtale/ Mellem Tvende Qvinders Personer/ Angaaende den H. Ectestand. 4 Wenig später erscheinen dann zwei schwedische Versionen: 1687 und 1690 wird der Dialog von einem anonymen Übersetzer ins Schwedische übertragen und mit folgendem ausführlichen Titel versehen: Ett Lustigt Samtaal/ Emellan Twenne vnga Hustrur/ Hwarvthinnan den ena sigh beswärar öfwer sin Mans sälsamma Lefwerne/ At hon derföre intet kan komma öfwerens och förlijkas med honom./ Och den Andras / Swar och Lärdom/ huru hon skal sigh förehålla och bära sig åth på det hon må få honom godh och from moot sigh igen./ Nyttigt at Läsa och weta för vnga Hustrur/ och andra som sådant kunna behöfwa när dhe tyckia sigh at haa otämma Män./ Tryckt Åhr 1687. Ein vergnügliches Gespräch zwischen zwei jungen Ehefrauen, worin sich die eine über die Lebensweise ihres Mannes beschwert, dass sie darob niemals mit ihm einig werden könne. Und die Antwort und der Rat der anderen, wie sie sich verhalten solle, um sich wieder mit ihm zu vertragen und ihn sich selbst gegenüber gut zu stimmen. Nützlich zu lesen und zu wissen für junge Hausfrauen und andere, die solches gebrauchen können, wenn sie widerspenstige Männer zu haben glauben. Gedruckt im Jahre 1687. 5 Gelehrtenfamilie, damit also durchaus auch (Ehe-)Frauen: ein Familien- und Bildungsideal, das Erasmus von Thomas Morus übernommen hatte (der auch im Text selbst indirekt von Eulalia erwähnt wird, s.u.). Vgl. hierzu Katrin Graf: „‚Ut suam quisque vult esse, ita est.‘ Die Gelehrtenehe als Frauenerziehung“, in: Rüdiger Schnell (Hg.): Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit; 40), S. 233-257, hier S. 238-250. Sowie dies.: „Der Dialog ‚Conjugium‘ des Erasmus von Rotterdam in den deutschen Übersetzungen des 16. Jahrhunderts“, in: Schnell, Geschlechterbeziehungen, S. 259-273. - Zur Bearbeitung des Erasmus Alberus vgl. Graf, Dialog, S. 266-268 sowie Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit; 60), S. 136. 4 Der vollständige Titel lautet: En Kortvillig Dialogus eller Samtale/ Mellem Tvende Qvinders Personer/ Angaaende den H. Ectestand. Den ene ved Naffn Agatha/ som loffver og berømmer sin Ecte-Mand: Den andens Naffn Barbara/ som derimod laster oc foracter sin Mand: Alle Unge Ectefolck saare Nyttelig/ oc der hos megit lystigt at Læse. Nu nyligen paa Danske offversat. [Kopenhagen, 1680? ] KB Kopenhagen, Sign. 14,-455, 8°. Ex. 3. (Ein kurzweiliger Dialogus oder Gespräch zwischen zwei Frauen über den heiligen Ehestand. Die eine davon mit Namen Agatha, die ihren Ehemann lobt, die andere heißt Barbara, die ihren Mann jedoch tadelt und verachtet. Allen jungen Eheleuten sehr von Nutzen, und dazu unterhaltsam zu lesen. Kürzlich ins Dänische übersetzt). - Der kleine Text zählt nur zehn Blatt und ist nicht vollständig erhalten (erhalten sind Bl. A1 r -A8 v , dann fehlt B1; Bl. B2-B3 sind vorhanden, der Text endet auf Bl. B3 v ). 5 KB Stockholm, Sign. F1700/ 2315 a, Bl. A1 r . Ein weiterer, mit diesem identischer Druck erschien bereits drei Jahre später, 1690 (KB Stockholm, Sign. F1700/ 2315 b). - Diese beiden schwedischen Ausgaben enthalten übrigens als Anhang noch ein barockes Liebes- Vom humanistischen Dialog zum Eheratgeber 131 Als Beispiel für die skandinavische Rezeption deutschsprachiger, humanistischer didaktischer Literatur und als Transmissionsgeschichte ist dieser Text äußerst interessant. Aufschlussreich hierfür ist zunächst die ausdrückliche Widmung des schwedischen Textes an junge Ehefrauen, denen er eine Art „Ehe-Ratgeber“ sein will, wenn sie sich von ihren widerspenstigen Ehemännern geplagt fühlen. Erasmus Alberus hatte sich noch an ein allgemeineres Publikum beiderlei Geschlechts gewandt, insbesondere an Ehepaare: „Eheleuten/ vnnd jederman nützlich zulesen“. 6 Ähnlich formulieren es auch Ecteskabs Samtale und Kortvillig Dialogus im Titel: „Alle Unge Ectefolck saare Nyttelig/ oc der hos megit lystigt at Læse.“ (Allen jungen Eheleuten äußerst nützlich, dazu auch sehr unterhaltsam zu lesen). Die Historie, die in Kortvillig Dialogus und in den beiden schwedischen Fassungen entsprechend dem lateinischen Coniugium einen Prosatext präsentiert, in Vindekildes Ecteskabs Samtale jedoch in Versen gehalten ist, besteht aus einem Dialog zwischen zwei jungen, miteinander befreundeten Frauen, die sich über ihre Ehen unterhalten. Bei Erasmus von Rotterdam und in der schwedischen Historie heißen sie Eulalia und Xanthippe, in Kortvillig Dialogus hingegen Agatha und Barbara wie bei Erasmus Alberus, und in Vindekildes Version von 1619 Dorothe und Karine. 7 Hier zeigt sich schon ein interessanter Unterschied in den beiden skandinavischen Traditionen, der sich dann vor allem im Inhalt bemerkbar macht: Während die beiden Versionen der dänischen Tradition (Vindekilde und Kortvillig Dialogus) im Großen und Ganzen wortgetreu Erasmus Alberus folgen, ist der schwedische Text viel näher am Coniugium des Erasmus von Rotterdam, wobei jedoch gewisse Textstellen ausgelassen sind. Dazu im Folgenden mehr. gedicht, das in elf Strophen das Werben eines Mannes um die in poetischer Manier mit „skiönste Chloris“ (schönste Chloris) angesprochene Frau beschreibt. Diese hat sich offensichtlich unter dem Einfluss negativer Nachrede von ihm abgewandt, so dass er nun versucht, die Angebetete vom Irrtum der Verleumdungen zu überzeugen. Die zwölfte und letzte Strophe ist als Antwort der Frau zu lesen, die dem Sprecher vergibt und erneut in die Liebesbeziehung, möglicherweise sogar in die Ehe, mit ihm einwilligt. Man kann dieses kleine Gedicht als Supplement zur Historie verstehen, indem hier die Thematik von Liebe, Ehe, menschlichen Fehlern und Treue von einem anderen zeitgenössischen Genre aufgegriffen und variiert werden; der Grund mag darüber hinaus, wie häufig bei frühneuzeitlichen Drucken unterhaltender Texte, durchaus auch rein praktischer Natur sein: um die letzten zwei Seiten des Bogens (mit teilweise zur Haupterzählung passenden Texten) aufzufüllen. 6 Erasmus Alberus, Ehb chlin, Bl. A1 r . - Nach Graf überwiegt in den deutschen Übersetzungen des 16. Jahrhunderts insgesamt die Anrede an die Frauen, weshalb das Coniugium in der deutschsprachigen Rezeption wohl mehrheitlich als „Frauenerziehungsschrift“ (Graf) interpretiert worden sei, entgegen der ursprünglichen Intention des Erasmus von Rotterdam. Vgl. Graf, Dialog, S. 260 und S. 266. 7 Die Namen bei Erasmus von Rotterdam und in der schwedischen Fassung sind programmatisch: Die mit ihrer Ehe zufriedene Eulalia ist „die schön Sprechende“, Xantippe dagegen tritt als Namensvetterin der als äußerst zänkisch bekannten Frau des antiken Philosophen Sokrates auf. Vgl. auch Erasmus, Coniugium, S. 301, Anm. 1. - Wenn ich mich auf den schwedischen Text beziehe, verwende ich die dort benutzte Schreibweise „Xantippe“, mit einfachem „t“. Anna Katharina Richter 132 Auffallend und bezeichnend ist hierbei ebenfalls, dass (nur) En Kortvillig Dialogus die Titelblattillustration an das Ehb chlin anlehnt (vgl. Abb. 1 und 2) und sich damit auch ikonographisch in die Tradition der deutschen Vorlage stellt, während die schwedischen Drucke (Abb. 3: Ett Lustigt Samtaal, 1687) ebenso wie Vindekildes Ecteskabs Samtale allesamt keine Illustrationen aufweisen. Abb. 1: Erasmus Alberus, Das Ehb chlin (1539). Titelblatt. Zentralbibliothek Zürich. Vom humanistischen Dialog zum Eheratgeber 133 Abb. 2: Titelblatt des dänischen Drucks ‚En Kortvillig Dialogus‘ (1680? ). Det Kongelige Bibliotek København. Anna Katharina Richter 134 Abb. 3: Titelblatt des schwedischen Drucks ‚Ett lustigt Samtaal emellan twenne vnga Hustrur‘ (1687). Kungliga Biblioteket Stockholm. Vom humanistischen Dialog zum Eheratgeber 135 3 " , " Zwei gegensätzliche Positionen und Einstellungen zur Ehe werden an den beiden Frauen vorgeführt: 8 Xantippe (Barbara bzw. Karine) ist unglücklich und beklagt sich bei der Freundin über ihren Mann, der sie vernachlässigt und, anstatt zu Hause zu sein, sein Geld in Bordellen und Wirtshäusern, beim Trinken und Würfelspiel ausgibt, der außerdem noch leicht in Jähzorn gerät und sich handgreiflich mit ihr streitet, wenn er heimkommt - angespielt wird hier auf verschiedene Laster, die den mittelalterlichen Todsünden gula, luxuria, libido und ira (Müßiggang, Verschwendung, Wollust, Zorn) entsprechen. 9 Diese lassen sich in einem breiteren Verständnis dem übergeordneten Aspekt der „slöserij“ (Verschwendung) zuordnen und stellen damit ein Beispiel für die in der schwedischen Ökonomieliteratur typische Verknüpfung von finanzieller Veruntreuung und Ressourcenverschwendung mit Unkeuschheit dar, einer interessanten Verbindung von wirtschaftlichem Diskurs mit dem Sprechen über Sexualität. Eulalia (Agatha bzw. Dorothe) dagegen ist glücklich verheiratet und strahlt auch äußerlich Wohlstand und Zufriedenheit aus. Sie gibt Xantippe zahlreiche Ratschläge - daraus besteht der größte Teil des Textes -, wie sie ihre verlorene eheliche Harmonie wiederherstellen kann. Denn Xantippe und ihr Mann verstoßen, wie Eulalia feststellt, gegen das Ideal der ehelichen Eintracht, des Hausfriedens, der das oberste „Ehegebot“ ist: „en ädla/ kosteligh och märkeligh ting huusfriden/ then som icke kan betalas eller köpas medh guld eller silfwer“. 10 Der Hausfrieden steht gewissermaßen im Mittelpunkt der Beziehung zwischen Ehemann und -frau, womit sich aufschlussreiche Parallelen und Korrespondenzen zwischen diesem Dialog und Schriften der zeitgenössischen lutherischen skandinavischen Hausväter- und Ökonomieliteratur ergeben, die sich mit der Ordnung und der Aufgabenverteilung im Haushalt beschäftigen. Das „innere Haus“ ist dabei Abbild des „äußeren Hauses“, des staatlichen Makrokosmos, und der Ehe- und Familiendiskurs wird mit dem Staatsdiskurs parallelisiert, wie es insbesondere in Luthers Dreiständelehre in der Nachfolge des aristotelischen Verständnisses der Einheit von politica, ethica und oeconomia ausgearbeitet ist und 8 Ich beziehe mich für inhaltliche Referenzen der Einfachheit halber bei Zitaten größtenteils auf den schwedischen Text, da Kortvillig Dialogus nur unvollständig erhalten und Ecteskabs Samtale aufgrund der Namen und der Reimform leicht verändert ist. Es wird in der Analyse aber auf alle drei Versionen eingegangen. 9 Vgl. Graf, Gelehrtenehe, S. 243. 10 So etwa im Werk von Christoffer Fischer: Huus Tafla/ Thet är/ Een Christeligh Vthlegning och förklarning om thessa try stånd: Kyrkio Regemente/ Werldzligh Öfwerheetzoch Huus Regemente/ Sampt allas theras / som medh thesse tree Ordningar hafwa någon gemenskap och bestälning/ huru alla som härvthinnan äro beslutna/ skole sigh i siin kallelse effter Gudz befalning Christeligen förhålla./ Stält igenom Christoffer Fischer then Eldre./ Vthsatt aff Tyskon in på wårt Swenska Tungomål och nu aff Trycket vthgångin aff Andrea Lavrentii Vpsaliensi Pastore Calmarensi./ Tryckt i Stockholm/ hoos Ignatium Meurer/ Anno M.DC.XVIII. [Stockholm 1618], S. 207 (ein edles, kostbares und besonderes Gut ist der Hausfrieden, nicht mit Gold oder Silber zu erkaufen). Anna Katharina Richter 136 in der reformierten Ökonomie- und Eheliteratur Skandinaviens, die sich im 16./ 17. Jahrhundert als eigenes Genre herausbildet, vielfach thematisiert wird. Der Hausfrieden ist auch Thema einer moraltheologischen Schrift des deutschen Autors und Geistlichen Paul Rebhun (1505-1546), die 1575 von Rasmus Hansen Reravius (der u.a. auch Jörg Wickrams Knabenspiegel 1571 ins Dänische übertragen hatte) unter dem Titel Husfred (Hausfrieden) ins Dänische übersetzt wurde. 11 In insgesamt zehn „Aarsager“ resp. Kapiteln behandelt der Autor das Verhältnis zwischen den Eheleuten, etwa den ehelichen Gehorsam der Frau, das Verbot außerehelicher Beziehungen bzw. der Unzucht, die äußerliche Bescheidenheit der Frau und die Vorrangstellung des Mannes im Haushalt und in der Ehe, wobei er sich stets auf die in der skandinavischen Hausväterliteratur einschlägigen Bibelstellen beruft (insbesondere Gen 3,1; Eph 5,1; 1 Petr 3; 1 Kor 11). Als eines der größten Übel wird die Unzucht dargestellt; sie kann aus der Uneinigkeit, dem Unfrieden der Eheleute untereinander entstehen, weshalb sich ihr der Text besonders ausführlich im dritten Kapitel widmet. 12 Thi naar den ene Person vdi Ectescaff giør icke andet/ end seer surt vd/ knurrer oc murrer i huer vraa/ er stum oc stuß baade nat oc dag/ da kand den vere en stor Aarsage til/ at den anden opeggis til Horeri oc skørleffnet. Wenn nämlich einer der Ehepartner nur sauertöpfisch dreinschaut, ständig mault und mürrisch ist, nichts sagt, tagein, tagaus, da kann dies eine entscheidende Ursache dafür sein, dass der andere zu Unzucht aufgestachelt wird. 13 Gerade gegen das Ideal der ehelichen Liebe und Eintracht - nach Rebhun/ Reravius sind beide Ehepartner für die Vermeidung der Unzucht gleichermaßen verantwortlich - verstößt jedoch besonders Xantippe mit ihrem mürrischen Verhalten, das den unrühmlichen Lebenswandel ihres Mannes geradezu fördert, über den sie aber wiederum klagt und den sie ihm vorwirft. Darum belehrt Eulalia sie mit ähnlichen Worten wie die Ökonomieschriften: 11 Rasmus Hansen Reravius: Husfred. Det er Aarsager aff den hellige Scrifft/ som skulle beuege alle Christelige Ectefolck/ til at holde Fred oc Endrectighed i deris Husholdning/ Vdsæt paa Danske aff Rasmus Hanssøn Reravius. Du Mand/ haff din Hustru kier/ oc du Quinde ver din Husbonde lydig. Det giør Husfred. Prentet i Kiøbenhaffn/ aff Andrea Gutterwitz oc Hans Støckelmands arffuinge. [Druckjahr im Kolophon] 1575. KB Kopenhagen, Sign. Hielmst. 767-768 8° (Hausfrieden. Das sind Gründe aus der Heiligen Schrift, die alle christlichen Eheleute dazu bewegen sollen, Frieden und Eintracht in ihrem Haus zu halten. Ins Dänische übersetzt von Rasmus Hansen Reravius. Du Mann, liebe deine Ehefrau, und du Frau, sei deinem Ehemann gehorsam. Das macht den Hausfrieden. Gedruckt in Kopenhagen von Andreas Gutterwitz und Hans Støckelmands Erben. 1575). Vgl. auch Jürg Glauser: Ausgrenzung und Disziplinierung. Studien zur volkssprachlichen Erzählliteratur Skandinaviens in der frühen Neuzeit. Zürich 1990 (unveröffentlichte Habilitationsschrift, Universität Zürich), S. 116, Anm. 83. 12 Reravius, Husfred, Bl. G1 r -K3 r - bezeichnenderweise weitaus der längste Abschnitt im gesamten Text. 13 Reravius, Husfred, Bl. H1 v -H2 r . Vom humanistischen Dialog zum Eheratgeber 137 Såsom iagh för en stund sedan tigh sade/ laga så at det står wäl til hemma i Huset/ och at alt seer reent och skijnande vth/ och at icke något är i wägen/ hwar aff han får orsaak och nödgas at gå vth; Sedan ställ tig och emot honom altid wänlig och from/ och förgät icke heller i medler tijdh at gå honom med all respect och wyrdnad tilhanda/ hwilket en Hustru är skyldigh sin Man at bewijsa. Inte skal du see Trumpen och mulen vth/ icke heller skal du wara moot honom dierff och Näßwijs […]. Wie ich dir schon zuvor sagte, richte es so ein, dass alles ordentlich im Hause ist und reinlich aussieht und nichts im Weg steht, so dass er nicht gezwungen ist, das Haus zu verlassen. Dann sei auch stets freundlich gegen ihn und vergiss nicht, ihm mit all dem Respekt und der Ehrerbietung zu begegnen, die eine Ehefrau ihrem Mann schuldig ist. Du sollst nicht verdrießlich und mürrisch dreinschauen, und auch nicht frech und naseweis zu ihm sein. 14 Auch Husfred lehrt seine Leser(innen), dass die Ehefrau ihrem Mann nicht „predigen“ solle (mit Berufung auf 1 Petr 3). 15 Friedfertigkeit ist eine wichtige Eigenschaft der Ehefrau und wird auch in der 1653 erschienenen Eheschrift Fromme Qvinders Speyel, einer dänischen Übersetzung des Werks des norddeutschen Pfarrers Johann Holtzmann, ausführlich behandelt. 16 Die vorbildliche Ehefrau, die in diesem didaktischen Text mit einem Reh und mit einer Perle verglichen wird, murrt nicht und ist nicht trotzig, und sie erzürnt ihren Mann nicht, denn in der 14 Samtaal 1687, Bl. B5 r -B5 v . 15 Vgl. Reravius, Husfred, Bl. N7 v -O5 v (die Frau soll dem Mann nicht „predigen“) und Bl. O6 r -P2 r (der Mann als Haupt der Frau, womit im Petrusbrief gemeint ist, dass er ihr gegenüber Autorität und liebevolle Verantwortung wahrzunehmen habe). 16 Johann Holtzmann: Fromme Qvinders Speyel/ Eller/ Alle gudfryctige Matroners Plict oc Skyld imod Gud/ deris Ecte-Mænd/ Saa oc alle Mennisker/ oc dem selff/ Hvorudi formeldis oc gifvis tilkiende/ hvorledis de skulle forholde sig/ at de først kand befalde Gud/ dernest deris Ectemænd/ saa oc alle Mennisker/ oc det dennem self maa være berømmeligt/ Item/ at de kunde oc skulle sig her udi speyle/ see oc beskue/ hvad deris Embede/ Plict oc Rettighed er/ Paa Tydsk sammenskrefven af Hæderlig oc Vellærd Mand/ Her Johann Holtzmann/ Præst til Vandsbeck udi Holsten/ Nu af Tydske Sprock fordansket ved J. [Joachim] M. [Moltke] B. [Boghandler]/ Er der hos/ for Materien Ligheds skyld/ føyet D. Niels Hemmingssøns S. Christelig Undervijßning om Ecteskab/ at I. Betæncke/ II. Begynde/ III. Fuldkomme/ IV. leffve udi 1. Vijßlige/ 2. Ærlige/ 3. Gudfryctige/ 4. Rolige./ Item Morgenoc Aftenbøner til hver Dag udi Vgen./ Prentet i Kiøbenhavn af Georg Lamprecht/ Paa Joachim Moltkens Bekostning. 1653. KB Kopenhagen, Sign. 4,-80 8° (Spiegel für fromme Ehefrauen, oder: Aller gottesfürchtigen Hausfrauen Pflicht und Schudigkeit gegenüber Gott, ihren Ehemännern und allen Menschen, und ihnen selbst gegenüber. Woraus bekannt gegeben wird, wie sie sich verhalten sollen, auf dass sie sich Gott, danach ihren Ehemännern, allen Menschen und auch sich selbst anbefehlen und es ihnen zur Ehre gereichen möge. Auch auf dass sie sich hierin spiegeln und erkennen mögen, was ihre Aufgaben, Pflichten und Rechte sind. Auf Deutsch zusammengeschrieben vom ehrenwerten und gelehrten Herrn Johann Holtzmann, Pfarrer in Wandsbek in Holstein. Nun aus der deutschen Sprache ins Dänische übersetzt von J.M.B. Wegen der Ähnlichkeit der Materie D. Niels Hemmingsens Christliche Unterweisung über die Ehe angefügt: 1. Zu bedenken, 2. Zu beginnen, 3. Zu vervollkommnen, 4. Zu leben 1) weise, 2) ehrlich, 3) gottesfürchtig, 4) in (Gewissens)ruhe. Dazu Morgen- und Abendgebete für jeden Wochentag. Gedruckt in Kopenhagen von Georg Lamprecht, auf Joachim Moltkes Kosten. 1653). - Zum Aspekt der Friedfertigkeit vgl. insgesamt ebda., Bl. C4 r - D1 v . Anna Katharina Richter 138 Herrschsucht und im trotzigen Aufbegehren der Frau droht stets die Gefahr des Hochmuts, der einst zum biblischen Sündenfall geführt hatte. Eva dient darum als warnendes Beispiel, denn mit dem Verweis auf die alttestamentlichen Weisheitsbücher (besonders Sir 25, 24) wird der Eintritt der Sünde in die Welt durch den Übermut der Frau erklärt. 17 In der didaktisch (und humorvoll) angelegten Historie von Eulalia und Xantippe sind natürlich sowohl der lasterhafte Ehemann als auch Xantippe überzeichnet. Sie entspricht nicht nur in keiner Weise der „guten Ehefrau“, sie negiert sogar völlig ihre Rolle, indem sie außer Schimpfen und Murren, was einer christlichen Ehefrau nicht ziemt, 18 sogar handgreiflich wird. 19 Doch hiermit beweist sie nicht etwa Mut, vielmehr macht sie sich lächerlich, weil sie die vorgeschriebenen männlichen und weiblichen Rollen ins Gegenteil verkehrt und damit die Ordnung ad absurdum führt. Auf Eulalias Beklagen dieser unglücklichen Situation antwortet sie: „Står det intet ann/ Om intet han håller mig för Hustru/ så skal och intet heller iagh hålla honom för Man.“ (Wieso nicht? Wenn er mich nicht als seine Ehefrau behandelt, so will auch ich ihn nicht als meinen Ehemann behandeln). 20 Zwar verweist sie hiermit auf die paulinische Ermahnung, dass die Männer ihre Frauen lieben sollen und damit auf einen Grundstein der Hausväterliteratur; 21 doch ihre eigene Logik und die daraus resultierende Rollennegierung bedeuten de facto das Ende der Ehe und die Auflösung der häuslichen Ordnung, ja, sogar ein (an den Sündenfall erinnerndes) Aufbegehren gegen Gott als Stifter dieser Ordnung. Als Urheber solcher Entzweiung wird darum in den geistlichen Eheschriften der frühen Neuzeit, insbesondere in der „Eheteufelliteratur“, Asmo- 17 Holtzmann, Qvinders Speyel, Bl. C5 r -C6 v : „Men saadant [Herrschsucht und Übermut] skulle Christelige Ecteqvinder icke giøre/ […] Ligesom mand skal demme for Vand/ saa skal mand icke lade en Qvinde haffve sin Villie: Eva hun vilde oc ophøye sig/ […] de begge [Aadam und Eva] fulde icke allen udi saadan Jammer oc Nød/ men de førde oc det gantske Menniskelige Kiøn der udi./ Huilcket Exempel med rette/ alle dyderige Qvinder skal giøre klog oc viise/ oc formane dem/ at de icke skulle staa effter Regimentet/ oc betencke/ at det er saare ilde gaaen aff for Eva: Thi derfor acte det en hver Qvinde/ naar hun opsetter sig imod Gud/ oc vil tage fat paa Mandens Regiment oc Grimen/ saa opsetter sig oc GUd visselig imod hende/ […].“ (Doch solches sollen christliche Ehefrauen nicht tun […]. So wie man das Wasser eindämmen muss, so darf man einer Frau nicht ihren Willen lassen: Eva wollte sich erheben […]. Nicht nur sie beide [Adam und Eva] gerieten dadurch in Jammer und Not, sondern sie zogen auch noch das ganze Menschengeschlecht mit. Solches Beispiel soll mit Recht alle tugendreichen Frauen klug und verständig machen und sie ermahnen, nicht nach der Herrschaft zu streben und zu bedenken, dass es für Eva übel ausging. Darum beachte jede Frau, dass, wenn sie sich gegen Gott widersetzt und die dem Mann zugeteilte Herrschaft an sich reißen will, dass auch Gott sich ihr widersetzt […]). 18 Vgl. Holtzmann, Qvinders Speyel, Bl. C7 r -C7 v , C8 v -D1 v . 19 Vgl. Samtaal 1687, Bl. A3 r . 20 Samtaal 1687, Bl. A3 r . 21 Vgl. Eph 5, 25-33 und Holtzmann, Qvinders Speyel, Bl. F5 r -F5 v sowie Fischer, Huus Tafla, S. 222-233. Vom humanistischen Dialog zum Eheratgeber 139 deus, der „Eheteufel“ betrachtet, 22 mit dem sich etwa auch Claus Pors in seinem großen didaktisch-erzählerischen Werk Leffnetz Compaß auseinandersetzt. 23 Christoffer Fischers Huus Tafla sieht den Ehezwist als Provokation Gottes, der der Urheber allen Friedens und Stifter der Ehe im paradiesischen Urzustand ist: Fridh och enigheet är lijk en selsam wilbrådh och steek vti ächtenskapet/ ty Asmodeus ächtenskapsens fiende och frijdzens förstörare/ som och är en Wärkmästare til all oenigheet/ han blåser med sina helwetis blåßbälior owänskap/ haat och mootwilligheet i Echtafolcks hierta/ at the så wäl kunna förlijka sigh medh hwar annan/ såsom hundar och kattor/ thetta förtryter Gudh/ som en förtärande eld är/ och hafwer ther til itt stort mißhagh/ effter han är sielff then som elskar frijden. Friede und Eintracht in der Ehe sind wie seltenes Wild, denn Asmodeus, der Ehefeind und Friedenszerstörer, der ein Urheber aller Uneinigkeit ist, bläst mit seinen höllischen Blasbalgen Feindschaft, Hass und Widerwillen in die Herzen der Eheleute, so dass sie sich miteinander so gut wie Hunde und Katzen vertragen. Das betrübt Gott, der ein verzehrendes Feuer ist und dem dies äußerst missfällt, weil er selbst den Frieden liebt. 24 Das Vorbild der guten christlichen Ehe ist die mystische Ehe zwischen Christus und seiner Kirche, die in der theologischen Tradition als Braut gesehen wird. 25 In der Schilderung von Xantippes Ehe wird also ein Anti-Bild der Ehe und des vorbildlichen Ehepaares, wie es die Ehe- und Ökonomieschriften schildern, entworfen, bzw. es wird ex negativo deren Ideal bestätigt. Eine solche, den lutherischen Eheschriften entsprechende Ausrichtung, welche insbesondere den Schluss des Dialogtextes in den dänischen wie schwedischen Versionen dominiert, ist freilich der deutschen Bearbeitung durch Erasmus Alberus zuzuschreiben, die sich dann in den skandinavischen Versionen fortgesetzt hat; sie ist mithin ein Ergebnis der Transmissionsgeschichte des Textes. 22 Asmodeus (auch: Asmodaeus), ursprünglich ein Dämon im Alten Testament (Tob 3, 8), wurde in der spätmittelalterlichen Lasterliteratur als Teufel der Wollust und Unkeuschheit (luxuria) betrachtet. Vgl. Isabel Grübel: Die Hierarchie der Teufel. Studien zum christlichen Teufelsbild und zur Allegorisierung des Bösen in Theologie, Literatur und Kunst zwischen Frühmittelalter und Gegenreformation. München 1991 (Kulturgeschichtliche Forschungen; 13), S. 205-212. 23 Claus Pors: Leffnetz Compaß: En nyttig Hussbog: Kaldis retteligen/ Leffnetz Compaß/ som indeholder mange skøne/ victige Lærdomme/ Atvarsler oc Paamindelser/ som en huer Christen Ven kand rette sit Liff oc Leffnet effter: Er tilsammen skreffuen aff mange atskillige Bøger met smucke Historier formenget/ lystig at læse/ baade til Lærdom oc Tids fordriffue: Saa at en huer skal vel finde en rette Snor at vandre effter/ som haffuer lyst til at leffue retsindelig/ dog huer oc en behager sin Vjß vel: Met stor flijd transfereret oc vdsat aff Tydsken oc paa vort Danske Tungemaal: Aff Claus Porß/ til Øllingxøe. Prentet i Kiøbenhaffn/ Hoss Henrich Waldkirch/ Aar 1613, vgl. hier Bl. B3 v -B4 r . 24 Fischer, Huus Tafla, S. 200. 25 Vgl. auch Reravius, Husfred, Bl. Q5 v -V5 r . Anna Katharina Richter 140 @ - "" ` 0 $ * " * Für das Verständnis des Dialogs ist es zentral, dass er ursprünglich bei Erasmus von Rotterdam ein gelehrtes und humoristisches, zuweilen satirisches Spiel mit zwei verschiedenen philosophischen Traditionen und Positionen zum Thema „Ehe“ und „Eheerziehung“ ist. 26 Im Coniugium belehrt Eulalia Xanthippe, indem sie ihr einige Exempel von geglückten Ehen und klugen Ehefrauen erzählt 27 und ihr erklärt, wie die Frau den Ehemann durch Bildung und als umsichtige Hausfrau und Partnerin, aber auch - und das ist interessant - durch eine erotisch unterstützte persuasio wieder auf den rechten Weg bringen kann und wie dadurch eine harmonische Ehe ermöglicht wird. Gerade dieser, bei Erasmus von Rotterdam in Eulalias Rede ausgeführte Aspekt der erotischen Ausstrahlung der Ehefrau und damit die Bedeutung, die ehelicher Erotik und Sexualität grundsätzlich dort zugesprochen wird, ist jedoch in den skandinavischen Versionen des Dialogs und auch bereits in Erasmus Alberus’ Ehb chlin vollständig gestrichen worden; diese Kürzungen betreffen die Sage vom so genannten Venusgürtel, Eulalias Belehrungen über die Bedeutung des ehelichen Friedens im Schlafzimmer und die Geschichte von Xanthippes vorehelicher Beziehung zu ihrem Mann, der ihr erstes Kind entstammt. Dem Sprechen über Sexualität (und damit auch ein guter Teil des Humors im Coniugium) wird bei Erasmus Alberus sowie in den skandinavischen Historien kein Raum gelassen. Bemerkenswert ist hierbei allerdings, dass sich der schwedische Dialog insgesamt ziemlich eng an den Wortlaut des Coniugium hält; zwar werden die erwähnten „anstößigen“ Textstellen im letzten Drittel des Dialogs ausgelassen, dann folgt Samtaal aber wieder dem Coniugium bis zum Schluss. 28 Die beiden 26 So interpretiert es Graf: Xanthippe stehe für die ehefeindliche philosophische Tradition und für ein stoisches Lebens- und Tugendideal, Eulalia dagegen trete als Vertreterin des humanistischen Frauenideals der gebildeten Ehefrau auf und präsentiere ein epikureisches Lebens- und Tugendideal, das schließlich siegreich aus dem Dialog hervorgeht. Vgl. Graf, Gelehrtenehe, S. 242-250. 27 Wobei freilich nur in einem einzigen ein wirklich vorbildlicher Ehemann vorkommt; eine Anspielung auf den mit Erasmus von Rotterdam befreundeten Thomas Morus, die zwar auch im dänischen und schwedischen Text beibehalten, aber von den skandinavischen Lesern des 17. Jahrhunderts kaum mehr erkannt worden sein dürfte, dort ist diese von Eulalia erzählte Anekdote einfach exemplarischen Charakters. In Samtaal 1687 steht sie auf Bl. A7 r -B1 r („Jag var bekant med en Adelsman…“), im dänischen Druck von 1680 fehlt hier das entsprechende Bl. B1 (vgl. das Ende des Exempels auf Bl. B2 r ); in Ecteskabs Samtale findet sich die Ankedote auf Bl. B8 v -C2 r . Vgl. auch Graf, Gelehrtenehe, S. 240-241, S. 245, S. 247. 28 Vgl. Erasmus, Coniugium S. 309, Z. 294-305 („Illud ante omnia […] et iucundam“), wo es um Einvernehmlichkeit im ehelichen Schlafzimmer geht. Der entsprechende Text müsste in Samtaal 1687 am Ende von Bl. B3 r stehen, vor Xantippes Antwort, es geht dort (Bl. B3 v oben) aber gleich weiter wie bei Erasmus, Coniugium, S. 310, Z. 306. Ferner ausgelassen ist die Sage vom Liebesgürtel der Venus (vgl. Erasmus, Coniugium, S. 310, Z. 308-320; Eulalias Lehre daraus lautet: „vxorem omnem curam adhibere oportere, vt in congressu connubiali iucunda sit marito, quo recalescat ac redintegretur amor ille maritalis, et discutiatur ex Vom humanistischen Dialog zum Eheratgeber 141 dänischen Versionen Ecteskabs Samtale und Kortvillig Dialogus dagegen halten sich wortgetreu an die deutsche Vorlage des Erasmus Alberus. Diese Nähe zur lutherischen Bearbeitung zeigt sich im gesamten Text und insbesondere im Schlussteil, den bereits Erasmus Alberus gegenüber dem Wortlaut des Coniugium wesentlich abgeändert hatte (der Schlussteil ist allerdings nur in Ecteskabs Samtale vollständig erhalten). Im Ehb chlin verlässt nämlich der Autor schon vor der Geschichte vom Venusgürtel den Text des Coniugium und setzt einen eigenen, kürzeren Schluss, der Agathas Ratschläge an Barbara für eine glückliche Ehe in einem Katalog von Anstands- und Verhaltensregeln der klugen Ehefrau zusammenfasst. 29 Von Erotik ist nirgends die Rede, und das Ende des Dialogs legt somit das Gewicht auf die Haushaltsregeln. Entsprechend verkürzt endet auch Ecteskabs Samtale, wo am Ende des „Pflichtenkatalogs“, den Dorothe Karine ans Herz legt, noch ein Verweis auf Christi Erlösungstat eingefügt ist und der Text mit Karines Gebet um Gottes Schutz für ihre Ehe endet. 30 animo, si quid erat offensionis aut taedii.“ (ebda., Z. 315-317). In Samtaal 1687, Bl. B3 v spricht Eulalia von „altidh wara dem lydiga/ och moot dem fromma och liufliga“ (ihnen [den Ehemännern] gegenüber stets gehorsam und freundlich zu sein). Von Gehorsam ist bei Erasmus an dieser Stelle nicht die Rede. Die Geschichte vom vorehelich gezeugten Kind und der neuen Schwangerschaft (vgl. Erasmus, Coniugium, S. 311 Z. 341-368: „Ad eam rem conducet […] si tu vel paulum temet accomodes“), müsste in Samtaal 1687 unten auf Bl. B4 r stehen, dort ist der Text jedoch zusammengestrichen und setzt erst mit „Men hwadh säija andra…“ (was sagen denn andere) wieder ein (vgl. Erasmus, Coniugium, S. 311, Z. 369). 29 Der Verhaltenskatalog findet sich zwar auch schon im Schluss des Coniugium, ist jedoch bei Alberus bearbeitet und wesentlich ausführlicher. Die Textstelle, wo Alberus vom Coniugium abweicht und den Dialog direkt in Agathas Schlussrede übergehen lässt (vgl. Erasmus, Coniugium, S. 309, Z. 293; die Schlussrede folgt hier erst auf S. 312, Z. 402 bis S. 313, Z. 413) lautet in Erasmus Alberus, Ehb chlin, Bl. C4 r -C4 v : „[Agatha: ] Du hast nun mein lieb Barb/ genugsam vonn mir geh rt/ wie du dich halten solt/ Gedenck/ vnnd hab acht druff/ das es fein reynlich im hauß stehe/ damit der man vnlusts halbenn nit vrsach hab auß dem hauß zugehn/ Las nit eyns hie ligen/ das ander da ligen/ sonder stell ieglichs an sein ort/ vnd mach das bett zu rechter zeit/ nit wart/ biß ihr ietz zu schlaffen gehn solt/ vnd gedenck/ wo er herkumpt/ das er von dir freundtlich entpfangen werde/ vnnd das er des abents ein warm f ß wasser habe/ flux sei bereyt/ vnd ziehe im die sch h vnd hosen auß/ vnnd laß nit die sch he vngewischt stehn/ sonder weil sie noch feucht sind/ so wisch sie/ vnd halt in für deinen Herrn/ erbiet im alle ehr/ vnd die er im hauß leiden mag/ die laß dir auch angenem sein/ vnd empfang sie mit züchtigen geberden/ vnd sei guter ding mit inen/ vnd wann er vff seiner lauten schlegt/ so sing im drein vnd laß dir sein weiß wolgefalln/ Also wirstu machen/ das er gern daheim bleiben vnd desto weniger verthun wirt/ Auch hoff ich/ Gott wird euch mitteler zeit ein kind beschern/ dadurch wird die lieb zwischen euch auch z nemen. […] Barbara: Ich wil allen fleiß fürwenden/ vnd Gott vmb gnad anr ffen/ dem sei du auch befolhen. Agatha: Amen/ amen.“ (Das Kind als Unterpfand der Liebe fand sich ja schon im Coniugium, hier bei Erasmus Alberus jedoch (nur) als Wunsch in der bereits geschlossenen Ehe, nicht etwa schon zuvor in einer vorehelichen Schwangerschaft). 30 Vgl. Ecteskabs Samtale, Bl. C6 r -C7 v . Das Gebet steht am Ende auf Bl. C7 r -C7 v . Anna Katharina Richter 142 Der schwedische Text hingegen übernimmt den gesamten Schlussteil und Eulalias Rede ziemlich wortgetreu aus dem Coniugium. 31 In beiden dänischen Versionen wird der Dialog zwischen den beiden Frauen außerdem durch kleine, aus dem Ehb chlin übernommene Einschübe ergänzt, etwa über die Richtigkeit dessen, was man in der Kirche über die Ehe höre oder über die falsche Auffassung, sich als Ehefrau dem Wort des Mannes widersetzen zu wollen. Damit werden die häuslichen und ehelichen Ordnungsvorstellungen stellenweise noch sehr viel deutlicher unterstrichen als im schwedischen Text. 32 Die textuellen Veränderungen bei Erasmus Alberus, die er in seiner Vorrede (Bl. A3 r ) selbst erläutert (aus Anstandsgründen vorgenommene Kürzungen, Auslassungen und Veränderungen gegenüber dem Coniugium), sind mit dem didaktischen Anspruch seines Werks zu erklären: Der Dialog zwischen Agatha und Barbara ist nämlich dem eigentlichen Haupttext als eine Art Einleitung vorangestellt. Dort werden dann in insgesamt sechs Kapiteln verschiedene Aspekte der Ehe und des Familienlebens ausgeführt, vom bonum der Ehe aus theologischer Sicht, ihrer Stiftung im Paradies durch Gott als heiligen Stand, über den Aufwand von Hochzeitsfeierlichkeiten bis hin zur Kindererziehung. Das Ehb chlin ist also als pastoral- und moraltheologische Abhandlung über die christliche Ehe zu verstehen; gewidmet ist die Schrift der Markgräfin Catharina von Brandenburg. 33 D B & Zur Transmissionsgeschichte des Textes lässt sich also abschließend festhalten: Hatte der ursprüngliche Dialog bei Erasmus von Rotterdam einen von vielen, unterschiedliche Themen behandelnden Texten in der Sammlung der Colloquia gebildet, wird er bei Erasmus Alberus in den neuen, spezifisch moraltheologischen Kontext der Ehedidaxe gestellt. In der dänischen und der schwedischen 31 Vgl. Erasmus, Coniugium, S. 311, Z. 369 - S. 313, Z. 424 und Samtaal 1687, Bl. B4 r -B6 r . 32 Vgl. etwa Kortvillig Dialogus, Bl. A3 v -A4 r und insbesondere Bl. A6 r -A6 v : „Barbara: En gammel Kierling lærde mig/ som ieg nu icke il neffne/ at ieg for ingen deel skulde lade mig af min Mand i der første sige/ raade/ eller lade hannem Tonen forlang/ hand skulde (ellers) aldrig blifve mig god. - Agatha: Den Kierling var visselig udsendt af Dieffvelen/ at forføre dig/ […] haffver dog Gud sagt til Qvinden/ du skalt bucke dig for din Mand oc hand skal være din Herre […].“ (B.: Eine alte Frau, die ich nicht nennen mag, lehrte mich, mir keinesfalls von meinem Mann etwas sagen zu lassen oder mich von ihm bestimmen zu lassen, sonst würde er mir nie gut sein. - A.: Diese Frau war gewisslich vom Teufel geschickt worden, um Dich zum Bösen zu verführen. […] Hat nicht Gott zur Frau gesagt: Du sollst deinem Mann gehorchen und er soll dein Herr sein). Die entsprechende Stelle findet sich bei Erasmus Alberus, Ehb chlin, Bl. B3 v -B4 r . 33 Erasmus Alberus, Ehb chlin, Bl. A3 v . Die Kapitelüberschriften des Haupttextes lauten (Bl. A1 v ): „Von der Ehe./ Das Erst Capittel/ was die Ehe sey/ vnnd was sie g ts mit sich bring./ Das Ander Capitel/ Wie ein weib geschickt sein sol/ die einer zur Ehe nemen wil. Wie alt/ vnd was sie dem mann z bringen sol./ Das Dritte/ Von dem kosten vnd gebrenge auff der Hochzeit./ Das Vierdte. Das ein weib ire Kinder selbst seugen soll./ Das Fünffte. Von dreien tugenten deß weibs./ Das Sechst. Von der Kinderzucht.“ Vom humanistischen Dialog zum Eheratgeber 143 Überlieferung rund achtzig und bis zu hundertsechzig Jahre später aber werden Ecteskabs Samtale, Kortvillig Dialogus und Samtaal nurmehr als Einzeltexte tradiert, nicht mehr in einer Überlieferungssymbiose mit einem (ehe)didaktischen Werk. Nur der Titel und die darin anvisierte Leserschaft „Alle Unge Ectefolck saare Nyttelig“ (Kortvillig Dialogus) verweisen (noch) auf den Kontext der Ehedidaxe in der reformatorischen Bearbeitung. Und Vindekildes Übersetzung, die früheste Version des Dialogs in Skandinavien, gibt noch auf dem Titelblatt Erasmus Alberus als Vorlage bzw. ursprünglichen Autor an und bewahrt damit als einzige der drei skandinavischen Bearbeitungen zumindest einen Teil der Tradierungsgeschichte des Textes. Vindekildes Vorrede (Bl. A1 v -A2 r ) ist im Wesentlichen aus dem Ehb chlin übernommen. Hier führt der dänische Übersetzer aus, wie der von Gott im Paradies eingesetzte heilige Ehestand durch den beständig Zwietracht säenden Teufel bedroht wird, und betont am Schluss nochmals den Zweck der Abfassung des Werks, die geistliche Unterstützung für den Rat suchenden Leser und den Schutz der heiligen Ehe. Dass freilich Textstellen in der Historie ausgelassen und abgeändert wurden („aus Anstandsgründen“, wie bei Erasmus Alberus), wird hier jedoch nicht mehr kommentiert; in Kortvillig Dialogus und Samtaal fehlen dann nicht nur die Angabe der Textvorlage, sondern auch die gesamte Vorrede und damit der Ort für den Verweis auf solche textuellen Eingriffe. In den Auslassungen und Kürzungen wird insgesamt, sowohl bei Erasmus Alberus als auch in den skandinavischen Dialogversionen, deutlich, dass die im Coniugium ausgeführte Bedeutung erotischer Liebe in der Ehe nun keine Rolle mehr spielt; vielmehr soll ein Idealbild der (den Vorstellungen der lutherischen Ökonomieliteratur entsprechenden) Ehefrau präsentiert werden, das sich vor allem über die Befolgung der erwähnten „Haushalts- und Verhaltensregeln“ definiert. Hierzu gehören etwa die Sorge der Frau um die Sauberkeit und Ordentlichkeit des Hauses und das Bemühen, dem Mann ein gutes Essen zuzubereiten, ihn von Sorgen abzulenken und aufzumuntern, so werde dem Mann kein Grund zur Klage gegeben. Weiterhin das stets freundliche Benehmen der Ehefrau, die Rücksicht auf die Launen und Wünsche des Mannes zeigen und ihm mit dem nötigen Respekt entgegenkommen solle; auch dürfe sie ihren Mann nicht unnötig reizen, vielmehr auf seine jeweiligen Stimmungen achten und sich dementsprechend nachsichtig und mitfühlend verhalten, Vorwürfe und sogar Unrecht lieber mit Schweigen und Sanftmut ertragen als aufzubegehren. Zwar finden sich diese Regeln auch schon im Coniugium, besitzen dort aber durch den Facettenreichtum des Textes insgesamt und seine ironischen Einschläge längst nicht jene Gewichtigkeit wie dann bei Erasmus Alberus und in den skandinavischen Varianten. 34 In dieser Konzen- 34 Vgl. Samtaal 1687, Bl. B5 r -B5 v und Erasmus, Coniugium S. 312, Z. 402 - S. 313, Z. 413. „Cura vt domi niteat omnia“ und „Sit apparatus domi lautus“ sind hier die einzigen Aussagen, die sich auf die Haushaltsführung beziehen, während es im schwedischen Text ausführlicher heißt: „laga så at det står wäl til hemma i Huset/ och at alt seer reent och skijnande vth/ […] icke heller [skal du wara] laat och försummelig wid Huushåldzsyslorne/ Anna Katharina Richter 144 tration auf die Haushaltsregeln und auf das Geschlechterverhältnis in der häuslichen oeconomia hat sich die Intention des Theologen Alberus mithin in der Transmission der skandinavischen Übersetzungen fortgeschrieben. Dieses Bild der Ehefrau entspricht damit dem in der lutherischen Hausväterliteratur von ihren moralisch-religiösen und ordnungspolitischen Erwartungen her vorgezeichneten Bild der idealen Ehefrau, das auch mit dem alttestamentlichen „Lob der tüchtigen Frau“ (Spr 31, 10-31) einhergeht, natürlich wesentlich mehr, als wenn etwa eine Hervorhebung von oder sogar Ermunterung zu ehelicher Erotik formuliert würde. Die Ordnungsvorstellungen der lutherischen Hausväterliteratur und der hustavla („Haustafel“, der Anhang in Luthers Kleinem Katechismus, der die gegenseitigen Verpflichtungen der verschiedenen Stände in Haus und Staat erläutert und sich dabei insbesondere auf die paulinischen Briefe beruft), insbesondere hinsichtlich der Rolle der Frau und des (hierarchischen) Verhältnisses zwischen den Eheleuten, werden in den skandinavischen Dialogversionen explizit bestätigt. Eulalia beruft sich interessanterweise auch auf die Unauflöslichkeit der Ehe 35 , womit sie explizit auf das katholische Verständnis vom Sakramentalcharakter der Ehe rekurriert - möglicherweise eine Übernahme aus dem Originaltext des Erasmus von Rotterdam, 36 aber Eulalias Aussage lässt sich auch in Übereinstimmung mit der lutherischen Auffassung von der Sakralisierung der Ehe und des häuslichen Zusammenlebens sehen, das Kenneth Johansson zumindest für das lutherisch-orthodoxe Schweden der Großmachtzeit feststellt und mit dem dominanten Ordnungs- und Hierarchiedenken in der moraltheologischen Hausväterliteratur und im zeitgenössischen politisch-juristischen System Schwedens begründet. 37 So führt der „Eheratgeber“ in seinen drei skandinavischen Bearbeitungen des 17. Jahrhunderts vor, welche vielfältigen Aspekte die Transmissionsgeschichte des ursprünglichen lateinisch-humanistischen Dialogs auf dem Weg nach Skandinavien beinhaltet - nicht zuletzt auch religions- und frömmigkeits- oder mentalitätshistorische -, womit die präsentierten Texte in ihren textuellen und kulturellen Transformationen auch ein Stück (nord)europäischer Kulturgeschichte aufscheinen lassen. eller det som böör wara giordt/ vthan at alt seer skickelig/ reent och prydande vthi Huset.“ Samtaal 1687, Bl. B5 r -B5 v (Sieh zu, dass alles im Haus wohlbestellt ist, glänzt und sauber aussieht; sei auch nicht nachlässig in den Haushaltspflichten oder dem, was getan werden muss, vielmehr soll alles ordentlich, sauber und schön aussehen). Vgl. auch Ecteskabs Samtale, Bl. C6 r -C6 v . 35 Samtaal 1687, Bl. A3 v -A4 r , Bl. B4 v und Bl. B8 r . 36 Vgl. Erasmus, Coniugium, S. 303, Z. 81-82: „Olim immedicabilius dissidiiss remedium extremum erat diuortium. Nunc hoc in totum ademptum est. Vsque ad extremum vitae diem ille tuus sit maritus oportet, et tu illius vxor.“ 37 Die Sakralisierung der Ehe und des Hauses schreibt der Frau auch eben diesen Ort, das Haus, als Wirkungsbereich vor und definiert damit ihren Bewegungsradius: vgl. Kenneth Johansson: „Mannen och kvinnan, lusten och äktenskapet. Några tidstypiska tankegångar kring gåtfulla ting“, in: Eva Österberg (Hg.): Jämmerdal och fröjdesal. Kvinnor i stormaktstidens Sverige. Stockholm 1997, S. 27-70, hier S. 68-69. Vom humanistischen Dialog zum Eheratgeber 145 : . Ecteskabs Samtale, eller Dialogus, imellem Tuende Quinder/ lystig oc nyttelig/ alle dem som ere indgangne/ eller indgaa ville/ det hellige Ecteskab/ etc. Giort aff Erasmo Albero/ Oc fordansket/ Aff H.V. [Hans Vindekilde]. Prentet i Kiøbenhaffn/ Aar 1619. En Kortvillig Dialogus eller Samtale/ Mellem Tvende Qvinders Personer/ Angaaende den H. Ectestand. Den ene ved Naffn Agatha/ som loffver og berømmer sin Ecte-Mand: Den andens Naffn Barbara/ som derimod laster oc foracter sin Mand: Alle Unge Ectefolck saare Nyttelig/ oc der hos megit lystigt at Læse. Nu nyligen paa Danske offversat. [Kopenhagen, 1680? ]. Ett Lustigt Samtaal/ Emellan Twenne vnga Hustrur/ Hwarvthinnan den ena sigh beswärar öfwer sin Mans sälsamma Lefwerne/ At hon derföre intet kan komma öfwerens och förlijkas med honom./ Och den Andras / Swar och Lärdom/ huru hon skal sigh förehålla och bära sig åth på det hon må få honom godh och from moot sigh igen./ Nyttigt at Läsa och weta för vnga Hustrur/ och andra som sådant kunna behöfwa när dhe tyckia sigh at haa otämma Män./ [Stockholm? ]. Tryckt Åhr 1687. Erasmus Alberus: Das Ehb chlin. Ein gesprech zweyer weiber/ mit namen Agatha vnd Barbara/ vnd sunst mancherley vom Ehestand/ Eheleuten/ vnnd jederman nützlich zulesen/ An die Durchleuchtige Hochgeborne F rstin/ Fraw Catharina geborne Hertzogin von Braunschweig/ Marggr fin zu Brandenburg etc. Durch Erasmum Alberum. o.O. 1539. Erasmus von Rotterdam: Coniugium, in: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterdami. Recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata. Ordinis primi tomus tertius. Colloquia. Hg. von L.-E. Halkin, F. Bierlaire und R. Hoven. Amsterdam 1972, S. 301- 313. Erasmus von Rotterdam: Vertrauliche Gespräche. Aus dem Lateinischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Kurt Steinmann. Zürich 2000. Fischer, Christoffer: Huus Tafla/ Thet är/ Een Christeligh Vthlegning och förklarning om thessa try stånd: Kyrkio Regemente/ Werldzligh Öfwerheetzoch Huus Regemente/ Sampt allas theras / som medh thesse tree Ordningar hafwa någon gemenskap och bestälning/ huru alla som härvthinnan äro beslutna/ skole sigh i siin kallelse effter Gudz befalning Christeligen förhålla./ Stält igenom Christoffer Fischer then Eldre./ Vthsatt aff Tyskon in på wårt Swenska Tungomål och nu aff Trycket vthgångin aff Andrea Lavrentii Vpsaliensi Pastore Calmarensi./ Tryckt i Stockholm/ hoos Ignatium Meurer/ Anno M.DC.XVIII. [Stockholm 1618]. Holtzmann, Johann: Fromme Qvinders Speyel/ Eller/ Alle gudfryctige Matroners Plict oc Skyld imod Gud/ deris Ecte-Mænd/ Saa oc alle Mennisker/ oc dem selff/ Hvorudi formeldis oc gifvis tilkiende/ hvorledis de skulle forholde sig/ at de først kand befalde Gud/ dernest deris Ectemænd/ saa oc alle Mennisker/ oc det dennem self maa være berømmeligt/ Item/ at de kunde oc skulle sig her udi speyle/ see oc beskue/ hvad deris Embede/ Plict oc Rettighed er/ Paa Tydsk sammenskrefven af Hæderlig oc Vellærd Mand/ Her Johann Holtzmann/ Præst til Vandsbeck udi Holsten/ Nu af Tydske Sprock fordansket ved J. [Joachim] M. [Moltke] B. [Boghandler]/ Er der hos/ for Materien Ligheds skyld/ føyet D. Niels Hemmingssøns S. Christelig Undervijßning om Ecteskab/ at I. Betæncke/ II. Begynde/ III. Fuldkomme/ IV. leffve udi 1. Vijßlige/ 2. Ærlige/ 3. Gudfryctige/ 4. Rolige./ Item Morgenoc Aftenbøner til hver Dag udi Vgen./ Prentet i Kiøbenhavn af Georg Lamprecht/ Paa Joachim Moltkens Bekostning. 1653. [Kopenhagen 1653]. Anna Katharina Richter 146 Pors, Claus: Leffnetz Compaß: En nyttig Hussbog: Kaldis retteligen/ Leffnetz Compaß/ som indeholder mange skøne/ victige Lærdomme/ Atvarsler oc Paamindelser/ som en huer Christen Ven kand rette sit Liff oc Leffnet effter: Er tilsammen skreffuen aff mange atskillige Bøger met smucke Historier formenget/ lystig at læse/ baade til Lærdom oc Tids fordriffue: Saa at en huer skal vel finde en rette Snor at vandre effter/ som haffuer lyst til at leffue retsindelig/ dog huer oc en behager sin Vjß vel: Met stor flijd transfereret oc vdsat aff Tydsken oc paa vort Danske Tungemaal: Aff Claus Porß/ til Øllingxøe. Prentet i Kiøbenhaffn/ Hoss Henrich Waldkirch/ Aar 1613. [Kopenhagen 1613]. Reravius, Rasmus Hansen: Husfred. Det er Aarsager aff den hellige Scrifft/ som skulle beuege alle Christelige Ectefolck/ til at holde Fred oc Endrectighed i deris Husholdning/ Vdsæt paa Danske aff Rasmus Hanssøn Reravius. Du Mand/ haff din Hustru kier/ oc du Quinde ver din Husbonde lydig. Det giør Husfred. Prentet i Kiøbenhaffn/ aff Andrea Gutterwitz oc Hans Støckelmands arffuinge. 1575. [Kopenhagen 1575]. B $ Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit; 60). Glauser, Jürg: Ausgrenzung und Disziplinierung. Studien zur volkssprachlichen Erzählliteratur Skandinaviens in der frühen Neuzeit. Zürich 1990 (unveröffentlichte Habilitationsschrift, Universität Zürich). Graf, Katrin: „‚Ut suam quisque vult esse, ita est.‘ Die Gelehrtenehe als Frauenerziehung“, in: Rüdiger Schnell (Hg.): Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit; 40), S. 233-257. — „Der Dialog ‚Conjugium‘ des Erasmus von Rotterdam in den deutschen Übersetzungen des 16. Jahrhunderts“, in: Schnell, Geschlechterbeziehungen, S. 259-273. Grübel, Isabel: Die Hierarchie der Teufel. Studien zum christlichen Teufelsbild und zur Allegorisierung des Bösen in Theologie, Literatur und Kunst zwischen Frühmittelalter und Gegenreformation. München 1991 (Kulturgeschichtliche Forschungen; 13). Johansson, Kenneth: „Mannen och kvinnan, lusten och äktenskapet. Några tidstypiska tankegångar kring gåtfulla ting“, in: Eva Österberg (Hg.): Jämmerdal och fröjdesal. Kvinnor i stormaktstidens Sverige. Stockholm 1997, S. 27-70. Richter, Anna Katharina: Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. Tübingen 2009 (Beiträge zur Nordischen Philologie; 41). * " # C 1& * 0 R ETO H OFSTETTER , Z ÜRICH Marcolf laudatur, Eulens  piegelus amatur: Et quis non legit, quæ frater Rau  chius egit? Bruno Seidel, Proverbiales 1 „Markolf wird gelobt, Eulenspiegel wird geliebt, und wer hat nicht gelesen, was Bruder Rauschen getrieben hat.“ Diese Worte in Bruno Seidels Sprichwortsammlung Loci communes proverbiales de Moribus, Carminibus antiquis conscripti 2 deuten auf die große Verbreitung der 700-jährigen Teufelshistorie 3 von Bruder Rauschen 4 bereits für die Zeit vor 1572, dem Jahr der Veröffentlichung von Seidels 1 Das aus Bruno Seidels lateinisch-deutscher Sprichwortsammlung Loci communes proverbiales de Moribus, Carminibus antiquis conscripti stammende Zitat findet sich abgedruckt als Faksimile auf Seite 90 in Franck, Johannes. Zur Quellenkunde des deutschen Sprichworts. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Bd. 40 (1867), S. 45- 142. Der Arzt und Lyriker Bruno Seidel veröffentlichte Loci communes proverbiales zuerst unter dem Namen Sententiae proverbiales (1568) und legte mit Loci communes proverbiales (1572) und Paroemiae ethicae sive sententiae proverbiales morales (Frankfurt a. M. 1589) zwei erweiterte Fassungen auf. Das letztgenannte Werk enthält rund 3500 lateinische Sprüche in leoninischen Hexametern sowie deren deutsche Übersetzung. Diese Informationen stammen aus Rupprich, Hans. Vom späten Mittelalter bis zum Barock. Zweiter Teil. Das Zeitalter der Reformation. 1520-1570. In: De Boor, Helmut und Richard Newald. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 4. München 1973, S. 396. In Anbetracht des vorliegenden Forschungsgegenstandes ist auf die zweite, in Form eines leoninischen Gedichtes verfasste Vorrede hinzuweisen, in der Seidel die beliebtesten Schwank- und Historienbücher des 16. Jahrhunderts aufzählt. Darunter befindet sich auch die Historie von Bruder Rauschen, wie aus dem oben zitierten Auszug hervorgeht. 2 Einige Seiten dieses Werkes finden sich als kommentierte Faksimile-Abdrucke in Franck. Zur Quellenkunde des deutschen Sprichworts, S. 45-142. 3 Der Begriff ‘Historie’ impliziert im Gegensatz zu dem in der germanistischen Forschung lange gebräuchlichen Term ‘Volksbuch’ keine „entstehungs- und überlieferungsgeschichtliche Auffassung dieser Texte (Schriften ‘aus dem Volk’ ‘für das Volk’)“. Richter, Anna Katharina. Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. Tübingen 2009, S. 8. 4 Die Bezeichnung des Protagonisten der Historie als Bruder Rauschen anstelle von Bruder Rausch soll irreführende und falsche Assoziationen mit einem Alkoholrausch und damit verbundene Vorstellungen verhindern und auf die ursprüngliche Bedeutung des ‘Lärmers’ hindeuten. Um die bestmögliche Übersicht zu gewährleisten, bedienen sich die Ausführungen des Textvergleichs zusätzlich der niederdeutschen Bezeichnung ‘Ruszke’ sowie dem Dänischen ‘Rus’ bzw. dem Schwedischen ‘Ruus’, falls sich eine Äußerung ausschließlich auf eine der beiden Fassungen bezieht. Weitere onomastisch-semantische Reto Hofstetter 148 Werk. Hinzu kommen zahlreiche Übersetzungen und Neubearbeitungen, die von einem äußerst gut zu adaptierenden, zeitlosen Inhalt zeugen. Noch 1882 erscheint mit Wilhelm Hertz’ Bearbeitung Bruder Rausch. Ein Klostermärchen 5 ein auf der Historie basierendes Buch, welches zuletzt 1967 aufgelegt wurde. Trotz dieser bemerkenswerten Tatsachen fristet die Historie in der aktuellen Forschung ein Nischendasein. Sämtliche wissenschaftlichen Abhandlungen, welche sich umfassend mit diesem Stoff befassen, liegen über hundert Jahre 6 zurück, und die kurzen Artikel der gängigen Literaturlexika legen teilweise überholte Ansichten dar. Die reichhaltige skandinavische Überlieferung 7 ist zudem fast gänzlich unerforscht. Während über den Text 8 des ältesten überlieferten dänischen Druckes (D1) 9 aus dem Jahre 1555 einige wenige Arbeiten existieren, lassen sich über die schwedischen Fassungen (S1) und (S2) keine literaturwissenschaftlichen Publikationen auffinden. Im Folgenden werden die bedeutendsten Ergebnisse der bisherigen Forschung bezüglich der deutschen und skandinavischen Überlieferung zusammengetragen und in komprimierter Form wiedergegeben. 10 Anschließend ermöglicht Überlegungen finden sich zu Beginn der überlieferungsgeschichtlichen Darlegungen sowie im zweiten Abschnitt der komparativen Analyse. 5 Hertz, Wilhelm. Bruder Rausch. Ein Klostermärchen. Marbach 1882. 6 Der Beitrag Frandsen, Søren. Historien om Broder Rus. In: Frandsen, Søren et al. Bogen om Esrum Kloster. Helsingør 1997, S. 169-187, wurde für diese Berechnung ausgeklammert, da es sich um eine populärwissenschaftliche Publikation handelt. 7 Nachfolgend werden die schwedischen Drucke (S1), (S2) sowie der dänische Druck (D1) zusammengefasst als ‘skandinavische Drucke’ bzw. ‘skandinavische Texte’ oder ‘skandinavische Fassungen’ bezeichnet. 8 Der Einfachheit halber werden die Begriffe ‘Druck’, ‘Fassung’ und ‘Text’ synonym verwendet und bezeichnen stets den literarischen Text. Sollte die Anwendung abweichen, geht dies aus dem Lauftext hervor. 9 Die in Klammern angegebenen Druckbezeichnungen werden in der Bibliographie aufgelöst. 10 Die zusammenfassend ausgeführte Überlieferungsgeschichte sowie die Darlegung des Forschungsstandes beruhen auf einer umfassenden, literaturhistorischen Aufarbeitung der einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten, welche sich mit der Historie von Bruder Rauschen auseinandersetzen. Sie beginnt mit der im Jahre 1835 publizierten Arbeit von Wolf, Ferdinand und Stephan Endlicher. Von Bruoder Rauschen. In: Scheible, Johann. Das Kloster. Weltlich und geistlich. Meist aus der ältern deutschen Volks-, Wunder-, Curiositäten-, und vorzugsweise komischen Literatur. Bd. 11. Stuttgart 1849, S. 1070-1118 und wendet sich anschließend den wegweisenden Publikationen des 19. Jahrhunderts zu: Schade, Oskar. Bruder Rausch. In: von Fallersleben, Hoffmann und Oskar Schade. Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Litteratur und Kunst. Bd. 5. Hannover 1856, S. 357-414, Bruun, Christian. Broder Russes Historie. Kjøbenhavn 1868 sowie Anz, Heinrich. Die Dichtung vom Bruder Rausch. In: Euphorion. Zeitschrift für Litteraturgeschichte 4 (1897), S. 756-772 und Anz, Heinrich. Broder Rusche. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 24 (1899), S. 76-112. Anfangs des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich Priebsch, Robert. Die Grundfabel und Entwicklungsgeschichte der Dichtung vom Bruder Rausch. In: Prager Deutsche Studien 8 (1908), S. 423-434 und Priebsch, Robert. Bruder Rausch. Facsimile-Ausgabe des ältesten niederdeutschen Druckes (A) nebst den Holzschnitten des niederländischen Druckes (J) vom Jahre 1596. Zwickau 1919, mit der Historie von Bruder Rauschen, wäh- Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 149 eine komparative Betrachtung die differenzierte Beurteilung einiger disputabler, von der bisherigen Forschung aufgestellter Behauptungen. Hierfür wird der niederdeutsche Druck (A) aus dem Jahre 1488, der dänische Druck (D1) von 1555 sowie der schwedische Druck (S1) von 1645 hinzugezogen. 11 Neben dem Vergleich von inhaltlichen Aussagen und bildlichen Zeugnissen gilt es zudem, formale Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzuhalten. Der Umfang und die Gliederung der Historie sowie die Anordnung der Bilder oder die Intentionen der Titel sind einige Beispiele aus dem Fundus der zu untersuchenden formalen Elemente. 5& " Es darf konstatiert werden, dass in einem von Priebsch aufgespürten Exemplum eines anonymen ‘Verfassers’ aus dem Prosatraktat Die heilige Regel für ein vollkommenes Leben 12 die ‘Grundsage (G)’ der Historie von Bruder Rauschen vorliegt. 13 Ebenfalls als gesichert gilt die Existenz einer nicht überlieferten, lateinischen Vorlage 14 dieses in Prosa verfassten, mitteldeutschen Textes, der das Prophetenwort Gotez wonunge ist in dem vride 15 illustrieren soll. Der Teufel, der unter dem nichtssagenden Namen ‘Bruder Albrecht’ auftritt, wird von dem heilen Klosterleben und der Gottesfurcht der Mönche angelockt und tritt in keinem Moment komisch oder lächerlich in Szene. 16 Mit der Darlegung, wie der Teufel durch ein rend im skandinavischsprachigen Raum Frosell, Hampton. Hvem var Broder Rus? In: Meddelelser fra Rigsbibliotekaren. 35. årgang nr. 3 (1984), S. 3-12, versucht, einige offene Fragen zu klären. Die nächste deutschsprachige Arbeit, welche das Thema berührt, wird erst 1987 veröffentlicht. Röcke, Werner. Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987, setzt sich in einem Kapitel mit der Teufelsfiguration in der Historie von Bruder Rauschen auseinander. 1997 schließlich erscheint als letztes behandeltes Werk die auf Dänisch verfasste Arbeit Frandsen. Historien om Broder Rus. Umfassendere Ausführungen zur Überlieferungs- und Forschungsgeschichte finden sich in: Hofstetter, Reto. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen. Literaturhistorische Erörterungen einer 700-jährigen Transmissionsgeschichte. Zürich: Lizenziatsarbeit 2009 (unveröffentlicht). 11 Bei jedem dieser drei Drucke handelt es sich um die älteste überlieferte Fassung der jeweiligen Sprache. Um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen, wird auf eine Analyse und Transliteration des kompletten Textmaterials verzichtet. 12 Abgedruckt in Priebsch. Die Grundfabel, S. 424-425, Priebsch, Robert. Die heilige Regel für ein vollkommenes Leben, eine Cisterzienserarbeit des XIII. Jahrhunderts, aus der Handschrift Additional 9048 des British Museum. Berlin 1909, S. 49-50 und Priebsch. Bruder Rausch, S. 6-7. Weitere Ausführungen in Siegroth-Nellessen, Gabriele von. Die heilige Regel für ein vollkommenes Leben. In: Stammler, Wolfgang et al. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 3. Berlin 1981, Sp. 627-628. 13 Vgl. dazu Priebsch. Die Grundfabel. 14 Priebsch. Die Grundfabel, S. 426. 15 Priebsch. Die Grundfabel, S. 425. 16 In dieser Eindeutigkeit unterscheidet sich das Exemplum „grundsätzlich von schwankhaftem Erzählen und insbesondere vom Schwankroman, der sich gerade durch die Ambivalenz seiner Helden, durch die Auflösung der Eindeutigkeit von Ideologien und vorgefer- Reto Hofstetter 150 gottesfürchtiges Leben zu vertreiben ist, soll dieser moralisch-belehrende Text einen „faktisch überprüfbaren Beweis“ 17 liefern und dadurch eine Identifikation der Leserschaft mit der Lehre erreichen. Das Exemplum, dessen Entstehung in einem niederrheinischen oder hessischen Kloster um das Jahr 1250 18 anzunehmen ist, wandert anschließend ins niederdeutsche Sprachgebiet und wird in eine umfangreichere, poetisch-gereimte Form gebracht. Ferner dringen ‘volkstümliche Sagenmotive’ 19 sowie Elemente der ‘geistlichen Literatur’ 20 in die Historie, welche zudem einen aus der Zenolegende 21 entlehnten, neuen Schlussteil erhält und mit der Nennung des Sachsenlands zum ersten Mal eine Ortsangabe macht. Neben dem ältesten überlieferten Druck (A) haben mit (B) und (C) lediglich zwei weitere niederdeutsche Fassungen überdauert, während von insgesamt neun erwähnten, hochdeutschen Drucken zum gegenwärtigen Zeitpunkt deren sechs verfügbar sind. 22 In sämtlichen deutschen Texten tritt der Teufel, nun als Bruder Rauschen, nicht mehr wie in (G) als genuin böser Verführer, sondern als unheimliche, listige und bisweilen komisch agierende Schwankfigur auf. Der neue, onomatopoetisch anmutende Name ‘Ruszke’ 23 steht für ‘Lärmer’ und bezeichnete ursprünglich möglicherweise ein Wesen, das einen Bezug zu den Poltergeistern ‘Hüdeken’ oder ‘Pück’ aufweist 24 , aus dessen Sagen die Historie von Rauschen wiederum einige Episoden entlehnt zu haben scheint. Während die in Prosa verfassten niederländischen sowie die darauf basierenden englischen Drucke durch tigten Haltungen und durch die Mehrdimensionalität des Sprechens, Denkens und Handelns auszeichnet.“ Röcke. Die Freude am Bösen, S. 149. 17 Röcke. Die Freude am Bösen, S. 149. 18 Priebsch. Die Grundfabel, S. 426. 19 Vgl. Anz. Broder Rusche, S. 80 ff. 20 Priebsch. Bruder Rausch, S. 9. 21 Dass der Schlussteil der erweiterten Historie von der Legende des heiligen Zeno entlehnt ist, darf als offensichtlich beschrieben werden und gilt allgemein als gesichert. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle die bei Wolf und Endlicher wiedergegebene Fassung abgedruckt. „S. Acta Sanctorum; April. Tom. II. pag. 69-71: De S. Zenone (...). Die Legende erzählt nämlich, dass die Tochter des Königs Galienus vom Teufel besessen war, der durch ihren Mund erklärte, dass nur der Bischof Zeno ihn austreiben könne. Dieser wird auf Befehl des Königs herbeigeholt, und kaum wird der Teufel seiner ansichtig, so ruft er: ‘Ecce tu, Zeno, venisti ad expellendum me; et ego propter pavorem tuae sanctitatis hic stare non possum’. Da fasst der Bischof die Prinzessin bei der Hand und spricht: ‘In nomine Jesu Christi praecipio tibi, exi ab ea daemon.’ At ille publica voce coepit clamare, dioena: ‘Etsi hinc a te fuero expulsus, eo Veronam, ibique invenieame.’ Christi autem sacerdos sanam mox ab emni daemoniacae incursionis illusione restituit filiam Regin.“ Wolf und Endlicher. Von Bruoder Rauschen, S. 1092, Anmerkung 15. 22 Vgl. dazu Gotzkowsky, Bodo. „Volksbücher“. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. Baden-Baden 1991, S. 458- 461. 23 Vgl. dazu das schwache Verb „rûschen, riuschen. geräusch machen, rauschen, brausen, prasseln; eilig u. mit geräusch sich bewegen (bes. zu pferde od. schiffe), sausen, stürmen“. Lexer, Matthias. Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Stuttgart 1992, S. 174. 24 Vgl. dazu Anz. Broder Rusche, S. 81 ff. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 151 die Vermengung mit Episoden aus Till Eulenspiegel 25 die Transformation zum Schwankroman vollenden, befindet sich diese in den „niederdeutschen und hochdeutschen Fassungen (…) noch in statu nascendi“. 26 Neben der unterhaltenden Funktion, die durch die bisweilen komischen Äußerungen und Taten des Teufels sowie durch den kurzweiligen Inhalt evoziert wird, herrscht in den poetisch-gereimten Fassungen der Historie eine omnipräsente, antimonastische Stimmung. Nicht mehr die frommherzigen Mönche, sondern das verruchte Leben innerhalb der heiligen Mauern lockt den Leibhaftigen ins Kloster. Es erscheint als logische Konsequenz, dass ihm seine Übeltaten, an deren Auswirkungen er sich erfreut, ohne große Anstrengungen gelingen. Trotzdem regt sein bisweilen tölpelhaftes Verhalten zum Schmunzeln an und relativiert die Niedertracht der Teufelsfigur. 27 Große Schwierigkeiten bereitet der Forschung die Lokalisierungs-Frage. 28 25 „Der ‘Ulenspiegel’ ist ein Schwankroman, dessen in der Vorrede als behender listiger und durchtribener, eins buren sun eingeführte Titelheld häufig - oft von den durch ihn Geschädigten - als schalck bezeichnet wird (…). Grundbedeutung im ‘Ulenspiegel’ ist ‘Bösewicht’; gelegentlich aber tendiert v.a. das Adjektiv schalkhaft auch zur Bedeutung ‘listig, gewitzt’.“ Mühlherr, Anna. Ulenspiegel. In: Stammler, Wolfgang et al. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 9. Berlin 1995, Sp. 1225-1233. Die eben zitierten Zeilen stammen aus Spalte 1227. 26 Röcke. Die Freude am Bösen, S. 32. Vgl. auch Anz. Die Dichtung vom Bruder Rausch, S. 763. 27 Vgl. Röcke. Die Freude am Bösen, S. 151 f. 28 Beim sorgfältigen Studium der wissenschaftlichen Arbeiten tauchen weitere Ungereimtheiten auf. So ist in der ersten Ausgabe des Verfasserlexikons aus dem Jahre 1933 in Spalte 292 korrekt von Druck „A, etwa 1488“, die Rede, während in der zweiten, aktuellen Ausgabe von 1978 in Spalte 1043 das Druckjahr mit „1448“ angegeben wird. Dies geschieht unverhofft, ohne jegliche Begründung oder Literaturverweis und muss somit als Druckfehler bezeichnet werden. Wolff, Ludwig. Bruder Rausch. In: Stammler, Wolfgang et al. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 1. Berlin 1933, Sp. 292-294 und Harmening, Dieter. Bruder Rausch. In: Stammler, Wolfgang et al. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 1. Berlin 1978, Sp. 1043-1045. Wie oben dargelegt, hat keiner der genuinen dänischen Drucke die Historie ins Kloster Esrom verlegt. Bei der ‘dänischen Volkssage (D)’ handelt es sich um eine von Thiele selbst verfasste, um die Information der Beheimatung in Esrom ergänzte Nacherzählung der alten dänischen Drucke. Trotzdem schreibt Erich Wimmer, dass die Lokalisierung der Historie von Bruder Rauschen und „den oberdt. Fassungen“ im Kloster Esrom durch die ‘dänischen Volkssage (D)’ bedingt sei. Er spricht der ‘dänischen Volkssage (D)’ den Status einer genuinen Fassung zu und meint, dass sie für eine Entwicklungsstufe stehe, die das ursprüngliche Exemplum bereits um „volkstümliche Sagenmotive erweitert“ hat, jedoch zunächst in seiner erbaulichen Tendenz verbleibe. Wimmer, Erich. Bruder Rausch. In: Ranke, Kurt und Rolf Wilhelm Brednich. Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 2. Berlin 1977, Sp. 865-868. Missverständlich ist auch die Aussage von Gerhard Cordes, die zwei niederdeutschen Drucke der Historie von Bruder Rauschen würden „keine mnd. Originalfassung bieten, sondern auf die hd. zurückgehen“. Cordes, Gerhard. Mittelniederdeutsche Dichtung und Gebrauchsliteratur. In: Cordes, Gerhard und Dieter Möhn (Hrsg.). Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Berlin 1983, S. 371-372. Um Verwechslungen mit den hochdeutschen, poetisch-gereimten Drucken zu vermeiden, wäre es behilflich, von der mitteldeutschen ‘Ori- Reto Hofstetter 152 Bedauerlicherweise wird die bei Thiele 29 geschilderte ‘dänische Volkssage (V)’ 30 von beinahe sämtlichen Exponenten als genuine Fassung angesehen. Jene verlegt in Übereinstimmung mit den hochdeutschen Drucken die Historie ins Kloster Esrom nach Dänemark, was teils abenteuerliche Theorien zur Folge hat, die bis heute nachhallen. 31 Nur Anz 32 und nach ihm Frandsen 33 haben erkannt, dass es sich bei (V) lediglich um eine von Thiele selbst verfasste, literarische Wiedergabe der alten Drucke handelt. Frandsen gelingt es ferner, die wenigen dänischen Quellen des 16. Jahrhunderts, welche eine Verbindung zwischen Bruder Rauschen und Esrom herstellen, zu durchleuchten und als gelehrten Ursprungs zu demaskieren. 34 Die Historie wird demnach lediglich von der hochdeutschen Überlieferung im Kloster Esrom lokalisiert. Den Grund hierfür scheinen diese Drucke gleich selber preiszugeben. Sie berichten in aller Deutlichkeit, dass ihnen die Information von einem Ordensbruder aus Esrom, der möglicherweise eine Verbindung der Rausch-Historie und den in Fußnote 34 erwähnten Geschehnissen um einen blasphemischen Bruder zu erkennen glaubte, mitgeteilt wurde. 35 Leider ist es nicht möglich, diese theoretisch plausible Aussage zu belegen. ginalfassung’ zu sprechen. Zudem müsste korrekterweise von drei niederdeutschen Fassungen gesprochen werden. Im Artikel Wunderlich, Werner. Bruder Rausch - [sic] Eulenspiegels niederdeutscher Vetter. In: Eulenspiegel-Jahrbuch (1989), S. 99-101, führt Wunderlich zwei bisher unbekannte Tatsachen aus, welche sich bei näherem Hinsehen nicht bewahrheiten. So heißt es, dass der Teufel in der ‘Grundsage (G)’ „erstmals als Bruder Rausch (...) bezeichnet“ wird. Dies ist nicht der Fall. Der Leibhaftige hört im Exemplum, der Grundsage (G), auf den Namen ‘Bruder Albrecht’, während er erst in der späteren, poetisch-gereimten Überlieferung als ‘Bruder Rauschen’ auftritt. Das zweite Versehen betrifft das Vorverlegen des ältesten überlieferten niederdeutschen Druckes um 40 Jahre. Möglicherweise wurde die fehlerhafte Jahreszahl aus der zweiten Ausgabe des Verfasserlexikons von 1978 übernommen. 29 „J. M. Thiele: Danske Folkesagn. Anden Samling. Kjøbenhavn 1819, s. 143 ff.“ Literaturverweis zitiert nach Frandsen. Historien om Broder Rus, S. 187, Anmerkung 1. 30 Der Begriff ‘dänische Volkssage (V)’ bezeichnet im Folgenden die bei Thiele in Prosa wiedergegebene Historie. 31 So heißt es im Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung fälschlicherweise, dass (V) für eine mittlere Entwicklungsstufe der Historie stehen würde. Vgl. Fußnote 28. 32 Anz. Broder Rusche, S. 81. 33 Frandsen. Historien om Broder Rus, S. 170. 34 Zudem zeigt er auf, dass Heldvads Kenntnisse der hochdeutschen Drucke, seine pro-reformatorische Gesinnung und die vorherrschende negative Stimmung gegenüber dem Katholizismus ihn dazu bewegen, Rauschen als Klosterkoch und Bruder von Esrom zu bezeichnen. Ferner scheint das ausschließlich in gedruckter Form vorliegende Epitaphs von John Præst aus der Feder Heldvads zu stammen. Nicht bestritten werden kann die Existenz eines Dokuments über einen wegen gotteslästerlichen Betragens exkommunizierten Mönch in Esrom. Um diesen Vorfall scheint sich eine ‘Lokalsage (L)’ zu bilden, welche anschließend in Verbindung mit der Historie von Bruder Rauschen gebracht wird. Frandsen. Historien om Broder Rus, S. 178-180. Ein Abdruck von (L) findet sich bei Bruun. Broder Russes Historie, S. 11. 35 Vgl. dazu Anz. Broder Rusche, S. 86 f. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 153 # " H Die Titelseite des schwedischen Druckes (S1) von 1645 liefert nach dem eigentlichen Titel 36 einen kurzen, inhaltlichen Ausblick 37 und macht auf eine zusätzliche Erzählung 38 aufmerksam, welche der Historie von Bruder Rauschen beigefügt wurde. 39 Schließlich proklamiert die Aussage „Lustige at laesa“ 40 den Unterhaltungswert des Textes. Der informative Untertitel sowie der Hinweis auf das kurzweilige Lesevergnügen machen die Historie leichter zugänglich und beabsichtigen durch die attraktiv gestaltete Präsentation eine verkaufsfördernde Wirkung. Es folgt ein Holzschnitt (Abb. 1) sowie die Nennung von Druckort und jahr. Diese Illustration bildet im Gegensatz zu den Holzschnitten der niederdeutschen Drucke (Abb. 3) keine Teufels-Charakteristika ab und wurde nicht spezifisch für die Historie von Bruder Rauschen hergestellt. Naheliegend ist die Verwendung aus praktischen Gründen, da möglicherweise ein bereits benutzter Druckstock zur Verfügung stand. Jöran Sahlgren druckt in seiner Edition Svenska Folkböcker, 41 welche sich auf den schwedischen Druck (S1) von 1645 beruft, dessen Titelblatt ab (Abb. 2). Merkwürdigerweise fehlt dem Bäckerjungen in der bei Sahlgren abgebildeten Version jedoch der Kopf. Da die zwei Bilder ansonsten vollumfänglich kongruent sind, macht es den Anschein, als sei das Haupt absichtlich retuschiert worden. 42 Über den Grund für diese Bildbearbeitung können nur Mutmaßungen 43 angestellt werden. Im Gegensatz zu der reichhaltigen Ausgestaltung der Titelblätter der schwedischen Drucke finden sich in der dänischen Fassung (D1) lediglich ein knapper Titel 44 sowie ein direkt unter dem Titel folgender Holzschnitt (Abb. 4), welchem im direkten Vergleich mit dem schwedischen Druck mehr als doppelt so viel Platz zur Verfügung steht. Wie in den schwedischen Drucken fehlen auch hier die typischen Teufels-Merkmale. Närrisch anmutende Charakteristika wie die große Nase, die seltsamen Ohren sowie 36 „Broder Ruus/ “. (S1), S. 1. 37 „Thet aer/ Brodher Ruuses Historia Eller Chronica. Huruledes han vthi ett Cloester hafwer tient siw åhr foer en Kock/ och hwad han ther bedrifwit hafwer/ “. (S1), S. 1. 38 „Foermerat medh een annan liten Historia/ “. (S1), S. 1. 39 In dieser Erzählung mit dem Titel „Een annan lijten Historia“ tritt der Teufel in Form eines Poltergeistes auf, der schließlich im Kloster mit grüner Kappe und Glöckchen als Gehilfe zu dienen hat. Am Ende heißt es, dass es der Poltergeist Bruder Rauschen gleich tut, indem er dem Küchenjungen einen schelmischen Streich spielt und diesen häuptlings über einen Küchenbalken hängt, jedoch ohne ihn zu verletzen. Anschließend wird der Teufel freigelassen. Eine Besprechung der Historie findet sich in Hofstetter. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen, S. 109-112. 40 (S1), S. 1. 41 Sahlgren, Jöran (Hrsg.). Svenska Folkböcker. Bd. 5. Stockholm 1948. 42 Dies deutet auch die fehlende Schattierung an, welche nicht nachgetragen wurde. 43 Möglicherweise missfiel Sahlgren das knabenhafte Äußere der Person, welche durch das Fehlen ihres Kopfes nun unheimlicher wirkt als auf dem originalen Holzschnitt. Die auf 1655 datierte Neuauflage (S2) des schwedischen Druckes verzichtet komplett auf diese Illustration und bildet an deren Stelle ein Ornament ab. 44 „Broder Russes | Historie“. (D1), S. 1. Reto Hofstetter 154 die Mönchskutte weisen jedoch darauf hin, dass es sich um einen spezifisch für die Historie von Bruder Rauschen angefertigten Holzschnitt handelt. Abb. 1: Titelholzschnitt von (S1), 1645. 45 Die abgebildete Person zeigt einen Bäckerjungen, der Brote in den Ofen schiebt. 46 45 (S1) liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Mathias von Wachenfeldt, Linköpings stadsbibliotek. 46 Der Bäckerjunge soll offenbar an Bruder Rauschen in seiner Funktion als Klosterkoch erinnern oder diesen gar abbilden. Der rechts abgedruckte Steinbock kann als Anspielung auf den Gehörnten verstanden werden. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 155 Abb. 2: Titelholzschnitt von (S1) in SF, 1948. 47 Der Bäckerjunge erscheint mit retuschiertem Kopf. Abb. 3: Titelholzschnitt von (A), 1488. 48 Der in einer Mönchskutte auftretende Rauschen weist etliche Teufelscharakteristika auf. Dazu zählen die Fledermausohren, die weit aufgerissenen Augen, die gesträubten Haare, der Bocksbart sowie die mächtige Nase. 47 Digital aufbereiteter Scan des Abdrucks in Sahlgren. Svenska Folkböcker, S. 181. 48 Digital aufbereiteter Scan des Abdrucks in Priebsch. Bruder Rausch, S. 73. Reto Hofstetter 156 Abb. 4: Titelholzschnitt von (D1), 1555. 49 Rauschen zeigt mit seinem rechten Zeigefinger auf das rechte, untere Eck und fordert dazu auf, das Buch zu öffnen resp. die Seite umzulegen. Auf der Rückseite der ersten Blattes kommen mit einem weiteren Holzschnitt, der eine närrische Szene zeigt (Abb. 5) sowie sechs Zeilen, in denen sich der Protagonist vorstellt 50 , zwei ausschließlich in (D1) vorhandene Elemente zum Vorschein. Ein direkter Bezug der abgebildeten Szene zu einer in der Historie von Bruder Rauschen vorkommenden Episode ist nicht zu erkennen, vielmehr macht es den Anschein, als stamme der Holzschnitt aus einem anderen Werk. Diese Annahme bestätigt sich bei der Betrachtung des Titelblattes von Sebastian Brants Narrenschyff (Abb. 6). Der dort auftretende Holzschnitt weist ein identisches Motiv auf. Obwohl die zwei Illustrationen in einigen Details abweichen, kann konstatiert werden, dass es sich beim Titelblatt-Holzschnitt von Brants Narrenschyff um die Vorlage des dänischen Druckes handelt. Erst in Verbindung mit den sich auf derselben Seite befindlichen sechs Zeilen, in denen sich Broder Rus vorstellt 50 , scheint die Verwendung des Bildes nachvollziehbar. Die Betrachtung des Holzschnittes unter Berücksichtigung von Bruder Rauschens Ausführungen, dass alle, welche ihm dienen, „ond løn“ 51 ernten werden, lässt vermuten, dass es sich bei den im Karren befindlichen Narren um Rauschens Anhänger oder Diener 49 (D1) liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Søren Clausen und Jytte Kjaergaard, Det Kongelige Bibliotek. 50 „Ieg hider Rus ieg er vel skøn | huo mig vil tiene hand faar ond løn | Det siger mine tiennere alle | Som mig en Herre monne kalle | Fordi de ere i Aarden met mig | Thi faa de saadan løn som ieg“. (D1), S. 1. 51 (D1), S. 24. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 157 handelt, welche sich auf einer Reise mit ungewissem Ziel befinden. 52 Dies würde auch das Entfernen des Hintergrundes erklären, was eine Lokalisierung verunmöglicht. Zudem suggerieren verschiedene Instrumente, dass von Bruder Rauschen und seiner Schar ein lautes Getöse ausging. 53 Abb. 5: Holzschnitt auf Seite 2 von (D1), 1555. 54 Fünf Narren sitzen in einem Leiterwagen, der von einem Pferd gezogen wird. Auf diesem befindet sich eine weitere Person, die vermutlich Bruder Rauschen darstellen soll, da es sich um die einzig gesondert abgebildete Figur handelt. 52 Auffallend ist zudem das abgebildete rechte Bein von Bruder Rauschen. Anders als im Holzschnitt von Dürer ist sein hoher Stiefel schwarz gefärbt und die gefährlich anmutende Spore tritt prägnanter in Erscheinung. Den Gesichtszügen nach zu urteilen scheinen sich seine Anhänger respektive Diener nicht sonderlich wohl zu fühlen. In der ursprünglichen Illustration sind am rechten Rand des Bildes zusätzlich die Hinterbeine eines weiteren Pferdes auszumachen. Möglicherweise fehlen diese im dänischen Druck, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, es existiere neben Rauschen noch ein weiterer Anführer. 53 Der vorderste Narr bläst in eine Zugtrompete mit umgehängter Schellen-Fahne und die sich hinter ihm befindliche Person hält einen Banner mit Schellen-Motiv in die Höhe. Kleine, an den Gewändern angebrachte Glocken weisen ebenfalls auf Lärm hin. 54 (D1) liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Søren Clausen und Jytte Kjaergaard, Det Kongelige Bibliotek. Reto Hofstetter 158 Abb. 6: Obere Hälfte des Titelblattes von Sebastian Brants „Narrenschyff“. 55 + 1 ; Wie erwähnt, gibt sich die Forschung bezüglich der skandinavischen Drucke bedeckt. Bruun konstatiert, dass beim ältesten überlieferten dänischen Druck (D1) nicht von einer Übersetzung gesprochen werde könne: „Broder Rus (…) er behandlet originalt fra først til sidst“ 56 , auch wenn er auf einer deutschen Grundlage basieren mag. Analog dazu äußert sich Frandsen, der von einer kompletten Neubearbeitung spricht, welche die deutschen Drucke an Intensität und Humor übertreffe. 57 Eine ausführlichere, weiterführende Betrachtung dieses interessanten Aspektes liegt bis anhin jedoch nicht vor. Konstatiert werden kann hingegen, dass die nordischen Texte den Inhalt in einer ausführlicheren Form als die niederdeutschen präsentieren, wie ein Blick auf die Gesamtlänge der Fassungen zeigt. Der niederdeutsche Druck (A) zählt 421 Zeilen, während der dänische Text (D1) 55 Scan des Abdrucks in Dürer, Albrecht. Das gesamte graphische Werk. Einleitung von Wolfgang Hütt. Bd. 2. München 1988, S. 1338. Mit freundlicher Genehmigung von Sabine Beaucaire und dem Rogner & Bernhard Verlag. 56 Bruun. Broder Russes Historie, S. 8. 57 Vgl. Frandsen. Historien om Broder Rus, S. 175. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 159 nach 540 Zeilen 58 zu einem Ende kommt. Röcke hält fest, dass die Transformation vom Exemplum zum Schwankroman in den nieder- und hochdeutschen Fassungen noch nicht abgeschlossen sei, während die niederländische und englische Überlieferung diese vollenden würden. 59 Die naheliegende Frage, wie es um die späteren, skandinavischen Übersetzungen steht, klammert er hingegen vollständig aus. Über die schwedischen Drucke ist kaum Forschungsliteratur auffindbar. Bruun 60 und Sahlgren 61 konstatieren lediglich, dass es sich beim schwedischen Druck (S1) von 1645 um eine getreue Übersetzung aus dem Dänischen handelt. Eine grobe Durchsicht der zwei ältesten überlieferten skandinavischen Fassungen (D1) und (S1) scheint dies zu bestätigen. Der nahezu gleich große Umfang der zwei Drucke 62 sowie etliche identische Formulierungen deuten darauf hin, dass über große Strecken tatsächlich eine exakte Übertragung vorliegt. An dieser Stelle knüpft die folgende Untersuchung an, indem sie das Verhältnis zwischen (D1) und der schwedischen Überlieferung beleuchtet. Zudem soll sie die Rechtmäßigkeit der Aussage, bei der dänischen Fassung handle es sich um ein ‘Original’, überprüfen und aufzeigen, welcher Entwicklungsstand die Transformation der Historie zum Schwankroman in der skandinavischen Überlieferung vorweist. Im Unterschied zu der niederdeutschen Fassung, welche die Völlerei nicht explizit erwähnt, ist in den skandinavischen Drucken mehrfach von Bier die Rede. 63 Zudem berichten sie von den Trinkgewohnheiten der Brüder. 64 Es ist denkbar, dass die Übertragung des niederdeutschen Namens ‘Ruszke’ zu ‘Rus’, im Dänischen sowohl als Bezeichnung für ‘Rausch’ als auch für ‘Rauschen’ geläufig, 65 in der Absicht getätigt wurde, bei der Leserschaft Assoziationen mit Trunkenheit auszulösen respektive deren Thematisierung in der Historie zu legitimieren. Die neue Funktion verschafft dem Teufel zudem eine weitere negative Eigenschaft, steigert den Unterhaltungswert und ermöglicht ferner, die Problematik exzessiven 58 Nicht berücksichtigt wurden die religiös gefärbten, im niederdeutschen Text nicht vorhandenen Schlussworte der skandinavischen Drucke. Die schwedische Fassung (S1) zählt ohne abschließende Worte und Zusatzhistorie 525 Zeilen. 59 Röcke. Die Freude am Bösen, S. 32. Vgl. auch Anz. Die Dichtung vom Bruder Rausch, S. 763. 60 „Den svenske Broder Rus er tydelig nok en tro Oversættelse af den danske“. Bruun. Broder Russes Historie, S. 2. 61 „År 1645 utkom ett svenskt skillingtryck, som (…) innehåller en trogen översättning av den danska Broder Rus“. Sahlgren. Svenska Folkböcker, S. 9-10. 62 (D1) zählt 540 Zeilen, (S1) endet nach 525 Zeilen. Eine dem schwedischen Druck hinzugefügte, zusätzliche Erzählung sowie alle übrigen nach dem Ende der eigentlichen Historie vorkommenden Ausführungen sind bei dieser Berechnung ausgeklammert. Werden zudem die sechs einführenden Zeilen der dänischen Fassung subtrahiert, beträgt der absolute Unterschied von (D1) und (S1) gerade einmal 9 Zeilen. 63 Siehe (D1), Z. 34 und Z. 360 sowie die Zusatzhistorie der schwedischen Drucke, (S1), Z. 626, 629 und 633. 64 Siehe (D1), Z. 13-16 sowie Z. 84. 65 Kalkar, Otto. Ordbog til det ældre danske Sprog (1300-1700) Bd. III. København 1976, S. 629 f. Reto Hofstetter 160 Alkoholkonsums in Klöstern 66 anzusprechen. Wie in den forschungsgeschichtlichen Ausführungen erwähnt wurde, steht der Name ‘Ruszke’ ursprünglich für ‘Polterer, Lärmer’. Im Gegensatz zum Dänischen fehlt im Deutschen anfänglich die Bedeutung ‘Trunkenheit’ in der Semantik des Wortes ‘Rausch’ und demzufolge auch im Namen ‘Rauschen’. 67 Ebenfalls gezeigt wurde, dass sich die Funktion des Textes mit der Übertragung vom Lateinischen ins Mittel- und Niederdeutsche komplett geändert hat. Aus dem lehrhaften, in Prosa verfassten Exemplum wurde ein mahnendes, kritisierendes Stück Unterhaltungsliteratur, welches die Missstände in den Klöstern anprangert. Das Thematisieren von Alkoholika sowie die neugeschaffene Verbindung des Namens ‘Rus’ mit einem Alkoholrausch zeigen, dass diese Entwicklung in den skandinavischen Fassungen fortgesetzt wird, ohne dass jedoch komplett neue Episoden eingeführt würden. Stattdessen werden die altbekannten Szenen gekonnt und effektvoll ausgeschmückt sowie einige Äußerungen ausgelassen. Es fällt auf, dass die skandinavischen Texte mehrfach mit einer vulgären Ausdrucksweise aufwarten. Dies lässt sich beispielsweise bei der Schilderung des Mordes am Klosterkoch beobachten. Nach der rhetorischen Frage, ob es guter Diener Sitte sei, ihren Herren alleine mit viel Arbeit stehen zu lassen (93-94), stößt Rus den Koch in den mit siedendem Wasser gefüllten Kochkessel (102-104 resp. 74-75). Während im Niederdeutschen lediglich ausgeführt wird, dass der Meister im Kessel verbrannt und stirbt (76), berichten die skandinavischen Fassungen, dass ihm Rus einen schalkhaften Streich spielt und ihn kopfüber wendet, nachdem er ihn in den Kessel geworfen hat (104-105). 68 Die Betonung liegt hierbei auf dem Allerwertesten, der bei diesem Unterfangen in die Höhe ragt. Zudem darf die Ausdrucksweise in Zeile 96 69 ebenfalls als skatologisch bezeichnet werden. 66 Vgl. dazu Jüttner, Guido. Alkohol. In: Avella-Widhalm, Gloria et al. Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. München 1980, Sp. 416-417. Jüttner weist darauf hin, dass „Streitschriften gegen den Alkoholmißbrauch erst im 16. Jh. vermehrt auftreten“, während sich die Orden schon früher in Verordnungen gegen den Abusus aussprechen. 67 „die übertragung des wortes in den heutigen sinn ist eine äuszerung des trinkerwitzes, der die zahllosen abstufenden bezeichnungen für zustände der trunkenheit im deutschen geschaffen hat, sei es, dasz sie an das rauschen im kopfe anknüpft, das sich in gewissen vorgerückten stunden einzustellen pflegt, oder an die geräuschvolle lustigkeit der zecher. (...) in welchem landstriche Deutschlands und in welchen kreisen der erwähnte trinkerwitz die bedeutung von rausch umprägte, läszt sich mit sicherheit nicht feststellen, im oberwie im niederdeutschen des 16. jahrh. ist sie vorhanden; einen fingerzeig aber giebt der kreis der länder, in welche rausch als lehnwort eingedrungen ist: schwed. rus, dän. ruus, isländ. rûss.“ Grimm, Jacob. Deutsches Wörterbuch. Bd. 8. Leipzig 1893, Sp. 302-305. 68 Die den schwedischen Drucken zusätzlich hinzugefügte Erzählung stellt durch das Zitieren der Zeilen 104-105 (D1) resp. 99-100 (S1) einen Bezug zu der Historie von Bruder Rauschen her. Vgl. (S1), Z. 663-664. 69 Da es sich beim schwedischen Druck (S1) über weite Strecken um eine wortgetreue Wiedergabe der dänischen Fassung (D1) handelt, werden lediglich Zeilen abgedruckt, die Unterschiede aufweisen, welche über rein sprachlich bedingte Abweichungen hinausgehen. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 161 Niederdeutsche Fassung (A): Dar na eynes auendes spade Ruszke quam nicht to der koken drade 70 De meyster kock sloch em to male sere Unde fragede war he so lange west were Ruszke sprack du byst eyn boue groeth Dat hebbe ick wol an dy gehort Dar henck eyn ketel vnde soeth 75 Ruszke synen meyster dor instoeth Dat he vorsoeth vnde starff Ruszke leep vnde warff 70 Deme abbete na den wyllen syn Eyn schone iuncfrouwelin 80 Do repen de monke in der koken alle Wo dat de meyster kock were gefallen In eynen heten ketel vnde is doeth De abbet do ruszken entboeth Dat he scholde staen in syde stede 85 Dat beleuede den monken alle mede Alsusz wart ruszke eyn meyster kock He leeth den monken neynen brock Meyster ruszk makede de spyse gued Des weren de monke wolgemoeth Diese sind in der Transliteration von (D1) durch Kursivschrift hervorgehoben und werden in einer Fußnote wiedergegeben. Jene informiert über die konkrete Änderung und zitiert anschließend die vollständige Zeile des schwedischen Druckes (S1). Positiv formuliert bedeutet dies, dass sämtliche Zeilen von (D1), die nicht mit einer Fußnote gekennzeichnet sind, in (S1) wörtlich übersetzt wiedergegeben werden. Um diesen Modus Procedendi konsequent anwenden zu können, sind die Quellenverweise der synoptisch dargestellten Episoden nicht in einer Fußnote angebracht, sondern werden an dieser Stelle zusammenfassend abgedruckt. Als Vorlage der Transliterationen von (D1), die jeweils in der rechten Spalte wiedergegeben sind, dienten von der königlichen Bibliothek zu Kopenhagen angefertigte, hochauflösende Scans des Druckes. Als Quelle von (A), dessen Darlegungen in der linken Spalte geschildert sind, wurde der Faksimiledruck in Priebsch. Bruder Rausch. benutzt. Die Transliterationen von (S1) hatten eine gescannte Version des in der Stadsbibliotek Linköping Druckes als Vorlage, jene von (S2) Fotokopien des einzig überlieferten, in der königlichen Bibliothek zu Stockholm aufbewahrten Exemplars. 70 Das erste „f“ ist schlecht lesbar und wurde unter Berücksichtigung der Transliteration von Anz ergänzt. Vgl. Anz. Broder Rusche, S. 98. Reto Hofstetter 162 Dänische Fassung (D1): 90 En tid som Rus i stegerssit kom stegeren begynte at see sig om 71 Han spurde huor Rus haffde verit saa lenge om det vor seed aff gode drenge At lade sin Mestere ene staa 95 naar gaffn skal gøris oc holde sig fraa 72 Hand slo paa Rus at hand sig sked men Rus bleff da først retteligen vred 73 En mectig stor Kedel paa Ilden stod hand sød fuld fast for Ilden vaar god 74 100 Oc ingen vaar i Stegerssit saa nær 75 som viste huad de brygde dær Rus tager sin Mestere vid sin haand oc løffter hannem i det siudende vand 76 hand giorde hannem ith skalckactig sned 77 105 vende Artzen op oc hoffuedet ned Rus løff aff stegerssit met en hast hand vred sine hender hand roffte fast 78 ynckeligen kærde met suck oc graad 79 huor ilde det vaar hans Mestere gaad 110 Huorledis hand vaar vdi Kedelen styrdt oc skammeligen haffde sig selff formyrdt 80 Abbeden kom met munckene alle den tid de hørde Rus saa kalle Toge stegeren op/ sloge Vandet vd 81 115 skurede Kedelen vel met sand oc grud 82 Der det vaar giort i samme stund 83 her Abbed hand tenckte ith andet fund 84 Han klapte paa stegers dørren met en stock 85 beropte Rus til en Mestere kock 86 120 Befol hannem stegers met gryder alle 87 alt køcken tyg/ huad mand det kunde kalle 88 Der met vaare Munckene vel til frede de vaare fuld glade at det saa skede 89 Hand bleff deris kock ith aar eller siu 125 til forn en skalck saa vel som nu 71 In (S1) wird „stegeren“ durch „Kocken“ wiedergegeben. „Kocken begynte at see sigh om/ “. (S1), Z. 86. Die Bedeutung der Kursivschrift wird in Fußnote 69 erläutert. 72 In (S1) wird „holde sig fraa“ durch „hållas på/ “ wiedergegeben. „Naer gagn skulle goeras och hållas på/ “. (S1), Z. 90. 73 In (S1) fällt „først“ weg. „Men Ruus bleff tå redeligen wredh/ “. (S1), Z. 92. 74 In (S1) wird „fuld“ durch „wael“ wiedergegeben. „Han soedh wael fast/ ty Eelden war godh/ “. (S1), Z. 94. 75 In (S1) fällt „i“ weg. „Och ingen war Stegerset så naer/ “. (S1), Z. 95. 76 In (S1) wird „vand“ durch „Pan” wiedergegeben. „Han lyffter honom vthi then siudande Pan/ “. (S1), Z. 98. 77 In (S1) wird „hand“ durch „Och“ wiedergegeben. „Och giorde honom ett skalckachtigt snedh/ “. (S1), Z. 99. 78 In (S1) wird „vred“ durch „slogh“ wiedergegeben. „Han slogh sina haender/ han ropade fast/ “. (S1), Z. 102. 79 In (S1) fällt „kærde“ weg. An erster Stelle wird „Leet“ hinzugefügt. „Leet ynckeligen medh suckan och grååt/ “. (S1), Z. 103. 80 „skammeligen“ erscheint in (S1) an fünfter Stelle. „Och hade sigh sielff skamligen moerdat/ “. (S1), Z. 106. 81 In (S1) wird „stegeren“ durch „Kocken“ wiedergegeben. „Togho Kocken vp/ slogho Watnet vth/ “. (S1), Z. 109. 82 In (S1) wird „grud“ durch „klwt“ wiedergegeben. „Skurade Kettelen wael medh sand och klwt/ “. (S1), Z. 110. 83 In (S1) wird „Der“ durch „Naer“ wiedergegeben. „Naer thet war giordt i samma stund/ “. (S1), Z. 111. 84 In (S1) wird „her Abbed hand tenckte“ durch „Taenckte Abboten“ wiedergegeben. „Taenckte Abboten en annan fund/ “. (S1), Z. 112. 85 In (S1) wird „klapte“ durch „slogh“ wiedergegeben und „stegers“ fällt weg. „Han slogh på Doeren medh en Stock/ “. (S1), Z. 113. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 163 Ein weiteres Beispiel für die vulgäre, bisweilen obszön-sexistische Ausdrucksweise der skandinavischen Fassung findet sich bei der Schilderung der Geschehnisse, welche schließlich zu einem Kampf unter den Mönchen führen. Im Niederdeutschen wird in nur zwei Zeilen 90 erzählt, dass es unter den Mönchen zu Streit wegen einer Frau kommt. Druck (A) verzichtet darauf, Bruder Rauschen explizit als Verursacher dieser Probleme zu bezeichnen, obwohl die Frauen durch seine Vermittlungskünste ins Kloster gelangen und dadurch der Streit überhaupt erst möglich wird. Die dänische Fassung hingegen erweitert diese Szenen und beschreibt die Kontroversen im Zusammenhang mit einer Frau über 12 Zeilen 91 hinweg. Die sexuellen Absichten des Kirchenoberhaupts werden durch anrüchige Vergleiche symbolisch umschrieben. So heißt es, dass der Prior seinen Hund füttern will und dazu die ‘Gespielin’ des Abtes holen lässt. Ferner wird erzählt, dass die Lust und Freude des Priors groß sein müsse, bei all den Männern um ihn, mit denen er sich pausenlos abzugeben hat. Als weiteres Beispiel, wie der Leserschaft die Niedertracht des Leibhaftigen vor Augen geführt wird, sind seine Kochkünste zu nennen. So berichtet die niederdeutsche Fassung, dass Ruszke freitags jeweils zum allgemeinen Behagen Fleisch auftischt. 92 Bereits die Tatsache des Fleischverzehrs verstößt jedoch gegen die Benediktusregel, 93 in der es heißt: „Carnium vero quadrupedum omnimodo ab omnibus abstineatur comestio, praeter omnio debiles aegrotos“. 94 Auch die Vorschriften der Zisterzienser 95 untersagen den Fleischkonsum strikt. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter als die Anweisungen der Benediktusregel, wie in 86 In (S1) wird „beropte“ durch „Kallade“ wiedergegeben. „Kallade Ruus til en Maestare Kock/ “. (S1), Z. 114. 87 In (S1) wird „stegers“ durch „Koeketygh“ wiedergegeben. „Befalte honom Koeketygh medh Grytor alla/ “. (S1), Z. 115. 88 In (S1) wird „alt køcken tyg“ durch „Kettlar och Krukor“ wiedergegeben sowie „huad“ durch „huru“. „Kettlar och Krukor huru man thet kunde kalla/ “. (S1), Z. 116. 89 In (S1) wird „de“ durch „Och“ wiedergegeben und „fuld“ fällt weg. „skede“ wird zu „aer skedt“. „Och wore gladhe at thet så aer skedt/ “. (S1), Z. 118. 90 „Dar na begunde sick eyn kyff | Under den monken vmme eyn wyff“. (A), Z. 124-125. 91 (D1), Z. 174-185. 92 „Des frydages plach de sulue rusz | To kakende eyn gued fleesz moesz “ . (A), Z. 90-91. 93 Steidle, Basilius (Hrsg.). Die Benediktus-Regel. Beuron: Beuroner Kunstverlag 1978. 94 Die deutsche Übersetzung der elften Regel des 39. Kapitels lautet: „Auf den Genuß des Fleisches von vierfüßigen Tieren aber sollen alle vollständig verzichten, mit Ausnahme der ganz schwachen und kranken“, während die Regel 9 des 36. Kapitels die letzte Aussage präzisiert: „Sed et carnium esus infirmis omnino debilibus pro reparatione concedatur; at ubi meliorati fuerint, a carnibus more solito omnes abstineant“. Zu Deutsch: „Außerdem erlaube man den ganz schwachen Kranken zu ihrer Kräftigung den Genuß von Fleisch; doch sobald es ihnen bessergeht, sollen alle, wie es üblich ist, auf Fleischgenuß verzichten“. Steidle. Die Benediktus-Regel, S. 130-133 und 126-127. 95 Das Kloster Esrom wird in den 1140er Jahren auf Geheiß von Erzbischof Eskil aus Lund, zu dieser Zeit eine zu Dänemark gehörige Stadt, als Benediktinerkloster gegründet und 1151/ 53 als Zisterzienserkloster fortgeführt. Reto Hofstetter 164 den Statuten von 1152 96 zu lesen ist. Im Jahre 1180 heißt es überdies, erneut unter Androhung einer Busse, dass Mitglieder, welche in anderen Orden dinieren und die Vermutung hegen, dass mit tierischem Fett gekocht wurde, ganz auf die Speise verzichten müssen. 97 Zusätzlich ist es speziell verwerflich, an einem Freitag Fleisch zu essen, da es sich bei diesem Wochentag um einen allgemeinen Fastentag handelt. 98 Die Mönche sowie den Abt scheint dies nicht zu kümmern, und sieben Jahre später bieten sie Ruszke an, ihrem Orden beizutreten, was jener akzeptiert. Divergierend äußern sich die skandinavischen Fassungen zu diesem Punkt. Zwar sind die Mönche auch in (D1) von den Kochkünsten des Teufels begeistert. Die Erwähnung der Missachtung der Freitagsfaste 98 findet sich in der Aussage, dass er die Speisen sowohl freitags wie auch an allen Tagen köstlich zubereitet, ungeachtet der Fastenzeit. 99 Das Wort ‘Fleisch’ hingegen fällt weg und wird durch ‘Schmalz, Butter und viel Speck’ 100 ersetzt, was die soeben ausgeführte Ablösung der Benediktiner durch die Zisterzienser in Erinnerung ruft. Ist in der Regel der ersteren von ‘Fleisch’ die Rede, sprechen die später eintretenden Statuten von ‘tierischem Fett’. Möglicherweise hat der ‘Verfasser’ diese Tatsache als 96 „Qui in domibus nigrorum monachorum scienter sagimen comederint, septem sextis feriis in pane et aqua ieiunabunt“. Zitiert nach Anmerkung 59 des Buches Lutterbach, Hubertus. Was das christliche Mönchtum mit der neutestamentlichen Indifferenz gegenüber dem Fleischverzehr anfing. In: Wiegard, Jesaja Michael (Hrsg.) et al. Biblisches Forum. Jahrbuch 2. Norderstedt 2004. S. 89-112. Die deutsche Übersetzung, die sich ebenfalls in Anmerkung 59 findet, lautet: „Diejenigen [aus den Reihen der Zisterzienser], die in den Häusern der schwarzen Mönche [d.h. der Cluniazenser] wissentlich Fett zu sich nehmen, fasten sieben sextis feriis bei Wasser und Brot. “ Statuta 1152, 11. 97 „Qui in domibus alterius Ordinis comedunt, si credunt in pulmentariis esse sagimen, ab eis prorsus abstineant. Si contra conscientiam comederint, septem sextis feriis ieiunent in pane et aqua, et si in consuetudinem vertant, gravius puniantur.“ Statuta 1180, 4. Zitiert nach Lutterbach. Fleischverzehr, S. 105, Anmerkung 59. 98 Vgl. dazu die Didache (Lehre der Apostel) 8,1: „Eure Fasten aber sollen nicht gemeinsam mit den Frevlern stattfinden. Denn sie fasten am zweiten und fünften Tag der Woche; ihr aber sollt am vierten Tag und am Rüsttag fasten.“ Zitiert nach Niederwimmer, Kurt. Die Didache. Erklärt von Kurt Niederwimmer. 2. ergänzte Auflage. Bd. 1. Göttigen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 165. Der ‘Rüsttag’ bezeichnet den Vorabend des Sabbats, also den Freitag, wie Niederwimmer auf den Seiten 165-166 erklärt und hinzufügt: „Die einleitende Klausel (...) macht sofort klar, daß (sozusagen selbstverständlich) bei den Christen regelmäßig gefastet wird. Es geht also (...) nicht etwa darum, die Fastensitte erst einzuführen, sondern leidiglich darum, die selbstverständlich bestehende Sitte in bestimmter Weise näherhin festzulegen und zwar (...) hinsichtlich des Zeitpunktes. Voraussetzung des Ganzen ist die Fastensitte der jüdischen Frommen, an der sich die Fastensitte der Adressaten unseres Textes zunächst und im allgemeinen Sinne orientierte, von der sich die Sitte aber (...) in der Wahl des Zeitpunktes unterscheiden soll, um den Unterschied zum Fasten der jüdischen Frommen zu dokumentieren. (...) Wir haben an unserer Stelle den ältesten Beleg für das Fasten der Christen an den beiden genannten Wochentagen vor uns.“ 99 „Deris mad giorde hand saa vel ath smage | om fredagen som de andre dage | All fasten igennem lige saa | det giorde det flaad hand kaste paa“. (D1), Z. 126-129. 100 „Met Ister/ Smør oc megen speck“. (D1), Z. 130. Übersetzung nach Auerbach, Carl. Svensk-tysk ordbok. Stockholm: Norstedt 1932, S. 575, 1115-1116 und 1142. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 165 Anlass genommen, den Text zu adaptieren. 101 Unter diesem Aspekt erscheint der auf den ersten Blick etwas seltsam anmutende Wechsel von ‘Fleisch’ zu ‘Fett’ durchaus nachvollziehbar. Interessante Unterschiede sind in der Episode des Kampfs der Mönche zu beobachten. Vor dessen Bericht fügen die schwedischen Drucke eine Zäsur ein, welche die Historie in zwei Teile gliedert. In einer knappen Überschrift 102 werden die Geschehnisse vorausblickend zusammengefasst. Bis zum Löschen des Lichtes durch Rauschen erzählen alle drei Fassungen inhaltlich übereinstimmend vom Kampf. Anschließend wirft der Teufel in der niederdeutschen Fassung eine Bank in die Menge der Mönche (157-158) und verursacht ernste Verletzungen unter den Brüdern. 103 Do quemen se to der middernacht 145 To kore alse dat vaer was bedacht Do de abbet den prior an sach Do begunde he to slaende den ersten slach Dar wart eyn geruchte auer al Dat id in deme gantzen kore schal 150 Broder rusz en leeth des nicht He leschede vth al de licht Dar ginck slach vmme slach Dat mennich vp der erden lach Frunt vnde fiant was al eyn 155 Erer eyn kunde den anderen nicht seen Broder rusz syne boeszheit dwanck Dat he warp eyne grote banck Manck den monken in den koer De eyne brack de knaken dar 160 De ander den arm efte de hant Erer eyn bleff dar nicht vngeschant Broder rusz sloch dar och fuste mede Uele mer wen der anderen eyn dede Om naten det ringde til ottesang søffnhus veyen hand bleff fuld trang 104 210 Abbeden oc Prieren der de da møttis 105 O haffde du seet huor de da støttis De sparde huercken Ion/ Ieppe eller knud broder Rus hand slucte strax liusene vd 106 Oc lod dennem nappis som de kunde best 215 Der vanckede saa mangen stolt kindhest Som Rus da tenckte de haffde vel nock 107 da kom hand snigende som en snog 108 101 In gehobenen Schichten des 16. Jahrhunderts gehörte eine üppige Verpflegung zur Tagesordnung (vgl. dazu Troels-Lund, Frederik. Dagligt Liv i Norden i det sekstende Aarhundrede. Bd. 5. København 1914, S. 30-34). Diese Feststellung erlaubt, die Nennung von Fett als leise Kritik jener Zustände seitens des ‘Verfassers’ zu verstehen. 102 „Haer slår Munckarna hwar annan medh | Knoeplar/ och Brodher Ruus kastar en | Baenck ibland them.“ (S1), Z. 201-203. 103 Im Gegensatz zu beinahe allen anderen Episoden wird der Kampf der Mönche in (A) umfangreicher dargelegt als in der skandinavischen Überlieferung. 104 In (S1) wird „søffnhus veyen“ durch „Kyrckiewaaegen“ wiedergegeben. „Kyrckiewaegen han bleff full trång/ “. (S1), Z. 205. 105 In (S1) fällt „der“ weg. „Abboten och Prioren the tå moettes/ “. (S1), Z. 206. 106 In (S1) fällt „strax“ weg. „Broder Ruus han slaeckte Liuset vth/ “. (S1), Z. 209. 107 Diese Zeile fehlt in (S1). 108 Diese Zeile fehlt in (S1). Reto Hofstetter 166 Die dänische Fassung weiß dies nicht zu berichten, während der Bankwurf in den schwedischen Drucken (S1) und (S2) erstaunlicherweise ebenfalls vorhanden ist (214-215). Vor dem Wurf der Bank führen jene Drucke zwei weitere Zeilen ein, welche Ruus auf das Dach laufen lassen (212-213). Dieser Vorgang findet sich weder in der dänischen noch in der niederdeutschen Fassung. Auffallend sind die holprigen Reime dieser insgesamt vier neuen Zeilen, speziell im Kontext der umgebenden, meist korrekt reimenden Verse. Dies lässt die Vermutung aufkommen, dass die Zeilen aus der Feder des schwedischen ‘Verfassers’ stammen. Schwedische Fassung (S1) 212 215 Broder Ruus laet sigh intet foertryta/ På Taaket monde han snart loepa/ En storan Benck/ then war full starck/ Kastade han ibland them medh en fart/ Die Zeilen 216 und 217 des dänischen Textes, in denen Rus beschließt, dem Streit ein Ende zu setzen, fehlen wiederum in (S1) und (A). Die schwedische Überlieferung wurde demnach nicht von (D1) über die Szene informiert, sondern hat auf andere Weise davon erfahren. Interessant ist, dass in etlichen späteren dänischen Texte, 109 welche vor dem auf 1645 datierten Druck (S1) erschienen sind, der Wurf der Bank ebenfalls fehlt. Dies gilt auch für die Fassung (D2), welche die Historie analog zu (S1) in zwei Teile gliedert und in einer vorausblickenden Überschrift sowohl vom Kampf der Mönche als auch vom Bankwurf des Teufels erzählt, obwohl im Text nichts darüber zu erfahren ist (vgl. Abb. 7). Vor dem Wurf der Bank führt (S1) zudem zwei Zeilen ein, die sonst nirgendwo erscheinen und Ruus auf das Dach laufen lassen. 109 Nachgeprüft in (D2), (D3), (D5), (D7) und (D10). Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 167 Abb. 7: Holzschnitt, Blatt 5 ʳ , (D2), um 1600. 110 Analog zu Abb. 9 liegt auch in diesem Holzschnitt ein Bruder am Boden. Die geworfene Bank ist trotz der Erwähnung im Titel nicht ersichtlich. * 6 : ! Der dänische Text fügt nach dem Ende der eigentlichen Historie 76 weitere Zeilen hinzu. Während die ersten 12 ein allgemeines Publikum ansprechen, richten sich die restlichen 64 vor allen an die christliche Leserschaft. Die schwedische Fassung verfügt ebenfalls über solch abschließende Worte (679-710), welche die zu erreichende Zielgruppe durch die Überschrift „Til then Christelige Laesaren“ (679) gleich persönlich anspricht. 111 Wie gezeigt, korrespondieren die skandinavischen Fassungen inhaltlich über große Strecken und weisen auch etliche formale Übereinstimmungen auf. Dies trifft jedoch nur bedingt auf die abschließenden Worte zu. 112 Als Erstes sticht der 110 (D2) liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Søren Clausen und Jytte Kjaergaard, Det Kongelige Bibliotek. 111 Zuvor druckt (S1) jedoch die auf dem Titelblatt angekündigte, zusätzliche Geschichte unter der Überschrift „Een annan lijten Historia“ (526-678) ab. 112 Auf der Suche nach Übereinstimmungen fällt auf, dass die Zeilen 686-687 von (S1) formal und inhaltlich beinahe identisch ausfallen mit 557-558 des dänischen Druckes (D1). An jener Stelle wird ausgeführt, dass der Teufel nie schläft und Verderben über die Menschen Reto Hofstetter 168 stark divergierende Umfang ins Auge. Während der dänische Text seine Ausführungen über 76 Zeilen hinweg präsentiert, kommt der schwedische mit deren 31 aus und ruft der Leserschaft gleich zu Beginn in Erinnerung, wie es den Mönchen mit Ruus ergangen ist. Anschließend fordert (S1) konkret dazu auf, Gott um Schutz vor dem Antichristen zu bitten, während (D1) zuerst zwölf Zeilen an die allgemeine Leserschaft richtet und jene auffordert, nach Gottes Wort zu leben. Die christliche Leserschaft wird erst in Zeile 553 113 direkt adressiert. Es fällt auf, dass die einführenden zwölf Zeilen Kreuzreime bilden, während sämtliche Ausführungen vor und nach dieser Stelle paarweise reimen, was darauf hindeuten könnte, dass die ursprüngliche Schlussrede mit der Zeile 553 begonnen hat und es sich bei den vorangehenden Äußerungen um später hinzugefügte Schilderungen handelt. 114 Die Zeilen 559-562 führen die hinterlistige Boshaftigkeit des Leibhaftigen aus, welche, wie es anschließend heißt, im zu lesenden Buch veranschaulicht werde (563-564). Sollte diese Formulierung wörtlich zu verstehen sein, darf angenommen werden, dass diese Zeilen in einem früheren, nicht überlieferten Druck vor dem Beginn der eigentlichen Historie gestanden haben, um der zu erwartenden Kritik seitens der Kirche entgegenzuwirken. Schwedische Fassung (S1): Til then Christelige Laesaren. 680 Christelige Laesare tu hafwer nu foerstådt/ Huruledes Munckarna hafwer medh Ruusen gått/ Hurudana Vnder han haar bedrifwit/ Ther på taenck medan tu aest i lijfwet/ Bedh Gudh at han wille tigh bewara/ 685 Från Diefwulens illistigha Snara/ Ty han sofwer aldrigh Dagh eller Natt/ Går omkring at foerderfwa oss brått/ Om icke Gudh hade thet affwaendt/ Och them nådeligen sijn hielp saendt. 690 Så hade han them allsamman fåt/ Hwilket ther aff blifwer foerstått/ Hwar Gudh icke icke aer/ aer Diefwu len wist/ Thet saegher iagh tigh fo ervthan list. Således måge månge ther aff laera/ 695 Man skal icke Diefwulen til Cloestret baera/ Eller målan på Waeggen vthan swijk/ Han kommer doch wäl obudin tijt/ Och kommer han tijt/ tå saeghor iagh/ Thet blifwer ey synnerligh gott vthaff/ 700 Thet må full weta hwar Gudz waen/ Til ondt at goera aer han ey seen/ Kan han men något ondt påfoera/ Han låter sigh intet arbete spara. Nu låter oss bidhia then Alzmechtige Gudh/ 705 Han foerlåter oss/ hafwe wij brutit hans budh/ Han wille oss sina helga Englar saende/ Och alt onde nådigt från oss waende/ Oss til froegd och myckin gamman/ Hwem thet begaerar saeya aff hiertat/ Amen 710 Gudh mijn Troest alleen. bringt. Zudem stimmen die schwedischen Zeilen 688-691, welche berichten, dass die Mönche ohne Gottes Hilfe verloren gewesen wären, inhaltlich mit 569-570 überein. Formal weisen sie jedoch weit weniger Gemeinsamkeiten als die zwei vorhergehend betrachteten Stellen auf. 113 In den vorhergehenden Zeilen (541-552) preist (D1) den Glauben an Gott als den einzigen Schutz vor Rus und fügt an, dass der Teufel niemanden verschont, der nicht an Gottes Wort glaubt. Anschließend wird von der Versorgung der Armen mit Essen und Kleider durch den Schöpfer sowie von der Glückseligkeit, welche Jesus bringen wird, berichtet. 114 Da die nachfolgenden Beobachtungen ebenfalls auf einen älteren, nicht überlieferten Druck deuten, macht dies durchaus Sinn. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 169 Dänische Fassung (D1): Nu haffuer i hørt om broder Rus paa hans Historie en ende Beder inderligen Gud/ som er det euige liuss Rus faar oss icke at kende 545 Huert menniske som salig bliffue vil tage sig fuld vel til vaare. Faar Dieffuelsens fund oc listige spil hand vil ret ingen spare. Tro Guds ord baade først oc sist 550 den arme giff mad oc klede Da bliffuer du euig salig foruist oc Iesus giffuer dig fryd oc glede. Du Christne læsere acte nu vel huor Dieffuelen driffuer sit falske spil 555 Men Christne menniske store oc smaa hand acter dennem til sig at faa hand icke soffuer/ aldrig dag eller nat Hand løber om verden at gribe oss brat met al sin falske list oc lempe 560 Hand er fuld vnderlig en kempe hand strider mod oss for vden suerd Hand acter oss fuld ond en ferd Som i maa høre oc acte met skel I denne bog huo der læse vil 565 Huor Dieffuelen sueg de Muncke saa mange Ieg meen hand giorde dem fuld vel bange De tackede Gud at de bleffue hannem quit Thi hand forderffuit dem met stor flid Haffde Gud dem ey sin naade giffuit 570 fordømde haffde de alle bleffuit Til helffuedis ild i euig brand met broder Rus den fulle aand Nu vil oss Gud sin naade giffue den stund wi her i Verden leffue 575 Om wi ville tro paa Iesum Christ at hand er al vaar salighed vist Oc haffuer oss løst fra saadan nød met sin pine oc bitter død Hand købte oss alle meget dyre 580 Faar sit egit blod ey anden hyre Saa vil hand oss alle salige gøre oc oss met sig til Hemmerige føre Hans hellige Engle at bliffue lige saa haffuer hand giort oss fattige rige 585 Alle vaare synder hand paa sig drog al Helffuedis mact hand neder slog Hans død/ hand haffuer den død forstørt oc haffuer oss fra Dieffuelen ført For vden al vor fortieniste løn 590 Det siger den hellig aand/ al menniskens køn Thi lader oss alle paa Christum kalde at hand oss aldrig lad fra sig falde 115 Men vil staa oss bi i al vaar nød oc spise oss met liffsens brød 595 Som siel oc liff vederquege kan det siger ieg eder baade quinde oc mand Iesus er allene al vaar salighed vor frelser oss alle/ aff al vaar nød. Oc ingen anden oss frelse kunde 600 fra Gud Faders vrede i nogre lunde. Vden hans kieriste søns blod fin haffuer oss allene løst/ fra skyld oc pine. Die schwedische Fassung gibt der Leserschaft zu Beginn des letzten Auszugs einige Weisheiten mit auf den Weg. In Zeile 692 heißt es, dass sich der Leibhaftige überall befindet, wo Gott nicht ist. Die Aussage, dass man den Teufel nicht ins Kloster tragen soll (695), tritt in einem phraseologisch anmutenden Gewand auf. In Zeile 696 findet sich schließlich ein sehr früher Beleg von dem Phraseologismus ‘man soll den Teufel nicht an die Wand malen’. 116 Schon in der nächsten Zeile wird jedoch mitgeteilt, dass er auch ungebeten dorthin komme. Diese Aus- 115 Der offensichtliche Schreibfehler „flade“ wurde korrigiert. 116 „Måla fan el. hin på väggen, efter ordspråket Man skall inte måla fan el. hin el. djävulen på väggen, för då kommer han el. när man målar djävulen på väggen, kommer han (så t.ex. 1865); jfr måla djävulen ovanför dörren 1603“. Holm, Pelle. Pelle Holms bevingade ord. Den klassiska citatboken. Stockholm 1989. Reto Hofstetter 170 sage entschärft die obigen Bemerkungen, welche den Mönchen und deren Verhalten implizit die Schuld für das Auftauchen des Teufels zusprechen. Der letzte Abschnitt des dänischen Textes verzichtet komplett darauf, konkrete Anspielungen auf die Historie von Bruder Rauschen zu nennen, und auch implizite, im schwedischen Druck in Form der phraseologisch anmutenden Bemerkungen vorhandene Hinweise fehlen vollständig. Zu Beginn wird der Leserschaft eröffnet, dass Gott ihr seine Barmherzigkeit anbietet (573-576), falls sie an Jesus Christus glaube. Die nachfolgenden 26 Zeilen (577-602) berichten ausführlich vom Leiden und Sterben Jesu, welches dieser zum Wohl der Menschheit auf sich genommen habe. Der Text spricht die Leserschaft direkt an und versucht durch häufige Verwendung des Pronomens „oss“, welches alleine in diesem Abschnitt 13 Mal erwähnt wird, die starke Verbindung zwischen „uns“ und Jesus aufzuzeigen. Die Zeilen 584-588 beschreiben beispielsweise, dass Gottes Sohn uns Arme reich machte, alle unsere Sünden auf sich nahm, mit seinem Tod den Tod zerstörte, die Macht der Hölle vertrieb und uns weg vom Teufel brachte. In 591-596 wird die Leserschaft aufgefordert, sich dem „uns“ in aller Not beistehenden Sohn Gottes zuzuwenden. Anschließend folgen drei Ausführungen (597-598, 599-600 und 601-602), die ausdrücklich betonen, dass „uns“ Jesus, und nur Jesus, Erlösung bringe. Das offenkundige Herausheben von Christus als die einzige Möglichkeit Frieden zu finden, lässt die pro-reformatorische Absicht des Textes erkennen, da dessen explizite Äußerungen in Übereinstimmung mit Reformator Martin Luthers Lehre als harsche Kritik an der gängigen Ablasspraxis der katholischen Kirche verstanden werden müssen. In den von Luther im Jahre 1517 veröffentlichten 95 Thesen 117 heißt es, dass die Institution der Kirche in dieser Sache über keinerlei Befugnis verfüge und demzufolge auch keine käuflich erwerbbare Indulgenz veranlassen könne. Deutlich zum Ausdruck kommt dies in These 58, welche den Übeltäter beim Namen nennt und ihn offen für sein Walten anprangert. Die Schätze der Kirche, aus denen der Papst den Ablaß austeilt, (…) bestehen (…) nicht aus den Verdiensten Christi und der Heiligen, weil diese dauernd ohne den Papst Gnade für den inwendigen Menschen sowie Kreuz, Tod und Hölle für den äußeren bewirken. 118 117 Die Thesen fanden großen Anklang und trugen maßgeblich zur Reformation bei. „Will man unmittelbar den Brandherd der Reformation finden, dann ist man hier am rechten Ort. Von hier breitet sich das Feuer aus. Zündstoff war genug vorhanden.“ Luther, Martin. Die 95 Thesen Martin Luthers übersetzt und kommentiert von Ingetraut Ludolphy. Erlangen 1983, S. 7. 118 Luther. Die 95 Thesen, S. 27. Interessant ist auch die Anmerkung 28, S. 38, in der ausgeführt wird, dass „damals die Verdienste Christi und der Heiligen als (…) Schatz der Kirche angesehen“ wurden, und dass Luther in der These 56 und den darauf folgenden Äußerungen über die Kommerzialisierung dieses Schatzes spottet. Die auf Seite 17 abgedruckte, lateinische Fassung der These 58 lautet: „Nec sunt merita Christi et sanctorum, quia hec semper sine Papa operantur gratiam hominis interioris et crucem, mortem infernumque exterioris.“ Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 171 Der dänische Text setzt anschließend mit der Kritik an der römisch-katholischen Kirche fort. Diese erreicht in der Zeile 603-611 119 ihren Höhepunkt, als nach der erneuten Erwähnung, dass einzig Jesus zu verehren ist, der Papst und die Mönche in Rom direkt angeklagt und verurteilt werden. Es heißt ausdrücklich, dass die eben erwähnten Geistlichen den Bedürftigen nicht helfen könnten und dass sie sich selbst auf dem Weg in den ewigen Tod befänden. Einzig ihre sofortige Rückkehr zu Christus würde sie retten, da Gott allen, die ihn um Gnade bitten, ihre Sünden erlasse. 120 605 610 615 Thi bør Iesu alleniste ære from oc icke nogen Paffue eller Muncke i Rom Thi de kunde ingen hielpe aff nød de gaa selff paa veyen/ til den euige død. Vden de vender fuld snart om oc til bage til Christum komme Met al selskaff/ naade aff Gud begere som alle synder forlader och til giffuer herre Formedelst Iesum sin Søn allene Dette vidnesbyrd giffuer ieg Iesu met den hellig Aand for alle mørckhedsens mact baade quinde oc mand Thi glæder wi Christne oss/ vid Iesum vaar frelsere allesammen och priser och loffuer Gud Fader met den Hellig Aand der faare euindelig Amen. 119 Die Zeile 611 sollte sich anhand des Paarreim-Schemas auf 612 reimen. Dies ist jedoch nicht der Fall, da 612 zusammen mit 613 ein Paar bildet. Es ist durchaus denkbar, dass die Zeile 611 nachträglich hinzugefügt worden ist, da sie Gott die Macht der Erlösung mit seinem Sohn Jesus teilen lässt. 120 Die letzten Zeilen (614-617) enthalten lobende und preisende Worte. Unter dem abschließenden „Amen“ finden sich die in römischen Ziffern geschriebene Jahreszahl 1555 sowie der Abdruck eines Ornaments. Auf der letzten Seite bildet (D1) schließlich einen weiteren Holzschnitt (nachstehend Abb. 8) ab. Reto Hofstetter 172 Abb. 8: Holzschnitt der letzten Seite von (D1). 121 Ein Reiter mit Schwert soll möglicherweise den Abt darstellen, der den in Pferdegestalt auftretenden Rus zurück ins Sachsenland bringt. 122 Auf der einen Seite steckt in diesen Äußerungen die Aufforderung an sämtliche Katholiken, sich umgehend zum reformierten Christentum zu bekennen, während auf der anderen Seite die vermeintlichen Erlöser angesprochen sind, selbst bei Gott um Errettung zu bitten, was nicht nur als barmherziges Angebot, sondern auch als Diffamierung verstanden werden kann. Diese Zeilen bestätigen demnach die Annahme, dass die dänische Fassung (D1) neben dem unterhaltenden Aspekt eindeutig eine pro-reformatorische Funktion ausübt. Die Frage, wieso sich diese Fassung 19 Jahre nach der offiziellen Einführung der Reformation in Dänemark 123 so stark gegen den Katholizismus ausspricht, kann nur hypothetisch beantwortet werden. So weist auch diese Beobachtung darauf hin 124 , dass es sich um eine Abschrift eines älteren, nicht überlieferten Druckes handelt. Frandsen vermutet die Existenz eines solchen im Jahr 1531, 125 was gut zu der eben ausgeführten Funktion passen würde. 121 (D1) liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Søren Clausen und Jytte Kjaergaard, Det Kongelige Bibliotek. 122 Die Tatsache, dass der Geistliche statt des Abtstabs ein Schwert in der Hand hält und einen Hut trägt, der eher an einen Rinderhirten denn einen Klostervorsteher erinnert, lässt folgern, dass es sich wie beispielsweise bei Abb. 1 um eine bereits anderweitig verwendete Illustration handelt. 123 1536 gilt allgemein als Jahr der offiziellen Einführung der Reformation in Dänemark. Vgl. Bohn, Robert. Geschichte Dänemarks. München: C.H. Beck 2 2010, S. 54 und Grane, Leif/ Kai Hørby (Hrsg.). Die dänische Reformation vor ihrem internationalen Hintergrund. The Danish reformation aganist its international background. Göttingen 1990, S. 5. 124 Vgl. dazu die Ausführungen zu Beginn des Abschnitts Til then Christelige Laesaren. 125 Frandsen. Historien om Broder Rus, S. 175. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 173 C * 0 Die Behauptung, der dänische Druck (D1) sei als Original und nicht als Übersetzung zu betrachten, kann anhand der getätigten Untersuchung durchaus nachvollzogen werden, da beinahe sämtliche Szenen als ergänzte, ausformulierte Varianten ihrer selbst auftreten. Es gilt jedoch anzumerken, dass keine einzige neue Episode hinzugefügt worden ist. Den Kampf der Mönche, welche die deutschen Drucke als eine der wenigen Szenen ausführlicher erzählen, scheint der dänische ‘Verfasser’ weniger stark gewichten zu wollen. Das Wegfallen des Bankwurfes in (D1) deutet ebenfalls darauf hin. Diese Feststellungen erlauben die Aussage, dass es nicht angebracht ist, den dänischen Druck (D1) als Übersetzung zu klassifizieren. Die Bezeichnung ‘Original’ erscheint jedoch ebenfalls inadäquat, da ihre Semantik etwas Genuines impliziert. Als mögliche Lösung wird die Verwendung des Begriffs ‘Übertragung’ vorgeschlagen, da dieser die Abhängigkeit gegenüber der Vorlage ohne die Suggestion einer wörtlichen Übersetzung zum Ausdruck bringt. Eine weitere Eigenheit der skandinavischen Fassungen stellt die anstößige, vulgär-sexistische, bisweilen skatologische Redeweise dar, welche mehrmals anzutreffen ist. Diese Äußerungen finden keine Entsprechungen in der niederdeutschen Fassung, welche die Thematik des Sexuellen nur leise antönt. Es kann also konstatiert werden, dass die Transformation vom belehrenden Exemplum zum unterhaltenden Schwankroman in den skandinavischen Texten ebenfalls nicht abgeschlossen, jedoch weiter fortgeschritten ist als in der deutschen Überlieferung. Die Ambivalenz Rauschens kommt stärker zur Geltung, und das niederträchtige, listige, verführerische und bisweilen komisch anmutende Walten des Leibhaftigen wird farbiger und ausführlicher als zuvor beschrieben. Neu wird, neben den erwähnten, expliziten Anspielungen sexuellen Charakters eine Verbindung des Leibhaftigen mit Alkoholkonsum geschaffen und damit die Problematik exzessiven Trinkens in Klöstern thematisiert. In den abschließenden Worten der Historie äußert sich der dänische Druck (D1) anschließend gleich selbst über seine Gesinnung, als er sich explizit gegen die gängige Ablasspraxis der katholischen Kirche sowie gegen den Papst ausspricht. Der gesamte Text nimmt demnach eine pro-reformatorische Haltung ein. 126 Die offenbar geänderte Platzierung der abschließenden Worte sowie ihre Ergänzung um die anti-katholizistischen Bemerkungen lassen auf einen älteren dänischen Druck schließen, der bedauerlicherweise nicht überliefert ist. Vieles spricht dafür, dass es sich beim schwedischen Druck (S1) 127 wie bisher angenommen um eine getreue Übersetzung von (D1) handelt. Wie folgende Überlegungen zeigen, ist diese Aussage jedoch nur teilweise korrekt und bedarf einer Ergänzung. Es kann konstatiert werden, dass (S1) 15 Zeilen weniger zählt 126 Dies könnte auch das Weglassen des Bankwurfs von Bruder Rauschen erklären, da dieser unter jenem Aspekt keinen direkten Zweck erfüllt, obwohl dadurch gleichzeitig ein unterhaltendes Element geschmälert wird. 127 Da es sich bei Druck (S2) um eine Neuauflage handelt, welche lediglich orthografische Änderungen vorweist, ist dieser bei der Nennung von (S1) stets miteinbezogen. Reto Hofstetter 174 als (D1). Diese Zahl ist jedoch wenig aufschlussreich. Interessant ist hingegen, wie sich der Unterschied zusammensetzt: Die Fassung (D1) bringt es ohne die abschließenden Worte auf 540 Zeilen, von denen in (S1) die sechs einführenden sowie ganze 20 weitere wegfallen, gleichzeitig jedoch 11 neue hinzukommen. In Zahlen ausgedrückt ergeben 540 minus 26 plus 11 die 525 Zeilen der schwedischen Drucke (S1) und (S2). Nebst diesen zahlreichen Auslassungen fällt das Augenmerk auf den Bankwurf Rauschens, welcher in (D1) 128 ebenfalls fehlt, in der schwedischen Überlieferung jedoch in zwei unschön reimenden Zeilen erwähnt ist. Dieser wahrscheinlich durch den ‘Verfasser’ vorgenommene Einschub sowie die Änderung eines dänischen „det er“ 129 in ein stark ans Deutsche erinnernde „Dat ys“ 130 lässt die Vermutung aufkommen, dass der schwedische ‘Verfasser’ mit der deutschen Überlieferung vertraut war oder dass ihm sogar einer oder mehrere deutsche Drucke präsent waren. Seine Schwäche läge demnach im unschönen Reimen, während er über ein großes Hintergrundwissen 131 zu verfügen scheint und zudem Anstrengungen unternimmt, das Historienbuch werbewirksam zu gestalten. Damit ist die Titelseite mit den vorausblickenden Überschriften und dem Hinweis „Lustige at laesa“ 132 angesprochen und auch die Gliederung der Historie in zwei Teile 133 gemeint. Den Unterschieden stehen insgesamt 238 Zeilen gegenüber, die als wörtlich übersetzt bezeichnet werden können. Sollte (S1) nicht direkt auf (D1) zurückgehen, darf demnach konstatiert werden, dass sich die zwei Drucke in jedem Fall einer gemeinsamen Vorlage bedienen. Da es sich jedoch bereits bei (D1) um einen frühen dänischen Historienbuchdruck handelt 134 und in Schweden die „unterhaltende Erzählliteratur erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf den Buchmarkt“ 135 kommt, scheint dem direkten Bezug von (S1) zu (D1) eine größere Plausibilität denn einer gemeinsamen, älteren Vorlage beizumessen zu sein. Trotzdem weist vieles darauf hin, dass ein älte- 128 Sowie in etlichen seiner Nachfolger ebenfalls. Nachgeprüft wurden (D2), (D3), (D5), (D7) und (D10). (D2) gliedert den Text analog (S1) in zwei Teile und führt den zweiten mit einer Überschrift ein, welche den Bankwurf von Rauschen ankündigt. Der Text weiß jedoch unverändert nichts davon zu berichten. 129 „Hand suarede oc sagde/ det er fordi“. (D1), Z. 416. 130 „Han swarade: Dat ys foer dy/ “. (S1), Z. 404. 131 Es scheint sich um einen belesenen, mit den Hintergründen der Historie von Bruder Rauschen vertrauten ‘Verfasser’ gehandelt zu haben, der durchaus auch das Hinzufügen der zusätzlichen Erzählung zugetraut werden darf. 13 unschöne Reimpaare der Zusatzhistorie deuten ebenfalls auf dieselbe Urheberschaft wie jene der übrigen neu hinzugefügten Zeilen. 132 (S1), S. 1. 133 Es ist wohl kein Zufall, dass die schwedischen Drucke die Zäsur vor dem Kampf der Mönche setzten und in der einleitenden Überschrift den Bankwurf Rauschens erwähnten. Ähnlich verfuhr die hochdeutsche Überlieferung. So finden sich die eben erwähnten Elemente, samt dem Holzschnitt, beispielsweise auch in Druck (B6). Vgl. nachstehend Abb. 9 sowie Hofstetter. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen, S. 115, Fussnote 910. 134 Vgl. dazu die Auflistung in Richter. Transmissionsgeschichten, S. 17. 135 Richter. Transmissionsgeschichten, S. 19. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 175 rer dänischer Druck existiert hat, dessen Existenz Frandsen für das Jahr 1531 136 vermutet. Unter diesem Aspekt hat auch die klare Positionierung von (D1) als pro-reformatorisches Instrumentarium mehr Sinn. Wie zu erwarten war, tritt diese Funktion in den schwedischen Drucken, die gut 50 Jahre nach dem Einzug der reformierten Kirche in Schweden 137 erscheinen, in den Hintergrund und wird im Nachwort nicht mehr explizit erwähnt. Die modernisierte Aufmachung, das Hinzufügen einer verwandten Historie sowie die Wiedereinführung der unterhaltenden Szene, in welcher Ruus eine Bank unter die streitenden Mönche wirft, veranschaulichen die größere Gewichtung des Unterhaltungswerts der schwedischen Fassungen gegenüber (D1). Als wenig wahrscheinlich muss die Möglichkeit einer nach dem Druckjahr 1555 von (D1) erschienenen, nicht überlieferten dänischen Vorlage, welche den im Schwedischen wiedereingeführten Bankwurf enthalten würde, abgetan werden. 138 Abb. 9: Holzschnitt, Blatt 6 v , (B6), um 1560. 139 Der Szene des Bankwurfs ist in den Holzschnitten der deutschen Überlieferung stets prominent dargestellt, während die Anzahl der kämpfenden Mönche variiert. 136 Frandsen. Historien om Broder Rus, S. 175. 137 Die in Schweden schrittweise eingeführte Reformation wurde in den 1520er Jahren initiiert und 1593 am Uppsala möte besiegelt. Mehr dazu in Holmquist, Hjalmar. Svenska kyrkans historia. Reformationstidevarvet 1521-1611. Stockholm 1933. Das Uppsala möte wird auf den Seiten 149-172 behandelt. 138 Die über größere Strecken wörtliche Übersetzung aus dem Dänischen lassen eine direkte Übertragung von (S1) aus dem Niederdeutschen als undenkbar erscheinen. Die Möglichkeit einer deutschen Vorlage der zusätzlich angefügten Historie kann hingegen nicht vollends ausgeschlossen werden. 139 (B6) liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Andrzej Obrębski und Grażyna Stępień, Biblioteka Jagiellońska Kraków. Ein weiterführender Literaturverweis zu den bibliographischen Angaben der hochdeutschen Drucke findet sich in Fußnote 22. Reto Hofstetter 176 2 " Das Ergebnis der vorliegenden Ausführungen lässt sich wie folgt zusammenfassen. Die Historie von Bruder Rauschen kann bis zu einem mitteldeutschen Exemplum, die ‘Grundsage (G)’ aus dem Jahre 1250, zurückverfolgt werden. In dieser mahnhaft-belehrenden Veranschaulichung des Prophetenworts Gotez wonunge ist in dem vride, welche auf einer nicht überlieferten, lateinischen Vorlage grundet, wird der als Bruder Albrecht auftretende Teufel von dem frommen Klosterleben angelockt. Die Gottesfurcht der Mönche ist es denn auch, welche den Leibhaftigen wieder vertreibt, da seine Verführungskünste auf taube Ohren stoßen. Dieses Exemplum wandert anschließend ins niederdeutsche Sprachgebiet und wird dort um Szenen aus der ‘geistlichen Literatur’ sowie der ‘volkstümlichen Sage’ ergänzt und in der vermehrten Form in ein poetisch-gereimtes Gewand gebracht. Der Teufel erscheint ab diesem Zeitpunkt nicht mehr genuin böse und verführerisch, sondern tritt zusätzlich komisch in Erscheinung. Die Transformation des Exemplum zum antimonastisch gefärbten Schwankroman ist in den skandinavischen Drucken weiter fortgeschritten als in der deutschen Überlieferung, was sich u.a. in einer vulgären Ausdrucksweise sowie Ausführungen zu Sexualität und Alkohol manifestiert, kommt jedoch durch das Hinzuziehen von Episoden aus Till Eulenspiegel lediglich in den niederländischen und englischen Drucken vollends zum Abschluss. Der älteste überlieferte dänische Druck (D1), welcher mehr als raffinierte Übertragung denn getreue Übersetzung bezeichnet werden muss, informiert gleich selbst über eine zusätzliche Funktion, als er sich explizit gegen die katholische Kirche und den Papst ausspricht und somit die pro-reformatorische Absicht dieses Textes erkennen lässt. Die 100 Jahre später erschienenen schwedischen Fassungen verzichten evidenterweise auf diese Äußerungen und stellen den Faktor der Unterhaltung in den Mittelpunkt. Davon zeugt auch das Hinzufügen einer kürzeren, zusätzlichen Historie, welche mittels einer Anspielung auf Bruder Rauschen mit ihm verknüpft wird. Die von der Forschung ausführlich diskutierte Frage, ob die ursprüngliche Heimat der Historie von Bruder Rauschen im dänischen Kloster Esrom zu sehen ist, kann deutlich negiert werden. Die Tatsache, dass beinahe sämtliche Wissenschaftler der bei Thiele wiedergegebenen ‘dänischen Volkssage (D)’ den Wert eines authentischen Druckes beimessen, hat dieses Problem unnötig verkompliziert. Diese Annahmen wurde durch eine unabhängig entstandene ‘Lokalsage (L)’, welche in Folge der Exkommunikation eines frevlerischen Bruders entstanden ist, bekräftigt. Anschließende Anstrengungen dänischer Gelehrter, die Historie nachträglich in ihrem Heimatland zu verankern, haben weiter dazu beigetragen, die Entstehungsgeschichte zu verschleiern. In Wahrheit handelt es sich bei der ‘dänischen Volkssage (D)’ lediglich um eine gekürzte, von Thiele verfasste, prosaische Wiedergabe der bekannten poetisch-gereimten Fassungen der Historie von Bruder Rauschen, die das Geschehen analog der hochdeutschen Drucke nach Esrom verlegt. Jene Überlieferung ist demnach die einzige, welche Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 177 diese Information, offenbar durch einen Mönchsbruder aus dem Kloster persönlich übermittelt, verkündet. Sämtliche anderen bekannten Drucke - inklusive aller skandinavischen - beheimaten die Historie im Sachsenland. Die Historie von Bruder Rauschen darf als Komposition unterschiedlicher Literatur- und Erzählstile bezeichnet werden. Sie vermengt diese stets geschickt zu einem unterhaltsamen, belehrenden und bisweilen doppeldeutigen, zum Schmunzeln anregenden Ganzen. Diese „‘Enzyklopädie’ unterschiedlicher Überlieferungen, Erzählweisen und Stilhaltungen“ 140 begeisterte ihre Leserschaft über 700 Jahre hinweg. Die zahlreich vorhandenen Drucke, die zu Beginn zitierten Worte sowie das Fortbestehen bis in unsere Zeit bezeugen dies eindrücklich. # & + G $ (A) Stendal: Joachim Westfal, um 1488. Privatexemplar Heinrich Anz. Von Anz 141 mit (A) bezeichnet und in einer kritisch editiert dargelegt 142 , bei Priebsch 143 unter A.1 aufgeführt und als Faksimile abgedruckt. 144 (B) Braunschweig: Hans Dorn, um 1519. Biblioteka Jagiellońska Kraków. Yg 6031; ehem. Berlin. Von Anz 145 mit (B) bezeichnet, bei Priebsch 146 unter A.2 aufgeführt. (C) Köln: Servais Kruffter, um 1520. Staatsbibliothek zu Berlin. Yg 6037. Von Anz 147 mit (C) bezeichnet, bei Priebsch 148 unter A.3 aufgeführt. $ (D1) „Broder Ruuses | Historie“ Kopenhagen: Hans Vingaard, 1555. Königliche Bibliothek Kopenhagen. LN 937 8°. Bei Bruun 149 als Nr. 1 aufgeführt, von Lauritz Nielsen 150 mit LN 937 bezeichnet. 140 Röcke. Die Freude am Bösen, S. 153. 141 Anz. Die Dichtung vom Bruder Rausch, S. 760. 142 Anz. Broder Rusche, S. 94-111. 143 Priebsch. Bruder Rausch, S. 51. 144 Priebsch. Bruder Rausch, S. 73-87. 145 Anz. Die Dichtung vom Bruder Rausch, S. 760. 146 Priebsch. Bruder Rausch, S. 52. 147 Anz. Broder Rusche, S. 76. 148 Priebsch. Bruder Rausch, S. 53-54. 149 Bruun. Broder Russes Historie, S. 18-19. 150 Nielsen, Lauritz. Dansk bibliografi 1551-1600 med særligt hensyn til dansk bogtrykkerkunsts historie. København: Gyldendalske Boghandel 1931, S. 285. Reto Hofstetter 178 (D2) Titelblatt fehlt. Kopenhagen: Laurentz Benedicht, 1600. Königliche Bibliothek Kopenhagen. LN 938 8°. Bei Bruun 151 als Nr. 2 aufgeführt, von Lauritz Nielsen mit LN 938 bezeichnet. Laut Bruun stimmt (D2) inhaltlich über große Strecken mit (D1) überein, obwohl die Orthographie stark verändert wurde. 152 (D0) Titelblatt fehlt. s.l.e.a. 153 Königliche Bibliothek Kopenhagen. LN 938a 8°. Lediglich zwei Blatt, welche sich in Privatbesitz befinden, sind überliefert und werden als Fotokopien in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen 154 aufbewahrt. (D3) „Historie/ Om | Broder Rus/ Hvorledis hand hafver | tient for Kock oc Munck | udi et Kloster/ oc hvad hand | hafver bedrevet der | udi. Prentet i Kiøbenhafn/ Aar 1696.“ Königliche Bibliothek Kopenhagen. Hielmstierneske Samling 1862 8°. Wird Bei Bruun 155 als Nr. 3 aufgeführt. Er bemerkt zudem, dass teilweise große inhaltliche Veränderungen anzutreffen sind. Dieser Druck dient bis (D9) allen folgenden Fassungen als Grundlage. 156 (D4) Kein Exemplarnachweis. Kopenhagen: 1706. Dieser Druck ist im „Fortegnelse over Niels Simonsen Munchs Bøger. Kbh. 1787, S. 379, Nr. 2524.“ aufgeführt. 157 (D5) „Historie | Om | Broder Rus, Hvorledes hand haver tient for | Kok og Munck udi et Kloster, og hvad hand haver bedrevet | der udi | Tryckt i dette Aar.“ s.l. um 1700-1725 158 . Königliche Bibliothek Kopenhagen. Hielmstierneske Samling 1863 8°. Bei Bruun 159 als Nr. 5 aufgeführt. Der Druck ist inhaltlich identisch mit (D3), weist jedoch eine modernisierte Orthographie und eine divergierende Illustrierung auf. (D6) „Historie, Om | Broder Rus, Hvorledes han haver tient | for Kok og Munk udi et Kloster, og hvad han haver be-drevet der udi. Trykt Aar 1730.“ Kopenhagen: 1730. 151 Bruun. Broder Russes Historie, S. 19. 152 Bruun. Broder Russes Historie, S. 19. 153 Rosenkilde beschreibt diesen Druck als „third imprint from the 16th century“. Rosenkilde, Volmer. Thesaurus librorum Danicorum 15th and 16th century. København: Rosenkilde og Bagger 1987, S. 214-215. 154 In deren Exemplar der dänischen Bibliographie Nielsen. Dansk bibliografi, S. 285, wurde dieser Druck handschriftlich als LN 938a nachgetragen. Die Handschrift zeigt große Ähnlichkeit mit den Notizen, welche auf den Kopien angebracht wurden. Es scheint sich demnach um denselben Verfasser zu handeln. 155 Bruun. Broder Russes Historie, S. 19-21. 156 Bruun. Broder Russes Historie, S. 20-21. 157 Vgl. Bruun. Broder Russes Historie, S. 21. 158 Die Jahreszahlen basieren auf Bruun. Broder Russes Historie, S. 22. 159 Bruun. Broder Russes Historie, S. 21. Die Teufelshistorie von Bruder Rauschen 179 Königliche Bibliothek Kopenhagen. Hielmstierneske Samling 2697A 8°. Bei Bruun 160 als Nr. 6 aufgeführt. (D7) „Historie, Om | Broder Rus, Hvorledes han haver tient | for Kok og Munk udi et Kloster, og hvad han haver be-drevet der udi. Trykt i dette Aar.“ s.l. um 1750-1800 161 . Königliche Bibliothek Kopenhagen. 53,-15 8°, rev. 104. Bei Bruun 162 als Nr. 7 aufgeführt. Der Druck ist inhaltlich identisch mit (D5), weist jedoch eine modernisierte Orthographie und eine divergierende Illustrierung auf. (D8) „Historie, Om | Broder Rus, Hvorledes han haver tient for | Kok og Munk udi et Kloster, Og hvad han haver bedre-vet der udi. Trykt i dette Aar.“ s.l. Tryckt i dette Aar, um 1780-1800 163 . Königliche Bibliothek Kopenhagen. 53,-15 8°, rev. 103. 164 Bei Bruun 165 als Nr. 8 aufgeführt und als Abdruck von (D7) beschrieben. (D9) „Broder Rus.“ Kopenhagen: C. J. Brandt, 1860. Königliche Bibliothek Kopenhagen. 2 Exemplare. 53, ‐ 81 8° und 86.2. Bei Bruun 166 als Nr. 9 aufgeführt. Laut ihm basiert dieser Druck auf (D2) und orientiert sich gleichzeitig an den späteren Fassungen. (D10) „Broder Rus paa Esrom.“ Kopenhagen: H. P. Holst (Hrsg.), 1856. Königliche Bibliothek Kopenhagen. 2 Exemplare. M 88479 8° und 57,-309-8°. Bei Bruun 167 am Ende der dänischen Drucke ohne Nummer aufgeführt. Bei (D10) handelt es sich um eine Prosaauflösung der Historie von Bruder Rauschen, verfasst durch Niels Peter Wiwel und ursprünglich im Jahre 1852, zusammen mit Erläuterungen, in der Berlingske Tidende 168 publiziert. (D11) „Broder Rus, Munken i Esrumkloster.“ Kopenhagen: Faaes hos E.O. Jordan, 1874. Königliche Bibliothek Kopenhagen. 2 Exemplare. N 2082 8° und 59,-136-8°. Bei Bruun nicht erwähnt. Es handelt sich um eine Prosaauflösung der Historie. 160 Bruun erwähnt ohne Exemplarnachweis, dass der Druck in Pontoppidans Marmora Danica I. S. 199 und im „Fortegnelse over Niels Simonsen Munchs Bøger. Kbh. 1787. S. 379, nr. 2525.“ aufgeführt wird. Bruun. Broder Russes Historie, S. 22. 161 Die Jahreszahlen basieren auf Bruun. Broder Russes Historie, S. 22. 162 Bruun. Broder Russes Historie, S. 22. 163 Die Jahreszahlen basieren auf Bruun. Broder Russes Historie, S. 23. 164 In der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen befindet sich ein weiterer, identischer Druck mit der Signatur N 2079 8°. 165 Bruun. Broder Russes Historie, S. 22-23. 166 Bruun. Broder Russes Historie, S. 23. 167 Bruun. Broder Russes Historie, S. 24. 168 Aufgeteilt auf die Zeitungsausgaben 17/ 2, Nr. 40; 18/ 2, Nr. 41 und 19/ 2, Nr. 42. Reto Hofstetter 180 B $ (S1) „Broder Ruus/ Thet aer/ Brodher Ruuses | Historia | Eller | Chronica. Huruledes han vthi ett Cloe-ster hafwer tient siw åhr foer en | Kock/ och hwad han ther bedrifwit hafwer/ Foermerat medh een annan liten Histo-ria/ Lustige at laesa. Tryckt i Stockholm/ Anno M. DC. XLV.“ Stadsbibliotek Linköping. Stiftsbiblioteket Rara, Ex.: R909e. Ein weiteres Exemplar dieses Druckes befindet sich in der Königlichen Bibliothek Stockholm, Signatur F1700 1864. (S2) „Broder Ruus/ Thet aer/ Brodher Ruuses | Historia | Eller | Chronica. Huruledes han vthi ett Cloe-ster hafwer tient siw åhr foer en | Kock/ och hwad han ther bedrifwit hafwer: Foermerat medh een annan liten Hi-storia/ Lustigh at laesa. Tryckt i Stockholm/ Anno M. DC. LV.“ Königliche Bibliothek Stockholm, Signatur F1700 1865. B $ Anz, Heinrich. Broder Rusche. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 24 (1899), S. 76-112. Anz, Heinrich. Die Dichtung vom Bruder Rausch. In: Euphorion. Zeitschrift für Litteraturgeschichte 4 (1897), S. 756-772. Auerbach, Carl. Svensk-tysk ordbok. Stockholm 1932. Bohn, Robert. Geschichte Dänemarks. München 2 2010. Bruun, Christian. Broder Russes Historie. Kjøbenhavn 1868. Cordes, Gerhard. Mittelniederdeutsche Dichtung und Gebrauchsliteratur. In: Cordes, Gerhard und Dieter Möhn (Hrsg.). 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Diese Einstellung war so ausgeprägt, dass ein berühmter Folklorist es ganz natürlich fand, sein Gebiet mit Speerspitzen aus Flintgestein und anderem Material, das nach einem Gewitter auf der Erdoberfläche erscheinen kann, zu vergleichen, um hinzuzufügen: There is a form of study, Folklore, which collects and compares the similar but immaterial relics of old races, the surviving superstitions and stories, the ideas which are in our time but not of it. (Lang 1884: 11; Emphase hinzugefügt) Eine in derselben Zeit stattfindende Diskussion in der Anthropologie war für diese Debatte sehr wichtig, nämlich die Frage nach „dem Super-Organischen“ („the superorganic“). Dieser Neologismus, zuerst vom britischen Philosophen und Soziologen Herbert Spencer 1862 verwendet, wird heute in erster Linie mit den Arbeiten von Alfred Kroeber in Verbindung gebracht. 1 Sein Begriff des Super-Organischen war im Wesentlichen ein Versuch, der Realität von „sozialem Leben“ oder „sozialer 1 Z.B. Kroeber 1917 und Kroeber 1918. Als Verfechter des super-organischen Models halfen Kroeber, sein Kollege der Anthropologe Robert Lowie und Carl O. Sauer in der Geographie, die Universität von Kalifornien als nordamerikanisches Epizentrum für Forschung in dieser Richtung zu identifizieren. Dies taten sie in solchem Maße, dass vom Super-Organischen, hinsichtlich der Kulturgeographie, auch von „The Berkeley School“ gesprochen wird. Vgl. Duncan 1980. Stephen Mitchell 184 Kultur“, dem sonst unbeschreiblichen definierenden Merkmal des Menschentums, Ausdruck zu verleihen. 2 Indem er Spencers frühe Sicht der Natur des Super-Organischen kritisiert, kontrastiert Kroeber die „cultural society of man“ mit der „culturless pseudo-society of the ants and bees“ und bemerkt: That the social insects do not learn or acquire knowledge as groups; that they totally lack tradition; that substantially all their activities are inborn and determined by organic heredity, or depend on individual psychic experience acting upon hereditary faculty; in short, that they totally lack any body of ‘superorganic products’ that is carried along from individual to individual and from group to group independent of the nature of these individuals and groups. (Kroeber 1918: 643) Es ist leicht verständlich, dass Kroebers Formulierung „body of ‘superorganic products’ that is carried along from individual to individual and from group to group independent of the nature of these individuals and groups“ eine rasche, wenn auch stillschweigende Akzeptanz in der Folkloristik und verwandten Disziplinen finden würde. Trotz der viel beachteten angeblich polaren Gegensätzen der „anthropologischen“ und „literarischen“ Schule der frühen Dekaden der Folkloreforschung sollte allerdings beachtet werden, dass zumindest in dieser Hinsicht (d.h. der vermeintlichen Realität des Super-Organischen, wie auch immer diese genannt werden soll) die Überschneidung der beiden Schulen wohl größer waren als ihre Differenzen. 3 Eines der am besten bekannten Beispiele für die Tendenz, Volksmärchen und ähnliche Textgeres als „super-organische Produkte“ zu behandeln ist Krappes Klassiker von 1929 The Science of Folk-Lore, ein Titel, der deutlich zeigt, welche Richtung der Wissenschaftszweig in der englischsprachigen Welt und andernorts nahm. 4 Diese frühe Konzentration auf die Texte allein war zweifellos natürlich, und nicht nur einer Färbung des Begriffs „Super-Organisch“ geschuldet, die gleichsam mitschwingt: Prosa, Poesie, Wortkollokationen eignen sich zur Analyse von vielen verschiedenen und berühmten Gattungen - Formeldichte, Motivjagd, transnationale 2 Kroeber 1918: 634. In diesem Kontext schlägt Kroeber „the civilizational or superorganic or, better, superpsychic,“ als Synonyme vor. Ein Konzept welches sich durch die Beschäftigung mit „social psychology“ und „culture history“ deutlich von anderen wissenschaftlichen Gebieten, wie der Astronomie oder der Naturgeschichte, abhebt. Siehe Kroeber 1918: 634, 636; vgl. Kroeber 1919: 263, 3 Ein guter Ausgangspunkt für diese Thematik bietet die Einleitung zu Krappes Buch (S. ix-xi). 4 Krappe 1964: xv betrachtet Folklore explizit als „historical science“, historisch im Sinne davon, dass „it attempts to throw light on man’s past“ und wissenschaftlich im Sinne davon, dass „it endeavors to attain this goal […] by the inductive method which, in the last analysis, underlies all scientific research.“ Bei genauerer Betrachtung seiner Herangehensweise an die Folklore bemerkt Krappe 1964: x hingegen, er habe „…adopted the purely literary viewpoint. That is, I conceive of folk-tales and folk-songs as purely literary manifestations of the popular genius…“. Vgl. Krohn 1926: 1. Die bemerkenswerteste Untersuchung, um die Denkmethode der Folkloristik nachzuvollziehen. Transvektion und die verleumdete Frau in der skandinavischen Tradition (TSB 367) 185 Plotstrukturen und so weiter. 5 Vor dem Hintergrund einiger Dekaden mit einem solchen textzentrierten Vorgehen hat ein prominenter Folklorist seine Mühen und diejenigen vieler anderer mit diesem Bild der Folklore als „…collectively shaped, traditional stuff that could wander around the map, fill up collections and archives, reflect culture, and so on“ (Bauman 1986: 2) zusammengefasst. Stattdessen bemerkt er, [m]y concern has been to go beyond a conception of oral literature as disembodied superorganic stuff and to view it contextually and ethnographically, in order to discover the individual, social, and cultural factors that give it shape and meaning in the conduct of social life [.] (Bauman 1986: 2; Emphase hinzugefügt) Baumans Sicht, die er und andere schon Jahre früher zu entwickeln begannen (vgl. Bauman 1975), bedeutet eine wichtige Korrektur der Methodik und Aufgabe der Folkloristik und sie hat sich als produktive Norm der zeitgenössischen Herangehensweise an verbale und traditionelle Kunst etabliert. Deshalb wird man sich von dieser hart erarbeiteten und nützlichen Perspektive nicht leichtfertig trennen wollen. In diesem Beitrag möchte ich jedoch die Frage nach dem so genannten „Super-Organischen“, dem offenkundigen Bösewicht auf der verschlungenen philosophischen Reise der Folkloristik, noch einmal aufgreifen und fragen, ob dieses Konzept nicht immer noch eine nützliche Funktion bei unserer Betrachtung traditioneller Überlieferung haben kann. Bis zu einem gewissen Grad werden dabei meine Überlegungen zur früheren Sicht auf die Folklore als verdinglichtes, super-organisches Material - Motive, Arten von Erzählungen und so weiter - zurückgehen, die fähig sind, den Erzählern und deren Publikum ein zeitloses Sinnangebot zu machen, vielleicht sogar auch dann, wenn die ethnographischen Details sich verändert haben, manchmal sogar einschneidend (z.B. der Übergang vom Heidentum zum Christentum). 6 Dem Konzept des Super-Organischen sollen neuere Werke aus dem Gebiet des Mikro-Narrativen und deren Beziehung zu plastischer Kunst, oraler traditioneller Kunst sowie geschriebener Literatur hinzugefügt werden, eine Perspektive, die einiges zur viel versprechenden Debatte beitragen kann, die mit „Text, Reihe und Transmission“ umrissen wird. 7 Vereinfacht gesagt, 5 Dies soll nicht die Vorstellung erwecken, dass Forscher, welche sich in diese Richtung orientieren, nicht auch ethnographisch damit befassen könnten. Siehe dazu zum Beispiel Mitchell und Nagy 2000: xix. 6 Die Relevanz dieses Motivs in der modernen Folkloreforschung ist Gegenstand einer Spezialausgabe von The Journal of Folklore Research (34: 3) von 1997: „Tools of the Trade: Reconsidering Type and Motif Indexes.“ Unter den vielen exzellenten Artikeln, die für den gegenwärtigen Kontext von besonderem Interesse sind, siehe vor allem Dundes 1997 und Lindahl 1997. 7 Für Arbeiten, die die Mikro-Narrativik innerhalb der altnordischen und griechischen Welt betreffen, siehe zum Beispiel Norrman 2005 und Morris 1989. Ich möchte diese Möglichkeit nutzen, um Lena Norrman für ihre viele Einblicke in diese Thematik zu danken, ein Thema, welches den Kern ihrer gegenwärtigen Forschung zur Frau, dem Weben und der Narratologie im Altnordischen Kontext bildet. Morris untersucht die Fresken von Akrotiri und deren Beziehung zur griechischen Dichtung; ein geläufigeres Beispiel für Ekphrasis in der Dichtung, Stephen Mitchell 186 geht es in diesem Aufsatz darum, die Evolution einer bestimmten Mikro-Narrativik, der man im Norden vom 19. Jahrhundert an begegnet, zu verfolgen, um dann dafür zu argumentieren, dass diese Geschichte einen notwendigen Rahmen darstellt, um eine bemerkenswerte Anschuldigung zu kontextualisieren, die in die dänische, norwegische und schwedische Tradition der „Hekseridet“-Frau des 19. Jahrhunderts gehört: das Motiv der durch die Schwiegermutter der Hexerei angeklagten Frau (D 367). 8 In ihrer eigenen Art und Weise stellen meine Bemerkungen zugleich eine Auseinandersetzung mit Baumans Perspektive - „to discover the individual, social, and cultural factors that give [oral literature] shape and meaning in the conduct of social life“ - dar, der man sich von der gegenüberliegenden Seite her annähert, eher vom Institutionellen als vom Individuum. 9 In diesen Ideen gibt es nichts Neues zu finden, in einer gewissen Weise sind sie so alt wie Homers sêmata, und sie wurden regelmäßig kommentiert durch die moderne Forschung. 10 Was hingegen neu sein könnte in meinem Vorgehen, ist weniger die Möglichkeit der Entwicklung neuer empirischer Daten über das Verhältnis von Oralem und Geschriebenem oder über den Charakter der Transmission und des Netzwerks zwischen verschiedenen Segmenten der Gesellschaft, als vielmehr die Möglichkeit, dass wiederherstellbare kulturelle Kontexte existieren, die sich sowohl über die unmittelbaren Kontexte der Performanz, in denen die Folklore operiert, erstrecken, als auch bezeichnenderweise darüber Auskunft geben. das Schild des Achilles in der Ilias, war der Mittelpunkt vieler wichtiger Forschungen (z.B. Nagy 1997). 8 Siehe Jonsson, Solheim et al. 1978. Die dänischen Texte („Hekseridet“, DgF 361) sind publiziert in Grundtvig 1966-76, VI: 286-90; die Schwedischen („Herren Båld“, SMB 166) in Jonsson, Jersild, und Jansson 1983, IV: 1: 308-10; und auf die 18 Texte der norwegischen Multiform, „Olav og Kari“, kann man über „Dokumentasjonsprosjektet“ zugreifen: http: / / www.dokpro.uio.no/ ballader/ lister/ tsb_titler/ variantar_d367.html. Es sollte offensichtlich sein, dass dieser Aufsatz weder als Diskussion der Ballade in ihrer Gesamtheit verstanden werden soll, noch möchte ich darin mit den gegenwärtigen Erörterungen zu den Fragen des Alters oder der Herkunft der Ballade befassen; meine Absicht hier ist es vielmehr, die Möglichkeit der Aussagekraft eines bestimmten Motivs, ungeachtet eines über mehrer Jahrhunderte wechselnden Charakters, sowohl als Text wie auch als Bild zu untersuchen. 9 Andere mögliche Arten, um diese Perspektive zu charakterisieren - Mikrostruktur und Makrostruktur, synchron und diachron, syntagmatisch und paradigmatisch (z.B. Nagy 1990: 4- 5; Dué 2002: 8) - weisen auf eine allgemein kompatible Menge an zentralen Anliegen hin. 10 Bezüglich des homerischen Gebrauchs siehe die Diskussion dazu in Foley 1999: 3, der folgendes bemerkt: „To translate sêma as merely the tablet or whatever is scratched on it is not merely inadequate […] As we shall see, sêmata in the Iliad, Odyssey, and Hymns are first and foremost tangible symbols that point toward larger concerns or ideas that would otherwise remain hidden or secret, windows that open onto emergent realities knowable in no other way.“ Die Forschung, welche von Panofskys ikonologischen Studien (Panofsky 1939: 3-31) bis hin zur kanonisierten semiotischen Literatur (z.B. Barthes 1988) reicht, ist natürlich durch das gemeinsames Anliegen zu den Fragen nach Bezeichner, Referenzialität und so weiter verbunden. Transvektion und die verleumdete Frau in der skandinavischen Tradition (TSB 367) 187 5& - & * Der Traum vom Fliegen ist eine der Ideen, die die Phantasie des Menschen seit jeher beflügelt hat: Der chinesische Eroberer Shun, der persische König Kai Kawus, der afrikanische Krieger Kibaga, der ägyptische Gott Horus, die indische Gottheit Vshnu und der legendenumwobene Grieche Ikaros stellen nur die berühmtesten Beispiele einer sehr langen und weltumspannenden Liste von Figuren aus Legende und Mythologie dar, die die Fähigkeit zu fliegen hatten oder diese entdeckten. Manchmal verwenden solche Geschichten das Flugmotiv, um die Hybris und Arroganz der Menschheit darzustellen, manchmal dient die Verwendung aber auch dazu, übernatürliche, ja sogar göttliche Fähigkeiten des Protagonisten darzustellen, und manchmal soll der Versuch zu fliegen aber auch dazu dienen, die Verlogenheit und den bösen Charakter des Fliegenden zu betonen. Letzteres wird besonders im europäischen Mittelalter evident, wo der populäre Bösewicht der christlichen Mythologie, Simon Magus, vielleicht der am meisten ins Gedächtnis eingeprägte „Flieger“ in der mittelalterlichen Tradition war. 11 Dennoch wird die menschliche Transvektion im lateinischen Mittelalter am stärksten mit der Göttin Diana identifiziert, vor allem in solch bekannten Texten wie dem Canon episcopi aus dem frühen 10. Jahrhundert, der Regino von Prüm zugeschrieben wird, sowie den Dekretschriften Burchards von Worms aus dem 11. Jahrhundert. Es ist diese umgestaltete römische Göttin des Mondes, von der man glaubte, sie ritte nachts auf dem Rücken von Tieren in Gesellschaft anderer Frauen. 12 Aberglauben dieser Art wurde immer stärker mit häretischen Praktiken identifiziert, wie auf einem Frontspiz einer französischen Übersetzung aus dem 15. Jahrhundert des Tractatus contra sectum Vadensium von Johannes Tinctoris gesehen werden kann: Nicht nur werden die waldensischen Häretiker gezeigt, wie sie eine Ziege anbeten, sondern auch der Himmel ist voller Gestalten, 11 Obschon Tubach 1969 nur einen einzigen Sermon zitiert - von der Frage nach der Simonie abgesehen - der den Werdegang von Simon Magus (#4378) betrifft, waren dessen Abenteuer in der Luft ein ständiges Merkmal der christlichen Ikonographie und reichte von Handschriftenillumination (z.B. das Stammheimer Missal, fol. 138v) bis zu Kirchenskulpturen (z.B. in der Kathedrale von St. Lazare in Autun, Frankreich). Zur Stellung von Simon Magus im Mittelalter siehe Flint 1991: 338-44 et passim. Ich möchte diese Möglichkeit nutzen, um anzumerken, dass die folgenden Ausführungen nicht als vollständige Bestandesaufnahme zum Thema der übernatürlichen Fortbewegung im mittelalterlichen Norden, sondern als Hinweis auf dessen Popularität, Langlebigkeit und Einfluss gedacht sind. 12 Reginos berühmte Formulierung, „…cum Diana paganorum dea et innumera multitudine mulierum equitare super quasdam bestias, et multa terrarum spatia intempestae noctis silentio pertransire…“ (Migne 1841-64: vol. 132, col. 352), findet sich weitgehend bei Burchard von Worms (Migne 1841-64: vol. 140, col. 963) wieder. Es sollte festgehalten werden, dass dies Wiederholung dieses Sentiments während des Mittelalters anhält (z.B. John of Salibury), einschließlich eines nordischen Kontexts - Jóns saga Baptista (Unger 1874: 914). Dianas Flug ist in der wissenschaftlichen Literatur viel diskutiert worden; für eine englischsprachige Übersicht und die Quellenlage zu ihr siehe zum Beispiel Russell 1972: 23 et passim und Flint 1991: 65-66 et passim. Stephen Mitchell 188 Dämonen und halbmenschlichen Wesen, die auf verschiedenen Gegenständen umherfliegen. 13 Auch die Bewohner des nördlichen Europa waren vom Fliegen fasziniert: Die Bedeutung von luftbezogener Transvektion im Germanischen ist z.B. bezeugt durch die skandinavische, englische und deutsche Wieland-Tradition (Völundr, Velent usw.) in Prosa, Dichtung und in der bildenden Kunst (z.B. Völundarqviða, Franks Casket). Faktisch jedoch ist eine der stabilsten Vorstellung vom Fliegen und anderer unüblicher Fortbewegungsformen, die von einer fruchtbaren nordischen Imaginationsfähigkeit über viele Jahrhunderte hinweg produziert wurde, nicht wie in diesen Fällen an das männliche Geschlecht geknüpft, sondern eher im Einklang mit dem Bild der Diana, das heißt weiblichen Wesen, die auf magische Art und Weise transportiert werden. Von der späten Eisenzeit an bis in die Moderne waren nordische Künstler verschiedenster Medien - Poesie, Petroglyphen, Romane, Legenden, Film u.a. - fasziniert von einer wiederkehrenden Vision einer übernatürlichen und häufig die Luft betreffende Transvektion: Frauen rittlings auf einem Gegenstand oder Reittier der seltsamsten Art. Sicherlich der eindrucksvollste frühe Beleg dieser Tradition in Skandinavien ist die außergewöhnliche Zeichnung, die einen Teil des Runensteins von Hunnestad in Skåne, Schweden, bildet (datiert in die Zeit 975-1050 n.Chr. und jetzt im Museum Kulturen in Lund aufbewahrt, vgl. Stoklund 2000). Hier sieht man eine weibliche Figur auf einem Wolfsrücken sitzen; dabei verwendet sie Schlangen, um ihr merkwürdiges Reittier zu zügeln (Abb. 1). Abb. 1: Runenstein von Hunnestad, Skåne, Schweden 13 Dieses Bild ist oft wiedergegeben, so z.B. in Russell 1980: 74. Transvektion und die verleumdete Frau in der skandinavischen Tradition (TSB 367) 189 Es ist leicht anzunehmen, wie es auch zumeist gemacht wurde, dass diese Zeichnung in Verbindung mit Hyrokkin gebracht werden oder sie sogar repräsentieren sollte: eine Riesin, die, wie in Snorris Gylfaginning aus dem 13. Jahrhundert beschrieben, zum Begräbnis des Gottes Baldr kommt und „reið vargi ok hafði h ǫ ggorm at taumum“ (einen Wolf ritt und Vipern als Zügel hatte [Jónsson 1931: 65]). Die Darstellung auf dem Stein von Hunnestad scheint so eine frühe nordische Version von G241 wiederzugeben. Der Hexenritt 14 war aber offensichtlich nicht die einzige Darstellung einer solchen Mikronarrativik innerhalb einer breiteren Makro-Tradition andersweltlichen Verhaltens. Ein skaldisches Gedicht von Úlfr Uggason, die Húsdrápa (Hauslied) aus dem 10. Jahrhundert, zeugt von einer ähnlichen Darstellung von übernatürlicher Transvektion. 15 Dieser Text, zum Teil erhalten in der Snorra-Edda, ist eine Ekphrase, in diesem Fall ein Gedicht, das die Schnitzereien preist, welche ein Haus in Westisland zieren, das in heidnischer Zeit gebaut wurde. 16 In einem Abschnitt wird nicht nur die Hauptaufgabe erwähnt, die Hyrokkin in der Mythologie zufällt (nämlich Baldrs Grabschiff ins Meer zu schieben), sondern es wird auch eigens ihr Pferd erwähnt (Jónsson 1931: 152). Wir können jedoch natürlich nicht mit Sicherheit wissen, wie die Zeichnung aussah oder welches mentale Bild Úlfr kreieren wollte, jedoch passt alles, was wir wissen, zu der weiteren Auslegung des Materials, welches hier diskutiert wird. 17 Übernatürliche Transvektion ist ein verbreitetes Bild in der nordischen Literatur. Helgaqviða Hjörvarðssonar, ein eddisches Gedicht aus einer Vielzahl von Quellen, ist voller Anspielungen auf den gleichen Topos: Walkürenritt in der Luft („Hon var valkyria oc reið lopt oc lög“ [143]) und es gibt z.B. Hinweise auf „Nachtritte“ (qveldriðor [144]). 18 Am wichtigsten ist jedoch, dass das prosaische Incipit beichtet, wie 14 Hinweise dieser Sorte hier und überall in diesem Artikel gehen auf Thompson 1966 zurück. Es ist meine Auffassung, dass G241, Hexenritte, die hier diskutierte Kategorie viel besser beschreibt, als die unzähligen Subtypen welche unter E501, Die wilde Jagd, aufgelistet sind. Die häufigen Diskussionen zum dianischen Ritt, vergegenwärtigt im Canon episcopi Nachlass (vgl. E501.1.8.1 Herodias als Führer der wilden Jagd) und Die wilde Jagd, haben eine beeindruckende Assoziation von Hexen und besser bekannten Themen von übernatürlichem Reiten in vielen Köpfen geformt, doch ich denke, dass dies etwas ganz anderes ist. 15 Zur Húsdrápa und dessen wichtige Rolle als Quelle für unser Wissen bezüglich des nordischen Heidentums siehe Schier 1976 und Lindow 1997. Meine Ansichten zur Kontinuität und Tradition unterscheidet sich deutlich von jenen in Höfler 1951: Höflers Ansichten darin (und auch anderswo) über die Kontinuität konzentrieren sich auf die Wahrscheinlichkeit des Gebrauchs moderner Folklore bei der Interpretation von heiligen heidnischen Ritualen. Infolgedessen drängt er eine sehr enge Mythos-Ritual Beziehung über eine ausgedehnte Epoche; meine eigenen Ansichten (wie zum Beispiel in Mitchell 1991: 44-46 dargelegt) befassen sich nicht mit dieser Art von idée fixe, sondern mit der anhaltenden Brauchbarkeit ausgewählter Materialien für neue Autoren und Zielgruppen, durch deren Modifikation, Wiedererfindung und Wiederaufmachung. 16 „Váru þar markaðar ágætligar sögur á þilviðinum ok svá á ræfrinu…“ Sveinsson 1934: 79. 17 Die Möglichkeit, dass der Vers, den Snorri in Skáldskaparmál zitiert, gleichsam über seine Darstellung der Geschehnisse, welche mit Baldrs Begräbnis in Verbindung stehen, Auskunft gibt (und somit als unabhängige Quelle zu verwerfen ist), kann nicht übersehen werden. Vgl. Lindow 1997. 18 Alle Quellenangaben stammen hier aus Neckel und Kuhn 1983. Stephen Mitchell 190 Helgi zum Abend des Julfests nach Hause reist, er „fann trollkono; sú reið vargi oc hafði orma at taumom“ (begegnete er einer Trollfrau [Hexe? ]; sie ritt einen Wolf und hatte Schlangen als Zügel [147]). In der nachfolgenden Prosa, in der diese Szene kommentiert wird, verweist der Text auf Helgi, der „konona ríða varginom“ (die Frau, den Wolf reitend [148]) gesehen hat, und das Gedicht seinerseits wiederholt die Idee, wenn Helgis Worte angibt: „Reið á vargi, er recqvið var, / flióð eitt“ (es ritt auf dem Wolf, in der Abenddämmerung / eine gewisse Frau“ [148]). 19 Dieses und ähnliche mythologische Konstrukte werfen ein Schlaglicht auf die nicht eindeutige Unterscheidung im Altnordischen von trollkonur (wörtlich: Trollfrauen) verschiedener Arten: Wir Modernen mögen uns wohler fühlen, wenn wir einige dieser Figuren als Hexen bezeichnen (also menschliche Wesen, die fähig sind, das Zukünftige zu wissen oder zu verändern), bei anderen würden wir es vielleicht vorziehen, sie als so genannte Trollfrauen zu bezeichnen (also weibliche Wesen einer eigenständigen und feindlichen Gattung). Ein Heer vergleichbarer Hinweise in frühen altnordischen Texten unterstreicht, wie verschwommen die Einteilung war, die diese beiden Arten weiblicher Wesen unterschied. 20 Vom Kontext her scheint es so, dass, wenn Eilífr Goðrúnarson den Ausdruck „kveldrunnina kvinna“ (abendreisende Frauen) in seiner Þórsdrápa (Jónsson 1973: 143) aus dem 10. Jahrhundert verwendet, er sich auf solche Frauen bezieht, gegen die Þórr routinemäßig kämpft (d.h. Riesen, Trolle). 21 Dennoch müssen Sätze in der Art von „abendreisenden Frauen“ nicht in jedem Kontext auf diese Weise verstanden werden. Der berühmte Satz aus der Hávamál 155: „ef ek sé túnríður/ leika lopti á“ (wenn ich ‘Zaunreiter’ sehe / hoch oben spielen), und verwandte Ausdrücke (z.B. kveldriða, myrkriða, hamfrær) deuten auf ein paralleles semantisches Feld von einiger Bedeutung für die Deutung der kveldrunna kvinna als Riesinnen. 22 In diesen Beispielen scheint es, dass der Reiter in der Tat ein menschliches, weibliches Wesen ist, eines mit außerordentlichen Kräften, wie z.B. wenn die Hexe Þórdís in der Fóstbræðra saga nach einem dürftigen Nachtschlaf erwacht und anschließend den Aufenthaltsort ihrer Feinde beschreibt mit der Bemerkung „víða hefi ek göndum rennt í nótt“ (weit bin ich heute Nacht den Hexenritt geritten). 23 Ein weiteres wichtiges Element in der 19 Auch wenn es vielleicht nur ein Zufall ist, ist es dennoch beachtenswert, das dieser Abschnitt der Helgaqviða Hjörvarðssonar, wie unsere Ballade, sich um die Frage der Eifersucht zwischen zwei Mitgliedern eines Geschlechts über ein Individuum des anderen Geschlechts dreht. 20 Obgleich Hexen nicht unbedingt weiblich sein müssen, gibt es nur wenige Belege dafür, abweichend davon ist die Geschichte Islands im 17. Jahrhundert, dass nordische Hexen in der christlichen Ära im Allgemeinen als vorwiegend männlich empfunden wurden. Siehe dazu Mitchell 2000b. 21 Vergleiche den Eintrag in Jónsson und Egilsson 1966: 351—„kveldrunninn, adj., ‘aftenløbende’, som løber, færdes, om aftenen […] jættekvinder.“ 22 Neckel und Kuhn 1983: 43. Zu diesen Bezeichnungen siehe besonders Ólsen 1915. Ich möchte erwähnen, dass ich vor kurzem in einem anderen Zusammenhang versucht habe, diese verworrene Menge an Beziehungen zu entwirren (z.B. Mitchell 1997; Mitchell 2003). 23 Þórólfsson und Jónsson 1972: 243. Für andere isländische Beispiele, sowie für mögliche fremde Quellen, siehe Mitchell 1997: 87-90. Die bekannte Phrase von Äldre Västgötalagen: „Iak sa at þu reet a quiggrindu löfharæfl. ok i trols ham þa alt var iamrift nat ok daghér“ (Ich Transvektion und die verleumdete Frau in der skandinavischen Tradition (TSB 367) 191 Entwicklung dieses Mythologems wird im späten Mittelalter evident, wenn Texte Hexenversammlungen diskutieren. In der Ketils saga hængs (entstanden ca. 1300, erhalten jedoch in Manuskripten aus dem 15. Jahrhundert und später) trifft der Held auf eine Hexe (tröllkona), die sagt, sie sei auf dem Weg zu einer Hexenversammlung: „ek skal til tröllaþings“ (Rafn 1829-30: II, 131). Einheimische Konzepte dieser Art verschmelzen anscheinend mit importierten Ideen, wie dem kirchlichen Interesse an der Figur der Diana (Herodias), und bauen in die christliche Mythologie Hexenvorstellungen des nordischen Spätmittelalters ein, wie im „Hexenritt nach Blåkulla.“ 24 Der letzte katholische Bischof Schwedens, Olaus Magnus, beschreibt 1555 in seiner umfassenden ethno-historischen Darstellung der nordischen Welt, Historia de gentibus septentrionalibus, den nordischen Hexensabbat als mehrmals im Jahr stattfindend, und zwar auf einem bestimmten Berg, wo Hexen ihre Künste probieren können („In eo monte certis anni temporibus dicitur esse conuentus Aquilonarium maleficarum, vt examinent præstigia sua“ [Magnus 1555: 85]). Spätere Belege aus dem Zeitalter der Hexenjagd zeigen, dass die „Reise nach Blåkulla“ eines der verbreitetsten Merkmale des nordischen Hexenglaubens wurde: Diese spektakuläre Form des Transports ist beispielsweise häufig in der Kirchenkunst des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit zu finden. So zeigt das spätmittelalterliche Bild (Abb. 2) aus der Kirche von Yttergran in Uppland, Schweden, drei Hexen, die anscheinend auf verschiedenen Geräten zu einem Treffen mit dem Teufel fliegen. Dort gibt ihnen der Teufel aus seinem Ölhorn die besondere Salbe, von der man glaubte, dass die Hexen sich mit ihr einrieben, um dann zum Berg Blåkulla fliegen zu können. 25 Dieses Wandgemälde, wie auch andere dieser Art, erfasst perfekt die Schlüsselkomponenten sowohl des einheimischen als auch des importierten Glaubens. sah dich reiten auf einem Zaungatter mit deinem Haar offen und in der Gestalt eines ‘Trolls’ als alles gleich war [zwischen] Nacht und Tag [= beim Äquinoktikum, in der Dämmerung? ]) - bezüglich der Verleumdungen einer Frau, die deutlich Anschuldigungen gegen Mitglieder der menschlichen Gesellschaft vergegenwärtigen (Collin und Schlyter 1822, I: 38). 24 Dieser Komplex wurde sorgfältig von Sahlgren 1915 behandelt; für Details zu den spätmittelalterlichen Aspekten der Blåkulla-Erzählung siehe Mitchell 1997. Wichtige neue Studien beinhalten Sörlin 1997 und Östling 2002. 25 Zur Datierung der Wandbilder von Yttergran auf ca. 1480 siehe Tuulse 1963: 462. Tuulse 1963: 478 identifiziert die Utensilien als einen Besen, eine Harke und einen Brotschieber (kvast, raka, och grissla). Stephen Mitchell 192 Abb. 2: Wandgemälde in der Kirche von Yttergran, Uppland, Schweden In der frühen Neuzeit wurde der so genannte Blåkulla-Komplex ein wichtiges Element der Erzählungen über Hexerei in Schweden und Norwegen 26 und, obwohl die Geschichten sehr variieren, waren wenige Aspekte des Hexendiskurses in der frühen Neuzeit auch nur annähernd so vorherrschend wie die Erzählungen von grauenhaften Ritten zu diesen nordischen Hexensabbaten. An einem schwedischen Gerichtsverfahren von 1595 versuchte eine Frau, die der Hexerei angeklagt war, zwei andere Frauen hineinzuziehen, indem sie geltend machte, diese gehörten zu denjenigen, die nach Blåkulla zum Hexensabbat ritten („thet slaget som pläga rida til Blåkulla“ (die Sorte, die nach Blåkulla zu reiten pflegt [Almquist 1939-51, II: 166-67]). Genau dieses Bild wird die frühe Neuzeit hindurch wiederholt: In einem norwegischen Fall von 1730 sagte eine junge Frau, sie nähme eine Salbe aus einem Horn, schmiere damit verschiedene Tiere ein und reite auf ihnen, zusammen mit ihrer Großmutter, zu einem Platz genannt „Blaaekollen“: hun tog een souv eller faar og smurte med noged smørelse hun havde i et horn, hvorpaa mor-moderen tillige med deponenten sadte sig paa sougen hvorpaa de strax kom i veyret, og efter et hastigt og kort tiid, kom need paa et stæd, hendes mormoder kaldte Blaaekollen [.] [zitiert in Alver 1971: 143-46] sie nahm ein weibliches Schwein oder ein Schaf und rieb es mit einer Salbe ein, die sie einem Horn entnahm, woraufhin sich ihre Großmutter zugleich mit der Angeklagten 26 Zu den Traditionen in diesen beiden Ländern siehe Alver 1971 und Östling 2002; bezüglich Dänemark und Island vgl. Johansen 1991: 158; Davíðsson 1940-43: 55; und Þorvarðardóttir 2000: 27-28. Transvektion und die verleumdete Frau in der skandinavischen Tradition (TSB 367) 193 auf das Schwein setzte. Sie kamen in ein Unwetter, und nach kurzer Zeit landeten sie an einem Ort, den ihre Großmutter Blaaekollen nannte. Im 18. Jahrhundert verwirft die gesellschaftliche Elite solchen übernatürlichen Glauben (vgl. Oja 1999), aber dennoch bleibt dieser, wie aus diesem Zeugnis von 1730 hervorgeht, in der populären Tradition bestehen. In der Tat könnte man sich fragen, ob es nicht ganz unterschiedliche Reaktionen in den verschiedenen Gesellschaftsschichten ein Jahrhundert später gab, als eine Reihe Volksbücher den Blåkulla-Stoff präsentierten. Die Elite lenkte für ihren Teil die Aufmerksamkeit auf „die Schwärmerei und Unkenntnis“ (svärmeri och okunnighet), die solchem Glauben Kraft gaben, während sie gleichzeitig bereit ware, die lüsternen, ernsten und aufsehenerregenden Aspekte eben dieses Materials auszuschlachten. 27 Derweil veränderte sich der Glaubensdiskurs in der populären Tradition, indem er aufgrund fehlender juristischer Sanktionen gegenüber dem Hexenglauben dessen weit weniger ernste Konnotationen übernahm. So begann im Schweden des 19. Jahrhunderts ein so genannter „Osterbrief“ (påskbrev) typischerweise mit Zeilen, die den Rezipienten an die Hexenreisen nach Blåkulla erinnern sollten und Darstellungen, wie sie die Kirche von Yttergran zeigt: „Sopa, raka, smörjehorn / sänder jag till resedon. / Res fort, kom snart igän, / önskar dig en trogen vän.“ (Müll, Besen, Ölhorn / sende ich als Reisegerät. / Reise schnell, komm bald wieder zurück, / wünschet dir ein treuer Freund [Wigström 1898-1914, VII, 3: 331]). 28 Den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts hindurch haben Elite und Massenkultur im Norden eben diese Motive übernatürlicher Fortbewegungsarten von Frauen ausgeschlachtet und damit gezeigt, dass diese Vorstellung nicht von ihrer Vitalität eingebüßt hat. Die Kraft, die mit diesem Bild heraufbeschwört wird, ist nirgendwo deutlicher präsentiert als im Film Häxan (1922) des dänischen Regisseurs Benjamin Christiansen. Im mittleren Teil des Films spinnt Maria, die Weberin, aus der ein Geständnis gepresst wird, eine langatmige Erzählung, in der die meisten Elemente nordischen Hexenglaubens enthalten sind (mit Elementen aus anderen Traditionen). Eines der auffälligsten Bilder in dieser Sequenz ist das Auftragen einer Salbe aus einem Horn an einer Hexe sowie der daran sich anschließende Hexenritt auf verschiedenen Geräten und Tieren nach Blåkulla - eine visuell atemberaubende Präsentation dieses Komplexes, die den Zuschauer sofort an die Wandmalereien der Kirche von Yttergran denken lässt (und eine, die einige Jahrzehnte später der Präsentation eines ähnlichen Phänomens in Disneys Fantasia (1940) als Vorlage ge- 27 Das Zitat hier entstammt Kröningssvärds originalem Vorwort von 1821, wieder abgedruckt in Kröningssvärd 1845-49. Weitere Beispiele dieser Art von Publikation in Schweden im frühen 19. Jahrhundert sind Walberg 1815; Anon. 1836; Annell 1840; und Norlin 1858. Siehe auch Bäckström 1845: 116-17. 28 So genannte påskbrev scheinen ursprünglich in Westschweden und Østfold in Norwegen populär gewesen zu sein. Es war ein Brauch, bei dem Kinder einen Vers aufschrieben, meist begleitet von einer Zeichnung einer Hexe [påskkäring], und diesen Zettel in den Eingangsbereich des Hauses eines Freundes warfen. Für historische Hinweise, weitere Beispiele (inklusive einer spezifischen Nennung von Blåkulla) und den Verbreitungsbereich siehe Ejdestam 1940: 23-27. Stephen Mitchell 194 dient haben mag). Die Kraft dieses Bildes von der Transvektion der Hexe hat im gesamten 20. Jahrhundert die künstlerische Imagination inspiriert, von der Poesie (z.B. Larsens Valborg Nat), zur Kunst (Adrian-Nilssons Herren Båld, folkvisa), bis hin zur Musik (etwa das Album der Band Blåkulla, Blåkulla). 29 + + : "" ' ( B + EF Diese tausendjährige Tradition von Frauen als Akteure einer übernatürlichen Fortbewegung (G241: Witch rides) - eine wirkmächtige Festschreibung des Weiblichen als das „Andere“ innerhalb des Hexenglauben-Diskurses - wurde in der nordischen Liedtradition mit einem anderen verbreiteten Motiv verbunden, dem der „verleumdeten Frau“ (K2110.1). Wie das Bild der transvektierten Hexe so hat auch das Motiv der zu Unrecht angeklagten Frau tiefe Wurzeln in der europäischen Tradition. 30 Dieses Motiv, am besten bekannt in der Mittelalter-literatur in den verschiedenen Formen in der Mabinogi und bei Chaucer, 31 erscheint häufig im Korpus des skandinavischen Mittelalters (z.B. Karlamagnús saga, Þiðreks saga, Sju vise mästare, Namnlös och Valentin). Diese beiden Motive stellen die zentralen Topoi in einer schmalen, jedoch wichtigen Gruppe nordischer Balladen dar: „Hekseridet - Frau der Hexerei bezichtigt durch ihre Schwiegermutter“ (D 367). The Types of the Medieval Scandinavian Ballad charakterisiert sie als Erzählungen, in denen die Mutter des Helden ihrem Sohn erzählt, sie habe ihre Schwiegertochter „riding on wild animals and meeting with supernatural beings“ gesehen (Jonsson, Solheim et al. 1978: 178). Keiner der gesammelten Balladentexte ist älter als das 19. Jahrhundert, dennoch fällt deren Ursprung in eine frühere Epoche. Das älteste aufgeschriebene Lied, eine schwedischer Text aus den frühen 1810er Jahren, ist explizit in seinen Assoziationen: Die Mutter behauptet, ihre Schwiegertochter unter den Hexen auf der Heide gesehen zu haben, wie sie dort auf einem Bären mit einem Wolf als Sattel und einer Schlange als Peitsche geritten sei (Verse 5-7): Jo jag såg henne uppå heden i går, / Ibland alla Trollpackor små. / Och björnen den så red hon uppå, / Och ulfven den hade hon till sadel derpå. / Och ormen den hade hon till piska; / Jag sjelf der varit och vistats. 29 Thøger Larsen, ein Dichter der oft mit traditionellen Themen arbeitete, nahm den Vers „Medens en Heksehær til Sabbat rider“ (Während ein Hexenheer zum Sabbat reitet) in seinem Valborg Nat, ca. 1925, auf; Gösta Adrian-Nilssons Herren båld, folkvisa wurde bei Bukowskis in Stockholm im Oktober 1998 versteigert; und die Band, Blåkulla, aus der Mitte der 1970er Jahren, veröffentlichte vor kurzem ihr gleichnamiges Album, Blåkulla, wieder. 30 Siehe zum Beispiel AT 451, 706, 707, 712, 883A und 892 in Aarne und Thompson 1961. 31 Die Auswahl an Literatur zu diesem Thema ist riesig; nützliche Orientierungen liefern Schlauch 1927; Jackson 1961: 87-88; und speziell die sehr ausführlichen Materialien in Wood 1985. Transvektion und die verleumdete Frau in der skandinavischen Tradition (TSB 367) 195 Ja, ich sah sie gestern auf der Heide, / zwischen all’ dem kleinen Trollpack. / Und auf dem Bären ritt sie; / und den Wolf hatte sie als Sattel darauf. / Und die Schlange hatte sie als Peitsche; / ich selbst bin dort gewesen und habe es gesehen. Der dänische Text (aufgeschrieben 1871) beschreibt einen Hexensabbat, zu dem die theriomorph angewachsene Schwiegertochter reitet (NB: Der Text sagt nur, es sei das „geringste“ Tier des Waldes), und zwar mit Vipern („Lindeworm“) für verschiedenes Reitzubehör („Bjessel-Ring“, „Sadel-Knap“). Die norwegischen Texte behaupten im Allgemeinen, dass die Mutter ihre Schwiegertochter gesehen habe, wie sie „mit den Elfen“ geritten sei („mæ elvesie“, „framte elvesie“, „innmæ elvesie“, etc.) unter Verwendung von Vipern als Zügel. 32 Obwohl die mütterliche Eifersucht unterschiedlich stark betont wird und die Angaben über das Geschehen, nachdem die Mutter dem Sohn ihre Entdeckung mitteilte, von Ballade zu Ballade und von Sprache zu Sprache variieren, verbleibt der grundsätzlich auslösende Anlass durch alle Varianten hindurch immer derselbe, nämlich: die Anschuldigung, dass die Ehefrau des Sohnes mit der übernatürlichen Welt verkehrt oder gar selbst ein Teil von dieser ist. In den dänischen Varianten verlässt sie ihren Ehemann und kehrt zu ihren Eltern zurück. In den norwegischen und schwedischen Varianten schlägt der Ehemann seine Frau zu Tode. In den schwedischen Balladen wird er für sein Verbrechen mit dem Tode bestraft, wohingegen in den norwegischen Geschichten die Frau nach ihrem Tod mit Hilfe der Jungfrau Maria zu seinen Gunsten eingreift, um ihm dennoch den Himmel zu ermöglichen. Der Kern des Motivs der übernatürlichen Bewegung erscheint nie unklar oder irrelevant: Sogar in den längsten Ausprägungen, die 36 zweiversige Strophen enthalten, ist die Enthüllung der Mutter ihrem Sohn gegenüber über das Verhalten seiner Frau vorrangig - in der Tat ist die Wiederholung der Anschuldigung mitverantwortlich für die Länge dieses Balladentexts. Aber das Essenzielle dieser Szene wird im gegenteiligen Fall expliziter deutlich, in Sophus Bugges Transkription einer verkürzten Version der Ballade. Aufgeschrieben 1857 von Signe Napper in Skafså, Mo, Telemark/ Norwegen, wurde der Plot auf kümmerliche drei Strophen verkürzt. Der Text enthält in der Tat nur noch die Verleumdung der Mutter: dass Kari einen weißen Bären als ihr Pferd will, Vipern als Zügel braucht und mit den Elfen reitet: 1. Ho ville kji anna hava te hest hell kvite bjønnen lika ho best. 2. Ho hev ikkje anna te beislering hel lindarormen ho slenger umkring. 3. Eg såg a Kari rie framte elvesie. 1. Sie wollte keinen anderen als Pferd haben 32 Grundtvig 1966-76, VI: 286 legt nahe, dass die Elfen der norwegischen Tradition und der Wolfsattel in der schwedischen Ballade ein ursprünglicher „Wolf“ als das Tier, auf dem die Schwiegertochter reitet, erkennen lassen könnten. Stephen Mitchell 196 als den weißen Bären, der ihr am liebsten war. 2. Sie hatte nichts anderes als Zaumzeug als die Schlange, die sie herumwirbelte. 3. Ich sah Kari reiten mit den Elfen. Dass solche verkürzten, jedoch aussagekräftigen Versionen in der Gegend verbreitet waren, wird durch die Tatsache nahegelegt, dass einige Jahre später (1863) in der gleichen Gegend (Skafså, Mo, Telemark) Bugge einen vergleichbaren Balladentext, nun jedoch auf vier Strophen erweitert, sammelt. 33 1857 transkribiert Bugge eine weitere Ballade aus Vrådal, Kviteseid, Telemark, von Sigrid Kosi, die wieder bloß aus vier Strophen besteht, wobei sie jedoch umfassender die zentralen Elemente des Materials von D367 enthält: 1. Olav han springe på sin gangaren grå så hastig rie han derifrå. 2. Høyrer du Olav herren min ho tiend kjæme du mæ ifrå moderen din. 3. Ho sa’ ho såg deg rie (uppette mæ elvesie). 4. Så hosse kann grasi (på jori gro når sonen må ikkje moeri tru). 1. Olav sprang auf sein graues Ross, so rasch ritt er davon. 2. Höre her, Olav, mein Herr, Was für Neuigkeiten bringst du mir von deiner Mutter? 3. Sie sagte, sie habe dich reiten gesehen (zusammen mit den Elfen). 4. Wie also kann das Gras (auf der Erde wachsen wenn nicht der Sohn seiner Mutter glauben kann? ) Was wir hier sehen, ist die typische Expansion und Verdichtung der ineinander greifenden Topoi einer übernatürlichen Transvektion und einer anklagenden Schwiegermutter durch den traditionellen Erzähler (vgl. das beeindruckende und aufschlussreiche Beispiel in Lord 2000: 107-08), die hier wie auch in den viel längeren Versionen konstruiert werden. Wie können wir einen Sinn gewinnen in einem Fall 33 1. Eg såg stolts Ingjebjør rie / uppte mæ elvesie. / 2. Ho ha’ kje anna te højan hest / hell den kvite bjønnen den lika ho best. / 3. (Ho ha’ kje anna te) beislering / den leie ormen ho slengde ikring. / 4. (Ho ha’ kje anna te) tygjyl å taum / hell den leie ormen ho sveipte um. Diese Multiform ist in dokpro Asgjær Bergland zugeschrieben, obschon die ausgedehnte Information zu diesem und dem vorhergehenden Text nahe legen, dass einige Verwirrung darüber besteht, ob die Liedermacher in diesen beiden Fällen ein oder zwei Individuen repräsentieren. Transvektion und die verleumdete Frau in der skandinavischen Tradition (TSB 367) 197 wie diesem, wo der Liedtext gespickt ist mit Allusionen, gleichzeitig jedoch so verkürzt erscheint? Es wäre vertretbar, eine Untersuchung des Textsinns damit zu beginnen, dass wir dessen Performanz im Leben und den Umständen des Sängers situieren, aber stellen die Details, die über viele Jahrhunderte hinweg sich anhäuften und die Sätzen wie Ho sa’ ho såg deg rie / uppette mæ elvesie einen tief eingebetteten Sinn geben, nicht einen gleichermaßen relevanten Bezugsrahmen dar? 34 Obwohl diesen Balladen beträchtliche populäre und wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wurde, vor allem den norwegischen Varianten (z.B. Aaslestad 1980; Nilsen 1993), sind zeitgenössische isländische Parallelerscheinungen bislang übersehen worden, Texte, die zeigen, dass die zentralen Ideen des Materials von D367 auch anderswo in Skandinavien lebendig war und in anderen Gattungen der nordischen Folkloristik. Hildur álfadrottning (Hildur Elfenkönigin), bekannt in verschiedenen Versionen der Jón Árnason Sammlung (Árnason 1954-61, I: 105-09), ist ein langatmiges Volksmärchen (eine Untergruppe von AT 306 „Die zertanzten Schuhe“), das die zentralen Tropen der D367 Balladen widerspiegelt, trotz vieler oberflächlicher Unterschiede. Es ist nicht schwer zu sehen, dass trotz der Unterschiede in Bezug auf Gattung, Stil und Inhalt die entscheidenden Aspekte des D367 Materials und von Hildur álfadrottning vieles gemeinsam haben: Alle Texte drehen sich um den Gebrauch übernatürlicher und ängstlicher Transvektion, die Animosität und Eifersucht der Schwiegermutter und die Unschuld der Protagonistin. Dem Märchen zufolge erleidet ein bestimmter Hof jede Weihnacht den Tod eines seiner Arbeiter. Der Bauer stellt nun einen Mann ein, der Schäfer sein soll, und an Weihnachten liegt der Schäfer wach und hört, dass die Haushälterin (bústýra) kommt und ihm das „Zaumzeug für einen Hexenritt“ (gandreiðarbeizl) anlegt. Anschließend reitet sie auf dem Rücken des Mannes in die Elfenwelt (G241.2.1 Witch rides on person). Dort beobachtet er sie, wie sie eine große Halle betritt, wo sie vom Elfenkönig und ihren beiden Kindern begrüßt und von allen wärmstens empfangen wird, außer von einer alten Frau. Als Hildur im Begriffe ist zu gehen, bittet der König die alte Frau, die sich als dessen Mutter entpuppt, den Bann gegen ihre Schwiegertochter zu widerrufen („Tak nú aftur ummæli þín, móðir mín…“). Sie weigert sich („Öll mín ummæli skulu standa…“), und Hildur wird aufgefordert, in die Welt der Menschen zurückzukehren, wo der Bann schließlich gebrochen wird, als der Schäfer einen Gegenstand enthüllt, den er aus der anderen Welt mitgenommen hat. Das Hilfsmittel, das Hildur für ihre jährliche Reise verwendet - das Zaumzeug für den Hexenritt (vgl. G241.2.1.1 Witch transforms person by means of magic bridle) - ist selbst Thema eines separaten Eintrags von Jón Árnason (Árnason 1954-61, I: 426), wo wir darüber aufgeklärt werden, dass „Wer durch die Luft und über das Wasser fahren können will, der muss das Hexenritt-Zaumzeug haben“ („Hver sem vill geta riðið loft og lög verður að hafa beizli það sem heitir gandreiðarbeizli“). Dieses selt- 34 Durch das Stellen dieser Frage will ich nicht den Stellenwert der Wechselwirkung zwischen der Wahl, die ein einzelner Erzähler aus seinem oder ihrem Repertoire einerseits und die weitere Abgrenzung durch die Tradition andererseits treffen muss, herabsetzen. Die Untersuchung dieses Punkts ist Gegenstand einer wichtigen Studie von Tangherlini 1994. Stephen Mitchell 198 same Hilfsmittel (Gerät) muss aus einer kürzlich begrabenen Leiche konstruiert sein, von der zuvor bestimmte Knochen und Fleischteile entfernt wurden. Nachdem die passenden Zaubersprüche geäußert wurden, verleiht es dem Benutzer, wenn das Gerät auf irgendeiner Person, einem Tier oder Objekt platziert wird, die Fähigkeit, zu einem beliebig gewünschten Ort fliegen. Als Signe Napper in Skafså, Mo, Telemark ihre sehr kurze Version von „Olav og Kari“ für Sophus Bugge im Jahr 1857 sang, hatte sie sicherlich keine Kenntnis von Hildur álfadrottning, Hyrokkin, Úlfrs Húsdrápa oder dem Stein von Hunnestad. Gleichzeitig glaube ich jedoch nicht, dass wir den Grad der Informiertheit, sowohl in ihrer Performanz des Liedes als auch in der Rezeption ihres Publikums, durch eine umfassendere Tradition, von der ihr Vortrag das jüngste Beispiel gewesen wäre, leichtfertig abweisen sollten. In der Praxis gab es im 19. Jahrhundert viele verschiedene Wissensformen, über die die aktiven Träger der Tradition und deren Zuhörer verfügt haben können - Erzählungen, Bilder und Praktiken, die sich mit übernatürlicher Transvektion beschäftigten - all das mag die Interpretationen der Balladen bereichert und verstärkt haben. Das Problem, mit dem die moderne Forschung ringt, hat viele Parallelen mit der Frage, was Tradition überhaupt ist und welches ihr Einfluss auf ihre individuelle Umsetzung in der Performanz ist. Nach seiner umständlichen Vertiefung in eine lebendige Tradition epischen Singens will Albert Lord mit dem Konzept zurande kommen, das bei ihm alle Aufführungen aller Lieder beinhaltet, die der Sänger je gesungen hat (oder, in der Folgerung, der Hörer je gehört hat). 35 John Foley erweitert in einer Reihe wichtiger Werke die Implikationen von Lords Beobachtungen und demonstriert die Macht „traditioneller Referenzialität“ („traditional referentiality“) (vgl. Foley 1992), nichts dass, […] the traditional phrase or scene or story-pattern has an indexical meaning vis-à-vis the immanent tradition; each integer reaches beyond the confines of the individual performance or oral-derived text to a set of traditional ideas much larger and richer than any single performance or text. (Foley 1995: 6) Foleys Bemerkungen heben einen wichtigen Aspekt hervor, wenn es um so offensichtlich brutal verkürzte Texte wie die 31-Wort Multiform von Napper geht: „Sahen“ oder „hörten“ ihre Hörer Dinge jenseits der Wörter ihres Textes? War ihre kulturelle Kenntnis ausreichend, um in ihren eigenen Köpfen vollständigere Versionen der Geschichte zu kreieren als diejenige, die Napper anbietet? War zum Beispiel Olavs Gewalt gegenüber Kari etwas, das hier als mentales Bild bei den Zuhörern 35 „For any individual singer the tradition consists of all the performances of all the songs of all the singers he has ever heard“, Lord 1995: 3 (siehe auch S. 10-11). Lords Ansichten zur Tradition, sowie jene von vielen anderen, sind säuberlich Kontextualisiert in Ben-Amos 1984; siehe insbesondere seine Diskussion zu „Tradition as Process“ (S. 116-17). Transvektion und die verleumdete Frau in der skandinavischen Tradition (TSB 367) 199 heraufbeschworen wird, das nur durch eine Beschreibung zustande kommt, die nichts weiter preisgibt als ihren Ritt mit den Elfen? War die eifersüchtige Schwiegermutter, die Kari anklagt, in den Köpfen der Zuhörer präsent? Löste dieses Szenario zusätzliche Szenen in den Köpfen der Zuhörer aus, wie z.B. Karis Intervention mit der Jungfrau Maria? Oder war es umgekehrt so, dass die Zuhörer neue Bedeutungen erfanden, die uns nicht bekannt sind und die mit diesen wenigen Strophen dekodiert werden könnten? Es ist hilfreich an dieser Stelle, an Panofskys Beobachtung zur kulturellen Verschiebung zu denken, mit der wir es hier zu tun haben könnten. Er bemerkte, dass ein Bild von Herkules, der Cerberus aus dem Hades schleppt, entkleidet von seinem mythologischen Kontext, in den Augen späterer Christen als Christus reinterpretiert werden könnte, der Adam aus dem Limbo zieht. Dergestalt würden „…classical motifs invested with a non-classical meaning…“ (Panofsky 1939: 20) - in Panofskys Terminologie wäre das Motiv dasselbe, ikonologisch betrachtet wäre ein neues Bild entstanden. Natürlich können wir nicht mit Sicherheit wissen, was die Zuhörer mit Nappers Performanz machten, aber die Möglichkeit, dass sie dem alten Material neue Bedeutungen hinzufügten, sollte nicht übersehen werden. Ein Prozess wie derjenige, der oben entworfen wurde, würde uns in der Tat helfen, die Evolution der archaischen Hyrokkin-Erzählung (wie auch immer ihre nicht wiederherstellbare, ursprüngliche Form gewesen sein mag) zu verstehen, so wie sie im späteren Mittelalter innerhalb einer christlichen Kultur hybridisiert wurde, die ihrerseits Möglichkeiten für neue Bedeutungen in Form der parallelen Diana-Geschichte zur Verfügung stellte. Foleys anschließende Zusammenfassung seines Denkens über ein verwandtes Thema ergibt einen wichtigen Rahmen für diese Diskussion: […] word-power derives from the enabling event of performance and the enabling referent of tradition […] tradition describes that body of implication, itself ever changing within limits, to which a performed work of art institutionally appeals. It is the context, the understanding, the set of assumptions and reactions that fills out the processual nature of the event, providing a wholeness that, strictly speaking, cannot be located in or projected from the decontextualized text alone. (Foley 1995: 208) Gegenüber dieser bereichernden Perspektive der Rekontextualisierung eines folkloristischen Texts ist Langs sterile Sicht des folkloristischen Objekts als kulturelle Ossifikation leicht zu verabschieden, eine Realität, die zu erklären hilft, warum die Idee des Super-Organischen in den Augen der modernen Forschung so verachtenswert scheint - „…collectively shaped, traditional stuff that could wander around the map, fill up collections and archives, reflect culture, and so on,“ um Baumans einprägsame Aufrechnung zu wiederholen (Bauman 1986: 2). Das Super-Organische jedoch - wie es von Kroeber, Sauer und anderen seiner Verfechter (inklusive dessen nordische Vertreter) intendiert wurde - könnte jedoch näher bei Foleys Sicht als bei Langs stehen. Tatsächlich vermute ich, dass Kroeber nicht leicht die Rolle des Schwarzen Mannes anerkennen würde, die das Super-Organische in moderner Dar- Stephen Mitchell 200 stellung erhalten hat (vgl. beispielsweise das dunkle Bild, welches von Duncan 1980 entworfen wurde). Indem die moderne Folkloristik der Idee des Super-Organischen so entschieden den Rücken zuwandte, mag sie vielleicht zu weit gegangen sein. 36 Was passiert, wenn der einzige Teil des D367 Materials, der in unserem Besitz ist, sich als der 31-Wort Napper-Text erweist? Könnte eine solche Performanz Sinn haben, entweder individuell oder institutionell, ohne, wie Foley es bezeichnet, „the enabling referent of tradition,“ im Speziellen, ohne Kenntnis der vielen historischen Details, die zusammen dem Text Sinn geben und die unserer Aufmerksamkeit scheinbar untergeordnete, jedoch wichtige Details zuführen (z.B. påskbrev, die Art von Wandgemälden wie in Yttergran)? Sehr wahrscheinlich müssten solche Fragen mit einem Nein beantwortet werden. Das heißt jedoch nicht, dass andere Lesarten, die sich mehr an der spezifischen Örtlichkeit der Performanz orientieren, nicht auch wichtig sein können, aber könnten sie allein die tiefen Sinnschichten auflösen, die die verleumdete Frau und ihre vermuteten Bewegungs-Hilfsmittel in Nappers Lied umgeben? 37 Sicherlich nur mit sehr viel Glück. Die super-organische Dimension mag in einigen Köpfen das Äquivalent zu Langs Ossifikations-Modell geworden sein, man könnte jedoch vernünftigerweise dafür argumentieren, dass wir die Realitäten und die potentiell erklärende Kraft dieser wichtigen diachronen Perspektive ignorieren, wenn wir uns von ihr zugunsten einer Sichtweise (eher als in Ergänzung) der Folkloristik „contextually and ethnographically“ verabschieden. Dag Strömbäck beklagte 1979 diese Unterscheidung und Kollision innerhalb der Folkloristik, wie er das Schisma charakterisiert, einerseits „…from philology, archaeology, and the history of religion and literature…“ entspringend und andererseits als durch „… folklore research in the direction of cultural anthropology and sociology and statistical method…“ übernommen (Strömbäck 1979: 10-11). Es gibt natürlich keinen Grund zu glauben, dass diese beiden Herangehensweisen an die folkloristische Forschung nicht sich gegenseitig unterstützen könnten, und obwohl wir den Terminus Super- Organisch zugunsten einer zeitgenössischeren Begrifflichkeit meiden mögen, scheuen wir das Konzept auf eigene Gefahr. Übersetzung: Lukas Rösli 36 Der Nutzen des super-organischen Konzepts geht in der Debatte in der Kulturgeographie weiter, zum Beispiel trotz des akuten Bewusstseins der Grenzen dieser Theorie, besonders in solch problematischen Gebieten wie jenem, dass spürbares Wirken sich eher in der Kultur als in Individuen befindet. Vgl. zum Beispiel Duncan 1980, der den abrupten Fall des Super-Organischen bespricht, einschließlich seiner empirischen Tendenzen, Vergegenständlichung der Kultur und so weiter. Vergleiche auch die Erwiderung von Price und Lewis 1993 und die dort ausführlich angeführte Literatur. 37 Zum etwas spezifischeren mittelalterlichen Kontext zu diesem Punkt siehe meine Ausführungen in Mitchell 2000a und die dort angeführte Bibliographie. Transvektion und die verleumdete Frau in der skandinavischen Tradition (TSB 367) 201 : Aaslestad, Petter. „‘Olav og Kari’ i lys av ulike ballade-inndelinger.“ Edda 3 (1980): 139-45. Aarne, Antti und Stith Thompson, [Hrsg.]. 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In den ältesten Geschichtswerken wird er nicht erwähnt, weder in Svend Aggesens Brevis Historia Regum Daniae noch in Saxos monumentaler Gesta Danorum, die beide in den Jahrzehnten um 1200 geschrieben wurden. Er figuriert auch nicht in den gereimten Königsmonologen, die vermutlich um 1440 verfasst oder zumindest redigiert und 1495 unter dem Namen then danskæ Krønnickæ, genannt Rimkrøniken, in Kopenhagen gedruckt wurden und als ältestes dänisch geschriebenes Geschichtsbuch gelten. Spätere Geschichtsschreiber und königliche Historiographen sind sehr skeptisch, was die Annahme einer historisch verbürgten Person mit dem Namen Holger Danske anbelangt. Arild Huitfeldt (1546-1609) bemerkt in seinem Eintrag zum dänischen König Nr. 54, Henningus, dass einige meinen, dieser sei „Holger Dansk, huilcket icke saa er“ (Holger Danske, was nicht der Fall ist). Er belegt dies mit Turpins Chronik und führt aus, dass die Chronik über die Taten Holgers zuerst aus dem Französischen ins Dänische übersetzt wurde („vdsat aff Frantzoske paa Danske“) durch Christiern Pedersen, „dog der i meget er wtroligt“ (obwohl manches darin unwahrscheinlich ist), wie schon von diesem selbst eingeräumt wurde. 1 Dass Holger Danske zu einem nationalen dänischen ‘Archetypen’ geworden ist, ist nicht der Fachgeschichte zu verdanken, sondern geschah auf anderen Wegen. Wer Holger ist und wo er herkommt, liegt trotz intensiver Forschung im Dunkeln. 2 Knud Togebys Monographie von 1969, chronologisch angeordnet in 203 Paragraphen, stellt das moderne Hauptwerk über ihn dar. Togeby kommt zum Schluss, dass Holger Danske eine literarische Figur ist, da er in den Sagen, die älter sind als die älteste Dichtung über ihn, nicht vorkommt. 3 Eine neuere, eher populär gehaltene Darstellung legte Inge Adriansen 2003 vor, der 2007 eine kleine Museumspublikation folgte. 4 1 Huitfeldt, Arild: Danmarckis Rigis Krønnicke, fran Kong Dan den første, oc indtil Kong Knud den 6. København 1603, S. 35. 2 Lukman, Niels in: Kulturhistorisk Leksikon for nordisk Middelalder. VI. København 1961, S. 634-637. 3 Togeby, Knud: Ogier le Danois dans les littératures européennes. København 1969, S. 294. 4 Adriansen, Inge: Nationale symboler i Det Danske Rige 1830-2000. II. København: Museum Tusculanums Forlag 2003, S. 407-441. Adriansen. Inge: Holger Danske - en lysende legende. København: Slotsog Ejendomsstyrelsen 2007. Flemming Lundgreen-Nielsen 206 In aller Kürze: Holger kann mit der Namensform Oger (Ogier) bis zum Epos Chanson du Roland von 1060, verfasst in 4000 Versen durch den unbekannten Turold, zurückverfolgt werden. Die französische Namensform findet man auch in einer von Raimbert de Paris redigierten Dichtung von 1200-1220, deren erstes Lied La chevalerie d’Ogier von Ogier und Brunamont handelt. In einer lateinischen Schrift von ca. 1080 wird er Othgerius genannt, ebenso in der Historia Karoli Magni et Rotholandi von 1150, die dem von Karl dem Großen eingesetzten Erzbischof in Reims, Turpin, zugeschrieben wird. Diese Schrift stammt jedoch aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts und war mit einer Überlieferung in ca. 140 Handschriften offenbar sehr beliebt. Eine um 1200 angesetzte Erwähnung eines Olgerus Daniæ dux am Hofe Karls im Jahre 778 entpuppte sich jedoch 1900 als Fälschung eines Mönchs aus Köln aus den Jahren 1734-1735. 5 Wie kommt die literarische Figur Ogier nach Dänemark? Bereits um 1250-1265 wird er in den Annales Lundenses als Ozsyarus Danus, Sohn des Königs Godfred (dem ersten historisch belegten König Dänemarks, der fränkischen Annalen zufolge von seinen eigenen Gefolgsleuten 810 oder 811 ermordet wurde), erwähnt. Diese Namenformen dürften aufs Französische zurückgehen: Raimbert de Paris nannte Ogiers Vater Gaufroi, was zum dänischen Königsnamen Godofridus in einer der Quellen Raimberts, der Vita Karls des Großen (Kap. XIV), verfasst vom kaiserlichen Historiker Eginhard (ca. 770-840), passen kann. Godfred war ein ernstzunehmender Gegner des Kaisers und soll 808 das Danewerk, den schleswigschen Grenzwall gegen Süden, gebaut haben. 6 Aus der Mittelalterhandschrift Gesta Danorum pa danskæ geht hervor, dass der Held damals Ozær Dan oder Orreldan hieß. 7 Die dänisch verfasste Karl Magnus’ Krønike aus der Zeit um 1450-1480, die sicherlich von einer altnordischen Saga von ca. 1240 übersetzt wurde, verwendet die Form Udger Danske, entsprechend dem Westnordischen Oddgeir danski. 8 In der Kirche von Floda in der schwedischen Provinz Södermanland findet man jedoch eine Kalkmalerei von 1480-1500, die als Untertext folgende Zeile aufweist: „hollager dans han wan siger af burma[n]“. 9 Diese Zeile lautet gleich wie der Refrain eines dänischen Volkslieds, dessen älteste bekannte Niederschrift aus den 1570er Jahren stammt. 10 Der Text wird erstmals 1591 in Anders Sørensen Vedels It Hundrede vduaalde Danske Viser (Hundredvisebogen) gedruckt. Referiert die Kalkmalerei 5 Togeby, Ogier, §§ 8, 145 und 178. 6 Dendrochronologische Untersuchungen zeigen jedoch, dass das älteste Danewerk von 737 stammt, vgl. Andersen, H. Hellmuth, Madsen, H.J. und Voss, Olfert: Jyllands vold. Herning 1977, S. 24-27. 7 Lorenzen, Marcus: Gammeldanske Krøniker. København 1913, S. 34-35. 8 Textkritisch hrsg. in Hjorth, Poul Lindegård: Karl Magnus’ Krønike. København 1960. 9 Bom, Kaj: Danmarks norske folkeviser. In: Danske Studier 1973, S. M46-M47. 10 Grundtvig, Svend: Danmarks gamle Folkeviser. I. København 1853, Nr. 30 A = Nr. 99 in der Handschrift Karen Brahes Folio, vgl. Sønderholm, Erik: D: Kilder 2. In: Dal, Erik (Hg.): Danmarks gamle Folkeviser. XII. København 1976, S. 378. Auf die einzelnen Lieder in dieser grundlegenden wissenschaftlichen Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle DgF + Liednummer hingewiesen. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 207 auf eine mündliche Überlieferung oder stellt der Ausdruck eine Art Sprichwort dar? Togeby vertritt die Auffassung, dass das Volkslied nach Christiern Pedersens Ausgabe der Karl Magnus’ Krønike von 1534 entstand. 11 Der nach Dänemark eingewanderte niederländische Buchdrucker Gotfred von Ghemen († ca. 1510), der erste in Kopenhagen, gab vermutlich 1509 eine dänische Karl Magnus’ Krønike heraus, von der jedoch nur noch ein fragmentarisches Exemplar in der Universitätsbibliothek Uppsala vorhanden ist, das etwas mehr als die Hälfte des Textes enthält. 12 Zwei gelehrte Forscher des 17. Jahrhunderts, der Arzt Ole Worm und der königliche Bibliothekar Willum Worm, gehen trotzdem von einem früheren Ghemen-Druck aus dem Jahre 1501 aus. 13 Gotfred verstand es vortrefflich, aus der Nachfrage der dänischen Klientel nach Drucken mit dänischen und nordischen historischen Stoffen seine Existenz zu sichern. 6 . Der führende dänische Humanist der Reformationszeit war Christiern Pedersen (ca. 1480-1554) - Redakteur eines Wörterbuchs, Unterrichtsideologe, Saxo- und Bibelübersetzer, Nationalhistoriker sowie erster Normgeber der dänischen Schriftsprache. Er führte 1534 in zwei Malmö-Drucken den Held unter dem Namen Olger Danske ein, ein sprachlicher Kompromiss zwischen dem französischen Ogier und dem nordischen Hol(la)ger. Wie alt eine -l-Form in der mündlichen Tradition ist, kann nicht entschieden werden. Die dänische Redaktion der Karl Magnus’ Krønike von Christiern Pedersen stellt eine Verbesserung der Ausgabe Ghemens dar, die 25 Jahre älter ist. Zwischen 1572 und 1847 wurde das Buch in insgesamt 17 Auflagen gedruckt. Olger Danskes Krønike geht auf eine 1496 in Lyon gedruckte französische Chronik zurück, Ogier le Dannoys, mit nachfolgenden unveränderten Nachdrucken. Weil Christiern Pedersen aber kein Französisch konnte, war er auf eine neulateinische Übersetzung angewiesen, die er in Paris gegen Bezahlung anfertigen ließ. Das Buch wurde 1552 wieder gedruckt und seither noch in acht Ausgaben bis 1878, zudem gab es gekürzte Ausgaben, die 1865, 1874, 1914 und 1993 erschienen. Beide Ausgaben wurden in sprachlich modernisierter Form 1828 als erster Band von Dansk og Norsk Nationalværk eller Almindelig ældgammel Moerskabslæsning von Knud Lyne Rahbek herausgegeben; 1856 wurde sie als fünfter Band von C.J. Brandts wissenschaftlicher Ausgabe von Christiern Pedersens Danske Skrifter publiziert. Als Historiker und Sprachforscher identifizierte Christiern Pedersen in beiden Büchern Olger als Saxos Olavus, Sohn Königs Gøttrik (Godfred) aus Saxos Liber IX. In der Sichtweise der Chroniken war Gøttrik ohne Zweifel ein wortbrüchiger, unsympathischer dänischer König, der, verführt durch seine zweite Ehefrau - Olgers 11 Togeby, Ogier, § 116. 12 Textkritische Ausgabe in Hjorth, Karl Magnus’ Krønike. 13 Hjorth, Karl Magnus’ Krønike, S. xxxix. Flemming Lundgreen-Nielsen 208 Stiefmutter - kaiserliche Geiseln tötete oder verstümmelte, während er gegenüber seinem Sohn „liden kerlighed“ (wenig Liebe) zeigte. Olger, geboren in Dänemark, als Knabe jedoch vom Vater als Geisel Karl dem Großen übergeben, diente sich im Ausland durch Edelmütigkeit und Zuverlässigkeit hoch. Nach der Ermordung seines Vaters war er fünf Jahre lang dänischer König. In dieser Zeitspanne richtete er das dänische Reich wieder auf, bevor er die Regierungsmacht Hofleuten überließ und zurück an den Kaiserhof kehrte. Nachher half er während eines Jahres seinem Bruder Gøde (Gion) das Land zu führen. Wenn man Christiern Pedersens Identifikation Olgers als Saxos Olavus akzeptiert, bekommt man nur zwei Informationen über Olgers kurze Regierungszeit: Er führte Dänemark in einen Bürgerkrieg, um seinen Vater zu rächen, was ihm Saxo als höhere Gewichtung privater Gefühle auf Kosten des Staatswohls zum Vorwurf macht, und er ist in Olufshøj bei Lejre begraben. 14 Christiern Pedersen bezeichnet einfach die märchenhaften Züge der französischen Holger-Chronik als freie Erfindung, beispielsweise, wo von Elfen berichtet wird, welche die Geburt des Helden begleiten und ihn mit allen guten Eigenschaften ausstatten wie z.B. Unsterblichkeit. Er nimmt auch vom fantastischen Schluss Abstand, wo Holger, nachdem er sich als 30-Jähriger zwei Jahrhunderte lang auf dem himmlischen Schloss der Fee Morgua aufhielt, wieder zurück zur Erde kommt, jedoch ohne jemanden zu kennen und ohne dass ihn selbst jemand wieder erkennt. Doch als er in einer Kirche in Paris die französische Königinwitwe heiraten soll, holt Morgua ihn in einer gewaltigen Wolke wieder hinauf zu sich. Wenn Holger zu diesem Zeitpunkt ungefähr 300 Jahre alt sein soll, muss man in der Geschichte Dänemarks etwa das Jahr 1100 veranschlagen. Seine Absicht mit der Herausgabe der beiden Chroniken hat Christiern Pedersen auf dem Titelblatt erläutert: Olger war ein vorbildlicher christlicher Kriegsmann, Karl der Große stritt „mandelige faar den hellige Christelige tro met de tolff Jeffninge“ (tapfer für den heiligen christlichen Glauben mit den zwölf Edlen), von denen „Olger dansk“ einer sei, und es wird auch betont, dass der Held „faar den hellige christelige trois beskermelse, som de mue see som hende kunde lese oc sige det andre framdelis“ kämpfte (für den Schutz des heiligen christlichen Glaubens, wie diejenigen sehen mögen, die dieses Buch lesen können und davon weitersagen können). Es ist seltsam, dass ein Ritter, der mit Ausnahme von sechs Jahren sein ganzes Leben als Erwachsener im Ausland verbrachte, dänischer Nationalheld wird. Christiern Pedersen, welcher selbst während Jahren seinen Studien in Paris nachging, könnte von den engen Beziehungen Olgers zu Kaiser Karl und seinem sagenumwobenem Hof sowie der dazugehörenden internationalen Bekanntheit fasziniert gewesen sein. Es mag den Dänen auch nicht ungelegen gekommen sein, an diese 14 Zeeberg, Peter (Übers.): Saxos Danmarkshistorie. 1. København 2000, S. 395, und Punkt H im Panorama über Lejre in Stephanius, Stephanus Johannis: Notæ Vberiores in historicam Danicam Saxonis Grammatici. Una cum prolegomenis ad easdem notas. Sorø 1645, S. 75, übrigens ein Holzschnitt, der aus dem Werk des befreundeten Ole Worm über die Runen entnommen ist: Danicorum Monumentorum Libri Sex. København 1643, S. 22. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 209 Gestalt erinnert zu werden gleich nach der Auflösung der Kalmarer Union 1520- 1523 sowie des daran anschließenden bewegten Jahrzehnts in Dänemark mit Streit in der Kirche und dem Konflikt zwischen den Thronprätendenten, was zum Bürgerkrieg Grevens Fejde (Grafenfehde) in den Jahren 1534-1536 führte. Genau im Todesjahr Christiern Pedersens, 1554, brach auch eine lang währende Fehde zwischen schwedischen und dänischen Historikern aus. Lateinische Geschichtsbücher von den beiden landflüchtigen schwedischen Katholiken, den Brüdern Johannes und Olaus Magnus in Rom 1554-1555 herausgegeben, standen dem Werk Refutatio Calumniarum (Widerlegung der Verleumdungen) gegenüber, das vom Historiker Christians III., Hans Svaning, verfasst war, welches 1561 unter dem Namen des 1559 verstorbenen Professors Petrus Parvus Rosæfontanus gedruckt wurde. Ein zentrales Thema war die Frage, welches der beiden nordischen Königsreiche das ältere sei, und in diesem Zusammenhang war die Holger Danske-Gestalt ein gutes Argument zugunsten Dänemarks. Die Brüder Magnus haben in ihrer Geschichtsschreibung aus den Saxo-Figuren Nutzen gezogen, indem sie diese als alte Schweden interpretierten, 15 Holger Danske jedoch ließen sie unberührt. Folgt man Christiern Pedersen, kann festgehalten werden, dass Saxo trotz allem Kenntnis von Olger Danske hatte, ja, dass dieser sogar von echtem dänischem Königsblut und christlich war. Sein gottgeweihtes Wesen zeigt sich am deutlichsten am Schluss der Karl Magnus’ Krønike. Holger ist im Gefängnis, weil er den jungen, nur allzu ehrgeizigen Sohn des Kaisers, Carlot, getötet hat, als er ihn in einer Schlacht zu beschützen versuchte und von ihm mit dem Schwert angegriffen wurde. Jedoch kann nur er allein dem altersschwachen Kaiser im Kampf gegen den Heidenkönig Maskabret helfen. Als er gefragt wird, ob er freikommen will, um in den Kampf zu gehen, antwortet er: Det skal snart ske, Siden støtte han muren vd met sin fod fra kirke veggen, oc gick vd oc sagde, Dette maatte ieg vel lenge siden haffue giord om ieg hagde villet, thi min herre waar mig wred, Oc jeg hagde før meget brødit Gud emod, dog ville ieg icke her vd før en Gud ville ath det skulle ske. Das soll bald geschehen, und er durchbrach mit seinem Fuß die Kirchenmauer, und ging hinaus und sagte, dies hätte ich schon lange gemacht, hätte ich dies gewollt, doch mein Herr zürnte mit mir, und ich hatte mir Gott gegenüber zu viel zu Schulden kommen lassen, jedoch wollte ich hier nicht raus, bevor Gott wollte, dass dies geschehen sollte. Sowohl die defensive Haltung als auch die innere Disziplin, die Holger hier zeigt, werden in den späteren Auffassungen zu einem wichtigen Zug seines Charakters. 16 15 Grape, Hjalmar: Det litterära antikoch medeltidsarvet i Olaus Magnus’ patriotism. Stockholm 1949, S. 108-134. 16 Hjorth, Karl Magnus’ Krønike, S. 329-330. Es ist bemerkenswert, dass die dänische Königstochter Leonora Christina (1621-1698) in ihrem Bericht über ihre 22-jährige Gefangenschaft im Kopenhagener Schloss zu einem ähnlichen Resultat über ihre Situation kommt: Sie hätte mehrere Male die Gelegenheit zur Flucht gehabt, sah jedoch ihr Schicksal als Gottes Wille an. Am Tag ihrer Freilassung, am 19. Mai 1685, formuliert sie formalistisch: „saa lenge ieg er in- Flemming Lundgreen-Nielsen 210 $ -& $ Zum zweiten Mal taucht Holger in der oben erwähnten Volkslied-Sammlung von Anders Sørensen Vedel (1542-1616) auf, die 1591 erschien. Am ausführlichsten im Lied Sterck Tiderich oc Olger Danske, 17 das in 29 vierzeiligen Strophen von einem Zusammenstoß zwischen König Diderich von Bern und König Holger Danske in Nordjütland berichtet. Vedels Vorlage ist die Handschrift Svaning II von ca. 1580. Die Geschichte ist inhaltlich einfach: Diderich kommt als selbsternannter gewaltsamer Steuererheber und Holger und seine Männer sind sowohl kampferprobt als auch kampfbegierig und überdies erzürnt, weil sie selbst in derselben Art und Weise von anderen Abgaben verlangen (Str. 13). Die Dänen beweisen Gefolgsleute-Humor: Die Berner können nach Dänemark kommen, jedoch nicht von Dänemark wieder zurück (Str. 16), sie zögern zu lange, sich kampfbereit zu formieren (Str. 17), wohingegen die dänischen Kämpfer miteinander wetteifern, wer an der Spitze zum Gegenangriff stehen darf (Str. 19). Die Schlacht auf der Heide dauert drei Tage. „Blodet rinder saa stride som Strøm / vnder Bierge oc dybe Dale“ (Das Blut rinnt so stark wie ein Strom / unter Bergen und tiefen Tälern) (Str. 22), kurz gesagt ist es „saa hedt it Bad“ (ein heißes Bad) (Str. 24). Nur 100 von 18000 Bernern überleben, und von diesen kommen nur 55 nach Hause (Str. 29). Die europäische Berühmtheit von Diderich kommt kläglich zu kurz auf jütländischem Gebiet. Gott und das Christentum werden im Lied überhaupt nicht erwähnt, weil beide Hauptpersonen als gute Christen bekannt waren, so dass sich eine Konflikt unter ihnen religiös nicht begründen lässt. Die Episode ist ein geglückter Beweis für die physische Stärke der Dänen und für ihr großes, aber untertrieben formuliertes Selbstbewusstsein. Der nationale Triumph wird ohne Kommentar zur gattungsbestimmten grotesk großen Anzahl von Gefallenen betont, doch der Geschichtsforscher Vedel ist mit gutem Grund unbehaglich berührt von der Tatsache, dass Diderich (Theoderich) 527 starb - was richtigerweise 526 der Fall war -, während Holger als „Kong Gøtrichs Søn“ (Sohn Königs Gøtrich) ein Zeitgenosse von Karl dem Großen um das Jahr 800 sein muss. Vedel schreibt deshalb in seiner Ausgabe in einer Prosaeinleitung, dass über Holger „atskillige Meninger oc Dict, som dog icke alle komme offuer it met huer andre“ (verschiedene Meinungen, die jedoch nicht alle miteinander übereinstimmen) existieren. Mit der Formel „Vore Forfædre ville her met giffue tilkiende, at […]“ (Unsere Vorväter wollen hiermit zu erkennen geben, dass […]) schlägt er eine Deutung des Liedes als politische Allegorie vor: Es will unterstreichen, dass Dänemark ein freies Königreich ist und seit jeher gewesen war, nie in der Gewalt eines fremden Herrschers oder ruhig und andauernd von einem solchen in Besitz genommen; ganz im Gegenteil hätten die Dänen andere Völker zu Abgaben den Fængsels dørene, saa er ieg icke frii, will oc ud med manner“ (so lange ich innerhalb der Gefängnistore bin, bin ich nicht frei, und will mit Anstand hinaus). Vgl. Hjorth, Lindegård Poul, und Nielsen, Marita Akhøj (Hg.): Leonora Christinas Jammers Minde. Diplomatarisk udgave. København 1998, S. 14*-15* und S. 245. Eine direkte Verbindung zwischen dem Holger-Text und Leonora lässt sich nicht beweisen. 17 DgF 17 B,b. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 211 gezwungen, was zahlreiche historische Quellen belegen würden. Es kann sich hierbei auch um eine Entgegnung auf die Behauptung der oben erwähnten schwedischen Magnus-Brüder handeln, die von einer uralten schwedischen Herrschaft über Dänemark ausgehen. Beim Friedensschluss in Stettin nach dem Nordischen Siebenjährigen Krieg 1563-1570 hatten die beiden Reiche sich jedoch verpflichtet, keine Schmähgedichte gegen das andere Land zu verfassen, so dass Vedel sich hier mit gebührender Vorsicht formulieren musste. 18 Die nächste Liednummer bei Vedel heißt Burman oc Olger Danske. 19 In diesem Lied wird in 33 vierzeiligen Strophen über den Zweikampf des Christen Holger mit dem heidnischen Riesen und Christenfleisch verzehrenden Burmand erzählt, der um die Rettung der Jungfrau Gloriant, die Braut Karls des Großen, geführt wurde - eine weitere unglaubwürdige Kraftprobe. Holger wird aus einem Gefängnisturm heraus geholt, wo er während 15 Jahren geschmachtet hatte, wird in aller Hast aufgepäppelt und ausgerüstet, worauf er drei Tage lang kämpft, bis sein Gegner überwältigt ist, „den fule, forgifftige Aand“ (der böse, giftige Geist) (Str. 33). Vedel redigiert zwei kurze Fassungen der Handschriften Rentzell und Svaning II (von ca. 1580) und macht daraus eine lange. Die Pointe besteht in der Gegenüberstellung von blutdürstigem Heidentum und Kreuzfahrerchristentum. Burmand versucht, Olger für seine Götter zu werben (Str. 29), bekommt jedoch die kühne Antwort: „Naar du kommer til Helffuede hen / sige, at Olger sende dig djd“ (Wenn du in die Hölle kommst / dann sage, dass Olger dich dorthin geschickt hat) (Str. 30). Diese Replik findet man auch in Christiern Pedersens Karl Magnus’ Krønike; wohingegen das fromme Gebet zum Schöpfer, das Olger am gleichen Ort vor des Kampfes Beginn betet, ausgelassen wird. 20 Dies ist in Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen Gebrauch des Christentums im Volksliedgenre: Es ist in aller Regel den Protagonisten bekannt, beeinflusst diese jedoch nicht sehr. Vedel äußert in seiner Teileinleitung Skepsis gegenüber Gloriants Status als Tochter eines isländischen Königs und fordert ohne historische Pedanterie dazu auf, das Lied als „saadan Poetiske legeverck, som er ickun mest henrettet til en erlig oc lidelig Tids Fordrifft“ (eine solche poetische Spielerei, die auf einen ehrlichen und leidlichen Zeitvertreib zielt) zu betrachten. Derartiges ist gute 18 Der Friedensvertrag vom 13. Dezember 1570 besagt in § 21, dass die Parteien das Austauschen von „die mannichfalte schande- und schmehgetichte“ einstellen mögen, vgl. Danmark- Norges Traktater 1523-1750 med dertil hørende Aktstykker. II. 1561-1588. København 1912, S. 254-255. Spätere Forscher haben übrigens die übertragene Lektüre des Textes weitergeführt. Obgleich das „Bern“ der vise mit der Anknüpfung an Theoderich entweder die Schweizer Stadt oder aber Verona sein muss, deutet Svend Grundtvig die vise als antideutsch in Danmarks gamle Folkeviser, I, 1856, S. 231, in Folge auch 1917 sein Schüler Axel Olrik im Standardwerk Salmonsens Konversationsleksikon, 1. Aufl., V. København 1896, und 2. Aufl., VI. København 1917. Die Vise wurde auch als Spiegel für Dänemarks Position zum deutschen Kaiserreich in den Jahren 1534-1544 aufgefasst, also Christian III. vs. Karl V. (Gustav Storm 1874), oder als eine Wiederholung und Wiederaufnahme von Niels Ebbesens Mord am holsteinischen Grafen Gert im Jahre 1340 (Hans Ellekilde 1926), für beide vgl. Togeby, Ogier, § 143. 19 DgF 30 D. 20 Hjorth, Karl Magnus’ Krønike, S. 73 und S. 70. Flemming Lundgreen-Nielsen 212 Unterhaltung - und in dieser Hinsicht ein Unterschied zu den unkeuschen Liebesliedern und schimpflichen Schmähgedichten, von denen sich Vedel sorgsam in der Vorrede des Hundredvisebog distanziert. Beide Lieder weisen gemeinsame Züge mit Christiern Pedersens Chroniken auf, was etwa die Identifikation von Saxos König mit Holger anbelangt. Christiern Pedersen scheint jedoch beide nicht gekannt zu haben. Vermutlich sind sie später als 1534 entstanden, und insbesondere kann der Burmand-Text als Musterbeispiel dafür dienen, dass ein Volkslieddichter einen Höhepunkt - ‘la situation la plus frappante’ -, nämlich den Zweikampf, aus einer Prosachronik herausnimmt und diesen mit einer poetischen Einleitung und ebensolchem Abschluss versieht. 21 Nichtsdestotrotz vertrat Svend Grundtvig 1854 die Auffassung, das Burmand-Lied sei älter als die älteste französische Kunstdichtung über Holger und die Ähnlichkeit mit Christiern Pedersens Karls Magnus’ Krønike sei einer gemeinsamen, unbekannten Quelle geschuldet. 22 Holger wird in Vedels Liedsammlung noch zweimal erwähnt, allerdings bloß als Begleiter: Er ist einer von Diderichs Männern in der neunten Strophe des Sivard Snarensvend-Lieds und ein Hochzeitsgast unter anderen Männern von Bern im Lied Om Greffue Guncelin. 23 Im Übrigen teilte Vedel in einer Anmerkung des Herausgebers in seiner Saxo-Übersetzung von 1575 über Oluff, den 53. dänischen König, kühl mit: „Nogle mene at denne Oluff skulde veret Olger Danske“ (Einige meinen, dieser Oluff sei Olger Danske). 24 Mit den dänischen Volksliedern, deren Datierung immer noch eine offene Frage ist, wird es deutlich, dass Holger Danske allmählich eine selbständige Existenz als Figur gewinnt, deren Bedeutung weit über das hinausgeht, was ihr zu Zeiten des Rolandsliedes zugeschrieben wurde. Der global reisende Repräsentant christlicher Ritterlichkeit ist dabei, ein Nationalcharakter zu werden. Gleichzeitig machte das Hundredvisebog mit mindestens 15 Ausgaben bis 1787 die Lieder bekannt; sie wurden gelesen und auswendig gelernt. Bereits um das Jahr 1610 spielte der kleine adelige Junge Henrik Holck (1599-1633) seiner Autobiographie von 1628 zufolge Krieg, mit Holger Danskes Krønike und den Heldenliedern als Vorbild. 25 Holger wurde auch von den königlichen Historiographen verwendet. C.C. Lyschander (1588-1624) identifiziert in seinem nationalgeschichtlichen Hauptwerk von 1622 Holger als Oluff dem Franzosen, einen Sohn von Gøttrich den Geffue- 21 Togeby, Ogier, § 117. 22 Grundtvig, Danmarks gamle Folkeviser, I, S. 390, Anmerkung ***. Die Vorstellung von einem verlorenen Urtext ist ein Lieblingsbegriff in der Philologie der Romantik. 23 DgF 7 E, DgF 16 A und 16 C,b. 24 Vedel, Anders Sørensen: Den Danske Krønicke som SAXO GRAMMATICVS screff, halfffierde hundrede Aar forleden: Nu først aff Latinen vdsæt, flittelige offuerseet oc forbedret. København 1575, S. CXCV. 25 Lind, Gunner: Våbnenes tale. Våben, drab og krig i viser og virkelighed i Danmark 1536-1660. In: Lundgreen-Nielsen, Flemming, og Ruus, Hanne (Hg.): Adelskultur og visebøger. Svøbt i mår. Dansk Folkevisekultur 1550-1700. 1. København 1999, S. 251. Vgl. die Titelfigur in J.P. Jacobsens Roman Niels Lyhne von 1880, Kap. III (Togeby, Ogier, § 146). Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 213 milde (Gøttrich dem Freigebigen), „den rundiste oc mandeligste moxen iblant alle Danske Konger“ (dem freigebigsten und mannhaftesten beinahe unter allen dänischen Königen), und er wird auf einer ganzen Folioseite unter Hinweis auf Christiern Pedersens Holger-Chronik beschrieben, von der Lyschander allerdings die falsche Auffassung vertritt, sie sei in Paris auf Befehl König Christierns II. gedruckt worden. Lyschander räumt mit einem Propertius-Zitat, welches er Vedels Hundredvisebog 26 entnommen hat, ein, dass man in vergangenen Zeiten Könige und Helden mit größeren Taten und Männlichkeit und mehr Glück und zahlreicheren Siegen schmückte, wenn sie tot waren, als diese streng genommen verdient hätten. So verhalte es sich auch mit Holger Danske, besonders weil er gegen die Feinde des Christentums kämpfte. Aber über die Taten Holgers im Dienste Kaiser Karls zusammen mit Roland im Kampf gegen die Sarazenen und andere Heiden in Europa und im Heiligen Land will Lyschander keine Zweifel aufkommen lassen - unter Hinweis auf Turpins verlässliche Ortsangabe von Holgers Grab, das von vielen Dänen „vdi voris tid“ (bis in unsere Zeit) besucht wurde. 27 Stephanus Stephanius (1599-1650) erwähnt in seinem gelehrten Kommentar zu Saxos Liber IX kurz, dass er nicht wage, Saxos König Olaus mit dem Oligerus der französischen Annalen und aus Turpins Chronik gleichzusetzen. Es könne sich jedoch um einen dänischen Adelsmann in kaiserlichen Diensten gehandelt haben. 28 Ein naher Freund des Volkslied-Herausgebers Peder Syv, Thomas Bartholin Filius, kann bereits als 18-Jähriger im Jahre 1677 eine lateinische Studie, De Holgero Dano, drucken lassen, worin er die Gleichsetzung von Holger und Olaus verwirft, jedoch im Gegenzug die Ansicht vertritt, Holger könnte ein anderer Sohn Gøttriks, Helge, gewesen sein - eine Idee, zu der ihn Lyschander inspirierte. 29 Im gleichen Jahr, 1677, unterzog der Franzose Jean Mabillon das vermeintliche Mausoleum Holgers in Meaux einer Prüfung, wobei er Bartholins Hauptquelle, Turpin, als Fabel bewertete. In einem Manuskript, das anlässlich des frühen Todes von Bartholin 1690 in dessen Nachlass gefunden wurde, lässt dieser die These von Helge deshalb fallen und bezweifelt jetzt, dass Holger überhaupt Däne gewesen war. 30 Bartholins kleine Jugendabhandlung erschien 1751 auf Dänisch bei F.C. Schønau unter dem Titel: Den over hele Verden Berømmelige og Navnkundige Holger Danskes Sandfærdige og troeværdige Levnets Beskrivelse (Wahrhaftige und glaubwürdige Lebensbeschreibung des in der ganzen Welt berühmten und bekannten Holger Danske). 31 Peder Syv druckt 1695 Vedels Hundredvisebog in seinem eigenen Tohundredvisebog ab, trägt zur Erforschung Holger Danskes aber selbst nichts Neues bei. In seiner nachgelassenen, ungedruckten Bibliographie Den danske Boglade notiert Syv im Zusam- 26 Propertius: Eleg. Liber III, I.23, vgl. Vedel, Hundredvisebog, 1591, Einleitung zu Den første Part og Einleitung zu Nr. XVI in Den anden Part. 27 Lyschander, Claus Christoffersen: Danske Kongers Slectebog. København 1622, S. 182-183. 28 Stephanius, Notæ, S. 187. 29 Lyschander, Danske Kongers Slectebog, S. 183. 30 Togeby, Ogier, § 153-154. 31 Togeby, Ogier, § 163. Flemming Lundgreen-Nielsen 214 menhang mit Christiern Pedersens Chroniken - die er voll von Papismen findet -, Holger Danske habe gewisse Ähnlichkeiten mit Stærkodder in Saxos Liber VI. 32 Es lohnt sich zu vermerken, dass Thomas Kingo 1672 im Huldigungsgedicht Kroneborgs Korte Beskrifvelse (Kurze Beschreibung von Schloss Kronborg) weder Hamlet noch Holger Danske berücksichtigt, obwohl er die Kasematten („under-jordisk Kamre“ und „Under-vraa“) (unterirdische Kammern und Keller-Winkel) durchaus erwähnt. Eine Vorstellung von Holger, wonach dieser in einem Berg oder in einem Burgkeller schläft und nur erwacht, wenn das Vaterland in Not ist, existiert demnach nicht oder gehört nicht zum anerkannten Wissen in der Barockzeit. Kingo hebt hervor, dass das Schloss bis anhin von einem Dichter nicht besungen wurde, 33 obwohl man von den Auktionsprotokollen über seine Bibliothek von 1704 weiß, dass er einen Druck von Shakespeares Hamlet besaß. In einer topographischen Beschreibung des Schlosses von Erich Pontoppidan von 1764 fehlen noch beide Sagengestalten. 34 Ludvig Holberg (1684-1754) greift 1732 als Historiker Lyschanders naive Akzeptanz der Chroniken Christiern Pedersens und Turpins an und nennt Olger Danskes Krønike „det vanskabte Skrifft“ (die missgestaltete Schrift). 35 Der Privatgelehrte Tyge Rothe (1731-1795) kommt in einem Buch von 1776 über die fränkische Monarchie auf den Neffen Karls des Großen, Roland, zu sprechen und schildert Alkuins Einsatz am kaiserlichen Hof. Der jütländische Fürst Gotfried oder Gøtrik wird negativ bewertet als Ausdruck von „Hedenskab og den fulde gamle Røvergeist“ (Heidentum und der ganze alte Räubergeist), jedoch behandelt Rothe dessen Geiselaustausch mit Karl dem Großen nicht und erwähnt Holger Danske überhaupt nicht. 36 In der gründlichsten Materialsammlung der Aufklärungszeit, in P.F. Suhms 14-bändiger Historie af Danmark, 1782-1828, ist er ebenfalls nicht aufgenommen. Stattdessen gleitet Holger in mündliche und lokale Volkssagen unbestimmten Alters hinüber, was wohl in einem Zusammenhang mit den vielen Ausgaben von Volksliedern sowie der beiden Chroniken Christiern Pedersens gesehen werden muss. Erst ab 1818 geben jedoch die Sagenforscher der Romantik wie J.M. Thiele, Svend Grundtvig und Evald Tang Kristensen dieses Material in gedruckter Form heraus. Es wird zu einer wichtigen Quelle für die zeitgenössischen belletristischen Schriftsteller, die sich für das Volkstümliche einsetzen. 32 Togeby, Ogier, § 157. 33 Brix, Hans, Diderichsen, Paul, und Billeskov Jansen, F.J. (Hg.): Thomas Kingos Samlede Skrifter. II. København 1939, S. 22-23 und S. 18. 34 Pontoppidan, Erich: Den Danske Atlas. II. København 1764, S. 269-277. 35 Holberg, Ludvig: Danmarks Riges Historie. I. 1732, S. 61, Carl S. Petersen (Hg.): Samlede Skrifter. VI. København 1923, S. 58. 36 Rothe, Tyge: Udsigt over det Frankiske Monarkie og Carl den Store, eller Christendommens Virkning paa Folkenes Tilstand i Europa. Tredje Deel. Første Stykke, København 1776, S. 113, 133 ff. und S. 116. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 215 ( # # Elitär kommt einem eine Oper in drei Akten vor, Holger Danske, 1789 von Jens Baggesen (1764-1826) verfasst, die sich wie so vieles in seinem Leben von einem avantgardistischen Experiment zu einem Alptraum entwickelte - auch für seinen deutschstämmigen Komponisten F.L.Æm. Kunzen. Baggesen hatte 1788 ein Libretto geschrieben, basierend auf der Verserzählung Oberon von C.M. Wieland aus dem Jahr 1780. Diese unterhaltsame Geschichte über Liebe im Mittelalter, mit einem Elfenkönig als handelndes Über-Ich, hatte mit Holger nichts zu tun. Baggesen entschloss sich trotzdem, Wielands Ritter Hüon in Holger Danske umzubenennen und Babylons Sultan Buurman zu nennen, während Wielands christliche Heldin Amanda den Namen Palmine erhielt - Baggesens gewöhnlicher poetischer Deckname für seine erste Ehefrau, Sophie von Haller (eine Enkelin des Alpen-Dichters Albrecht von Haller). Die Oper wurde sechs Mal vor vollem Haus gespielt im Königlichen Theater in Kopenhagen zwischen dem 31. März und dem 17. April 1789. Nichtsdestotrotz setzte sich bald die Ansicht durch, Baggesen habe Holger Danske mit Taten und Worten ausgestattet, die nicht auf der Höhe dessen sind, was man von ihm in Chroniken und Volksliedern erfährt, und außerdem habe er mit der Wahl seiner Vorlage in unpatriotischer Art und Weise einen Bückling vor der deutschen Kultur gemacht. Es war u.a. der männliche Stern des Theaters, der feurige und gut aussehende Norweger Michael Rosing (1756-1818) - 1807 war er das Modell für die Hakon Jarl-Figur des Nationaldichters Adam Oehlenschläger - der am Namen Holger Danske festhielt und sich weigerte, dem Kritiker Rahbek und seinem „blinde Operahad“ (blindem Opernhass) nachzugeben. 37 Rosings übliches Auftreten auf der Bühne ging damit einher, dass er sich selbst als stolze und selbständige Persönlichkeit begriff, die alle anderen Mitwirkenden überragte, weshalb er für sich dänisch-nationale Heldenrollen zur Erbauung des Volkes wünschte. Er versuchte auch, jedoch ohne Erfolg, die Theaterleitung davon zu überzeugen, Schillers Wallenstein und Shakespeares Macbeth mit ihm in den Titelrollen aufzuführen. 38 In der Öffentlichkeit entstand eine größere Fehde um Baggesens Oper. Der junge Dichter war bis dahin der Liebling der Mäzene und des Publikums. Jetzt wurde er erstmals in seinem Leben mit einem ernsthaften Widerstand konfrontiert. Ein Rezensent bemerkte säuerlich, das Libretto erziele bei einer Aufführung zwar seine Wirkung, ließe jedoch die Leser kalt, die nicht einer Vorstellung beiwohnten - ohne sich Gedanken über die Frage zu machen, ob man es als selbständigen dramatischen Text überhaupt beurteilen sollte. Besonders schadete Baggesens literarischem Ruhm ein übertriebenes Lob im Vorwort einer bis zur Weitschweifigkeit freien Überset- 37 Overskou, Th.: Den danske Skueplads, i dens Historie, fra de første Spor af danske Skuespil indtil vor Tid. III. København: Samfundet til den danske Literaturs Fremme 1860, S. 407-408. Rahbeks Haltung geht u.a. aus einem Zitat hervor, gedruckt in: Schwab, Heinrich (Hg.): Friedrich Ludwig Aemilius Kunzen (1761-1817). Heide in Holstein. 1995, S. 90. 38 Peder Rosenstand-Goiske im Jahr 1789, vgl. Hansen, P.: Den danske Skueplads. Illustreret Theaterhistorie. I. København [1889], S. 398-399 und 402, sowie Andersen, Vilh.: Illustreret dansk Litteraturhistorie. II. København 1934, S. 735. Flemming Lundgreen-Nielsen 216 zung ins Deutsche durch seinen Freund C.F. Cramer vom April des Jahres 1789. Der Satiriker P.A. Heiberg gab gleichzeitig die Parodie Holger Tydske. Heroisk Opera i tre Akter heraus, ebenfalls mit Kunzens Musik. Dieser Text wurde 1793 im zweiten Band seiner Skuespil (Schauspiele) eingefügt, seither jedoch nicht wieder gedruckt. 39 Baggesen, der am 24. Mai 1789 zu einer europäischen Kur- und Bildungsreise aufbrach, die durch den schleswig-holsteinischen Prinzen Friedrich Christian von Augustenborg finanziert wurde, nahm an der Auseinandersetzung nicht teil. 40 Die Fehde stellte literaturhistorisch gesehen einen Zusammenprall zwischen ganz unterschiedlichen Standpunkten dar. Auf der einen Seite stand eine Gruppe literarischer Traditionalisten um Knud Lyne Rahbek und P.A. Heiberg, mit Respekt vor Holbergs Realismus und einem Ideal aus gesunder Vernunft und Bürgermoral; auf der anderen Seite eine Gruppe literarischer Avantgardisten, die mit dem Neuklassizisten Gluck die Oper ernst nahm und deren musikalisch-sinnlich überzeugende Kraft, den Gebrauch des Übernatürlichen sowie die Inszenierung starker Gefühle wertschätzte. Dieses ästhetische Programm wurde in einem Trinklied von Baggesen an einem privaten Fest für das Theaterpersonal am 13. April 1789 so ausgedrückt: „Leve Spil og Dands og Sang! “ (Es lebe Spiel, Tanz und Gesang! ) und ein Hoch auf „Alle danske Muser“ (alle dänischen Musen) (Str. 6) sowie auf jeden, der Sinn habe für „Samlet Værd af Phoebi Skatte“ (den gesammelten Wert der Schätze des Phoebus) (Str. 7), ein keimender Gedanke eines Gesamtkunstwerks also, ausgehend von einer Harmonie geschaffen durch Thalia, Melpomene, (Poly)Hymnia und Terpsichore. 41 Politisch repräsentierte die erste Gruppe eine beginnende demokratisch-bürgerliche Haltung und eine nationale Erweckung, während die zweite für eine aristokratische und internationale Weltanschauung stand, was in der Praxis auf eine an Deutschland orientierte Haltung hinauslief. Die Fehde verlor rasch ihren ästhetischen Charakter und wurde zu einer Abrechnung mit dem deutschen Einfluss im multinationalen dänischen Staat. Baggesens Holger Danske trug ganz unbeabsichtigt dazu bei, den Widerstand gegen das deutsche Element hervorzurufen und zu stärken, gerade weil er nicht einem mittelalterlichen Kämpen glich. 39 Kunzen schrieb zu Holger Tydske auch noch eine Parodie auf seine eigene Musik zu Baggesens Libretto, indem er sich als Stockholmer Cousin vom Komponisten des Holger Danske ausgab (! ); trotz einer Subskriptionseinladung vom 11. August 1789 publizierte er jedoch dieses Werk nicht, so dass es immer noch ungedruckt vorliegt. Vgl. Schwab, Kunzen, S. 92. 40 Baggesen, August: Jens Baggesens Biographie. I. 1764-1793, København 1843, S. 188 und 181. 41 Arlaud, A. (Hg.): Jens Baggesens Poetiske Skrifter. IV. Blandede Digte. Første Samling 1780- 1802. København: Det Schubotheske Forlag 1899, S. 126. Übersichtlich lässt Baggesens Oper sich u.a. als eine „grande opéra“, eine Nationaloper, eine Literaturoper, eine Tanzoper und sogar eine Türkenoper bestimmen, vgl. Schwab, H.: Das Fremde im Spiegel musikalischer Karikaturen und dessen Integration in ein ambitioniertes Bühnenwerk. Baggesens und Kunzens Oper Holger Danske (1789) als Türkenoper. In: Nielsen, Marita Akhøj (Hg.): Det fremmede som historisk drivkraft. Danmark efter 1742. Et festskrift til Hendes Majestæt Dronning Margrethe II ved 70-års-fødselsdagen den 16. april 2010. København 2010, S. 182- 196. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 217 Zwei Jahre zuvor, 1787, hatten die dänischen Leser noch einmal dem unverfälschten alten Holger begegnen können, als die zehnte Ausgabe der Karl Magnuskrønike und die letzte Ausgabe von Vedels und Syvs Tohundredvisebog mit Volksliedern über Holger publiziert wurden. Der Verärgerung der Kritiker angesichts eines singenden Nationalhelden liegt ein Nachdenken über dessen Wesen und Funktion zugrunde. Der Bedarf für einen dänischen Holger Danske war da, jedoch suchte man diesen vergeblich in Baggesens Gestaltung. Die Holger-Figur besitzt den Rang eines nationalen Kleinods, sie kann nicht einfach irgendetwas bedeuten. Das Problem war nur, dass die Empfänger, das Publikum, bereit waren, bevor eine Definition seines Charakters in einer zeitgemäßen Form realisiert wurde. G B , $ =@7 Adam Oehlenschläger (1779-1850) dichtete im heißen Sommer 1811 den kraftstrotzenden Starkad aus Saxos Liber VI und Liber VII in seiner Tragödie Stærkodder um, die im Februar 1812 erschien; Jahrzehnte später, 1841, veröffentlichte er die Ørvarodds Saga über einen anderen Vorzeitkämpen. Holger Danske jedoch berücksichtigte er in seiner Dichtung nie. Sein ein wenig jüngerer Rivale N.F.S. Grundtvig (1783-1872) sollte sich in seiner Jugend sowohl durch einen Asarus (Asenrausch) als auch durch eine dogmatisch-christliche Periode streiten, bevor er in einem zeittypischen Versuch, eine neue dänische Identität zu bestimmen, nach 1814 die modernen Möglichkeiten in dieser Figur wahrnahm. Es begann mit dem langen Gedicht Et Blad af Jyllands Rimkrønike (Ein Blatt aus Jütlands Reikchronik) in der Gedichtsammlung Heimdall. Dansk Nyaars-Gave for 1816 (Heimdall. Dänische Neujahrsgabe auf das Jahr 1816), das am 28. Dezember 1815 erschien. 42 In einer historischen und mythischen Interpretation Jütlands wird Holger Danske als einer der Kämpfer Karls des Großen eingeführt (Str. 136-138). Grundtvig weist zurück, dass er bei Roncevalles kämpfte - dieser Kampf gegen das Heidentum steht ihm noch bevor (Str. 136) - und meint, er habe stattdessen den Kaiser in friedlicher Absicht mit einem Schiff rheinaufwärts besucht. Der Kaiser jedoch konnte Dänemark wegen seiner seeerfahrenen Krieger nicht erobern, und für seinen Hof und sein Reich ging es schlecht, als er tot und begraben war. - „Og Holger som Norman ei giævt, / Men vildt omfoer paa Havet; / Han foer paa Hav, han goel paa Kyst / Og giorde, hvad Man kalder lyst, / Ja Kirken stod i Lue“ (Und als Normanne kreuzte Holger nicht brav, sondern wild über die Meere, er stürmte an den Strand und verheerte das Land, so dass Kirchen in Flammen standen) (Str. 141). 43 Die Verse geben nicht präzise Geschehnisse der Holgerchroniken wieder - Holger verkörpert wikingische Kriegermentalität und damit einen heidnischen und kirchenfeindlichen dänischen Volksgeist, bewundernswerte Stärke, jedoch in der 42 Togeby, Ogier, bemerkt nichts zu diesem Gedicht. 43 Begtrup, Holger (Hg.): Nik. Fred. Sev. Grundtvigs Udvalgte Skrifter. III. København 1905, S. 221-222. Flemming Lundgreen-Nielsen 218 Richtung verkehrt. Später im Gedicht wird Dänemark als Freia bezeichnet, die nordische Liebesgöttin, deren Ehemann ein weißer Christ ist, der alles Dunkle in der Geschichte erklären soll. Es handelt sich hierbei um Grundtvigs Weiterdichtung von Snorris Edda und dem Hyndluljóð, wo Freia ihren verschwundenen Ehemann Ottar (Óðr) mit Sehnsuchtstränen aus Gold beweint. Und nun soll Holger Danske 72 Könige unterwerfen, sie christianisieren und sie die dänische Sprache lehren (Str. 181). Im Weiteren soll er von Bethlehem aus in den Kampf ziehen, das Land von Jerusalem bis zum Ganges erobern und wie ein zweiter Priesterkönig Johannes mit der dänischen Flagge, dem Dannebrog, Indien christianisieren (Str. 182). 44 Holger soll auch die Runen und die Dichtkunst von Brynhild lernen (Str. 183-184). 45 In der nächsten Strophe, 185, wird Holger nicht apostrophiert, sondern „Dannemark“, womit deutlich wird, dass Holger in der Optik Grundtvigs zu einer Chiffre für das echte Dänentum wird und nicht mehr den ursprünglichen alten Sagenheld darstellt. Im Jubiläumsjahr der Reformation 1817 arbeitet Grundtvig mit der Gestalt Holgers weiter und ist diesmal noch freier im Umgang mit den Quellen. Dies geschieht in zwei Szenen in einem künstlerisch missglückten Lesedrama, Ragna-Roke (et dansk Æmter), gedruckt in seiner Zeitschrift Danne-Virke. 46 Die erste Szene stellt ein Gespräch in Prosaform zwischen Norne-Giæst und Holger im Haus des Erstgenannten dar. Holger kommt, um sich zu verabschieden, bevor er mit dem Kinnbacken eines Esels den Philistern beweisen will - eine eindeutige Samson- Identifikation (vgl. Buch Richter, 15.15-17) - dass sie säbelbeinig sind, indem er sie mit einem gewaltigen Schlag wie am Jüngsten Tag vernichtet. Holgers Jubelfest für Luther soll als kraftvolle Abrechnung mit den dänischen Spießbürgern auf dem stillgelegten Nicolai-Friedhof in Kopenhagen gestaltet werden, die dort Fleisch bei den Metzgerbuden zu kaufen pflegten. Da die Nicolai-Kirche in den Jahren 1529-1539 als Basis für den Reformator Hans Tausen diente, wird dieser Plan für eine lokale Version der biblischen Vertreibung der Krämer aus dem Tempel durch Christus (vgl. Matthäus 21.12-13) geschmiedet. Norne-Giæst kann Holger jedoch etwas dämpfen, indem er ihm vorschlägt, das Luther-Jubiläum im „Ausland“ am Grab des Reformators zu feiern (in Wittenberg), mit Brattingsborg, der Burg der nordischen Göttin der Geschichte, Saga, als Zwischenstation auf der Reise. 47 Mit zum Teil gewagten Wortspielen - stimmungsmäßig an Shakespeares Gräberszene im fünften Akt von Hamlet erinnernd - wird Holger überredet mitzugehen. Norne-Giæst wünscht nicht, ihn auf dem „Age-Posten“ (Postwagen für Pakete und Personen, hier möglicherweise dem Leichenwagen) zu verfrach- 44 Eine Fußnote ** verweist auf Petrus Olais Chronik, worin u.a. steht, „cum toto suo imperio, quod 72. regna maxima includit“, in Langebek, Jacobus (Hg.): Scriptores Rerum Danicarum Medii Ævi. I. København 1772, S. 72. 45 Grundtvig, Udvalgte Skrifter, III, S. 230-231. 46 Ragna-Roke, (et dansk Æmter). Grundtvig, N.F.S.: Danne-Virke, et Tids-Skrift. III, Hefte 4 hrsg. am 25. November 1817. København 1817, S. 301-382, und aufgenommen in Grundtvig, Svend (Hg.): N.F.S. Grundtvigs Poetiske Skrifter. IV. København 1882, S. 481-548, mit zwei Manuskriptfragmenten, „Pantheon (En Morgen-Drøm)“, S. 564-569, und [Besøget hos Nornegjæst], S. 577-592. 47 Vgl. DgF 7 H. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 219 ten, sondern will ihn auf dem Pferderücken der täglichen „Ride-Post“ sehen (so wie König Hadding in Saxos Liber I über das Meer hinten auf dem Rücken von Odins Pferd ritt). Es geht hervor, dass Holger Norne-Giæsts eigener Sohn ist, ein „lang Rekkel“ (langer Kerl) und groß wie ein „Side Flesk“ (eine Speckseite). Norne-Giæst ist jedoch zu alt und zu schwach, um den Sohn tragen zu können, und Holger selbst kann den langen Weg weder reiten noch gehen. Die Lösung des Transportproblems ist, dass was bei Holger taugt, leicht in der kleinen „Lyse-Kasse“ (Kerzenlade) der Harfe von Norne- Giæst liegen kann, er darf nämlich nicht größer als ein Kind sein, groß muss nur seine Demut sein (vgl. Jesus bei Matthäus 18.1-4). Also wird Holger zur Harfe in die große Stube gesandt. Er wird darüber aufgeklärt, dass es gelingen kann, sie zu bewegen, obwohl sie schwer ist. Insbesondere dann kann es glücken, wenn man vor ihr kniet, und er soll auch daran denken, dass er in der Lade liegen könnte „som en lille Mund-Harpe“ (wie eine kleine Mundharfe). Holger willigt in den Versuch ein, wenn er glückt, „saa vil vi aldrig mere skilles ad, men leve og døe med hinanden“ (dann wollen wir uns nie mehr trennen, sondern zusammen leben und sterben). Norne-Giæst bricht danach in einen Blankvers-Monolog aus: „Saa est du kommet da, du store Time“ (So bist du also gekommen, du große Stunde). Diese Szene stellt ein positives und frommes Gegenstück zu Noureddins teuflischem Monolog in Oehlenschlägers Aladdin von 1805, wo dieser den naiven jungen Aladdin in die Höhle der Lampe gelockt hat. Norne-Giæst wird nun erfahren, was Holger ist: entweder sein Trost im Alter oder Zeuge seines schändlichen und sündhaften Lebens. Holger demütigt sich offenbar wie angekündigt, worauf Norne-Giæst drei Strophen des Weihnachtslieds „Et Barn er født i Bethlehem“ (Ein Kind ist zu Bethlehem geboren) deklamiert (Str. 1, 2 und 9 des Textes sind in Hans Thomissøns Psalmebog von 1569 zu finden). Holgers Demütigung als physisch starker Held wird mit der Geburt des Christuskindes parallelisiert, dessen Herrschaft unendlich ist. Die eigentliche Bedeutung der Handlung schimmert durch: Der dänische Volksgeist, Holger, Sohn des Nordischen Geists, Norne-Giæst, sichert der nationalen Poesie Tragkraft (mit der Harfe), bringt das Kindliche zur Welt (Jesus in der Krippe) und befreit dadurch den tausendjährigen Geist des Nordens von der Furcht vor dem Tod und der Sünde. Der Transport gelingt, denn in der zweiten Szene kniet Norne-Giæst bei Luthers Grab. Er küsst den kalten Stein, muss jedoch - immer noch in Blankversen - bekennen, dass dort, wo Luther Licht brachte wie „Nordlys i den Fimbul-Vinter“ (Nordlicht im sehr strengen Winter), heute „et ægyptisk Mørke“ (eine ägyptische Finsternis) herrscht. Norne-Giæst will jedoch wie die Witwe, die ihre letzten beiden Scherflein gab (vgl. Markus 12.42-44), das Grab mit einer freundlichen Lampe erleuchten, obwohl sein Licht klein ist und dessen Ausbrennen seinen eigenen Tod bedeutet. Er ruft darauf seinen Sohn Holger aus „Lysets snevre Kammer“ (der engen Kammer des Lichts), um den Kerzenstummel angezündet über Luthers Grab zu halten, während er selber seinen „Schwanengesang“ zu den Klängen der Harfe singen will. Holger tritt zitternd und erschauernd hervor, weil sie, wie Norne-Giæst ihm erklärt, Pflegebrüder seien, „Og ud af Tiden maae vi følges ad“ (und aus der Zeit müssen wir gemeinsam scheiden). Holger versteht das Geheimnis seines Lebens so, dass er nur Norne-Giæsts „Lebenszeichen“ Flemming Lundgreen-Nielsen 220 und selbst nichts sei, weshalb er gerne seinen und des Vaters Scheiterhaufen entzündet, wenn er sicher sein kann, dass dies Gottes Willen entspricht. Mit den Worten Christi über den bitteren Kelch im Garten Gethsemane (vgl. Matth. 20.39) antwortet Norne- Giæst, er wisse, dass sie nicht die Krone des irdischen Lebens auf das Grab des heiligen Mannes legen werden: „Nei, Øie-Blikket, som os kunde times, / Berørelsen i Støvet er det kun / Af christen Kiærlighed vi her opoffre“. (Nein, der Augenblick, der uns bevorstehen könnte, Berührung im Staub, ist es bloß, was wir hier aus christlicher Liebe opfern). Norne-Giæst zufolge ist die Parallele zu dieser Situation die alttestamentliche Szene, wo Abraham, der sowohl an der Verheißung von Isaak festhalten als auch Gott gehorchen sollte, sich gezwungen sieht, seinen einzigen Sohn auf dem Scheiterhaufen zu opfern (vgl. 1. Mose 22.1-18). Er beruft sich auch auf die Worte der Bergpredigt „lasst euer Licht scheinen“ (vgl. Matth. 5.16). Holger bittet um ein Lied des Skalden Norne-Giæst, das ihm Kraft zur Selbstopferung geben kann, woraufhin dieser eine lange und dunkle Ballade dichtet. Darin werden drei Verhaltensmöglichkeiten vor dem Grab Luthers skizziert: eine stumme, betrübte, kalt starrende, statuenartige Steifheit, ein sachte flüsternde und bebende, tränenreiche Wehmut oder ein Gesang über den Sieg, Tod, Rache und Auferstehung. Norne- Giæst wählt die letzte, ausgehend von Siegfried dem Drachentöter und anderen Figuren der Wälsungenlieder, dabei gibt es auch sporadische Ausblicke auf das Beowulf-Epos (das Ungeheuer Grændel und dessen Mutter „paa Nykke-Havets Bund“ [auf dem Meeresgrund] 48 werden als die römisch-katholische Kirche ausgelegt), die Bibel (der Geist König Davids; der Baal-Anhänger Jesabel aus dem Buch der Könige, 1.16, 31, 18 und 21 sowie 2.9) und die Kirchengeschichte („Romas Trold“). Mit einem besonders kräftigen Licht des Kerzenstummels und einem speziellen Klang des Lieds mündet das Gedicht in eine Reihe Strophen, die den Glauben bekräftigen, dass Gott und der Erlöser deren toten Kinder „Af Stene som af Støv“ (von Steinen wie von Staub) auferwecken können, so dass der Held „brat opspringe / Alt af sin Himmelseng“ soll (plötzlich aufspringen wird von seinem Himmelsbett). In einer zukünftigen gemeinsamen Auferstehung sollen sich Jung und Alt in Hrod-Gars Königshalle treffen „Til Fryd om Gildes-Bord“ (zur Freude beim Festschmaus). Auch wenn Norne-Giæsts Kerze erlischt, wird sie mit Weisheit wieder angezündet und soll ewig leuchten „Som Soel i Middags-Glands“ (wie die Sonne im Mittagsglanz). Ein solche Vertröstung erquickt die Seele des bereits vom Tode gezeichneten Holger und lindert seine Schmerzen mit „Psalmens Olie“ (Psalmenöl). Während die Flamme von Norne-Giæsts Kerze um seine Finger spielt, wobei er trotz der Hitze die Umklammerung nicht lösen will, bittet er um einen Abendpsalm, um einzuschlafen. Die Antwort wird von Norne-Giæst in einer Verkündigung gegeben, in der Form eines Gedichts, in dem Strophen aus Thomas Kingos Oster- und Auferstehungslied „Som den gyldne Soel udbryder“ (Wie die goldene Sonne ausbricht) von 1689 mit Grundtvigs eigener Auslegung frei vermischt werden. Strophe 7 ist Holgers eigentliches Wiegenlied, in dem der Tod als süßer Schlum- 48 Das selbsterfundene Wort „Nykke-Hav“ spielt damit, dass „Nykke“ (Verwirrung, deutsch „Nücke“) und „Nøkke“ (Wassermann, Wasservolk, deutsch „Nixe“) im Dänischen gleich ausgesprochen werden. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 221 mer idealisiert wird. Indem er mitsummt, nimmt Holger Anteil an der ‚Kraft des Zeichens’ („Tegnets Kraft“). Es endet in Strophe zehn mit einem Bekenntnis zum dichterischen Gesang, frei dem ersten Lied aus Kingos Passionszyklus in Vinter-Parten 1689 (Nr. 160, Str. 8) entliehen: „Troe og sjung! Saa skalst du stige / Sjungendes til Himmerige“ (Glaube und singe! So wirst du singend steigen in das Himmelreich). Luthers Geist kommt hinzu mit zwei Strophen des Kirchenlieds „Vom Himmel hoch da komm ich her“ (Str. 1 und 15) und überzeugt Holger endlich, „Guds Kraft“ (Gottes Kraft) zu spüren. Holger Danske stirbt mit den Worten des alten Simeon auf den Lippen (Lukas, 2.29-30): „Nu farer jeg herfra i Fred, / Mit Øie saae Guds Herlighed“ (Nun fahr ich hinfort in Frieden, / Meine Augen sahen Gottes Herrlichkeit). Es ist Luther, der in der folgenden langen Replik Holgers Todesaugenblick referiert. Luthers Geist ruft seinerseits den Geist des angelsächsischen Dichters Cædmon hervor, Davids nordischem Nachfolger - Grundtvig gibt vier Verse von Cædmon und vier aus dem Beowulf im Original wieder. Norne-Giæst ist auch bei einem hoffnungsvollen Lied dabei, bestehend aus 21 Strophen, von denen die ersten elf Davids Psalm Nr. 84 paraphrasieren: „Hvor liflig, hvor rolig / O Gud! Er din Bolig! “ (Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr der Heerscharen). Damit endet die Szene - und damit erschöpft sich auch Holger Danskes Part im Gedicht, in dessen restlichem Teil Norne-Giæst die Hauptperson ist. Dieser starb demnach trotz allem nicht zusammen mit seinem Sohn. Mit dieser besonderen Dichtung ist es Grundtvig weder geglückt, seinen gebildeten Lesern Holgers Bedeutung nahe zu bringen noch eine anschauliche, populäre Figur aus ihm zu machen; man findet bei ihm nicht die Spur desjenigen Holger Danskes, der uns in den Sagen, Liedern und Chroniken gegenübertritt. Hingegen inspirierte die Volksüberlieferung zwei jüngere Dichter. Poul Martin Møller (1794-1838) schrieb in den 1810er Jahren eine humoristisch-groteske Ballade, Holger Danske og Skrædderne (Holger Danske und die Schneider), über den großen starken Mann, von dem gesagt wird, er habe in einer tödlichen Schlägerei alle Schneider gebrechlich und schielend gemacht - der Text wurde erst postum 1839 gedruckt. 49 Hans Christian Andersen (1805-1875) bringt 1830 seine eigene, unoriginelle Balladenversion der Sage von Holger Danske in der „gothisk gamle“ (gotisch alten) Kasematte von Schloss Kronborg mit einem langen Bart, der bis auf die Platte des steinernen Tisches wächst, und fügt noch weitere Schauereffekte hinzu. Sein Händedruck verbiegt mühelos einen entgegen gestreckten Eisenriegel, und er verspricht, Dänemark zu helfen, wenn es in Not gerät. 50 Beide Dichter waren mit J.M. Thiele bekannt, der dänische Volkssagen sammelte und herausgab (1818-1823) und als ihre Quelle in Frage kommen kann. 51 49 Winther, Christian (Hg.): Efterladte Skrifter af Poul M. Møller, I. København 1839, S. 60-67. 50 Mortensen, Klaus P. u.a. (Hg.): Andersen. H.C. Andersens samlede værker, 7. Digte I 1823- 1839. København 2005, S. 102-103, 600. 51 Togeby, Ogier, §§ 169 und 173. Flemming Lundgreen-Nielsen 222 In Grundtvigs übrigem Wirken spielt Holger keine große Rolle mehr. Als der Sprachforscher Rasmus Rask von seiner großen Indienreise 52 nach Kopenhagen zurückkehrte, wurde er am 14. Mai 1823 mit einem Lied von Grundtvig 53 bei einem Festessen im königlichen Schießstand willkommen geheißen. Etwas überraschend ist Holger Danske hier die Hauptperson des Textes. Denn wie dieser 72 Könige östlich von Jerusalem bezwang (Str. 1), beherrscht Rask 72 Sprachen, und wie jener Indien mit Macht gewann, nahm Rask das Land geistig in Besitz. Der Holger der Chronik zog westwärts aus Jerusalem und kehrte in sein Vaterland zurück (Str. 6), wo er wie ein zweiter Thor Riesen in Austurveg, im Baltikum, jagen wollte (Str. 7). Sein wagemutiger Kundschafter auf dem Weg zum Ganges (Str. 8) wurde Rask, der wie ein „Hr. Tjalfe hin unge“ aus Snorris Edda das Wissen über wenig bekannte Sprachen nach Hause brachte (Str. 9). Weil Holger „foruden Staalhandske“ (ohne Stahlhandschuh) auf der Erde von Pol zu Pol gewonnen hat, soll er wie ein „Aand over Kongestol“ (Geist über dem Königsstuhl) durch die Zeiten und jetzt also über dem König in Lejre (Frederik VI. in Kopenhagen) schweben (Str. 10-11). Rask ist ebenfalls ein solcher „Snarensvend“ (begabter und aufgeweckter junger Mann), 54 heimgekommen mit „Jærtegn fra Pali og Pehlvi og Zend, / Med Bytte fra Jætter og Trolde! “ (Wunderzeichen von Pali und Pehlvi und Zend, mit Beute von Riesen und Trollen! ) (Str. 12). In der Schlussstrophe (13) wünscht sich Grundtvig, dass Holger, der dänische Geist, immer einen Boten und starke Kämpen finden möge, um 72 Kronen zu gewinnen und um das Kennzeichen - das Banner oder sogar den „Danebrog“ (Str. 11) - am Ganges einzupflanzen. Statt der Stahlhandschuh-Eroberung des Toten durch „Schwert und Speer“ wie bei einem anderen Eroberer des Ostens, Alexander dem Großen (Str. 3), wollen die Dänen vielmehr eine friedliche Eroberung des Lebendigen - im gegebenen Fall die Sprachen. Der Einsatz ist geistig, schenkt jedoch Ruhm, so dass „Os Folkene høre og lyde“ (die Völker uns hören und lauschen) (Str. 5), und er wird mit „ærlig Sold“ (ehrlichem Sold) (Str. 11) belohnt. Ein „fuldkommelig sikker“ (vollkommen sicherer) (Str. 8) wissenschaftlicher „god Besked“ (guter Befund) (Str. 9) ist eine „Fryd“ (Freude) (Str. 11). Das ist das neue kulturell bestimmte Ideal des Dänentums nach dem Verlust Norwegens 1814-1815, jedoch immer noch recht unanschaulich präsentiert. Holgers Name wird in Grundtvigs Krønike-Riim, einer Weltgeschichte in monologischen Balladen, von 1829 (erweitert und nachgedruckt 1842) und in Band II seines Haandbog i Verdens-Historien 1836, im Abschnitt über Karl den Großen, erwähnt. 55 52 Kjær, Iver: Med Aladdin til Østerland. Om Rasmus Rasks Rejse til Indien 1816-23. In: Scavenius, Bente (Hg.): Guldalderens verden. 20 historier fra nær og fjern. København 1996, S. 64- 73. 53 Grundtvigs Poetiske Skrifter, V, S. 108-110. 54 Vgl. DgF 2, 3 und 7. 55 Grundtvig, Nik.Fred.Sev.: Krønike-Riim til Børne-Lærdom med Indledning og Anmærkninger. København 1829, Gedicht Nr. XXVII; Grundtvigs Udvalgte Skrifter, VI, S. 686. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 223 # B B.S. Ingemann (1789-1862) ist es schließlich, der 1837 Holger Danske seine endgültige Gestalt in der romantischen Epoche des 19. Jahrhunderts gibt. Die Vorgeschichte ist, dass Ingemann in einem Brief an Grundtvig vom 10. November 1834 die Idee lancierte, Holger Danske mitten im 20. Jahrhundert zurückkehren zu lassen. Aus der Erkenntnis heraus, dass lange Versdichtungen nicht mehr in Mode waren, bekam Ingemann „det Indfald at meddele dem som Prøver i en Recensjon over et uskrevet Digt i 36 Sange. I en Oversigt af Ideen skulde Anmeldelsen supplere det manglende, i det den tillige parodierede Tonen i slige Referater“ (den Einfall, diese als Kostproben in einer Rezension über ein ungeschriebenes Gedicht in 36 Gesängen mitzuteilen. In einer Übersicht über die Idee sollte die Rezension das Fehlende ergänzen, indem diese gleichzeitig den Ton in solchen Referaten parodieren sollte). 56 Grundtvig antwortete am 15. November ziemlich unengagiert: „Holger Danske mødes jeg gjærne med, i hvad Aarhundrede dig behager“ (mit Holger Danske treffe ich mich gerne, in welchem Jahrhundert es dir auch immer behagt), sechs Wochen später jedoch, am Weihnachtstag, schrieb Ingemann zurück: Gamle Holger har jeg lagt hen; det er kun Fragmenter af et uskrevet Digt i en fingeret Recensjon derover, - en Grille af et egensindigt Lune, som mine gode Venner maa sige mig, hvad duer til, inden det gives Fjenden til Pris. Den alten Holger habe ich zur Seite gelegt; es sind nur Fragmente eines ungeschriebenen Gedichts in einer fingierten Rezension darüber, - eine Grille einer eigensinnigen Laune, von der meine guten Freunde mir zuerst sagen sollen, was es taugt, bevor es dem Feind preisgegeben wird). 57 Das Resultat, Holger Danskes Tilbagekomst i det tyvende Seculum (Holger Danskes Wiederkehr im zwanzigsten Jahrhundert), das vor Weihnachten 1834 niedergeschrieben sein muss, wurde erst 1864 postum gedruckt. 58 Die Fiktion des Textes ist dem zuerst genannten Ingemann-Brief zufolge, dass er publiziert werden soll, „et Hundrede Aar efter, at vi ere gangne her fra“ (hundert Jahre nachdem wir [Ingemann und Grundtvig] aus dieser Welt geschieden sind). Der fiktive Rezensent referiert über das rezensierte Epos, dass der zurückgekommene Holger seinen 1154. Geburtstag (! ) feiert, was einigermaßen passend mit der Regierungszeit Karls des Großen ein Geburtsjahr um das Jahr 760 ergeben würde, so dass das wunderliche 56 Grundtvig og Ingemann, S. 162-163. 57 Grundtvig og Ingemann, S. 166 und 170. 58 Ingemann, B.S.: Samlede Skrifter. Afd. IV. 9. Bind. København 1864, S. 24-49. Der Herausgeber, J. Galskjøt, hat den Text vorne in demjenige Band angebracht, der den Untertitel „Digte fra 1845 til Udgangen af 1861“ (Gedichte von 1845 bis zum Ende des Jahres 1861) führt, bemerkt aber in einer Fußnote, dass dieser Text sicherlich 1835 oder 1836 geschrieben worden sei. Anders dagegen Togeby, Ogier, § 172: der Text setzt dort fort, wo Holger Danske, 1837, endet, und Begriffe wie Dampfmaschine und Gemeindeordnung deuten auf die 1840er Jahre hin - zwei kaum stichhaltige Argumente. Flemming Lundgreen-Nielsen 224 Gedicht in der Praxis doch eher ca. 1914 spielen müsste. 59 Der Text ist in jeder Hinsicht als Zukunftsvision, als Utopie, aufzufassen. Die Handlung ist relativ einfach. Holger wird in seinem Grab durch gewaltiges Schnarchen der Dänen des neuen Zeitalters geweckt. Er tritt aus seinem Grabhügel heraus, in „ridderligt Costume fra Carl den Stores Tid med et uhyre langt Skæg“ (in Rittergewand aus der Zeit Karls des Großen mit einem ungeheuer langen Bart), und einem „Tjørnestok“ (Dornenstock) in der Hand. Er trifft auf einen philosophischatheistischen Bauern auf einem Dampfpflug und vermisst in der dänischen Landschaft Spuren der Marienverehrung und anderer katholischer Gebräuche, ja, sogar der Glaube an Gott selbst ist verschwunden. Der Zeitgeist von 1834 hat dergestalt in seiner weiteren Entwicklung zum nachfolgenden Jahrhundert die Einwohner zu „moderne, sangvinisk-phlegmatiske Landsmænd“ (modernen, sanguinisch-phlegmatischen Landsleuten) (S. 28) gemacht, die für Holgers Geschmack zu viel spotten und zu wenig singen. Holger trifft jedoch eine Prinzessin Thyra aus dem echten Königsgeschlecht von Thule. Sie liebt „de gamle poetiske Folkeviser“ (die alten poetischen Volkslieder) und besitzt ein tiefes religiöses Gefühl. Ihr Verlobter, Prinz Frode, ist verschwunden, sie selbst gefangen, und ihr zukünftiger Schwiegervater, der alte Kaiser, wurde unter Vormundschaft gestellt, weil er Abstand von den Gedanken der Zeit bezüglich „Pluralitetens absolute Magt“ (der absoluten Macht der Mehrheit) genommen hat. Thyra singt noch von ihrem Gefängnis aus: „I Norden har Troskab hjemme! “ (Im Norden hat die Treue ihr Heim! ) und hat von Holgers Wiederkunft geträumt. Ihr Gesang wird „voldsom ved en Folketumult“ (gewaltsam durch einen Volkstumult) abgebrochen, in dem Holger den verkleideten Prinzen Frode rettet und ihn in Sicherheit bringt. Nachdem er eine Reihe von Repräsentanten des neuen verwerflichen Zeitgeists zur Rede gestellt hat, wohnt Holger, der offenbar auch Thyra aus ihrem Gefängnisturm befreit, der Vermählung des Paares in einem entlegenen „Fjelddal“ (Bergtal) bei, einem heimlichen Versammlungsort des abgesetzten Regimes. Holger soll sich nun auf sein Wesen und seine Funktion im 20. Jahrhundert besinnen. Das geschieht auch, als beim Hochzeitsfest in einem nächtlichen Zauberspiel Szenen aus Holgers früherem Leben dargestellt werden, mit der Braut in der Rolle der Fee Morgana und dem Bräutigam als Holger. Der richtige Holger wird sich „hele Nationens Liv“ (des ganzen Lebens der Nation) bewusst, und die edle Poesie im Spiel, das ihm wie Zauberei von Oberon und Titania vorkommt, begeistert ihn dazu, die Aufführung von seinem Zuschauerplatz aus mit einem Kuss auf die Stirn von Thyra/ Morgana abzubrechen. Holger sagt von sich, er sei hellwach in diesem glücklichen Asyl und bereit, „Alt, hvad han troer at behøve, til Grundlaget for en aandrig og lykkelig Folkeexistens“ (alles, was er als Grundlage für eine geistvolle und glückliche Existenz des Volkes zu brauchen glaubt) zu versammeln. Unterstützt wird 59 Die Schlacht von Ronceval wird auf das Jahr 778 datiert, falls also Holger beispielweise achtzehn Jahre alt ist, d.h. ca. 760 geboren, als er an der Rache für Roland beteiligt ist, muss seine Wiederkunft auf das Jahr 1914 berechnet werden. Ingemann hat sich sicherlich keine genauen chronologischen Vorstellungen gemacht. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 225 er dabei von einem alten apostelähnlichen Bischof mit „Pauluskraft i mildt Johannes- Blik“ (Pauluskraft im milden Johannes-Blick) - ein Porträt Grundtvigs? - sowie von einem wiedergeborenen Platon und von der unveränderten dänischen Natur mit rauschenden Wäldern und brausendem Meer. Holger präsentiert sich als Mann des vorigen Jahrtausends, mürrisch, ein bisschen herb wie ein Medizinkraut, ein wenig schäumend wie gutes Bier, ein bisschen altmodisch und rauh, jedoch selten weinend, nie zweideutig in seiner Rede, und mit Ernst in seiner Freude. Sein nationalpolitisches Programm setzt „et jævnt gudfrygtigt Sind“ (ein schlichtes, gottesfürchtiges Gemüt) voraus, verbunden mit „den christelige Religions Gjenindførelse“ (der Wiedereinführung der christlichen Religion). Er wendet sich in mehreren Gedichten gegen den Atheismus und den Hass auf das Christentum und bietet den gewaltsamen Genius des Zeitgeistes Einhalt mit einem christlichen Lehrgedicht. Dieser wird wie „en stor Ynglingsskikkelse med et vildt, næsten dæmonisk flammende Blik” (eine große Jünglingsgestalt mit wildem, beinahe dämonischem Blick) dargestellt, der den Gottesglauben der vergangenen 19 Jahrhunderte wie „en stor, sygelig Folke-Drøm“ (einen großen, kränklichen Volks-Traum) verachtet. In noch weiteren, jedoch unzitierten religiösen Gedichten, die Holger zugeschrieben werden, wird einem unzeitgemäßen Gottesglauben Ausdruck verliehen. Die allegorische Handlung wird von einer neuen konkreten Umwälzung abgelöst: Ein Renegat übernimmt die Macht, führt Vermögensgleichheit ein, täuscht Volksherrschaft unter einer wie ein Kaiser geformten Holzmaschine vor, unterstützt von Holzsoldaten und einer Dampf-Kriegsmaschinerie; Materialismus und Geldmacht herrschen in imponierender Pracht (die Parallelen zu Krösus, Mammon, Fortunatus und Plutus werden herangezogen). In dieser Weise provoziert, kommen Holger Danske und der alte Kaiser zurück, stürzen den Renegaten und vernichten den Holzkaiser, führen eine bürgerliche Ordnung wieder ein, wonach dem Christentum, der Kirche und der Geistlichkeit ihre angestammten Plätze zurückgegeben werden; die Vermögensnivellierung wird als Unmöglichkeit, geistige Gleichheit als Phantasie aufgegeben, die Ehe wird wieder eingesetzt und dem Volk wird erlaubt, „saamegen personlig Frihed, som den fælles Frihed og Rolighed tillader“ (so viel persönliche Freiheit wie es die Freiheit und Ruhe für alle zulassen) zu genießen. Holger hält eine begeisterte Rede vor dem Volk über dessen Wiedergeburt - und verschwindet darauf, „Han døer dog nu ikke, men bliver kun usynlig, medens hans Aand og Kraft aabenbarer sig i hele Folket“ (Er stirbt aber nicht, sondern wird nur unsichtbar, während sein Geist und seine Kraft sich im ganzen Volk offenbaren). Er hat nämlich die erstaunten Dänen mit seinem Gesang „gjennemglødet“ (durchglüht) - das Verb deutet sicherlich eine Verklärung wie diejenige von Jesus auf dem Berg (vgl. Matth. 17.2) wie auch das Pfingsterlebnis mit der Flamme des Heiligen Geistes über den Köpfen der Gläubigen (Apostelgeschichte 2.1-4) an. Thyra und alle anderen freien nordischen Seelen sind „fuldkommen overbeviiste“ (vollkommen überzeugt) von Holgers „usynlige Nærværelse“ (unsichtbarer Gegenwart) in der Strophe: „Han svinger, sit Folk gjengivet, / Foryngelsens Krone i Haand. / Han lever med Folkelivet - / Han vaager med Nordens Aand.“ (Er schwingt, seinem Volk wiedergegeben, die Krone der Ver- Flemming Lundgreen-Nielsen 226 jüngung in der Hand. Er lebt mit dem Volksleben - er wacht mit dem nordischen Geist.) Dieses vollumfänglich ungeschriebene Epos wird in zentralen Auszügen von dem erwähnten fingierten Rezensenten zitiert. Künstlerisch gesehen fallen die Zitate in zwei Kategorien. Die eine besteht aus 16 Passagen in fünffüßigen Jamben, die 14 reguläre Ottavestrophen beinhalten, fünf unvollständige oder zu vollständige Ottavestrophen und schließlich sechs Beispiele mit Verslinien mit Paarreimen oder anders kombinierten Reimen. Dieser Teil des Epos hätte Ingemanns romantischem Jugendepos in neun Gesängen, De sorte Riddere (Die schwarzen Ritter), von 1814 gleichen können, sowohl was die Ottaven anbelangt als auch in der Vermischung von konkreter Märchenhandlung mit allegorisch-abstrakter Auslegung. Die andere Kategorie wird durch das Balladenmetrum definiert, diejenige Form, die in den einzelnen Gedichten in Holger Danske von 1837 dominiert. Es gibt neun Beispiele mit insgesamt 24 vierzeiligen volksliedhaften Strophen, ein Beispiel mit fünf sechszeiligen, trochäischen Strophen sowie vier Beispiele mit endreimenden Versen von wechselnder Länge. Die zitierten Teile des Epos, von denen keiner im Text von 1837 zu finden sind, hinterlassen nicht den Eindruck überzeugender lyrischer Inspiration; am besten sind noch die knappen vierzeiligen Balladen gelungen. Eine Wendung am Schluss von Holger Danskes Rede ans Volk: „Hvert Ord var som en Dolk, / Der trængte dybt og skaanselløst i Sindet” (Jedes Wort war wie ein Dolch, der tief sich in den Geist einbohrte) (S. 48) erinnert an Hamlets und Gertruds Repliken bei Shakespeare, wie auch das nächtliche Zauberspiel beim Hochzeitsfest im Gebirgstal in der genauen Mischung zweier unterschiedlicher Fiktionsniveaus vielleicht auch Shakespeares Verwendung der Spiel-im-Spiel-Technik widerspiegelt. 60 Der Rest der Rezension ist der Eindruck des Rezensenten als Zusammenfassung in Prosa der „Digtets labyrinthiske Irgange“ (labyrinthischen Irrgänge des Gedichts), mit Thyra als Ariadnefaden. Weder der Verfasser des Gedichts noch der Rezensent werden benannt. Ingemann wollte eine zu rationale und gewöhnliche Kritik lächerlich machen, ging jedoch lau ans Werk. Der Rezensent schreibt einleitend, er sei ein persönlicher Freund des Dichters und halte sich daher vor allem an die gelungeneren Teile des Gedichts. Er gewinnt weder scharfes Profil noch kontrastive Wirkung. Obwohl er eine einzelne Verspassage dafür kritisiert, dass sie zu hochgeschraubt sei, hat er auf der anderen Seite keinen Tadel mehr übrig für das unmögliche Bild eines „Jonashval i Havet“ (Jonaswales im Meer), der nach einer begrabenen Wahrheitsperle taucht. Viele Textteile des Rezensenten konzentrieren sich in knöchernem Stil auf den Ideeninhalt. Thyra ist „en Repræsentantinde for den reneste nordiske Kvindelighed“ (eine Repräsentantin der reinsten nordischen Weiblichkeit), Holger „en Eventyrhelt for alle kommende Slægter“ (ein Abenteuerheld für alle kommenden Geschlechter) und „Ridderaandens europæiske Gjenopliver“ (der europäische Erneuerer des Rittergeists). Frode/ Holger im Zauberspiel sehen in 60 Shakespeare, William: Hamlet, III.ii: „I will speak daggers to her, but use none“, und III.iv: „These words like daggers enter in mine ears“; das Spiel im Spiel an derselben Stelle in III.ii. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 227 der Erinnerungsquelle bei Thyra/ Morgana mit Verwunderung „sit Folks historiske Liv i store Billeder af alle forgangne Tider“ (das historische Leben ihres Volkes in großen Bildern aller vergangener Zeiten), eine Episode, die in sich ein Epos von 24 Gesängen ausmacht, doch erspart der Rezensent dies den Lesern. Thyra/ Morgana singen von „Gjenopvækkelses-Stunden“ (dem Wiedererweckungs-Augenblick), der Holger der Wirklichkeit strebt nach einer Tätigkeit „for Folkets Regeneration og Landets Redning“ (für die Regeneration des Volks und die Rettung des Landes). Gewaltsame Eingriffe in eine traditionelle Regierungsform fasst der epische Dichter sehr negativ auf. Der Rezensent dagegen ist skeptisch gegenüber den religiös-christlichen Gedichten, die Holger Danske zugeschrieben werden, weil sie die eigenen Betrachtungen des Dichters ausdrücken: „Dog heri, som i Meget, er denne Forfatter egensindig, og al Kritik er udentvivl spildt paa ham.“ (Doch darin, wie in vielem anderen, ist dieser Verfasser eigensinnig, und alle Kritik ist ohne Zweifel vergebens). Ingemanns poetisch-kritisches Fragment steht nahe bei den formlosen Chronikgedichten, mit denen Grundtvig in den 1810er und 20er Jahren Holger Danske zurückholte. 61 In einem Brief an Grundtvig vom 10. November 1834 meint Ingemann ganz richtig, „saaledes at forene noget negativt og positivt, tror jeg nu næppe lader sig gjøre til manges Fornøjelse“ (dergestalt etwas Positives und Negatives zu vereinen, lässt sich meines Erachtens kaum zum Vergnügen vieler machen), es wird „kun et Spøgelse - Sjælen af et ihjelslaget Digt, som enhver selv kan digte færdigt efter Behag og lægge saa meget Liv i, han har ved Haanden“ (nur ein Gespenst - die Seele eines totgeschlagenen Gedichts, das jeder selbst nach Gutdünken fertig dichten und soviel Leben hineinfließen lassen kann, wie ihm zur Verfügung steht). 62 Glücklicherweise nahm sich Ingemann anderthalb Jahre später des Stoffes wieder an, jedoch mit einer anderen Konzeption. Das Resultat ist Holger Danske, Et Digt (Holger Danske. Ein Gedicht), das aus 66 Einzelgedichten besteht, geschrieben in ungefähr drei Monaten im Jahr 1836. Es ist bekannt, dass das erste Gedicht am 5. Oktober und das letzte am 20. Dezember in der Öffentlichkeit vorgetragen wurden. Die Quellen der Gedichte sind in erster Linie die beiden Chroniken von Christiern Pedersen aus dem Jahr 1534 (in späteren Ausgaben), ein fragmentarisches färöisches Lied über die Schlacht von Roncevalles sowie Eginhards Biographie über Karl den Großen, weniger jedoch die Volkslieder bei Vedel und Syv und überhaupt nicht die Volkssagen der Romantiker. Das Werk wurde im Januar 1837 in den Druck gegeben und soll am 6. April herausgekommen sein, wie den Annoncen zu entnehmen ist. 1845 erschien eine zweite Auflage mit einer Vorrede und einem zusätzlichen Gedicht. 63 Die fünf Liedkreise des Gedichtzyklus bestehen aus un- 61 Die Ingemann-Forschung beschränkte sich auf eine sehr kurze Wiedergabe der Handlung des Fragments, so etwa bei Galster, Kjeld: Fra Ahasverus til Landsbybørnene. Kolding: Konrad Jørgensens Bogtrykkeri 1927, S. 35-36, Langballe, Carl: B.S. Ingemann. Et Digterbillede i ny Belysning. København 1949, S. 151-154, Togeby, Ogier, § 172. 62 Grundtvig og Ingemann, S. 163. 63 Ingemann, B.S.: Holger Danske. Et Digt. København: Andreas Seidelin 1837; Ingemann, B.S.: Ahasverus og Holger Danske to Eventyrdigte (Med Tillæg af Smaadigte fra 1819-1832). København: C.A. Reitzel 1845. Flemming Lundgreen-Nielsen 228 gefähr gleich vielen Einzelgedichten, nämlich 13, 13, 16, 14 und 10 Gedichten. Am Schluss jedes Gedichts findet man jeweils ein Schlüsselerlebnis, das zum nächsten Gedicht überleitet. I. Hjemmet. Udgang i Verden (Daheim. In die Welt hinaus) schildert Holgers Geburt, bei der seine Mutter ihr Leben verliert, seine Eigenschaften, die ihm von sechs Feen in der Wiege geschenkt werden - diese ist der Schild, auf dem der Stammvater des Königgeschlechts, König Skjold, als Säugling gelegen hat - und seine Kindheit bis zur Klimax, als er als junger Mann und Geisel in die ehrlichen Augen Karls des Großen blickt und sich umgehend taufen lässt: „I Rhinen sprang Holger Danske - / Sprang op som en Christenmand.“ (In den Rhein sprang Holger Danske - sprang wieder heraus als ein Christ). Die beiden Sprünge, die seine physische Reaktion auf den unergründlich gläubigen Blick Karls des Großen darstellen, drücken aus, dass impulsive Gefühle und Leidenschaft stärker sind als der Verstand. 64 Ein abschließendes Gedicht über den Schreiber Eginhard und die Tochter des Kaisers, die sich in einer pikanten Intrige lieben und schließlich ein Paar werden, stellt eine überflüssige Wiederholung von Jens Baggesens Versdichtung Emma aus der Zeitschrift Minerva 1786-1787 dar. II. Holgers Ungdom (Holgers Jugend) präsentiert seine erste Tat, die Entlarvung des verräterischen lombardischen kaiserlichen Bannerträgers Alor. Holger trägt dessen Rüstung und wird nicht erkannt, bevor der Sieg feststeht. Holger „loe paa Dansk under Hjelmen“ (lachte auf dänische Weise unter seinem Helm) und leistet so anonym und bescheiden seine solide Tat. Nach einem gewonnenen Duell gegen den indischen Fürsten Carvel wird er von dessen Männern gegen alle Regeln in einem Turm gefangen gehalten, wo die schöne Geliebte des Gegners, die Jungfrau Gloriant, ihn bewachen muss. Der edle Carvel will das Unrecht aufwiegen, indem er sich selbst freiwillig in die Gewalt Karls des Großen begibt - eine Praxis feinster geistiger Gesinnung der Ritterzeit. Holger wird später aus dem Gefängnis befreit, um den Kämpen Burmand zu töten und wird Zeuge, wie Karl zum Weltherrscher gekrönt wird. Obwohl Holger rechtmäßig eigentlich Gloriants Hand gewonnen hat, verzichtet er auf sie, weil sie und Carvel sich so inniglich lieben. Als sie auf einem Schiff die Heimreise nach Indien antreten und dieses im Sonnenuntergang entschwindet, wird Holger mit einem Anblick des Schlosses der Fee Morgana im Himmel belohnt. Sie steht auf einem Balkon, noch schöner als Gloriant, mit „Naturens dybeste Drøm“ (dem tiefsten Traum der Natur) in ihren Augen. Wohl kann der Anblick nicht festgehalten werden, aber jedes Mal, wenn Holger die Augen schließt, taucht der Anblick aus „Sjælens Dyb“ (der Tiefe der Seele) auf. Wahre Schönheit, wahre Liebe und wahre Natur sind nicht von dieser Welt. III. Heltelivet (Das Heldenleben) zeigt den Mann Holger in Aktion. Er pflegt Umgang mit den zwölf Günstlingen des Kaisers, alles berühmte Helden, darunter der Neffe des Kaisers, Roland. Im Jähzorn tötet Holger Carlot, den Sohn des Kaisers, und wird zum Aufenthalt im Hungerturm verurteilt. Dann wird er jedoch zum Kampf gegen die 64 Der Sprung nimmt auf diese Weise Søren Kierkegaards antihegelianische Kategorie desselben Namens ab 1843 vorweg (die sicherlich nach Lessings „ein Sprung“ gebildet wurde, vgl. Frygt og Bæven. Dialektisk Lyrik af Johannes de Silentio, 1843. In: Søren Kierkegaards Skrifter. 4. København: Gads Forlag 1997, S. 137, Anmerkung 1). Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 229 Mauren aufgeboten und erlebt aus der Ferne die Schlacht bei Roncevalles, deren Ergebnis, der Tod Rolands und der Günstlinge, er rächen will. Obwohl das Begräbnis der Helden dem Ende der echten Ritterzeit gleichkommt, wird im zweitletzten Gedicht, das von der Wiederbelebung des scheintoten zwölften Günstlings Turpin - just in dem Moment, als er von Holger zu Grabe getragen wird - erzählt, ein sowohl optimistischer als auch humoristischer Glanz über die Handlung geworfen. IV. Holger i Norden og Østen (Holger im Norden und im Osten) nimmt den Helden auf eine Reise um die Welt; in Lejre rächt er den Tod seines Vaters Gøttrik und zerstört den Altar der Asen im Opferhain, darauf reist er mit dem Priesterkönig Johannes in das Heilige Land und weiter nach Indien, wo er Carvel und Gloriant wiedertrifft, die nun einen kleinen Sohn haben. Der Höhepunkt ist die Taufe der Familie durch Holger Danske, mit reichlichem Wasserverbrauch aus Gründen der Sicherheit: „Jeg sparer ei paa hellig Tvæt“ (Ich spare nicht bei der heiligen Waschung); Holger in der Rolle als Täufer ist im Übrigen Ingemanns anachronistischer Vorgriff auf Luthers Begriff eines allgemeinen Priestertums. Holger christianisiert später auch Tartaren, Mongolen, Malaien und Tibeter und nimmt zum letzten Mal von Carvel und Gloriant Abschied - in der Hoffnung, sie im Himmelreich wieder zu sehen. V. Gjenoplivelsen (Die Wiedererweckung) handelt zunächst von Holgers Abschied von seiner eigenen Zeit, dem Mittelalter mit „Jomfrusang og Ridderiid“ (Jungfrauengesang und Rittertaten), nachher in seinem „Sang om Livet“ (Gesang über das Leben) davon, dass die Natur ewig, die Geschichte ständig weitergehend und die Seele unsterblich ist. Indem er in das Wunderland des Sonnenaufgangs reist, bekommt er einen Schimmer des Paradieses zu sehen, und an der Meeresküste meint er, dem Lebensstrom des verlorenen Gartens Eden gegenüber zu stehen. Er labt die Seele, indem er trinkt und glaubt daraufhin mit Sicherheit, er sei so unsterblich wie der Geist des Nordens und ewig wie die Seele des dänischen Volkes. Danach begibt er sich zum Zauberschloss Morganas nach Avalun, wo er nach einem Vergessenheitstrunk eine lange, glückliche Zeit mit Morgana und ihren Elfen zubringt. Der Friede findet jedoch ein Ende, Holger gewinnt sein Gedächtnis zurück und wird als Hilfe bei den Ehrenstunden der dänischen Geschichte gesandt, mit großen Taten als Folge. Dergestalt ist er aktiv unter Knud dem Großen (1014-1035), der England eroberte, den Valdemar-Königen (1157-1241) und Margrethe I. (1387-1412), die alle das dänische Reich vergrößerten und konsolidierten, sowie unter Christian IV., der gegen die Schweden auf der Kolberger Heide kämpfte (1644). Zuletzt war Holger bei Frederik VI. anwesend, dem mildesten Herrscher, „Hvis Røst blandt løste Sjæle mig klang / Meest dansk fra Tidernes Kilde“ (dessen Stimme unter den befreiten Seelen mir am Dänischsten klang aus der Quelle der Zeiten) - dieses „løste“ (befreit) bezeichnet die Befreiung des Bauernstandes und der schwarzen Sklaven in den 1780er Jahren. Hingegen erwähnt Ingemann den traurigen Ausgang der Kriege gegen die Engländer (1807-1814) nicht - dort schlief Holger offenbar. Ingemann beabsichtigte, in seiner Dichtung eine allgemeine Übersicht über die Entwicklung des menschlichen Geistes zu geben und einen nationalen Mythos zu schaffen. Für das Erstgenannte ließ er sich vom universalhistorischen Haandbog i Flemming Lundgreen-Nielsen 230 Verdens-Historien (1833-1836) seines Freundes Grundtvig inspirieren, namentlich vom Einleitungskapitel zum zweiten Band über das Mittelalter. Grundtvigs handfeste Herdersche Parallelisierung zwischen den historischen Zeitaltern und den Lebensphasen des einzelnen Menschen, nach der die Ur- und Frühgeschichte Kindheit und Jugend entspricht, die dominiert sind von der Phantasie, das Mittelalter dem erwachsenen Dasein, dominiert vom Gefühl, und die neuere Zeit dem Alter, dominiert von Verstand und Reflexion, findet man im Leben Holger Danskes wieder, wie es von Ingemann imaginiert wurde. 65 Für das Zweite steht Ingemann selbst ein: die Bestimmung des echt Dänischen, wie es nach den Kriegen gegen die Engländer und nach dem Wiener Kongress aufzufassen ist. Bereits zu Beginn findet man vier Gedichte, die dem alten, etablierten Holger zugeschrieben werden, ohne vom verwendeten Quellenmaterial herzurühren. Er ist jetzt (1837) zurück gekommen als tausendjähriger Kämpe und „fuldtroe Hjelper i Nød“ (treuer Helfer in der Not), er hat wirkliche Existenz und ist weder tot noch fiktiv (im Gedicht „Hilsen til Frænderne“) (Grüße an die Freunde) - eine Polemik gegen die Historiker der Aufklärungszeit und den Zeitgenossen Christian Molbech. Wenn Holger sich auf dem obersten Stein des Hünengrabes ausruht und im Wald und am Strand die dänische Natur spürt, repräsentiert er historische Kontinuität („Holger paa Kæmpehøien“) (Holger auf dem Hünengrab). Er hat den Blick für die Entwicklung des Volks in Richtung des Geputzten, hier bei dem Übergang der Recken vom bärtigen zum rasierten Zustand, aber immer waren die Dänen gutmütig, die Heiden meinten es ehrlich und nicht böse beim Totschlag, und umgekehrt können deren modernere, zahmere Söhne immer noch ganz gut kämpfen: „Fordum og nu“ (Früher und heute) - vielleicht eine Anspielung auf die Schlacht auf der Kopenhagener Reede vom 2. April 1801. Und die Dänen haben, seit Holger klein war, immer „Sagn og Sange og Eventyr“ (Sagen und Lieder und Märchen) geliebt, hatten Interesse für Kunst und Geschichte, bis hinunter zum Bauern und dem Kind der Gegenwart („Sangens Fugl“) (Der Singvogel). Holger hofft, in den Schoß des dänischen Volkes aufgenommen zu werden in noch „ufødte Tid“ (ungeborener Zeit) und „i Fremtidens Sange“ (in zukünftigen Liedern) (vgl. „Holgers Drøm i Fængslet“ [Holgers Traum im Gefängnis], hinzugefügt in der zweiten Ausgabe von 1845). Es ist Holgers Schicksal, dass er während einer längeren Zeitspanne schläft oder in Vergessenheit auf Morganas Schloss lebt, wo er träumen wird, bis das dänische Volk ihn versteht („Reisen til Vidunderlandet“) (Die Reise ins Wunderland). Der Friede bei der Fee ist unvergleichlich, sie selbst ist „Storhedstankens Tolk“ (Symbol des großen Gedankens der All-Einheit), zur Klarheit entfaltet im Leben Holgers und seines Volks („Hvilen hos Morgana“) (Die Rast bei Morgana). Wenn das dänische Volk sich erinnert, Holger nicht vergisst, ihn kennt und vermisst, wird er für neue große Taten vom Zauberschloss Morganas freigegeben. „Men glemmer det dig atter, jeg favner dig 65 Grundtvigs Udvalgte Skrifter, VI, S. 541-553, vgl. S. 587-588; Grundtvig, Svend (Hg.): Grundtvig og Ingemann. Brevvexling 1821-1859. København 1882, S. 176; Galster, Kjeld: Fra Ahasverus til Landsbybørnene, S. 69-70. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 231 igjen; / Hvor Aanden har Liv, har du hjemme” (Aber vergisst es dich wieder, nehme ich dich wieder zu mir; wo der Geist Leben hat, bist du daheim), versichert die Fee ihm („Holger med Mindernes Kilde“) (Holger mit der Quelle der Erinnerungen). Holger taucht nie in geistlosen Zeiten auf; eine der Bedingungen für seine Wiederkehr ist, dass das Leben in den Köpfen der Dänen blühen soll, Lieder auf ihren Lippen sind und die Dichter von ihm singen - dann leiht er ihnen gerne das Horn Oberons und den Titanenschleier, den er von den Elfen Morganas geschenkt erhielt - Gegenstände, die Macht über die Natur geben („Holger Danskes Tilbagekomst“) (Holger Danskes Rückkehr). Diese Auffassung von Holgers Charakter bestimmt die Erzählperspektive im eigentlichen Lebensbericht. Bereits als Kind wurde er mitten im blutigen Inventar heidnischer Opferrituale angezogen vom östlich Milden und Lieblichen des Sonnenaufgangs („Anelsen i Guder-Lunden“) (Ahnungen im Götter-Hain), und die Bekehrung des ehrlichen Sachsenfürsten Wittekind zum Christentum ist ihm unvergesslich („Holgers Sang om Wittekind“) (Holgers Gesang auf Wittekind). Immer wieder verliert er sich in Träumen, Visionen und Ahnungen, und das Seelenleben, das diese hervorrufen, bedeutet ihm oft mehr als die äußeren Geschehnisse, die er durchlebt. Die Verliebtheit in Gloriant wird in fünf Gedichten sorgfältig behandelt, die einen gefühlvollen, die Schönheit anbetenden und unbeugsamen, keusch liebenden Helden präsentieren - Ingemann-Forscher führen das auf die Verliebtheit des Dichters während seiner großen Südeuropareise 1818-1819 zurück, als er von seiner Verlobten in Kopenhagen getrennt war. Glühende, jedoch beherrschte Erotik und willensstarke Verneinung heben Holger hinauf in das Wunderland der Ewigkeit und machen ihn unsterblich. Deshalb folgt Ingemann der Karl Magnus-Chronik genau in dem Punkt, dass Holger nicht durch die Mauern gefangen gehalten wird, sondern durch seine Pflicht und seinen Drang zur Buße: „min Villie kun var mit Fangebuur“ (mein Wille nur war mein Gefängnis) („Den fangne Holger i Spanieland“) (Der gefangene Holger in Spanien). Das irdische Wesen des Helden besteht im Übrigen aus Ehrlichkeit und Geradlinigkeit - „Den Vei veed Dansken endnu“ (diesen Weg kennt der Däne noch) („Holger Danskes Vei“) (Holger Danskes Weg), Trunkenbolde und Missgünstige werden verachtet, Dichter und Damen hingegen geliebt („Vaabenhvile“) (Waffenruhe). Er ficht mit offenem Visier und versteckt Angesicht und Namen nicht, trägt einen Adler auf dem Helm, das Kreuzzeichen auf der Rüstung und die Löwen und Herzen des dänischen Reichswappens auf dem Schild („Holger Danskes Mærke“) (Holger Danskes Zeichen). Christlich betrachtet ist Ingemanns Verbindung von Holgers Liebes- und Ewigkeitssehnsucht gewagt. Als Säugling bekam Holger von der Fee Persina nur einen „ahnenden Traum“ von Glück und Liebe („Feerne ved Holgers Vugge“) (Die Feen an Holgers Wiege). Er gewinnt Jungfrau Gloriant nie, „Den Paradiisfugl, min Haand ei skulde naae“ (Der Paradiesvogel, den meine Hand nie erlangen sollte) („Afskeden i Bamyan“) (Abschied in Bamyan), oder eine andere irdische Frau - dies im Gegensatz zu den Chroniken, wo er mehrere Affären hat, einen Sohn bekommt und eine englische Flemming Lundgreen-Nielsen 232 Prinzessin heiratet. Nach seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land reitet Ingemanns Holger am Pfingstmorgen auf seinem Hengst in Richtung Paradiesgarten. Er tröstet sich damit, dass dieser wieder geöffnet werden kann, wenn man nur tüchtig an die Tür klopft, einen Schimmer von ihr zeigt jeder Sonnenaufgang über dem Meer, und saae jeg i Øine sorte / Med Ild fra Morgenens Hjem, / Jeg meente, Guds Haves Porte / Var dog kun lukte paa Klem. Sah ich in schwarzen Augen / Mit Feuer vom Heim des Morgens, / Ich meinte, die Tür von Gottes Garten / War doch nur halb verschlossen. („Paradiishaab“) (Paradieshoffnung) Das ist eine überraschende Leugnung des Sündenfalls und der Strafe - und eine Bekräftigung der Macht der Liebe, denn die „deilige Øine, funklende, sorte! / I eders Blik var Glands fra Himmerigs Porte“ (lieblichen Augen, funkelnd, schwarze! / In eurem Blick war der Glanz der Pforten des Himmelsreichs) sind ja diejenigen Gloriants („Gloriants Preis“) (Gloriants Lobpreis). In einem Traum von einem Gewitter meint Holger eine gespaltene Felswand zu sehen und ein blendendes „Glandshav“ (Glanzmeer), das Lippen und Zunge nie beschreiben können - dieser Blitzschimmer gibt ihm die Gewissheit über die Quelle des Lebens und die Realität des Paradieses, obwohl der Traum im irdischen Dasein nicht andauert: „Jeg vaagned ene. Min Hingst laae død. / Frem gik jeg mod Morgenrøden“ (Ich erwachte allein. Mein Hengst war tot. / Ich ging dem Morgenrot entgegen.) („Det lukkede Land“) (Das verschlossene Land). In der zweiten Ausgabe von 1845 legte Ingemann sein Programm für Holger Danske in einer Prosavorrede dar. Holger hat die Phantasie des dänischen Volks während 300 Jahren beschäftigt - also seit Christiern Pedersens Chronikausgaben von 1534 - und er ist ein „udødelig Folke-Typus“ (unsterblicher Volks-Typus) als „Nationallivets og Folkeaandens evige Gjenføder gjennem Tiden“ (die ewige Wiedergeburt des Nationallebens und des Volksgeistes durch die Zeiten hindurch). Der Sage zufolge ist er ein „stets wiederkommender Volksbefreier im Norden“, aber auch „die eigentümlich entwickelte dänische Volksnationalität“; in all seinem Wesen und Verhalten trägt er den ursprünglichen nationalen Stempel „in der kecken, schlichten, kühnen und lebensbejahenden Natur […] mit tiefem Ernst und Gefühl, sogar in seinem nicht eben verfeinerten, jovialen Humor“. Der moderne Leser sollte sich daran erinnern, dass die positiv geprägten Wörter und Begriffe über das Nationale und das Volkshafte damals neu waren, heute hingegen handelt es sich dabei um (gefährliche) Klischees. Eine Bemerkung zeigt, dass Ingemann die Sage über die Schlummerzeit Holgers kennt „ved Steenbordet i Hulen, til Folkets Nød skal vække ham, og hvorledes man der kun med en Jernstang kan udholde hans Haandtryk“ 66 (beim Steintisch 66 Ingemann, B.S.: Ahasverus og Holger Danske to Eventyrdigte (Med Tillæg af Smaadigte fra 1819-1832). Anden Udgave. København 1845, S. VII, VIII, X und XI. Ingemann erwähnt auch die Sage vom Händedruck im Entwurf zu Holger Danske von 1834, vgl. Samlede Skrifter, S. 29. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 233 in der Höhle, bis dass die Not des Volkes ihn wecken wird, und wie man nur mit einer Eisenstange seinen Händedruck aushalten kann). Das künstlerische Vorbild für Ingemann ist vermutlich Oehlenschlägers Helge, 1814, Esaias Tegnérs Frithjofs Saga, 1820-1825, und für die Avalun-Teile P.D.A. Atterboms Lycksalighetens ö, 1824-1827. 67 Balladenstrophen romantischen Zuschnitts werden mit Volksliedtönen vermischt und alle Gedichte sind in der Ich- Form der Reimchronik abgefasst, so wie die Monologe in Grundtvigs Krønike-Riim von 1829. N.W. Gade (1817-1890) gab 1863 Melodien zu zwölf der Lieder heraus, und auch andere Komponisten wurden inspiriert. Holger Danske wurde 1837 überhaupt nicht rezensiert. Der Kritiker Chr. Molbech, einer von Ingemanns Erzfeinden, polemisierte in seinem Vorwort zu Nis Hanssens Ausgabe von Christiern Pedersens Olger Danskes Krønike von 1842 ohne Namensnennung gegen die unhistorische Auffassung von Holgers nationalem Ursprung, worauf Ingemann in seiner Vorrede 1845, ebenfalls ohne Namensnennung, antwortete. 68 Nicht einmal Grundtvig reagierte 1837, weder privat noch öffentlich. Seiner Krønike-Riim til Levende Skolebrug med Oplysninger (Gereimte Chronik mit Anmerkungen für den lebendigen Schulgebrauch) von 1842 ist jedoch eine „Oplysning“ (Erklärung) über Holger Danske angefügt, nämlich, unser Volk habe ihn „mit beiden Händen, wie einen brauchbaren Trumpf in der Hinterhand“ empfangen und neuere Skalden, besonders Ingemann, hätten „sorgfältig und gut“ die Erinnerung an ihn aufgefrischt. 69 In der Vortragsreihe Brage-Snak von 1844 nennt Grundtvig den Gedichtzyklus von Ingemann als „selbst [von] Kindern und Bauern“ geliebt. 70 Besonders im Dreijahreskrieg um Schleswig-Holstein 1848-1850 wurde der Zyklus populär und machte Ingemann nach Oehlenschlägers Tod im Januar 1850 zum anerkannten Nationalskalden; dänische Frauen schenkten ihm an seinem siebzigsten Geburtstag 1859 ein Goldhorn. 71 In seinem Levnetsbog (Memoiren), gedruckt postum 1862, erinnert sich Ingemann mit Freude, dass er in Holger Danske den Geist von 1848 ausgedrückt habe, den wahrhaften „heroiske Repræsentant“ (heroischen Repräsentanten) des Volkes, zehn Jahre vor diesem bewegten Jahr. 72 Noch 1944 erschien eine verkürzte Version des Zyklus zur Ermunterung für das besetzte Dänemark, und 1993 publizierte der Verein der Dänischlehrer (Dansklærerforeningen) die 1842er Ausgabe von Chri- 67 Vgl. Hermansson, Gunilla: Lyksalighedens øer. Møder mellem poesi, religion og erotik i dansk og svensk romantik. Göteborg/ Stockholm 2010, S. 167-191. 68 Togeby, Ogier, § 171. H.C. Andersen nahm en passant auch eine Abrechnung mit Molbechs kritischer Sicht auf die Holger-Figur in seinem Märchen Lygtemændene ere i Byen, sagde Mosekonen in Nye Eventyr og Historier, II: 3. København 1865. 69 Grundtvig, Svend (Hg.): Krønnike-Rim med Indledninger og Oplysninger, Tredje Udgave. København 1875, S. 251. 70 Grundtvigs Udvalgte Skrifter, VIII, S. 775. 71 Die Übergabe wurde vom Maler Jørgen Sonne in einem Gemälde aus dem folgenden Jahr dargestellt, das sich heute in Det Nationalhistoriske Museum på Frederiksborg, Hillerød, befindet; das Horn befand sich am gleichen Ort, wurde jedoch von einem Museumsbesucher im Jahre 1970 gestohlen. Es tauchte zu einer Auktion im Februar 2010 in Amsterdam auf und kehrte 2011 ins Museum zurück, wo es seit dem 11. Februar 2011 wieder zu besichtigen ist. 72 Keld, Jens (Hg.): B.S. Ingemann. Levnetsbog. Tilbageblik. København 1998, S. 11-12. Flemming Lundgreen-Nielsen 234 stiern Pedersens Holger-krønike in modernisierter Sprache unter dem Ingemannschen Titel I alle de riger og lande (In allen Reichen und Ländern). Der Wunsch des Literaturhistorikers Vilhelm Andersen, Ingemanns Gedichtkreis möge zum dänischen Schulbuch-Klassiker avancieren, ging jedoch nie in Erfüllung. 73 , G Grundtvig hielt mit königlicher Erlaubnis in der zweiten Jahreshälfte 1838 öffentliche Vorlesungen im Kollegium Borch im Kopenhagener Lateinerquartier. Das Thema war die europäische Geschichte 1788-1838, und die Vorträge wurden 1877 postum unter dem Titel Mands Minde (Menschengedenken) von seinem Sohn Svend herausgegeben. Die Zuhörer des gefüllten Auditoriums - denn es handelte sich um ein Kopenhagener Ereignis erster Güte - baten Grundtvig um eine Fortsetzung in einer stärker institutionalisierten Form. Die Aufforderung stellt zugleich einen Wendepunkt in Grundtvigs Leben dar, weil seine Anhänger jetzt nicht nur geistig organisiert werden konnten, sondern auch physisch. Den entschieden zutreffenden Namen für diese Initiative, Dansk historisk Forening, hatte leider bereits Chr. Molbech für eine akademische Vereinigung benutzt, die am 14. Februar 1839 ins Leben gerufen worden war. Bevor Grundtvigs Überlegungen zu einem Namen für seinen eher populären Diskussions- und Vortragsverein in den zahmen Namen Danske Samfund (Dänische Gesellschaft) ausmündete, kam er mit acht verschiedenen Vorschlägen. Diese wurden alle in der Gesellschaft versuchsweise geprüft, alle jedoch erhielten den Beinamen „Holger Danskes Herberge“. 74 So effektiv hatte Ingemanns Dichtung unterstrichen, dass Holger der dänische historische Volksgeist schlechthin war, dass Grundtvig im Frühjahr 1839 mehrere Male Holger Danske in Probevorlesungen und in Probetreffen behandelte. In der Vorlesung vom 30. April fragt Grundtvig, wann Holger komme, oder ob er bereits da sei. Grundtvig hatte die spätmittelalterlichen Volkslieder durchforscht, ohne einen Hinweis auf seine Wiederkunft zu finden, versichert jedoch, in Ingemanns Dichtung „er Holger Danske ogsaa virkelig kommet hjem, enten Man saa kiendtes ved ham eller ikke, og var til Herberg hos Skjaldene, enten de saa beværtede ham vel eller ilde“ (ist Holger Danske wirklich nach Hause gekommen, ob man ihn erkannte oder nicht, und war bei den Skalden auf Besuch, ob sie ihn gut bewirteten oder schlecht). Wenn wir ihn im 19. Jahrhundert festhalten, sagt Grundtvig, „dann greifen wir nach einer geistigen Kette zwischen uns und dem Volk, oder richtiger 73 „Den burde efter Oehlenschlægers ‘Thors Rejse’ læses i alle ny-danske Skoler som Homer og Virgil i de gamle.“ (Nach Oehlenschlägers Thors Rejse sollte dies in allen neu-dänischen Schulen gelesen werden, so wie in den alten Homer und Vergil). Andersen, Vilhelm: Illustreret dansk Litteraturhistorie. III. København, Kristiania, London, Berlin 1924, S. 245. Das Wort „ny-dansk“, d.h. neusprachlich, drückt den Gegensatz zu „altsprachlich“ im dänischen Gymnasialgesetz von 1903 aus. 74 Lundgreen-Nielsen, Flemming: Grundtvig og danskhed. In: Feldbæk, Ole (Hg.): Dansk Identitetshistorie. 3. Folkets Danmark 1848-1940. København 1992, S. 31-34 und S. 38. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 235 einem Brennpunkt, von dem die Kraft zu freier Bewegung und friedlicher Wechselwirkung ausgeht, und zu einer lebenden Hecke um die Volksaue, denn dieser Brennpunkt ist ja der Volksgeist“. Holger lässt sich fassen und benutzen, jedoch nicht begreifen, untersuchen oder zerlegen - mit anderen Worten unterteilt Grundtvig einerseits in das Konkrete, dessen Wirkung wahrgenommen werden kann, und andererseits in die dahinter liegende, unsichtbare Idee, die weder analysiert noch durchdrungen werden kann. 75 Am 14. Mai - dem eigentlichen Gründungstreffen des Danske Samfund - vertritt Grundtvig die Ansicht, es sei gut, sich an den Namen Holger Danske zu erinnern, „denn damit wurde alles, was wir volkstümlich (folkelig) nannten, auf den Begriff gebracht und löste das Neblige und das Schwankende ab, das notwendig mit einem neuen Ausdruck folgen muss“. Grundtvig unterlegt dem Wort „folkelig“ verschiedene Bedeutungen: umgänglich, geschätzt vom Volk, dem Volk ähnlich, verbreitet im Volk; aber das Wort bleibt „schrecklich dänisch“, indem es - bereits seit den Tagen des Beowulf - auch negative Eigenschaften beinhalte wie eine materialistisch begründete Trägheit und eine gewisse Schläfrigkeit. Für Grundtvig bedeutet deshalb der Name Holger Danske „ein echter Däne“. Es handelt sich hierbei um ein Dänentum, das, wie Holger zur richtigen Zeit, wenn die Hände noch ungebunden sind, zuschlägt, wenn das Fremde droht, und das, immer noch wie Holger, der zwar sowohl, wenn es die Umstände zulassen, seiner Bequemlichkeit nachgibt als auch, wenn es sein muss, schlafen kann wie ein Stein, der jedoch ein weitaus größeres Vergnügen daran hat, etwas Gutes und Erfreuliches zu tun, das nie vergessen wird, und der nur schläft, wenn man in Dänemark keinen Helden braucht oder wenn man ihn nicht schätzt. Schließlich ist es auch ein Vorteil mit Holger, dass er eine historisch-poetische Person ist, die sowohl in der Vorzeit, Gegenwart und Zukunft zuhause ist als auch das Recht der Jahrhunderte besitzt, vom ganzen Volk geliebt zu sein, wie dessen eigenes Bild, vielleicht ein wenig geschmeichelt, jedoch im Grunde doch geliebt, und natürlich umso wertvoller, weil es gleichzeitig schön ist, denn die Künstler unserer Zeit mögen sagen, was sie wollen bezüglich der Vortrefflichkeit des Hässlichen, wenn es doch nach der Natur ist, so ziehe ich das Schöne, das auch natürlich ist, vor und ich wage zu behaupten, dem Volk geht es genauso. 76 Im Folgenden gleitet Grundtvig über in einen Angriff auf klassizistische Kunst: Er sah zuletzt Holger Danske als Gärtner, der einen vernachlässigten Park pflegen soll, dabei jedoch entdeckte, dass der alte nordische Apfelbaum mit Iduns Jugendfrüchten mit Dornen von Roms Hagebuttenstrauch gepfropft wurde. Als Holger verschwand, traf ein umherreisender italienischer Kunstgärtner ein, der die lebenden Knospen des Apfelbaums nahm und sie auf den dornigen verwelkten Holzklotz aus Rom setzte. Es ist doch Grundtvigs Hoffnung, dass Holgers Heimkehr eines Tages 75 Barfod, Frederik (Hg.): Brage og Idun, et nordisk Fjærdingsårsskrift, 1: 2, 1839, S. 462 und 465- 466. 76 Grundtvig-Archiv, Det Kongelige Bibliotek, København, Fasc. 164.I.9, Bl. 1r, 2r-v. Flemming Lundgreen-Nielsen 236 den Reisepass für die „römischen Antiquitäten und Reliquien“ bedeutet. Es ist nicht nur die Rede von einer Wiedergeburt des Nationalcharakters, sondern auch von der Besinnung der nationalen Kunst auf ihre heimischen Grundlagen. Für die Krönung Christians VIII. im Jahre 1840 schrieb Grundtvig ein Lied für die Abendsitzung der Dänischen Gesellschaft, Holger Danskes Skaal (Ein Hoch auf Holger Danske). 77 Darin wirft er die Frage nach Holger Danskes baldiger Wiederkunft auf, die etwas anderes und mehr bedeuten sollte als ein simpler Einfall der Skalden (Str. 1-2). Er fühlt sich berührt und umweht vom Geist Holger Danskes, hier (in Kopenhagen) wie in „Soer“ - Sorø, der Stadt, von der Grundtvig erhoffte, dass Holbergs Akademie zu einer dänischen Volkshochschule werden könne - und just wo Jünglinge über „Danebod i Dvale“ (Danebod im Winterschlaf) sprechen, steht Holgers Wiege (Str. 3), dort soll er wachsen und gedeihen (Str. 4). Trotz aller Römer soll Holger eben großgezogen (Str. 5) zum erwachsenen Helden (Str. 6) in Danske Samfund werden - ein Held mit „Haaren auf den Zähnen“, demnach in ungewöhnlichem Maß handlungstüchtig und kampfbereit, „jedoch mit sanften Händen“ (Str. 7). Ihm fehlt es nicht an Stärke, jedoch ist er vor allem Verteidiger, nicht Angreifer, und Strophe fünf nennt das Kriterium dafür, nämlich dass er „den Däninnen gefällt“. Etwas Neues in der dänischen Öffentlichkeit stellen ab 1839 die großen Volkstreffen dar, die auf den jütländischen Höhenzügen Himmelbjerget (Himmelberg) und Skamlingsbanken abgehalten wurden. 78 Das gibt Grundtvig mehrere Male Gelegenheit, seinen humanistischen Holger Danske zu mobilisieren. 1840-1841 gab es einen Konflikt zwischen den dänischen Liberalen und dem Bauern Per Nielsen aus Ry, dem der Himmelberg gehörte, über die Nutzung dieses Ortes. In einem eigens gedruckten Gedicht im Volksliedstil von 1840 79 identifiziert Grundtvig Holger mit dem Wächter Heimdall aus der nordischen Mythologie. Holger-Heimdall hat „von Arilds Zeit“ (seit Olims Zeiten) seinen Wohnsitz auf dem Berg 80 und besitzt außer dem Rolandsschwert Dyrendal auch das Gjallarhorn (Str. 3) und das Pferd Guldtop (Str. 6) und steht Wacht bei der Brücke Gyngebro (Str. 7). Der König lächelt „mit den Augen Kristians IV.“ und kann den Konflikt beenden, indem er Per Nielsen sein Eigentum abkauft (Str. 4). 81 Grundtvig lässt Holger nicht einen hitzigen Kraftprotz sein, sondern „einen guten Kämpen der Rechtfertigen“, die den König in Silkeborg aufsuchen, um eine friedliche, rechtlich korrekte Beilegung des Konflikts zu erwirken. Die Moral ist, dass in Dänemark „die Hand des Königs“ und nicht das rote Gold für 77 Grundtvig, N.F.S.: Sange for Vennelaget i Danske Samfund paa Kronings-Dagen 28de Juni 1840. København 1840. In: Grundtvigs Poetiske Skrifter,VI, S. 375-377. 78 Himmelbjerget, 147 m., vgl. Pontoppidan, Erich: Den Danske Atlas. IV. København 1768, S. 182, wo die Höhe und die Quelle erwähnt werden, jedoch ohne Anknüpfung an die nordische Mythologie; Skamlingsbanken, 113 m. 79 Kong Christian den Ottendes Fødselsdag den 18de September 1840 i Danske Samfund. København 1840. In: Grundtvigs Poetiske Skrifter, VI, S. 386-388. 80 Vgl. das Eddagedicht Grímnismál, Str. 13. 81 Borchsenius, Otto: Fra Fyrrerne. Literære Skizzer. Anden Række. København 1880, S. 194- 199. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 237 „den Wunsch des Volks“ sorgt, und deshalb wird der „Volksgeist“ „treu und hold“ für die Königskrone kämpfen (Str. 5). Im Gegensatz zu den Wünschen der Nationalliberalen in den 1840er Jahren bezüglich eines demokratischen Grundgesetzes und Mitbestimmung betrachtet Grundtvig den Absolutismus als eine Übereinkunft, bei der das Volk durch seine Repräsentanten Ratschläge erteilt in den vier Ständeversammlungen, wobei der König jedoch alleine entscheidet. Für das Sommertreffen im folgenden Jahr auf dem Himmelberg schrieb Grundtvig, der nie an einer solchen Veranstaltung teilnahm, ein Lied, Himmelbjergs-Vise (das Himmelberg-Lied). 82 Er scheint ein Wortspiel zu machen mit der Tatsache, dass der Himmelberg sich beim Städtchen Ry (Ruhm) erhebt und bei der Insel Øm (auf Lateinisch Cara Insula, die Insel der Zärtlichkeit) und dass er an seinem Fuß eine heilige Quelle hat, die „Sovesyge, Tanke-Lede“ (Schlafkrankheit, Gedanken-Ekel) heilt, der Berg ist jedoch erst spät wiederentdeckt worden (Str. 2). Der Bach wurde vom jütländischen Verwandten Grundtvigs, dem Dichter Steen Steensen Blicher, in seiner ersten Himmelberg-Rede von 1839 nach dem Fluss bei Olympia als dänischer Alpheus betitelt. 83 Der ursprüngliche Wächter des Bergs („Vætte“), Heimdall mit den Weckluren (Str. 3-5), wurde von König Christian VIII. abgelöst, ein Mann mit dem gleichen Geist (Str. 6), der den wiedergekommenen Holger Danske auf dem Himmelberg mit klar blinkenden „Gudhjemsværge“ (Gotteshauswaffen) (Str. 7) eingeführt hat. 84 Heimdall besaß eine Klinge mit dem Namen Hoved (Kopf). 85 Grundtvig fährt mit seiner allegorischen Auslegung fort: Holgers Klinge ist der Kopf des Volkes, seine Lure dessen Stimme, sein Flügel der Geist, seine Uhr, die das Erwachen anzeigt, das Herz des Volkes. Sein Horn weckt alle Dänen, die durch die breite Schaukelbrücke verbunden werden, „Kongebroen uden Mage“ (die Königsbrücke ohne Gleichen), die sowohl wellenfarbig ist als auch „Blaalig farvet af Kjærminder“ (bläulich gefärbt vom Vergissmeinnicht), historische Erinnerungen von König Skjold bis zu Christian VIII. Die Brücke verbindet das ganze Reich: „Skov og Hede, / Mark og Bjerge graa“ (Wald und Heide, / Feld und graue Berge) (Str. 8). Geschichte und Natur verschmelzen ineinander. Beim Götterwohnsitz des Himmelbergs soll Holger den Norden gegen alle Feinde bis zum Jüngsten Gericht verteidigen (Str. 9). Heimdall-Holger lacht über „Jætters Pral“ (das Prahlen der Riesen) und beseelt wie der Geist des Nordens König, Dichter und Volk (Str. 10). Alle Männer und mit ihnen die dänische Losung werden im ganzen Land geweckt für alles Dänische und zum Krieg gegen alle Trolle (Str. 11). Das Lied ist eine Vorankündigung des Sprachenstreits, den P. Hiort Lorenzen einleitete, als er in der Schleswigschen 82 Grundtvigs Poetiske Skrifter, VI, S. 431-434. 83 Blichers „Alpheus“ ist der Fluss Gudenåen, vgl. Aakjær, Jeppe, Topsøe-Jensen, Helge (Hg.): Steen Steensen Blichers Samlede Skrifter. XXIII. København 1929, S. 168 mit Anmerkung S. 219. 84 „Gudhjem“ für die Wohnstätte der Götter ist Grundtvigs freie Wiedergabe von Strophe 13 der Grímnismál, dessen isländisches Original hier „í væro ranni“ lautet, wörtlich „im sicheren Haus“. 85 Die späte Kenning „Heimdalls Schwert“ bezeichnet „das Haupt“, da der Gott im verlorenen Eddalied Heimdallargaldr mit einem menschlichen Haupt erschlagen wurde, vgl. Nordens Mythologi, 1832 in: Grundtvigs Udvalgte Skrifter, V, S. 671-675. Flemming Lundgreen-Nielsen 238 Ständeversammlung vom 11. November 1842 „fort[fuhr] in dänischer Sprache zu reden“ (Stændertidende), obwohl er der deutschen Sprache mächtig und diese zu benutzen verpflichtet war. In deutlich schärferem Gegensatz zum Deutschen „med den stolte Hu, / Og de stive Skanker“ (mit dem stolzen Sinn, / Und den steifen Unterschenkel), einem richtigen Kaiser Barbarossa, weist Grundtvig in seiner Rede Skov-Hornets Klang mellem Skamlings-Bankerne (Des Waldhorns Klang zwischen den Skamlingsbankhügeln), gehalten an diesem Ort am 4. Juli 1844, auf Holger Danske in Strophe 14 und Heimdall in Strophe 17 des Einleitungsgedichts Runebladet med „Christian den Ottende“ til Det unge Danmark (Das Runenblatt mit „Christian VIII.“ an Das Junge Dänemark) und wieder in der Rede selbst auf den Holger-Deich hin, einen Grenzwall, der sich vom Wald bei Uge (Ucke) bei Tinglev im Bezirk Tønder in südwestlicher Richtung bis nach Husum erstreckt. 86 Wieder verbindet Grundtvig Holger Danske und Heimdall frei miteinander, dessen Gyngebro in den Ohren des Dichters nun die Muttersprache ist, et nordisk, kæmpemæssigt Billede paa Folke-Tungen ved Landets Grændser, der altid gaaer som en Flom eller Gynge, og truer hvert Øieblik med at briste! ein nordisches, riesiges Bild der Volks-Zunge bei den Grenzen des Landes, die sich stets wie eine Welle oder eine Schaukel bewegt und jeden Augenblick zu zerspringen droht! Zum Glück ist Holger wirklich wieder gekommen im derben Wortwechsel des Nordschleswigers Nis Lorenzen mit dem Advokaten J.Th. Gülich in der Schleswigschen Ständeversammlung. Gülich hatte Kaiser Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser zur Verdeutschung Schleswigs angerufen, worauf Lorenzen mit Holger Danske in einem Kampf, der seinesgleichen nicht gesehen habe, drohte. 87 1844 kamen Grundtvigs vergleichende mythologische Vorträge Brage-Snak om Græske og Nordiske Myther og Oldsagn for Damer og Herrer (Bragische Gespräche über griechische und nordische Mythen und Sagen für Damen und Herren) heraus, von denen der letzte, gehalten ultimo Januar 1844, Holger Danske heißt. 88 Am Morgen hatte Grundtvig spontan die Idee, die ganze Reihe dieser Vorträge am Abend mit Holger Danske abzuschließen. Grundtvigs Hoffnung betreffend den Norden vereinigt sich so mit der Hoffnung einer Heimkunft Holger Danskes, was er auch in einer Besprechung von vier Gedichten aus Ingemanns Gedichtzyklus ausdrückt: „Vær hilset, mit gamle Fædreland! “ (Sei gegrüßt, mein altes Vaterland! ), „Ved Leire græsse nu 86 Pontoppidan, Atlas, 1781, VII.1, S. 302 und S. 305-306. 87 Der Ort wird nicht erwähnt bei Togeby, Ogier; Grundtvigs Udvalgte Skrifter, IX, 1909, S. 22- 23 und S. 29-31, vgl. auch Grundtvig, Nik.Fred.Sev.: Græsk og Nordisk Mythologi for Ungdommen. København 1847, S. 281; zum Wortwechsel zwischen Gülich und Lorenzen vgl. Adriansen, Nationale symboler, II, S. 418. Es handelt sich um einen eigenartigen Zufall, dass Grundtvig Holger Danske in den Jahren 1815-1817 zur selben Zeit wiederentdeckte, als Friedrich Barbarossa ein Comeback in der deutschen Literatur erlebte in J.G. Büschings Volkssagen, Märchen und Legenden, 1815, das zur Quelle für Friedrich Rückerts Gedicht Kaiser Friedrich im Kyffhäuser von 1817 wurde. 88 Grundtvigs Udvalgte Skrifter, VIII, 1909, S. 775-776; der Text wird nicht erwähnt bei Togeby, Ogier. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 239 Faar paa Vold“ (Bei Lejre grasen nun Schafe auf dem Wall), „Kong Gøtrik sad ene paa Leire-Borg” (König Gøtrik saß einsam auf dem Schloß von Lejre) und „I alle de Riger og Lande“ (In allen Reichen und Ländern). Ingemann hat kraft seines tiefen und lieblichen dänischen Wesens sich namentlich ergriffen gefühlt vom Märchenhaften, worin Mythos und Geschichte gleichzeitig vorhanden sind. Das ist eine gute Ankündigung für die Zukunft Dänemarks und des Nordens, bemerkt Grundtvig, dass, während Penelope im modernen Griechenland noch auf Odysseus wartet, die isländische Königstochter Gloriant in das schauerliche Gefängnis von Holger Danske hinein singt und zur Antwort bekommt, er sei bereit zu kommen und sie von einer drohenden Hochzeit mit dem schwarzen Brumand zu befreien. Als Beleg dienen fünf eingelegte Strophen aus Vedels Volksliedversion über den Zweikampf. 89 Grundtvig pointiert im Folgenden, dass er nicht nur Holgers Rückkehr „i poetisk, men ogsaa i prosaisk Forstand, reen folkehistorisk“ (in poetischem, sondern auch in prosaischem Verstand, rein volkshistorisch) erwarte. Grundtvig kann nämlich, mit seiner besonderen Fähigkeit zu vernehmen, was übereinstimmt - „sich reimt“ - im Mythos, Märchen und Geschichte, „oversætte fra det Ene i det Andet“ (vom einen ins andere übersetzen). Er glaubt die Zeit nahe, da der Gang der Geschichte sowohl den mythischen Heimdall als auch den abenteuerlichen Holger Danske „erklären“- auslegen und durchleuchten - wird, so dass sie, wenn man sie nur ein wenig warm anhaucht, zusammenschmelzen und darauf zu einer skandinavischen Gesellschaft oder einem nordischem Goldenen Jahr erstarren. Dass Heimdall nordisch ist, Holger hingegen ausschließlich dänisch, fasst Grundtvig jedoch bloß als Schein auf, weil Holgers Chronik im Ausland in einer Zeit gedichtet wurde, da alles Nordische als dänisch bezeichnet wurde. Die beiden Figuren sind demnach gleichermaßen nordisch. Grundtvig fährt fort, wenn die Dänen dennoch einen Vorzug hätten, bestünde der darin, dass sie zwar die Letzten seien, die sich an Holger erinnerten, aber die Ersten, die ihn in neuer Gestalt wieder erkennen würden (in Christiern Pedersens Übersetzungen). Aber wenn „den Nordiske Betragtning og Benyttelse af Menneske- Livet paany træder i Kraft“ (die nordische Betrachtung und Benutzung des Menschenlebens aufs Neue in Kraft tritt), kann Holger „først og bedst i Virksomhed hos os“ (am besten bei uns tätig) werden. Mit der Erkenntnis seiner bekannten Parteilichkeit für das Dänische kann Grundtvig im Übrigen nichts dagegen haben, dass die Skandinavier wetteifern, wer von ihnen Holger „det bedste og kraftigste Haandtryk“ (den besten und kräftigsten Händedruck) geben könne - eine Anspielung auf die Volkssage. Der Anblick des Holger-Deichs in Schleswig bekräftigt doch für Grundtvig Holgers Präsenz gerade in Dänemark als ein Fehdehandschuh für den Geist Barbarossas. Zuletzt im Vortrag gleitet Grundtvig in seine Lieblingsideen über Mündlichkeit, Muttersprache, Weiblichkeit und Poesie hinüber. Holger wird noch einmal hervorgerufen, diesmal, um das lebendige Wort zu repräsentieren, das Burmand im ehrlichen Kampf schlägt. Der schwarze Burmand, verstanden als derjenige, der in der Schrift mittels Tinte oder Druckerschwärze inhaftiert - also „sætter i bur“ (ins 89 DgF 30 D, Str. 13, 17, 21-22 und 32. Flemming Lundgreen-Nielsen 240 Gefängnis bringt) -, ist hingegen „den stolte Pen, der ikke blot drømmer sig uafhængig, men vil beherske baade Munden, Damerne og Digterne“ (die stolze Feder, die nicht nur sich unabhängig träumt, sondern sowohl den Mund, die Damen als auch die Dichter beherrschen will). 90 In Græsk og Nordisk Mythologi for Ungdommen (Griechische und nordische Mythologie für die Jugend), herausgegeben im Dezember 1846 mit dem Druckjahr 1847 - ein einzigartiges Buch in seinem Werk, weil es (halbschlecht) illustriert und von einem Benutzer, dem Rektor einer privaten Realschule, bestellt ist - wird das Urteil über Holger kurzgefasst wiederholt. Grundtvig akzeptiert Christiern Pedersens Identifikation Holgers mit dem Sohn König Godfreds, verwirft aber die philologisch-historische Verbannung der Aufklärungszeit von Holgers Zugehörigkeit zum Dänischen als ein bloßer Schreibfehler. 91 Der Abschnitt über Holger ist wie in Brage- Snak als der letzte des Buches platziert. Es lässt sich somit sagen, dass Grundtvig Holger Danske als Chiffre in Not und Lust in seiner Zeitschrift Danskeren zur Markierung von Geschehnissen während des Dreijahreskrieges braucht, so z.B. in Holger Danskes nye Vise (Holger Danskes neues Lied) in der Nummer vom 3. Mai 1848. In dem sanftmütigen Kiærminde-Sang („Det var en Sommer-Morgen“) (Es war ein Sommermorgen) in der Nummer für den 17. August 1850 wird die von den Dänen blutig gewonnene Schlacht bei Isted vom 25. Juli als „Holger Danske-Slag“ (Holger-Danske-Schlacht) (Str. 1) bezeichnet. Diese Bezeichnung wird auch in zwei anderen Liedern über die Schlacht in der gleichen Nummer verwendet. Diese sind künstlerisch nicht so wertvoll, jedoch in der Bildsprache komplizierter. In Holger Danske-Slaget for Sønder-Jylland (die Holger Danske-Schlacht um Nordschleswig) wird Nordschleswig als Jungfrau Heide (Hæde) personifiziert - die schleswigsche Schildjungfrau von der Braavalla-Liste in Saxos Liber VIII - sie wird auch als die (allegorische) Tochter der Königin Thyre bezeichnet, die mit der Jungfrau Gloriant aus dem Volkslied übereinstimmt, und zu allem Überfluss macht eine Fußnote noch darauf aufmerksam, dass beide Frauennamen Ruhm und Ehre bedeuten würden. Burmands Trolle vom Blocksberg sind natürlich die Deutschen, die sowohl kopfüber als auch kopflos vom Zusammenstoß mit Holger nach Hause ziehen. So ging es beim nächsten Mal 1864, dem schlimmsten Jahr in der neueren dänischen Geschichte, nicht mehr, als ganz Schleswig von Preußen und Österreich erobert wurde. Aber noch während Grundtvig unter seinem vierten und letzten Anfall von Geisteskrankheit an Ostern 1867 mehr oder weniger öffentlich phantasierte, soll er am 16. April kniend vor der 71-jährigen Witwe König Christians VIII., Caroline Amalie, vorausgesagt haben, dass, wenn er sie küsse, sie Holger Danske zur Welt bringen würde. 92 90 Grundtvigs Udvalgte Skrifter, VIII, 1909, S. 777, 778 und S. 784. 91 Grundtvig, Græsk og Nordisk Mythologi, S. 279 und 280. 92 Helweg, Hjalmar: N.F.S. Grundtvigs Sindssygdom. 1918. 2. Aufl. København 1932, S. 85 und 97; Johansen, Steen, og Høirup, Henning (Hg.): Grundtvigs Erindringer og Erindringer om Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 241 Grundtvig hat viel über die Holger Danske-Figur nachgedacht, jedoch sich mit deren Einfügung in sein Inventar nationaler Figuren zufrieden gegeben. Von 1815 an ist er eine Ziffer im Rechnungstück von der gleichen undurchschaubaren Art wie andere von Grundtvigs Meinungsaustauschen mit der Gegenwart. 93 $ + ' 3< ( Hans Christian Andersen entdeckt den Stoff in seinem Märchen Holger Danske in Neue Märchen, I: 3, von 1845 wieder. Ein alter Holzschnitzer ist Veteran von der Schlacht auf der Kopenhagener Reede am 2. April 1801, wo er Seite an Seite mit einem alten Mann stand, der vielleicht Holger Danske war, der eben von Schloss Kronborg heranschwamm. Er zeigt seinem Enkel eine Galionsfigur des Helden mit dem Reichswappen. Andersen war seiner Zeit voraus, weil eine solche erst bekannt wurde, als die dänische Flotte 1849 den Raddampfer Holger Danske vom Stapel ließ. Das Märchen löste ein Reihe von Bildern berühmter Monarchen und Patrioten der dänischen Geschichte aus, stofflich den Geschichtsstrophen im letzten Gedicht von Ingemanns Holger Danske entsprechend. Hinzugefügt sind Leonora Christina, 94 Ivar Huitfeldt, Hans Egede, Ludvig Holberg, Tycho Brahe sowie der im Jahr zuvor verstorbene Bertel Thorvaldsen. Nach 1864 verschwand Holger Danske für lange Zeit von der Bildfläche. Ein letzter Ausläufer der Begeisterung des 19. Jahrhunderts für ihn zeigt sich in der Bronzestatue von H.P. Pedersen-Dan von 1908, aufgestellt an einer relativ unbeachteten Stelle im Park von Marienlyst nahe bei Helsingør. Eine Gipskopie in den Kasematten von Schloss Kronborg wurde ungleich populärer und als unersetzlich betrachtet, denn als sie aufgrund von Feuchtigkeit fast zerfiel, wurde sie 1985 durch eine Betonkopie ersetzt. Während der deutschen Besatzung Dänemarks 1940-1945 führte eine äußerst aktive Gruppe von Freiheitskämpfern in den letzten drei Kriegsjahren Holger Danskes Namen. Der humanistisch-linksorientierte - auf Dänisch „kulturradikale“ - Dramatiker Kjeld Abell (1901-1961) plädierte in der Novelle „Fru Germania paa Kronborg“ (Frau Germania auf Kronborg), gedruckt in der illegal herausgegebenen Anthologie Der brænder en Ild (Es brennt ein Feuer) von 1944, für einen Gegenbegriff zu Holger Danske. Anstatt sein Kommen abzuwarten, sollen die Dänen selbst ihre Feinde bekämpfen, denn, wie Abell einen jungen Dänen räsonieren lässt: „Behøvede vi Holger Danske, Grundtvig. København 1948, S. 249 und 252; Toldberg, Helge: Grundtvigs symbolverden. København 1950, S. 189, vgl. Togeby, Ogier, § 170a. 93 Der Prototyp ist Grundtvigs und Baggesens sogenanntes Valhallaspiel, ein langgezogenes und dunkel versifiziertes Geheimrätsel in vier Runden, das sich von November 1815 bis März 1816 hinzog und Ausdruck in sowohl privaten wie auch öffentlich gemachten Briefen und Reimbriefen in nordisch-mythologischer Bildsprache fand. 94 Leonora Christinas Jammers Minde wurde erst 1868 wiedergefunden und 1869 publiziert, aber die Entfernung des Schanddenkmals für ihren Mann auf Ulfeldts Plads in Kopenhagen im Jahre 1841 (gleichzeitig wurde der Platz in Graabrødretorv umbenannt) und Oehlenschlägers Tragödie Dina, am 27. Oktober 1842 mit großem Erfolg aufgeführt und gedruckt im Dezember, hatten sie aktualisert. Flemming Lundgreen-Nielsen 242 var det vel, fordi vi ikke selv kunne rejse os op, men det kan vi …“. 95 (Bräuchten wir Holger Danske, wäre es wohl, weil wir uns nicht selbst erheben könnten, jedoch, das können wir.) Das ist die gleiche Moral wie in Abells Gegenwartsdrama Anna Sophie Hedvig von 1939, in dem ganz gewöhnliche, unheroische Menschen zum Widerstand gegen Diktatoren ermuntert werden. && j C 1970 hatte Holger Danske ein Aufsehen erregendes Comeback in einem kleinen Buch Holger Danske. Tolv fortællinger om en folkehelt (Holger Danske. Zwölf Erzählungen über einen Volkshelden), geschrieben von Ebbe Kløvedal Reich (1940- 2005) und illustriert von Per Kirkeby (geb. 1938), 96 beide prominente Figuren in der Jugend-Kulturrevolution in der Zeit um 1968. Das Buch beinhaltet bestimmte Elemente der Chroniken von 1534: die sechs Feen bei der Wiege, König Gøtrik, die Gefangennahme, Burmand, die Schlacht bei Roncevalles, der Aufenthalt bei Morgana in Avalon. Trotzdem handelt es sich jedoch um eine Neuinterpretation des Nationalhelden, indem sich das Buch genau in der Mitte - von der sechsten Erzählung an - von der Tradition Christiern Pedersens und Ingemanns verabschiedet. Holger hat eben darauf verzichtet, dänischer König zu werden und hat den Beinamen Danske von der Fee Morgana erhalten. Er beginnt zu „tvivle på mange ting, som han havde lært og forsøgt at respektere“ (zweifeln an vielen Dingen, die er gelernt und zu respektieren versucht hat). Er beginnt sich klar darüber zu werden, dass sein Treueeid auf Kaiser Karl ihn auf Wege führt, die er nicht mehr gehen will: „Mit tomme navn spiller med i et spil, som jeg finder hæsligt og grumt, og som til min smerte spilles af mænd, som jeg holder af.“ (Mein leerer Name spielt in einem Spiel mit, das ich hässlich und grausam finde, und das zu meinem Schmerz von Männern gespielt wird, die ich schätze.) Er sieht das Absurde in dem ganz gewöhnlichen Heroismus, wo Freunde wie Feinde gleichermaßen korrumpiert sind, so dass er zurück schauend beginnt, nur die Macht selbst zu hassen. Auch der Kaiser wird auf seine alten Tage hin manipuliert und wird „halvvejs gal af bogfolkene i Aachen“ (halb verrückt durch die Bücherwürmer in Aachen) und durch gelehrte Klatschmäuler. 97 Das Vakuum, das sein 95 Togeby, Ogier, § 199. 96 Die Originalausgabe ist durchgehend illustriert und besitzt eine schwarz-weiße Umschlagszeichnung von Holger Danske zu Pferd (Ausschnitt aus der Zeichnung zur 5. Erzählung), während die ebenso durchgehend illustrierte Ausgabe von 2002 ein anderes schwarzweißes Umschlagbild von Holger Danske zu Pferd hat (Ausschnitt aus der Zeichnung zur 11. Erzählung). Die Ausgabe von 1979 übernimmt nicht Kirkebys Illustrationen im Buch selbst, stattdessen sind aber Umschlagvordersowie Rückseite in seinen Farben gehalten, was einzigartig unter den bekannten Ausgaben ist. 97 Reich nimmt hier seine Darstellung von 1972 von Grundtvigs Kampf gegen die schwarze Schule vorweg (der Roman Frederik, mit dem Untertitel „en folkebog“, ein Volksbuch). Die missmutige Skizze des bürokratischen und auf eine Weise unmenschlichen Auftretens des al- Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 243 Machtverzicht in ihm schafft, wird von der Liebe zu der blonden englischen Prinzessin Belicene ausgefüllt. Ihr Gegenstück ist die Walküre Bradamante, die mit rabenschwarzem Haar und Augen wie Muscheln mit feuriger Sexualität die Kämpen schwächt. Die Ehe mit Belicene ist ein wahres und ideelles Idyll, das rein örtlich ein Stück weit die Seine hinunter angebracht wird, weg vom Getümmel - „den harske komedie“ (die harsche Komödie) - der Stadt Paris und deren Kaiserschloss, wo die Leute sich prügeln und einander beschimpfen. Als ihr einziger Sohn, Balduin, vom Kaisersohn Karlotto getötet wird, stirbt Holgers Frau vor Kummer, während der nach Rache dürstende Holger als Friedloser verbannt und zu einem rebellischen Waldgänger wird, bevor er am Schluss gefangen genommen, jedoch von Turpin milde behandelt wird. Als dunkel verhüllte Gestalt - also gegen seine eigenen Regeln bezüglich Ehrlichkeit und Offenheit - rettet er in Spanien das Banner der französischen Oriflamme im Kampf gegen die Mauren, jedoch wird die Schlacht bei Roncevalles (im Titel von Kløvedal Reichs neunter Erzählung) als „Straffen“ (Bestrafung) der Degeneration des Kaiserreichs aufgefasst. 98 Holger hatte zu Beginn der Erzählung Siegeswillen und Kampftechnik von Roland, höfisches Benehmen und Ehrlichkeit von Oliver und die Betrachtung der Menschheit und des Lebens als Gottes Gedanken und das Gut, für Gottes Sache sterben zu können, von Turpin gelernt. Der neue Holger vermisst bei diesen ritterlichen Helden die Fähigkeit, Frieden mit sich selbst zu schließen, andere zu erfreuen sowie Gottes Frieden zu fördern. Die Wahrheit über Karls Herrschertum hat Seiten, die im Programm des Kaisers nicht vorkommen, und Holger hat bei der Teilnahme an seinen Unternehmungen auch etwas über Verrat (König Dannemand), kalte Staatsklugheit (Kossubel) und Liebe, die zu blinder Gewalt pervertiert (Burmand), gelernt - worauf er hinzufügt: „Resten lærte jeg mig selv ved lang omtanke.“ (Den Rest habe ich mir selbst beigebracht mit langem Nachdenken.) Die Werte werden verkehrt: Holger Danske praktiziert eine Robin Hood ähnliche Sozialpolitik als Friedloser. Anstatt den Mörder seines Sohnes zu töten, küsst er ihn, sogar auf den Mund, und bricht seinen Eid dem Vater, Kaiser Karl, gegenüber mit groben Worten: „Dit skakspil med saracenerne er sat i værk af dig selv og dine skygger, og Guds procession skrider frem ganske uberørt af din dårskab“. (Dein Schachspiel mit den Sarazenen wurde von dir selbst und deinen Schatten in Gang gesetzt, und Gottes Prozession schreitet ganz unberührt von deiner Torheit voran.) Die Ermordung des heidnischen Sultans Bruhir auf seinem Pferd, „det sidste levende væsen“ (dem letzten lebenden Wesen), das Holger liebte, bedeutet den endgültigen Abschied vom Ritterleben und dessen Idealen. 99 ternden Kaisers besitzt einen Vorläufer im Kaiserporträt von Eyvind Johnsons historischem Roman Hans Nådes tid, 1960. 98 Kløvedal Reich, Ebbe: Holger Danske. Tolv fortællinger om en folkehelt. 3. Aufl. København 2002, S. 55, 56, 105, 76 und S. 79, 56. Die Zitate hier und im Folgenden stammen allesamt aus der Erstausgabe von 1970 (Rhodos), deren Text ohne Nachschrift 106 Seiten ausfüllt gegenüber 91 Seiten in der Ausgabe von 1979 und 112 Seiten in der Ausgabe von 2002. 99 Kløvedal Reich, Holger Danske, S. 26-27, 61, 70, 84, 91, 95-96. Flemming Lundgreen-Nielsen 244 Die beiden letzten Kapitel deuten Holgers Weiterleben jenseits des Mittelalters an. Auf der Insel Avalon findet er sein Pferd wieder lebend vor und in Morgana - zumindest in einem Schimmer - Belicene. Es gibt einen Lobgesang auf die Liebe und die Weiblichkeit, der bewirkt, dass Holger alles Irdische vergisst - übrigens auch erzähltechnisch das einzige Mal, wo die knappen und etwas dürren Berichte durch poetische Vision und einen mitreißenden Stil abgelöst werden. 100 Die Heimkehr verlagert Kløvedal Reich ins Jahr 1851, unmittelbar nach dem für das Dänentum siegreichen Dreijahreskrieg, wo er Holger Danske sich vergewissern lässt, dass Dänemark als Reich auf dem richtigen oder wenigstens auf einem besseren Weg ist als zuvor. Frederik VII. ist der erste König in „det gode folkestyrede Danmark“ (dem guten, vom Volk regierten Dänemark), und trotz Warnungen vor Naturverschmutzung, Industrialismus, Urbanisierung und preußischen Drohungen berichten die beiden alternden Poeten Grundtvig und Ingemann von der Erhebung des Bauernstandes, von Volkshochschulen, von volkstümlicher Demokratie. Holger sucht Gøtriks Hof am Isefjord auf und fällt in einen langen Schlaf, bis sein Bart auf die Tischplatte wächst. Als die Preußen 1940 zum dritten Mal kamen, fochten mehrere hundert dänische Freiheitskämpfer gegen sie in Holgers Namen, während er selbst immer noch schlief „i den glemte hal ved den glemte fjord, og der sidder han endnu, medmindre du har fundet ham og vækket ham og fortalt, at hans hjælp behøves“ (in der vergessenen Halle beim vergessenen Fjord, und dort sitzt er immer noch, außer du hättest ihn gefunden und geweckt und ihm erzählt, dass seine Hilfe gebraucht werden könnte). 101 Das Buch ist typisch für die Tendenz bei jungen Leuten der Zeit um 1968, gegen alle Traditionen zu rebellieren, nicht zuletzt gegen machtpolitische, um mit einer utopischen Idylle und Wertschätzung der Liebe, sowohl der sexuellen wie auch der sozial bewussten, dagegen zu halten: „All you need is love“. 102 Der anonyme Erzähler schwebt souverän, jedoch nachsichtig und mild ironisierend über dem bunt zusammengestellten Stoff. Die optimistischen Prophezeiungen von 1851 über die Zukunft Dänemarks der beiden Dichter Ingemann und Grundtvig sollten nicht ganz in Erfüllung gehen, und der wehmütige Schluss scheint den Widerstandskampf während der Besatzungszeit und dessen Folgen für die Erkenntnis dänischer Identität zu reduzieren. Der Erzähler meint jedenfalls in seinem Hans Christian Andersen-Tonfall, dass der Leser („du“) Holger aktivieren soll, um noch einen Kampf zu führen, damit Dänemark als Dänemark überleben kann. Damit wird der Text zur kulturpolitischen Handlung. Der verkündende Humanismus ist so gesehen immer eine Nachricht eines fortgesetzten Daseins des Nationalhelden. Im Original bringt Kløvedal Reich eine kommentierende Nachschrift in vier Abschnitten. Am interessantesten ist seine Absichtserklärung, wonach es ihm darum gehe, „at udforske Holgers usikkerhedsrelation“ (Holgers Unsicherheitsrelation zu erforschen) in der Zeit - ein Begriff, der aus der Kernphysik entlehnt ist (W. Heisenberg, 1927). Wie Ort und Impuls der Atome gleichzeitig verwischt sind, so dass die 100 Kløvedal Reich, Holger Danske, S. 102-103. 101 Kløvedal Reich, Holger Danske, S. 112. 102 The Beatles 1967. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 245 eine Größe so klar bestimmt ist, wie die andere unbestimmt ist, kann Holgers Platzierung in der gewöhnlichen historischen Chronologie nicht festgemacht werden. Räumlich bewegt sich Holger im dänischen Heidentum, im christlichen Kaiserreich und in der sarazenischen Welt, und der Erzähler betrachtet die verschiedenen historischen Personen unterwegs als „Kollektivportraits“ verschiedener Führer des Volkes. 103 Dies alles ist näher an Grundtvigs Auffassung der Nationalsymbolik als an derjenigen Ingemanns. In der zweiten Ausgabe von 1979 wird noch eine Nachschrift angefügt. Kløvedal Reich erinnert sich an die alternativen Experimente des Zusammenlebens während des ersten Frøstrup-Camps im nordjütischen Thy 1970 als „hedenskabens vildeste manifestation - dens mest selvbevidste udfordring til al dansk, katolsk og protestantisk ateisme“ (die wildesten Manifestationen des Heidentums - dessen selbstbewussteste Herausforderung des dänischen, katholischen und protestantischen Atheismus), der durch die Staatskirche und durch einen „materialistischen Materialismus“ (so steht es wörtlich im Buch! ) doch so weit eingeschränkt werden konnte, dass er neun Jahre später nur noch ein Schatten seiner selbst war. Reich kolportiert eine Anekdote, wonach dem landflüchtigen Dalai Lama anlässlich eines Besuchs von Schloss Kronburg die Geschichte Holgers erzählt wurde, worauf er ihn umgehend als Buddha-Inkarnation (bodhisattva) bezeichnete. Wenn er im heutigen Dänemark geweckt werden soll, fordert das Solidarität mit der ganzen Geschichte Dänemarks, unabhängig des religiösen Standpunktes. So kann Holger in „en trossag“ (einer Glaubenssache) fungieren. 104 Noch eine Nachschrift kommt in der dritten Ausgabe 2002 hinzu: Seit 1970 ist der Transport und die Kommunikation über den ganzen Erdball viel schneller geworden, und viele Dänen sehen, nervös und unsicher, das Dänische als Gegensatz zu „andre slags mennesker og verden i det hele taget“ (anderen Arten von Menschen und der Welt überhaupt), aber diese Art von minderwertigen Gefühlen weckt Holger nicht. Der Erzähler behauptet nun, Dänisch in der Bedeutung „pålidelig, ærlig, brav, ligefrem“ (vertrauenswürdig, ehrlich, mutig, ohne Umschweife) sei gewöhnlich zu gebrauchen, bevor Holger geweckt werden kann. Dem entspricht, dass Kløvedal Reichs Grundtvig-Figur in der zwölften Erzählung beim Wiedersehen mit dem starken Holger Danske von Wehmut erfasst wird: For det er i et folks sidste timer, at det bliver nødt til at hente sine helte hjem fra de steder, hvor de har fundet lykken. Du kommer med bud om forgæves slid, ufordragelighed og kamp, selv om du kommer for fredens skyld. 105 Denn es ist in den letzten Stunden eines Volkes, dass es gezwungen wird, seine Helden von den Orten zu holen, wo diese ihr Glück gefunden haben. Du kommst mit der Nachricht vom vergeblichen Streben, Unverträglichkeit und Kampf, selbst wenn du wegen des Friedens kommst. 103 Kløvedal Reich, Holger Danske, S. 114, 115, 117-119. 104 Kløvedal Reich, Holger Danske, S. 124, 126. 105 Kløvedal Reich, Holger Danske, S. 111. Flemming Lundgreen-Nielsen 246 ; Bj In den 1980er und 90er Jahren wurde Holger Danske von dänischen Politikern funktionalisiert, in der Regel um über Dänemark und das Dänentum zu wachen, gegen Bestrebungen, die europäische Zusammenarbeit zu fördern (Gemeinsamer Markt, EG, EU) und gegen eine globalisierte Kultur, 106 auch gegen die friedliche Nutzung der Atomkraft und gegen die Einwanderung von Fremden ließ er sich verwenden. Präzise Hinweise auf sein Leben und seine Taten fehlen in aller Regel: Er signalisiert ein gutes altmodisches Dänentum, das eher eine Gefühlssache ist als ein politisches Faktum und das am stärksten ist, wenn es darum geht, Nein zu sagen. Der Philosoph und Dichter Villy Sørensen (1929-2001) hatte 1982 in einem geistreichen kleinen Buch, Ragnarok, die nordische Mythologie in die gleiche Richtung hin interpretiert, wie Kløvedal Reich Holger interpretierte. Das Glück soll in der Liebe und im Verzicht auf physische Machtausübung gefunden werden. Die Primitivität und Xenophobie der Kriegsgötter Odin, Thor und Tyr gegenüber den Riesen soll durch die heidnischen Friedens- und Liebesgötter Freyr und Freya und (teilweise) durch den Lichtgott Balder samt Odins Ehefrau Frigg gemildert werden, die alle geführt - oder verführt - werden vom schlauen Vermittler Loki, halb Gott, halb Riese, ein lachender professioneller Überlebender und Nicht-Gewaltspolitiker mit keiner anderen Absicht als der eigenen Behaglichkeit. Letzten Endes war es freilich vergeblich, weil Ragnarok, das Ende der Götter, kommen musste, wie es das Eddagedicht Vølvens spådom (Die Weissagung der Seherin) und Snorris Edda es erzählen. Hingegen folgte Sørensen seinen Quellen nicht im Weissagen einer neugeschaffenen reinen Welt, Gimle, nach dem Untergang der alten - sein Buch endet ohne Hoffnung mit einer Zeichnung von Unwetterwolken unter Andeutung einer Pilzform durch den Illustrator Andi Li Jørgensen. Die Interpretation rief das ganze folgende Jahr hindurch eine ausführliche Diskussion zwischen dem Verfasser und verschiedenen Kritikern, vor allem Grundtvigianern hervor, die seine Nachdichtung geistlos und parteipolitisch fanden. Holger Danske behandelte Villy Sørensen erst spät, kurze Zeit vor seinem Tod im Dezember 2001, als seine Kräfte nur noch für ganz kleine Prosastücke reichten. Diese kamen 2002 postum unter dem Titel 55 bagateller (55 Bagatellen) heraus und stellen eine Art geistreichen und wortspielerischen Unterhaltungsjournalismus dar. Holger Danske gehört darin zum Besten. Sein Lebenslauf und seine Eigenschaften werden beschrieben: die lange Zeit im Ausland, seine Unsterblichkeit, seine Fähigkeit, an verschiedenen Orten gleichzeitig aufzutauchen (in den Lokalsagen). Die Zugehörigkeit besonders zu Kronborg bringt ihn mit einem anderen spät und langsam erwachenden Dänen zusammen, mit Hamlet. „Forholder det sig måske ligefrem sådan at jo større helten er, desto længere er han om at vågne“ (Verhält es sich vielleicht so, dass je größer der Held ist, desto später erwacht er), fragt der Erzähler und fügt hinzu, dass Holgers ritterliche Ehrlichkeit in einem modernen Krieg zum Heulen wäre, wo man auf Abstand und in Sicherheit seine Feinde tötet, ohne sie jemals zu sehen. Villy Sørensen bringt auch Hans Christian Andersens Märchen ins Spiel, der schlafende 106 Adriansen, Nationale symboler, II, S. 439-441. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 247 Holger träumt von allem, was im Lande geschieht. Typisch für seine eigene raffinierte Einfachheit erklärt er, dass Holger „altså - man kan vel ikke sige overvågede, men på sin vis holdt et lukket øje med“ (also - man kann wohl nicht sagen überwachte, aber auf seine Weise ein geschlossenes Auge [auf Dänemark] hatte). Wenn Holger, erwacht vom langen Schlaf, eine Zukunft hat, ist es vielleicht für ein neues Leben, das anderes von den Menschen verlangt als die alten heldischen Tugenden. Deshalb meint Villy Sørensen nicht, er käme in seiner alten Gestalt, sondern er würde von seiner ebenso alten Fähigkeit zur Verwandlung Gebrauch machen und überall sein, „uden straks at blive genkendt“ (ohne sofort wieder erkannt zu werden). 107 Villy Sørensens Formulierung setzt Ebbe Kløvedal Reichs Aussage über die „usikkerhedsrelation“ (Unsicherheitsrelation) des Helden fort. Und so sind die Leser von den unsicheren und chronologisch unbestimmten Nachrichten über den Roncevalles- Rächer des 8. Jahrhunderts zu den in gleicher Weise unsicheren Zeichen seiner Bedeutung für die dänische Mentalität im 21. Jahrhundert gekommen. B " In den Volksbüchern wird die Faust-Figur, besonders via Thomas Marlowe und Goethe, als eine allgemeine Chiffre für den Strebenden tradiert, den „plus ultra- Menschen“, im Guten wie im Schlechten. Griseldis und Melusina werden zu Bezeichnungen für psychologische Frauenkategorien, Eulenspiegel wird als Typenname parallel mit Hans Wurst und dem festen Figureninventar italienischer Maskenkomödien gebraucht. In der Volksbuchliteratur, die ins Dänische übesetzt ist, stellt Holger Danske die einzige Figur dar, die eine selbständige Existenz gewinnt und eine Entwicklung bis in die Gegenwart durchläuft. Elisabeth Frenzel erwähnt ihn in ihrem Handbuch Stoffe der Weltliteratur 108 ganz kurz unter dem Lemma Karl der Große, ohne sich jedoch für sein Nachleben in der dänischen Literatur zu interessieren - ein dänisches Pendant zu Frenzel würde viel aus ihm machen. Der ursprüngliche heidnische Kraftprotz, unbeugsam und sich nicht bluffen lassend, europäisch berühmt, trotz allem jedoch nur eine Nebenperson bei den Taten anderer, wird im Takt mit Dänemarks Verlust an historischer Bedeutsamkeit zunehmend zu einer Hauptperson. Er wird in steigendem Maß zum Antihelden, der gegen seinen Willen zur Tat gezwungen wird. Stellt er auch während der dänischen Großmachtzeit ein nationales Ideal dar? Bereits die Königssöhne Uffe und Amlet in Saxos Liber III-IV werden von den Umständen gezwungen, schlafend umherzuwandeln, bis sie zur Tat explodieren - das Volkslied über Niels Ebbesens Mord an Graf Gert 109 und neuere dänische Romane wie Carit Etlars Gøngehøvdingen von 1853 107 Sørensen, Villy: 55 bagateller. Prosatekster. København 2002, S. 24, 25. 108 Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 7., verbesserte und erweiterte Ausgabe. Stuttgart 1988, S. 399. 109 DgF 156. Flemming Lundgreen-Nielsen 248 jedoch wenig kriegerische Helden. In einer ungedruckten Rede in Danske Samfund vom 14. April 1843 bezeichnet Grundtvig es rundheraus als Merkmal des Königreichs Dänemark, dass man hierzulande nur als ein notwendiges Übel in den Kampf zieht, um sein freies, selbständiges Dasein zu verteidigen, aber nicht um die Nachbarn zu beleidigen oder gar zu erobern, jedoch auch ohne deren Unterdrückung zu ertragen. 110 Ein gewisses unkompliziertes Wesen, gepaart mit einem schlichten Ernst und gedämpftem Humor, Vorliebe für den Frieden, Zähigkeit bei Widerwärtigkeiten und standesverwischende Menschlichkeit scheinen bevorzugte nationale Eigenschaften zu sein. Anders verhält es sich mit den Dichtern, die über diesen Typus des dänischen Helden erzählen. Sie sind von Saxo über Grundtvig und Ingemann bis zu Martin A. Hansen oft sehr reflektiert und bewusst, was den Nutzen betrifft, der vom nationalen Heroismus zu erwarten oder nicht zu erwarten ist. Dasselbe trifft auch, obwohl naiver in der Formulierung, auf die Schriftsteller - anonyme oder namentlich bekannte - zu, die Ogier le Danois in das nordische Territorium und in die dänische Sprache überführen, und das zu Literatur machen, was die Romantik später Volksbücher nennen wird und was gleich mehrfach als „folkelig“ (volkstümlich) bezeichnet werden kann: im Volk bekannt, lebendig und produktiv im Volk, damit auch charakteristisch für das Volk. Ein scharfer und trotzdem liebevoller Beobachter des Dänentums wie Grundtvig kann um 1840 behaupten, die Schläfrigkeit sei seit dem Beowulf-Epos leider auch ein erzdänischer Zustand - aber die Sagenhistoriker und die Dichter nennen ihn ja nur, um auf die Bedingungen aufmerksam zu machen, unter denen der Schlaf aufhört und die Realität sich einstellen kann. Der versteckte und schlafende Erlöser eines Reichs und eines Volks ist ein beliebtes literarisches Motiv bis zurück zum Messias-Gedanken des Alten Testaments. Der Erlöser kommt mit Sicherheit, jedoch in welcher Gestalt und wann? Die Ungewissheit der Antwort ist Holger Danskes Lebensbedingung - sie macht in einem tieferen Sinne als dem der Fee Morgana seine Unsterblichkeit aus. Übersetzung: Thomas Seiler 110 Lundgreen-Nielsen, Dansk Identitetshistorie, 3, S. 59-60. (über die Schwedenkriege Frederiks III.) und Martin A. Hansens Lykkelige Kristoffer (Glücklicher Kristoffer) von 1945 (über die Reformationszeit und den siebenjährigen Nordischen Krieg im 16. Jahrhundert) präsentieren ähnliche pflichtbewusste, Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 249 1&& Abb. 1: Holger Danske findet sein Pferd als Lasttier auf dem Marktplatz wieder. Flemming Lundgreen-Nielsen 250 Abb. 2: Holger Danske mit zwei Pferden und einem Feind, den er enthauptet hat. Abb. 3: Die Fee Morgua nimmt Holger Danske in ihr himmlisches Reich auf. Holger Danske - vom Einwanderer zum Nationalhelden 251 : . 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Was Magnús von der Masse seiner Zeitgenossen unterschied, war der Eifer, mit welchem er Handschriften abschrieb. Er war einer der letzten in einer langen Reihe von bibliophilen Isländern, gewöhnlichen Leuten mit nur wenig oder gar keiner Bildung, welche die langen Wintermonate damit verbrachten, unermüdlich Sagatexte abzuschreiben. 3 Von Magnús’ Hand sind die Abschriften von fast zweihundert Sagas erhalten. Den größten Teil fasste er unter dem Namen Fornmannasögur Norðurlanda (Sagas der Vorzeitleute aus dem Norden) zusammen. Davon befindet sich eine ganze, zwanzig Bände zählende und pro Band genau 800 Seiten umfassende Sammlung, mit den Signaturen Lbs 1491-1510 4to, in der Handschriftenabteilung der National- und Universitätsbibliothek Island (Landsbókasafn Íslands-Háskólabókasafn). 1 Dalamenn: Æviskrár 1703-1961, Jón Guðnason, Hrsg. (Reykjavík, 1961-66), II, S. 375; Íslenzkar æviskrár frá landnámstímum til ársloka 1940, Páll Eggert Ólason, Hrsg. (Reykjavík, 1948-76), III, S. 439. 2 Vom Mittelalter bis 1922 wurde der Wert eines Bauernhofs in Island in Hunderten (hh.) ausgedrückt, jedes Hundert entsprach 120 Ellen selbstgesponnenem Lodenstoff (vaðmál). Ein „Haupthof“ (höfuðból) war alles über 60 hh., während kleine Bauernhöfe (kotjarðir) unter 12 Hunderte zählten. 3 Ich behandle die Handschriftenproduktion im Island des 18. und 19. Jahrhunderts in meinem Buch The unwashed children of Eve: The production, dissemination and reception of popular literature in post-Reformation Iceland (London, 1997), bes. Kapitel II, “Social textuality: the lygisaga in context”. Matthew James Driscoll 256 Abb. 1: Magnús Jónsson í Tjaldanesi. Abb. 2: Exemplar der „Fornmannasögur“ in einer Handschrift von Magnús Jónsson, 1888. Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 257 Diese Bände wurden, gemäß den Datierungen auf den Titelseiten, zwischen den Jahren 1880 und 1905 4 geschrieben, und Magnús selbst verkaufte sie an Landsbókasafn im Jahr 1909. 5 Die Bände sind nicht chronologisch geordnet: Der älteste ist Band X, geschrieben 1880, und der jüngste ist der fünfundzwanzig Jahre später geschriebene Band XIII. Abschriften von elf Bänden lassen sich getrennt von dieser Sammlung finden, drei davon in Landsbókasafn, Lbs 1626 4to, 2943 4to and 4940 4to, und (mindestens) neun sind in privatem Besitz: Je einen Band, 6 von Magnús jeweils in den Jahren 1880 und 1904 geschrieben, besitzen Sigurgeir Steingrímsson von Stofnun Árna Magnússonar in Reykjavík und Björn Halldórsson aus Nes í Loðmundarfirði (N-Múl.), und fünf Bände, geschrieben zwischen den Jahren 1911 und 1914, befinden sich in der Bibliothek des vor einigen Jahren verstorbenen Bibliophilen Böðvar Kvaran. Und erst vor einigen Jahren wurde meine Aufmerksamkeit auf eine weitere Handschrift von Magnús gelenkt: Diese wurde 1897 von Magnús geschrieben und seiner Tochter Kristín übergeben, in deren Familienbesitz sie sich seither befindet. Es gibt drei Abschriften der Bände II und III und jeweils zwei Abschriften der Bände IV, V, VII, VIII, XII, XIII und XV. Die späteren Abschriften, jene, die sich in der Bibliothek Böðvar Kvarans befinden, wurden von Magnús geschrieben, nachdem er sie Landsbókasafn verkauft hatte, was möglicherweise erklärt, warum sie nicht immer inhaltlich miteinander übereinstimmen. So z.B. Lbs 1492 und 1626 4to, die beide im Jahr 1883 geschrieben wurden. Beide gelten als Band II der Sammlung und enthalten die selben Sagas, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge, während eine Handschrift, geschrieben im Jahr 1911, aus dem Besitz von Böðvar Kvaran, gemäß der Titelseite auch als Band II ausgewiesen wird, jedoch ganz andere Sagas enthält (bis auf eine lassen sich alle in anderen Bänden der Sammlung finden). Meines Wissens sind es in insgesamt 32 Bände, welche den Titel Fornmannasögur Norðurlanda tragen und über einen Zeitraum von 34 Jahren geschrieben wurden. Vier Bände - ungefähr 3200 Seiten - stammen aus dem Jahr 1883. Die äl- 4 Diese Daten stimmen mit jenen überein, welche in Skrá um handritasöfn Landbókasafnsins, Páll Eggert Ólason et al., Hrsg. (Reykjavík 1918-96), I, S. 536-38, angegeben werden. Es ist jedenfalls denkbar, dass „M.D.X.X.X.X.C.I.X“, das Datum auf der Titelseite von Lbs 1501 4to, 1909 bedeuten soll. Magnús gibt Daten, wohl in Anlehung an gedruckte Bücher, in römischen Ziffern auf seinen Titelseiten an; jene bis 1899 sind alle richtig, jedoch scheint er unsicher gewesen zu sein, wie er 1900 bezeichnen sollte. Er machte zwei Versuche und beide waren falsch und zwar Lbs 1491 4to, welches mit „X.I.X.C.C.I.I.I.“ datiert ist, was als 1903 gelesen werden müsste, und Lbs 1508 4to, auf „X.I.X.C.I.V.-V.“ datiert, was für 1904-05 steht. In den meisten Handschriften, die nach 1900 geschrieben wurden, schrieb Magnús die Jahre jedoch in Worten aus, so soll z.B. Lbs 1502 4to „nítján hundrut ok tvö“ (neunzehnhundertzwei) geschrieben worden sein. Christopher Sanders, Bevers saga (Reykjavík, 2001), S. cxxxi, sagt, Lbs 1501 4to sei „1890 geschrieben“, aber es ist nicht klar, auf welcher Grundlage er zu diesem Schluss kommt. Ich bin eher geneigt „M.D.X.X.X.X.C.I.X“ als 1899 zu lesen, was eigentlich „M.D.C.C.C.X.C.I.X.“ geschrieben ist (Lbs 1493 and 1498 4to). 5 Skrá I, S. 538. 6 Björn Halldórssons Handschrift wurde inzwischen in Landsbókasafn hinterlegt, unter der Signatur Lbs 5230 4to. Matthew James Driscoll 258 testen Bände machen auf der Titelseite geltend, sie seien „skrifaðar eptir gömlum bókum“ (von alten Büchern abgeschrieben), während bei den späteren steht, sie seien „skrifaðar at nýu“ oder „at nýu uppskrifaðar“ (aufs Neue geschrieben, nochmals aufgeschrieben). Daher ist es wahrscheinlich, dass Magnús die meisten Bände oder möglicherweise sogar die ganze Sammlung mehrmals abschrieb. Neben diesen 32 Bänden gibt es weitere Manuskripte in Magnús’ Handschrift, welche zwar ähnliches Textmaterial enthalten, jedoch nicht den Titel Fornmannasögur Norðurlanda tragen. Lbs 4718 4to ist ungebunden und ohne eine Titelseite, könnte jedoch hinsichtlich seiner Größe, des Layouts und seines Umfangs (obwohl nun mehrere Blätter fehlen, waren es ursprünglich 800 Seiten) ohne weiteres ein Band der Fornmannasögur gewesen sein, da sich alle der acht Sagas, die enthalten sind, auch in anderen Teilen der Sammlung finden lassen. Vier weitere Manuskripte in der Handschrift von Magnús befinden sich in der Universitätsbibliothek in Oslo, UB 1156-9 8vo 7 und enthalten insgesamt die Texte von 18 Sagas. Wiederum ist es so, dass keiner der Bände den Titel Fornmannasögur Norðurlanda trägt, jedoch stimmen die Größe des Papiers, das allgemeine Layout und die Art des Inhalts mit den Bänden der Sammlung überein, wobei alle bis auf eine Saga auch in anderen Bänden zu finden sind. Unterschiedlich ist hingegen das Schriftbild, da nur die Verse in Magnús’ charakteristischer, „halbunzialer“ Schrift verfasst sind, was darauf hinweist, dass man diese Bände zu den ältesten Bänden der Fornmannasögur zählen könnte. Dasselbe gilt wahrscheinlich auch für Lbs 4718 4to. Eine weitere Handschrift, auf die ich erst kürzlich aufmerksam gemacht wurde, die schlicht Fornmannasögur genannt wird und nur die Texte von zwei Sagas enthält, ist auf 1874-75 datiert. Sie stammt aus einer Sammlung von 29 Handschriften, die Landsbókasafn 1986 von Magnús Rafnsson á Bakka í Bjarnarfirði erhielt, nachdem sie zuvor im Besitz von Bókasafn Kaldrananeshrepps und davor im Besitz von Lestrarfélag Selstrandar war. Nachdem die Sammlung bei Landsbókasafn hinterlegt wurde, gerieten die Handschriften jedoch in Vergessenheit und wurden erst vor kurzem wieder entdeckt. Mit Sicherheit älter sind die Handschriften ÍB 185 4to, durch Páll Eggert Ólason auf „ca. 1850“ datiert, und Lbs 2461 4to, auf „ca. 1860“. 8 Die ältere der beiden enthält die Texte von drei Sagas, die jüngere eine Saga, wovon sich alle auch in den Bänden der Sammlung der Fornmannasögur wieder finden lassen. Schließlich ist noch Lbs 4691 4to zu erwähnen, welche den Text einer einzigen Saga, jenen der Huldar saga, enthält, der auch in einem anderen Band der Sammlung ausgemacht werden kann. Beide Texte stimmen gänzlich miteinander überein. Die Datierung dieser Handschrift ist schwierig, aber es scheint, dass sie aus Magnús’ reiferer Schaffensperiode, mit Sicherheit jedoch aus der Zeit nach 1880, stammt. Die umfangreiche Textlänge von beinahe 600 Seiten könnte erklären, wieso der Text getrennt von den anderen in Umlauf war. 7 Siehe Jónas Kristjánsson, „Skrá um íslenzk handrit í Noregi“ [Typoskript] (Reykjavík, 1966), S. 126-28. 8 Skrá II, S. 775, und III, S. 321. Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 259 Eine weitere Handschrift, auf die ich erst vor ein paar Jahren aufmerksam gemacht wurde, befindet sich im Besitz von Guðrún Ásta Magnúsdóttir. Sie enthält vier Sagas, welche alle auch in anderen Handschriften vorhanden sind, und weist in Anbetracht der Größe und des Layouts starke Ähnlichkeiten mit den Bänden der Sammlung auf, besteht jedoch nur aus 138 Blättern, von denen die ersten 32 mit den Zahlen 3 - 64 paginiert sind. Einer Notiz auf dem Deckblatt zufolge datiert die Handschrift auf das Jahr 1875. Insgesamt sind es somit 42 Handschriften, von welchen sich sagen lässt, dass sie in der Sammlung der Fornmannasögur Norðurlanda zusammengefasst werden können. Diese Handschriften beinhalten die Texte von 162 unterschiedlichen Sagas. 9 Das Textmaterial selbst, aus welchem die Fornmannasögur Norðurlanda zusammengestellt sind, besteht gemäß den gegenwärtig anerkannten Gattungsmerkmalen aus den folgenden Textsorten: 31 Sagas sind mythisch-heroische Sagas oder fornaldarsögur, d.h. fast die Gesamtanzahl von Sagas, die in der 1829 in Kopenhagen erschienenen Edition von C.C. Rafn sowie in der Volksausgabe von Valdimar Ásmundarson, die darauf basierte, enthalten sind. 10 Magnús kannte diese beiden Ausgaben und bezog nachweislich aus ihnen einige seiner Texte, bisweilen jedoch, wie es scheint, unabsichtlich. 29 Sagas sind originale Ritterromane oder riddarasögur, die in Island während des Mittelalters verfasst wurden. Wiederum können alle bis auf eine der Sagas als typische Vertreter dessen betrachtet werden, was für die Gattung kennzeichnend ist. Die Kriterien dafür sind einerseits inhaltlicher - die Handlung muss außerhalb Skandinaviens spielen - und andererseits materieller Natur - nur jene sind enthalten, die als Pergamenthandschriften heute noch existieren oder von denen man weiß, dass sie einst als solche existierten. 11 9 Diese Anzahl beinhaltet nicht jene Kurzbiographien von antiken griechischen Dichtern und Philosophen, übersetzt oder adaptiert von lateinischen Quellen durch Jón Espólín, welche Magnús als Lückenfüller in drei seiner Handschriften einfügte. 10 Fornaldar Sögur Nordrlanda I-III, Carl Christian Rafn, Hrsg. (Kaupmannahöfn, 1829-30); Fornaldarsögur Norðurlanda I-III, Valdimar Ásmundarson, Hrsg. (Reykjavík, 1885-89); Bd. I wurde 1891 wieder aufgelegt. Für eine Definition des Genres siehe Peter Hallberg, „Some aspects of the fornaldarsögur as a corpus“, Arkiv för nordisk filologi XLVII (1982), S. 1-35; Hermann Pálsson, „Fornaldarsögur“, Dictionary of the Middle Ages, Joseph Reese Strayer, Hrsg. (New York, 1982-89), V, S. 137-43; Stephen A. Mitchell, „Fornaldarsögur“, Medieval Scandinavia. An encyclopedia, Phillip Pulsiano et al., Hrsg. (New York, 1993), S. 206-08. Ich behandle Aspekte der Transmissionsgeschichte der fornaldarsögur in „Fornaldarsögur Norðurlanda: The stories that wouldn’t die“, Fornaldarsagornas struktur och ideologi, Ármann Jakobsson, Annette Lassen & Agneta Ney, Hrsg., Nordiska texter och undersökningar, XXVIII (Uppsala, 2003), S. 257-67. 11 Für eine Definition siehe Marianne E. Kalinke, „Riddarasögur, Indigenous“, Medieval Scandinavia. An encyclopedia, S. 528-31. Die beste Untersuchung zu diesem Textmaterial ist Jürg Glauser, Isländische Märchensagas. Studien zur Prosaliteratur im spätmittelalterlichen Island (Basel/ Frankfurt a.M., 1983). Matthew James Driscoll 260 Neun Sagas sind Übersetzungen kontinentaler höfischer Literatur und ähnlicher Texte, wie etwa die Karlamagnús saga. 12 48 Sagas, mit Abstand die größte eigenständige Gruppe, sind jüngere isländische Prosatexte, welche oft auch lygisögur (Lügensagas), ævintýrasögur (Abenteuersagas) oder ýkjusögur (märchenhafte Sagas) bezeichnet werden - meistens bleiben sie jedoch unbenannt. Auch wenn einige dieser Sagas in den populären gedruckten Ausgaben des 19. Jahrhunderts erschienen, blieb der Großteil bisher unveröffentlicht. 13 Weitere 28 Sagas können als „rekonstruierte“ fornaldarsögur bezeichnet werden, d.h. Werke, welche nach der Reformation auf der Grundlage von älterem Textmaterial, wie z.B. der Edda, anderen fornaldarsögur oder vornehmlich Saxos Gesta Danorum, verfasst wurden. Von Saxo war bekannt, dass er isländische Quellen benutzt hatte. Da diese Quellen jedoch größtenteils nicht erhalten sind, nahmen es einige gelehrte Isländer auf sich, diese nachzubilden, indem sie Saxos lateinischen Text, angereichert durch weitere Materialien, „zurück“ ins Isländische übersetzten. Einige dieser Sagas lassen sich nur in Manuskripten in Magnús’ Hand finden. 14 Auch diese Texte sind bisher weitgehend nicht in gedruckter Form veröffentlicht. 13 Sagas sind Übersetzungen deutscher Volksbücher, welche für gewöhnlich über dänische Mittelsmänner nach Island gelangten. 15 Diese Anzahl schließt zudem Prosaversionen der rímur, metrische höfische Romane, mit ein, welche wiederum direkt auf den Volksbüchern basieren, so z.B. die Pontus rímur von Magnús prúði und Sigurður Breiðfjörðs Rímur af Tístran og Indíönu. 16 12 Siehe Geraldine Barnes, „Riddarasögur, Translated“, Medieval Scandinavia. An encyclopedia, S. 531-33; für eine ausführliche Bibliographie, sowohl der einheimischen wie auch der übersetzten höfischen Literatur siehe P. M. Mitchell, Marianne E. Kalinke, Bibliography of Old Norse-Icelandic romances, Islandica XLIV (Ithaca, N.Y., 1985). 13 Ich behandle dieses Textmaterial und die Haltung ihm gegenüber in „Þögnin mikla: Hugleiðingar um riddarasögur og stöðu þeirra í íslenskum bókmenntum“, Skáldskaparmál I (1990), S. 157-68, und ausführlicher in The unwashed children of Eve, bes. S. 13-33. 14 Siehe Rosemary Power, „Saxo in Iceland“, Gripla VI (1984), S. 241-58. 15 Siehe dazu Hubert Seelow, Die isländischen Übersetzungen der deutschen Volksbücher. Handschriftenstudien zur Rezeption und Überlieferung ausländischer unterhaltender Literatur in Island in der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung (Reykjavík, 1989). 16 Rímur waren nachweisbar das populärste literarische Genre im Island des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, mit über tausend einzelnen Zyklen, die seit dem späten 14. Jahrhundert erhalten sind. Der Hauptteil davon basierte auf Prosaquellen, meist höfischer Literatur. Siehe Shaun F. D. Hughes, „Rímur“, Dictionary of the Middle Ages, Joseph Reese Strayer, Hrsg. (New York, 1982-89), X, S. 401-7, für einen kurzen historischen Abriss über die Gattung und eine umfassende Bibliographie; eine komplette Liste der rímur gibt es in Finnur Sigmundssons Rímnatal (Reykjavík, 1966). Zu den Pontus rímur, die auf der Basis des deutschen Pontus und Sidonia verfasst wurden, siehe Pontus rímur eftir Magnús Jónsson prúða, Pétur Einarsson og síra Ólaf Halldórsson, Hrsg. Grímur M. Helgason, Rit Rímnafélagsins X (Reykjavík, 1961). Sigurður Breiðfjörðs Tístransrímur, herausgegeben in Kopenhagen 1831, basierten auf dem dänischen Volksbuch En tragœdisk Historie om den ædle og tappre Tistrand (Christiania, 1775); siehe dazu die Einleitung zu Tístransrímur (Reykjavík, 1961), S. ix-x. Siehe Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 261 Vier der in der Sammlung eingegliederten Sagas gehören zu einer Gruppe, die man zur damaligen Zeit als ævintýri (Abenteuer, Fabel) bezeichnete. Dies waren literarische Werke der Aufklärung, die hauptsächlich aus dem Dänischen übersetzt wurden und in Island in den Handschriften Seite an Seite mit höfischen Romanen und mythisch-heroischen Sagas in Umlauf waren. Der merkwürdigste Text darunter ist wohl jener, den Magnús „Sagan af Selikó ok Berissu“ nennt. Dieser leitet sich von einer Erzählung von Jean-Pierre Claris de Florian (1755- 94) ab, von welcher eine Übersetzung in Band II von Margvíslegt Gaman og Alvara unter dem Titel „Selikó: Frásaga eptir Florian“ abgedruckt war. 17 Ein weiterer Text, der in diese Gruppe fällt, ist „Sagan af Skanderbeg“, eine Biographie von Georgius Castriotus oder Iskander-Beg (1405-68), dem albanischen Nationalhelden, welche eine Übersetzung eines Kapitels aus Ludvig Holbergs Heltehistorier darstellt. 18 Diese Saga wurde in Island recht populär, und man findet sie etwa in einem Dutzend Handschriften aus dem 19. Jahrhundert sowie in einer großen Anzahl von rímur. 19 Schließlich findet man auch eine einzige Íslendingasaga, falls man sie denn als solche klassifizieren will: „Sagan af Leyfi Eyríkssyni inum ‚heppna‘ ok Grænlendíngum“ (Die Saga von Leifur Eiríksson dem Glücklichen und den Grönländern), von der es zwei Abschriften gibt. Die erste stammt aus dem Jahr 1885 und die zweite von 1902. Eigenartig scheint, dass es nicht mehr von den Familiensagas gibt - wieso fehlt z.B. die Grettis saga, welche oft unter ähnlichem Material zu finden ist? Eine Antwort auf diese Frage könnte dahingehend lauten, dass Magnús die Íslendingasögur getrennt sammelte. Ein weiteres in seiner Handschrift erhaltenes Manuskript, Lbs 1511 4to, wurde zur selben Zeit wie die zwanzig Bände der Fornmannasögur an Landsbókasafn verkauft. Dieses trägt den Titel Íslendíngasögur. þriðja bindi. At nýu ritaðar eptir gömlum & nýum bókum. M.D.C.C.C.L.X.X.X.V.I.I.I. (Isländersagas. Dritter Band. Aufs Neue nach alten & neuen Büchern geschrieben. M.D.C.C.C.L.X.X.X.V.I.I.I.). Es hat dieselbe Größe und das übliche Layout wie die Bände der „Fornmannasögur“ und be- auch M. J. Driscoll, „Arthurian ballads, rímur, chapbooks and folktales“, „The Arthur of the Northmen: The Arthurian legend in the Norse and Rus’ realms“, Marianne Kalinke, Hrsg. (Cardiff, 2011), S. 168-95. 17 Margvíslegt Gaman og Alvara, í Safni Smárita og Qvæda ýmislegra Rithøfunda (Leirárgarðar, 1798/ Beitistaðar, 1818). Es gab auch eine Reihe von rímur von Hallgrímur Jónsson, verfasst 1840 und 1844 in Viðey veröffentlicht: Æfintýrid af Selikó og Berissu tilfallid árid 1727. Snúid úr Frønsku máli á Islendsku af Dr. Hallgrími Scheving. En á Ljódmæli snúid af Hallgrími Jónssyni 1840. Nokkud aukid af Landaskipunarfrædinni, og þeim Fetisku trúarbrøgdum Sudurálfunnar, til frekari upplísingar fyrir fáfródari. Viðeyjarklaustur, 1844. Der Prosatext wurde nachgedruckt als Selikó: Svertingjasaga með myndum, Barnabókasafnið III (Akureyri, 1926). 18 Ludvig Holberg, Adskillige store Heltes og berømmelige Mænds, sær Orientalske og Indianske, sammenlignede Historier og Bedrifter efter Plutarchi Maade (Kiøbenhavn, 1739). 19 Vgl. The unwashed children of Eve, S. 120-24, sowie meinen Artikel „Skanderbeg: an Albanian hero in Icelandic clothing“, Learning and understanding in the Old Norse world: Essays in honour of Margaret Clunies Ross, Hrsg. Judy Quinn, Kate Heslop & Tarrin Wills (Turnhout, 2007), S. 421-46. Matthew James Driscoll 262 inhaltet die Texte von neun Sagas. Wie voraussehbar ist, sind es hauptsächlich die jüngeren und „nachgemachten“ Íslendingasögur, wie z.B. Sagan af Skáld-Helga, welche auf rímur basiert (die wiederum auf einer verschollenen Saga beruhen), und Sagan af Hellismönnum, die im Jahr 1830 von Gísli Konráðsson geschrieben wurde. Aber das Manuskript enthält auch Texte der Fljótsdæla saga, Finnboga saga ramma, Bandamannasaga und Gunnlaugs saga Ormstungu. 20 Da kein anderer Band erhalten ist, ist es unmöglich zu wissen, wie viele Bände einst existierten, man kann jedoch mit einiger Sicherheit von zwei weiteren ausgehen. Falls diese eine ähnliche Anzahl Texte enthielten, so ist mit insgesamt 30 Texten in allen drei Bänden zu rechnen. Im Ganzen sind von Magnús’ Hand die Texte von 171 Sagas überliefert; von 72 davon gibt es nur eine Abschrift in den Handschriften der Sammlung, während 60 Sagas in zwei, 33 in drei und sechs Sagas in vier Abschriften vorliegen. Die Gesamtanzahl von Texten, im Unterschied zu Sagas, beläuft sich auf 315, was in jeder Hinsicht beeindruckend ist. In der Verteilung der Texte lässt sich kein Muster erkennen, sieht man von der Tatsache ab, dass es selten zwei Abschriften aus demselben Jahrzehnt gibt. Insgesamt könnte dies den Eindruck vermitteln, dass es sich um ein ziemlich sonderbares Durcheinander an Textmaterial handelt. In der Tat sind Magnús’ handschriftliche Erzeugnisse jedoch außergewöhnlich homogen, wenn man sie an den Maßstäben des 19. Jahrhunderts misst. So sind z.B. weder rímur von seiner Hand erhalten noch Gedichte in irgendeiner Form, abgesehen von den Versen innerhalb einiger fornaldarsögur. Auch gibt es keine genealogischen Werke (ættartölur), Biographien (ævisögur), Annalen oder ähnliches, von denen es in den übrigen Handschriften des 19. Jahrhunderts in Island nur so wimmelt. Diese Hingabe an eine einzige Gattung - wie formlos und ungenau bestimmt dies nach unserem modernen Gefühl auch scheinen mag - ist recht beachtlich. Sicherlich nicht weniger bemerkenswert ist Magnús’ Entschluss, nach etwa zwei Dritteln seiner Laufbahn als Kopist, in seine Manuskripte zu jeder Saga ein Vorwort zu schreiben. In 20 der insgesamt 32 Bände, die den Titel Fornmannasögur Norðurlanda tragen, findet man solche Vorworte. Der älteste datierte Band mit einem Vorwort stammt aus dem Jahr 1888, diesem folgen jedoch einige ohne Vorwort, während alle Bände, die nach 1894 geschrieben wurden, wieder ein Vorwort enthalten. In diesen diskutiert Magnús typischerweise seine Vorlage, wie und von wem er sie bekommen hat, von wem sie wann und wo geschrieben wurde, und die Eigenschaften des Textes, oft im Vergleich zu anderen Abschriften, die er gesehen hat. Manchmal schreibt er, dass er nie eine weitere Abschrift sah, dass er jedoch „heyrt um hana getið“ (sie erwähnt gehört habe), oder in einigen Fällen, dass ihm als Kind davon erzählt wurde. 21 Er erwähnt es auch, wenn rímur auf der Grundlage der Saga 20 Skrá I, S. 538. 21 In den meisten Fällen war die Erzählerin eine alte Frau. Magnús sagt von einer Saga z.B., „eg heyrði hana sagða af gamalli konu Kristínu frá Ingunnarstöðum, er var ein hin allra fróðasta kona í sögum og rímum og fornri fræði“ (ich hörte sie von einer alten Frau erzählt, Kristína frá Ingunnarstöðum, die eine der allergelehrtesten Frauen in Bezug auf Sagas und rímur und die alten Wissenschaften war); und von einer anderen sagt er: „Þat er víst at einhverstaðar sá Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 263 existieren oder wenn er weiß oder annimmt, dass die Saga auf rímur fußt. Auf der Grundlage dieser Äußerungen spekuliert er auch über das Alter der Sagas, wobei er nicht ganz unbegründet annimmt, dass eine Saga umso älter sein dürfte, je weiter verbreitet sie ist. Die Idee, seine Sagatexte mit solchen einleitenden Informationen zu versehen, kann Magnús nur aus gedruckten Büchern entliehen haben, vermutlich aus den wissenschaftlichen Editionen, die im frühen 19. Jahrhundert in Kopenhagen publiziert wurden, wobei es sich wohl, wie oben erwähnt, um die in zwölf Bänden zwischen den Jahren 1825 und 1837 erschienenen Fornmannasögur 22 und um Rafns Fornaldar Sögur Nordrlanda handelt. Ich gehe davon aus, dass diese beiden Publikationen Magnús zur Wahl seines Titels inspirierten. Magnús nummerierte seine Seiten (in diesem Teil der Handschriften) sogar mit kleingeschriebenen römischen Ziffern im Stil der gedruckten Ausgaben. Doch während die Nummerierung wohl durch die wissenschaftlichen Editionen angeregt wurde, bilden Magnús’ Vorworte eine Welt ab, die sich deutlich von jener der Textwissenschaft unterscheidet. Die Vorworte liefern eine Fülle an Informationen über das Netzwerk der isländischen Kopisten des 19. Jahrhunderts, und sie sind nicht zuletzt deshalb so spannend und lesenswert, weil die Strukturen und Mechanismen der Transmission von Handschriften, welche Magnús in seinen Vorworten darstellt, im Wesentlichen dieselben waren wie in den fünf davorliegenden Jahrhunderten. Was beim Lesen der Vorworte wohl als Erstes auffällt, ist Magnús’ Terminologie. Zum Beispiel benutzt er „handrit“, das im modernen Isländisch gebräuchliche Wort für Manuskript, sehr selten. Meist zieht er diesem „bók“ (Buch) oder „sögubók“ (Saga-Buch) vor. Ein anderer Ausdruck, der sich häufig finden lässt, ist „skræða“, eine liebevoll abfällige Bezeichnung für ein altes, verschlissenes Buch, den Magnús oft zur Bildung von Komposita mit „bók“ oder „saga“ benutzt: „söguskræða“, „bókarskræða“ oder sogar „sögubókarskræða“. Der Unterschied zwischen „bók“ und „skræða“ hängt vom Zustand der Handschrift ab: „Bók“ hat eine gewisse strukturelle ek eða las sögu þessa þegar ek var úngr, eða heyrði hana sagða af móður minni - sem kunni ok mundi mikit af sögum ok æfintýrum - eða einhverjum öðrum, því at ek kannaðist vel við efni hennar.“ (Es ist sicher, dass ich diese Saga irgendwo sah oder las, als ich jung war, oder über sie von meiner Mutter erzählen hörte - welche viele Sagas und Märchen kannte und sich [an sie] erinnerte - oder von irgendjemand anderem, denn ich erinnerte mich gut an ihren Stoff.) Sein Kommentar zur Remundar saga ist besonders interessant: „Opt hefi ek heirt Remundarsögu getið, ok mun hón hafa verið til allvíða, því gamlir menn konur ok karlar kunnu hana, ok var ek af því búinn at nema efni ok atburði sögunnar eins vel áðr ok síðan er ek sá hana ritaða.“ (Oft hatte ich die Remundar saga erwähnt gehört, und sie dürfte ziemlich weit verbreitet gewesen sein, denn alte Menschen, Frauen und Männer, kannten sie, und ich hatte deshalb den Stoff und die Begebenheiten der Saga vorher schon so gut gelernt, wie danach, als ich sie geschrieben sah.) Es gibt nicht viele direkte Belege für mündliches Erzählen der Sagas zu irgendeiner Zeit, auch wenn diese Tätigkeit als eine notwendige Bedingung für die Entwicklung des Sagaschreibens im 12. und 13. Jahrhundert vorausgesetzt wurde; von diesen Aussagen her ist aber klar, dass diese Tätigkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Island noch sehr lebendig war. 22 Fornmanna Sögur, eptir gömlum handritum útgefnar að tilhlutun Hins Konungliga Norræna Fornfræða Félags (Kaupmannahöfn, 1825-37). Matthew James Driscoll 264 Einheit, eine „skræða“ hat wiederum keine. So sagt Magnús z.B. über eines seiner Exemplare: „Bókin var þá skræða orðin spjaldalaus ok æði rotin“ (das Buch war dann eine skræða geworden, ohne Umschlag/ Bindung und sehr zerfleddert). Magnús spricht manchmal auch von „blöð“ (Blättern) oder „skræða í blöðum“, was vermutlich das nächste Stadium des Zerfalls ist. Die Terminologie für das Verhältnis Mensch-Handschrift ist auch bemerkenswert. So gibt es z.B. auf der einen Seite die Besitzer von Handschriften und auf der anderen Seite jene, die sie für einen gewissen Zeitraum in ihrer Obhut haben - „milli/ meðal handa“ oder „undir/ með höndum“. Das folgende Beispiel aus dem Vorwort zur 1900 geschriebenen Sagan af Fástus og Ermenu in Lbs 1505 4to stellt dies typisch dar: Söguna skrifaði ek úngr at aldri á Stað á Reykjanesi mik minnir at sú bók er ek skrifaði hana eptir væri ór Skáleyum eign Péturs bónda Steinssonar, ok sagt at prófastr Ólafr Sívertssen hafi skrifað hana, þar á vóru fleyri sögr. Þórðr bóndi Eyólfsson á Hamarlandi hafði bókina með höndum er ek feck hana. Die Saga schrieb ich in jungen Jahren in Staður á Reykjanesi; soweit ich mich erinnern kann, kam die Handschrift damals aus Skáleyjar und war im Besitz von Pétur Steinsson, und es wurde erzählt, dass der Probst Ólafur Sívertssen sie geschrieben habe; sie enthielt weitere Sagas. Þórður Eyjólfsson auf Hamarland hatte sie in seiner Obhut, als ich sie bekam. Auch die Geographie ist wichtig, da immer gesagt wird, woher eine Handschrift stammt, was oft folgendermaßen wiedergegeben wird: Eine Handschrift wird z.B. von Magnús „Rauðseyjabókin“ genannt, da sie im Besitz eines Mannes war, der auf den Inseln Rauðseyjar im Breiðafjörður lebte. Eine andere wird „Sellátra“ genannt, da sie einer alten Frau gehörte, die ursprünglich aus Sellátrar in Tálknafjörður stammte. Diese Form der Namensgebung hat in Island große Tradition; man denke dabei nur an die Namen, welche Árni Magnússon vieler seiner Handschriften gab, so z.B. „Reykjabók“, „Kálfarlækjarbók“ usw. 23 Wie Magnús im obenzitierten Vorwort und an vielen weiteren Stellen sagt, fing er „úngr at aldri“ (in jungen Jahren) an, Sagas abzuschreiben. Im Vorwort zu Huldar saga in Lbs 1501 4to, erklärt Magnús, wie sich sein Interesse zu entwickeln begann: Síðan á úngdóms árum mínum hefi ek haft löngun til at lesa sögr, ok þ egar ek var kominn til fullorðins ára, fór ek at safna saman sögum, fyrst Íslendinga sögum, ok eigi ateins þ eim heldr öllum riddarasögum sem ek gat náð til ok fengið, ok síðan fór ek at skrifa þær upp […]. Þegar ek var smali á Stað á Reykjanesi um fermíngar aldr var þar vinnu maðr er Teitr hét bróðir Ólafs Teitssonar bónda í Sviðnum á Breiðafirði, hann var fróðleiksmaðr hann átti skræðu af Huldar sögu, ásamt fleyri sögum; ek var opt at reina at lesa þessa skræðu en geck þat illa því hón var rotin ok máð, & slæm skriptin. Þá hafði ek litla hugmynd um gildi gamalla bóka. 23 Für eine Liste solcher Handschriftennamen siehe Katalog over Den arnamagnæanske Håndskriftsamling, [Kr. Kålund, Hrsg.] (København, 1888-94), II, S. 746-47. Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 265 Seit meiner Jugend verspürte ich den Wunsch, Sagas zu lesen, und als ich erwachsen war, begann ich damit, sie zu sammeln. Zuerst die Isländersagas, doch nicht nur diese, auch alle Rittersagas, die ich bekommen konnte. Später begann ich sie abzuschreiben […]. Als ich ungefähr im Konfirmationsalter Schäferjunge auf Staður á Reykjanesi war, lebte ein Knecht dort, der Teitur hieß und der Bruder von Ólafur Teitsson, dem Bauern auf Sviðnur im Breiðafjörður war; er war ein belesener Mann. Er besaß eine Handschrift, welche die Huldar saga und weitere Sagas enthielt. Ich versuchte oft, diese Handschrift zu lesen, jedoch mit wenig Erfolg, da sie zerfleddert und verschlissen und die Schrift mangelhaft war. Damals hatte ich wenig Ahnung vom Wert alter Bücher. Magnús scheint jedoch nicht sehr lange gebraucht zu haben, um seine Wertschätzung für „gildi gamalla bóka“ (den Wert alter Bücher) zu entwickeln, und auch wenn seine Aussage, er habe erst mit dem Abschreiben von Handschriften begonnen, als er „kominn til fullorðins ára“ (ins Erwachsenenalter gekommen) war, die Vorstellung erwecken könnte, dass nach seinem ersten Kontakt etliche Jahre vergingen, so geht aus anderen Vorworten deutlich hervor, dass er gleich mit dem Abschreiben anfing. Im Vorwort zur Hálfdánar saga Brönufóstra in Lbs 1510 4to sagt er z.B., dass diese Saga eine von mehreren sei, welche er abschrieb, als er „únglíngr um kristni“ (ein Junge im Konfirmationsalter) war. Die Umstände, unter denen er das tat, beschreibt er an mehreren Stellen. Im Vorwort zur Völsunga saga in Lbs 1502 4to sagt er z.B.: Sögu þ essa skrifaði ek únglíngr er ek var í Ögri eina vorvertíð sextán ára gamall eptir sögubók er Sigurðr Þorsteinsson í Bæjum á Snæfjallaströnd átti, þat var allmikil bók með gamalli skript, er ek þá átti erfitt með at lesa, ok sjálfsagt hefi ek þá skrifað mörg orð ok setningar ranglega, er ek síðan hefi lagfært eptir þeirri prentuðu, sem er í Fornaldar sögum norðrlanda, því ek man þat at sögunum bar allmikit á milli. Diese Saga schrieb ich als Bursche, als ich im Frühling draußen vor Ögur fischte, mit sechzehn Jahren, aus einem Buch ab, welches im Besitz von Sigurður Þorsteinsson von Bæir á Snæfjallaströnd war. Es war ein ziemlich großes Buch und in einer alten Schrift geschrieben, welche ich zu dieser Zeit nur mühsam lesen konnte, und so schrieb ich natürlich viele Wörter und Sätze falsch ab, welche ich unterdessen anhand der gedruckten [Fassung], die in Fornaldar Sögur Nordrlanda ist, korrigierte, da ich mich erinnere, dass ein beachtlicher Unterschied zwischen den beiden bestand. Vermutlich war das im Frühling 1852. Magnús fischte auch draußen vor Vigur, einem Ort, den er immer wieder in Bezug auf Handschriften erwähnt, die er gelesen oder abgeschrieben hat. 24 Gemäß dem Vorwort zur Sigurðar saga turnara schrieb 24 Die Insel Vigur im Ísafjörður spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte der Transmission populärer Handschriften in Island. Sie war der Wohnort von Magnús’ Namensvetter und Vorgänger, Magnús Jónsson í Vigur (1637-1702), genannt hinn digri, der ein leidenschaftliches Interesse an Literatur hatte und im Verlauf seines Lebens eine riesige Sammlung von Handschriften aller Art aufbaute. Jón Helgason, Kvæðabók úr Vigur (Kaupmannahöfn, 1955), 1B „Inngangur“, S. 7-14, vermerkt 20 Handschriften, die entweder von Magnús oder auf sein Geheiß geschrieben worden waren und etwa nochmals so viele, die von den Kopisten, die hauptsächlich für ihn abschrieben, hergestellt wurden und an denen er daher auch hätte be- Matthew James Driscoll 266 Magnús diese Saga zum ersten Mal im Februar 1854 ab, „er ek var við sjóróðra í Vigr á Ísafjarðar djúpi“ (als ich draußen vor Vigur vor Ísafjörður fischte). Auch die Addoníus saga wurde zuerst in Vigur abgeschrieben „í ágætri sögubók er var eign húsfrú Önnu Ebernezersdóttr […]; þar skrifaði ek Addoníus sögu ok fleyri þá er ek hafði tómstund til, - ek var þar við sjóróðra“ (von einem ausgezeichneten Sagabuch, im Besitz von Anna Ebernezersdóttir, der Frau des Hauses, […]; dort schrieb ich in meiner Freizeit die Addoníus Saga und andere ab - ich war dort zum Fischen). 25 Keine dieser frühen, von Magnús erwähnten Abschriften hat überlebt, möglicherweise mit einer Ausnahme: Im Vorwort zur Ásmundar saga víkings sagt Magnús, dass er die Saga zuerst „litlu eptir átján hundrut fimtýgi […] er ek var við sjóróðra við Steingrímsf(jörð)“ (kurz nach 1850 […] als ich im Steingrímsfjörður fischte) abschrieb. Es kann sehr wohl sein, dass es sich hier um ÍB 185 4to handelt, eine Handschrift, die durch Magnús’ Hand auf ca. 1850 datiert ist und eine Abschrift der Saga enthält. Aus Magnús’ Vorworten geht deutlich hervor, dass er die meisten Sagas der Sammlung schon mehrere Male zuvor abgeschrieben hatte. Die Vorworte fangen häufig mit Sätzen wie „þessa sögu skrifaði ek í fyrstu…“ (diese Saga schrieb ich zuerst… ab) an. Bisweilen verweist er gezielter auf andere Abschriften. In einem Vorwort zur Þorkels saga aðalfara, einer Abschrift aus dem Jahr 1888, sagt er: Þessi saga þykir svo skemtileg at margir vilja hana eiga; hefi eg skrifað hana mörgum sinnum fyrir ýmsa hér á vestrlandi, tvær Þorkelssögur hafa farið á suðrland, og ein á norðrland. Diese Saga gilt als so kurzweilig, dass viele Leute sie haben wollen; ich schrieb sie viele Male für diverse Leute hier im Westen ab; zwei Þorkels Sagas wurden an Leute im Süden und eine in den Norden versandt. teiligt sein können. Ein großer Teil dieser Handschriften ist nun in der British Library, die sie durch Sir Joseph Banks in den Jahren 1773-77 ankaufte. Der isländische Wissenschaftler Jón Johnsonius (1749-1826), von 1779 bis 1797 Stipendiat der Arnamagnaeanischen Kommission, dessen Übersetzung der Njáls saga ins Lateinische von der Kommission 1809 veröffentlicht wurde, lebte nach seiner Rückkehr nach Island auch auf Vigur. 25 Die Tatsache, dass Sagas und rímur an den Fischereiorten oder verstöðvar abgeschrieben wurden, wo Männer - vor allem Knechte - sich jedes Jahr zu Beginn des Frühlings zum Fischen einfanden, ist bekannt, wurde bisher jedoch nicht gründlich untersucht; vgl. Jón Jóhannesson, Íslendinga saga (Reykjavík, 1956-68), II, S. 197: „Í verstöðvunum þurftu menn ýmislegt sér til skemmtunar og dægrastyttingar í landlegum, og það er margt, sem bendir til þess, að verstöðvarnar hafi verið gróðrarstíur sumra bókmenntagreina á þeirri tíð, eins og lygisagna og rímna. Eitt er víst, að mikill fjöldi handrita rímna og sagna er skrifaður í verstöðvum eða í nánd við verstöðvar, en það er efni, sem enginn hefur enn rannsakað.“ (An den Fischereiorten brauchten die Männer Verschiedenes zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib, während sie an Land waren, und es gibt vieles, was darauf hindeutet, dass die Fischereiorte zu jener Zeit Nährboden mancher Literaturgattungen wie Lügensagas und rímur waren. Es ist klar, dass eine Vielzahl Handschriften von Sagas und rímur an Fischereiorten oder in der Nähe von Fischereiorten geschrieben wurde, dies ist jedoch ein Thema, welches bisher noch nicht untersucht wurde). Es gibt eine kurze Abhandlung über die literarischen Aktivitäten in den verstöðvar im Kapitel „Landlegur“ in Lúðvík Kristjánssons Íslenzkir sjávarhættir (Reykjavík, 1980-86), IV, S. 195-282; siehe besonders den Abschnitt „Ritstörf“, S. 238-55. Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 267 Keine dieser frühen Abschriften hat überdauert, aber es gibt zwei andere Abschriften dieser Saga aus der Hand von Magnús, welche beide später als die oben genannte geschrieben wurden. Seltsamerweise sind genau diese drei Handschriften die einzigen noch vorhandenen dieser Saga. Mindestens ein Dutzend weitere Sagas lassen sich ausschließlich in Handschriften von Magnús finden, während es bei einigen anderen so ist, dass die einzigen Handschriften höchstwahrscheinlich Abschriften von jenen von Magnús sind. Gleich, welche Auffassung man vom Wert dieses Textmaterials haben mag, die Schlussfolgerung ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein großer Teil davon nicht mehr existieren würde, wäre da nicht Magnús í Tjaldanesi gewesen. Woher aber hatte Magnús seine Texte? In den meisten Fällen lieh er sie von Leuten aus, welche ihm ähnlich waren: durchschnittliche, ungebildete Bauern, die „den Wert alter Bücher“ schätzten. Durch die Vorworte kann man sich ein ziemlich klares Bild über das Netzwerk der Kopisten machen, welches sich über das ganze Land erstreckte. Weit über hundert Personen werden da genannt, der größere Teil davon selbst bekannte Kopisten, die Magnús mit Handschriften belieferten. In ständigem Kontakt stand Magnús z.B. mit Guðbrandur Sturlaugsson á Hvítadal (1820-97), 26 der in 21 Vorworten genannt wird. Hvítidalur liegt nicht weit von Tjaldanes, nur etwa acht Kilometer entfernt, und Guðbrandur, ein etwas älterer Zeitgenosse von Magnús, teilte mit ihm seine Begeisterung für Sagahandschriften. Mindestens 17 Manuskripte aus der Hand von Guðbrandur sind erhalten, fünf davon in Landsbókasafn, fünf besitzt Jón Samsonarson von Stofnun Árna Magnússonar, vier sind in der Sammlung von Böðvar Kvaran (einem Urenkel von Guðbrandur), weitere drei tauchten erst vor einigen Jahren in Schweden auf und sind in Árnastofnun hinterlegt; alle enthalten Textmaterial, das dem in der Sammlung von Magnús vergleichbar ist. 27 Viele von Magnús’ Texten kamen von oder durch Guðbrandur zu ihm, wo Guðbrandur es bewerkstelligte, an Handschriften zu gelangen, welche sie dann beide abschrieben. Sätze wie „skrifaði ek hana, ok Guðbrandr á Hvítadal aðra“ (Ich fertigte eine Abschrift der Saga an und Guðbrandur á Hvítadal eine weitere) sind gang und gäbe. Eine Quelle für mindestens sieben von Magnús’ Texten war eine Handschrift aus dem Besitz von Guðbrandur, welche er von seinem Vater, Sturlaugur Einarsson von Rauðseyjar in Breiðafjörður (ca. 1795-1871), bekam und auf welche Magnús, wie oben erwähnt, manchmal als „Rauðseyabókin“ (das Buch von Rauðseyjar) oder „stóra bókin ór Rauðseyum“ (das große Buch von Rauðseyjar) verweist. Magnús beschreibt die Handschrift an einer Stelle als „sú stærzta sögubók er ek hefi set“ (das größte Sagabuch, welches ich gesehen habe) und an einer anderen als „afar mikil bók í arkarbroti með fjöldamörgum sögum“ (ein sehr großes Buch im Folioformat, das eine große Anzahl Sagas beinhaltet); alles daraus, so sagt er, habe er abgeschrieben. 26 Dalamenn II, S. 454. 27 Diese Handschriften haben dort die Signaturen SÁM 46, SÁM 73 und SÁM 74. Matthew James Driscoll 268 Interessanterweise finden sich in den Vorworten Anzeichen dafür, dass es eine gewisse Rivalität zwischen den beiden Männern gab, trotz - oder gerade wegen - ihres gemeinsamen Interesses. Im schon an anderer Stelle erwähnten Vorwort zur Huldar saga schreibt Magnús z.B.: Mörgum árum síðar, sagðist Guðbrandr á Hvítadal hafa fengit ór norðrlandi þat sem vantaði í Huldarsögu, mik minnir frá Skagaströnd, en ek efast um at þat muni rétt vera, en hvort sem um þat er, þá var auðsét at þat var samansett á seinni tímum, ok ef til vill af Guðbrandi sjálfum, þó at hann vildi ecki viðrkenna þat við mik. Viele Jahre später sagte Guðbrandur á Hvítadal, dass er jenen Teil der Huldar Saga aus dem Norden bekommen hatte, der noch fehlte, von Skagaströnd, wenn ich mich richtig erinnere, aber ich zweifle daran, dass dies stimmt, aber ob es wahr ist oder nicht, es war jedenfalls offensichtlich, dass er [der Text] erst kürzlich kompiliert wurde, und vielleicht sogar durch Guðbrandur selber, auch wenn er dies mir gegenüber nicht eingestehen wollte. Eine weitere Person, die häufig in den Vorworten genannt wird und zu der Magnús scheinbar eine besondere Beziehung hatte, ist Gísli Hjaltason (1830-1911), der in Búðardalur an Skarðsströnd, etwa 16 Kilometer von Tjaldanes entfernt, lebte. Magnús’ Anmerkungen weisen nicht darauf hin, dass Gísli selbst Handschriften abschrieb, obwohl etliche aus seiner Hand in der Sammlung von Karl Jónsson aus Purkey erhalten sind, 28 aber er scheint ein großer Leser und Sammler gewesen zu sein, und Magnús’ Verpflichtungen ihm gegenüber liegen durchweg auf der Hand. So schreibt Magnús z.B. im Vorwort zur Hinriks saga góðgjarna in Lbs 1508 4to: „Gísli Hjaltason í Búðardal náði í þ essa bókarskræðu fyrir mik, sem hann hefr gert með margar fleyri“ (Gísli Hjaltason í Búðardal besorgte diese Handschrift für mich, wie er es schon oft getan hat). In einem Vorwort erwähnt Magnús drei Sagatexte, die er von Gísli bekam, und fügt an: „hann hefr verit mér mestr styrktar maðr at afla mér sögr ok æfintýri til afskriptar“ (Er ist mir eine große Hilfe gewesen, indem er für mich Sagas und Erzählungen zum Abschreiben besorgte). Die enge Beziehung der beiden Männer lässt sich vielleicht am besten durch ein Vorwort wiedergeben, welches weiter unten in voller Länge zitiert wird. Darin bezeichnet ihn Magnús als „Gísli minn Hjaltason“. Man kommt nich umhin, ein Gefühl von Traurigkeit zu empfinden, wenn Magnús ihn in denVorworten seiner jüngsten Handschriften als „heitinn“ (verstorben) bezeichnet. Magnús erwähnt auch häufig Gísli Konráðsson (1787-1877), 29 ein Dichter, Kopist und Laienhistoriker, der die letzten 25 Jahre seines Lebens auf der Insel Flatey verbrachte, welche etwa 45 Kilometer westlich von Tjaldanes liegt. Magnús scheint 28 Einar Gunnar Pétursson, „Handrit úr Purkey“, Typoskript-Katalog hinterlegt bei Stofnun Árna Magnússonar. Die einzigen Verweise auf Gísli Hjaltason in Skrá sind auf Lbs 3631 4to, eine Miszellaneen-Handschrift, die einen von ihm geschriebenen Brief enthält, und ÍB 548 8vo, eine Abschrift von Gísli Konráðssons Hellismanna saga, welche er besaß. 29 Íslenzkar æviskrár II, S. 66-67. Gíslis Autobiographie, mit einem Vorwort und einem Anhang von Sighvatur Grímsson Borgfirðingur, herausgegeben als Æfisaga Gísla Konráðssonar ens fróða skrásett af sjálfum honum (Reykjavík, 1911-14). Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 269 Gísli gut gekannt zu haben, wie von seinen Aussagen her abgeleitet werden kann: „Sagði hann mér frá mörgu um fornar sögr“ (er erzählte mir viel über die alten Sagas). Und viele seiner Texte stammen aus Gíslis Handschriften. Magnús sagt über seine Abschrift der Trójumanna saga, dass er sie aus einem Manuskript abgeschrieben habe, das in der Hand Gísli Konráðssons sei und welches ihm Gíslis Sohn Indriði (1822-98) gegeben habe. Die meisten von Magnús’ Exemplaren kamen jedoch von weiter her, und es gibt viele Beschreibungen davon, welch weite Strecken er zurücklegte, um eine Handschrift aufzutreiben. Das folgende Beispiel stammt aus dem Vorwort zur Rígabals saga in Lbs 4940 4to: Þessa sögu skrifaði ek úngr á Stað á Reykjanesi eptir söguskræðu sem Kristján Einarsson á Grónesi útvegaði mér, en fóstrfaðir hans Ólafr Guðmundsson á Grónesi mun hafa átt hana. Síðan glataði ek sögu þeirri sem ek skrifaði, ok gat hvergi fengit hana aptr hvar sem ek rýndi eptir, mér var sagt hón væri til í þ essum ok hinum stað, en þegar ek lagði drög til at fá hana þá var hón ecki til eða glötuð, sama var um Grónes skræðuna þegar ek reyndi at fá hana aptr, þá var hón hvergi til, ok víst undir lok liðin fyrir löngu. Loks gat Guðbrandr á Hvítadal fengit hana átján hundrut áttatýgi ok nýu hjá Sigurði Árnasyni í Kirkjuhvammi eða fyrir Sigurðar milligöngu norðan úr Fljótum at hann sagði, og svo feck ek hana hjá Guðbrandi. Als ich jung war, schrieb ich diese Saga in Staður in Reykjanes aus einer alten Handschrift ab, welche Kristján Einarsson aus Grónes [Barðarstrandarsýsla] mir brachte, und sie wird seinem Pflegevater, Ólafur Guðmundsson aus Grónes, gehört haben. Später verlor ich die Saga, die ich damals anfertigte, und es war für mich unmöglich, irgendwo wieder eine Abschrift aufzutreiben, egal wo ich suchte; man sagte mir, dass es an diesem oder jenem Ort noch eine Abschrift gebe, aber wenn ich sie zu bekommen versuchte, war sie entweder nicht vorhanden oder gar verschollen, und dasselbe galt für die Grónes-Handschrift; als ich versuchte, sie wieder zu bekommen, konnte sie nirgends gefunden werden, und es war offensichtlich, dass sie vor langer Zeit verloren gegangen war. Schlussendlich war es Guðbrandur á Hvítadal möglich, im Jahr 1889 eine Abschrift von Sigurður Árnason aus Kirkjuhvammur [Húnavatnssýsla] oder eher durch dessen Vermittlung aus dem Norden in Fljót [Skagafjörður], wie er sagte, aufzutreiben, und ich lieh sie mir dann von Guðbrandur. Einige von Magnús’ Texten sind Prosaversionen von rímur, was im 18. und 19. Jahrhundert sehr üblich war. 30 Manchmal wusste Magnús, dass dies der Fall war. Sagan af Tístran og Indíönu z.B., von welcher vier Abschriften aus Magnús’ Hand existieren, basiert auf den rímur von Sigurður Breiðfjörð. Magnús sagt im Vorwort zu einer seiner Abschriften, diese Saga sei „alls ólík hinni gömlu Tistrams sögu, eða öllu heldr önnr saga, ok mun sjálfsagt vera samsett eftir rímunum“ (ganz anders als die alte Tristrams Saga, ja vielmehr eine völlig verschiedene Saga, und ist zweifellos aus den rímur zusammengesetzt). In anderen Fällen scheint er es nicht zu wissen. In seinem 30 Siehe dazu Peter A. Jorgensen, „The neglected genre of rímur-derived prose and post-Reformation Jónatas saga“, Gripla VII (1990), S. 187-201. Matthew James Driscoll 270 Vorwort zur Bernótus saga Borneyjakappa z.B. sagt Magnús, dass die Handschrift, aus der er die Saga abschrieb, wohl dieselbe sei, welche Magnús Jónsson á Laugum (1763-1840) benutzte, als dieser seine Rímur af Bernótusi dichtete. In Wirklichkeit war es aber genau umgekehrt, d. h. der Prosatext wurde von den rímur abgeleitet. 31 Dieselbe Behauptung stellt Magnús hinsichtlich der Sagan af Gríshildi drottningu hinni þ olinmóðu auf - die letztendlich auf Boccaccio zurückzuführen ist - d.h., dass die Handschrift, aus der er abschrieb, womöglich auch als Grundlage für die rímur seines Namensvetters aus Laugar diente. Die Vorlage für beide war eine Handschrift aus dem Besitz von séra Þorleifur Jónsson í Hvammi; dieselbe Handschrift lieferte Magnús auch einen Text der Sagan af Gesti og Gnatus, von der es auch rímur von Magnús á Laugum gibt. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass diese drei Prosatexte auf rímur fußen. In einigen Fällen scheint es so, dass Magnús selbst die rímur in Prosa umgeformt hat. Allerdings gibt er dies nur einmal, im Vorwort zu seiner Saga af Arnljóti Upplendingakappa, zu, in dem er sagt, dass der Text auf den rímur von Snorri Björnsson (1710-1803) basiere: „Rímur af Arnljóti eru flestum kunnugar, en sagan mun óvíða vera til, ok ek hef hvergi getað spurt hana upp, ok þó mikit reynt til þess. Saga sú sem hér er skrifut er því sett saman eptir rímunum“ (Die Rímur af Arnljóti sind den meisten bekannt, aber die Saga ist nicht sehr verbreitet, und es war mir trotz großen Anstrengungen nicht möglich, eine Abschrift zu finden. Die hier niedergeschriebene Saga wurde deshalb auf der Grundlage der rímur zusammengesetzt). In anderen Fällen ist die Beziehung zwischen Prosatexten und jenen, die sich von rímur ableiten, weitaus komplizierter, wie im Vorwort zu Sagan af Flóres og Leó ersichtlich ist: Þessa sögu feck Guðbrandr á Hvítadal norðan ór Trékyllisvík, mun hafa verit skrifut af Lopti á Kambi en þetta var skræða í blöðum, ok vantaði í hana þrjú blöð, ok víða annarstaðar heil og hálf orð utan á spásíum ok neðan af blöðum, handrit þetta var því at nockru leiti ónýtt ok ófullkomit, ok þó skrifuðum vit Guðbrandr þat upp svo vel sem vit gátum, ok vit þat sat svo mörg ár, því söguna var ecki at fá annarstaðar; ok hvergi hefi ek frétt til hennar, spurðist ek þó fyrir um þat allvíða. Ek vissi at rímr af Flóres ok Leó höfðu verit til - eptir þá séra Hallgrím Pétursson ok Bjarna Jónsson - ok geck þó ecki vel at fá þær, þar til Gísli minn Hjaltason í Búðardal gat komist yfir þær í suðreyum Breiðafjarðar, ek man ecki hjá hverjum; ek réðist þá í þat at fylla upp söguna eptir rímunum, ok ecki einúngis þat heldr er öll sagan lögut at orðfæri, því þar var yfirmáta óviðkunnanlegt á sögu skræðunni, en hvernin mér hefr tekist þ at skal ek ecki tala um, þat geta orðit eins margir dómar um þat, eins og þeir verða margir sem söguna lesa. Guðbrandur á Hvítadal konnte [eine Handschrift] diese[r] Saga in Trékyllisvík im Norden auftreiben, wahrscheinlich eine Abschrift von Loptur [Jóhannsson] á Kambi. Sie war ungebunden und drei Blätter fehlten, und an vielen Stellen fehlten ganze und halbe Wörter an den Seitenrändern und den Unterkanten der Blätter. Aus diesem Grund war die Handschrift in einem gewissen Ausmaß mangelhaft, doch Guðbrandur und ich schrieben sie ab, so gut es ging, und so lagen die Dinge jahrelang, da sich sonst 31 Siehe The unwashed children of Eve, S. 63-64 und S. 136-39. Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 271 keine andere Abschrift finden ließ, obwohl ich an vielen Orten danach gefragt hatte. Ich wusste, dass es einst rímur von Flóres und Leó gab - von séra Hallgrímur Pétursson und Bjarni Jónsson - aber ich konnte keine Abschrift davon bekommen, bis es mein [Freund] Gísli Hjaltason í Búðardal zustande brachte, eine Abschrift von den Inseln im südlichen Breiðafjörður aufzutreiben; ich erinnere mich nicht mehr, von wem. Ich begann dann damit, die fehlenden Teile der Saga durch die rímur auszufüllen, doch tat ich nicht nur dies, sondern überarbeitete eigentlich die ganze Saga stilistisch, da sie in der Handschrift äußerst schlecht war; wie erfolgreich ich damit war, will ich nicht beurteilen; dazu gibt es gleich viele Urteile wie Leser der Saga. Manchmal benutzt Magnús auch gedruckte Bücher als Quellen. Eine ganze Menge der fornaldarsögur gelten z.B. als „skrifuð eptir þeirri prentuðu“ (abgeschrieben nach der gedruckten [Version]), doch Magnús fügt für gewöhnlich noch hinzu, dass er die Saga vorher schon einmal abgeschrieben oder sie „í gömlum söguskræðum“ (in alten Handschriften) gesehen habe. Folgendes scheinen seine Kriterien zu sein: Er nimmt, in Ermangelung einer Manuskriptabschrift, den Text einer gedruckten Ausgabe, scheinbar jedoch nur, wenn er selbst weiß, dass es davon eine Manuskriptabschrift gegeben hat. Wenn sein Text auf einer Handschrift fußt, so vergleicht er diesen üblicherweise mit der gedruckten Ausgabe. Manchmal ist er bereit einzuräumen, dass der gedruckte Text besser ist, so wie bei Ragnars saga loðbrókar, welche er von einer Handschrift abschrieb und nachträglich mit der gedruckten Ausgabe verglich: „Ber þeim saman at mestu, en þat sem milli ber mun sú prentaða réttari“ (größtenteils sind sie gleich, doch wo sie sich unterscheiden, ist der gedruckte Text wohl zutreffender). Doch meistens bevorzugt er die Manuskriptabschriften. So sagt er z.B. in Bezug auf die Saga af Andra jarli og Högna Hjarandasyni: „Mér þykir æðimikill orðamunur þessarar & þeirrar prentuðu en lítill efnismunr ok þó nockr, en mér finnst þessi skrifaða orðfyllri, ok frásögnin skipulegri þó at þat muni ecki miklu“ (Es scheint mir ein großer Unterschied zwischen dem Wortlaut dieses Textes und jenem des gedruckten zu bestehen, jedoch nur ein kleiner, aber vorhandener Unterschied im Stoff, dennoch finde ich den geschriebenen Text reichhaltiger und die Erzählung besser strukturiert, auch wenn der Unterschied nicht groß ist). Manchmal begnügt er sich damit, sie einfach als zwei verschiedene Fassungen zu betrachten. Sein Text von Sagan af Kára Kárasyni ist „eptir þeirri prentuðu“ (von der gedruckten [Version]), d.h. nach Einar Þórðarsons populärer Ausgabe von 1886. Magnús sagt jedoch, er habe eine andere Abschrift „sem eg hefi skrifað eptir skræðum, en hún er mikið frábrugðin að orðfæri, en ekki að efni“ (welche ich von Handschriften abschrieb, und sie unterscheidet sich sehr im Wortlaut, aber nicht im Stoff) und fügt an: „Sú saga er að engu lakari en sú prentaða“ (diese Fassung ist in keiner Weise schlechter als die gedruckte). In Bezug auf die Mírmanns saga sagt er: Þat er nockut einkennilegt með þessa sögu hón hefir verit víða til hér á vestrlandi, og ek hefi skrifað hana mörgum sinnum fyrir ýmsa, því at efni hennar hefr þótt merkilegt, og sagan er falleg. En svo kom sú sem prentuð var fyrir nockrum árum, sem er svo forn og ólík hinni at orðfæri at þær eiga ecki saman nema nafnið, en þó er efnið beggja at mestu leiti hið sama. Þessi sem hér er skrifuð er skrifuð orðrétt eptir þeiri prentuðu en hina á Matthew James Driscoll 272 eg líka til á annari bók. Saga þessi er merkileg ok gömul, ok þykir ein sú bezta af riddarasögum. Etwas an dieser Saga ist seltsam; es gab sie weithin hier im Westen, und ich habe sie mehrfach für verschiedene Leute abgeschrieben, da ihre Thematik als außergewöhnlich betrachtet wurde, und die Saga ist schön. Aber dann kam vor einigen Jahren die gedruckte Fassung, welche altmodisch und im Wortlaut von der anderen so verschieden ist, dass sie nichts außer dem Namen gemeinsam haben, auch wenn der Stoff in beiden im Wesentlichen derselbe ist. Jene, die ich hier habe, ist wortwörtlich von der gedruckten Fassung abgeschrieben, aber ich habe auch die andere in einer anderen Handschrift. Diese Saga ist bemerkenswert und alt und gilt als eine der besten der Rittersagas. Magnús sagt, er habe den Text „orðrétt“ (wortwörtlich) aus der gedruckten Ausgabe abgeschrieben, aber wie Desmond Slay in seiner Ausgabe der Mírmanns saga zeigt, wurden erhebliche Änderungen am Text vorgenommen, auch wenn die meisten von relativ geringfügiger Natur sind. 32 Magnús’ Texte der Hrólfs saga kraka, Eiríks saga víðförla und Sturlaugs saga starfsama stützen sich gleichermaßen auf die gedruckten Ausgaben, jedoch mit wesentlich weniger Änderungen. 33 Nur wenige von Magnús’ Texten waren bisher Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, doch wurden sie häufig als „korrumpiert“, „exzentrisch“ usw. beschrieben. Der Grund für diese „Exzentrizität“ kann nur Magnús’ Einstellung dem Text gegenüber sein, die in den Vorworten deutlich wird, in denen er oft erläutert, dass er sich verpflichtet fühlte, die Saga, welche er abschrieb, stilistisch zu „laga“ (beheben). Zur Sagan af Falentín og Urson sagt er, sie sei „frábærlega bág at orðfæri en ek hefi reynt at laga þat nockut“ (außergewöhnlich dürftig im Stil, aber ich habe versucht, dies etwas zu beheben) und zur Bevers saga schreibt er: „Orðfæri sögunnar var ecki gott, ok hefi ek reynt at laga þat sem mér þótti óviðfeldnast, en hvergi brjálað efninu“ (der Wortlaut der Saga war nicht gut, und ich habe versucht, das zu berichtigen, was ich am lästigsten fand, [ich] habe aber nirgends den Stoff verzerrt). Magnús war sich bewusst, dass dies auch andere Kopisten taten. Bisweilen erwähnt er Sagas, die sich in ihrer Form („búningr“) stark unterscheiden. In manchen Fällen ist dies, wie oben erwähnt, ihrem hohen Alter und den üblichen Veränderungen, welche im Zuge der beim Schreiben entstehenden Transmission stattfinden, zuzuschreiben. In anderen Fällen vermutet er, dass ein bestimmter Kopist dafür verantwortlich war. So weicht z.B. der Text der Hálfdánar saga Brönufóstra, welchen er von einer Handschrift von Loptur Jóhannsson (1744-1819) aus Kambur í Trékyllisvík abschrieb, in hohem Maße von der gedruckten Fassung ab, da er viel wortreicher ist; „er þat líklega eptir Lopt,“ sagt Magnús, „því at ek hefi tekið eptir þ ví, at hann bætti opt inní sögu afskriptir sínar“ (dies liegt wohl an Loptur, da ich gemerkt 32 Mírmanns saga, Desmond Slay, Hrsg. Editiones Arnamagnæanæ A 17 (København, 1997), S. cxv-cxxii. 33 Desmond Slay, The manuscripts of Hrólfs saga kraka, Bibliotheca Arnamagnæana XXIV (København, 1960), S. 94-97; Eiríks saga víðförla, Helle Jensen, Hrsg., Editiones Arnamagnæanæ B 29 (København, 1983), S. clxxx-clxxxi; The two versions of Sturlaugs saga starfsama, O. J. Zitzelsberger, Hrsg. (Düsseldorf, 1969), S. 334. Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 273 habe, dass er oft etwas zu seinen Abschriften der Sagas hinzufügt). Eine Abschrift von Sagan af Parmes loðinbirni, abgeschrieben nach einer Handschrift von Ólafur Sveinsson (ca. 1762-1845) aus Purkey, ist weitaus wortreicher als jene, die Magnús zuvor abgeschrieben hatte; er sagt, „svo sem opt mun vera at sögr þær er Ólafr gamli hefr ritað eru orðfleyri en sömu sögr í öðrum handritum“ (wie es oft geschieht, dass Sagas, welche Ólafur abgeschrieben hat, wortreicher sind als dieselben Sagas in anderen Handschriften). Unter den interessanteren Anmerkungen dieser Art ist eine, die Magnús zu einer Handschrift macht, von welcher er den Text von Sagan af Haraldi kongi hilditönn abschrieb und von der er glaubt, - später ändert er seine Meinung - dass sie von Bjarni Bogason (ca. 1753-1836) geschrieben worden sei: „hún var vel skrifuð, en stafsetníngin óregluleg, og kom fyrir rángt skrifað, - hann var líka drykkjumaðr og skrifaði opt ölvaðr“ (sie war gut geschrieben, aber die Rechtschreibung war uneinheitlich, und es fanden sich einige Fehler drin, - allerdings war er auch ein Trinker und schrieb oft ab, wenn er betrunken war). Magnús’ Hauptprinzip scheint gewesen zu sein, dass man mit dem Wortlaut („orðfæri“) mehr oder weniger alles tun durfte, was man wollte, solange man nicht am Stoff („efnið“) herumhantierte. Dies ist im Wesentlichen die Position, die von mündlichen Kulturen gegenüber dem „Text“ eingenommen wird, und Paul Zumthor hat behauptet, dass diese fundamentale Variabilität - die er als mouvance bezeichnet - auch eine Eigenschaft von mittelalterlichen geschriebenen Texten sei, welche wie mündliche Texte nie den Zustand einer fassbaren Endgültigkeit erreichten. 34 Dass dies in Island noch im frühen 20. Jahrhundert der Fall sein soll, ist auf den ersten Blick bemerkenswert. In Anbetracht dessen, dass viele andere Aspekte der literarischen Transmission in Island für mehr als ein halbes Jahrtausend im Wesentlichen unverändert blieben, ist es jedoch vielleicht gar nicht so außergewöhnlich. Magnús tat ganz einfach das, was Kopisten überall und zu jeder Zeit taten. 35 In den späten Bänden, besonders in jenen, die er nach 1909 schrieb, erkennt man allerdings einen Wechsel in Magnús’ Einstellung. So fängt er z.B. an, den Namen des Helden eher im Genitiv als im Dativ - also „E-s saga“ (jemandes Saga) anstelle von „Saga(n) af E-m“ ([die] Saga von jemandem) - in den Titeln seiner Sagas zu schreiben. Beide Formen werden durchgehend in der Sammlung benutzt, oft sogar synonym, wenn eine Form z.B. im Vorwort steht und die andere im Titel; dennoch ist eine betrachtliche Zunahme der Genitivkonstruktionen in den späten Handschriften spürbar. Der Wechsel ist dann besonders offensichtlich, wenn zwei oder mehr Sagas aus verschiedenen Perioden existieren. Es gibt z.B. zwei frühe Abschriften der Sigurgarðs saga frækna, eine in Lbs 1500 4to aus dem Jahr 1880 und die andere in Lbs 4718 4to, welche undatiert ist, aber vermutlich nicht später als 1880 angefertigt wurde; in diesen beiden kommt der Titel „Sagan af Sigurgarði frækna ok fóstbræðrum hans“ vor, während in einer anderen Abschrift aus dem Jahr 1911 der Titel „Sigurgarðs saga hinns frækna ok fóstbræðra hans“ geschrieben steht. Es gibt viele 34 Paul Zumthor, Essai de poétique médiévale (Paris, 1972), bes. S. 68-74. 35 Vgl. The unwashed children of Eve, S. 204-06. Matthew James Driscoll 274 solche Beispiele, jedoch kein entgegengesetztes. Es gibt auch mehrere Fälle, in welchen es scheint, dass Magnús beabsichtigte, seine Titel zu „aktualisieren“, was ihm nicht immer gänzlich gelang. In Lbs 1503 4to von 1905 z.B. erscheint der Titel einer Saga als „Heiðmárssaga ok Sigurði ‚farbata‘“, bei dem der erste Name im Genitiv steht, der zweite jedoch im Dativ. Seit dem Mittelalter war die Form „Saga(n) af“ in isländischen Handschriften Standard, so auch in den populären gedruckten Ausgaben der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In wissenschaftlichen Editionen wurde hingegen die „klassische“ Form mit dem Namen im Genitiv bevorzugt. 36 Zur selben Zeit ist eine deutliche Zunahme von Magnús’ Gebrauch des Wortes „handrit“, anstelle von „bók“ oder „skræða“, festzustellen, wenn er auf Handschriften verweist. Wie oben erwähnt, sind die frühesten Bände nicht mit einem Vorwort versehen, auf der Titelseite wird jedoch normalerweise darauf hingewiesen, dass der Inhalt „skrifaðar eptir gömulm bókum“ (abgeschrieben aus alten Büchern) sei; erst ab dem Jahr 1894 findet man „skrifaðar eptir bókum ok handritum“ (abgeschrieben aus Büchern und Handschriften), und es gibt nur einen einzigen Band, Lbs 1498 4to von 1899, der den Anspruch erhebt „eptir gömlum handritum“ (aus alten Handschriften) abgeschrieben zu sein. Schon früh erscheint das Wort „handrit“ in den Vorworten; es findet sich jedoch nicht in der ersten Handschrift, die mit einem Vorwort versehen ist, Lbs 1494 4to, aus dem Jahr 1888; er verwendet es jedoch in allen außer einer von jenen, die nach 1894 geschrieben wurden. In den frühen Bänden, jenen, die vor 1909 entstanden, wird es allerdings sparsam verwendet und dann oft in den selben Sätzen wie „bók“ oder „skræða“ - in Lbs 1503 4to von 1904 benutzt Magnús sogar die Wendung „sögubókar handrit“. In den 13 mit Vorworten versehenen Handschriften von vor 1905 kommt das Wort „handrit“ nur 42 Mal vor. In den fünf Handschriften, die zwischen 1911 und 1914 geschrieben wurden, hingegen 49 Mal; die ältere Terminologie wurde größtenteils verdrängt. Die letzten Handschriften wurden abgeschrieben, nachdem Magnús den Hauptteil seiner Sammlung an Landsbókasafn verkauft hatte, wie er oft erwähnt, was sowohl bedeutet, dass die Vorworte neu waren, als auch, dass er, wo er früher aus Handschriften - entweder seinen eigenen oder aus jenen von anderen - abschreiben konnte, nun gezwungen war, aus gedruckten Ausgaben abzuschreiben. Der Anstieg sowohl im Gebrauch des Wortes „handrit“ als auch im Gebrauch des Genitivs im Titel zeigt, m.E., das Ausmaß, in welchem Magnús vom „offiziellen“ Sprachgebrauch beeinflusst zu werden begann. Es wirkt jedoch so, als ob er sich nicht ganz wohl fühlte beim Gebrauch dieses Ausdrucks. Im Vorwort zur Ausgabe von 1913 schreibt er: „Handrit þat af sögunni - sögubókin“, als ob das Wort „handrit“ selbst einer Erklärung bedürfte. Und in einer der letzten von Magnús erhaltenen Handschriften, geschrieben im Jahr 1914, schreibt er über die Konráðs saga keisarasonar: „þessi sem hér er nú at nýu uppskrifuð er handrit hinnar prentuðu“ (das hier nun neu Abgeschriebene ist 36 In mittelalterlichen Handschriften haben Sagas selten solche Titel, aber in Überschriften und besonders in Kolophonen findet man häufig Genitivkonstruktionen, z.B. „ok lúkum vér þ ar Brennu-Njáls sögu“; siehe Svavar Sigmundsson: „Að ljúka sögu“, Lygisögur sagðar Sverri Tómassyni fimmtugum (Reykjavík, 1991), S. 89-95. Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 275 die Handschrift der gedruckten [Fassung]). Man fragt sich geradezu, ob Magnús nicht vielleicht glaubte, dass „handrit“ so etwas wie „Exemplar“ oder „Text“ bedeutet. Es lässt sich freilich quantitativ viel schwieriger belegen, aber man hat den Eindruck, dass Magnús in den späten Vorworten im Allgemeinen immer zögerlicher wird, weniger überzeugt von sich selbst und dem Wert dessen, was er tut. Wie ich schon vorher erwähnte, gab Magnús fast immer einen Kommentar zum Alter der Sagas ab, die er abschrieb, hauptsächlich darauf basierend, wie verbreitet sie waren, ob rímur auf ihnen fußen und, falls er mehrere Abschriften gesehen hatte, ob zwischen ihnen ein großer Unterschied bestand. Üblicherweise ist er ziemlich bestimmt darin: „Sagan er víst gömul“ (die Saga ist sicherlich alt) oder „Sagan mun ekki gömul vera“ (die Saga wird wohl nicht alt sein). Und meistens hat er damit Recht. Von der Addoníus saga z.B., von der man annimmt, dass sie aus dem späten 14. Jahrhundert stammt, sagt Magnús: „Ek held at saga þessi sé nockut gömul, ok með eldri riddarasögum“ (Ich denke, dass diese Saga ziemlich alt ist und eine der älteren riddarasögur). In Bezug auf Bernótus saga Borneyjarkappa, geschrieben von séra Jón Hjaltalín (1749-1835) im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert, 37 sagt Magnús: „Þat eitt er víst að sagan er ecki víða til ok mun ecki gömul vera, eða rituð á seinni öldum“ (Soviel ist klar, dass diese Saga nicht weit verbreitet und wohl nicht alt ist, sondern eher in späterer Zeit geschrieben wurde). Bei vielen der jüngeren fornaldarsögur erkennt Magnús, was sie wirklich sind. Zu Sagan af Hölga hálenska schreibt er z.B., „ek held at sú saga sé ecki gömul, ok líklegast samansett af sögu fróðum manni“ (ich denke, dass diese Saga nicht alt ist, und am wahrscheinlichsten wurde sie von einem sagakundigen Mann zusammengestellt). In den jüngeren Handschriften scheint Magnús weit weniger gewillt zu sein, solche Aussagen zu machen. Im Vorwort zu einer Abschrift der Remundar saga von 1904 sagt er z.B.: „Þat er víst at sagan er gömul ok rituð fyrir nockrum öldum, en ecki er þat á mínu færi at akveða nockut um þat“ (Es ist klar, dass die Saga alt ist und vor einigen hundert Jahren geschrieben wurde, aber es liegt nicht in meiner Fähigkeit, zu irgendeinem Urteil darüber zu gelangen). In den jüngsten Handschriften, geschrieben zwischen 1911 und 1914, gibt es mehrere Aussagen dieser Art. Im Vorwort zu Sagan af Elínu einhendu sagt er: „Bendir margt til þess at sagan sé at tiltölu heldr gömul þó er þat nú ecki nema tilgáta“ (Es gibt vieles, was darauf hindeutet, dass die Saga relativ alt ist, obwohl dies nur eine Vermutung ist) und über die vielen Handschriften der Flóres saga svarta sagt er, dass es erstaunlich sei, wie wenige Abweichungen es in den Texten gebe, „þegar þess er gætt at sagan er afar gömul sem færa má nockr rök at, þó ek sé ecki fær um at ákveða aldr hennar“ (wenn angenommen wird, dass die Saga sehr alt ist, wofür einiges spricht, obwohl ich nicht in der Lage bin, ihr Alter zu beurteilen). Es gibt deutliche Anhaltspunkte dafür, dass Magnús sich eine Ahnung von „sachgemäßer“ Textkritik erworben hat. Im Vorwort zu einer Abschrift der Karlamagnús 37 Vgl. The unwashed children of Eve, S. 35. Matthew James Driscoll 276 saga von 1902 schreibt er z.B., dass er viele Abschriften der Saga gesehen habe, sowohl in alten als auch jungen Handschriften, und dass es in ihnen in der Regel Unterschiede, sowohl große wie auch kleine, gegeben habe. Von dieser einen, die er nun abschreibe, sagt er, könne nicht gesagt werden, dass sie besser sei als andere, aber auch nicht schlechter, und er fügt an: „Ek hefi ecki vit á at dæma um hverjar eru frumlegastar eða fornastar, en vissulega hefði ek skrifað þær fremr en hinar“ (Ich habe nicht das nötige Wissen, um zu beurteilen, welche Texte die ursprünglichsten oder ältesten sind, aber natürlich hätte ich eher diese abgeschrieben als andere). Schon 1898 scheint Magnús zu vermuten, dass seine Methode, seine Texte stilistisch zu säubern, vielleicht nicht ganz einwandfrei war. Zu Sagan af Hinriki góðgjarna schreibt er: Orðfæri hennar var svo afkáralegt, at þat var engin mynd á því, ok breytti ek mörgum orðum ok lagaði setníngu málsins, en breitti ecki efni at neinu leiti; hefði þ ó líklegast verið réttast at láta orð ok málsgreinaskipun standa óhaggað. Der Stil der Saga war so grauenhaft, dass es fast unmöglich war, und ich änderte viele Wörter und passte den Textaufbau an, änderte jedoch in keiner Weise den Stoff; allerdings wäre es wohl eher ordnungsgemäß gewesen, den Wortlaut und den Textaufbau so stehen zu lassen, wie sie waren. Alte Gewohnheiten lassen sich jedoch schwer ablegen. Sechs Jahre später schreibt Magnús im Vorwort zu Sagan af Huga konungi Skapler: Sagan er, ok var afkáraleg at orðalagi, ok þó þat hefði verit réttast at skrifa söguna upp orðrétt leyfði ek mér at výkja við orðum & setnínga skipun ok er þó ómynd enn. Die Ausdrucksweise der Saga ist und war grauenhaft, und auch wenn es am ehesten sachgemäß gewesen wäre, die Saga wortwörtlich abzuschreiben, habe ich mir erlaubt, den Wortlaut und den Stil zu ändern, aber sie ist noch immer ein völliges Durcheinander. Nur in einer seiner letzten Handschriften, geschrieben im Jahr 1912, beschreibt Magnús etwas, was als Annäherung an eine „sachgemäße“ textkritische Methode angesehen werden dürfte: Sögu Nitidá drottningar hinnar frægu hefi ek sét í mörgum myndum, ok svo breitilegu at orðfæri en ecki eins at efni, at tvísýnt er at hér sé um eina sögu at ræða heldr frumsmíði hennar í tvennu lagi, þó skal ei neitt um þetta fullyrða. Svo hefr hún víða gengit í afskriptum at seint er at telja eða flocka handrit hennar, ek hefi skrifað hana opt upp eptir ýmsum skræðum, ok hefi látið hvert handrit halda sínu orðfæri. Die Nitida Saga habe ich in vielen Formen mit solchen Abweichungen im Wortlaut und weniger im Stoff gesehen, dass es zweifelhaft ist, ob wir es hier mit einer Saga oder nicht eher mit einer Urfassung in zwei Formen zu tun haben, obwohl ich dazu keine Aussage machen möchte. Die Saga ist so weit verbreitet, dass es schwierig ist, die einzelnen Handschriften zu zählen oder zu gruppieren. Ich habe die Saga oft aus verschiedenen Handschriften abgeschrieben und den Wortlaut so gelassen, wie er dastand. Magnús wurde sich wohl durch die gedruckten Ausgaben, die er kannte, wie die Ausgaben der Fornaldarsögur aus Kopenhagen und Reykjavík, auf welche er oft in Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 277 seinen Vorworten verweist, und Sigurður Kristjánssons Íslendinga sögur, die in 38 Bänden zwischen 1891 und 1902 veröffentlicht wurden und im ganzen Land bekannt waren, über die wissenschaftlichen Methoden bewusst. Ich vermute jedoch, dass sich die Veränderung in Magnús’ Einstellung nach seinem Kontakt mit Landsbókasafn, der er 1909, wie schon erwähnt, 21 seiner Handschriften verkaufte, ereignete. Bisher konnte ich keine Aufzeichnung finden, die zu den Verhandlungen zwischen Magnús und der Bibliothek über den Ankauf dieser Handschriften Auskunft geben würde und den Grund erkennen ließe, wieso er sie verkaufen wollte. Es scheint jedoch nicht ganz ausgeschlossen, dass Magnús’ Entscheidung, sie zu verkaufen, wenigstens zu einem gewissen Teil durch den Brand auf Tjaldanes hervorgerufen wurde, bei welchem im September 1905 die Gebäude des Hofes komplett zerstört wurden, dem Vernehmen nach einschließlich aller Bücher und Handschriften von Magnús. 38 In einem Artikel über Magnús’ Sohn Benedikt (1863-1927) in der Zeitschrift Óðinn aus dem Jahr 1930 39 erwähnt der Autor, Magnús Friðriksson frá Staðarfelli, diesen Vorfall und schreibt darüber: Magnús, faðir Benedikts, var mikið fróður maður, skrifaði einhverja fallegustu rithönd, enda fjekst hann mikið við að afrita gömul skjöl og bækur, og átti líka mjög mikið og fagurt bókasafn, sem alt brann í bæjarbrunanum í Tjaldanesi 8. september 1905, sem var mikið tjón, því sagt var, að í þeim bruna hefði farist bækur og skjöl, sem ekki voru annarsstaðar til og því ófáanleg. Magnús, Benedikts Vater, war ein sehr belesener Mann und hatte eine außerordentlich schöne Handschrift, und er verwendete auch viel Zeit darauf, alte Handschriften und Bücher abzuschreiben, und er hatte eine sehr große und herrliche Bibliothek, die durch den Brand auf Tjaldanes am 8. September 1905 vollständig zerstört wurde, was ein großer Verlust war, denn man sagte, dass in dem Feuer Bücher und Handschriften verbrannten, die es anderswo nicht gab und deshalb nirgendwo mehr gefunden werden können. Auch wenn das Zitat impliziert, dass ein großer Teil der verbrannten Handschriften von Magnús selbst geschrieben worden waren, scheint es unwahrscheinlich, dass dies tatsächlich der Fall war. Da so viele überlebt haben, ist es schwierig vorstellbar, dass es früher viel mehr gegeben hätte, um nur einen Grund zu nennen. In der populären gedruckten Ausgabe der Skáld-Helga saga von 1897, die auf einem Text basiert, den Magnús zur Verfügung stellte, sagt der Herausgeber Sigfús Eymundsson, dass Magnús „á nú í afskriftum 18 bækur í 4o, hverja bók upp á 800 síður, og eru á þeim margar fágætar sögur, sem honum hefir lánast að ná í víðsvegar af landinu og síðan afskrifað“ (nun 18 Handschriften im Quartoformat besitzt, jede hat 800 Seiten 38 Vgl. Almanak Þjóðvinafélagsins (1907), „Árbók Íslands 1905“: „Sept 7. Brann bærinn á Tjaldanesi í Dölum með öllu hjá Magnúsi bónda Jónssyni. Þar á meðal bækur og mörg handrit.“ (7. Sept. Der Hof des Bauers Magnús Jónsson auf Tjaldanes í Dölum verbrannte ganz. Darunter Bücher und viele Handschriften.) 39 Magnús Friðriksson frá Staðarfelli, „Benedikt Magnússon hreppstjóri og kaupfjelagsstjóri frá Tjaldanesi í Dalasýslu“, Óðinn XXVI (1930), 1, S. 79-81. Matthew James Driscoll 278 und sie enthalten viele seltene Sagas, die er im ganzen Land zusammentragen konnte, und anschließend schrieb er sie ab). 40 Das sind nur zwei mehr als die Anzahl Bände, die (meines Wissens) noch vorhanden sind; falls diese anderen zwei die ersten beiden Bände der Sammlung der Íslendinga sögur (von welchen Lbs 1511 4to der dritte ist) sind, wären alle Bände belegt. Wie wir sahen, hat Magnús eindeutig Handschriften angefertigt, welche nicht überdauerten, doch scheinen diese Abschriften für andere Leute gewesen zu sein. Es scheint wahrscheinlich, dass die „bækur og handrit“, welche durch das Feuer zerstört wurden, hauptsächlich jene waren, die er erworben hatte oder vielleicht „milli handa“ hatte, um sie abzuschreiben. Doch selbst dann muss der Verlust verheerend gewesen sein. Eine unmittelbare Folge des Feuers war, dass Magnús seine Tätigkeit als Kopist vollkommen einstellte. Vom Jahr 1880, als Magnús zuerst damit anfing, seine Handschriften zu datieren, an, gibt es selten Unterbrechungen von mehr als einem oder zwei Jahren und üblicherweise ist eine Handschrift, oft sogar mehr, pro Jahr überliefert; nach 1905 gibt es jedoch eine Zäsur von sechs Jahren, aus denen keine Handschrift überliefert ist. Wahrscheinlich hatte Magnús während dieser Zeit anderes zu tun, wie etwa den Wiederaufbau seines Hofes (sein Sohn Benedikt übernahm die Bewirtschaftung des Hofes erst 1909) zu betreiben. Magnús war zu der Zeit schon über 70, und man kann sich gut vorstellen, wie sehr er unter dem Verlust seiner Bibliothek litt. Vielleicht war es ihm, wie schon Árni Magnússon nach dem Brand in Kopenhagen im Jahr 1728, unmöglich, die Kraft aufzubringen, neu anzufangen. Soviel man weiß, hat er auf jeden Fall bis 1911 nichts mehr geschrieben. Eine weitere Folge des Feuers könnte, wie ich schon sagte, Magnús’ Entschluss gewesen sein, seine Handschriften an Landsbókasafn zu verkaufen, vermutlich in der Hoffnung, einen sicheren Hafen für sein Lebenswerk, oder was davon übriggeblieben war, zu finden. Die Verbindung zum Brand macht der Chefbibliothekar Jón Jacobson in seinem Kommentar deutlich, der zehn Jahre später berichtete, wie die Bibliothek einwilligte, Magnús’ Handschriften zu kaufen, „þau er eldurinn hafði eirt“ (jene, die das Feuer verschont hatte). Magnús wurde für seine Sammlung 250 kr. in zwei Raten bezahlt, 50 kr. im Juli 1909 und der Restbetrag im folgenden Januar. 250 kr. war im Jahr 1909 eine erhebliche Menge Geld - etwa die Hälfte dessen, was Landsbókasafn pro Jahr für Neuankäufe zur Verfügung stand - jedoch nur etwa 12 kr. pro Band, ungefähr der handelsübliche Preis für Handschriften zu jener Zeit. 41 40 S[igfús] E[ymundsson], „Eftirmáli“, Sagan af Skáld-Helga (Reykjavík, 1897), S. 42. 41 [Jón Jacobson], Landsbókasafn Íslands 1818-1918: Minningarrit (Reykjavík 1919-20), S. 228: „Þetta ár voru [...] Magnúsi bónda í Tjaldanesi greiddar 200 kr. eftirstöðvar frá fyrra ári fyrir handrit hans, þau er eldurinn hafði eirt, þegar brann hjá honum. Alls voru goldnar 250 kr. fyrir það safn.“ (Dieses Jahr wurden Magnús, Bauer auf Tjaldanes, 200 kr. bezahlt, Reste aus dem letzten Jahr, für seine Handschriften, jene, die das Feuer verschont hatte, als es bei ihm brannte. Insgesamt wurden 250 kr. für die Sammlung bezahlt.) In diesem Kontext verweist „þetta ár“ auf das Jahr 1911, aber gemäß „Kassabók“ wurden Magnús die 200 kr. am 24. Januar 1910 ausbezahlt („leyfar af handritaskuld“) (Reste von Handschriftenschuld). Gemäß „Tekjuog gjaldliðir Landsbókasafnsins (conti) árið 1909“ (Einnahmen- und Ausgabenposten des Landsbókasafn (Konti) des Jahres 1909) erhielt Magnús die erste Rate von 50 kr. am 13. Juli Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 279 Ich habe keinen Beweis dafür gefunden, doch ist es nicht unmöglich, dass Magnús hoffte, mehr Handschriften an die Bibliothek verkaufen zu können, ja vielleicht sogar jenen halbamtlichen Status zu erlangen, den Sighvatur Grímsson Borgfirðingur (1840-1930) genoss, - den Magnús gekannt haben muss, da die beiden Gísli Konráðsson kannten, obwohl er ihn seltsamerweise nie erwähnt - der 1906 darin einwilligte, alles, was er bis dahin angefertigt hatte und in Zukunft anfertigen würde, Landsbókasafn zu verkaufen, wofür er als Verrechnung eine Summe von 350 kr. bekam. 42 Durch diesen Kontakt mit der Bibliothek hatte Magnús vielleicht nicht nur die Nachricht erhalten, dass seine „Editionsmethode“ unzureichend war, sondern auch, dass das Textmaterial, welches zu sammeln und für die Nachwelt zu erhalten sein Leben bestimmte, seine Fornmannasögur Norðurlanda, nicht dem entsprach, woran sie interessiert waren. Íslensk menning war nicht mehr das, was gewöhnliche Männer und Frauen in Island seit hunderten von Jahren getan hatten, sondern wurde stattdessen zur „íslensk menning“, wie sie von Intellektuellen in Reykjavík und Kopenhagen definiert und diktiert wurde. Eine Beobachtung, die Magnús immer und immer wieder in den Vorworten festhält ist, dass Handschriften, die er einst sah oder benutzte, später, wenn er versuchte, sie wieder zu beschaffen, verschwunden waren, sie waren „liðin undir lok“, wie er zu sagen pflegte. „Þat er svo undarlegt“, sagt er an einer Stelle, „at þessar gömlu bækr hverfa, svo at einginn veit hvat af þeim verðr“ (Es ist so seltsam, dass diese alten Bücher verschwinden, so dass niemand sagen kann, was aus ihnen wird). Seine Traurigkeit und Frustration ist offensichtlich. Doch Magnús’ Interesse galt dem Text und obwohl er behauptet, „gildi gamalla bóka“ schon in jungen Jahren entdeckt zu haben, ist aus den Vorworten nicht zu lesen, dass er irgendeinen Wert auf „alte Bücher“ 1909. Magnús hatte der Bibliothek zuvor schon mindestens eine Handschrift verkauft: „Fundabók Landsbókasafnsins 1908-1919“, S. 3, zeigt, dass am „8. Febr. 1908“ vereinbart wurde, „Söguhandrit með hendi Magnúsar í Tjaldanesi fyrir 30 kr.“ (Sagahandschrift/ en in [der] Hand [von] Magnús auf Tjaldanes für 30 kr.) zu kaufen. „Söguhandrit“ kann Singular oder Plural sein, und der relativ hohe Geldbetrag, den Magnús bekam, deutet darauf hin, dass es mehr als eine gewesen sein könnte, obwohl es merkwürdig wäre, wenn die genaue Anzahl nicht vermerkt wäre (wie es üblicherweise der Fall ist); falls es nur eine einzige Handschrift war, könnte es sein, dass ihr Umfang, denkt man an die sonst üblichen 800 Seiten von Magnus restlichen Handschriften, sie wertvoller machte als der Durchschnitt. Gemäß „Kassabók“ für das Jahr 1908 bekam ein gewisser „Magnús Jónsson“ 20 kr. am 16. August für eine „bók“; in allen anderen Fällen wird Magnús ohne sein Patronym, dafür mit dem Namen seines Hofes, erwähnt, daher ist es gut möglich, das es sich in diesem Fall um jemand anderen handelte. 42 „Fundabók Landsbókasafnsins 1904-1907“, S. 14, berichtet: „19. júní 1906 […] Samþykt var að kaupa handrit Sighvats Grímssonar Borgfirðings öll fyrir 350 kr. árlegt gjald til hans æfilangt með því skilyrði að alt, sem Sighvatur ritar, semur og safnar hér eptir sem hingað til sé eign Landsbókasafnsins. Gert var að ákvæði að kaupa handa honum lífrentu, er svari til nefndri upphæð.“ (19. Juni 1906 […] Beschlossen wurde, alle Handschriften von Sighvatur Grímsson Borgfirðingur zu kaufen, für 350 kr. jährlicher Bezahlung lebenslang, unter der Bedingung, dass alles, was Sighvatur schreibt, abfasst oder sammelt, hiernach sowie bisher Eigentum des Landsbókasafn sei.) Zu Sighvatur siehe „Æviágrip Sighvats Grímssonar Borgfirðings“, Árbók Landsbókasafns 1964, S. 91-99; sowie Íslenzkar æviskrár IV, S. 200-201. Matthew James Driscoll 280 als solche legte - wie wir sahen, war er nicht unbedingt vom Alter eines Exemplars beeindruckt, sondern nur von der Qualität seines Textes. In Magnús’ Aussage, dass „þessar gömlu bækr hverfa“, scheint folglich die Trauer und Frustration viel eher durch das Verschwinden des Textes als durch das Verschwinden des Artefakts selbst verursacht zu werden. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich markant von jemandem wie Árni Magnússon, der bekanntlich jeden Schnipsel sammelte, dessen er habhaft werden konnte. Auch hier zeigt Magnús wieder etwas von der traditionellen Haltung des Kopisten den Textträgern gegenüber: Sie haben so lange einen Wert, als sie einen brauchbaren Text enthalten; wenn sie nicht länger gebraucht werden können, so schwindet dieser Wert. Magnús hatte allen Grund, sich zu sorgen. Die Welt, in der er lebte, war am Verschwinden und würde wirklich bald „líða undir lok“ und für immer untergehen. Die sozialen Veränderungen, die sich in Island in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vollzogen, waren größer als zu irgendeiner anderen Zeit in der Geschichte des Landes und führten unter anderem zum Ende der kvöldvaka, der „Abendwache“, während der Sagas den Mitgliedern eines Haushaltes vorgelesen wurden. 43 Es war hauptsächlich diese Gewohnheit, welche die Handschriftenkultur in Island so lange am Leben hielt. Die Texte, aus denen Magnús’ Sammlung besteht, haben, wie die überwältigende Mehrheit der Abschriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert, wenig oder keinen textkritischen Wert. Ich jedoch bin jedenfalls froh, dass wir sie haben. Sie öffnen uns ein Fenster in eine Vergangenheit, die wir ansonsten zum größten Teil nur im Dunklen sehen. Übersetzung: Lukas Rösli : . Almanak Þjóðvinafélagsins (1907). Eiríks saga víðförla, Helle Jensen, Hrsg., Editiones Arnamagnæanæ B 29 (København, 1983). Fornaldar Sögur Nordrlanda I-III, Carl Christian Rafn, Hrsg. (Kaupmannahöfn, 1829-30). Fornaldarsögur Norðurlanda I-III, Valdimar Ásmundarson, Hrsg. (Reykjavík, 1885-89). Fornmanna Sögur, eptir gömlum handritum útgefnar að tilhlutun Hins Konungliga Norræna Fornfræða Félags (Kaupmannahöfn, 1825-37). Fornmannasögur Norðurlanda (Landsbókasafn Íslands-Háskólabókasafn, Sign. Lbs 1491- 1510 4to). [Jón Jacobson], Landsbókasafn Íslands 1818-1918: Minningarrit (Reykjavík 1919-20). Hallgrímur Jónsson, Æfintýrid af Selikó og Berissu tilfallid árid 1727. Snúid úr Frønsku máli á Islendsku af Dr. Hallgrími Scheving. En á Ljódmæli snúid af Hallgrími Jónssyni 1840. Nok- 43 Siehe dazu The unwashed children of Eve, bes. S. 38-46; sowie Jürg Glauser, „The end of the saga: Text, tradition and transmission in nineteenthand early twentieth-century Iceland“, Northern antiquity: The post-medieval reception of Edda and saga, Andrew Wawn, Hrsg. (London, 1994), S. 101-41. Magnús Jónsson í Tjaldanesi und das Ende der Handschriftenkultur 281 kud aukid af Landaskipunarfrædinni, og þ eim Fetisku trúarbrøgdum Sudurálfunnar, til frekari upplísingar fyrir fáfródari. Viðeyjarklaustur, 1844. Jón Helgason, Kvæðabók úr Vigur (Kaupmannahöfn, 1955). Ludvig Holberg, Adskillige store Heltes og berømmelige Mænds, sær Orientalske og Indianske, sammenlignede Historier og Bedrifter efter Plutarchi Maade (København, 1739). Margvíslegt Gaman og Alvara, í Safni Smárita og Qvæda ýmislegra Rithøfunda (Leirárgarðar, 1798/ Beitistaðar, 1818). Mírmanns saga, Desmond Slay, Hrsg. Editiones Arnamagnæanæ A 17 (København, 1997). Pontus rímur eftir Magnús Jónsson prúða, Pétur Einarsson og síra Ólaf Halldórsson, Hrsg. Grímur M. 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Sie scheinen sich geradezu von den zeitgenössischen Romanen sowie der gesamten ästhetischen Entwicklung des 18. Jahnhunderts zu distanzieren und sind auffallend altmodisch, wenn man sie mit dem übrigen Europa vergleicht, wo man zu dieser Zeit von der Geburt des modernen Romans spricht. Was man hauptsächlich mit dem modernen Roman in Verbindung bringt, ist Realismus, doch Realismus in der engen Bedeutung von Anschaulichkeit und fesselnder Darstellung ist genau das, was dem schwedischen Roman fehlt. Die frühen schwedischen Romane streben vor allem nach Auktorität und Legitimität, und methodisch gehen sie so vor, dass sie ihre Grundfestigkeit zeigen. Sie scheinen ausgeformt, um jegliche Unfestigkeit zu verneinen oder sogar zu überwinden. Und genau in dieser Frage zeigt sich, dass Anschaulichkeit und alles, was wir Realismus nennen, sehr heikel, ja sogar suspekt ist. Die ersten schwedischen Romane illustrieren das Problem mit der Unfestigkeit des Stils, und dieses Problem betrifft sowohl die ‘Modernität’ als auch den ‘Realismus’. Das Romangenre wird in sehr hohem Grad mit Unterhaltungslektüre in Verbindung gebracht, aber gleichzeitig war Lesen zur Unterhaltung etwas Verpöntes, das gegen den gesellschaftlichen Nutzen schien. Die frühen schwedischen Romane mussten sich also legitimieren, sich selbst Auktorität verschaffen, indem sie zeigten, wie sie der Gesellschaft bessere Bürger schufen. Es entstand also ein Konflikt zwischen Unterhaltungslektüre auf der einen und moralischer Erbauung auf der anderen Seite, und die schwedischen Romane illustrieren sehr deutlich den großen Unterschied zwischen dem, was die Leute lesen wollten und dem, was die Gesellschaft wollte, dass die Leute lesen sollten. Der Konflikt zwischen Unterhaltungslektüre und Moral ist in vielen verschiedenen Zusammenhängen in manchen Ländern aktuell, Mats Malm 284 aber im schwedischen 18. Jahrhundert wird er auffallend deutlich und erhält bemerkenswerte Konsequenzen. Zu einem großen Teil geht es um die Frage, welche Normsysteme diejenigen Bücher steuerten, die gedruckt werden durften. Im 17. Jahrhundert gab es nur einige wenige Druckereien in Schweden, die zudem von Staat und Kirche kontrolliert wurden. Im 18. Jahrhundert etablierte sich zahlreiche Druckereien, doch damals hatte man bereits das Zensorenamt eingerichtet. Der Censor librorum sollte nicht nur Buchauktionen und den Import von Büchern kontrollieren, damit sich keine schädliche Literatur im Land verbreitete, er sollte auch alles zu Druckende zuerst prüfen und in Ordnung bringen oder verbieten, was nicht passte. Der allgemeine Ausgangspunkt der Zensur in allen Ländern war der Respekt für den Staat, die Religion und die guten Sitten. 1 Und es zeigt sich, dass es nicht nur um inhaltliche Kriterien ging, sondern dass auch die Entwicklung des Stils davon beeinflusst wurde. Wenn ein Buch seinen Nutzen für die Gesellschaft hervorheben soll, ist es technisch am einfachsten, moralische Helden zu präsentieren und von tugendhaften Ereignissen zu erzählen. Und die frühen schwedischen Romane sind natürlich voller tugendhafter Personen und Ereignisse. Aber das Wichtige ist nicht der Inhalt sondern der Stil. Denn die schwedischen Romane zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass der Stil so - ja, schlecht ist. Man beschreibt sie gewöhnlich als unrealistisch, abstrakt, verschwommen, und man pflegt dies damit zu erklären, dass ihre Verfasser schlichtweg kein Talent hatten. Eine andere Erklärung war, dass der Realismus den Schweden nicht lag - hier argumentiert man mit einem romantischen Entwicklungsgedanken, dass die Literatur die Entwicklung der Nationalseele mit Aufstieg, Blüte und eventuellem Fall widerspiegelt. 2 Plausibler ist es dagegen, den aufkommenden Realismus mit der Etablierung der Mittelschicht in der Gesellschaft zu verknüpfen, 3 doch auch das stellt keine umfassende Erklärung dar. Ich glaube, dass die Romane einen Stil entwickeln, der ihren gesellschaftlichen Nutzen hervorhebt und dass dieses Stilideal in bewusstem Gegensatz zum ‘realistischen’ Ideal steht. B 1 $ E y $ Die frühen schwedischen Romane werden gewöhnlich als ein trauriges Kapitel der Literaturgeschichte bezeichnet. Das Genre ist definitiv rückständig, wenn man es mit anderen Sprachgebieten vergleicht. Im 17. Jahrhundert blühte in Deutschland, England und Frankreich der Barockroman, aber in Schweden wurde kaum ein Ro- 1 Siehe Burius, Anders: Ömhet om friheten. Studier i frihetstidens censurpolitik. Institutionen för idéoch lärdomshistoria, Uppsala universitet. Skrifter nr 5. Uppsala 1984. U.a. S. 59-63; Vegesack, Thomas von: Smak för frihet. Opinionsbildningen i Sverige 1755-1830. Stockholm 1995. 2 So z.B. Böök, Fredrik: Romanens och prosaberättelsens historia i Sverige intill 1809. Stockholm 1907. 3 Svanberg, Victor: Medelklassrealism. Skrifter utgivna av Avdelningen för litteratursociologi vid litteraturvetenskapliga institutionen i Uppsala 14. Uppsala 1980. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 285 man geschrieben und kein einziger gedruckt. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich der Roman in Europa stark. Der bürgerliche Roman in England war geprägt von einem Realismus und einer Nähe zur Gesellschaft, was etwas gänzlich Neues darstellte. Samuel Richardsons Pamela, or Virtue Rewarded (1742) ist ein Beispiel dafür, Paradebeispiel für einen realistischen Roman des modernen Typs ist sonst wohl Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719). In den 1740er Jahren, bedeutend später als Robinson Crusoe und gleichzeitig mit Pamela, erschien, was als „der erste schwedische Roman“ (die Definition beinhaltet, dass es ein selbständiges Werk ist und keine Übersetzung, sowie dass es tatsächlich gedruckt wurde) bezeichnet wird: Adalriks och Giöthildas Äfwentyr (Die Abenteuer von Adalrik und Giöthilda) wurde von Jacob Mörk und Anders Törngren geschrieben und 1742-1744 in zwei Teilen herausgegeben. Der Roman ist ca. 900 Seiten lang, ungefähr die Hälfte in modernen Buchseiten. Er spielt in einem altnordischen Milieu und bedient sich damit der Auktorität der nationalistischen Strömungen in Schweden. Besonders im 17. Jahrhundert hatte man das alte Schweden idealisiert und beschrieb es als eine Nation, die von allen denkbaren Tugenden geprägt war: Mut, Kühnheit, Rechtschaffenheit usw., aber viel vom Chauvinismus lebte auch nach der Großmachtszeit weiter. Auf diese Weise kann man Adalriks och Giöthildas Äfwentyr als eine Fortsetzung der isländischen Sagas und anderen Erzählungen über die einstigen nordischen Helden sehen. Orte und Namen im Roman knüpfen an Schwedens heroische Vergangenheit an, gleichzeitig werden jedoch die Helden im Roman eher als europäische Ritter mit Lanzen und Rüstungen beschrieben. Der Roman beginnt damit, dass der Königssohn Adalrik auf dem Weg zum König Domar in Uppsala ist, um zu lernen wie man ein guter Herrscher wird. Problematisch dabei ist jedoch, dass Adalriks Vater und Domar Erzfeinde sind und Adalrik seine Identität verbergen muss, während er sich bei Domar aufhält. Sein guter Charakter verrät ihn nach kurzer Zeit, und er muss fliehen. Zuvor noch hatte er aber Domars Tochter Giöthilda getroffen und sie hatten sich ineinander verliebt. Die alte Intrige über den Edelmann, der seine rechtmäßige Macht zurückgewinnen muss, wird so verwoben mit der Liebesintrige: Adalriks Weg zum Thron wird ebenso Adalriks Weg zu seiner Geliebten. Die Feindschaft der alten Herrscher soll durch die Vereinigung ihrer Kinder ausgesöhnt werden, wodurch Schweden ein Reich werden kann. Aber zuvor findet sich Raum für eine Reihe von Abenteuern und Schwierigkeiten, die das Paar bestehen muss. Die ganze Geschichte wird ein buntes Gewebe aus Episoden und Motiven, die dem europäischen Ritterroman, der Hirtenidylle, der antiken Literatur, der mittelalterlichen Historienschreibung, isländischen Sagas und anderswo entlehnt sind. Mats Malm 286 Abb. 1: Titelblatt aus „Adalriks och Giöthildas Äfwentyr“ von Jacob Mörk und Anders Törngren, Erster Teil, Stockholm 1742 und 1743. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 287 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts untersuchte Fredrik Böök die frühen schwedischen Romane in Romanens och prosaberättelsens historia i Sverige intill 1809. Bööks Ideal war der psychologische Realismus des 19. Jahrhunderts, und der Moderne Durchbruch hatte gerade den Naturalismus und den sozialen Realismus zum Ideal ausgerufen. Bööks Perspektive kann man als teleologische beschreiben: Er will eine Entwicklung aufzeigen, wie der schwedische Roman der Vollendung entgegenstrebt. Sein Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass die Entwicklung des Realismus ein Teil der Entwicklung der Literatur ist, die wiederum eine Äußerung des menschlichen Seelenvermögens und in diesem Fall der Entwicklung der schwedischen Nation ist. Böök vereint in der Diskussion über die frühen schwedischen Romane den romantischen Entwicklungsgedanken mit dem Darwinismus: Im Grunde sucht er nach frühen Spuren des Realismus. Das Resultat ist, dass er mit dem meisten wenig zufrieden ist, und am wenigsten zufrieden ist er wohl mit Adalriks och Giöthildas Äfwentyr - dort gibt es nämlich nicht viel, was an den modernen Realismus erinnert. Bööks Grundgedanke ist eigentlich derjenige, der noch immer gilt: je realistischer, desto besser. Nach unserem Ästhetikverständnis ist der Roman wirklich kein Lesegenuss, aber er war erwiesenermaßen lange beliebt. Die Frage ist gilt also den ästhetischen Voraussetzungen. Erforscht man diese, wird klar, dass sie von der Auktorität abhängen. Böök meinte att ‘Adalrik och Giöthilda’ i fråga om planläggning, händelseutveckling och mänskoskildring icke står högt. Det godtyckliga, psykologiskt omotiverade spelar en framträdande roll däri, och följdriktighet saknas ofta. En något mognare psykologi möter oss först i enstaka partier af andra delen. […] Hvad som ytterligare försvagar och förstör intrycket af ‘Adalrik och Giöthilda’ är detaljernas brist på verklighetsinnehåll och exakthet. Därigenom mista skildringarna all åskådlighet, all lefvande färg, all förmåga att intressera och rycka med. Ofta förekomma dessutom påtagliga försyndelser mot naturtrohet och rimlighet, som stadfästa den karaktär af overkligt fantasteri, af dimmig och litterär skrifbordsprodukt, som utmärker romanen i sin helhet. 4 dass Adalrik och Giöthilda betreffend Planung, Handlungsverlauf und Menschenschilderung nicht hoch steht. Das Willkürliche, psychologisch Unmotivierte spielt darin eine hervortretende Rolle und Folgerichtigkeit fehlt oft. Auf eine etwas reifere Psychologie trifft man erst in einzelnen Stellen des zweiten Teils. […] Was den Eindruck von Adalrik och Giöthilda zusätzlich abschwächt und zerstört, ist der Mangel an Wirklichkeitsgehalt und Exaktheit in den Details. Dadurch verlieren die Schilderungen alle Anschaulichkeit, jegliche lebendige Farbe, jegliches Vermögen zu interessieren und zu faszinieren. Oft kommen außerdem deutliche Verstöße gegen Naturtreue und Plausibilität vor, die den Charakter von unwirklicher Phantasterei, von diffusem und literarischem Schreibtischprodukt untermauern, der den Roman in seiner Ganzheit auszeichnet. 4 Böök: Romanens och prosaberättelsens historia, S. 147-148. Mats Malm 288 Bööks Kriterien sind inzwischen im Prinzip in ähnlicher Weise historisch wie der Roman selbst, wenn seine Charakteristik des Romans jedoch streng ist, ist sie zu einem gewissem Grad auch repräsentativ für eine moderne Lektüre eines unmodernen Textes - und die moderne Lektüre bevorzugt das Instabile. Der Roman erscheint tatsächlich mangelhaft bezüglich ‘Realismus’ und Anschaulichkeit - sowohl in der Detailgestaltung wie auch in der Milieuschilderung, den psychologischen Porträts und der Handlungsentwicklung. Aber wenn man den Gedanken der fortschreitenden Entwicklung der Nation, des Romangenres und des ‘Realismus’ verabschiedet, kann man sich stattdessen fragen, ob die Darstellungsform nicht bewusst gewählt ist. Die Techniken der literarischen Veranschaulichung waren in der Rhetorik längst etabliert, und nicht zuletzt wurde die Aeneis während Jahrtausenden als Vorbild für Anschaulichkeit hervorgehoben. Die geringe Anschaulichkeit in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr ist auch nicht typisch für die Romane des 17. Jahrhunderts. Dazu blitzt es manchmal ‘realistisch’ auf, was andeutet, dass die Anschaulichkeit der Schilderung einem gewissen System folgt. Die Frage ist also, ob es möglich ist, aus dem damaligen Normsystem heraus die Darstellungsform des Romans zu erklären. Letzten Endes, meine ich, geht es um Auktorität. In Bööks Perspektive verleiht Realismus Auktorität, und die anschauliche und lebendige Darstellung ist in der Tradition eindeutig sehr maßgebend. Trotzdem ist ‘Realismus’ in diesem schwedischen Roman der Auktorität untergeordnet. Dies wird deutlich, wenn wir ein Beispiel anschauen, das Böök aufnimmt. Es ist eine Passage aus dem ersten Buch, die in gewisser Weise anschaulich ist, aber auf die falsche Art. Adalrik hat vom unglücklichen Schicksal eines Hirtenpaares erfahren: Ihre glückliche Liebe wurde zerstört, als die Frau von einer Schlange gebissen wurde und starb. Der Mann zeigt loyalstes Mitleid. Böök zitiert aus dem ersten Teil des Romans: En dag war Gudleker allena och ärnade med sin herdastaf sönderslå några maskar, som kröpo fram undan stenen. Men derwid tyckte han sig höra denna röst: Hiertans Gudleker, war intet så grym emot din Allogis, den du tillförene älskat. Deßa maskar äro wäxte ur hennes skiöte. Undra intet. Lyft up stenen, som betäcker hennes kropp. Se och tro dina egna ögon. Han giorde det och såg huru förgängelsen angripit hans förbleknade Herdinna. Det war af henne intet mera öfrigt än en nakot hufwudskalla och några multnade ben. En näfva mull och ett knippe maskar. 5 Eines Tages war Gudleker alleine und wollte mit seinem Hirtenstab einige Würmer zerschlagen, die unter dem Stein hervorkrochen. Aber dabei meinte er diese Stimme zu vernehmen: Bester Gudleker, sei nicht so grausam gegenüber deiner Allogis, die du zuvor geliebt hast. Diese Würmer sind aus ihrem Schoß gewachsen. Wundere dich nicht. Hebe den Stein hoch, der ihren Körper bedeckt. Schaue und glaube deinen eigenen Augen. Er tat es und sah, wie die Vergänglichkeit seine verblichene Hirtin angegriffen hatte. Es war von ihr nicht mehr übrig als ein nackter Schädel und einige verrottete Knochen. Eine Handvoll Erde und einige Würmer. 5 Mörk, Jacob und Anders Törngren: Adalriks och Giöthildas Äfwentyr. Stockholm 1742-1744, S. 10-11. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 289 Bööks Kommentar zum Zitat lautet: „Denna osmakliga fantasi utan ringaste verklighetsfärg är på en gång barbarisk och pueril.“ 6 (Diese geschmacklose Phantasie ohne geringste Wirklichkeitsnähe ist gleichzeitig barbarisch und pueril.) Und bestimmt entspricht die Wirklichkeitsfärbung nicht modernen Idealen. Doch die Passage darf nicht als Versuch einer realistischen Darstellung gelesen werden: Ihr Zweck kann eher als das Gegenteil bezeichnet werden. Die Absicht ist es nicht, eine naturgetreue Handlungsabfolge mit Leben und überzeugenden Details hervorzubringen - solche Techniken sind vorgeschrieben und in der Tradition exemplifiziert, aber sie würden dem Ziel dieses Textes entgegenwirken. Denn die Absicht hier muss plausiblerweise sein, die Schilderung an die Emblematik zu knüpfen. Das Emblem, mit seiner Blütezeit im 16. und 17. Jahrhundert, besteht in der Regel aus einem Bild und zwei Texten, von denen einer als Motto oder Titel fungiert und der andere eine Art Auslegung des Motivs darstellt, häufig in gereimter Form. Die emblematische Form wird im Roman durch das Schildern einer Szene nachgebildet: der oben zitierte Text. Das Motto ist vom Zusammenhang deutlich gegeben: die Vergänglichkeit im Kontrast zur ewigen keuschen Liebe. Die verweste Hirtin bildet also das Motiv, und die Auslegung folgt unmittelbar nach dem „Wortbild“. Direkt nach den oben zitierten Zeilen steht nämlich: Och sjelfwa duken i hwilken han swept hennes kropp, war blefwen så swart som jorden. Såsom wi förskräckas, när wi uti mörckret oroas af underliga och sällsamma syner: Så rördes ock Gudleker, när han såg den förändring, som Allogis undergådt. Han speglade der utgången på de arma dödeligas hela pracht och härlighet. Und das Tuch, in welches er ihren Körper gewickelt hatte, war so schwarz wie die Erde geworden. So wie wir erschrecken, wenn wir in der Dunkelheit von sonderbaren und seltsamen Bildern beunruhigt werden, so empfand auch Gudleker, als er die Veränderung sah, die Allogis durchgemacht hatte. Er reflektierte da das Ende der ganzen Pracht und Herrlichkeit der armen Sterblichen. Der erste Satz gehört zum „Bild“, aber darauf folgt eine verallgemeinernde Deutung der Bedingungen des Individuums oder besser der Menschheit. Die Bedingungen der „arma dödeliga“ (armen Sterblichen) sind das Thema des Emblems. Diese emblematische Konstruktion darf eindeutig nicht mit einem Versuch von ‘Realismus’ verwechselt werden. Die Verfasser haben Konkretisierung und visuelle Deutlichkeit zu schaffen versucht, aber nicht um ein Geschehen hervorzurufen, sondern im Gegenteil um das Geschehen aufzuhalten und bei der Bedeutung dieses Motivs zu verweilen: einer Form von universeller, geistiger Wahrheit. Derart auffällige emblematische Einschläge sind im Roman nicht üblich. 7 Aber genau diese Technik ist repräsentativ für Adalriks och Giöthildas Äfwentyr in seiner Gesamtheit: Eine mehr oder weniger konkrete Szene, alternativ eine Person oder Handlung, erhält zeichentragende Funktion, die von der stilisierenden oder abstrakten Art der Darstellung 6 Böök: Romanens och prosaberättelsens historia, S. 148. 7 In seiner umfassenden Untersuchung von Jacob Mörks Verfassertum nennt Torkel Stålmarck einige solche Stellen. Stålmarck, Jacob: Jacob Mörk. Studier kring våra äldsta romaner. Stockholm 1974, S. 79, 85, 144. Mats Malm 290 unterstrichen wird. Die Darstellung zielt nicht darauf ab, in den konkreten Szenen Nähe oder Einfühlung zu schaffen, hingegen umso mehr darauf, die beabsichtigte Referentialität zu unterstreichen. Wenn dies der Charakter der äußeren Darstellung ist, so ist die Personengestaltung gleicher Art. Die Personengalerie umfasst auffällig stilisierte Typen, 8 oder um Böök zu zitieren: „Med en så omogen psykologi är det helt naturligt, att själfva fabeln ofta är alldeles otrolig“ 9 (mit einer so unreifen Psychologie ist es ganz natürlich, dass die Geschichte oft völlig unglaubhaft wird). Aus ‘realistischer’ Perspektive entwickelt sich der Handlungsverlauf nicht besonders wahrscheinlich. Wahrscheinlich ist es aber gemäß den Prinzipien der Auktoritätsquelle. Die äußere Beschreibung ist zwar oft blass und abstrakt, aber sie ist zu einem solchen Grad naturgetreu, dass sie mit den traditionell stoischen Tugendidealen, kombiniert mit einem platonisierenden Blick auf die Dinge, übereinstimmt und Zeichen für universelle Konstanten ausmacht. Sogar die Charaktere sind naturgetreu als Typen: Repräsentanten für universelle Wahrheiten. In dieser Hinsicht ist auch die fiktive Handlung wahrscheinlich - diese ergibt sich natürlich aus diesen universellen Tugendtypen und Wahrheiten. Dieses Prinzip schließt großen Detailreichtum und ‘Realismus’ aus. 1 $ {C ’ G $ < Es scheint also, dass der Mangel an Realismus nicht auf einem Unvermögen beruht, sondern eine bewusste Wahl bzw. Auslassung ist, eine Art Absage. Die Wahl hängt davon ab, welchen Auktoritäten man sich anschließt, und das wiederum ist eine Frage des Genres. Die wichtigsten literarischen Auktoritäten für Adalriks och Giöthildas Äfwentyr waren die Aeneis und zwei Romane aus dem 17. Jahrhundert: Télémaque, geschrieben 1699 von François de Salignac de la Mothe-Fénelon und Argenis, vom Engländer John Barclay 1621 auf Latein geschrieben. Diese Bücher waren enorm einflussreich: Viele glaubten damals, dass Romane gefährlich und verführerisch waren, aber Télémaque und Argenis waren Bücher, welche sogar die schärfsten Kritiker schätzen konnten, da sie nützlich und erbaulich waren und den Leser erzogen. 11 Die Aeneis und Télémaque handeln von politischer Erziehung und Reifung - der eine wichtige Teil in der Erzählung von Adalrik - während Argenis die wunderbare Liebe zwischen zwei jungen, tugendhaften Menschen beschreibt - der andere Teil von Adalriks Geschichte. Natürlich muss aber der Stil nicht unschön sein, weil die Handlung moralisch erbaulich ist. Im Gegenteil, es war üblich, dass die Romane moralische Vorbilder prä- 8 Vgl. Stålmarck: Jacob Mörk, S. 220-230. 9 Böök: Romanens och prosaberättelsens historia, S. 145. 10 Im Schwedischen minusgrepp, ‚Minusgriff’. Anm. d. Ü. 11 Siehe z.B. Rydelius, Andreas: Nödiga Förnufts-Öfningar, at Lära kenna thet sundas wägar Och Thet osundas felsteg. Andra vplaget, Ökt med Siette Delen, som nu är i ordningen then Femte. Linköping 1737, S. 23. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 291 sentierten. Man nehme John Barclays Argenis, der vielleicht einflussreichste Roman von allen. Dieser wurde in viele Sprachen übersetzt, auch ins Schwedische. Dort ist der Stil anschaulich und mitreißend, in jeder Hinsicht ein Lesevergnügen, obwohl das Buch sehr moralisch ist. Der erste schwedische Roman imitiert Argenis in sehr hohem Grad, aber trotzdem erscheint der Stil trocken und langweilig. Man kann dies jedoch nicht damit erklären, dass die Verfasser einfach schlecht waren, denn sie waren wie alle mit einer Ausbildung gründlich rhetorisch gedrillt. Und eine der wichtigsten Übungen der Rhetorik ist immer die evidentia gewesen, also das anschauliche Darstellen von Sachverhalten, damit diese vor den Augen des Empfängers erscheinen. Dies ist der eigentliche Ausgangspunkt der Rhetorik: Derjenige Advokat, der seine Version des Geschehenen am deutlichsten visualisieren kann, gewinnt den Prozess, derjenige Politiker, der seine Zukunftsvision überzeugend präsentieren kann, gewinnt die Stimmen. Außerdem ist es nur das Romangenre, das in Schweden so hoffnungslos rückständig ist - in anderen Genres halten wir mit den europäischen Autoren ganz gut mit. Das Problem mit den frühen schwedischen Romanen ist nicht, dass sie keinen guten literarischen Stil zustandebringen konnten. Das Problem ist vielmehr, dass sie die Wahl trafen, keinen anschaulichen und mitreißenden Stil zu verwenden. Nicht alle, aber ein großer Teil der Techniken des ‘Realismus’ sind also vorhanden, sie kommen aber in schwedischen Romanen nicht zur Anwendung. Und dies obwohl das Romangenre gerade wegen seiner Anschaulichkeit, seiner mitreißenden Schilderung beliebt war. Offenbar hat dies mit Auktorität zu tun. Télémaque und Argenis waren also zwei der einflussreichsten Romane der Zeit, und die Auktorität der Aeneis war selbstverständlich. Von diesen Werken nimmt sich Adalriks och Giöthildas Äfwentyr die Auktorität. Die Struktur stimmt überein - eine Art moralischer Erziehungsweg - und man findet auch direkte Anleihen. 12 Aber die Argenis hat eine bedeutend farbigere und lebendigere Darstellung als Adalriks och Giöthildas Äfwentyr, ganz zu schweigen von der Aeneis, die über Jahrhunderte hinweg als vorbildliches Beispiel einer anschaulich dargestellten Schilderung hervorgehoben wurde. Bemerkenswert ist also, dass die Verfasser von Adalriks och Giöthildas Äfwentyr, wenn sie die älteren Texte verwenden, die Handlungen und Motive entlehnen, jedoch darauf verzichten, den ‘Realismus’ zu übernehmen. Dies scheint gänzlich beabsichtigt. Der Anfang des Romans weist derartige Übereinstimmungen mit dem Anfang der Argenis auf, dass wir dies als ein Signal auffassen müssen: Die Verfasser schlagen den Ton an, indem sie auf ein maßgebendes und respektiertes Buch verweisen. Wir können einen Vergleich mit der schwedischen Übersetzung der Argenis machen, die damals erschienen war: WErlden hade ännu icke erkändt Rom för sin Herrskarinna, och den store Ocean war ei eller det Wälde undergifwen som wid Tibern fördts, när sig tildrog, at en Yngling af 12 Siehe Vasenius, Valfrid: Jacob Henrik Mörk. Litteraturhistorik teckning. Helsingfors, Stockholm 1892. Mats Malm 292 ogement anseende utur ett främmande Skepp upsteg på Siciliens Strand, rätt där Floden Gelas i Hafwet faller. 13 Die Welt hatte Rom noch nicht als ihre Herrscherin erkannt, und der große Ozean war auch nicht der Macht untertan, die am Tiber herrschte, als es sich so zutrug, dass ein Jüngling von ungemeinem Ansehen aus einem fremden Schiff an Siziliens Strand stieg, gerade dort, wo der Fluss Gelas ins Meer mündet. Die Einleitung von Adalriks och Giöthildas Äfwentyr lautet folgendermaßen: Atle-Ö hade ännu ei förenat alla sina krafter under ett Hufwud, och Illrådas illgierning war ännu ei blefwen en Saga uti werlden, när ett Skepp kastade sitt Ankare under en liten Ö uti Gliss-Siön. Bland andra war uppå detta Skepp en Kunga-Son, berömd genom sina Wapen, dem Lyckan med härliga segrar bekrönt. Die Atle-Insel hatte noch nicht alle ihre Kräfte unter einem Haupt vereint, und Illrådas Missetat war noch nicht zu einer Sage draußen in der Welt geworden, als ein Schiff bei einer kleinen Insel im Gliss-See vor Anker ging. Unter anderen war auf diesem Schiff ein Königssohn, berühmt durch seine Waffen, welche das Glück mit herrlichen Siegen bekrönt hatte. Noch sind die Übereinstimmungen bedeutend auffallender als die Ungleichheiten. Die Weltmacht Rom hat ihre Entsprechung in der Atle-Insel (Schweden) und der Jüngling, der die Zukunft des Reichs beeinflussen wird, wird eingeführt. Phrasen und Rhythmen sind parallel in den beiden Texten: Das Gebiet war „ännu icke“/ „ännu ei“ (noch nicht) einer Zentralmacht unterworfen „och“ (und) jemandes Macht war noch nicht anerkannt worden, „när“ (als) ein Schiff die Küste bei einer Flussmündung/ einer Insel erreicht hatte und damit ein königliches Themenfeld eröffnet. Gegen Ende fügt der schwedische Roman noch einen Satz ein, der den wichtigsten Hintergrund liefert, während der Jüngling der Argenis lediglich mit seinem Aussehen präsentiert wird, welches in seiner Ungewöhnlichkeit den Adel auf eine knappere Weise angibt. Die Umgebung wird in der Argenis vielleicht etwas genauer präsentiert: Die Präzisierung eines benannten Flusses, der am Strand einer benannten Insel ins Meer fließt, gibt eine deutlichere Einrahmung als die unbekannten Ortsnamen, welche ihre Einbettung in die „Wortzeichnungen“ etwas später in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr erhalten. Das personifizierte Glück in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr ist so klischiert, dass es keine Anschaulichkeit zu schaffen vermag, und gewiss nicht für die konkrete Umgebung. Adalriks och Giöthildas Äfwentyr beginnt also mit dem Versetzen der Argenis ins altnordische Milieu. Dadurch wird dem Leser einigermaßen klar, was ihn erwartet: ein sittlicher Erziehungsroman mit spannenden Verwicklungen und genießbarem Stil. Aber diese Erwartung wird sogleich gebrochen, da die Unterschiede im Folgenden größer werden. Die Argenis fährt mit febriler, stellenweise detaillierter Aktivität fort, welche die Stille des Helden kontrastiert. Die Stille wiederum wird mit dem 13 Barclay, John: Joan Barclaji Argenis, På Swensko öfwersatt, Jämte Uttolkningen öfwer dess enkannerliga Ändamål och Afseende; Försedd med nödige Anmärkningar och Register. Stockholm 1740. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 293 inneren Zustand der Person verbunden, ein Effekt der Seereise, und wird ebenso mit einem heftigen Aufwachen kontrastiert: Hans Betjente buro med Skepps-Folkets tilhielp sin Herres Rustning af Farkosten, och hißade Hästarne med omspände Giordar upp på Landet. Han sjelf hade imedlertid, effter han war owahn wid Siö-resans Olägenheter, kastat sig omkull på Sanden, och försökte at igenom Sömn betaga den Yrhet som Böljornes kastande hos honom förorsakat, när i det samma ett ganska häfftigt Skrij först brydde hans hwilande Sinnen med en obehagelig Dröm, och strax kom så när, at det med sin Förskräckelse honom af Sömnen upwäckte. En Skog hade han i Åsickt, som wäl war gles, men med stora til hwarannan sig utbredande Trän sträckte sig ganska wida, under hwilka woro små Högder, betäckte med Tistel och sammansnodde Buskar, de där lika som til Försåts anställande därstädes upwäxt. Utur denne Skog framryckte ett mycket wackert Fruentimmer ut på Slätten, hwars Ögon röde af gråt, och på sorgeligit wijs omkring Axlarne nederrefne Hår, giorde hennes Anseende faseligit. Hästen, som hon red uppå, hant ei så fort löpa, som icke hon med Hugg och Slag ännu mera skyndade på honom, och skriade derjämte så grufweligen som en ursinnig Menniska. Seine Diener trugen mit Hilfe der Schiffsbesatzung die Rüstung ihres Herrn aus dem Gefährt und trieben die Pferde mit umgebundenen Lederriemen an Land. Er selbst hatte sich inzwischen, weil er die Unannehmlichkeiten der Seereise nicht gewohnt war, in den Sand geworfen, und versuchte durch Schlaf das Schwindelgefühl abzuwenden, das die schlagenden Wellen bei ihm verursacht hatten, als gleichzeitig ein ziemlich heftiger Schrei zuerst seine ruhenden Sinne mit einem unangenehmen Traum störte und bald so nahe kam, dass er ihn mit seiner Schrecklichkeit aus dem Schlaf aufweckte. Einen Wald hatte er im Blickfeld, der ziemlich licht war, aber mit großen, einander mit den Zweigen berührenden Bäumen, unter welchen kleine Hügel waren, bedeckt von Disteln und dichten Büschen, die dort wie mit hinterlistiger Absicht gewachsen waren. Aus diesem Wald stürzte ein sehr schönes Frauenzimmer auf die Ebene hinaus; ihre rotgeweinten Augen und das auf traurige Weise auf die Schultern herabhängende Haar machten ihr Aussehen schrecklich. Das Pferd, auf welchem sie ritt, vermochte nicht so schnell zu laufen, so dass sie es mit Hieben und Schlägen noch mehr antrieb und dabei so schauerlich schrie wie ein wahnsinniger Mensch. Die Schilderung ist sehr mitreißend: Die Konkretisierung, der Kontrast zwischen Ruhe und Bewegung, die detaillierte Beschreibung des Waldes und der Frau wird dadurch verstärkt, dass die Handlung am Zitatende durch die Augen des Helden geschildert wird - ein Perspektivenwechsel der überkultivierten Art. Aber was geschieht in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr? Die Präsentation des Helden wird mit einer unüblich undetaillierten Hintergrundszeichnung ausgeweitet. 14 Keine konkreten Handlungen werden geschildert; Gefühle werden benannt, haben aber keine Anknüpfung an die aktuelle Situation. Die Bewegung, die ausgemacht werden kann, ist metaphorisch: Der Königssohn eilt mit großen Schritten aufwärts: 14 Vgl. Stålmarck: Jacob Mörk, S. 220-223. Mats Malm 294 Olyckan, som ifrån de första Åhren af hans Lefnad förfölgt honom, och den han med större mod öfwerstigit, hade hos werlden upwäckt en ömse wördnad och medlidande. Det war Hialmars Son, för sin Dygd wördad af de dödeliga och älskad af de odödeliga. Thyr hade i synnerhet inneslutet honom i sitt hägn. Han uppfylte intet allenast hans Hierta med ett Mod, som kunde förachta döden, utan ock bestrålade hans Sinne med en strima af wisheten, så at han kunde twinga alla sina begiär och med sielflikhet öfwerwinna alla Lyckones hotande omkast. Och hela Norden fästade med förundran sina Ögon på en Kunga-Son, hwilken med så stora steg skyndade sig til den högsta spets af ähran och odödligheten. Das Unglück, das ihn seit seinen ersten Lebensjahren verfolgt hatte und welches er mit größerem Mut überwunden hatte, hatte in der Welt sowohl Hochachtung als auch Mitleid erweckt. Dies war Hjalmars Sohn, für seine Tugend geachtet von den Sterblichen und geliebt von den Unsterblichen. Insbesondere Thyr hatte ihn in seine Obhut genommen. Er erfüllte nicht nur sein Herz mit einem Mut, der den Tod verachten konnte, sondern erleuchtete auch seine Sinne mit einem Schimmer der Weisheit, so dass er alle seine Begehren zügeln und mit Selbstähnlichkeit alle drohenden Wendungen des Glücks überwinden konnte. Und der ganze Norden richtete seinen Blick auf einen Königssohn, welcher mit so großen Schritten dem höchsten Gipfel der Ehre und Unsterblichkeit entgegeneilte. Es wäre erstaunlicher gewesen, wenn die Unterschiede geringer gewesen wären, aber wir können konstatieren, dass Adalriks och Giöthildas Äfwentyr sich auf ganz andere Dimensionen der Fiktion stützt als die Argenis. Während die Argenis keinerlei Bedarf an weiterer Auktorisierung innerhalb des moralisierenden Systems zeigt, sondern sogleich mit der lebendigen Schilderung beginnt, die vermittelt werden soll, hat Adalriks och Giöthildas Äfwentyr bereits die Funktion des Helden als musterhaftes Vorbild und Verkörperung der alten nordischen Tugenden, gestärkt durch die Einverleibung einer altnordischen Gottheit, festgelegt. Im Kontrast zur Argenis fährt Adalriks och Giöthildas Äfwentyr mit noch ausführlicheren Hintergrundbeschreibungen fort, zuerst von Adalriks Absicht und darauf vom politischen Hintergrund. Und dieser Mangel an Veranschaulichung ist - mit einigen Ausnahmen - eine durchgehende Linie im Roman. Man entfernt sich also vom Realismus der Vorlage und hält sich ans Allgemeine oder Universelle, an unsterbliche Tugenden oder Wahrheiten. Dies ergibt sehr abstrakte Ausführungen; aber sogar dann, wenn sich etwas ereignet, werden die Beschreibungen beinahe durchsichtig, so dass man nie vergisst, dass sie im Grunde Zeichen sind und dass ihre Bedeutung darin liegt, auf das hohe Geistige, die universellen Wahrheiten zu verweisen. Adalriks och Giöthildas Äfwentyr wird also an die Argenis gebunden, um Auktorität zu erlangen, und diese Anknüpfung bringt automatisch eine hohe Wertung des Themas und der Absicht. Aber um die Autorität zu stärken, binden sich die schwedischen Autoren bewusst stärker an das konventionelle moralphilosophische Wertesystem und betonen das Geistige, Universelle gleichzeitig wie sie das Materielle, Körperliche aus der Schilderung herausfiltern. Ich denke also, dass die literarische Technik direkt gewählt wurde, um dem Auktoritätsprinzip zu entsprechen. Sogar der Stil erklärt uns, dass es hier geistige Wahrheiten gibt, von denen man erbaut Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 295 wird. Die Gestalten der Erzählung sind durchsichtig, damit wir durch sie hindurchsehen können und die wahren Tugenden auf dem universellen Niveau erblicken. Der ‘Realismus’, die Veranschaulichung, wird wichtig als Negativtechnik. Evidentia, die wichtige rhetorische Figur, die für lebendige und mitreißende Darstellung steht, wird verabschiedet. Sie erzeugt Leben und Konkretisierung, zieht das Thema dadurch aber in die Materie hinab. Das Ideal der perspicuitas, Klarheit der Sprache, ist zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückgekehrt: ‘Durchsichtigkeit’. In Adalriks och Giöthildas Äfwentyr werden die Gestalten der Erzählung durchsichtig, weil wir nicht vergessen sollen, dass die Personen eigentlich Zeichen sind und auf die höheren Wahrheiten verweisen. Das Grundprinzip ist die Selbstähnlichkeit. Im obigen Zitat wurde dem Helden Adalrik diese Eigenschaft zugeschrieben, und sich selbst ähnlich zu sein bedeutet, an den höheren Tugenden festzuhalten, ungeachtet wie die Welt sich ändert, verändert wird und betrügt. In hohem Ausmaß ist dies das stoische Ideal, oder eher die römische Rauheit, die für die alten Nordländer als charakteristisch angesehen wird. Die Selbstähnlichkeit ist in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr zum stilistischen Prinzip geworden, so weit entfernt von der Unfestigkeit, wie man nur kommen kann. {C _ 1 $ Indessen gibt es andere Auktorisierungsprinzipien, die einen höheren Grad an ‘Realismus’ und spannender Schilderung, d.h. mehr Unfestigkeit, erlauben. Der Mechanismus, der das Verhältnis zwischen Auktorität und Stilistik steuert, wird noch deutlicher, wenn man die Perspektive etwas ausweitet. Einer der beiden Verfasser von Adalriks och Giöthildas Äfwentyr, Jacob Mörk, schrieb einige Jahre später einen weiteren Roman. Er heißt Thecla, eller den bepröfwade trones dygd (1749-58) 15 (Thecla oder Die Tugend des geprüften Glaubens) und basiert auf der Legende der Märtyrerin Thecla, die zu Kaiser Neros Zeiten ihres Glaubens wegen verfolgt wurde. So unzufrieden wie Böök mit Adalriks och Giöthildas Äfwentyr war, so zufrieden war er mit Thecla. Denn hier fand er einen bedeutend stärkeren Realismus: teils in den Natur- und Milieubeschreibungen, teils in den psychologischen Porträts. Man kann spekulieren, ob dies daran liegt, dass Mörk als Mensch gereift und der realistischen Porträtierung nun, ein paar Jahre später, inzwischen mächtig war. 16 Es hängt jedoch vielmehr mit dem Auktorisierungsprinzip zusammen, denn dieses ist ein ganz anderes in Thecla als in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr. 15 Mörk, Jacob: Thecla, eller den bepröfwade trones dygd. Stockholm 1749-1758. 2. Auflage Stockholm 1758-1759 und diverse spätere Auflagen. 16 Böök: Romanens och prosaberättelsens historia, S. 161. Mats Malm 296 Abb. 2: Titelblatt aus „Thecla, eller den bepröfwade trones dygd“ von Jacob Mörk, Erster Teil. Stockholm 1749. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 297 Die psychologische Porträtierung in Thecla kann folgendermaßen aussehen - nicht ganz gemäß dem modernen Ideal, aber lebendig und anschaulich: Såsom et skepp, hwilket tryckes af stridande stormar, arbetar och snart dränkes i de fraggande böljor, som ifrån alla sidor göra et wåldsamt anfall; Så war det ock med Theclas sinne. Hwart hon wände sina tankar, såg hon ej annat, än oro och alt det, som hotade at sänka des hjerta uti en afgrund af sorg och förtwiflan. / …/ Hon påminte sig icke utan rysning de skarpa bilor och lysande lågor / …/ Hon förestälte sig en ewig och oändelig kraft, som i sin egen helighet dömde och straffade alt det, som stridde mot hans oryggeliga lag / …/ Men när hon såg tilbaka / …/ föll hennes sinne uti et djup af ängslan och oro. 17 Wie ein Schiff, welches von kämpfenden Stürmen gedrückt wird, arbeitet und bald von den schäumenden Wellen getränkt wird, die von allen Seiten einen gewaltsamen Anfall verüben; so war es auch mit Theclas Sinneszustand. Wohin sie auch ihre Gedanken wandte, sah sie nichts anderes als Unruhe und alles, was ihr Herz in einen Abgrund von Trauer und Verzweiflung zu versenken drohte. / …/ Sie erinnerte sich nicht ohne Schaudern der scharfen Beile und leuchtenden Flammen / …/ Sie stellte sich eine ewige und unendliche Kraft vor, die in ihrer eigenen Heiligkeit urteilte und all das strafte, was gegen ihr unerschütterliches Gesetz verstieß / …/ Aber als sie zurückblickte / …/ fiel ihr Sinn in einen Abgrund von Furcht und Unruhe. Außer dem einleitenden Gleichnis vom sturmgeplagten Schiff ist hier alles gänzlich unbewegt, die psychologische Schilderung zeigt sich jedoch völlig anders als in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr. Wir befinden uns wirklich in Theclas Bewusstsein und können dem Innenleben eines Menschen folgen, seinen Beweggründen und Ängsten. Das technische Mittel hier ist, dass wir erfahren, was sie vor sich sieht: ein stellvertretendes Sehen und, nicht zuletzt, ein stellvertretendes Fühlen. Auf diese Weise können wir den Veränderungen ihrer Gefühle folgen. Theclas Blick fällt plötzlich auf ein Bild von Jesus, und als sie ihr Leiden mit dem Leiden Christi identifiziert, erfährt sie Trost. Das Blut und die Wunden auf seinem Körper werden genau beschrieben, und es wird deutlich gemacht, wie beider Leiden übereinstimmt. Die detaillierte und lebendige Beschreibung des toten Jesus ist also eine erweiterte Beschreibung von Theclas Gefühlsleben und Stimmung. Durch die Identifikation von Thecla und Christus, zwischen ihren Qualen und seinen Qualen, wird eine wohlbekannte Leidensgeschichte aktualisiert: Uppå deßa orden fölgde en ström af suckar och tårar, och des oroliga hjerta wiste icke hwarwid det skulle stödja sig under så många bekymmer. Hennes ögon, som i sit tröstlösa tilstånd, swäfwade på alla sidor, föllo ändteligen på en tafla, som förestälte henne lifsens Förste, dödad på et trä. Det hufwud, som med minsta wink wänder werldenes grundwalar och befaller stjernorna i sit lopp, war med taggefulla törnen omgifwit. Det ansigte, som Änglarna ej se utan häpenhet, war af spottande tungor orenadt. De ögon, som med sit ljus uplifwa och fägna alla lefwande, woro slutna i mörker. De händer, som beredt och uppehålla hela werlden, woro med spikar genomborade: Al- 17 Mörk: Thecla, I, S. 17-18. Mats Malm 298 magten war fängslad, kärleken sårad, härligheten naken, heligheten fördömd, Skaparen af kreaturen förfölgd, och sjelfwa lifwet dödadt. 18 Auf diese Worte folgte ein Strom von Seufzern und Tränen, und ihr unruhiges Herz wusste nicht, worauf es sich unter so vielen Sorgen noch stützen sollte. Ihre Augen, die in ihrem trostlosen Zustand überall umherschweiften, erblickten schließlich ein Gemälde, das den Fürst des Lebens darstellte, getötet an einem Holz. Das Haupt, das mit dem kleinsten Wink die Grundfesten der Welt verändert und die Sterne in ihre Bahnen befiehlt, war von spitzigen Dornen umgeben. Das Gesicht, welches die Engel nicht ohne Erstaunen sehen, war von spottenden Zungen verunreinigt. Die Augen, die mit ihrem Licht alle Lebenden erquicken und erfreuen, waren in Dunkelheit geschlossen. Die Hände, die die ganze Welt geschaffen und sie aufrecht erhalten, von Nägeln durchbohrt: Die Allmacht war gefangen, die Liebe verwundet, die Herrlichkeit nackt, die Heiligkeit verdammt, der Schöpfer der Kreaturen verfolgt, und das Leben selbst war getötet. Das Bild vom Leiden Christi schenkt Theclas Leiden Bedeutung und auch der Beschreibung ihres Leidens, denn es sind die christlichen Wahrheiten, welche Auktorität verleihen. Theclas Gefühle sind also stellvertretend für diejenigen Jesu und dann verdoppeln sich die stellvertretenden Gefühle: Theclas Gefühle werden sehr ausführlich beschrieben, doch hat ihre Mutter alles mitgehört und die Gefühle übernommen. Jetzt verkörpert sie ihrerseits das innere Geschehen. Die Gefühlsausdrücke können also verstärkt werden, indem sie dupliziert werden. 19 Es geht deutlich hervor, dass Thecla von der Andachtsliteratur und der religiösen Sprache stark geprägt ist. Aus dieser sind auch die ‘realistischen’ Techniken entlehnt, von denen sich eine ganze Reihe ausmachen lässt: 1. die Veranschaulichung von Gefühlen mit Hilfe von Bildern. 2. die lebendige Beschreibung des Sinneszustandes, mit ausgeprägten Wechseln von Gedanken und Stimmungen. 3. die Verstärkung von Gefühlsausdrücken durch die Erhöhung der Anzahl Personen, welche diese erleben. 4. die detaillierte Beschreibung an sich. In der Andacht ist es wichtig, dass sich der Gläubige Szenen aus der Bibel ausmalt und diese Bilder festhält, während er oder sie gleichzeitig über die Bilder und ihre Bedeutung meditiert. 5. die detaillierte Beschreibung kommt im Roman auch in Naturschilderungen vor. Dabei geht es darum, Gottes Schöpfung als Zeichen in Gottes Buch zu beschreiben: die Schöpfung soll gedeutet werden und darüber hinaus verdient sie es, genau beschrieben zu werden als eine Art Lobgesang auf Gottes Werk. 6. die innere Rede. Der Gläubige tritt in einen Dialog mit Jesus, was einen besonderen, intimen Ton hervorruft. 18 Mörk: Thecla, I, S. 20. 19 Man kann die Technik mit derjenigen Samuels Richardsons vergleichen, welche er in Pamela, or Virtue rewarded anwendet. Die Form des Briefromans ermöglicht es wiederzugeben, wie andere auf die Erlebnisse der Hauptperson reagieren. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 299 Dieser Techniken bediente man sich in der religiösen Sphäre schon lange, bevor sie sich in der weltlichen Literatur durchsetzten. Stina Hansson und Valborg Lindgärde haben sie dokumentiert und aufgezeigt, wie sie in der Romantik in die weltliche Literatur übernommen werden. 20 Dies hat zur Folge, dass sie vor allem mit der bedeutend moderneren Literaturauffassung, die mit der Romantik aufkam, in Verbindung gebracht werden und dass wir diese automatisch als bedeutend moderner empfinden. Aber das Zentrale ist eigentlich, dass sie mit einem bestimmten Thema und einem bestimmten Auktorisierungsprinzip zusammengehören. Der eigentliche Kern des Christentums sind das Leiden und die Gefühle. In der Andachtsliteratur entwickelte man Techniken, um Gefühle wiederzugeben und nicht zuletzt auch, um sie erst einmal hervorzurufen. Zu Beginn waren die Grenzen dafür, was sich in ‘weltlicher’ Literatur gehörte, sehr klar und die Ausdrucksformen der religiösen Literatur waren in hohem Grad in ihre eigene Sphäre eingeschlossen. Im 17. Jahrhundert sind die Grenzen zwischen weltlicher und geistlicher Literatur recht deutlich; im 18. Jahrhundert lockern sie sich auf und mit der Romantik werden literarische Techniken aus der Andachtsliteratur in die weltliche Literatur überführt und zu einem wichtigen Teil der subjektiven Formensprache der romantischen Literatur. Thecla hat ein Thema, das erlaubt, literarische Techniken aus der religiösen Sphäre zu importieren. Weil es ein Thema aus der christlichen Geschichte ist, sind es auch die christlichen Vorstellungen, die hier für die Entstehung von Auktorität wichtig sind: Das Schicksal des Romans hängt davon ab, ob es gelingt, ihn an diesen Vorstellungskomplex zu knüpfen, im Unterschied zu Adalriks och Giöthildas Äfwentyr, das sich an einen distanzierten und abstrakteren moralphilosophischen Code bindet. Theclas Auktoritätsquelle führt also einen Satz literarischer Techniken mit sich, die sonst nicht hätten angewendet werden können. Das zeigt, dass der Verfasser eine Reihe ‘realistischer’ Techniken beherrschte, die in Thecla notwendig waren. In Adalriks och Giöthildas Äfwentyr hingegen wäre die Auktorität verlorengegangen, wenn man solche Techniken angewendet hätte: Die Auktoritätsquelle schließt sie aus. Dies betrifft vor allem stilistische Techniken, die man für gewöhnlich als realistisch auffasst. Aber es gilt ebenso für ‘Realismus’ im weiteren Sinne. Zum realistischen Roman gehört, dass nicht nur das Individuum geschildert wird, sondern auch seine Entwicklung. Ereignisse und Milieu beeinflussen das Individuum, so dass die Figur am Schluss des Romans nicht mehr dieselbe ist wie zu Beginn. Entwicklungen dieser Art fehlen beispielsweise im Epos und in den frühen Romanen. Sie fehlen auch in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr: Ihre Erlebnisse formen die Figuren nicht, sie stellen lediglich Prüfungen dar, durch welche ihr Charakter, den sie die ganze Zeit über schon hatten, nur geprüft und gefestigt wird. In Thecla dagegen durchläuft 20 Hansson, Stina: Ett språk för själen. Litterära former i den svenska andaktslitteraturen 1650- 1720. Skrifter utgivna av Litteraturvetenskapliga institutionen vid Göteborgs universitet 20. Göteborg 1991; Lindgärde, Valborg: Jesu Christi Pijnos Historia Rijmwijs betrachtad. Svenska passionsdikter unter 1600och 1700-talet. Litteratur Teater Film. Nya serien 12. Lund 1996. Mats Malm 300 die Hauptperson eine Entwicklung, die auch an das Auktorisierungsprinzip gebunden ist. In der religiösen Literatur wird das Subjekt zu einer Art Christusidentifikation entwickelt, denn es geht um die Entwicklung und Erlösung der Seele. 21 Wichtig in diesem Zusammenhang ist also, dass auch diese Form des ‘Realismus’ ein direktes Resultat der Auktorisierungsquelle ist. Es gibt realistische Techniken, derer man sich bedienen kann, und in Thecla schaffen sie Auktorität, aber in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr werden sie als Negativtechnik verwendet, um Auktorität herzustellen. Der grundlegende Unterschied zwischen Adalriks och Giöthildas Äfwentyr und Thecla ist, dass die Auktorisierungsprinzipien des ersten Romans Unfestigkeit ausschließen - die guten Charaktere und die Art der Schilderung sind im Großen und Ganzen von Selbstähnlichkeit geprägt. Thecla baut stattdessen auf Auktorisierungsprinzipien, die Unfestigkeit geradezu voraussetzen: Die Heldin verkörpert Verzweiflung, Unbeständigkeit und Schwäche der christlichen Seele angesichts der Versuchungen und Bedrohungen des irdischen Daseins. Die Grundeigenschaften des guten Charakters sind hier Unbeständigkeit und Instabilität. Die guten Charaktere sind nur fest und entschlossen, wenn sie vom Bösen bedrängt werden. Und weil das Thema der Unfestigkeit auf verschiedenen Ebenen Raum schenkt, kann sich auch die Schilderung des Äußeren und Inneren der bösen Charaktere mit greifbarer Anschaulichkeit und Kraft entwickeln. Das Prinzip der Selbstähnlichkeit verändert sich also mit der Nähe zur religiösen Sphäre. Für den Gläubigen ist es selbstverständlich, die Gefahren und Versuchungen der Welt beständig zu fürchten, und somit ist ein breites Spektrum von Techniken möglich, die in Adalriks och Giöthildas Äfwentyr nicht verwendet werden konnten. . + Der Ausgangspunkt für das Misstrauen gegenüber der Veranschaulichung, evidentia, ist, dass sie von vornherein als argumentativ aufgefasst wird. Die Veranschaulichung bereitet eine These vor, sie wird gebraucht um eine Absicht durchzusetzen, sie führt zu einer Behauptung oder zu einem Anspruch. Das ist die Grundannahme der Rhetorik. Man könnte sagen, dass jede literarische Veranschaulichung diese eingebaute Lesererwartung innehat. Dies ist natürlich ans Genre gebunden: Am stärksten hat es sich innerhalb der exempla der Predigtkunst entwickelt, wo man die Bestrafung der Sünden und der Belohnung der Tugenden systematisch veranschaulichte. Es ist bekannt, wie die Literatur von jeher nach ihrer Nützlichkeit beurteilt worden ist und wie man versucht hat, in jeder Erzählung die ‘richtige’ Moral zu finden. Die Veranschaulichung drückt also eine Wertung aus, eine moralische Stellungnahme. Deshalb zeigt sich in fast jedem Vorwort, jeder Diskussion über den Roman, wie man ihn verteidigt, weil er die Belohnung der Tugend und die Bestrafung des Lasters 21 Hættner Aurelius, Eva: Inför Lagen. Kvinnliga svenska självbiografier från Agneta Horn till Fredrika Bremer. Literatur Teater Film. Nya serien 13. Lund 1996, S. 60-64. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 301 zeigt. Die Gegner sagen stattdessen, dass der Roman die Unsteten verleitet, indem er verführerische Bilder des Lasterhaften präsentiert. Der Visualisierung wird eine unerhörte Macht zugesprochen. Diese Auffassung von Veranschaulichung ist recht verbreitet. Für die schwedische Literatur wird sie meines Erachtens besonders wichtig, weil sie hier mit dem Sprachpatriotismus vermischt wird. Es gibt eine sprachpuristische Haltung, die ihre Wurzeln in der Antike hat, innerhalb der schwedischen Debatte aber eine besonders große Rolle spielt. Sie vertritt letzten Endes die Haltung, dass die gute Sprache sich nicht in schöne Kleider kleidet oder sich schminkt. Denn Schminke und Verkleidung sind Verführungsmittel der Last. Die schlechte Literatur bedient sich also der Veranschaulichung, um die Gutgläubigen zu täuschen und kleidet das Laster in ein verführerisches Sprachgewand. Die gute Literatur hingegen darf die Veranschaulichung nicht einmal verwenden, um die Schönheit der Tugend zu verdeutlichen, denn die Tugend soll auch ohne sprachliche Kosmetik schön genug sein. Dagegen darf die gute Literatur das Laster in seiner ganzen Schrecklichkeit ausmalen, um davor zu warnen und um zu verhindern, dass sich die Menschen davon verleiten lassen. Dies ist eine wichtige Vorstellung. Nach dieser Ansicht ist also eine anschauliche Darstellung immer mit Laster und Unmoral verbunden. Entweder sind es die Verlockungen des Verführers oder es ist das Ausmalen der wirklichen, hässlichen Gestalt des Verführers durch die Guten. Diese Vorstellung scheint so grundlegend zu sein, dass man sie selten explizit formuliert sieht. Aber ich glaube, dass sie ein zentraler Ausgangspunkt des Phänomens der Romankritik ist. Das deutlichste Beispiel, das ich gefunden habe, ist Carl Christoffer Gjörwell, der 1754 eine Debatte über Moral und Literatur geführt hat. Als die Diskussion auf die Spitze getrieben worden war, sagte er folgendes: Sanning och Dygd tala sjelfwa til sin förmån, intaga oklädde menlösa hjertan, wäxa med frodighet, när de hatas, och lefwa, när odygden utflåsar en matt anda efter deras hädanfärd. Lasten däremot tarfwar altid andras talträngdhet, måste altid inswepa sin blygd under lånta kläder, wantrifs under sit förmenta uphöjande, och trånar ut sit nesliga lif under ständiga bet af en inwärtes plågomask. 22 Wahrheit und Tugend sprechen selbst zu ihrem Vorteil, unbekleidet nehmen sie harmlose Herzen ein, wachsen üppig, wenn sie gehasst werden und leben, wenn die Untugend einen matten Geist nach ihrem Hinscheiden aushaucht. Das Laster hingegen braucht immer die Redelust anderer, muss seine Scham immer unter geliehenen Kleidern verbergen, ist unzufrieden mit seiner vermeintlichen Erhabenheit und erduldet sein schmähliches Leben unter den ständigen Bissen eines inneren Plagewurms. Es ist also nur das Laster, das man in schöne Beschreibungen und evidentia kleiden muss. Die Tugend macht sich unbekleidet am besten, sie braucht keine evidentia. Dagegen hatte der Gegner Gjörwells in der Diskussion nichts zu sagen. Es scheint unmöglich, dies in Frage zu stellen. Aus dieser Sichtweise ist es nur das Laster, das veranschaulicht wird oder zu werden braucht, der Verschönerung oder der Abschre- 22 Gjörwell, Carl Christoffer: Bref Om Blandade Ämnen. Stockholm 1754, S. 53. Mats Malm 302 ckung wegen. Und die Veranschaulichung, die ohne Zweck geschieht oder um das Gute zu verschönern, ist im besten Fall hedonistisch und damit verwerflich. Treibt man dies auf die Spitze, ist immer negativ, was mit evidentia dargestellt wird. Ich glaube, dass dieser Gedanke in den frühen schwedischen Romanen Niederschlag findet. Er hat mit der sprachpatriotischen Idee zu tun, das Schwedische sei die ‘reinste’ Sprache, der Ursprache am nächsten. Wahrscheinlich liegt diese sprachmoralische Haltung wie ein implizites Fundament in der Romandebatte, in Schweden besonders stark, weil der Patriotismus der Großmachtzeit eine ungewöhnlich starke Verbindung von Sprache, Nationalität und Moral ergeben hatte. Sie ist ein Rest des Vergangenen, liegt aber beispielsweise auf der Linie von Erik Gustaf Geijers Göthizismus und ist also auch noch im 19. Jahrhundert aktuell. Die Prämisse für den moralischen Aspekt der sprachlichen Darstellung ist also, dass Veranschaulichung argumentativ und die Schlussfolgerung daraus ist, dass diese Argumentationsform dazu gebraucht wird, um zu verführen. Dies wird meistens im Zusammenhang mit Schablonen weiblicher Verstellungskunst, verführerischer Kleidung oder Schminke formuliert. Diese Sexualisierung der Sprache ist wichtig. Die Veranschaulichung, die ihr hört, ist weiblich und betrügerisch. Die schwedische Sprache hingegen ist männlich und verlässlich. Die Moral ist männlich und verlässlich. Zu den moralischen Aspekten kommt der politische. Abgesehen davon, dass die Veranschaulichung als Beweis oder Beleg in expliziten Argumentationen fungiert, wurde sie auch zu einer Art impliziten Wertung. Die Zensur, die zumindest bis zum Pressegesetz von 1809 in verschiedenen Formen galt, schrieb vor, dass man die Politik des Reiches und der Gesellschaft wie auch angesehene Mitbürger nicht kritisieren durfte. Die wohlbekannte Folge davon war, dass sich die allegorischen Beiträge in der Gesellschaftsdebatte zu Kunst entwickelten: ein internationales Phänomen. In der Presse und in Pamphleten gediehen allegorische und satirische Schilderungen, die jedermann zu deuten wusste, die aber in vielen Fällen die Zensur umgehen konnten. Und das Charakteristikum der Allegorie ist ein Signal, das den Leser sofort dazu antreibt, eine versteckte Botschaft im Text zu suchen. Dieses Signal liegt genau in der Konkretisierung und Anschaulichkeit des Bildes. Die Formen der politischen Debatte machten also auch die Veranschaulichung unmöglich, denn eine anschauliche Passage in einem Roman weckte Verdacht auf verbotene politische Anspielung: allegorische Argumentation. Für einen ausländischen Roman war dieses Risiko zwar unbedeutend, für einen schwedischen Text jedoch offensichtlich. Dieser politische Aspekt ist wohl ebenso wichtig wie der moralische. Die Veranschaulichung ist instrumental und argumentativ. Die Veranschaulichung entspricht zu einem großen Teil den Techniken des formellen Realismus und ist ein Mittel der öffentlichen politischen Debatte, ungeachtet dessen, ob sie in Form einer Allegorie oder als Beweisführung in einer expliziten Argumentation ausgeführt wird. Das ist, verallgemeinert, die grundsätzliche Sichtweise des alten Normsystems. Soweit ich sehen kann, ist es vernünftig, den Realismus in gewissen Fällen als Negativtechnik zu bezeichnen. In anderen Fällen setzt der Roman einen Verdacht gegenüber der anschaulichen Darstellung voraus und geht anders mit ihm um. Aus Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 303 zahlreichen Beispielen wird deutlich, dass Anschaulichkeit, ‘Realismus’, nichts ist, was man erreicht, sondern etwas, das man zu legitimieren versuchen muss. Zugleich werden Anschaulichkeit und ‘Realismus’ gewöhnlicherweise für die eigentliche Legitimation des Romans gehalten, und die ausländischen Romane, die auf Verfasser und Lesepublikum in Schweden einen starken Eindruck machten, entwickelten nicht zuletzt den formellen Realismus, die Veranschaulichung. In den folgenden schwedischen Romanen wird dieses ältere Normsystem gegenüber der immer stärker werdenden neuen Ästhetik abgeschwächt. Man kann sehen, wie die Veranschaulichung im Nachhinein weniger belastet und schließlich als etwas Positives definiert wird. Die ältere Ästhetik steht in direktem Gegensatz zu allen ästhetischen Neuerungen des 18. Jahrhunderts. In der neuen Ästhetik ist ja die Phantasie, das Erschaffen und Vermitteln von Bildern durch den Poeten, zentral. Aber die Ästhetik als solche betrifft vor allem die auktorisierenden Gattungen - der Roman ist von Anfang an verdächtig und gilt als verleitend. Und dies bedeutet, dass literarische Anschaulichkeit im Genre des Romans anders, das heißt strenger, bewertet wird. 23 Es ist bemerkenswert, dass der Roman einem solch strengen Normsystem gerade in Schweden unterliegt, da das schwedische Pressegesetz aus dem Jahr 1766 gewöhnlich als eines der tolerantesten im Europa dieser Zeit gilt. Aber es ist eine Sache, wie das Gesetz formuliert ist und eine andere, wie die literarische Praxis kontrolliert wird. Die Implikationen des Pressegesetzes sind ja vor allem politisch, und im Normsystem, das ich zu beschreiben versucht habe, scheint die Moral das Zentrale zu sein. Mit der Zeit findet natürlich die neue Ästhetik Eingang und das alte Normsystem wird abgeschwächt. Aber nicht vor 1830 erscheint der akzeptierte realistische Roman, in dem die Veranschaulichung nicht als bedrohlich empfunden wird: Fredrika Bremers Famillen H*** 24 (Die Familie H***). Bekannterweise war Bremer eine derjenigen, die den Roman als meinungsbildend bedeutend gemacht hat. Aber in ihrem ersten Roman trifft sie eine Reihe von Maßnahmen, um den ‘Realismus’ als ungefährlich darzustellen. Sie grenzt die Veranschaulichung in die weiblichen Sphären, Küche und Kinderzimmer aus, der Erzähler stellt sich die ganze Zeit selbst in Frage und lässt den Leser sich als Herr und Meister fühlen. Auf diese Weise entschärft Bremer die Veranschaulichung, so dass sie nicht als bedrohlich aufgefasst wird. Wenn der moderne, ‘realistische’ Roman erst einmal akzeptiert und etabliert ist, dann kann er ernsthaft als meinungsbildend verwendet werden. 25 23 Für eine ausführliche Diskussion und Beispiele rund um den frühen schwedischen Roman siehe Malm, Mats: Textens auktoritet. De första svenska romanernas villkor. Stockholm/ Stehag 2001. 24 Zuerst erschienen 1830-31: Fredrika Bremer. Famillen H***. Utgiven med inledning och kommentar av Åsa Arping Svenska författare ugivna av Svenska Vitterhetssamfundet. Ny Serie. Stockholm 2000. 25 Siehe Malm, Mats: Fredrika Bremer och realismerna. In: Mig törstar! Studier i Fredrika Bremers spår. Hg. von Åsa Arping und Brigitta Almo-Nilsson. Hedemora 2001. S. 83-96. Mats Malm 304 Aber die Veranschaulichung ist noch immer gefährlich. C.J.L. Almqvists Det går an (1838) (Es geht an) ragt in der schwedischen Literatur als ‘realistisches Meisterwerk’ hervor und war gleichzeitig sehr kontrovers. Die Techniken sind dort vollendet, nicht zuletzt wird ja die Erzählerperspektive bis aufs Äußerste ausgenutzt, mit der Folge, dass der Erzähler sowohl unzuverlässig als auch bedrohlich erscheint. Es kann kaum ein Zufall sein, dass der Widerstand gerade gegen einen solchen Roman derart massiv wurde, der den ‘Realismus’ auf die Spitze treibt. Aber zu dieser Zeit ist die Situation schon viel komplexer geworden und es ist schwer zu sagen, wie stark oder wie lange das alte Normsystem noch weiterlebt. Für die Auktorität eines Textes ist die Stilfrage immer zentral, aber nicht immer in der Art und Weise, wie man es erwarten würde. B+ Es ist nicht nur die Veranschaulichung, die in der Tradition mit Misstrauen betrachtet wird. Das Misstrauen gegenüber der Macht der Sprache hat eine lange Geschichte, die mit Platon beginnt und deutlich in der klassischen Rhetorik auftritt. Die antike Debatte über den Attizismus oder Asianismus ist damit verbunden: Der Asianismus beweist seinen schlechten und gefährlichen Inhalt durch seinen ausschmückenden Stil. Die Angst geht weiter - und wird verstärkt - in der christlichen Tradition, denn das Abstandnehmen von den Versuchungen der Sinneswelt liegt auf einer Linie mit dem Misstrauen in die genüsslichen Versuchungen der Sprache. Bemerkenswerterweise scheint die sprachliche Angst in Schweden besonders stark zu sein. Das merkt man den Romanen an, aber es wurde deutlich, als man begann, eine schwedische Nationalliteratur aufzubauen. Das größte Werk der frühen schwedischen Literatur ist Georg Stiernhielms Hercules, gedruckt 1658. Dort wird Hercules vor fru Lusta (Frau Lust) und fru Dygd (Frau Tugend) gestellt und muss einen der beiden Wege wählen. Hercules - darüber ist man sich seit langem im Klaren - repräsentiert „das Schwedische“ und die Moral. Aber eigentlich zeigt sich hier, dass die Moral von der Sprache nicht zu trennen ist: Hercules will als Diskussion der Sprache an sich gelesen werden. Man kann sogar zeigen, dass Frau Lust und Frau Tugend die schlechte und die gute Sprache repräsentieren. Frau Tugend verkörpert den Attizismus und Frau Lust den Asianismus. Der Hintergrund hierzu ist komplex: In der rhetorischen Tradition herrscht in der Regel ein starker Optimismus gegenüber den Möglichkeiten der Sprache. Dies ist eine Selbstverständlichkeit, handelt die Rhetorik doch davon, genau diese Möglichkeiten auszunutzen. Aber was man nicht gleich deutlich sieht, ist, dass in der Vorstellung von der Macht der Sprache auch die Angst davor liegt, genau dieser Macht ausgesetzt zu werden. Diese Angst schwingt als Unterton in der Tradition mit, sie wird nicht so oft explizit formuliert, scheint aber ins allgemeine Bewusstsein einzugehen. Der Vorstellungskomplex teilt der Sprache den Körper zu und somit fallen eigentlich die rhetorischen Tugenden mit der individuellen Tugend zusammen. Umgekehrt wird sprachliches Laster dasselbe wie körperliches Laster. Quintilian sagt dazu Folgendes: Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 305 Gesunde Körper mit frischem Blut und durch Übung gestärkter Kraft empfangen ihr schönes Aussehen aus denselben Quellen wie ihre Kräfte; denn sie besitzen Farbe, Straffheit und eine ausgeprägte Muskulatur; dieselben Körper aber sind, wenn sie jemand rasiert und geschminkt herausputzt, am allerekelhaftesten gerade durch ihre Bemühung um schönes Aussehen. Verleiht ja doch auch, wie es der griechische Vers bezeugt hat, ein geschmackvoll und prächtig gepflegtes Aussehen den Menschen Ansehen. Dagegen schmückt ein weibischer und mit Verschwendung geputzter Mensch nicht seinen Körper, sondern enthüllt seinen Geist. Ähnlich läßt auch die durchschimmernde und schillernde Ausdrucksweise bestimmter Redner die Gehalte selbst weibisch verweichlicht erscheinen, die in jenes Wortgewand gekleidet werden. […] Großzügiger muß die Erwartung sein, die wir der Beredsamkeit entgegenbringen. Wenn diese über die gesunde Kraft ihres ganzen Körpers verfügt, wird sie das Glätten der Nägel und das Ordnen der Haare nicht für ihre eigentliche Sorge halten. 26 Hier erhält die Sprache nicht einen, sondern zwei weibliche Körper: Elocutio, die schöne sprachliche Darstellung, ist geschminkt, herausgeputzt, falsch und verführerisch. An ihrer Seite sehen wir die physische Gestalt der Eloquentia, die Redegewandtheit in ihrer Vollendung, eingeschlossen Argument, Themenwahl, die gute Sache: gesund und einfach. Und der athletische und asketische Redner lässt sich nicht von Elocutio verleiten, sondern wählt die gesunde Eloquentia. Der Hintergrund zu diesem nahezu ikonographischen Bild ist die antike Debatte über Asianismus und Attizismus. Die Attizisten waren die barschen, philosophisch veranlagten Redner, die sich nicht darum bemühten, die Darstellung allzu angenehm zu machen, und die Asianer wurden dafür kritisiert, dass sie sich nur für die schönen und genussbringenden Formen interessierten. Die Debatte war die ganze Zeit aktuell in Rom: Cicero wurde angeklagt, ein Asianer zu sein und er verteidigte sich natürlich damit, indem er andere anklagte, Asianer zu sein. Der Asianismus übertreibt also die elocutio und wird praktisch inhaltslos, bloß auf das sprachliche Ergötzen und Affekt ausgerichtet - laut den Kritikern. Man könnte es eine Art sprachlichen Sexualschreck nennen und dessen Macht soll man nicht unterschätzen. Das Schlüsselwort ist effeminatus: ‘verweiblicht’. Andere Wörter, die hierhin gehören, sind libido und voluptas, das heißt alles Liederliche. Verweiblicht ist der Mann, der die hohen moralischen Ansprüche nicht erfüllt, sondern sich Ausschweifungen hingibt: körperlichen oder sprachlichen. Der Mann kann sich mit dieser Art Weiblichkeit anstecken und immer verdorbener werden. Deshalb ist es so wichtig, die Schuljungen vor dem Kontakt mit der verderblichen Sprache zu schützen. Wie Quintilian hervorhebt, „sollen die Knaben sich auch nicht durch die Zierereien unserer modernen lockeren Lebensart geraten können, verweichlichen lassen, so daß sie sich in diese übersüßte Art zu reden verlieben.“ 27 Die Sprache hat einen Körper und Sprache ist Moral. Im Vergleich zu den sprachlichen Koketterien und Schnörkeln des Asianismus steht der allzu dürftige, aber dennoch empfohlene Attizismus als bedeutend ehrenhafter da. 26 Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972. Bd. VIII. Pr. 19-22. 27 Quintilianus: Ausbildung des Redners, II.v. 22-23. Mats Malm 306 Man kann dies natürlich einfach als zwei Stilideale auffassen, jedes mit seinen Vertretern. Aber es ist mehr als das, denn der Widerstand gegen den Asianismus gründet auf einer puren Angst vor dem, was man „die liederliche Sprache“ nennt. Der Ausgangspunkt ist, dass der Redner nicht von dem getrennt werden kann, was er sagt, dass die Sprache den Redenden widerspiegelt. Quintilian gibt alle erdenklichen Anweisungen, wie man eine genussvolle und mitreißende Sprache zustandebringt, muss sich aber gleichzeitig vor dem Misstrauen gegenüber der liederlichen Sprache schützen. Er muss Platons Kritik der Rhetorik als einschmeichelnde Haltung und Genuss für den Moment nutzen und er muss die ganze Zeit seine Distanz zur unmoralischen Sprache hervorheben. Denn Rhetorik ist eine Frage der Macht und der Redner riskiert ständig, von der liederlichen Sprache entmannt zu werden. Quintilian formuliert es so: Dabei mußte ich um so sorgfältiger zu Werke gehen, weil die Deklamationen, mit denen wir uns für den Kampf auf dem Forum wie mit gepolsterten Waffen einzuüben pflegten, schon lange von dem alten echten Bild wirklicher Rede abgerückt sind und, nur noch auf die Lust der Unterhaltung eingerichtet, es an Kraft und Härte fehlen lassen, wobei man - so Gott mir helfe! - beim Reden den gleichen Fehler macht wie die Sklavenhändler, die der Schönheit der Formen der Knaben dadurch ihre Kuppeldienste leihen, daß sie ihnen die Manneskraft nehmen. Denn wie diese Stärke und Muskelkraft und vor allem den Bart und die anderen Kennzeichen, womit die Natur das männliche Geschlecht im besonderen ausgestattet hat, für nicht schön genug halten und alles zart machen, was, wenn es sich entfalten dürfte, kraftvoll werden würde, als wäre es sonst hart und rauh: so überdecken wir heute die eigentliche männliche Haltung der Rede und ihre Gabe, knapp und kräftig zu reden, in unserer Ausdrucksweise mit einer Art zarter Haut und meinen, wenn es nur glatt und glänzend sei, käme es nicht darauf an, was dahintersteckt. Mir jedoch, der ich immer den Blick auf die Natur richte, wird stets jeder Mann schöner erscheinen als ein Verschnittener […] 28 Die bedrohliche Sprache ist weiblich und macht auch die Männer weiblich. Weiblich ist hier also gleichbedeutend mit dem Gegenteil des männlichen Ideals und meint Eitelkeit, Liederlichkeit und Verdorbenheit. Der weibliche Körper der Sprache bildet ein definitives Drohbild und es droht sogar damit, die Männer zu kastrieren. In der rhetorischen Tradition liegt also ein starkes Misstrauen gegenüber Schminke und Verstellung. Es wird zu einem Misstrauen gegenüber übertriebener elocutio, denn ornatus, die sprachliche Verschönerung, ist gleichbedeutend mit Schminke. Ausstattung und Körper verführen, und diese Haltung passt natürlich genau mit der christlichen Einstellung gegenüber dem Blendwerk und den Verlockungen des Teufels zusammen. Wir pflegen die Rhetorik mit einem grenzenlosen Vertrauen in die Möglichkeiten der Sprache zu verbinden, aber dieses Misstrauen steht immer im Hintergrund. Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Vorstellung von der liederlichen Sprache eigentlich eine Vorstellung von der liederlichen Repräsentation ist, und 28 Quintilianus: Ausbildung des Redners, V.xii. 17-19. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 307 nicht zuletzt betrifft dies die bildende Kunst. Im Hintergrund steht ja nicht nur Platons Kritik der Rhetorik, sondern auch seine Kritik jeglicher Repräsentation: Seine Billigung der Form, der Linien im Gemälde und Abtun der Körperlichkeit der Farben wird bei Quintilian und in der Tradition nach ihm reflektiert, und Jacqueline Lichtenstein hat gezeigt, wie dies nicht nur in der rhetorischen Tradition, sondern auch deutlich in der kunsttheoretischen Debatte unter anderem im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts durchgeschlagen hat. 29 Dort stritten die ‘Poussinisten’, die reine Linien und Formen propagierten, mit den ‘Rubenisten’, die den Vorrang der Farben gegenüber der Linie geltend machten. In Schweden kommt die Vorstellung beim Hofmaler David Klöcker Ehrenstrahl deutlich zum Ausdruck. In seinem Selbstporträt von 1691 stellt er sich selber sitzend zwischen Inventio und Pictura 30 dar, und auch wenn er in einem Kommentar von seiner Liebe zur Malerei spricht, ist die Rollenverteilung offensichtlich. Inventio sitzt unauffällig im Schatten, gleich bei der Leinwand, direkt neben des Künstlers rechter Hand, welche die Kreide hält, mit der er die Linien ziehen und die Formen zeichnen wird. Pictura steht auf seiner linken Seite und lenkt ihn davon ab. Sie bietet ihm die Farben, die dem Gemälde einen Körper geben sollen. Inventio ist tugendhaft und keusch, Pictura lenkt den Künstler mit Verlockungen ab und steht für das Weibliche und das Liederliche. Inventio hält die Ermahnung an seine Pflichten hoch: Immortales pinge majestatum laudes, „Male den unsterblichen Ruhm der Majestäten“. Pictura hindert ihn daran, diesen Appell an die Pflicht zu sehen. Die Gegenüberstellung ist genau die gleiche, die wir in der rhetorischen Tradition gesehen haben - der Mann mit der Inventio steht für Reinheit und Form und wird vom sinnlichen Kolorit versucht. 31 Ein Selbstporträt ist eine bedeutende Programmerklärung, und dies ist auch die Botschaft beim zentralen Künstler des schwedischen Barock: Er ist, wie Quintilian und ebenso Georg Stiernhielm, von der Repräsentation angezogen, weiss aber, dass sie liederlich ist und dass er sich ihr gegenüber verschließen muss. Aus verschiedenen Gründen wurde die Vorstellung von der liederlichen Sprache besonders zu der Zeit aktuell, die wir heute ‘Barock’ nennen, und nicht zuletzt war sie weit verbreitet im schwedischen 17. Jahrhundert. Dies habe ich andernorts zu entschlüsseln versucht, und dorthin verweise ich für ausführlichere Belege und Diskussionen. 32 Selbstverständlich gibt es ständig eine starke Anziehung zwischen Spra- 29 Lichtenstein, Jacqueline: The Eloquence of Color. Rhetoric and painting in the French Classical Age. Berkeley, Los Angeles, Oxford: University of California Press 1989, besonders S. 117- 226. 30 Ehrenstrahls Porträt wird behandelt (wobei nicht in diesem Zusammenhang) in Ellenius, Allan: Karolinska bildidéer. Acta Universitatis Upsaliensis. Ars Suetica I. Uppsala 1966, S. 12- 15. Zu den frühen schwedischen Theorien in der Bildkunst siehe Ellenius, Allan: De Arte Pingendi. Latin Art Literature in Seventeenth-Century Sweden and its International Background. Lychnosbibliothek 19. Uppsala und Stockholm 1960. 31 Zu den platonischen Vorurteilen gegenüber der Kunst und ihre christliche Weiterführung siehe z.B. Kubler, George: Vicente Carducho’s Allegories of Painting. Art Bulletin 47 (1965), S. 439-444. 32 Malm, Mats: Det liderliga språket. Poetisk ambivalens i svensk ‚barock’. Stockholm, Stehag 2004. Mats Malm 308 che und Kunst, aber dieser Vorstellungskomplex weilt wie eine Art Über-Ich über der Kultur. Die Angst vor der liederlichen Sprache nimmt während des 18. Jahrhunderts ab, bleibt aber stark genug, um (eine Zeitlang) den Realismus daran zu hindern, in den schwedischen Romanen hervorzutreten und es ist die Gesellschaft, welche die Grenzen setzt. Die Zensur kontrollierte alles, was gedruckt wurde und die Schriftsteller waren gezwungen, so zu schreiben, dass es akzeptiert wurde. Auf der anderen Seite gab es den allgemeinen ästhetischen Genuss bei den Lesern, die Literatur als Erlebnis suchten. Der frühe schwedische Roman bildet einen Gegenpol zu fast allem, was wir mit Literatur und Unterhaltung verbinden. Was er vor allem machen muss, ist auf seine moralische Stabilität zu verweisen und dies einerseits durch grundfeste Charaktere, andererseits durch einen grundfesten Stil. Dieser Stil ist allem, was Menschen als Genuss aufzufassen pflegen, entgegengesetzt, denn das Genussvolle und das Laster sind ja instabil und verführerisch sinnlich, ändern Farbe und Gestalt. Das Moralische und Verlässliche muss unveränderlich sein. Selbstähnlichkeit ist auch das Schlüsselwort des Stils, wenn sich der Roman von der Unfestigkeit distanziert, um Legitimität zu gewinnen. Übersetzung: Miriam Bertschi : . Barclay, John: Joan Barclaji Argenis, På Swensko öfwersatt, Jämte Uttolkningen öfwer deß enkannerliga Ändamål och Afseende; Försedd med nödige Anmärkningar och Register. Stockholm 1740. Bremer, Fredrika: Fredrika Bremer. Famillen H***. Utgiven med inledning och kommentarer av Åsa Arping. Svenska författare utgivna av Svenska Vitterhetssamfundet. Ny serie. Stockholm 2000. Gjörwell, C.C.: Bref Om Blandade Ämnen. Stockholm 1754. Mörk, Jacob und Anders Törngren: Adalriks och Giöthildas Äfwentyr. Stockholm 1742-1744 (Inhalt und Register 1745). 2. Auflage. Västerås 1786. Mörk, Jacob: Thecla, eller den bepröfwade trones dygd. Stockholm 1749-1758. 2. Auflage. Stockholm 1758-1759 und diverse spätere Auflagen. Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übersetzt von Helmut Rahn I-II. Darmstadt 1972. Rydelius, Andreas: Nödiga Förnufts-Öfningar, At Lära kenna thet sundas wägar Och Thet osundas felsteg. Andra vplaget, Ökt med Siette Delen, som nu är i ordningen then Femte. Linköping 1737. B $ Burius, Anders: Ömhet om friheten. Studier i frihetstidens censurpolitik. Institutionen för idéoch lärdomshistoria, Uppsala universitet. Skrifter nr 5. Uppsala 1984. Legitimitätsanspruch und Auktorisierung in den frühen schwedischen Romanen 309 Böök, Fredrik: Romanens och prosaberättelsens historia i Sverige intill 1809. Stockholm 1907. Ellenius, Allan: De Arte Pingendi. Latin Art Literature in Seventeenth-Century Sweden and its International Background. Lychnos-bibliotek 19. Uppsala and Stockholm 1960. Ellenius, Allan: Karolinska bildidéer. Acta Universitatis Upsaliensis. Ars Suetica I. Uppsala 1966. Hættner Aurelius, Eva: Inför Lagen. Kvinnliga svenska självbiografier från Agneta Horn till Fredrika Bremer, Litteratur Teater Film. Nya serien 13. Lund 1996. Hansson, Stina: Ett språk för själen. Litterära former i den svenska andaktslitteraturen 1650- 1720. Skrifter utgivna av Litteraturvetenskapliga institutionen vid Göteborgs universitet 20. Göteborg 1991. Kubler, George: Vicente Carducho’s Allegories of Painting. Art Bulletin 47 (1965), S. 439- 444. Lichtenstein, Jacqueline: The Eloquence of Color. Rhetoric and Painting in the French Classical Age. Berkeley - Los Angeles - Oxford 1989. Lindgärde, Valborg: Jesu Christi Pijnos Historia Rijmwijs betrachtad. Svenska passionsdikter under 1600och 1700-talet. Litteratur Teater Film. Nya serien 12. Lund 1996. Malm, Mats: Textens auktoritet. De första svenska romanernas villkor. Stockholm/ Stehag 2001. — Fredrika Bremer och realismerna. In: Mig törstar! Studier i Fredrika Bremers spår. Hg. von Åsa Arping und Birgitta Ahlmo-Nilsson. Hedemora 2001, S. 83-96. — Det liderliga språket. Poetisk ambivalens i svensk ‘barock’. Stockholm/ Stehag 2004. Stålmarck, Torkel: Jacob Mörk. Studier kring våra äldsta romaner. Stockholm 1974. Svanberg, Victor: Medelklassrealism. Skrifter utgivna av Avdelningen för litteratursociologi vid litteraturvetenskapliga institutionen i Uppsala 14. Uppsala 1980. Vasenius, Valfrid: Jacob Henrik Mörk. Litteraturhistorisk teckning. Helsingfors, Stockholm 1892. Vegesack, Thomas von: Smak för frihet. Opinionsbildningen i Sverige 1755-1830. Stockholm 1995. C Aeneis, 58, 288, 290-291 Albrecht, Laurentz, 7-9, 15, 26 Almqvist, Carl Jonas Love, 304 Det går an, 304 Andersen, Hans Christian, 222, 241, 245, 247, 251 Anton von Pforr, 71-72, 74, 83 Assenath/ Josephs Historie, 15 Baggesen Jens, 215-217, 228, 251-253 Holger Danske, 215-217 Barclay, John, 82, 290-292, 308 Argenis, 82, 290-292, 308 Bauman, Richard, 85-86, 199, 201 Benoît de Sainte-More, 51-69 Roman de Troie , 51-69 Bernhard von Clairvaux, 108-112 Bonde-Practica/ Bondepraktika, 6, 8 Blanceflor oc Floris, 9 Böök, Fredrik, 287-290, 295, 309 Romanens och prosaberättelsens historia i Sverige intill 1809, 287, 309 Buch der Beispiele der alten Weisen, 71-83 Bugge, Sophus, 15-196, 198 Bruder Rauschen/ Broder Ru(u)s, 147- 181 Böđvar Kvaran, 257, 267 Cedras (rímur), 74-79 Chanson du Roland, 206 Dares Phrygius, 53-55, 57-59, 64, 66, 69 Defoe, Daniel, 285 Robinson Crusoe, 285 Dictys Cretensis, 53-55, 59, 64 Ecteskabs Samtale, eller Dialogus, 129- 146 Elberling, Carl 10, 25 Danske folkebøger fra 16. og 17. Aarhundrede, 10, 25 En ubetydelig Samtal imellem en Skribent og Forlægger i Anledning af den i Aviserne fremsadte Snik-Snak om Skrive-Friheden, 5-6, 24, 26 Erasmus Alberus, 129-146 Das Ehb F chlin, 129-146 Erasmus von Rotterdam, 90, 129-146 Uxor μεμψ í γαμος sive coniugium/ Coniugium, 129-146 Fénélon, François de Salignac de la Mothe, 290 Télémaque, 290-291 Finkeridderen, 6 Fischer, Christoffer, 139, 145 Huus Tafla, 135, 138-139, 145 Fortunatus, 8, 14, 225 Fóstbræđra saga, 190 Gísli Hjaltason, 268, 271 Gísli Konráđsson, 262, 268-269, 279 Gjörwell, Carl Christoffer, 301, 308 Görres, Joseph, 10, 26 Gotfred af Ghemen, 40-41, 43, 45, 48, 89, 100, 207 Register 312 De femten steder Vor Herre tålte sin pine på, 100 Gudelige bønner, 40-41, 43, 45, 48 Griseldis, 8, 15, 248 En grov Syndere Ved Nafn Johan Pistorius, 20-21, 26 Grundtvig, N.F.S., 217-223, 227, 230- 241, 244-249, 251, 253 Brage-Snak, 233, 239-240 Græsk og Nordisk Mythologi for Ungdommen, 239-240, 251 Haandbog i Verdens-Historien, 223, 230 Himmelbjergs-Vise, 237 Holger Danske-Slagt for Sønder- Jylland, 241 Holger Danskes nye Vise, 240 Holger Danskes Skaal, 236 Ragna-Roke (Et dansk Æmter), 218 Guđbrandur Sturlaugsson á Hvítadal, 267-270 Guido de Columnis, 51-69 Historia Destructionis Troiae, 51-69 Hávamál, 81, 190 Helena/ En underlig oc dog meget skiøn Historie om den taalmodige Helena/ Historie von der geduldigen Helena, 8, 11-13, 26 Helgaqviđa Hjörvarđssonar, 190 Helgesen, Poul (Paulus Helie), 90, 109- 114, 127 Een kortt Vnderwiissning til een christelig foreening och forligilse, 111 Skrifter af Paulus Helie, 127 Hildur álfadrottning, 197-198 Historia Trojana, 51-69 Historie von Doktor Johan Faust/ Historien om Doctor Faust, 16-23, 25- 26, 248 Holger Danske, 205-254 Huitfeldt, Arild, 205, 242, 253 Hunnestad, 188-189, 198, 203 Húsdrápa, 189, 198 Hyrokkin, 189, 198-199 Ingemann, B.S., 223-235, 239, 242-245, 248, 252 Holger Danske, Et Digt, 228-230 Holger Danskes Tilbagekomst i det tyvende Seculum, 224-226 De sorte Riddere, 226 Jerusalems Skomager, 6 Jón Árnason, 197 Jón Eggertsson, 76-77 Josephs historie/ Assenath, 15 Judas historie, 6, 15 Karen Ludvigsdatters tidebog, 33 Karlamagnús saga, 194, 260, 275 Karl Magnus’ Krønike, 206-207, 209, 212, 217, 231, 251 Kingo, Thomas, 214, 221 Vinter-Parten, 221 Kolde, Dietrich, 88-294, 296-299, 102, 128 Christenspiegel, 88-91, 102, 128 Kong Appolonius, 6, 9, 14 En Kortvillig Dialogus eller Samtale/ Mellem Tvende Qvinders Personer, 129-146 König Laurin, 9 Krappe, Alexander, 184, 202 The Science of Folk-Lore, 184, 202 Kroeber, Alfred, 183-184, 199-200, 202 Register 313 Lucidarius, 8-9, 14 Ett Lustigt Samtaal/ Emellan Twenne vnga Hustrur, 129-146 Luther, Martin, 85-128, 135, 144, 169, 180, 281-221, 229 Eine kurtz Form, 86, 92, 99, 111 Betbüchlein, 85-128 Kleiner Katechismus, 92, 144 Magelones historie, 6, 14 Magnús Jónsson í Tjaldanesi, 255-282 Fornmannasögur Norđurlanda, 255-282 Marcolfus/ En lystig Samtale imellem Kong Salomon og Marcolfus, 6, 8, 15 Marine Jespersdatters bønnebog, 37-40, 43-44, 46, 48 Melusina, 6, 15, 248 Modus confitendi, 89, 91, 93, 128 Molbech, Christian, 230, 233-234 Møller, Poul Martin, 221 Holger Danske og Skrædderne, 221 Mörk, Jacob, 283-309 Thecla, eller den bepröfwade trones Dygd, 283-309 Mörk, Jacob & Anders Törngren, 283-309 Adalriks och Giöthildas Äfwentyr, 283-309 Müller, Jan-Dirk, 56-58, 68-69 Namnlös och Valentin, 194 Nichols, Stephen G. , 29, 49 Nyerup, Rasmus, 10, 24-26 Almindelig Morskabslæsning i Danmark og Norge igjennem Aarhundreder, 10, 24-26 En skiøn oc lystig Historie om Kejser Octaviano, hans Hustrue oc to Sønner, 13 Olaus Magnus, 191, 202, 209 Historia de gentibus septentrionalibus, 191, 202 Ovid, 55, 61-62 Metamorphosen, 61-62 Quintilian, 305-307, 309 Pedersen, Christiern, 33-36, 46, 48, 109, 115-127, 205, 207-210, 212-215, 22, 232-233, 240, 243, 251 Danske Skrifter, 33, 109, 115, 128 Den rette vey till Hiemmerigis Rige, 115-123 Huorledis huert menniske skal betencke vor Herris død oc pine, 115, 126-127 Om vaar Herris død oc pine, 115, 124- 126 Vor Frue Tider, 34-36, 46, 48 Pilatus historie 6, 15 Pors, Claus, 139, 145 Leffnetz Compaß, 139, 145 Rebhun, Paul, 136 Reich, Ebbe Kløvedal, 242-247, 252 Holger Danske. Tolv fortællinger om en folkehelt, 242-246, 252 Reravius, Rasmus Hansen, 136, 146 Husfred, 136, 146 Rhegius, Urbanus, 115, 118-120 Richardson, Samuel, 285, 298 Pamela, or Virtue Rewarded, 285 Register 314 Rimkrøniken, 205 Sahlgren, Jöran 153, 155, 159, 180, 203 Svenska folkböcker, 153, 155, 180 Saxo, 205, 207-209, 212-214, 217, 219, 241, 248, 251, 260 Gesta Danorum, 205, 208, 241, 248, 251, 260 Sebastian Brant, 156, 158 Das Narrenschyff, 156, 158 Sibyllæ Spaadom, 6 Sieben weise Meister/ Sju vise mästare, 9, 194 Snorri Sturluson, 189, 218, 222, 247 Gylfaginning, 189 Snorra-Edda, 218, 222, 247 Sørensen, Villy, 246-247 Ragnarok, 246 55 bagateller, 247 Spencer, Herbert, 183-184 Spekinnar bók, 71-83 Stiernhielm, Georg, 304, 30-308 Hercules, 304 Svend Felding, 6 Thiele, Johan Rudolph, 7-9, 13-16, 22- 25, 151, 175, 215, 222 Til Ulenspiegel, 9 Traum-Buch, 6 Trójumanna saga, 51-69 Vadstena, 52 Vedel, Anders Sørensen, 207, 210, 228, 239, 254 It Hundrede vduaalde Danske Viser (Hundredvisebogen), 207 Vindekilde, Inger, 10, 12-15, 18, 23-24 Wickram, Jörg, 136 Knabenspiegel, 136 Wielandt, Joachim, 10-12, 15-16, 18, 23- 24 Þiđreks saga, 194 Þórsdrápa, 190 Abbildungsnachweise Beitrag von Matthew J. Driscoll Abb. 1: Porträt Magnús Jónsson í Tjaldanesi. Privatbesitz. Abb. 2: Exemplar der Fornmannasögur in einer Handschrift von Magnús Jónsson, 1888. Reykjavík, Landsbókasafn Íslands - Háskólabókasafn, Lbs 1495 4to. Beitrag von Anne Mette Hansen Abb. 1: Marine Jespersdatters bønnebog, Bl. 33 v -34 r , Anna Selbdritt und Namensgebet (Gebet zu Jesus Christus für die Besitzerin des Buches, Marine Jespersdatter). Foto: © Den Arnamagnæanske Samling, Kopenhagen. Abb. 2: Marine Jespersdatters bønnebog, Bl. 44 v -45 r , Marias Besuch bei Elisabeth und Gebet zur Jungfrau Maria. Foto: © Den Arnamagnæanske Samling, Kopenhagen. Abb. 3: Gotfred von Ghemens Gudelige Bønner, Bl. a1 r Blattseite mit Rubrik/ Titel. Mit freundlicher Genehmigung der Königlichen Bibliothek Kopenhagen. Abb. 4: Gotfred von Ghemens Gudelige Bønner, Bl. a1 v -a2 r . Mit freundlicher Genehmigung der Königlichen Bibliothek Kopenhagen. Abb. 5a: Middelalderens danske Bønnebøger, Bd. IV, S. 36: Gebete Nr. 855-856. Digital aufbereiteter Scan aus dieser Ausgabe. Abb. 5b: Middelalderens danske Bønnebøger, Bd. IV, S. 37: Beginn der Gebetsreihe zur Passion Jesu (Gebet Nr. 857), wo Ghemens Gudelige Bønner als Variantentext benutzt wird. Digital aufbereiteter Scan aus dieser Ausgabe. Abb. 6a: Middelalderens danske Bønnebøger, Bd. IV, S. 38: Gebetsreihe zur Passion Jesu (Gebet Nr. 857), wo Ghemens Gudelige Bønner als Variantentext benutzt wird. Digital aufbereiteter Scan aus dieser Ausgabe. Abb. 6b: Middelalderens danske Bønnebøger, Bd. IV, S. 39: Gebetsreihe zur Passion Jesu (Gebet Nr. 857), wo Ghemens Gudelige Bønner als Variantentext benutzt wird. Digital aufbereiteter Scan aus dieser Ausgabe. Abb. 7: Middelalderens danske Bønnebøger, Bd. IV, S. 224: Textwiedergabe des Gebets zur Jungfrau Maria anlässlich ihres Besuchs bei Elisabeth und die folgenden drei Gebete im Psalter, die jeweils von Bildern auf der Versoseite begleitet werden. Digital aufbereiteter Scan aus dieser Ausgabe. Beitrag von Reto Hofstetter Abb. 1: Titelholzschnitt von (S1), 1645, liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Mathias von Wachenfeldt, Linköpings stadsbibliotek. Abb. 2: Titelholzschnitt von (S1). Digital aufbereiteter Scan des Abdrucks in Sahlgren. Svenska Folkböcker (1948), S. 181. Abb. 3: Titelholzschnitt von (A), 1488. Digital aufbereiteter Scan des Abdrucks in Priebsch. Bruder Rausch, S. 73. Abb. 4: Titelholzschnitt von (D1), 1555, liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Søren Clausen und Jytte Kjaergaard, Det Kongelige Bibliotek København. Abb. 5: Holzschnitt auf Seite 2 von (D1), 1555, liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Søren Clausen und Jytte Kjaergaard, Det Kongelige Bibliotek København. Abbildungsnachweise 316 Abb. 6: Obere Hälfte des Titelblattes von Sebastian Brants Narrenschyff. Scan des Abdrucks in Dürer, Albrecht. Das gesamte graphische Werk. Einleitung von Wolfgang Hütt. Bd. 2. München: Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins 1988, S. 1338. Mit freundlicher Genehmigung von Sabine Beaucaire und dem Rogner & Bernhard Verlag. Abb. 7: Holzschnitt, Blatt 5 r , (D2), um 1600, liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Søren Clausen und Jytte Kjaergaard, Det Kongelige Bibliotek København. Abb. 8: Holzschnitt der letzten Seite von (D1), 1555, liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Søren Clausen und Jytte Kjaergaard, Det Kongelige Bibliotek København. Abb. 9: Holzschnitt, Blatt 6 v , (B6), um 1560, liegt in gescannter Form vor und wurde für den vorliegenden Abdruck digital aufbereitet. Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Andrzej Obrębski und Grażyna Stępień, Biblioteka Jagiellońska Kraków. Beitrag von Flemming Lundgreen-Nielsen Abb. 1: Holger Danske findet sein Pferd als Lasttier auf dem Marktplatz wieder. Abb. 2: Holger Danske mit zwei Pferden und einem Feind, den er enthauptet hat. Abb. 3: Die Fee Morgua nimmt Holger Danske in ihr himmlisches Reich auf. Sämtliche Abbildungen von Wilhelm Marstrand (1810-1873) aus: Nis Hanssen (Hg.): Olger Danskes Krønike, mit einem Vorwort hrsg. von C. Molbech, Kopenhagen 1842. Mit freundlicher Genehmigung für diesen Beitrag eingescannt von der Königlichen Dänischen Akademie der Wissenschaften, Kopenhagen. Beitrag von Mats Malm Abb. 1: Titelblatt aus Adalriks och Giöthildas Äfwentyr von Jacob Mörk und Anders Törngren, Erster Teil, Stockholm 1742 und 1743. Digital aufbereiteter Scan aus dieser Ausgabe, Exemplar der Universitätsbibliothek Göteborg. Abb. 2: Titelblatt aus Thecla, eller den bepröfwade trones dygd von Jacob Mörk, Erster Teil, Stockholm 1749. Digital aufbereiteter Scan aus dieser Ausgabe, Exemplar der Universitätsbibliothek Göteborg. Beitrag von Stephen Mitchell Abb. 1: Runenstein von Hunnestad, Skåne, Schweden. Fotografie: Stephen Mitchell privat. Abb. 2: Wandgemälde in der Kirche von Yttergran, Uppland, Schweden. Fotografie: Stephen Mitchell privat. Beitrag von Anna Katharina Richter Abb. 1: Erasmus Alberus, Das Ehb chlin (1539). Titelblatt. © Zentralbibliothek Zürich, Signatur Z 18.291. Abb. 2: En Kortvillig Dialogus (1680? ). Titelblatt. Det Kongelige Bibliotek København, Signatur 14,- 455, 8°, Ex. 3. Bl. A1 r . Abb. 3: Ett lustigt Samtaal emellan twenne vnga Hustrur (1687). Titelblatt. Kungliga Biblioteket Stockholm, Signatur F1700/ 2315 a, 8°, Bl. A1 r . Beiträge zur Nordischen Philologie Band 1 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. 1973, 117 Seiten und 23 Karten Band 2 Conradin Perner: Gunnar Ekelöfs Nacht am Horizont. 1974, 250 Seiten Band 3 Heinz Klingenberg: Edda - Sammlung und Dichtung. 1974, 185 Seiten Band 4 Oskar Bandle u.a.: Studien zur dänischen und schwedischen Literatur des 19. Jahrhunderts. 1976, 225 Seiten Band 5 Hartmut Röhn: Untersuchungen zur Zeitgestaltung und Komposition der Islendingasögur. 1976, 159 Seiten Band 6 Ulrike Sprenger: Untersuchungen zum Gebrauch von sá und nachgestelltem inn in der altisländischen Prosa. 1977, 282 Seiten Band 7 Hans-Peter Naumann: Sprachstil und Textkonstitution. Untersuchungen zur altwestnordischen Rechtssprache. 1979, 188 Seiten Band 8 Wilhelm Friese u.a.: Strindberg und die deutschsprachigen Länder. Internationale Beiträge zum Tübinger Strindberg-Symposion 1977. 1979, 396 Seiten Band 9 Wolfgang Pasche: Skandinavische Dramatik in Deutschland. Björnstjerne Björnson, Henrik Ibsen, August Strindberg auf der deutschen Bühne 1867-1932. 1979, 310 Seiten Band 10 Aldo Keel: Innovation und Restauration. Der Romancier Halldór Laxness seit dem Zweiten Weltkrieg. 1981, 161 Seiten Band 11 Oskar Bandle u.a.: Strindbergs Dramen im Lichte neuerer Methodendiskussionen. Beiträge zum IV. Internationalen Strindberg-Symposion in Zürich 1979. 1981, 289 Seiten Band 12 Jürg Glauser: Isländische Märchensagas. Studien zur Prosaliteratur im spätmittelalterlichen Island. 1983, 357 Seiten Band 13 Radko Kejzlar: Literatur und Neutralität. Zur schwedischen Literatur der Kriegs- und Nachkriegszeit. 1984, 278 Seiten Band 14 Hans Joerg Zumsteg: Olav Duuns Medmenneske-Trilogie. 1984, 304 Seiten Band 15 Festschrift für Oskar Bandle. Zum 60. Geburtstag am 11. Januar 1986. Herausgegeben von Hans-Peter Naumann unter Mitwirkung von Magnus von Platen und Stefan Sonderegger. 1986, 316 Seiten Band 16 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. I. Teil: 1859-1898. 1986, 414 Seiten Band 17 Bjørnstjerne Bjørnsons Briefwechsel mit Deutschen. Herausgegeben von Aldo Keel. II. Teil: 1899-1909. 1987, 330 Seiten Band 18 Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch. Briefe aus den Jahren 1890-1940. In Zusammenarbeit mit Oskar Bandle herausgegeben von Klaus Düwel und Heinrich Beck. 1989, 739 Seiten 318 Band 19 Nordische Romantik. Akten der XVII. Studienkonferenz der International Association for Scandinavian Studies 7-12. August 1988 in Zürich und Basel. 1991, 528 Seiten Band 20 Stefanie Würth: Elemente des Erzählens. Die þættir der Flateyjarbók. 1991, 170 Seiten Band 21 Susan Brantly: The Life and Writings of Laura Marholm. 1991, 206 Seiten Band 22 Thomas Seiler: På tross av - Paal Brekkes Lyrik vor dem Hintergrund modernistischer Kunsttheorie. 1993, 193 Seiten Band 23 Karin Naumann: Utopien von Freiheit. Die Schweiz im Spiegel schwedischer Literatur. 1994, 226 Seiten Band 24 Wilhelm Friese: Halldór Laxness. Die Romane. Eine Einführung. 1995, 164 Seiten Band 25 Stephen N. Tranter: Clavis Metrica: Háttatal, Háttalykill and the Irish Metrical Tracts. 1997, 226 Seiten Band 26 Stefanie Würth: Der „Antikenroman“ in der isländischen Literatur des Mittelalters. Eine Untersuchung zur Übersetzung und Rezeption lateinischer Literatur im Norden. 1998, 294 Seiten Band 27 Wolfgang Behschnitt: Die Autorfigur. Autobiographischer Aspekt und Konstruktion des Autors im Werk August Strindbergs. 1997, 325 Seiten Band 28 Hans-Peter Naumann/ Silvia Müller (Hrsg.): Hochdeutsch in Skandinavien. Internationales Symposium, Zürich 14.-16. Mai 1998. 2000, 254 Seiten Band 29 Bettina Baur: Melancholie und Karneval. Zur Dramatik Cecilie Løveids. 2002, 234 Seiten Band 30 Uwe Englert: Magus und Rechenmeister. Henrik Ibsens Werk auf den Bühnen des Dritten Reiches. 2001, 368 Seiten Band 31 Oskar Bandle: Schriften zur nordischen Philologie. Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte der skandinavischen Länder. Herausgegeben von Jürg Glauser und Hans- Peter Naumann. 2001, 638 Seiten Band 32 Jürg Glauser/ Barbara Sabel (Hrsg.): Skandinavische Literaturen in der frühen Neuzeit. 2002, 350 Seiten Band 33 Susanne Kramarz-Bein: Die Þiðreks saga im Kontext der altnorwegischen Literatur. 2002, 396 Seiten Band 34 Astrid Surmatz: Pippi Långstrump als Paradigma. Die deutsche Rezeption Astrid Lindgrens und ihr internationaler Kontext. 2005, 618 Seiten Band 35 Iris Ridder: Der schwedische Markolf. Studien zu Tradition und Funktion der frühen schwedischen Markolfüberlieferung. 2002, 276 Seiten Band 36 Barbara Sabel: Der kontingente Text. Zur schwedischen Poetik in der Frühen Neuzeit. 2003, 171 Seiten 319 Band 37 Verschränkung der Kulturen. Der Sprach- und Literaturaustausch zwischen Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern. Zum 65. Geburtstag von Hans-Peter Naumann herausgegeben von Oskar Bandle, Jürg Glauser und Stefanie Würth. 2004, 582 Seiten Band 38 Silvia Müller: Schwedische Privatprosa 1650-1710. Sprach- und Textmuster von Frauen und Männern im Vergleich. 2005, 370 Seiten Band 39 Klaus Müller-Wille: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist. 2005, XII, 510 Seiten Band 40 Jürg Glauser (Hrsg.): Balladen-Stimmen. Vokalität als theoretisches und historisches Phänomen. 2012, VIII, 195 Seiten Band 41 Anna Katharina Richter: Transmissionsgeschichten. Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit. 2009, X, 327 Seiten Band 42 Jürg Glauser/ Anna Katharina Richter (Hrsg.): Text - Reihe - Transmission. Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800. 2012, VIII, 316 Seiten Band 43 Lena Rohrbach: Der tierische Blick. Mensch-Tier-Relationen in der Sagaliteratur. 2009, XII, 382 Seiten Band 44 Andrea Hesse: Zur Grammatikalisierung der Pseudokoordination im Norwegischen und in den anderen skandinavischen Sprachen. 2009, 254 Seiten Band 45 Jürg Glauser/ Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.): Rittersagas. Übersetzung, Überlieferung, Transmission. 2012, ca. 270 Seiten Band 46 Klaus Müller-Wille (Hrsg.): Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne. 2009, 237 Seiten Band 47 Oskar Bandle: Die Gliederung des Nordgermanischen. Reprint der Erstauflage mit einer Einführung von Kurt Braunmüller. 2011, XXVI, 142 Seiten Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Die Historien von Apollonius, Melusina, Helena von Konstantinopel und Griseldis, die zu den beliebtesten Erzähltexten der frühen Neuzeit in Skandinavien gehörten, sind Teil des europaweit verbreiteten Genres der Prosaromane oder »schönen Historien«. Die vorliegende Studie untersucht ausgewählte dänische und schwedische Vertreter dieser Erzählprosa unterhaltenden und didaktischen Inhalts im Zeitraum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert aus transmissionshistorischer und diskursanalytischer Perspektive. Der erste Teil der Untersuchung befasst sich mit Aspekten der Transmission bzw. des Überlieferungsprozesses der Historie von Apollonius von Tyrus in Dänemark und Schweden von 1594 bis 1882, wobei die Varianz der einzelnen Ausgaben und verschiedene literarische und kulturhistorische Kontextualisierungen der Erzählung, insbesondere über ihre Paratexte und Überlieferungsverbünde, fokussiert werden. Im zweiten Teil der Arbeit werden ausgewählte Historien aus dem 16. und 17. Jahrhundert zu den Themen Liebe, Ehe/ Familie und Sexualität/ Inzest untersucht und mit zeitgenössischen schwedischen und dänischen Ökonomieschriften und Ehetraktaten (Hausväterliteratur) in Korrespondenz gesetzt. Anna Katharina Richter Transmissionsgeschichten Untersuchungen zur dänischen und schwedischen Erzählprosa in der frühen Neuzeit Beiträge zur Nordischen Philologie, Band 41 2009, X, 327 Seiten, €[D] 49,00/ SFr 83,00 ISBN 978-3-7720-8292-4 056109 Auslieferung Mai 2009.indd 17 09.06.2009 7: 39: 55 Uhr A. FRANCKE VERLAG TÜBINGEN UND BASEL BEITRÄGE ZUR NORDISCHEN PHILOLOGIE 42 Der vorliegende Band versammelt elf wissenschaftliche Beiträge der skandinavischen und deutschsprachigen Forschung zur frühneuzeitlichen volkssprachlichen Erzählprosa Skandinaviens. Thematisch umfassen die Beiträge sowohl literatur- und transmissionstheoretische Untersuchungen zu einzelnen repräsentativen skandinavischen Historien und den frühen schwedischen Romanen des 18. Jahrhunderts als auch überblicksartige, kultur- und medienhistorisch orientierte Auseinandersetzungen mit Handschriftenkultur, Buchgeschichte und Buchmarkt in Skandinavien im Zeitraum 1500-1900. Sie widmen sich Fragestellungen nach der textuellen Unfestigkeit und unterschiedlichen Aspekten der Überlieferungsprozesse (Transmission) dieses Genres, etwa seinen medialen und diskursiven Veränderungen, seiner Positionierung auf dem skandinavischen Buchmarkt in der frühen Neuzeit, Übersetzungen und Bearbeitungen dänischer Gebetbücher des 16. Jahrhunderts, der schwedischen Übersetzung von Guido de Columnis mittelalterlichem Trojaroman oder Legitimierungsstrategien schwedischer Romane im frühen 18. Jahrhundert. Jürg Glauser, geb. 1951. Studium der Nordistik und Germanistik in Zürich, Oslo, Uppsala, Kopenhagen. Promotion und Habilitation in Zürich. 1992-94 Professor für Nordische Philologie an der Universität Tübingen, seit 1994 Professor für das gleiche Fach an den Universitäten Basel und Zürich. Hauptarbeitsgebiete: Literaturen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Skandinavien, insbesondere Sagas und Eddas, isländische Literatur, Literaturgeschichtsschreibung. Anna Katharina Richter (geb. Dömling), geb. 1972. Studium der Skandinavistik, Geschichte und Pädagogik in Kiel und Uppsala. 2000-2006 Assistentin an der Abteilung für Nordische Philologie am Deutschen Seminar der Universität Zürich, Promotion 2006 an der Universität Zürich. Oberassistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Hauptarbeitsgebiete: frühneuzeitliche Literatur Skandinaviens und färöische Literatur. Glauser / Richter (Hrsg.) Text - Reihe - Transmission Jürg Glauser / Anna Katharina Richter (Hrsg.) Text - Reihe - Transmission Unfestigkeit als Phänomen skandinavischer Erzählprosa 1500-1800 ISBN 978-3-7720-8293-1 105811 Nord. Phil. 42 - Glauser_Richter_105811 Nord. Phil. 42 - Glauser_Richter Umschlag 16.11.11 10: 56 Seite 1